Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte [1. ed.] 9783506790996, 9783657790999

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Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte [1. ed.]
 9783506790996, 9783657790999

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Pariser Vorlesungen über dies lavische Literatur und ihre Kontexte
Imprint
Inhalt
Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe
Einige Worte des Übersetzers
Teil I (1840–1841)
1. Vorlesung (22. Dezember 1840)
2. Vorlesung (29. Dezember 1840)
3. Vorlesung (5. Januar 1841)
4. Vorlesung (8. Januar 1841)
5. Vorlesung (12. Januar 1841)
6. Vorlesung (15. Januar 1841)
7. Vorlesung (19. Januar 1841)
8. Vorlesung (22. Januar 1841)
9. Vorlesung (26. Januar 1841)
10. Vorlesung (29. Januar 1841)
11. Vorlesung (2. Februar 1841)
12. Vorlesung (5. Februar 1841)
13. Vorlesung (9. Februar 1841)
14. Vorlesung (12. Februar 1841)
15. Vorlesung (16. Februar 1841)
16. Vorlesung (19. Februar 1841)
17. Vorlesung (26. Februar 1841)
18. Vorlesung (2. März 1841)
19. Vorlesung (5. März 1841)
20. Vorlesung (9. März 1841)
21. Vorlesung (12. März 1841)
22. Vorlesung (19. März 1841)
23. Vorlesung (23. März 1841)
24. Vorlesung (26. März 1841)
25. Vorlesung (30. März 1841)
26. Vorlesung (4. Mai 1841)
27. Vorlesung (7. Mai 1841)
28. Vorlesung (11. Mai 1841)
29. Vorlesung (14. Mai 1841)
30. Vorlesung (18. Mai 1841)
31. Vorlesung (21. Mai 1841)
32. Vorlesung (25. Mai 1841)
33. Vorlesung (28. Mai 1841)
34. Vorlesung (1. Juni 1841)
35. Vorlesung (4. Juni 1841)
36. Vorlesung (11. Juni 1841)
37. Vorlesung (15. Juni 1841)
38. Vorlesung (18. Juni 1841)
39. Vorlesung (22. Juni 1841)
40. Vorlesung (25. Juni 1841)
41. Vorlesung (29. Juni 1841)
Teil II (1841–1842)
1. Vorlesung (14. Dezember 1841)
2. Vorlesung (21. Dezember 1841)
3. Vorlesung (28. Dezember 1841)
4. Vorlesung (4. Januar 1842)
5. Vorlesung. (7. Januar 1842)
6. Vorlesung (11. Januar 1842)
7. Vorlesung (18. Januar 1842)
8. Vorlesung (21. Januar 1842)
9. Vorlesung (25. Januar 1841)
10. Vorlesung (28. Januar 1842)
11. Vorlesung (1. Februar 1842)
12. Vorlesung (11. Februar 1842)
13. Vorlesung (15. Februar 1842)
14. Vorlesung (18. Februar 1842)
15. Vorlesung (22. Februar 1842)
16. Vorlesung (8. März 1842)
17. Vorlesung (15. März 1842)
18. Vorlesung (8. April 1842)
19. Vorlesung (12. April 1842)
20. Vorlesung (19. April 1842)
21. Vorlesung (26. April 1842)
22. Vorlesung (29. April 1842)
23. Vorlesung (6. Mai 1842)
24. Vorlesung (10. Mai 1842)
25. Vorlesung (17. Mai 1842)
26. Vorlesung (24. Mai 1842)
27. Vorlesung (31. Mai 1842)
28. Vorlesung (7. Juni 1842)
29. Vorlesung (14. Juni 1842)
30. Vorlesung (17. Juni 1842)
31. Vorlesung (21. Juni 1842)
32. Vorlesung (28. Juni 1842)
33. Vorlesung (1. Juli 1842)
Teil III (1842–1843)
1. Vorlesung (6. Dezember 1842)
2. Vorlesung (13. Dezember 1842)
3. Vorlesung (20. Dezember 1842)
4. Vorlesung (27. Dezember 1842)
5. Vorlesung (10. Januar 1843)
6. Vorlesung (13. Januar 1843)
7. Vorlesung (17. Januar 1843)
8. Vorlesung (24. Januar 1843)
9. Vorlesung (31. Januar 1843)
10. Vorlesung (7. Februar 1843)
11. Vorlesung (21. Februar 1843)
12. Vorlesung (3. März 1843)
13. Vorlesung (7. März 1843)
14. Vorlesung (14. März 1843)
15. Vorlesung (24. März 1843)
16. Vorlesung (4. April 1843)
17. Vorlesung (2. Mai 1843)
18. Vorlesung (9. Mai 1843)
19. Vorlesung (16. Mai 1843)
20. Vorlesung (23. Mai 1843)
21. Vorlesung (2. Juni 1843)
22. Vorlesung (6. Juni 1843)
23. Vorlesung (13. Juni 1843)
24. Vorlesung (20. Juni 1843)
25. Vorlesung (27. Juni 1843)
Teil IV (1843–1844)
1. Vorlesung (22. Dezember 1843)
2. Vorlesung (26. Dezember 1843)
3. Vorlesung (9. Januar 1844)
4. Vorlesung (9. Januar 1844)
5. Vorlesung (23. Januar 1844)
6. Vorlesung (30. Januar 1844)
7. Vorlesung (7. Februar 1844)
8. Vorlesung (5. März 1844)
9. Vorlesung (12. März 1844)
10. Vorlesung (19. März 1844)
11. Vorlesung (23. April 1844)
12. Vorlesung (30. April 1844)
13. Vorlesung (21. März 1844)
14. Vorlesung (28. Mai 1844)
Nachwort
Nachwort zur neuen Redaktion der PariserVorlesungen
1. Die neue Redaktion der deutschen Übersetzung
2. Der F.A. Brockhaus Verlag und Adam Mickiewicz
3. Die Biographien der Übersetzer
4. Darbietungsmodus der Vorlesungen (Improvisation vs. Vorlesung)und Fragen der Verschriftlichung
5. Zur Entstehung der ersten polnischen Übersetzung von FeliksWrotnowski und die Vorlagen der deutschen Übersetzung
Exkurs: Das Fehlen einer editionskritischen französischen Ausgabe der Vorlesungen und die zweite polnische Übersetzung von Leon Płoszewski
6. Gegenstand und Aufbau der Vorlesungen
7. Zur Rezeption der Pariser Vorlesungen
Internetquellen
Danksagung

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Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte

Polen in Europa Veröffentlichungen des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Adam Mickiewicz

Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte Teil I (1840–1841) Teil II (1841–1842) Teil III (1842–1843) Teil IV (1843–1844) Nachwort Neue Redaktion der deutschen Übersetzung von Gustav Siegfried, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Walter Kroll

Umschlagabbildungen: Adam Mickiewicz, daguerreotype, ca. 1842, gemeinfrei; Collège de France, französische Postkarte, Ende des 19. Jahrhunderts, gemeinfrei.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Hamburg Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-79099-6 (hardback) ISBN 978-3-657-79099-9 (e-book)

Inhalt Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxv Einige Worte des Übersetzers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxvii

Teil I (1840–1841) 1. Vorlesung (22. Dezember 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Über Schwierigkeiten meiner Tätigkeit – Allgemeiner Abriß des Gegenstandes, Übersetzung und Form der Überlieferung – Anregungen zur Einrichtung des Lehrstuhls – Die slavischen Völker streben einen Platz in der Welt der Literatur an – Erscheinungsformen der Annäherung der Völker – Das christliche Dogma – Frankreich, die ältere Tochter der Kirche – Über Schwierigkeiten der Annäherung zwischen dem Westen und den Slaven – Die immense Fülle ihrer Literatur – Topographie, Regierungen, Dialekte – Was dürfte den Westen zum Kennenlernen des Nordens anspornen? – Tacitus – Einfluß der Russen. Rußland und Polen – Zur Bedeutung der Geschichte – Leerstellen in der Geschichte der Naturwissenschaften – Zalužanský, Vitellio, Kopernikus – Literatur – Das Sinnbild der künftigen Vereinigung der slavischen Völker.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Aufgabenziele der Professur – Peter der Große – Die Stämme im Norden – Die Invasion der Barbaren – Merkmale der Slavizität im VI. Jahrhundert – Entstehung slavischer Staatsgebilde – Polen, Tschechen, Mähren, Fürstentümer der Rus’ – Die Goten – Die Mongolen – Dschingis-Khan – Ursachen der mongolischen Invasionen – Das Bild des Tataren – Der Kampf der Rus’ mit den Mongolen und der Polen gegen die Türken.

3. Vorlesung (5. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Vervollständigung des Bildes vom Kampf der slavischen Völker mit den Mongolen und den Türken – Die alte Rus’ und die Merkmale ihrer Literatur; sie neigt sich dem Epos zu – Vergleich der Mongolen mit den Türken – Die Polen; ihr Vaterlandsbegriff und Merkmale ihrer Literatur; sie tendiert zur Lyrik – Die Ukraine – Die Kosaken und ihre Poesie – Malczewskis Versdichtung „Maria“.

4. Vorlesung (8. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Das Slaventum in Legende und Geschichte – Die Wirkung Roms auf die slavischen Stämme – Erst dem Christentum gelang die Umgestaltung des Slaventums – Die Wiege der slavischen Zivilisation; historische Anfänge; der erste slavische Dialekt, der zur Literatursprache erhoben wurde – Die Serben – Die Schlacht auf dem Amselfeld; ihr Einfluß auf die serbische

vi

Inhalt Poesie – Die Tschechen; ihre Fehler, ihre Literatur der Wiedergeburt – Die Affinität einiger slavischer Völker mit Völkern des Westen als aktive Kraft des Christentums – Polen und Frankreich, die Tschechen und die Deutschen, Rußland und England.

5. Vorlesung (12. Januar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 [Antwort auf einige Vorwürfe] – Die Unterscheidungsmerkmale der slavischen Literaturen – Die russische, die polnische und die tschechische Literatur – Der Stammcharakter der Slaven, ihre Physiognomie, Wohnsitze und deren Einteilung; Einfluß der Natur auf die slavische Literatur – Das gesellschaftliche und religiöse Dogma der Slaven, in dem jegliche Form der Offenbarung fehlt.

6. Vorlesung (15. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Die Armut und die Unzuverlässigkeit der Quellen zur slavischen Mythologie – Die Slaven besaßen keine Offenbarung, daher auch keine Philosophie – Die Kriegszüge der Barbaren waren religiös motiviert – Religionskult, Sitten und Gebräuche, slavische Siedlungen und ihre Geschichte – Überlieferungen antiker und neuzeitlicher Autoren über die Slaven – Ihr Geschlechtsname und die Spuren ihres Daseins in verschiedenen Ländern Europas.

7. Vorlesung (19. Januar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Zur Altertümlichkeit der slavischen Besiedlung in Europa – Der gesellschaftliche Status der Slaven in vor- und nachchristlicher Zeit – Nutzen und Vorteile der Erforschung slavischer Sprache für die Philologie – Volkssage und Fabel in Europa und bei den Slaven.

8. Vorlesung (22. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung der slavischen Volkssagen – Verzweigung der slavischen Sprache in Dialekte – Die russische, die polnische und die tschechische Sprache – Die Franken – Der Stamm der Lechiten und der Tschechen – Das polnische und das tschechische Königreich – Die Normannen begründen das Großherzogtum Rus’ – Die Asen.

71

9. Vorlesung (26. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Das Staatsgebilde der Lechiten, der Tschechen und der Rus’ – Neue Tradition – Das Königshaus der Popiels und die Dynastie der Piasten – Die normannischen Großfürsten der Rus’ – Verwandtschaftsbeziehungen der Rus’, der Lechiten und der Tschechen mit den Normannen durch gemeinschaftliche Abstammung von den Asen; Unterschiede der Regierungsformen – Ihre Hauptstädte – Christianisierung der slavischen Völker – Spaltung der Kirche – Fragen der slavischen Einheit.

Inhalt

vii

10. Vorlesung (29. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Der Einfall der Ungarn – Gründung des Königreichs; Verhältnis zu den Slaven – Entstehung slavischer Dialekte – Das älteste literarische Denkmal der Tschechen aus dem IX. Jahrhundert: – „Libussas Gericht“ (Libušin soud), das auch Einblicke in Fragen der Gerichtsbarkeit im alten Slaventum gewährt.

11. Vorlesung (2. Februar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Die literarische Entdeckung von Václav Hanka: „Die Königinhofer Handschrift“ (Královédvorský Rukopis) – Das Heldengedicht „Záboj, Slavoj, Luděk“ und seine Bedeutung – Der Kampf zwischen dem Christentum und dem Heidentum wird noch heute in der Literatur geführt – Das Christentum bringt den Slaven die Familie, die Regierung, die Bildung; es bereitet auch die Einheit der Slaven vor.

12. Vorlesung (5. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die übrigen Dichtungen in der „Königinhofer Handschrift“ – Das Poem über die Tochter Kublai-Khans – Der religiöse Dualismus der Slaven: die katholische und die orthodoxe Kirche – Die Chronikenschreiber: Nestor und Gallus.

13. Vorlesung (9. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Der dualistische Charakter im slavischen Schrifttum – Zwei christliche Kirchen im Slaventum – Polen im XI. Jahrhundert – Der heilige Wojciech (Adalbert von Prag) als Patron Polens; sein Märtyrertum sein polnisches Nationallied – Die polnischen König haben nicht immer seine Botschaft verstanden – Vergleich der Chronikenschreiber: Nestor, Gallus, Thietmar von Merseburg und Cosmas von Prag; literarische Merkmale dieser vier Chronisten – Ursprung der Dialekte – Slavische Dialekte als besondere Sprachen – Ursachen der Entstehung und des Untergangs von Sprachen.

14. Vorlesung (12. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Zur Geschichte der Westslaven zwischen Oder und Elbe; ihr Untergang – Otto von Bamberg und seine Mission in Pommern – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ (Slovo o polku Igoreve) – Bojan

15. Vorlesung (16. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Fortsetzung der Betrachtung über das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ – Poetische Qualitäten des Liedes – Der Glaube an das Übernatürliche im Volk – Vampire und Vampirismus bei den Slaven – „Div“ – Die Bulgaren; ihre Eroberungen in Serbien, Belagerung, Einnahme und Vernichtung von Konstantinopel – Die Serben und ihre Herrscher – Die Uroš-Dynastie – Das Haus Nemanja.

16. Vorlesung (19. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abriß der serbischen Geschichte – Der serbische Zar Lazar – Die Unterwerfung der Serben durch die Türken – Giovanni Capistro versucht einen Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren – Unterschiedliche Auffassung von Geschichte zwischen den byzantinischen Historikern und den serbischen

viii

Inhalt

Dichtern – Die serbische Mythologie – Das Lied von der „Vermählung des Zaren Lazar“ (Ženidba kneza Lazara), die Legende „Die Heiligen im Zorn“ (Sveci blago dijele) – Charakteristik der serbischen Dichtung und ihrer Rhapsoden – Parallelen zu Homer – Vuk Karadžićs Sammlung der serbischen Lieder und Erzählungen.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Die serbische Poesie – Die Legende von der „Erbauung Ravanicas“ (Zidanje Ravanice) – Beispiele aus anderen Liedern; Beschreibung der Schlacht auf dem Amselfeld – Zur Poetik der serbischen Lieder – Drei Epochen der serbischen Literatur: Heldenlieder, romaneske und romantische Dichtung – Königssohn Marko und König Arthur.

18. Vorlesung (2. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Historische Ursachen des Niedergangs der Serben – Slaven und Hellenen – Das byzantinische Reich: Stärke und Niedergang – Die Rolle der Slaven im türkischen Reich – Der Königssohn Marko in der serbischen Poesie – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića) – Montenegro und die Montenegriner.

19. Vorlesung (5. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die poetischen Vorstellungen der Serben vom griechischen Kaiserreich und den Ländern der Lateiner (235) – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića).

20. Vorlesung (9. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Die Familiengefühle bei den Slaven – Wahlbrüderschaft (pobratimstvo) – Die Präsenz des Christlichen und Muselmannischen – Abenteuer des Stojan Janković – Bajo Pivaljan oder die Herausforderung zum Zweikampf – Die Gedächtniskraft bei den Slaven – Das Edle des Stils ihrer Dichtung – Das Triviale wird in den Städten erzeugt – Phantastische Elemente (Gestalt der Vila) – Vampire (upiory).

21. Vorlesung (12. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Bruchstück aus dem Gedicht „Die Hochzeit des Königssohn Marko“ (Ženidba Kraljevića Marka) – Die Frauenlieder (Ženske pjesme) – „Gesang vom Tod der Gattin des Hasan-Aga“ (Hasanagica) – Fürst Miloš Obrenović – Vuks Sänger.

22. Vorlesung (19. März 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Übersetzungen der serbischen Lieder – Zum Erbrecht bei den Slaven – Die Städte der alten Rus’ – Kiev – Novgorod – Polen, die Rus’ und Tschechien im XII. Jahrhundert – Anfänge Preußens – Der Orden der Kreuzritter; Kämpfe, Macht und Niedergang – Die Litauer – Die Invasion der Tataren – Polen und die Tataren.

Inhalt

ix

23. Vorlesung (23. März 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Zur literarischen, geistigen und politischen Situation der Slaven im Norden nach dem Ende des XII. Jahrhunderts – Gründung des Großfürstentums Moskau; Jurij Dolgorukij, Andrej Bogoljubskij, Mstislav Mstislavič Udatnyj – Niedergang der normannischen Rus’ – Die Finnen; ihre Poesie – Nächste Entwicklungsphase des Großfürstentums Moskau – Die Geschichtsschreiber der Rus’ nach Nestor – Polen im XIII. Jahrhundert – Herausbildung der polnischen Staatsidee – Merkmale der polnischen Geschichtsschreibung im XIII. Jahrhundert – Vladimir Monomach und Wincenty Kadłubek.

24. Vorlesung (26. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Charakteristika der polnischen Chroniken und der Chronisten der Rus’ im Vergleich – Wincenty Kadłubek – Gesetzgebende Texte – Polnische Gesetzgebung und die römische Tradition – Veto – Tschechien im XV. Jahrhundert; Feudalwesen und Deutschtum – Die Reimchronik des sog. Dalimil – John Wycliff – Kampf der Tschechen gegen das Deutschtum – Jan Hus – Jan Žižka – Ende des Hussitenkrieges – Aufstieg Moskaus und Litauens – Die Vereinigung Litauens mit Polen.

25. Vorlesung (30. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Das Jagellonische Zeitalter – Charakteristik des Großfürsten von Litauen Władysław Jagiełło nach der Besteigung des polnischen Throns – Auswirkungen der Vereinigung der Polen mit den Litauern – Der Krieg mit dem Kreuzritterorden, die Schlacht auf dem Tannenberg – Sieg der Jagellonen über die Türken – Niederlage bei Varna – Politik der Päpste – Das Schisma – Die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken – Zusammenfassung der slavischen Geschichte bis auf die Jagellonische Zeit.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Zum Status des Polnischen in den östlichen Staatsgebieten – Die Rolle der Dominikaner und der Franziskaner bei der Verbreitung des Polnischen – Der Orden der Basilianer – Das Lateinische – Der polnische Geschichtsschreiber Jan Długosz und sein Werk – Blick auf die politischen Verhältnisse zwischen Moskau und den Mongolen (Karamzin) – Commynes und Macchiavelli und ihr politischer Standpunkt.

27. Vorlesung (7. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Politik und Ethik in dem Geschichtswerk von Jan Długosz – Vergleich mit Philipps von Commynes, Macchiavelli und Livius – Niedergang des Kreuzritterordens – Angliederung Preußens an Polen – Polnische Politik auf der Krim und gegenüber der Türkei – Die Memoiren des polnischen Janitscharen.

x

Inhalt

28. Vorlesung (11. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Die polnische Memoiren-Literatur: „Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik“ (Auszüge) – Tschechische Sekten – Buonaccorsi (Kallimachus) und sein Einfluß – Sigismund  I. (Zygmunt  I) und seine Siege – Säkularisierung des Ritterordens – Der „Hühnerkrieg“ (Wojna kokosza) – Stanisław Orzechowski (Annales).

29. Vorlesung (14. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Anfänge des biographischen Schrifttums in Polen – Das literarische Leben in Tschechien – Zur Buchdruckerkunst – Die Krakauer Akademie – Gregor von Sanok (Grzegorz z Sanoka), Johann von Glogau (Jan z Głogowa), Kopernikus u.a. – Zur polnischen Gesetzgebung – Das russische Volksmärchen „Das Urteil des Schemjaka“ (Šemjakin sud) – Zur Politik der moskovistischen Großfürsten gegenüber der Goldenen Horde, Novgorod und Pskov – Unterjochung von Novgorod und Pskov – Drei politische Richtungen bei den Slaven.

30. Vorlesung (18. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Das Aufglänzen großer Männer in Polen und Tschechien zu Sigmunds I. Zeiten und das Verschwinden dieses geistigen Aufschwungs – Anfänge polnischer volkstümlicher Dichtung; geistliche Lieder – Die Herrschaft Ivans IV. (Ivan Groznyj) – Der Mönch Sil’vestr – Aleksej Fedorovič Adašev.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Sigismund II. August (Zygmunt II August) – Ivan IV. (Fortsetzung) – Ivans Grausamkeiten und Ausmerzungen (opaly) – Der Fürst Andrej Michajlovič Kurbskij; Briefwechsel mit Ivan IV. – Die Deutschen in der moskovitischen Rus’ – Die Ermahnungen des Metropoliten Philipp – Die Zerstörung Novgorods und weitere Grausamkeiten Ivans IV. – Zur polnischen Lachkultur: Die Republik von Babiń (Rzeczpospolita Babińska).

32. Vorlesung (25. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Ausbleibende Reaktion der Polen und Tschechen auf den Terror Ivans IV – Erklärung der Ursache – In Polen wird die Begrenzung der Macht des Königs zur nationalen Idee der Epoche – Die Rolle der Reformation – Das Ansehen des Senats sinkt – Der Humanist Stanislau Hosius (Stanisław Hozjusz) und seine politischen Aktivitäten; Einführung des Jesuitenordens in Polen – Ivans des IV. weitere Gräueltaten; seine Angst und sein Vorhaben zur Flucht; Gesandtschaft nach England – Sigismund August warnt die Königin von England: er ahnt vor seinem Ende die Zukunft der Polen.

33. Vorlesung (28. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Das Schrifttum in Polen – Mikołaj Rej – Er zeichnet das Bild des damaligen polnischen Adels – Der Vergleich Rejs mit Baldassare Castiglione und Michel de Montaigne – Rejs „Leben eines ehrbaren Mannes“ (Żywot człowieka poczciwego).

Inhalt

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34. Vorlesung (1. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Fortsetzung der Betrachtungen über Rejs Werke – Über die Heirat nach Rej und Montaigne – Rej über Steuern, Ämter der Verwaltung und Schatzführung, den Senat und die Senatoren – Drohende Gefahren für das polnische Reich – Rejs Stil.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Polens Dichtung: Jan Kochanowski – Seine Latinität – Die Zeiten des lateinischen Klassizismus in Europa – Ariost und Tasso – Ronsard und die Plejade – Übersetzung der Psalmen Davids (Psałterz Dawidów) – Kochanowskis „Klagelieder“ (Treny) – Kochanowskis Satire „Satyr oder der wilde Mann“ (Satyr albo dziki mąż).

36. Vorlesung (11. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Der Vergleich Kochanowskis mit Horaz – Sein Drama „Die Abfertigung der griechischen Gesandten“ (Odprawa posłów greckich) – Epigramme (Fraszki) – Die Schriften Kochanowskis in Prosa: „Vorhersagungen“ (Wróżki) – Stefan Batory: Polen im neuen Glanz – Die Tyrannei Ivans IV. – Siege Stefan Batorys über Ivan IV.

37. Vorlesung (15. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Der Krieg Polens mit den Moskovitern in politischer, religiöser und literarischer Hinsicht – Gründe für die Wahl Stefan Batorys auf den polnischen Thron – Batorys Kriegspläne und der Sejm – Das Verhältnis der Kriegsparteien zu den europäischen Mächten – Batorys Kriegszug – Die Korrespondenz Batorys mit Ivan IV. und Kurbskij – Die Friedensmission des Jesuiten Antonio Possevino – Waffenstillstand und Friedensabkommen – Fortsetzung der Grausamkeiten durch Ivan IV.; seine Beziehungen zur englischen Krone – Der Tod Ivans IV.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Zur Innen- und Außenpolitik des Königs Stefan Batory – Stefan Batory als Ideal des polnischen Königs – Die Sendung Polens in der Rede des Bischofs Goślicki – Stefan Batory ist in der Politik das, was Jan Kochanowski in der Literatur – Szymon Szymonowicz und seine Idyllen (Sielanki) – Der moskovitische Großfürst Feodor I. Ioannovič und Boris Godunov.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Die Wahl der Könige in Polen – Jan Zamoyski – Sigismund III. Wasa (Zygmunt III Waza) und seine Politik – Zur Situation im Großfürstentum Moskau; Ermordung des Fürsten Dmitrij, des Sohnes Ivans IV. – Der Großfürst Boris Godunov und seine Politik.

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Inhalt

40. Vorlesung (25. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 Erwähnung des Epos von Ivan Gundulić – Piotr Skarga. Seine Reden und Predigten – Charakteristik der „Sejm-Predigten“ (Kazania sejmowe) – Die Begriffe Vaterland und Polen nach Skarga – Skargas politische und prophetische Reden – Charakter und Größe seiner Redekunst.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Über die slavischen Völker bis zum Westfälischen Frieden – Zur politischen Lage in Polen und Rußland im 17. Jahrhundert – Beginn des geistigen, moralischen und politischen Niedergangs Polens – Der Westfälische Frieden (1648) und die verhängnisvollen Folgen für Polen – Das Großfürstentum Moskau wird zum russischen Kaiserreich – Die Philosophen Voltaire und Montesquieu über Polen – Die Slaven in den Augen der neuzeitlichen Philosophie: „Hegel, Gott und Preußen“ – Joseph Marie de Maistre – Gegensätzliche Einschätzung der Philosophen über die Rolle Rußlands und Polens – Die Philosophie und die Zukunft der Slaven in Europa.

Teil II (1841–1842) 1. Vorlesung (14. Dezember 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Einleitung – Programm der Vorlesungsreihe 1841–1842: die slavische Literatur vom Ende des 17. bis zum 19. Jahrhundert – Ihre Einheitsbestrebungen – Rückblick auf die Geschichte der Slaven – Die vom Slaventum erwartete Idee – Das gemeinsame in dieser Erwartung mit dem europäischen Westen – Die Bedeutung des Wortes für die Slaven – Die Stellung des Professors.

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Scheidepunkt zwischen der alten und der neuen Geschichte des Slaventums – Einfluß der Polen auf die Rus’ – Die Tschechen treten vom literarischen Feld ab – Die Scholastik, die Jesuiten und die Rhetorik in Polen – Sprache der Literatur vs. Umgangssprache – Die „Denkwürdigkeiten“ des Pasek.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 Bemerkungen über die Umbildung der Volkssage – Das Franzosentum in Polen – Das Theater in Warschau – Bemerkungen über die Wahl der Könige – Der Enthusiasmus als Springfeder des Handelns der Polen.

4. Vorlesung (4. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Schriftquellen der polnischen Geschichte – Kordeckis Denkschrift – Polen zur Zeit des Jan Kazimierz – Die Kosaken und die Jesuiten – Die Belagerung von Tschenstochau – Der Glaube an das unmittelbare Wirken der unsichtbaren auf die sichtbare Welt ist die moralische und politische Kraft Polens.

Inhalt

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5. Vorlesung. (7. Januar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 Das in Kordecki personifizierte Ideal – Russische Gegenwartsgeschichte – „Mestničestvo“ – Die geheime Kanzlei – Polens Konstitution – Das Veto – Die sozialen Theorien verschiedener philosophischer Schulen.

6. Vorlesung (11. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Die Politik Polens am Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts – Die neuzeitige Politik Rußlands – Peter der Große. Seine Reformen des Reichs.

7. Vorlesung (18. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Antislavisches Streben der moskovitisch-russischen Politik – Die Armee Peter des Großen. Charakter des Volkes von Großrußland – Dessen Mundart wird Amtssprache – Zivilorganisation des Zarenreichs – Polens Lage zur Zeit der Könige aus dem sächsischen Haus – Die drei Monarchen: Peter der Große, August II. und Karl XII – Das Testament Peters des Großen – Vergleichung seiner Reformen mit dem Streben des französischen Nationalkonvents – Persönlicher Charakter Peters des Großen – Charakter der französischen Terroristen.

8. Vorlesung (21. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Vernichtender Einfluß Peters des Großen auf Literatur und Kunst in Rußland – Der Geist des 18. Jahrhunderts hat die Bestimmung, die Selbsttätigkeit der Slaven zu wecken – Der Marschall Kinský in Tschechien – Konarski und das Piaristenkollegium – Neue Literatur in Rußland: Lomonosov und sein Kontrahent Trediakovskij.

9. Vorlesung (25. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 Anfänge der neuen russischen Literatur: Kantemir, Lomonosov – Jean Baptiste Rousseau dient den Russen und Polen zum Muster der Lyrik – Lomonosovs Gedichte – Rücksicht der russischen Kritik auf Rang und Orden der Schriftsteller – Der den Tschechen und Polen verderbliche, rationelle Materialismus erwärmt Rußland.

10. Vorlesung (28. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 Kennzeichen der russischen Literatur seit Lomonosov bis zu Karamzin – Die Geschichte Katharinas I. und Menšikovs – Die Kosaken unterliegen der ersten mongolischen Operation des russischen Regierungssystems – Peter II. – Die Familie Dolgorukij – Menšikovs Sturz – Versuch einer konstitutionellen Charte – Die ausländische Partei in Petersburg – Die Zarin Anna – Sturz der Familie Dolgorukij – Ernest Biren. Der minderjährige Ivan – Das an den russischen Thron gebundene Schicksal der deutschen Fürsten: Anton Ulrich von Braunschweig–Lüneburg – Sturz Birens; Münnich – Münnichs Sturz – Lestocq und die Zarin Elisabeth – Widerstand gegen die ausländische Fraktion – Die russische Literatur gelangt in die höfische Sphäre.

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Inhalt

11. Vorlesung (1. Februar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Die Diplomatie wird das Merkmal des 18. Jahrhunderts – Friedrich der Große und sein Abrundungssystem – Der russische Kanzler Bestužew und seine Politik – Die polnischen Familien der Poniatowskis, Czartoryskis und Potockis – Die Politik der „Familie“ Czartoryski – Rulhières „Geschichte“ – Das Dichterische der damaligen polnischen Geschichte – Was dem Volk den Druck und das Elend am empfindlichsten zu fühlen macht – Bemerkung über die Hauptursache der Kosakenempörung.

12. Vorlesung (11. Februar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Die andere Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Epoche der Wiedergeburt der nordischen Literaturen – Katharina II. und Stanisław August Poniatowski – Geographische Karte der slavischen Literatur – Naruszewicz und Deržavin – Deržavins Gedichte. Die Ode an Gott – Was bei den Slaven „duch“ bedeutet – Erste Spur des Selbstgefühls eigner Würde bei den Slaven – Deržavin als scharfsinniger Dichter zeigt schlechten Geschmack – Das Unedle und Linkische in den slavischen Schriftstellern, woher rührt es? – Was ist Witz?

13. Vorlesung (15. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 Was ist lyrische Dichtung? – Einfluß der Musik auf die Poesie – Unterschiede zwischen Lebendigkeit, rhetorischer Wärme und lyrischer Begeisterung der Eingebung – Die Wärme der Rhetorik und das Feuer der Begeisterung – Geschichte Polens zur Zeit Stanisław Augusts – Die durch die Czartoryskis fortgeführte Reform – Untergang ihrer Bestrebungen – Charakterschwäche des Königs Stanisław August – Mannigfaltiger Einfluß des 18. Jahrhunderts auf die politischen Charaktere der Polen – Eine neue Partei in Polen. Anfang einer neuen Geschichte – Die Barer Konföderation. Die Idee derselben, ausgedrückt im Aufruf des Bischofs Sołtyk – Welchen Vorwurf verdienen die Fürsten Czartoryski und der König Stanisław August?

14. Vorlesung (18. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Bild des Konföderationskrieges – Charakter seiner großen Männer – Rußland, obgleich in einer mißlichen Lage, triumphiert dennoch – Rußlands triumphierende Flotte – Der Fall der Konföderation macht Epoche in der europäischen Politik – Rußland, Preußen und Österreich verspüren es, daß in Polen eine neue Idee aufgegangen ist – Repräsentant derselben ist der Priester Marek.

15. Vorlesung (22. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 Ein Faden moralischer Kraft zieht sich durch alle Begebenheiten am Petersburger Hofe – Blick auf den Gang derselben seit der Zarin Elisabeth – Panin; seine Versuche, Rußland konstitutionelle Gesetze zu geben – Peter III. zeigt sich reformwillig – Katharina II. – Die Orlovs versuchen die Macht zu ergreifen – Ähnlichkeit der Bestrebungen Panins in Rußland und der Czartoryskis in Polen – Glänzender Schein an Katharinas Hof – Das in den Russen

Inhalt

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erwachende Unabhängigkeitsgefühl kann sich mit der Freiheit der Polen nicht vereinen – Zur polnischen Literatur während der Konföderation zu Bar – Anfänge der lyrischen Dichtung; die Vorhersagungen des Wernyhora, die Prophezeiung des Priesters Marek.

16. Vorlesung (8. März 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Zustand der polnischen Literatur nach der ersten Teilung Polens – Es bildet sich eine besondere Klasse von Literaten – Krasicki und seine Satiren – Die Satire entspricht nicht dem Wesen der Slaven – Aus den verschiedenen Richtungen, die der Geist einschlägt, resultiert der Charakter verschiedener Völker – Trembecki – Die Aufklärung Polens. Die Erziehungskommission – Den Grundregeln der polnischen Republik wird zum ersten Male durch die Bestätigung der I. Teilung Polens Gewalt angetan.

17. Vorlesung (15. März 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 Die Literatur aus den Zeiten Katharinas und Stanisław Augusts rettet die aufgeklärten Stände in Rußland und Polen – Wie gelangten fremde Sprachen und Sitten in höhere gesellschaftliche Kreise in den slavischen Ländern? – Zivilisation und Barbarentum – Die politische Reform Polens – Der Große Sejm (Sejm Wielki) – Erblichkeit des Thrones; zweites gewaltsames Antasten der angestammten Republikverfassung Polens – Die Verfassung vom 3. Mai 1791 und ihre Idee von der Gleichheit aller Bürger der Republik – Preußen, Rußland und Österreich verbünden sich gegen Polen – Das geheime Band, das Frankreich und Polen verbindet – Kurze Übersicht zur symbolischen Geschichte des alten Polen.

18. Vorlesung (8. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Kurzer Abriß der russischen Geschichte. Die allgemeine Idee des russischen Zarismus ist die Selbstherrschaft – Merkmale der finnischen Rasse – Was hat Europa der Zarenmacht entgegenzustellen? – Woher ist die Kraft zu erwarten, den Zarismus zu werfen? – Kann die Idee des erdrückten Polens sich noch verkörpern? – Ein Blick auf das gesamte Slaventum – Übersicht der Veränderungen, welche hier der Fortschritt materialistischer Zivilisation bewirkt hat. – Vergleichung des Geistes mit der Dampfkraft.

19. Vorlesung (12. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Merkmale polnischer Schriftsteller am Ende der Herrschaft Stanisław Augusts – Das traurige Ende der Literaten dieser Zeit – Rußlands Triumph – Deržavin, der in der Poesie die russische Idee des Zaren zum Ausdruck bringt; seine Ode „Auf die Einnahme Warschaus“ – Polen besitzt nicht genug Kraft, um sich Rußland zu widersetzen – Kiliński und seine Denkschriften – Was ist Verrat? – Verräterische Schriftsteller in Polen.

20. Vorlesung (19. April 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Karpiński und seine Poesie – Das innere Leben in Polen unter der russischen Gewaltherrschaft – Bei den Polen entstanden die Reformen bisher aus dem

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politischen Gedanken, bei den Russen aus dem religiösen – Die Aktivitäten der Sekten in Rußland – Versuche, die slavische Gemeinde umzuwandeln – Die führenden Reformatoren – Warum sie keinen Erfolg haben.

21. Vorlesung (26. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Der Dichter Julian Niemcewicz – Polen in der Heimat und der Pilgerschaft – Die polnischen Legionen; das Lied der Legionen; durch Fakten gelöste Probleme: Patriotismus, Bürgerschaft, Gleichheit.

22. Vorlesung (29. April 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 Geschichte Rußlands seit dem Tod Katharinas II. – Paul  I. – Die Französische Revolution regt sein Gemüt auf – Die Legitimisten: Graf Joseph de Maistre – General Suvorov – General Dąbrowski und die polnischen Legionen in Italien – Der Zar Paul verliert den Glauben an das System der Legitimisten; seine Neigung für Napoleon – Verschwörung gegen Paul; sein tragisches Ende – Thronbesteigung Alexanders I. – Das polnische Volk folgt instinktiv Napoleon, der Polens eigene nationale Idee verkörpert – Napoleon und das XVIII. Jahrhundert.

23. Vorlesung (6. Mai 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 Die polnisch-sibirische Literatur – Die Beschreibung Sibiriens – Der General Kopeć und sein Reisetagebuch – Bemerkung über das Gefühl der Nationalkraft – Ein geheimnisvolles Band verbindet alle Mitglieder eines Volkes.

24. Vorlesung (10. Mai 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 Fortsetzung des Reisetagebuchs des Generals Kopeć – Das Schamanentum. Nordlicht und Sonnenaufgang in Sibirien – Der sittliche Einfluß Sibiriens auf die Polen.

25. Vorlesung (17. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 Erlöschen der Hoffnungen der Polen nach dem Frieden im Westen – Die Politiker wenden sich an den Zar Alexander I. – Charakter des Zaren – Der Fürst Adam Czartoryski – Napoleons Siege in Österreich und Preußen. Rückkehr der Legionen ins Vaterland – Der Vertrag zu Tilsit – Napoleons Absichten über das Schicksal Polens – Das Großherzogtum Warschau – Die Legionisten und Inländer werfen sich gegenseitig Exaltation vor – Was ist unter politischer Exaltation zu verstehen? – Der slavische Stamm und das polnische Volk sind bestimmt, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen – Welche Menschen haben Neigung für Polen und welche Widerwillen?

26. Vorlesung (24. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Das Herzogtum Warschau; sein Nationalgeist und der Einfluß Napoleons – Das Murren der Publizisten und der älteren Generation – Der Fürst Józef Poniatowski als Vertreter des neuen Polens –  Die Literatur im Großherzogtum Warschau: Koźmian, Wężyk, Godebski, Reklewski, Gorecki – Der Krieg 1812:

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Napoleons Fall – Volksmeinung im Norden und Urteil der Philosophen über ihn – Seine Bedeutung für das Slaventum – Napoleons Sendung: Beginn einer geistigen und politischen Evolution.

27. Vorlesung (31. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 Die russische Literatur seit Karamzin – Verwandtschaft der Literatur dem Buchstaben und dem Geist nach – Ursache der Verbindung der literarischen und politischen Geschichte – Slavische Reaktion wider den Petersburger Geist; die Moskauer Martinisten – Charakteristik der russischen Schriftsteller: Dmitriev, Deržavin und Karamzin – Der Wiener Kongreß – Die polnische Frage verwirrt alle Verträge – Nur der Haß gegen Napoleon vereint die Monarchen – Die slavischen Völker kann nur das religiöse Gefühl vereinen.

28. Vorlesung (7. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 Der russische Dichter Batjuškov – Das religiöse Gefühl erwacht in den damaligen Dichtern Polens und Rußlands – Gram und Unentschlossenheit des Zaren Alexander  I. nach dem Wiener Kongreß. Madame Krüdner und die Mystiker – Die Martinisten werden zur Regierung berufen; Golicyn – Der allgemeine Unwille. Opposition der Literatur gegen die Regierung in Rußland – Puškin – Die Verschwörung. Das erste Zusammenkommen der Polen mit den Russen auf einem politischen Weg und gegenseitige Verschlossenheit. Schwäche der Verbindung, weil sie auf einen negativen Gedanken, auf den Haß sich stützt – Die russische Literatur, die unfähig ist, einen Schritt vorwärts zu gehen, bleibt bei Puškin stehen.

29. Vorlesung (14. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Urteil des Fürsten Vjazemskij über die russische Literatur – Ursache des Hinsterbens dieser Literatur – Die Vitalität der polnischen Literatur – Kazimierz Brodziński. Seine wissenschaftliche Erklärung der polnischen Geschichte – Die polnischen Philosophen: Hoene-Wroński und seine philosophischen Schriften – Kritik seiner Ansichten – Bestimmung der Völker in Verbindung mit ihrem religiösen Charakter.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Dichterschulen. Die litauische und ukrainische Schule – Antoni Malczewski und sein Poem „Maria“ – Die polnische Dichtung und Philosophie haben ein Ziel – Stefan Garczyński und sein philosophisches Poem „Wacława dzieje“ – Hegels Philosophie – Die Anwendung des slavischen Begriffes „duch“ (Geist) – Was ist Genie?

31. Vorlesung (21. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Weitere Analyse des Poems von Garczyński – Übermäßige Entwicklung des Verstandes hemmt den Flug des Geistes – Die polnische Philosophie tendiert zu dieser Auffassung – Antoni Bukaty und seine philosophische Abhandlung „Polen in der Apostasie und Apotheose“.

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Inhalt

32. Vorlesung (28. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 Die Apostasie in Garczyńskis Poem – Die Aufgabe dieses Dichters ist, den Enthusiasmus mit der Vernunft zu vereinen. Die Lösung dieses Rätsels sieht er in der Tatsache des wiederhergestellten polnischen Volkstums – Garczyńskis letztes Wort – Einteilung der Dichter und Schriftsteller nach dem volkstümlichen Streben verschiedener slavischer Völker. Goszczyński und Zaleski – Was begreift der polnische Messianismus in sich? – Erklärung des Begriffs Opfer nach Franz von Baader – Theorien der polnischen Philosophen – Französische Philosophen: Buchez. Pierre Leroux – Schellings System – Der Kern des polnischen Messianismus: Personifizierung der Idee im Menschen.

33. Vorlesung (1. Juli 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 Die Idee des polnischen Messianismus; das slavische Problem ist gleichzeitig ein europäisches – Kern der Geschichte slavischer Völker unter Berücksichtigung des Volksgeistes einer jeden Nation – Der russische Ton – Der polnische Ton, seit dem Mittelalter geschwächt – Der Napoleonische Ton ist höher als der russische – Unterschied zwischen der Hoffnung, welche die Philosophie des Westens zeigt, und der Hoffnung der Polen – Welche Fragen wird der polnische Messianismus lösen? – Weissagungen der Dichter. Prophetische Worte Brodzińskis.

Teil III (1842–1843) 1. Vorlesung (6. Dezember 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999 Allgemeiner Charakter der gegenwärtigen polnischen Literatur – Sie ist philosophisch und befaßt sich mit sozialen Fragen – Die Grundidee der slavischen Philosophie. Offenbarung.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 Über den Messianismus – Der Fortschritt als eine Reihe von Offenbarungen – Religion und Volkstümlichkeit sind nur die Weiterentwicklung großer Individualität – Der Unterschied zwischen Weisheit und Philosophie – Äußerungen eines polnischen Dichters über die Poesie.

3. Vorlesung (20. Dezember 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Wie die slavischen Dichter und Literaten ihre Sendung betrachten – Bohdan Zaleski, Aleksandr  S.  Puškin – Über geheime Verbindungen zwischen dem Geist slavischer Dichter der Gegenwart und dem Geist Byrons.

4. Vorlesung (27. Dezember 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Ziel und Sendungskonzept der Poesie bei den Tschechen – Kollár – Auffassung der österreichischen Diplomatie über die slavische Bewegung bei den Tschechen – Was ist das österreichische Kaiserreich?

Inhalt

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5. Vorlesung (10. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040 Wie trennt sich die slavische Poesie der Gegenwart von der Poesie der Vergangenheit? – Kollár – Goszczyński – Zaleski – Malczewski – Puškin.

6. Vorlesung (13. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 Historische und philologische Forschungen (I) Die anfängliche Geschichte der Slaven – Die Notwendigkeit, theoretische Ansichten mit Zeugnissen der Gelehrsamkeit zu belegen – Spuren des uralten Bestehens der Slaven in Europa – Wenden in Europa – Wenden am Rhein, Mösien, Etruriern, Pannonien und Kleinasien – Assyrer. Herkunft des Namens – Assyrische Götter und Göttinen – Die große Sünde slavischer Stämme – Nemrod, Bel, Ninus, Nebukadnezar – Die Zeit der Buße für die Slaven gekommen läuft ab. Charakter der Slaven.

7. Vorlesung (17. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1066 Historische und philologische Forschungen (II) Asiatische Slaven – Identität der altertümlichen Assyrer mit den Serben bzw. Slaven – Slavische Wortetymologien erklären syrische Anfänge – Thrakien. Kappadokien – Figuren auf der Trajanssäule – Die Sage von König Gordius und Piast – Slavische Typen auf altertümlichen Denkmälern – Koloß des Nordens – Statue des Skythen oder Schleifers – Karyatiden – Der sterbende Gladiator.

8. Vorlesung (24. Januar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 Die Poesie verbindet zwei Pole der Geschichte eines Volkes – Falscher Messianismus – Analyse der „Un-göttlichen Komödie“ – Was ist Wirklichkeit? – Das prophetische Drama – Der Kampf der Vergangenheit mit der Zukunft – Graf Henryk, der Held des Dramas.

9. Vorlesung (31. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102 Der Adler als Symbol politischer Macht – Einleitung zum dritten Teil des Dramas – Pankracy als Anführer der neuen Epoche – Zwei Gegenspieler: der Held der Vergangenheit und der Held der Zukunft – der falsche Messias – Seine Begegnung mit Grafen – Affinitäten zu Danton und Robespierre – Der amerikanische Philosoph Emerson – Der allgemeine Geist – Der Geist als lebendige Tradition, nach der Polen streben soll.

10. Vorlesung (7. Februar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113 Das Treffen beider Anführer – Der Monolog des Grafen vor dem Treffen – Das Gespräch während des Treffens – Origineller und großartiger Einfall, diese beiden sich feindlichen Systeme in die Personen zweier Männer einzuverleiben – Die Macht auf der Seite des Pankracy – Die Wahrheit steht über beiden.

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Inhalt

11. Vorlesung (21. Februar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 Letzte Szene des polnischen Dramas. Der Kampf. Beschreibung des Schlachtfeldes. Der Angriff und der Tod des Grafen Henryk. Triumph der neuen Leute. Pankracy und Leonhard im Gespräch. Der Tod des Pankracy – Zur Frage des polnischen Messianismus – Die vom Autor falsch dargestellte Judenfrage in Polen – Der Autor begriff nicht den Charakter des polnischen Bauern – Der slavische Stamm, berufen zur Schaffung einer neuen Ordnung in der Geschichte der Menschheit – Ähnlichkeit der „Un-göttlichen Komödie“ mit den „Denkwürdigkeiten“ von Kordecki – Emersons Ansichten.

12. Vorlesung (3. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140 Historische und philologische Forschungen (III) Slavische Mythologie – Allgemeine Überlegungen über mythologische Forschungen – Das litauisch-slavische mythologische System, das als das vollständigste anerkannt wird – Das Werk Norks über die syrischen Götter – Inspiration als Quelle aller Religionen – Magnetismus – Somnambulismus – Doktrinen und Künstler als Verfälscher aller Mythologien – Wert der rein erhaltenen religiösen Überlieferung der Slaven.

13. Vorlesung (7. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150 Historische und philologische Forschungen (IV) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Der Sonnenkult. Norks Theorie – Das Dogma aller alten Religionen – Brahmanismus, hebräischer und christlicher Glaube – Geist und Tradition – Was ist Tradition?

14. Vorlesung (14. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160 Historische und philologische Forschungen (V) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Mythologische Konzepte von Hanusch und Dankovský – Slavische Namen griechischer Götter – Das religiöse Empfinden der Slaven – Das Merkmal der Erwartung – Emersons Ansichten – Erkennen und Erfüllen der Verpflichtungen.

15. Vorlesung (24. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1172 Historische und philologische Forschungen (VI) Litauische Mythologie. Zur Geschichte der Litauer – Indische Herkunft der Litauer – Charakter dieses Volkes: polonophil vs. russophob – Wirkung im Norden – Ursachen gegenwärtiger Untätigkeit.

16. Vorlesung (4. April 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182 Das slavische Drama – Über das Drama im Allgemeinen – Das griechische und das christliche Drama – Puškins „Boris Godunov“, Milutinovićs „Tragedia Obilić“ und die „Un-göttliche Komödie“ – Fragen der Auf führbarkeit slavischer Dramen – Über das Wunderbare – Descartes (l’admiration) – Milutinović.

Inhalt

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17. Vorlesung (2. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1192 Philosophische Fragen – Philosophie und der slavische Geist (duch) – Zur Geschichte der europäischen Philosophie – Descartes, Spinoza, Kant, Fichte, Hegel.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206 Widerstand in Deutschland. Herder, Jacobi, Friedrich Schlegel – Einfluß von St. Martin und de Maistre – Schelling und Hegel – Hegelianer – Michelet – Cieszkowski.

19. Vorlesung (16. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222 Historische und philologische Forschungen (VII) Der Begriff des Eigentums bei den Griechen, Römern und Slaven – Slavische Gebräuche und Sitten – Anmerkungen zum Saint-Simonismus und Fourierismus.

20. Vorlesung (23. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236 Historische und philologische Forschungen (VIII) Eigentum und Erbeigentumsrecht bei den Germanen, Galliern und Slaven – Starosteien in Polen – Eigentumsfragen des polnischen Adels – Czartoryski – Zigeuner – Adam Müller und das Kapital.

21. Vorlesung (2. Juni 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1250 Trentowskis philosophisches Konzept als Versuch, die Systeme von Schelling und Hegel zu verbinden – Schwächen dieses Konzepts – Verweis auf die „Un-göttliche Komödie“ und die Schweiz.

22. Vorlesung (6. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1262 Philosophische Anarchie – Fragen der Religion – Philosophische Schulen in der Hegelnachfolge – Cieszkowskis Konzeption.

23. Vorlesung (13. Juni 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1277 Kriterien der Gewißheit der Wahrheit nach de Maistre, Lamennais, Leroux, Emerson und Cieszkowski – Was ist Volkstum?

24. Vorlesung (20. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286 Ludwig Królikowski und das System der religiösen deutschen Philosophie – Schwächen dieses Systems – Kann ein Philosoph eine Gesellschaft aufbauen?

25. Vorlesung (27. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1297 Zusammenfassendes über die politische Geschichte slavischer Staaten – Die Beschaffenheit des russischen Reichs – Das Wesen der polnischen Volkseinrichtungen – Das moralische Ende alter slavischer Staaten. Der neue Geist.

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Inhalt

Teil IV (1843–1844) 1. Vorlesung (22. Dezember 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Über den slavischen Geist und über dessen Bündnis mit dem französischen Geist. Eine Warnung für den Westen – Was bringen die Slaven Neues? – Was kann die Basis des Völkerbundes sein?

2. Vorlesung (26. Dezember 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 Über das wahre Leben und über das scheinbare Leben – Die Doktrinäre im Allgemeinen – Durch welches Mittel kann sich die slavische Rasse für Frankreich besonders begreiflich machen? – Die Intuition.

3. Vorlesung (9. Januar 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Merkmale einer Epoche, welche zu Ende geht – Unterschiede zwischen den Männern der Vergangenheit und den Männern der Zukunft – Über den Enthusiasmus – Was ist das Volk?

4. Vorlesung (9. Januar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1338 Die Lage der Kirche – Rom und die Polnische Revolution – Die Ursache, warum der Klerus die moderne Literatur der Polen zurückstößt – Ein apokalyptisches Polen: das Gesicht am Weihnachtsabend – Die Päpste getrennt von der Überlieferung – Worin besteht das Heilmittel für die Schwäche der Kirche?

5. Vorlesung (23. Januar 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1354 Ursachen des Widerwillens der Kirche gegen den neuen Geist Frankreichs und Polens. – Was wird die Poesie in der Zukunft sein? – Die neuen Heiligen, die neuen Reliquien. Warum kennt die Kirche sie nicht? – Die letzte Phase der polnischen Literatur. Ist sie ketzerisch?

6. Vorlesung (30. Januar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1366 Die Wichtigkeit der slavischen Überlieferung im Hinblick auf Geschichte und Kunsttheorie – Die Schwierigkeit, den Fremden die religiöse und philosophische Sprache der Slaven begreiflich zu machen – Vom Geist und von dem Reich der Geister – Typen der Kunst. Die gegenwärtige Epoche verlangt neue Muster – Napoleon ist das Erzmuster der neuen Kunst.

7. Vorlesung (7. Februar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1378 Was ist das Wort? Die amtliche Kirche hat die Idee und die Tradition des Wortes verloren. Das Wort faßt den Geist und den Leib des Menschen in sich, es ist der ganze Mensch. Wie wird es erzeugt und wie wirkt es? – Von der Gabe der Sprachen. Diese Gabe ist der amtlichen Kirche entzogen worden; sie ist aber nicht von der Erde verschwunden. Von den Worten, die außerhalb der christlichen Kirche versucht wurden. – Die Warnung, welche die Slaven den Philosophen des Westens über die Gefahren der friedfertigen Träumereien schuldig sind.

Inhalt

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8. Vorlesung (5. März 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1393 Das Wort als Element der moralischen Kraft betrachtet – Einfluß der Moral auf das Physische – Worin liegt die wahre Quelle des materiellen Elends?

9. Vorlesung (12. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406 Die wesentliche Frage – Die amtliche Kirche und die Doktrin sind unfähig dieselbe zu lösen – Daher kommt es, daß sie keine Autorität mehr haben – Die Meinungen der russischen Schriftsteller über die Gefahren Frankreichs – Von dem kriegerischen Geiste der Franzosen, sein christlicher Charakter – Der Wert. Die Meinungen der Staatsökonomen von dem religiösen Gesichtspunkt aus beurteilt.

10. Vorlesung (19. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1421 Der Meister

11. Vorlesung (23. April 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436 Ein Rückblick auf das Ganze des Vortrages

12. Vorlesung (30. April 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1447 Die Barbaren. Der ewige Mensch

13. Vorlesung (21. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1461 Der Schluß – Alle Hoffnungen der modernen Sozialisten konzentrieren sich in der Idee, eine neue Synthesis zu schaffen. Die Unmöglichkeit diese Synthese kraft der alten Verfahrungsarten zu erhalten. Die Unzulänglichkeit der Männer, welche wirken – Der Zweck unseres Vortrages. Der Ruf an Frankreich. Das Ecce Homo der Epoche.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1474

Nachwort Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen  . . . . . . . . . . . . . 1495 Walter Kroll 1. Die neue Redaktion der deutschen Übersetzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der F.A. Brockhaus Verlag und Adam Mickiewicz  . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Biographien der Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Darbietungsmodus der Vorlesungen (Improvisation vs. Vorlesung) und Fragen der Verschriftlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Entstehung der ersten polnischen Übersetzung von Feliks Wrotnowski und die Vorlagen der deutschen Übersetzung . . . . . . . .

1495 1497 1500 1514 1519

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Inhalt

Exkurs: Das Fehlen einer editionskritischen französischen Ausgabe der Vorlesungen und die zweite polnische Übersetzung von Leon Płoszewski  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gegenstand und Aufbau der Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zur Rezeption der Pariser Vorlesungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe Die eigentümliche Art, auf welche dies Werk entstanden, dessen Verfasser ich nicht bin, doch aber der Urheber, legt mir die Pflicht auf, einige Erläuterungen dem Publikum zu geben. Als mich die französische Regierung auf den Lehrstuhl der slavischen Literatur und geschichtlichen Zustände berief, verließ ich Lausanne, wo mich alles zurückhielt, was nur irgend im Stande ist, den Verbannten an ein fremdes Land zu fesseln, und begab mich nach Paris, meine Lehrerpflicht in dieser Hauptstadt als einen Dienst in der Sache Polens, Frankreichs und des Slaventums anerkennend. Mittel und Beihilfen für diesen meinen Kursus war ich gezwungen in mir selber zu suchen. Was ich gefühlt und entdeckt während meines Aufenthalts in den slavischen Ländern, was ich noch von meinen frühern Arbeiten über die Geschichte und Literatur der Slaven nicht vergessen und besonders dasjenige, was heute aus dem sich bewegenden Geist dieser Völker in meinen Geist geflossen, das teilte ich den Zuhörern mit. Das Collѐge de France, als Schule betrachtet, bezweckt mehr den Vortrag des Ganzen einer Wissenschaft, als das Erforschen der Einzelheiten, ihre Zuhörer sind keine eigentlichen Studenten; mein Publikum bestand zum großen Teil aus Slaven. Alles dies hatte auf die äußere Form meines Vortrages Einfluß. Immer sprach ich aus dem Gedächtnis und sehr häufig ohne Notizen. Die Zuhörer verfaßten später aus ihren beiläufig nachgeschriebenen Notizen und den Stenographien die Vorlesungen und druckten sie in einer polnischen Übersetzung. Den polnischen Text hat mein Freund Siegfried ins Deutsche übersetzt. Im Texte, welchen zu verbessern ich keine Zeit gehabt, finden sich geringe, aber zahlreiche Irrtümer; Fehler in den Zeit- und Zahlangaben, in Namen, zuweilen sogar in Ausdrucksweisen. Das deutsche Publikum, gewöhnt an Vollständigkeit und Präzision, wird dies nicht angenehm berühren. Den Deutschen rufen wir aber ins Gedächtnis zurück, daß diese Veröffentlichung zum Teil ein Werk von polnischen Emigrierten ist, von Männern, die stets und gänzlich mit einem lebendigen und großen Interesse beschäftigt sind, so daß ihnen die Literatur und Wissenschaft nur als Nebending erscheint. Im Übrigen läßt das Ganze des Werkes ungeachtet der Mängel sich wohl begreifen, und wer in den Geist desselben eingedrungen, der wird auch selbst im Stande sein, die einzelnen Fehler zu berichtigen. Bemerken will ich nur noch, daß die letzten Vorlesungen korrekter abgefaßt sind, als die anderen. Diese sind die wichtigsten,

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Teil 1

auf diese lenken wir die Aufmerksamkeit der Leser ins Besondere; sie sind es, in welchen wir die Idee des Messianismus darzulegen uns bemüht haben, welche, verbreitet durch die geschichtlichen Bewegungen der slavischen Völker, ausgearbeitet in dem sittlichen Innern des polnischen Volkes, in die Welt tritt, und im Zusammenhang stehend mit den politischen Interessen Frankreichs, die Fragen der deutschen Philosophie mannigfaltig berührend, eine Idee des gesamten Europa wird. Die Werke der Dichtung und der Philosophie, die wir in diesen Vorlesungen erwogen, und sogar dieses Werk selbst muß man als die auflodernden Funken, welche diese sich verwirklichende Idee, von ihrer Höhe herab auf die niedere Atmosphäre, in der wir heute leben, auf die Atmosphäre der jetzigen Politik, Philosophie und Literatur geworfen hat, betrachten. Adam Mickiewicz, Paris 1843.

Einige Worte des Übersetzers Ich bin kein Schriftsteller und wollte auch nie ein solcher werden; da jedoch dieses Werk hohe Wahrheiten enthält, Wahrheiten, die bis jetzt noch verhüllt oder unklar ausgesprochen waren, und die im Schoß der ganzen Menschheit gereift sind, namentlich aber im großen Stamm der Slaven, welcher immer übermächtiger nach zwei Welten hin vorschreitet, schien es mir hohe Zeit, die Deutschen davon in Kenntnis zu setzen. Die Zeit ist dringend, ich mußte eilen und die Hilfe meiner Freunde dazu in Anspruch nehmen; bereitwillig wurde sie mir von Kazimierz Kunaszowski aus Galizien, Jan Nepomucen Rembowski aus Großpolen und Hermann Ewerbeck, Doktor der Medizin aus Danzig, dargebracht, so daß nach kaum verflossenen neun Monaten der Arbeit, die zwei ersten Jahrgänge hiermit beendigt sind, und die Vorlesungen dieses Jahres, mit denen Herr Mickiewicz noch jetzt seine zahlreichen Zuhörer beehrt, d.h. der dritte Jahrgang, an welchem ich nun arbeite, diesen Herbst, so Gott will, erscheinen wird. Die Entfernung vom Orte des Druckes verursachte, daß manche kleine Fehler des Druckes, der Aussprache und Übersetzung nicht gehörig ausgemerzt wurden; jedoch die wahrhaft aufgeklärten und biederen Söhne Deutschlands, in deren Brust die Hoffnung und Gewißheit besserer Zeiten flammt, und welche die Wahrheit, nicht aber geringe Fehler suchen, werden sich bei letzteren nicht aufhalten, sondern mein Verlangen, – sie bei der vorrückenden Wiedergeburt Europas, mit dem Vorschritte der Slaven und des Westens bekannt zu machen – so aufnehmen, wie ich ihnen dieses im Interesse der ganzen Menschheit und durch dankbares Andenken ihrer Gastfreiheit bewogen, von Herzen darbringe. Gott nur allein vermag alles zum Guten zu wenden, wir aber können nur darum bitten und, sobald uns sein Wille offenkundig wird, diesem gemäß unser Tun einrichten. Gustav Siegfried, Paris, im Juni 1843.

Teil I (1840–1841)

1. Vorlesung (22. Dezember 1840) Über Schwierigkeiten meiner Tätigkeit – Allgemeiner Abriß des Gegenstandes, Übersetzung und Form der Überlieferung – Anregungen zur Einrichtung des Lehrstuhls – Die slavischen Völker streben einen Platz in der Welt der Literatur an – Erscheinungsformen der Annäherung der Völker – Das christliche Dogma – Frankreich, die ältere Tochter der Kirche – Über Schwierigkeiten der Annäherung zwischen dem Westen und den Slaven – Die immense Fülle ihrer Literatur – Topographie, Regierungen, Dialekte – Was dürfte den Westen zum Kennenlernen des Nordens anspornen? – Tacitus – Einfluß der Russen. Rußland und Polen – Zur Bedeutung der Geschichte – Leerstellen in der Geschichte der Naturwissenschaften – Zalužanský, Vitellio, Kopernikus – Literatur – Das Sinnbild der künftigen Vereinigung der slavischen Völker. (Beifallsbezeugungen beim Erscheinen des Professors)

Meine Herren! Mit Freuden vernehme ich die Beweise ihrer Gunst, die mir umso teurer sind, als ich eine große Anzahl meiner Landsleute hier vor mir sehe, ja selbst viele, meiner Freunde. Doch ich täusche mich nicht über ihre wahre Bedeutung. Sie zeigen mir, wie nötig es ist, meinen Mut zu unterstützen, denn sie fühlen die Schwierigkeit meiner Lage. In der Tat sie ist bedenklich; denn, wenn sie auch den Eindruck vergessen könnten, welchen das Anhören der berühmten Professoren dieser Hochschule auf sie macht, wenn auch meinerseits ich für die Schwierigkeiten des Gegenstandes meiner Vorlesung kein Auge hätte, so war es mir doch immer unmöglich, mich des Gefühls desjenigen Nachteils zu erwehren, welchen ich hier mit mir bringe, und der mit meiner Person verbunden ist. Ich bin ein Ausländer, muß mich in einer Sprache verständlich machen, die nichts mit derjenigen gemein hat, welche mir für gewöhnlich als Organ meines Denkens dient, nichts gemein, weder in dem, was ihr Herkommen, noch was ihre Gestalt und ihren Gang betrifft. Hier ist es nicht bloß darum zu tun, daß ich in ihrer Gegenwart meine Gedanken und Gefühle in einer fremden Sprache ausdrücke, es ist nötig, dieselben alle insgesamt gänzlich und auf einmal umzuschaffen. Diese innere, so schwere Arbeit ist unerläßlich beim Vortrag der Literatur. In einem solchen befolgt man nicht eine bekannte und im Voraus gewählte Methode, hält sich an keine Formeln, mit deren Hilfe die Gedanken folgen, fast keiner Stütze von dem Organ der Sprache bedürfend. Aus dem Kreis der Grammatik und Philologie einmal herausgetreten, werden wir die Denkmäler der Literatur, die Werke der Kunst zum Begreifen und Beurteilen darstellen müssen; und zum Begreifen geben, heißt ebenso viel, als das Feuer, welches sie geschaffen hat, empfinden machen. Die vorarbeitenden Studien, sollten wir sogar Zeit dazu haben, würden sie uns die Kraft verleihen, aus

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_002

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Teil I

irgendeinem Meisterwerke jenes geheime Leben, das sich in ihm birgt, und was das wahre Geheimnis der Kunst ist, ans Licht zu fördern? Mit Nichten. Auf daß dieses Leben hervorsprudle aus dem Wort, erschaffen durch den Meister, muß das schaffende Wort über ihn ausgesprochen werden, und dieses auszusprechen ist unmöglich, wofern man nicht alle Geheimnisse der Sprache besitzt. Kann der Ausländer sie so in seine Gewalt bekommen? Wenn er dieses auch vermöchte, so bleibt ihm die zweite Hälfte der Arbeit gleich schwer. Er wird die äußere Gestalt, diesen untrennbaren Teil, der häufig der hauptsächliche eines Kunstgebildes ist, wiedergeben müssen; und zuweilen kann ein ungeschickter Ausdruck, nicht gut angewandt, oder auch nur schlecht ausgesprochen, dieselbe verderben und zerstören. Alle diese Schwierigkeiten sind mir bekannt, nach jeder Bewegung, jedem Wink meines Geistes, fühle ich die Last der Kette, sowie sie ihr Klirren hören. Und zwar darum, würde ich nur die Zuflüsterungen meiner schriftstellerischen Eigenliebe zu Rate ziehen (denn erniedrigend ist es, vors Publikum zu treten, sobald man nicht jene Kraft fühlt, welche Leichtigkeit und Grazie verleiht), würde ich nur um meine Eigenliebe, um meine persönliche Würde besorgt sein, gewiß ich entsagte der gefährlichen Ehre von diesem Katheder herabzusprechen. Aber sehr trifftige Gründe befahlen mir dieselbe anzunehmen. Man hat mich aufgefordert, die Stimme zu erheben im Namen der Literatur der Völker, mit denen mein Volk durch seine Vergangenheit und Zukunft eng verbunden ist, die Stimme zu erheben in einer Zeit, wo das Wort Macht ist, und in der Stadt, welche die Hauptstadt des Wortes ist. Der Trieb der Völker nach gegenseitiger Annäherung ist einer der Charakterzüge unserer Zeit. Bekannt ist’s, wie Paris der Herd, die Springfeder und das Werkzeug jener Verkettung ist. Durch Vermittlung von Paris kommen die europäischen Völker zur wechselseitigen Erkenntnis, zuweilen sogar zum Verständnis ihrer selbst. Rühmlich ist’s für Frankreich, daß es eine solche Gewalt der Anziehung besitzt; diese Gewalt ist immer im geraden Verhältnis zur Kraft der inneren Bewegung, zur Gesamtheit des Lichtes und der Wärme, die von hier ausstrahlt. Der Vorzug Frankreichs als der älteren Tochter der Kirche, als der Erzieherin aller Eingebungen des Wissens, der Kunst, der Literatur, ist so edel, daß die anderen Völker es für keine Erniedrigung ihrer selbst erachten können, in dieser Beziehung ihrer Führung zu folgen. Nirgends aber ist das Sehnen, der Durst nach einer Annäherung an Europa, nach dem Anknüpfen fester Verbindungen mit den Völkern des Westens wohl so allgemein und lebendig, als in dem slavischen Stamm. Diese Völker, welche zweimal an das Kaiserreich der Franken1 grenzten, zu Karls des Großen und 1 Über die Slaven in Franken („Bavaria Slavica“) vgl. Hans Losert: Die slawische Besiedlung Nordostbayerns aus archäologischer Sicht. In: Vorträge des 11. Niederbayerischen

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

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Napoleons Zeiten, von denen die einen den Kapitularien2 Gehorsam leisteten, die anderen jetzt noch dem französischen Code civil haben, welche von Europa die Religion, die Heeresordnung, Künste und Handwerke entnahmen, welche materiell auf den Westen zurückwirkten, sind jedoch am wenigstens vielleicht bekannt in Betreff ihres Moral- und Geistzustandes. Der europäische Geist scheint sie an seiner Schwelle zu halten und auszuschließen von der christlichen Gemeinschaft. Wie, besitzen sie denn in der Tat kein einziges Element der Zivilisation, das ihnen eigen wäre? Haben sie denn in Nichts zur Vergrößerung der geistigen Reichtümer und sittlichen Güter des Christentums beigetragen? Der Zweifel hierin ist in ihren Augen eine schmerzende Ungerechtigkeit. Trachtend ihr Recht zu erweisen, nach welchem sie zur christlichen Gesellschaft gehören, versuchen sie selbst in eurer Sprache zu reden und zu schreiben, ihre Werke in eure Literatur vorzuschieben. Allein diese Versuche, im persönlichen Interesse unternommen, zuweilen im Interesse einer Meinung, oder eines Bruchstückes derselben, konnten nicht gut ausfallen. Man hat es begriffen, daß, um die Aufmerksamkeit der westlichen Völker, durch so viele Erschütterungen zerstreuet, und mit so vielen wichtigen Dingen beschäftigt, zu gewinnen, es nicht genug sei, ihnen einige glänzende Punkte auf dem Horizonte des Slaventums zu zeigen, daß es nötig ist, seinen ganzen Schild zu enthüllen, daß man näherbringen und hinstellen muß dem Anschauen des Westens die ganze Masse seiner Literaturen. Die französische Regierung hat erfüllt, was die slavischen Völker allgemein wünschten, und es wäre mir schmerzlich, ja sogar unwürdig wäre es, die Wirkung dieses Entschlusses zu verspäten. Ich meinte sogar und gestehe es, daß manche Verhältnisse meines Lebens, in einer gewissen Beziehung wenigstens, mir eher erlauben werden, dem Ruf Genüge zu leisten. Das lange Verweilen in verschiedenen slavischen Ländern, die in ihnen gefundenen Sympathien, die auf immer zurückgebliebenen Rückerinnerungen, haben mich stärker die Einheit unseres Stammes fühlen lassen, als ich im Stande wäre, durch irgend welche Theorie sie einsehen zu lernen. Was der Anfang unserer Zerwürfnisse war, was uns wiedervereinigen kann, diese Frage hat mich nie zu beschäftigen aufgehört. Auf diese Weise fand sich der Plan meines Vortrages bereits vor. Ich glaube daher, daß ich mich leichter als irgendein anderer unter den Slaven des Einflusses aller Leidenschaften werde erwehren können, aller engbrüstigen und ausschließlichen Parteiansichten. Eine solche Einseitigkeit würde sogar entgegen sein dem Archäologentags. Hrsg. Karl Schmotz. Deggendorf 1993, S. 207–270; Joseph Schütz: Frankens mainwendische Namen: Geschichte und Gegenwart. München 1994. 2 Kapitularien waren unter Karl dem Großen königliche Anordnungen im Sinne von Gesetzen, die, in Kapitel eingeteilt, gesetzliche Bestimmungen zu Verwaltung und Rechtsprechung enthielten und auch militärische, kirchliche und kulturelle Angelegenheiten regelten. Vgl. François Louis Ganshof: Was waren die Kapitularien? Darmstadt 1961.

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Teil I

gut verstandenen Interesse unserer Volkssache, würde schlecht entsprechen der Absicht der Regierung, welche diesen Lehrstuhl gründete. Ich habe gesagt, daß, was in der slavischen Literatur am meisten auffällt, ist ihre ungeheure Masse und Ausdehnung, wenn man sich so ausdrücken darf, in Betreff des Allersichtbarsten, in Hinsicht dessen, was gewöhnlich allein nur zur Überzeugung trifft, das heißt die Zahlenmenge und der geographische Raum, den die Nation einnimmt. Die slavische Sprache umfaßt eine große Bevölkerung und einen ungeheuren Landstrich. Siebzig Millionen Menschen sprechen in den Mundarten dieser Sprache, in Ländern, welche die Hälfte von Europa und den dritten Teil von Asien ausmachen. Hat man eine Linie von dem venezianischen Meerbusen bis zum Ausfluß der Elbe gezogen, so finden wir noch außerhalb dieser Linie, und auf ihrer ganzen Länge die Überbleibsel, die Trümmer, von unfern durch den germanischen und romanischen Stamm nach dem Norden zurückgepreßten Völkern. Das erloschene Dasein jener Stämme gehört schon der Geschichte an; weiter jedoch gegen die Karpaten hin, gegen diese uralte Festung des Slaventums, zeigen sich in zwei Gegenden, auf zwei Endpunkten von Europa, seine Geschlechter im bitteren Kampfe begriffen. Am adriatischen Meere verteidigen sie sich gegen den Islamismus; am baltischen, anfänglich unterjocht durch einen fremden Stamm3, erheben sie sich wieder und gewinnen die Oberhand. In der Mitte zwischen diesen Punkten zeigt sich der slavische Stamm in seiner ganzen Kraft, und schießt von hier Äste aus, den einen gen Amerika hin, den andern durch die mongolischen und kaukasischen Völker tief ins Persische hinein, und bis gegen China zu, auf diese Weise in jenem Weltteil wiedergewinnend, was er von seinem Besitztum in Europa verloren hat. Der Boden des Slaventums faßt in sich jede mögliche Verschiedenheit der religiösen und politischen Formen, wie sie nur irgend die Geschichte des Altertums und die neuere aufzustellen im Stande gewesen ist. Wir haben da zuerst das alte Völkchen der Montenegriner, den Sitten nach ähnlich den schottischen Gebirgsmännern, nur insofern glücklicher, daß es seine Unabhängigkeit vor der Übermacht der Kaisertümer, des griechischen, türkischen, deutschen, französischen und gewiß einst auch des römischen zu erwehren vermochte. Wir haben die Stadt Ragusa (Dubrovnik) – das slavische Venedig, Mitbewerberin jenes mächtigen Venedigs, welches beiläufig gesagt auch von

3 [Durch die Schwert- und Kreuzritter mit ihren Ankömmlingen aus allen deutschen Ländern. Anmerkung des Übersetzers].

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den Slaven seinen Ursprung4 nahm; weiter – das altertümliche Illyrien5, Bosnien, Herzegovina, das Königreich Tschechien, den slavischen Teil des Königreichs Ungarn, alle übrigen Länder, die den größten Teil der österreichischen Staaten ausmachen, endlich das russische Kaisertum und das ganze ehemalige Königreich Polen. Fügen wir zu diesem hinzu die Fürstentümer Serbien und Bulgarien, auch was von Slaven unter dem romanischen Volk der Moldau und Wallachei sich findet, und wir werden das Bild des Landes oder vielmehr des slavischen Volkes haben. Die Sprache eines so zahlreichen Geschlechts teilt sich in viele Mundarten; diese jedoch bewahren ungeachtet ihrer verschiedenen Entwicklung den Charakter der Einheit. Es ist dies eine Sprache, welche sich in verschiedenen Formen und Stufen ihrer Veredlung zeigt. Wir sehen sie als eine abgestorbene, religiöse Sprache im Kirchenslavischen; als die Sprache der Gesetzgebung6 und der Befehle für jetzt im Russischen; als die Sprache der Literatur und des Umganges im Polnischen; als die der Wissenschaften im Tschechischen; geblieben im Urzustand als Sprache der Dichtung und Musik bei den Illyrern7, Montenegrinern 4 Mickiewicz übernimmt hier die Auffassung von Wawrzyniec Surowiecki (1769–1827), dergemäß die Wenden (Weneten) Slaven waren, woraus der Name von Vendig abgeleitet werden könne. Vgl. W. Surowiecki: Śledzenie początków narodów słowiańskich. Warszawa 1820; vgl. auch P.J. Schaffarik: Die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828; diese Abhandlung ist keine Übersetzung des Buches von Surowiecki, obwohl darin ausführlich zitiert wird; Schaffarik vertritt hier eine andere Auffassung, vgl. P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer. Deutsch von Mosig von Aehrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843, Bd. II, S. 10. 5 Vgl. Włodzimierz Pająkowski, Leszek Mrożewicz, Bolesław Mrożewicz, Lothar Quinkenstein: Die Illyrier: Illirii proprie dicti. Geschichte und Siedlungsgeschichte. Versuch einer Rekonstruktion. Poznań 2000. 6 Die Auffassung, Russisch sei die „Sprache der Gesetzgebung“, entstand im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Editionen bedeutender russischer Rechtsdenkmäler (siehe unten Speranskij); vgl. Günter Baranowski: Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches Rechtsdenkmal. Frankfurt am Main u.a. 2005 (= Rechtshistorische Reihe, 321); vgl. auch die 5. Vorlesung (Teil I). 7 Illyrer – bezieht sich im 19. Jahrhundert primär auf die Vertreter der „illyrischen Bewegung“ (ilirski pokret) in Kroatien, die alle Südslaven als Illyrer begriff, sie zu vereinen versuchte und die Illyrer als Vorfahren der Slaven erklärte. Die illyrische Idee entstand bei den Südslawen bereits im Zeitalter des Humanismus; vgl. Reinhard Lauer: Genese und Funktion des illyrischen Ideologems in den südslawischen Literaturen (16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts). In: Ethnogense und Staatsbildung in Südosteuropa. Hrsg. Klaus-Detlef Grothusen. Göttingen 1974, S.  116–143. „Illyrische Sprache“ (bzw. das Illyrische) als Bezeichnung für die südslavischen Sprachen ist im 18. und 19. Jahrhundert (A. L. von Schlözer, J. Dobrovský, P. J. Šafárik – deutsch: Schaffarik) uneinheitlich. Vgl. auch Davor Dukić: Illyrozentrismus – ein verborgenes Konzept. In: Konzepte des Slawischen. Hrsg. Tomáš Glanc und Christian Voß. Leipzig 2016, S. 251–264. Unter „Sprache der Dichtung und Musik der Illyrer“ versteht

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und Bosniaken.8 Daher kann auch ein russischer Gelehrter9, welcher mit der Gesetzgebung sich beschäftigt, die vermöge ihrer Ausdehnung und Wichtigkeit in Justinians10 Zeiten zu gehören scheint, mit einem Dichter von der Ukraine sich begegnen, den man wiederum für einen Zeitgenossen der griechischen Lyriker nehmen könnte, weil er ihre Begeisterung, ihren Glanz und ihre Kunst besitzt, mit dem Dichter, welcher die ganze Frische einer reichen Phantasie vereinigend mit der am meisten vollendeten Form, im Stande war, die Vergangenheit mit feuerstrahlendem Leben zu beseelen. Jedermann wirds erraten, daß ich von unserem Bohdan Zaleski11 spreche. Nebenbei unternehmen die tschechischen Gelehrten12 und vollbringen Arbeiten, welche sich mit den Arbeiten der alexandrinischen Schule vergleichen ließen, wenn sie nicht einen ihnen eigentümlichen Charakter hätten, wenn sie nicht erwärmt wären durch einen fast religiösen Enthusiasmus, dessen Vorbild man etwa nur in den alten Interpreten der heiligen Schrift finden könnte. In diese Reihe laßt uns den illyrischen oder serbischen Poeten, einen auf seiner Leier Rhapsodien singenden blinden Greis stellen, über welche sich Kritiker wie Grimm und Eckstein

hier Mickiewicz die serbischen Volkslieder, auf die er in den Vorlesungen Nr. 17–22 (Teil I) ausführlich eingeht. 8 Ähnlich äußerte sich Jan Kollár (1836): „Jeder Stamm wird dann ein Planet, der sich um eine gemeinschaftliche Sonne dreht, auf andere wechselseitig einwirkt und seinen eigenen Weg schreitet. Dann wird man erkennen, daß alle slawischen Mundarten ihre besonderen Vorzüge und Schönheiten haben: daß die eine Kraft und Majestät hat, wie die russische; die andere Anmut und Lieblichkeit, wie die polnische; die dritte einen herrlichen klassisch-metrischen Rhythmus, wie die böhmisch-slawische; die vierte Heroismus, Feuer und Glut, wie die illyrische usw., und daß doch alle diese Eigentümlichkeiten und Vorzüge aus einer Quelle fließen und in einem Brennpunkt der nationalen Entwicklung sich vereinigen.“ – Johann [Jan] Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Aus dem Slawischen, in der Zeitschrift Hronka [1836] gedruckten, ins Deutsche übertragen und vermehrt vom Verfasser. Pesth 1837 (2. Auflage, Leipzig 1844); Zitat nach der 2. Auflage, Leipzig 1844, § 13, S. 76–77. Über J. Kollár vgl. die 4. und 5. Vorlesung (Teil III). 9 Michail Michajlovič Speranskij (1772–1839); vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe. 1649–1825 gg. Pod redakcej M.M. Speranskogo. SPb. 1830. 10 Vgl. das unter dem Kaiser Justinian erstellte Gesetzeswerk: Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung. Hrsg. Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch 3. Überarbeitete Auflage. Heidelberg u.a. 2007. 11 Józef Bohdan Zaleski (1802–1886), Vertreter der sog. „ukrainischen Schule“ der polnischen Romantik; vgl. J.B. Zaleski: Wybór poezyj. Wstęp Barbara Stelmaszczyk-Świontek. Wybór, komentarz Cecylia Gajkowska. Wrocław 1985; vgl. die 30. Vorlesung (Teil II). 12 František Ladislav Čelakovský (1799–1852); Josef Dobrovský (1753–1829); Václav Hanka (1791–1861); Josef Jungmann (1773–1847); Ján Kollár (1793–1852); František Palacký (1798– 1876). Vgl. die 10. und 11. Vorlesung (Teil I).

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begeisterten, und welche zu übersetzen Herder und Goethe nicht unter ihrer Würde hielten.13 Wir sehen daher verschiedene Funktionen, verschiedene Bestimmungen, erfüllt durch verschiedene alte und neue Sprachen, z.B. durch die sanskritische, arabische, türkische, persische, hier verteilt zwischen die Mundarten einer Sprache. Es ist dies ein Anblick wunderbar und einzig in seiner Art. Aus der Kenntnis einer solchen Sprache wäre es möglich, ein neues Licht, fähig zur Beleuchtung sehr vieler wichtigen Fragen der höheren Philologie, der Philosophie und Geschichte, Fragen in Hinsicht des Herkommens der Sprachen und Völker, in Betreff des Wesens und der wahren Bedeutung der Mundarten, was das natürliche Entwickeln der Sprache anbelangt, herauszubringen. Würde es denn für den Anatomen nicht eine wunderbar herrliche Entdeckung sein, wenn er ein organisches Wesen fände, welches alle niederen Stufen seines Daseins durchgelaufen, und dennoch in sich zugleich das Pflanzen-, Tier- und Menschenleben aufbewahrt hätte, jedes aber von denselben in vollkommener Entwicklung und in völliger Ganzheit darstellte? – Und deshalb haben wir auch nicht die Absicht, zum Gegenstande unserer Vorträge irgend welch eine von den slavischen Sprachen zu machen, eine Abteilung zur allgemeinen Grammatik zu liefern, das Museum der Sprachen mit einer neuen Individualität zu bereichern, sondern das ganze Geschlecht, die ganze Familie und Art zu erkennen trachten. Ehe wir uns an die eigentliche Literatur machen, möge es mir vergönnt sein, einige Endergebnisse ihnen vorzulegen, welche vielleicht einstens die Wissenschaft im Stande sein wird aus unserer Lehre zu ziehen, Resultate, welche die Geschichte der Völker, den Gang der exakten, als wie auch die Geschichte der moralischen und politischen Wissenschaften betreffen.

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Vgl. dazu – Johann Wolfgang von Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. von Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv-Gesamtausgabe, Bd.  32. München 1962, 77–97; S. Ferdinand d’Eckstein (1790–1861) in seinen Aufsätzen: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr.  2, S.  243–269 und II, Nr.  6, S.  373–410; über die Übertragungen und Nachdichtungen von Herder und Goethe vgl. – Milan Ćurčin: Das serbische Volkslied in der deutschen Literatur. Leipzig 1902; Jevto  M.  Milović: Übertragung slavischer Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß. Leipzig 1939; Dragoslava Perišić: Goethe bei den Serben. München 1968; Milan Mojašević: Zu Jacob Grimms Deutung serbokroatischer Volkslieder. In: M. Mojašević: Deutsch-jugoslawische Begegnungen. Aufsätze. Wien 1970, S.  58–68; Johann Gottfried von Herder (1744–1803) – „Volkslieder nebst untermischten anderen Stücken“ (1778–79); in der 2. Auflage 1807 unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“; vgl. Peter Drews: Herder und die Slaven. Materialien zur Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München 1990; Joanna Rapacka: Godzina Herdera. O Serbach, Chorwatach i idei jugosłowiańskiej. Warszawa 1995.

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Ich habe erwähnt, daß schon öfters die slavischen Völker aus Europa zurückwirkten. Der tschechische Dichter Jan Kollár hat irgendwo gesagt: Alle Völker haben schon ihr Wort ausgesprochen; jetzt ist’s an uns Slaven, zu reden.14 Mir scheint es, die Slaven hätten schon manchmal gesprochen, zwar auf ihre Art, mit Lanzenstößen und Kanonendonner, und es wäre wohl der Mühe wert gewesen, den Sinn ihrer Rede zu begreifen. Diese Völker gehen schon als eine Kraft in die politischen Berechnungen ein; und um eine Kraft zu bezwingen, um sie zu lenken, würde die Klugheit schon anbefehlen, ihren Ausgangspunkt zu erkennen, den Weg zu messen, die Anspornung zu schatzen, und das Ziel zu erraten; wenigstens das im Angesicht einer neuen politischen Macht zu tun, was die Astronomen nicht vernachlässigen, wenn sich ein neuer Komet oder ein Meteor zeigt. Die Reihe der Beobachtungen, welche in dieser Beziehung nützlich sein könnten, findet man verzeichnet in der Geschichte; bekannt ist aber, daß man die Geschichte eines Volkes nicht erkennen kann, ohne in die Tiefe seiner Literatur hinabzusteigen. Den aufgeklärten Völkern liegt der Nachkommenschaft wegen eine gewisse Pflicht ob, ihre Leuchte nach den dunkleren Gegenden zu wenden. Alles was wir heut zu Tage über die Völker wissen, die einst Barbaren hießen, haben wir von den Griechen und Römern. Tacitus15 macht eine kurze Erwähnung von 14

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Die Äußerung bezieht sich sinngemäß auf das Zitat von Jan Kollár: „Nach dem Untergang der Griechen und Römer sind die germanisch-romanischen Sprachen und Völker Träger der Kultur geworden. Die Kulturelemente spalteten sich aber bei ihnen in zwei Prinzipen, und zwar so scharf und schroff, daß man sie mit dem Namen der alten und neuen Welt, der antiken und modernen Zeit unterscheiden mußte. Das Prinzip der Antike in der Kunst, Wissenschaft und Bildung ist vorzugsweise heidnisch-national, von Griechen und Römern ausgehend, und wenn auch an sich vortrefflich, doch immer einseitig; das Moderne, Romantische, Ritterliche, Sentimentale ist germanisch-christlich: beide haben schon in ihren abgesonderten Bestrebungen der Menschheit ausgedient und sich ausgelebt. Eine universale, rein menschliche Tendenz verlangt jetzt die Zeit und die gereifte Menschheit; diese große Aufgabe kann aber auch nur eine große, bildungsjunge, in alten Formen nicht erstarrte Nation lösen, wie eben die Slawische.“ – Johann [Jan] Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit, op. cit,. § 13, S. 50–51. Jan Kollár (1793–1852) war Slovake (slovakisch – Ján Kollár). Ähnlich äußerte sich bereits 1830 der österreichische Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861), den Kollár auf Seite 63 zitiert; vgl. Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. 2 Bände. Stuttgart und Tubingen 1830 (Reprint Olms 1965), Band  1, S.  V: „Die Erkenntnis dieser Dinge ist von großer Bedeutung, jetzt wo die Herrschaft über das menschliche Geschlecht von den latinischen und germanischen Völkern zu weichen und auf die große Nation der Slaven überzugehen scheint.“ Vgl. auch H. Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 95. Tacitus: Germania. Hrsg. J.  B.  Rives. Oxford 1999. Zur Tacitus-Rezeption in Europa vgl. Christopher B. Krebs: A Most Dangerous Book. Tacitus’s Germania from the Roman Empire to the Third Reich. New York-London 2011; im Hinblick auf Mickiewiczs Vorlesungen vgl.

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den Germanen; seine Worte sind zu unseren Zeiten ein Schatz von köstlichen und reichen Kenntnissen geworden. Aus den Abhandlungen, den Kommentaren über einige Blätter des Tacitus, könnte man heute eine ganze Bibliothek zusammensetzen. Wir, die wir aus den Barbaren heraus die Stelle der Griechen und Römer eingenommen haben, ärgern uns häufig über das Lakonische in der Rede unserer Väter; wir sollten daher bei den Nachkommen nicht einen ähnlichen Vorwurf verdienen. Noch gibt es ein anderes Interesse, welches die Neugier zum Erkennen der vom Herd des westlichen Europas entferntem Gegenden anspornt. Es sagen die Gelehrten und Astrologen, daß die der Sonne am nächsten stehenden Planeten bestimmt seien, einstens ihre Stelle einzunehmen. Die Slaven lasteten immer und lasten nach dem Westen hin. Von dort her kamen jene Haufen, die Rom zerstörten, welches nichts von ihnen wissen wollte, da hingegen sie sich begierig erkundigten, was in Rom vorging. Die neue Geschichte der Slaven ist eng verknüpft mit derjenigen der westlichen Völker Europas. Man sah vor nicht langer Zeit ein slavisches Kriegsheer auf allen Schlachtfeldern, in allen europäischen Hauptstädten. Dies Heer, wohin sich auch wendend, wohin nur irgend seinen Tritt lenkend, war überzeugt, allenthalben einer zweiten slavischen Kriegsmacht zu begegnen, welche gleichsam wie aus der Erde gestiegen einem rächenden Schatten ähnlich ihm in Italien entgegentrat16, später vom Niemen bis hin nach Moskau dasselbe verfolgte, ihm den Weg vor der Berezina und bis unter die Tore von Paris versperrte; dann wieder, als der Held des Jahrhunderts unterlegen, als alles schon beruhigt war, wie eine aus den Wolken gefallene Heerschar über dasselbe herstürzt in ihren Ruhelagern, einen furchtbaren Kampf beginnt, die Welt mit Kriegsgetöse erfüllt, die verbrüderten und fremden Völker aufrüttelt, dieselben im Gefühle des bitteren Hasses und der noch viel heißeren Sympathie entbrennen läßt, zuletzt verschwindet, nach sich einen langen Nachklang des Schmerzes und des Ruhmes hinterlassend. Allenthalben trat dem Adler des russischen Kaiserreichs Polens Adler entgegen, immerfort nach dem russischen Hurra ertönt das Kriegszeichen der Polen; und wenden wir das Ohr nach der Vergangenheit, so hallt uns vielmal das wiederholte Echo des nämlichen Kampfes, des gegenseitigen Anfalls, dieser ewigen Jagd entgegen, welche ein Russe, der Fürst Vjazemskij, eine „Thebaïs ohne Ende“17 genannt hat.

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Maciej Junkert: Nowi Grecy. Historyzm polskich romantyków wobec narodzin Altertumswissenschaft. Poznań 2022, S. 230–242. Die Legion unter Dąbrowski [Anmerkung des Übersetzers]. Diese Äußerung bezieht sich auf die Ausführungen von Petr Andreevič Vjazemskij (1792– 1878) in seinem Aufsatz über Mickiewiczs Sonette („Sonety Mickeviča“ in der Zeitschrift „Moskovskij Telegraf“, 1827, čast’ 14, otdelenie 1, S. 191–222), der, mit Mickiewicz befreundet,

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Was ist der Beweggrund dieser Kämpfe. Wer wird siegen? Die Zukunft wird’s aufhellen. Politische Aussichten können uns hier nicht beschäftigen. Jedoch nicht nur einzig die Waffentaten der Slaven, nicht allein ihre barbarischen Einbrüche in den früheren Jahrhunderten, später die christlichen Verdienste in der Verteidigung von Europa, zuletzt der mächtige Einfluß auf die politischen Dinge, sind im Stande das Interesse zu wecken. Der Westen, der da meint, daß die nordöstlichen Gegenden alle Aufklärung ihm schuldig seien, und welcher in der Tat viele seiner Saaten in der dem Boden angepaßten Verbreitung dort sehen kann, würde jedoch mehrere Entdeckungen finden, die er für die seinigen hält, welche früher in jenen Gegenden gekannt waren. Unser Botaniker Adam Zalužanský18 hat hundert und fünfzig Jahre vor Linné19 das doppelte Geschlecht der Pflanzen bemerkt. Ciołek, Vitellio20 genannt,

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19 20

im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Polen und Russen, das in der Geschichte als „neues Beispiel der alten thebanischen Feindschaft“ (bzw. Bruderkrieg) dargestellt wird, einen versöhnlichen Ton anschlägt. Er sagt: „Братья, которых история часто представляет новым примером древней фивской вражды, должны бы кажется, предать забвению среднюю эпоху своего бытия, ознаменованную семейными раздорами, и слиться в чертах коренных своего происхождения и нынешнего соединения.“ (Die Brüder, die in der Geschichte oft als ein neues Beispiel der alten thebanischen Feindschaft dargestellt werden, sollten, wie es mir scheint, die mittlere Epoche ihres Zusammenlebens, die von familiären Konflikten geprägt war, vergessen, und sie sollten sich in den Grundzügen ihrer Abstammung und ihrer derzeitigen Verbindung vereinen) – Zitat nach: Pëtr Andreevič Vjazemskij: Sonety Mickeviča. In: P.A. Vjazemskij: Ėstetika i literaturnaja kritika. Moskva 1984, S. 66. Thebaïs (Θηβαΐς; russisch: Fiviada oder Feviada) – Titel verschiedener literarischer Bearbeitungen des Sagenkreises um die griechische Stadt Theben und den Krieg zwischen den Brüdern Eteokles und Polyneikes, beginnend mit der „Thebais“ von Publius Papinius Statius; spätere Bearbeitung in der Tragödie von Jean Racine „La Thébaïde ou les frères ennemis“ (Die Thebais oder die feindlichen Brüder), 1664. Vgl. auch – D.P. Ivinskij: Mickevič i Vjazemskij: zametki k teme. In: Adam Mickevič i pol’skij romantizm v russkoj kul’ture. Red. V.A. Chorev. Moskva 2007, S. 138–145. Adam Zalužanský ze Zalužan (um 1555–1613), tschechischer Botaniker; vgl. – Methodi herbariae libri tres Adami Zaluzanii […]. Pragae 1592 (2. Auflage – Frankfurt am Main 1604; Reprint, herausgegeben von Karel Hejm, Prag 1940); vgl. Abhandlungen über die Pflanzenkunde in Böhmen von Kaspar Graf von Sternberg. Zwei Abteilungen. Prag 1818, S. 158– 162; ferner – Vincenz Maivald: Geschichte der Botanik in Böhmen. Wien-Leipzig 1904, S. 29–34. Carl von Linné (1707–1778), schwedischer Naturforscher. Vitellio [auch Witelo, Vitello, Vitello Thuringopolonis, in polnischen Quellen – Ciołek; Verwechslung mit Stanisław Ciołek (~1382–1457), Bischof von Posen, Vizekanzler der polnischen Königskanzlei unter Władysław Jagiełło und Dichter]; Geburtsdatum und Tod unbestimmt (~1230?/1275–vor 1314). Vgl. Leonore Bazinek: Witelo. In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon. Nordhausen 2005, Bd. 24, Sp. 1553–1560. Hauptwerk – Vitellionis Mathematici doctissimi Peri optikēs, id est de natura, ratione & proiectione radiorum visus, luminum, colorum atque formarum, quam vulgo perspectivam vocant. Libri X. Nürnberg 1535; ferner Vitellonis Thuringopoloni Opticae Libri decem. Basel 1572.

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hat schon im dreizehnten Jahrhundert die Theorie der Strahlenbrechungen des Lichtes gebildet, gestützt auf mathematische Berechnung. Andere übergehend, will ich endlich denjenigen erwähnen, welcher allein nur allgemein bekannt ist, Kopernikus, welcher zuerst die Gesetze der Sonnenwelt begriff. Auf welche Weise haben diese Leute, wenn ihr Volk auf keiner Höhenstufe der Aufklärung stand, sich bis zu dieser Kraftentwicklung der Vernunft erhoben? Wie geht es zu, daß dasjenige, was wo anders gewöhnlich erst das Endergebnis einer langen Arbeit ist, am Ende wissenschaftlicher Forschungen liegt, hier eine Rätsellösung zu sein, daß es hier mit dem ersten Morgenanbruch des Wissens zu tagen scheint? Möglich ist es, daß in ackerbauenden Ländern die Pflanzenkunde ganz natürlich den Geist des Menschen beschäftigen, und mit der Anhäufung von Beobachtungen, welche im allgemeinen Umlauf waren, wachsen mußte. Sagt ja doch selbst Vitellio in der Vorrede zu seinem Werk, daß er in Augenblicken des ländlichen Ausruhens den auf den Wellen des Flusses, welcher vor seinem Hause vorbeiging, spielenden Lichtglanz betrachtend, seine ersten Gedanken erfaßte. Einer der ausgezeichneten französischen Schriftsteller hat ausgesagt, daß Kopernikus die Bibel lesend auf die hohen Gedanken vom Sonnensystem kam, und es kann sein, daß diese Ansicht nicht grundlos ist. Aber unser Landsmann, indem er über Kopernikus spricht, hatte ebenfalls vollkommen Recht zu sagen, daß er das System der physischen Welt entdeckt habe, eben wie das „polnische Volk die wesentliche Bewegung der sittlichen Welt selbst vorgefühlt“ („naród polski sam przeczuł istotny ruch świata moralnego“)21 Kopernikus zerstörte die alten Vorurteile, indem er die Sonne als gemeinsamen Herd den Planeten anweist; das polnische Volk hat sein Vaterland um den Mittelpunkt des großen Weltenalls in Lauf gesetzt, und aus derselben Begeisterung ist Kopernikus ein Philosoph gewesen, aus welchem das polnische Volk ein „Kopernikus in der sittlichen Welt“ („Kopernikiem w świecie moralnym“)22 ist. Alle diese Beziehungen verdienen gewiß die Aufmerksamkeit der Ausländer, und vermögen wohl in ihnen die Neugier zum Kennenlernen der wenig bis jetzt beobachteten Völker erwecken, um so mehr, da in diesen Völkern sich ein immer festerer Glaube offenbart, daß sie bestimmt seien, einen tätigeren Anteil am allgemeinen Streben Europas zu nehmen.

21 22

Vgl. Clemens Bäumker: Witelo. Ein Philosoph und Naturforscher des 13. Jahrhunderts. Münster 1991 [11908]. Kazimierz Brodziński: Posłanie do braci wygnańców i Mowa o narodowości Polaków. Paryż 1850 (1. Aufl. Warszawa 1831), S. 55. Im Internet: [http://reader.digitale-sammlungen. de]. Brodziński, op. cit., S. 55.

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Teil I

Die Aussichten habe ich berührt, die Fragen, welche die Slaven betreffen, habe ich gestellt, aber ich bin gezwungen, sie ohne Antwort zu lassen, um auf einem anderen Weg, dem geradesten und kürzesten – dem Weg der Literatur zum Ziel zu eilen. Die Literatur ist das Forum, wo alle slavischen Völker die Früchte ihrer moralischen und geistigen Tätigkeit herbeitragen, ohne sich gegenseitig zu verdrängen und zu befeinden, ohne gegenseitigen Widerwillen. Möchte dieses friedliche Zusammentreffen auf jenem schönen Feld das Vorzeichen ihrer Vereinigung auf einer anderen Laufbahn sein.23

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Dieser Absatz ist in der Übersetzung von Leon Płoszewski etwas länger und wird hier nachübersetzt, weil er wichtige Informationen enthält: „Sprache und Literatur bilden den einzigen Verbindungsknoten zwischen unseren Völkern; durch die Literatur fühlen wir uns wie Brüder und Söhne eines Vaterlandes. Das ist der einzige Bereich, der unser allen Eigentum darstellt, und seinen Wert zu zeigen, liegt uns allen am Herzen. Laßt uns die Vereinigung auf diesem neutralen Feld anstreben, dem einzigen, dessen Neutralität wir alle achten. Dieses geistige Feld versinnbildlichen für mich auf Erden die Mauern dieser Lehranstalt. Nur hier allein können sich ohne gegenseitiges Mißtrauen der Pole und der Russe, der husitische und der katholische Tscheche, der mährische Bruder und der Mönch vom Berge Athos, der glagolitisch schreibende Illyrier und der sich der kyrillischen Schrift bedienende Serbe, der Litauer und der Kosake begegnen. Ja, meine Herren, in den Mauern dieses Raumes sehe ich das Symbol unserer Vereinigung in der Zukunft.“ (Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Opracowanie Julian Maślanka, przekład Leon Płoszewski. Warszawa 1997, Wykład I, S. 23). – Die glagolitische Schrift (Glagolica) wurde 862–863 von dem aus Saloniki stammenden Gelehrten Konstantin (als Mönch Kyrill) für Missionierungszwecke in Pannonien und Mähren entwickelt und gilt als die älteste slavische Schrift; sie wurde dann im 10.–11. Jahrhundert von der kyrillischen Schrift verdrängt. Die glagolitische Schrift war vor allem in Kroatien (Istrien, dalmatinische Inseln) lange verbreitet; das älteste Zeugnis liegt in der „Tafel von Baška“ (Bašćanska ploča) vor, die 1851 auf der Insel Krk gefunden wurde; vgl. Stjepan Damjanović: Tragom jezika hrvatskih glagoljaša. Zagreb 1984; ferner den Sammelband – Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Hrsg. Heinz Miklas. Wien 2000. Über die 1. Vorlesung vgl. Jarosław Ławski: Odkrywca „słowiańskiego kontynentu“. O wykładzie inauguracyjnym Mickiewicza w Collège de France. In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewicza wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej. Próba nowego spojrzenia. Praca zbiorowa pod redakcją Marii Kalinowskiej, Jarosława Ławskiego i Magdaleny Bizior-Dombrowskiej. Warszawa 2011, S. 44–86. Über Editionsprobleme der Pariser Vorlesungen (Teil I) vgl. Alicja Soldatke: Pierwszy kurs prelekcji paryskich Adama Mickiewicza. Problemy krytycznego opracowania tekstu – potrzeba nowego wydania francuskiego. In: W kręgu sztuki edytorskiej. Materiały z III Ogólnopolskich Warsztatów Młodych Edytorów. Kazimierz Dolny, 18–20 listopada 2005, pod redakcją D. Gajc i K. Nepelskiej. Lublin 2007, S. 91–98; ebenso – Joanna Pietrzak-Thébault: Dokumentacja kursu pierwszego Literatury słowiańskiej. Wyzwanie dla edytora czy filologa? In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewiczaa wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej, op. cit., S. 27–33.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840) Aufgabenziele der Professur – Peter der Große – Die Stämme im Norden – Die Invasion der Barbaren – Merkmale der Slavizität im VI. Jahrhundert – Entstehung slavischer Staatsgebilde – Polen, Tschechen, Mähren, Fürstentümer der Rus’ – Die Goten – Die Mongolen – Dschingis-Khan – Ursachen der mongolischen Invasionen – Das Bild des Tataren – Der Kampf der Rus’ mit den Mongolen und der Polen gegen die Türken.

Wir haben einige Endresultate angeführt, welche man aus dem Erkennen der slavischen Zustände erlangen könnte, und welche, wie es scheint, die Aufmerksamkeit des Westens, Frankreichs, auf sie hinzulenken im Stande sind. Vielleicht haben wir auch das Glück, das Interesse für den Hauptgegenstand unseres Vortrages, für die slavische Literatur zu erwecken. Diese Literatur zeigt sich uns noch in der Ferne und undeutlich; es ist nötig, sich einen Schaupunkt ihres Bildes zu wählen, auf daß man sich annähernd die Einzelheiten unterscheide und erkenne. Wir werden uns nicht darüber aufhalten, was in Betreff der Organisation Belehrendes sein könnte in der neuen Geschichte der Slaven. Die Publizisten jedoch, welche sich mit den sozialen Fragen beschäftigen, könnten von hier aus nicht wenig Aufklärung zur Voraussehung der letzten Ergebnisse ihrer Aufgaben entnehmen. Mehrere Ideen, welche bei ihnen erst als verstandesmäßige Auffassungen sich noch nicht bis zu den allerletzten logischen Folgerungen entwickelt haben, geben schon ausgeführt bei den Slaven die Ansicht von dem in der Wirklichkeit erhaltenen Ergebnisse. Würde eine aufmerksame Beobachtung die von den Slaven so eifrig aufgegriffenen Theorien des Westens, und das praktische, so gänzlich dem Westen unbekannte Leben der slavischen Völker, vereinigen, so würde dieses der Menschheit viele vergebliche und schmerzliche Reformversuche vielleicht ersparen. Der französische Nationalkonvent24 griff zu einer kühnen und gewaltsamen Reform; Peter der Große weicht weder in der trotzigen Keckheit der Entschlüsse, noch in der energischen Gewaltmäßigkeit der Ausführung in Nichts den Männern des Konvents. Dieser Reformator war allein ein ganzer Konvent, und darin höher als jener, daß er sein Werk vollbracht hat. Peters des Großen System steht bis auf den heutigen Tag, hat sich gänzlich entwickelt, es trägt Früchte. Genügend wäre darauf hinzublicken, um zu erkennen, was von der Aufdrängung des Willens und Gedankens eines Individuums für den geschichtlichen Fortschritt eines Volkes zu erwarten oder zu befürchten stehet. Es würde dieses das Verhältnis, welches 24

Nationalkonvent (Convention nationale) – während der Französischen Revolution die konstitutionelle und parlamentarische Versammlung (1792–1795).

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zwischen der Überlieferungs- und der dogmatischen Schule der Geschichtsschreiber obwaltet, aufklären. Wir werden uns auch nicht mit den religiösen Reformen in den slavischen Ländern, noch mit ihrem Einfluß auf Europa beschäftigen. Merkwürdig ist jedoch, daß die Erfahrungen der Slaven in dieser Beziehung so fast unbemerkt vorüberziehen. Martin Luther ist ja Jan Hus25 vorhergegangen, und die zahlreichen und verschiedenen Sekten sind hier zur völligen Reife, zum sozialen Zustande herangereift; sie haben ihre gesetzgebenden Körper und Vollführungsgewalten gehabt, sie haben die allerletzten Endergebnisse geliefert, welche man hätte sehen können, ohne denselben Weg aufs Neue zurücklegen zu brauchen. Näher berührt die Literatur, und sehr wissenswert für Europa und Frankreich ist der Rückblick auf die eigentümliche Geschichte der nördlichen Völker. In der Zeit des Entstehens der europäischen Gesellschaft, und des Beginns des christlichen Königreichs Frankreich, sind die Berührungen des Westens mit den Geschlechtern des Nordens in ein tiefes Dunkel gehüllt. Eine ungeheure Linie scheidet die bekannten von den unbekannten Sachen ab, und die Bekanntschaft damit beginnt gerade am Ende des Barbarentums. Vor dieser Grenze ist alles unbekannt. Was hat die Völkerschaaren von Konstantinopel her gegen Westen nach dem Ausflusse des Rheins und nach Rom getrieben? Wer gab den Horden den Antrieb und wer versperrte ihnen den Weg? Wer verursachte den Zu- und Abfluß dieses Stromes von Barbaren? Dieses alles ist noch wenig aufgeklärt, und dennoch ließen sich wohl viele Erscheinungen an ihrer Quelle begreifen. Erinnern wir uns an die Gestalt des slavischen Grundsitzes. Seine ungeheuren, Asien von Europa abscheidenden Flächen erstrecken sich zwischen Griechenlands Bergen und den Gestaden des baltischen Meeres. Durch diesen Kanal floß alles nach Europa hin, wodurch nur irgend das Meer des Slaventums angeschwellt worden war. Im sechsten Jahrhundert verändert eine allgemeine Revolution die Gestalt der Dinge auf dieser ganzen ungeheuren Oberfläche. Es grenzen sich neue Länder, neue Reiche auf derselben ab: Mähren, Tschechien, Polen, Fürstentümer der Rus’. Es ist die mythische Epoche des Slaventums. Bald trägt die christliche Religion hier das organische Leben der Gemeinschaften hinein, jedoch von Rom und Konstantinopel zu gleicher Zeit kommend, senkt sie nach dem

25

Jan Hus (um 1369–1415); vgl. J.  Hus: Schriften zur Glaubensreform und Briefe der Jahre 1414–1415. Hrsg. Walter Schamschula. Frankfurt am Main 1969.

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Ausdruck eines unserer Geschichtsschreiber26 ihre gegen sich geneigten entgegengesetzten Pole der Zivilisation in die Brüdervölker hinein, um sie mit der Kraft des Zurückschellens auseinander zu reißen. Zuerst leisten die Polen und die Tschechen (Böhmen) Widerstand gegen den Ansturm der Barbaren, später schnellt sie Rußland zurück, oder verschlingt dieselben, und endlich kommt die gänzliche Abgrenzung Asiens von Europa zu Stande. Wie viel auch die Slaven den westlichen Völkern haben Leid antun können, so drohten ihre Einbrüche jedoch nie mit einer dauernden Gefahr. Furchtbarer waren die Überfälle der kriegerischen Völker der Goten und Skandinavier. Dieses alles kann aber nicht in Vergleich kommen mit der Vernichtung, die für Europa der mongolische, tatarische oder uralische Stamm in sich trug. [Die germanischen Krieger überfielen die Länder in der Formation heutiger regulärer Armeen: Sie lebten auf Kosten der Bauern, vernichteten sie aber nicht; anders die Mongolen, sie zerstörten und vernichteten das Land, in das sie einmarschierten, völlig.] Ziehen wir vom baltischen Meer gen Norden zu einem Bogen, dessen Sehne das Ufer des Dnjepr sein möchte, so werden wir fast die Grenze zwischen dem Grundsitze der Slaven und der uralischen Völker haben. Eine andere Vegetation, einen anderen Menschenschlag, gänzlich verschieden vom indogermanischen, findet man hier. Dieses ungeheure Geschlecht, welches mehrere Male die Welt umwälzte, faßt in sich drei Hauptaste: den finnischen, mongolischtatarischen und chinesischen. Der erste und letzte geht uns hier weniger an; wir werden uns daher hauptsachlich mit dem mongolisch-tatarischen beschäftigen. Die Steppen Asiens, welche heute noch den Namen Tatarei27 führen, sind um Vieles größer als ganz Europa. Ihre Bevölkerung beträgt jedoch kaum vier bis sechs Millionen, aber jeder Mann ist Soldat. Hier scheint die griechische Mythologie ihren Tartarus versetzt zu haben, jene Quelle alles Elends und Unheils, von hier entspringt auch nach der Meinung der Gelehrten der fabelhafte Zentaur, das Bild der menschlichen Natur, kaum über die viehische erhoben. Dieses Menschtier, dieser Zentaur, ist der Tatare. Sein Körperbau besser von oben entwickelt, hat keine hinlängliche Stütze: die schwachen und schlecht geformten Füße scheinen bloß zum Umfassen des Pferdes zu dienen, aus welchem er fortwährend lebt und wie ein Ganzes mit ihm ausmacht. Der Kopf unförmlich rund, nimmt sich aus wie eine hinzugetane Last 26

27

Nicht ermittelt. Dieser Verweis fehlt in der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves. […] Tome premier. Paris 1849, S. 18) und in der Übersetzung von L. Płoszewski (Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 26). Tatarei (auch Tarterei) vgl. dazu Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998.

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zur Erhaltung des Gleichgewichtes im Laufe. Außer der viehischen Leidenschaft läßt sich nichts aus seinem Blicke erschauen; der Glanz seiner schwarzen Augen gleicht der verglimmenden Kohle. Keine einzige Geistesauffassung, nichts von Gefühl oder religiösen Vorstellungen steht man beim Tataren. Nicht die mindeste Spur von einer Mythologie und ursprünglichen Religion haben die Mongolen. Die Alten, welche dieser Völker Erwähnung tun, sagen aus, daß sie das Schwert als Zeichen der materiellen Kraft verehrten. Nach den Sagen und Liedern der Slaven hat der Tatare für jeden Tag eine andere Gottheit: eine Meinung, welche den Kultus, der nur für das Wohlergehen eines jeden Tages berechnet ist, gut ausdrückt. Dieses Geschlecht kann übrigens als das Ideal des blinden Gehorsams gelten, und dieses scheint auch die ganze Grundlage seiner geselligen Organisation zu sein. Der Mongole errät durch angeborenen Instinkt den Vorzug des anderen, und bedingungslos unterwirft er sich demselben. Der Grundsatz einer militärischen Disziplin, entsprossen aus langer Erfahrung, ist bei ihnen das Ergebnis einer natürlichen Neigung. Die Anführer vereinigten in sich alle Fehler und Eigenschaften ihrer Horden. Jeder von ihnen kam als Philosoph zur Welt, er glaubte an Nichts, benutzte jedoch den Glauben, wenn es nötig war, nie war er Fanatiker. Aber dafür wurde auch jeder zum Heerführer geboren, und besaß die strategische Kunst in hohem Grade. Bekannt sind die Taten eines Attila.28 Dschingis-Khan29 teilte in seinem Zelt, unter dem Polarsterne sitzend, zwei Armeen, von denen die eine Indien, die andere Deutschland verheerte, Befehle aus. Öfters sogar errieten die niederen Heerführer den allgemeinen Plan ohne Befehle; das ganze Heer, diesen ganzen Stamm leitete immer der unfehlbare Instinkt der Raubtiere. Dschingis-Khan konnte nicht lesen, kannte nicht die Geschichte seines Stammes, und dennoch war er, wie alle uralischen Heerführer, kein Barbar, er war sogar zivilisiert, wenn die Kunst, Reichtümer und Macht zu erwerben, Zivilisation benannt werden soll. Die Mongolen übertrafen hierin alle heutigen Staatsökonomen. Der Handel und die Industrie erfreuten sich unter ihnen eines ungemeinen Schutzes. Nach der Erstürmung einer Stadt wurden gewöhnlich während der allgemeinen Niedermetzlung die Handwerker verschont und übersiedelt, als zu keinem Volke gehörig. Der Gebrauch der Posten war ihnen bekannt: die Stationen der Kuriere Dschingis-Khans erstreckten sich von China bis nach Polen. Er wollte einerlei Maße und Münzen einführen; und ein englischer

28 29

Attila (~ 406–453); vgl. Timo Stickler: Die Hunnen. München 2007. Dschingis Khan (~ 1162–1227); vgl. Dschingis Khan: Eroberer, Stammesfürst, Vordenker. Hrsg. Hans Leicht. Düsseldorf 2002.

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Geschichtschreiber30 sagt, daß er auch schon auf die Erfindung der Bankscheine gekommen war. Das ganze System des Materialismus hatte daher seine Vollführung unter der Leitung einer hohen, instinktmäßigen Fähigkeit, gestützt auf gewaltige Hilfsmittel. Würden wir jetzt fragen, welchen Zweck alle diese Mongolenzüge in die entferntesten Weltgegenden hatten, so würde die Antwort schwer zu geben sein. Ihre Führer setzten nicht den mindesten Wert auf Reichtümer, die sie zu suchen schienen. Die Vernichtung war ihr einziger, sichtbarer Zweck. Im Rat eines dieser Führer wurde einst kaltblütig beraten, ob es nicht besser wäre, die Bevölkerung von ganz Persien niederzumetzeln und das Land in Weideplätze zu verwandeln. Kaum vermochte man es zu verhüten, daß der Antrag nicht angenommen und ausgeführt wurde. Die mongolischen Gewalthaber sagten jedesmal an, daß sie berufen, seien die Menschheit zu bestrafen, sie zu demütigen und auszurotten. Dieser Glaube ist im Stamme des Dschingis-Khan noch nicht ausgestorben. Leicht ist daher zu begreifen, mit welcher Gefahr diese furchtbaren Horden der Menschheit drohten; und es ist ein Irrtum, und bezeugt nur Unkunde in der Geschichte, zu glauben, daß es leicht war, sie zurückzudrängen als ungeregelte Haufen. Nie ging eine zahlreichere Armee auf Eroberung aus, und sie war wohl eingeübt, befaß auch große Führer. Einige Jahrhunderte hindurch hielten die Slaven diesen furchtbaren Einbruch eines ganzen Stammes auf. Die besiegte Rus’ hörte nicht auf, einen passiven Widerstand zu leisten, indem es die Oberherrschaft der Mongolen anerkannte, bewahrte es seine Dynastie und die Nationalreligion, teure Keime der zukünftigen Einheit. Die Fürsten der alten Rus’ haben nie die Hoffnung und die Sache des Volkes aufgegeben. In den Lagern der Tataren geschändet und gemartert, lernten sie das Geheimnis ihrer Politik auswendig, um dasselbe gegen sie selbst zu kehren. Rußland hat allmählich seine Fesseln abgenutzt, sie unmerklich abgeschüttelt, dergestalt daß man mit Genauigkeit die Epoche seiner Befreiung nicht angeben kann. Das heutige Rußland ist Herr eines großen Teils der Tatarei. Nicht die Mongolen allein hatte das Christentum zu seinen schrecklichen Feinden; von der anderen Seite her drang gewichtig der Islamismus gegen dasselbe vor. Die slavischen Völker verteilen unter sich die Last der Verteidigung. Zur Zeit, als die alte Rus’ mit den Mongolen rang, drängte Polen die Türken zurück. Dieser gleichzeitige Kampf wurde ohne den mindesten Zusammenhang zwischen den Völkern der Rus’ und Polen geführt. Ihre Siege und Niederlagen trafen wechselseitig ein. Die unglückliche Schlacht bei Warna [1444] 30

Quelle nicht ermittelt.

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und der Tod des Königs Władysław mit der Blüte der polnischen Ritter kündete dem Christentum den Verlust von Illyrien und Serbien an. Die türkische Macht wuchs von jener Zeit fortwahrend, bis endlich Jan Sobieski dieselbe im Süden Polens erschütterte, und den letzten Hieb ihr unter den Mauern von Wien [1683] versetzte. Auf diese Weise hat das Land der alten Rus’ von der einen Seite gen Norden die Mongolen zurückgedrängt, auf der anderen Seite Polen die Osmanen in der Mitte von Europa aufgehalten, dieses aber nach langen und fürchterlichen Kämpfen, deren Spur jetzt schon nicht mehr zu sehen. Zu jener Zeit gab es nur wenige Städte, wenige Werke der Kunst, und sogar nicht viele Festungen und Verteidigungswerke. Die ackerbautreibenden Länder erheben sich bald nach Niederlagen, und in Kurzem verwischt sich in ihnen die Spur des Überfalles.31

31

Vorlesung unvollständig; der Abschluß fehlt.

3. Vorlesung (5. Januar 1841) Die Vervollständigung des Bildes vom Kampf der slavischen Völker mit den Mongolen und den Türken – Die alte Rus’ und die Merkmale ihrer Literatur; sie neigt sich dem Epos zu – Vergleich der Mongolen mit den Türken – Die Polen; ihr Vaterlandsbegriff und Merkmale ihrer Literatur; sie tendiert zur Lyrik – Die Ukraine – Die Kosaken und ihre Poesie – Malczewskis Versdichtung „Maria“.

Der Slaven Widerstand gegen die Europa bedrohenden Einbrüche im Mittelalter drückte ihrer Literatur einen eigentümlichen Stempel auf. In diesem langen und erbitterten Kampf haben die slavischen Völker ihre Volkstümlichkeit ausgebildet, ihren eigenen Genius entwickelt; durch ihn traten sie in die Reihe der europäischen Völker. Die Mitte des Schauplatzes der allgemeinen Geschichte des Slaventums sind die Karpaten. Auf dem Gipfel dieser Berge hat, wie der Dichter sich ausdrückt, der slavische Adler sich niedergelassen, und mit einem seiner Fittiche das schwarze, mit dem anderen das baltische Meer berührt.32 Jenseits der karpatischen Bergkette zeigen sich uns auf ihren ausgedehnten Flächen die Völker der Rus’ und der Polen; diesseits in den Tälern der Alpen und des Balkangebirges (Haemus) verschiedene Völker, von welchen die Tschechen bis tief nach Deutschland hinein wie eine gegen Westen vorgerückte Vorhut ragen. Die Rus’, den uralischen Stämmen am nächsten gelegen, am längsten mit ihnen im Kampf, zwei Jahrhunderte lang unter dem Joch der Mongolen schmachtend, bereitete in mannhaftem und geduldigem Ausharren sich seine zukünftige Größe. Ihre alte Literatur hat schon in jener Zeit, gleichsam wie durch ein schreckliches Vorgefühl betroffen, einen ernsten und traurigen Charakter. Späterhin wird die Religion das einzige Band der Bevölkerung, welche unterjocht ist von den Tataren; das Interesse für die volkstümliche Unabhängigkeit gewinnt jedoch die Oberhand, welches aber bald die Gewalthaber sich unterzuordnen wissen. Die Literatur der alten Rus’ ist religiös, mehr jedoch monarchisch. Der Fürst geht im Kampf voran, Alles geschieht durch ihn und in seinem Namen: man sieht nicht die untergeordneten Helden. Jegliche Selbständigkeit verschwindet im Angesicht der Größe der zukünftigen Einheit und 32

Seweryn Goszczyński (1803–1876). Vgl. sein Gedicht „Orzeł Biały“ (Der weiße Adler) in: Seweryn Goszczyński: Pobudka. Warszawa 1831, S. 21–25. [www.pbi.edu.pl]: „[…] A kiedy zleciał za skały / Bujać od Dniepru do Sali, / Na całej ziemi wołali: Co za ptak ten orzeł biały! / Jak polotnem skrzydłem toczy! / Jaki w piórach blask uroczy! / To drugie słońce w podniebia przezroczy. // Wszystko się przed nim spłaszczyło; / Ural zgarbaciał w pagórki, / Bracia orły jak przepiórki, / Padły przed jego szpon siłą, / A gdy, spocząwszy na ziemi, / Strzepnął skrzydły dorosłemi, / Daw wielkie morza plusnęły pod ziemi.“ […].

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Macht des Staates. Die Person des Fürsten faßt den Ausdruck der ganzen jedesmaligen Epoche in sich, die Eigenschaften und Fehler des Herrschers kümmern so viel den Dichter, als sie Einfluß auf das Schicksal der Rus’ haben können. Die Poesie hat daher schon ihr gestecktes Ziel, sie eilt zum Epos. Das dramatische Element erlischt gänzlich in ihr; das Drama erfordert das Spiel vieler individuellen Charaktere, das sich Aneinanderreiben verschiedener Interessen. Dieser Zug der ursprünglichen Literatur der Rus’ hat sich zum größten Teil durchgelebt bis zu ihrer Umwandelung, bis auf die Zeiten Katharinens. Alsdann wich die Religion gänzlich, das monarchische Interesse überwog: die Literatur wurde autokratisch. Nach der Begründung der nationalen Einheit, nach der Anhäufung aller Macht in der Gewalt blieben jedoch die Folgerungen hieraus zu ziehen. Erst dann nimmt die Literatur den Vortritt, sie treibt die Gewalt vor sich hin. Die russischen Dichter gehen häufig den von den Franzosen betretenen Weg, sie ahmen die Engländer nach; ergreift sie jedoch ein nationales Ereignis, so werden sie sogleich Russen. Anders war der Feind, mit welchem Polen hauptsächlich zu tun hatte, ein anderes Ziel, andere Mittel zum Kampf, daher auch andere Endergebnisse. Die Türken haben sich vor allen uralischen Geschlechtern am meisten dem indogermanischen Stamm genähert. Vermischt mit den schönen Völkern der unterjochten Länder, verloren sie mit der Zeit ihre ursprüngliche Häßlichkeit. Von ausgezeichneter und edler Gestalt, großer Kraft, wenn auch etwas weichlichem Körper, unterscheiden sie sich ebenso sehr von den Mongolen in moralischer Beziehung. Wie jenen die Religionsgefühle gänzlich abgehen, so werden diese im Gegenteil sogar geneigt zum Fanatismus; wie das Gemüt jener kalt ist, so besitzen diese eine lebendige Einbildungskraft, welche wenn auch mehr passiv als tätig nichts Eigentümliches schafft, so doch die Kunst und Dichtungsgebilde anderer sich aneignet und nachbildet. Die Mongolen haben keinen einzigen Dichter, keinen einzigen Künstler. Ja doch eine Erfindung im Bereich der Baukunst gehört ihnen eigen: und dies ist, Türme von lebendigen Menschen mit Kalk zugegossen zu bauen. Timur-Leng (Tamerlan)33 half eigenhändig den Maurern bei dieser Arbeit.34 Die Türken waren nie so grausam; sie kämpften am häufigsten im Geiste der Proselytenmacherei für die Verbreitung 33 Über Tamerlan (1336–1405); vgl. Tilman Nagel: Timur der Eroberer und die islamische Welt im späten Mittelalter. München 1993. 34 Vgl. Instituts politiques et militaires de Tamerlan, proprement appelé Timour, écrits par lui-même en mogol et traduits en françois sur la version persane d’Abou-Taleb-alHosseïni, avec la Vie de ce conquérant, d’après les meilleurs auteurs orienttaux, des notes, & des Tables Historique, Géographique, &c. Par Louis-Mathieu Longlès. Paris 1787. Im Internet zugänglich unter: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb10250777_00005.html.

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

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ihres Glaubens, das Glück setzten sie ins Herrschen und Genießen, nicht aber ins Vernichten. Es wurde einst im Rat der mongolischen Weisen gefragt, welches die höchste Glückseligkeit in der Welt wäre? Der Khan antwortete hierauf: den Gegner zu besiegen, ihm die Gattin in seinen Augen zu schänden, die Kinder zu ermorden und ihn zuletzt selbst zu Tode zu quälen. Der Rat gab dem Monarchen Recht, denn es war dies eine volkstümliche Ansicht. Der Türke, wenn auch nach Reichtum, Plünderung und Raub lechzend, weidet sich jedoch nicht an der Qual seiner Beute, er faßt das Glück anders auf. Er liebt die müßige Ruhe, das süße Träumen: diesen Zustand benennt er mit einem Worte, das man nur unvollständig mit dem italienischen farniente wiedergeben kann. Die türkischen Überfälle, weniger schrecklich als die der Mongolen, waren für die Unabhängigkeit der besiegten Völker desto gefährlicher. Lenormant35 sagte, daß auch kein einziger der mongolischen Gewalthaber einen Organisationsgeist besaß; es ist wahr, sie verstanden bloß die Werkzeuge der Zerstörung zu bereiten. Die Türken hingegen bildeten ein ihnen eignes System der dauernden Unterjochung aus, sie ordneten auf ihre Weise bis zu einem gewissen Grade die bekriegten Länder; wo sie sich einmal niedergelassen hatten, da hielten sie auch hartnäckig Stand, was sie einmal errungen, war ihnen äußerst schwer zu entreißen. Der Chronikenschreiber, allgemein bekannt unter dem Namen der Pole Janczar36, vergleicht sie mit einem Meer37, das alle Wässer fortwährend verschlingt, jedoch nie wiedergibt; jede Überschwemmung der Mongolen floß bald wieder in ihre Steppen zurück. Der Andrang des Sultanats nach Polen hin reizte dieses fortwährend auf, weckte alle seine Kräfte und preßte dieselben in einen Mittelpunkt. Hierdurch entwickelte sich in Polen das Gefühl der Volksmacht und der Gedanke vom europäischen Berufe des Staates. Die Polen begriffen bald, ihre Sendung sei 35

Charles Lenormant (1802–1859), französischer Historiker und Ägyptologe; vgl. Ch. Lenormant: Introduction à l’histoire de l’Asie occidentale. Paris 1838 (Stelle nicht ermittelt). 36 Die Autorschaft wird dem Serben Konstantin Mihailović iz Ostrovice (um 1435 – nach 1501) zugeschrieben; vgl. dazu die Eineitung von Renate Lachmann in: Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik. Eingeleitet und übersetzt von Renate Lachmann. Kommentiert von Claus Peter Haase, Renate Lachmann, Günter Prinzing. Graz 1975 (= Slavische Geschichtsschreiber. 8), S. 20–50. 37 „Pogańskie rozmnożenie podobne do morza, którego nigdy nie przybywa ani ubywa i takiego jest rodzaju, że nigdy nie bywa spokojne i zawsze się kołysze.“ In: Pamiętniki Janczara Polaka przed rokiem 1500 napisane. Warszawa 1828 (= Zbiór Pisarzów Polskich cz. 2, t. 5), Kap. XLVII, S.  259; Mickiewicz benutzte diese Ausgabe, die keinen textkritischen Apparat enthält. Textkritische, aber dennoch unvollständige polnische Ausgabe vgl. Pamiętniki Janczara czyli kronika turecka Konstantego z Ostrowicy, napisane między rokiem 1496 a 1501. Hrsg. Jan Łoś. Kraków 1912; die vollständigste Ausgabe ist die oben zitierte Übersetzung von R. Lachmann.

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die Verteidigung des Christentums und der Zivilisation gegen den Islamismus und die Barbaren; zugleich mußten sie ihre Kräfte und Mittel erkennen, messen und abschätzen. Das Gefühl dieser Endzwecke, aller dieser Mittel und Vorräte konzentrierte sich in dem Gefühl der Volkstümlichkeit, und drückte sich mit dem einzigen Namen ojczyzna (das Vaterland) aus. Der Patriotismus, die Vaterlandsliebe, ist das zeugende Dogma der ganzen Bildung des Geistes und des Gemütes der Polen; ihre ganze Literatur entwuchs, entfaltete sich und erblühte aus diesem einzigen Worte ojczyzna, sie ist die verschiedene Deutung und Anwendung dieser einen Idee. Denn zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Umständen offenbarte sich diese Idee den verschiedenen Geistern in verschiedenem Lichte und in vielfachen Gestalten. Der begeisterte Redner Piotr Skarga38 begreift und fühlt das Vaterland als den Staat des auserwählten Stammes, als das Jerusalem mit seiner Arche des Bundes, dem Tempel und der Hauptstadt, mit seiner heiligen Vergangenheit, deren Verteidigung und Bewahrung das Leben des Volkes ausmacht. Nach den Meinungen vieler heutiger Reformatoren besteht das Vaterland in der zukünftigen geselligen Ordnung, welche erst zu erschaffen ist. Die Freiheit, Macht und das Glück gehören notwendig zum Inhalt dieser Vorstellung. Nicht zu verwundern ist, wenn eine ähnliche Idee in die Wirklichkeit weder gänzlich eingeführt wurde, noch eingeführt werden konnte, daß nie der gesellige Zustand Polens alle ihre Bedingungen umfaßte. Darum ist es unmöglich, den polnischen Patriotismus mit Worten zu beschreiben und denselben in eine wissenschaftliche Formel zu fassen. So viel ist jedoch gewiß, daß bei den Dichtern, Rednern und nationalen polnischen Staatsmännern das Vaterland nicht der Ort ist, ubi bene, nicht ein gewisser Zustand des Wohlseins, oder ein Stück Erde mit Grenzen umschrieben, hinter denen das Dasein und volkstümliche Wirken des Polen aufhört. Das Vaterland der Polen lebt und wirkt allenthalben, wo die treuen Herzen seiner Söhne schlagen. Die von Polen abgefallenen Länder haben nie aufgehört in Betracht der Volkstümlichkeit und Literatur zu ihm zu gehören. Hier sogar ist die patriotische Politik wieder aufgelebt im idealen Nationalgeist. Die abgerissenen Provinzen hatten ihre Boten auf im Sejm, Sitze im Senate, Beamte und Richter im Kreis der tätigen Gewalten. Polen allein ist dem Beispiel der allgemeinen Kirche gefolgt, welche für die verschiedenen, seiner moralischen Führerschaft unterworfenen Länder der Erde Bischöfe ernennt, und seine 38

Piotr Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego. Wstęp, opracowanie i przypisy Mirosław Korolko. Warszawa 2012, S. 50: „Miłujcie ojczyznę tę swoję i to Hieruzalem swoje, to jest Koronę tę i Rzeczpospolitą […].“ (Liebt euer Vaterland und euer Jerusalem, d.h. die Krone und die Republik).

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

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rechtliche Macht sogar dahin erstreckt, wo sie die zeitliche Gewalt verloren hat. Auf der polnisch-russischen Seite der Karpaten bemerken wir zwei Literaturen. Die eine hat vor allem zum Zwecke die nationale Einheit, später die Gewalt und dann das Hinaustreten dieser Gewalt nach Außen; die wirkende Kraft der andern ist die Vaterlandsliebe. Beide sind in ihrem Bestreben unbegrenzt und unermeßlich. Es gibt nichts Wahreres als die Worte eines berühmten Dichters, die er in der Deputiertenkammer sprach: „Die Macht Rußlands ist geduldig wie die Zeit, ausgedehnt wie der Raum.“39 Nie hat dieselbe sich Grenzen gesteckt, wo sie sich aufhalten soll. Der polnische Patriotismus kennt ebenfalls keine letzten Grenzen für sich. Es ist dieses nicht der eigensüchtige und materielle Begriff der Vaterlandsliebe der allen Griechen und Römer, er ist nicht an ein Kapitol gebunden und bedarf keineswegs durchaus eines Forums, schließt sich auch in keine Personifizierung ein. Der Thron übernimmt hier nicht die Hauptrolle, er macht bloß einen sehr kleinen Teil der Republik aus. Die ganze Gesellschaft ist berufen zum Handeln. Der König wird häufig auf dem Schauplatz der Taten nicht einmal gesehen, die Namen der Heerführer und Staatsmänner nehmen den ersten Rang ein; und zuweilen treten Landschaften und Provinzen wie einzelne Personen auf, sie empfangen den Lohn für die Auszeichnung im Kampf (wie einst eine Woiwodschaft das sonderbare Privilegium erhielt, ihre Akten mit rotem Lack zu siegeln). Diese sittliche Kraft, welche keinen sichtlichen Mittelpunkt besitzt, und dennoch eine große und verschiedenartige Gesellschaft bewegt, scheint den, nach der heutigen Ordnung der Dinge praktisch benannten Geistern zu entgehen. Ein anderer französischer Abgeordneter sagte: „Die polnische Sache bietet darin die größte Schwierigkeit, daß sie untastbar ist, sie ist etwas, was man nicht erfassen kann (quelque chose d’insaisissable).“40 Und der russische Monarch [Nikolaj I.], als er seinen Zorn gegen Polen auslassend sagte: „Die Polen opfern die Wirklichkeit für Träume (pour les rêves) auf“41, hatte in gewisser Beziehung Recht. Wenn wir nämlich, wie es heute an der Tagesordnung ist, jeden Gedanken, welcher noch keine Gewalt auf Erden besitzt, und nur erst der Verwirklichung entgegensieht, einen Traum nennen wollen. 39 40 41

Vgl. Alphonse de Lamartine: Vues, discours et articles sur la question d’Orient. Paris 1840 – im Internet unter [http://gallica.bnf.fr]. Zitat nicht ermittelt. Zitat und Person nicht ermittelt. Die Aussage wird zitiert in: Le Czar Nicolas et la Pologne, ou discours de l’autocrate russe, à la municipalité de Varsovie, suivi d’articles que différents journaux ont publiés à ce sujet. La préface est signée de l’éditeur Ignacy Stanisław Grabowski. Paris 1835; vgl. dazu den Kommentar von J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 631).

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Aus diesem Allem läßt sich leicht begreifen, daß die polnische Poesie ihrem Wesen nach keine Elemente des Epos darbietet, sich aber dem Drama und noch mehr der lyrischen Gefühlsweise zuneigt. Inmitten der Reiche der Mongolen und Türken, der Rus’ und Polens, liegt ein Landstrich mit schwankenden Grenzen, sehr anziehend für die Geschichte und Literatur. Von der untern Donau, beinahe von Belgrad ab, erstrecken sich einerseits rund um den Fuß der Karpaten, herum, andererseits am Schwarzen Meere hinter dem Dnjepr und Don bis nach dem Kaukasus hin, breite Steppen. Dieser unermeßliche Raum ist schwer mit einem Namen zu bezeichnen. Verschiedenen Teilen dieses Landes geben die Alten den Namen KleinSkythien, die Russen Kleinrußland, die Polen suchten bis dorthin die Grenzen von Kleinpolen. Ein großer Teil dieses Gebiets trägt den Namen Ukraina, d.h. das Land, das da angrenzt. Eine menschenleere Wüste, zuweilen besetzt und dann wieder von Einwohnern entblößt, aber immer fruchtbar und mit üppigem Unkraut bedeckt, diente seit Jahrhunderten den durchziehenden Barbaren als Pferdeweide. Es ist dieses die große Ader, welche Europa mit der Fläche Mittelasiens verbindet; hiedurch ergoß sich das asiatische Leben nach Europa, hier berührten sich diese beiden Weltteile. Zugvögel, wandernde Insekten, die Pest und die Raubhorden ziehen durch diesen Erdgürtel. Die Völker, welche eine Schranke gegen die Einbrüche stellen, oder die sich mit einander messen wollten, begegneten sich auf diesem neutralen Boden, auf dieser allgemeinen Walstätte. Hier bekämpften sich die Kriegsheere des Ostens und Westens in den Armeen des Kyros und Dareios, der Rus’ und Polens. Hier entsproß das kriegerische Volk der Kosaken, zusammengeschmolzen aus Slaven, Tataren und Türken. Die Kosaken reden die kleinrussische Sprache42, eine Mittelsprache zwischen der polnischen und russischen; sie gingen abwechselnd unter die Oberherrschaft der Polen und der Fürsten der Rus’ über, zuweilen ergaben sie sich den Türken; ihre Literatur wechselte Sinn und Gestalt, je nachdem der polnische oder der Einfluß der Rus’ überwog. Diese Literatur besingt die Vorzüge der Heerführer, den Ruhm der Ritter und am Ende ihre Liebschaften; ihren Hauptcharakter macht die Lyrik aus. Die Flächen der Ukraine sind der Sitz der lyrischen Poesie. Von hier aus haben Lieder unbekannter Dichter häufig das ganze Slaventum durchzogen. Der Kosak, neben seiner Erd- oder Rohrhütte sitzend, lauscht im Schweigen seinem unfern grasenden Pferde, er läßt seinen Blick in der grünen Steppe herum schweifen, und sinnt nach, träumt über die Kämpfe, die hier stattfanden, die Siege und Niederlagen, die hier noch einst vorkommen werden. Das Lied, das seiner Brust entquillt, wird zum 42

D.h. ukrainisch; vgl. Ulrich Schweier: Ukrainisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt-Wien-Ljubljana 2002, S. 535–549.

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3. Vorlesung (5. Januar 1841)

Ausdruck des Nationalgefühls, allenthalben mit Feuer aufgefaßt, geht es von Geschlecht zu Geschlecht. Die Donau, dieser heilige Strom der Slaven, übernimmt fast immer eine Rolle in diesen Liedern. Er durchzieht diese geheimnisvollen Ebenen, dies sehnsuchtsvolle Land der unerratenen Verhängnisse, und zuweilen ist er wie Hesiods43 Ozean die allerletzte Grenze der bekannten Welt, zuweilen mit Blut gefärbt, wie der Homerische44 Skamander, wälzt er die Rüstungen, die Leiber der Kämpfer und die Schätze der Könige. Was aber auch dieses Land in der Dichtung besaß, ist alles sehr gering im Vergleich der Begeisterung, die es unlängst erweckt hat. Diese wunderbare und leere Walstätte, wo die Überlieferung keinen Stein45 findet, auf dem sie ausruhen könnte, ja nicht einmal einen Baum zum Anlehnen, wo, wie Bohdan Zaleski sagt, die Poesie […] rozesłana Na kwiecistym pól kobiercu, Uwięziona tęskno dzwoni Jak natchnienie w młodym sercu

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[…] ausgebreitet Auf dem blumigen Feldteppiche, Gefangen traurig summt Wie Begeisterung im jungen Herzen,

Vgl. Hesiod: Werke und Tage. Griechisch/Deutsch. Übertragen von Otto Schönberger. Stuttgart 2007, Verse 170–173: „Diese bewohnen daselbst, das Gemüt von Sorgen entlastet, / Nah des Okeanos Wirbeln, den tiefen, der Seligen Inseln, / Glücklich Heroengeschlecht […]“. Vgl. Homer: „Ilias“ (21. Gesang, Verse 236–237; 302–303). Mickiewicz verarbeitet hier die Bilder der ukrainischen Landschaft aus dem I.  Gesang (VIII. Strophe) aus Antoni Malczewskis Versepos „Maria“ (1825): „I ciche, puste pola – znikli już rycerze, / A jak by sercu brakli, żal za nimi bierze. / Włóczy się wzrok w przestrzeni, lecz gdzie tylko zajdzie, / Ni ruchu nie napotka, ni spocząć nie znajdzie. / Na rozciągnięte niwy słońce z kosa świeci – / Czasem kracząc i wrona, i cień jej przeleci, / Czasem w bliskich burianach świerszcz polny zaćwierka, / I głucho – tylko jakaś w powietrzu rozterka. / To jakże? Myśl przeszłości w tej całej krainie / Na żaden pomnik ojców łagodnie nie spłynie, / Gdzie by tęsknych uniesień złożyć mogła brzemię?“ (Und stille, öde ist die Flur, die Ritter schon verschwunden; / Das Herz bangt ihnen nach, als hätt’ es den Verlust empfunden. / Der Blick schweift hin im weiten Raum; doch wo er nur mag weilen, / Er trifft nichts Lebendes, kann keinen Ruhepunkt ereilen, / Die Sonne leuchtet schräge auf die ausgedehnte Flur, / Belebt fast von der Krähe Flug und ihrem Schatten nur: / Zuweilen zipt im nah’n Gestrüppe eine Ackergrille; / Nur in den Lüften herrscht ein Zwiespalt – scheint’s – sonst dumpfe Stille. – / Wie, ist kein Ahnenmonument im Lande weit und breit; / Das, sanft umflossen vom Gedanken der Vergangenheit, / Ihm eine Ruhestätt’ für bangen Fühlens Bürde werde?) – A. Malczewski „Maria“. Powieść ukraińska. Opracował i wstępem poprzedził Wacław Kubacki. Warszawa 1956, S. 117–118; deutsche Übersetzung nach – „Maria“. Ukrainische Erzählung in zwei Gesängen von Anton Malczewski. Aus dem Polnischen metrisch – sammt den Anmerkungen des Dichters – übertragen und mit sprachlichen und sachlichen Zusätzen erläutert von Ernst Schroll. Krakau 1856, S. 18–19.

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Teil I

und nur zuweilen der Wind ein Teilchen losreißt und hinträgt im leichten Gewölk […] przez limany, […] über Limanen, Przez ostrowy i burzany, Über Inseln und üppige Grasebenen, Gdzie mych przodków błądzą duchy.46 Wo meiner Ahnen Geister irren.

Hier ist nach den Worten eines alten Sängers47, auf dieser von Pferdehufen durchwühlten, von Leibern der Gefallenen gedüngten, mit ihren Gebeinen besäten und feinem Regen warmen Blutes benetzten Ebene, üppig emporgeschossen das Trauergefühl. Sehnsucht und Trauer atmen hauptsachlich die Dichtungen jener Gegenden, welche die neuen russischen und besonders die polnischen Dichter48 mit einer Menge Denkmaler bevölkert haben. [Den Gegenstand der heutigen Vorlesung schließen wir mit der Anführung einiger Verse, in denen unser zeitgenössischer Dichter Malczewski ein bewegtes Bild des bewaffneten Kampfes zwischen den Slaven und den uralischen Stämmen in dieser Gegend zeichnet. Das Thema des Poems bezieht sich auf einen der letzten tatarischen Überfälle. Der Held ist ein polnischer Adliger, der in einem abgelegenen Gutshof in der Steppe lebt. Die Nachricht über 46

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Józef Bohdan Zaleski: „Duma z pieśni ludu ukraińskiego“. In: Poezye B. Zaleskiego. Tom I., Petersburg 1851, S. 168, 170. („liman“ – ein schöner See, und daher die poetische Benennung der Seen mit dem Wort „limany“ im Polnischen; „ostrowy“ – Inselgruppen auf dem Dnjepr und anderen Flüssen, die meist bewachsen sind; „burzany“ – heißen verschiedentlich geformte Ebenen, aber immer mit außerordentlich üppigem und hohem Graswuchs und anderer Vegetation bedeckt. Dasselbe wird in anderen Gegenden auch noch anders genannt. Anmerkung des Übersetzers.). Verweis auf das „Igor-Lied“ (Zeilen  123–129): „То было въ ты рати и въ ты пълкы, а сицеи рати не слышяно! Съ заранiя до вечера, съ вечера до света летять стрелы каленыя, гримлють сабли о шеломы, трещять копiя харалужная въ поле незнаеме среди земли Половецкыя. Чьрна земля подъ копыты костьми была посеяна, а кръвiю польяна, тугою възыдошя по Русьскои земли.“ (Das geschah in jenen Kriegen und und jenen Heerfahrten, aber von solchem Kriege wurde nie gehört: Von der Morgenfrühe bis zum Abend, vom Abend bis zum Licht fliegen gehärtete Pfeile, dröhnen Säbel gegen Helme, krachen stählerne Lanzen im unbekannten Feld inmitten des kumanischen Landes. Schwarz die Erde unter den Hufen, mit Knochen war sie besät und mit Blut begossen, als Kummer ging’s auf im russischen Lande.) – „Slovo o polku Igoreve“. Red. L.A. Dmitriev, D.S Lichačev. Moskva 1985; dt. Übersetzung – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 27–28. Vgl. auch die 5. und die 14. Vorlesung (Teil I). Zum Beispiel – Kondratij Fedorovič Ryleev „Dumy“ (1821–23), „Vojnarovskij“ (1825), „Nalivajko“ (1825); Aleksandr Sergeevič Puškin „Poltava“ (1828); Bohdan Zaleski „Duma o Wacławie“ (1819); Michał Czajkowski „Powieści kozackie“ (1837); vgl. Czesław Zgorzelski: Duma poprzedniczka ballady. Toruń 1949.

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das Heranrücken des Feindes bewegt ihn zu einer Versöhnung mit seinem Nachbarn, einem polnischen Magnaten, gegen den er einen berechtigten und unsäglichen Groll hegte. In der Verdrängung des persönlichen Verletztseins zugunsten einer Landesangelegenheit wird das wahre Zeichen des polnischen Patriotismus sichtbar. „Auf ein schnelles Pferd schwang sich der alte Ritter [miecznik]49 und ritt ins Feld hinaus.“ […] Zrywają się rycerze jakby ptaki z ziemi — Hasa szlachecka młodzież na wroga Tatara — Sunie się towarzystwo i w szeregach wiara, Pancerni i usarzy — za nimi kozaki, I z spłoszonymi końmi harcują luzaki. […]50 Tymczasem wieś minąwszy, z bitej schodząc drogi, Coraz się, coraz głębiej, wpędzali w odłogi; — Gdzie wiatr ziarna zasiewa, Czas płody przewraca, Nie zbiera plonu Chciwość, ni schyla się Praca — Samotne — ciche — błogie — dziewicze ich wdzięki Kwitną skrycie, od człeka nieskażone ręki, Niebo je obejmuje — gdy w całym przestworze Rozfarbionej żyzności rozciąga się morze. Tam wódz stary, jak żeglarz, podług biegu słońca Szybował swoim wojskiem w kierunku bez końca; Ani się wwieść dozwolił w fałszywe zapędy, Gdy zszedł tatarskich śladów kręcone obłędy Co wśrzód gęstych zarośli niedościgłe szlaki Tłoczą na wszystkie strony, dla mylnej poznaki — Lecz w poprzek przerzynając ich sztuczne drożyny, Uśmiechnął się — jak strzelec, gdy pewny zwierzyny. Wkrótce — złączone hufce — w umyślnym fortelu Rozdzielił na dwie części — dla jednego celu: Do zostających czapką kiwnął pożegnanie; Z swoimi w bok się rzucił na niezmiernym łanie; A kryjąc się w bodiaków rozkwitłych ogromie, Już rycerze bez koni w czerwonym poziomie Już popiersia wędrują na skrwawionym spodzie — Już kołpaki — proporce — już znikli jak w wodzie. […]51

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Miecznik: Abgeleitet von miecz – Schwert; Schwertträger, Liktor; Hofbeamter im alten Polen. Antoni Malczewski: Maria. Powieść ukraińska. Opracował Ryszard Przybylski. Wrocław 1958, Pieśń  I, XIX. Zitiert nach der Internetausgabe: [https://literat.ug.edu.pl/maria/ index.htm]. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, V.

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Teil I Der Ritterhauf’ wie Vögel, von der Erde aufgescheucht. Voran des Adels Jugend sprengt — ha, gegen die Tataren! Das Heer es wälzt sich nach: die Reis’gen wohlgereiht, Husaren, Gepanzerte, und ihnen nach Kosaken rasch im Flug; Troßbuben scheue Rosse tummelnd schließen dann den Zug. […] Indessen ging’s am Dorf vorbei fernab gebahnten Wegen, Und immer tiefer jagten sie steppein auf wüsten Stegen, Wo Wind der Sämann ist und Zeit die Garbenwenderin, Nicht Gier die Ernte hält, nicht Fleiß sich bückt zur Erde hin, Die jungfräulichen Reize der Natur in Einsamkeit Glückselig still erblühn, von Menschenhänden unentweiht, Wo nur der Himmel sie umfängt und ringsum weit und breit Ein buntgefärbtes Meer sich dehnt von Fruchtbarkeit. Ein Schiffer drauf, führt hier der greise Held den Heeresbann. Des Weges Richtung, endlos, zeigt der Sonne Lauf ihm an. […] Auch ließ er, als es galt der Tatarn Schliche aufzuspüren, Die irrgewundnen, sich von heißer Kampflust nicht verführen, Wohl wissend, daß im Dickicht hin und her nach allen Seiten, Ein trügerisches Merkmal, unerforschte Wege leiten. Er schnitt vielmehr querdurch ihr künstlich Netz und lächelt schlau, Dem Jäger gleich, der seines Tieres sicher ist im Gau. Dann teilte er die Schaaren in zwei Hälften ab zur Zeit, Mit klüglich vorbedachter List zu gleichem Zweck bereit. Die eine, welche bleibt, grüßt mit der Mütze noch der Held Und mit der andern biegt er ab ins unermeßne Feld. Im Dickicht blühʼnder Disteln sind die Recken schon versteckt Und liegen ohne Roß auf rote Erde hingestreckt; Sie kriechen fort, wie Büsten anzuschaun, auf blutʼgen Bahnen, — Verschwunden wie im Wasser sind die Mützen schon und Fahnen.52

Nach dem herrlichen Gemälde der Landschaft und einer getreuen Wiedergabe der eigentlichen örtlichen und zeitlichen Bewegungen des polnischen Heeres folgt die Beschreibung der Schlachtordnung des Äußeren der Tataren: Tam — za wsią stoją — całe zakrywają pole — Bór w lewo — strumień w prawo — a oni w półkole […]53 Ich księżyce, bunczuki z końskimi ogony, Ich futra wywrócone, ogromne ich łuki, Płeć śniada, wąsy zwisłe a czarne jak kruki, Ich nasępione rysy, przymrużone oczy,

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Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 50–51; 68–70. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, VIII.

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W których śnie srogość zwierząt z ludzką się jednoczy. […]54 Dort hinterm Dorfe stehen sie bedeckend rings das Feld, Links Wald und rechts ein Bach, sie selbst im Halbkreis aufgestellt. […] Halbmonde, Roßschweiffahnen flatternd mit den langen Haaren, Die ries’gen Bogen und die Zottenpelze die verkehrten, Die braunen Wangen mit den rabenschwarzen langen Bärten, Die Züge finster trüb, Schlitzaugen träumerischer Art, In denen tier’sche Grausamkeit mit menschlicher sich paart, […]55

Inmitten des begonnenen Kampfes sucht der polnische Anführer den tatarischen Khan, der ihn auch beobachtet: Lecą obces na siebie — Polacy, Tatarzy, W bezczynnym zachwyceniu patrzą, co się zdarzy Jakiś czas Miecznik zmudził; uderzy — odskoczy I znowu w całym pędzie przeciwnika tłoczy; Aż wybrawszy swą porę, w odwet, silnym razem W kark niewierny święconym utopił żelazem. Spada dzielnym zamachem odmieciona głowa, Drga oczami, bełkoce niepojęte słowa, Toczy się, ziewa, blednie i gaśnie — z tułupa, Co siedzi niewzruszony, krew do góry chlupa! Powstał krzyk przeraźliwy; pierszchają — koń Hana Ucieka między hordy z trupem swego pana. […]56 Sie fliegen spornstreichs auf einander los. In starrer Ruh Sehn Polen und Tatar’n dem nahenden Ereignis zu. Ein Weilchen säumend greift der Alte an, sprengt seitab drauf Und wieder dringt er auf den Gegner ein in vollem Lauf, Bis er, erpassend seine Zeit, mit kräft’gem Gegenhieb Das Eisen, das geweihte, in des Heiden Nacken trieb. Wie abgemähet fliegt das Haupt herab im wucht’gen Schwunge! Es rollt die Augen, Worte unverständlich lallt die Zunge, Es kollert hin und her, es gähnt, erbleicht, erlischt; hoch spritzt Das Blut aus ries’gem Rumpf, der unbewegt im Sattel sitzt. Durchdringendes Geschrei steigt auf; sie fliehn; des Khanes Roß Jagt mit der Leiche seines Herren mitten in den Troß. […]57 54 55 56 57

A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, IX. Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 77–79. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, XI. Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 84–85.

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Teil I

Das Versepos von Malczewski ist wahrlich ukrainisch: es veranschaulicht uns ständig das Lokalkolorit und die Natur der Ukraine, wir sehen die Kosaken, die Tataren und eine genaue Darstellung der Kämpfe, die Ukrainer und Polen mit den mongolischen Stämmen führten, und über all dem steht und obsiegt das patriotische Gefühl des Polen. Wir begeben uns nunmehr auf die andere Seite der Karpaten, in Länder, die unter der österreichischen Herrschaft stehen: zu den Serben, den Illyriern und Montenegrinern.]58

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Dieser Absatz ist nachübersetzt worden, ausgehend von der Übersetzung von F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, wydanie trzecie. Rok pierwszy, 1840–1841, Poznań 1865, S.  21–22). In der Übersetzung von Gustav Siegfried steht nur eine kurze Zusammenfassung in Klammern: „Hier führt der Dichter die Beschreibung eines Ausflugs gegen die Tataren aus der Maria von Malczewski an, und zeigt in diesem Bruchstück wie in einem Spiegel alle oben erwähnten Charaktere.“ – A. Mickiewicz: Vorlesung über slawische Literatur und Zustände. Erster Theil, op. cit., S. 30; in der französischen Ausgabe steht auch nur eine verkürzte Fassung (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 34–35). Ausführlicher behandelt Mickiewicz das Versepos „Maria“ in der 30. Vorlesung (Teil II).

4. Vorlesung (8. Januar 1841) Das Slaventum in Legende und Geschichte – Die Wirkung Roms auf die slavischen Stämme – Erst dem Christentum gelang die Umgestaltung des Slaventums – Die Wiege der slavischen Zivilisation; historische Anfänge; der erste slavische Dialekt, der zur Literatursprache erhoben wurde – Die Serben – Die Schlacht auf dem Amselfeld; ihr Einfluß auf die serbische Poesie – Die Tschechen; ihre Fehler, ihre Literatur der Wiedergeburt – Die Affinität einiger slavischer Völker mit Völkern des Westen als aktive Kraft des Christentums – Polen und Frankreich, die Tschechen und die Deutschen, Rußland und England.

Nachdem in der letzten Vorlesung der Charakter der russischen und polnischen Literatur skizziert worden war, trug der Professor die Aufmerksamkeit der Zuhörer über die Karpaten hinüber, und vollendete den allgemeinen Umriß mit Bezeichnung der Hauptschicksale der serbischen und tschechischen Literatur. Die untere Donau trennte die unbegrenzten Wohnsitze der fabelhaften Geschichte von den Ländern der Wirklichkeit ab. Die Kriegsscharen der Griechen, Römer und sogar der Kreuzritter schienen, je nachdem sie diesen Fluß überschritten, aus dem Bereich der Geschichte auf die weite Ebene der Poesie, und weiter gegen den Don schon in die Tradition und das Fabelhafte sich zu versenken. Und wiederum traten die Führer der Barbaren, nur aus dem ungewissen Nachhall ihres Ruhmes bekannt, erst auf der südlichen Seite der Donau in der Form geschichtlicher Figuren auf. [Hier reicht es, den Namen Attilla anzuführen.] Nur die slavische Gegend zwischen der unteren Donau und dem nördlichen Griechenland, von den Karpaten bis fast an das adriatische Meer, war den Alten, Griechen und Römern, bekannt. Einige Erwähnungen in griechischen Werken, einige Namen und Zeitangaben auf römischen Inschriften, das sind alle Denkmäler der alten Geschichte der Slaven. Diese Vorräte, mit heiligem Gefühl gesammelt, erörtert und erläutert durch die neuere Wissenschaft, machen den Übergang aus der Geschichte des Slaventums zur Geschichte des Westens, sie sind die geschichtlichen Bande der slavischen Volker mit den Völkern Europas. Die Nachforschungen der heutigen Gelehrten haben es über jeden Zweifel erhoben, daß diese Gegenden von undenkbaren Seiten her durch Slaven bewohnt waren.59 Zur Zeit der makedonischen Könige fanden sich hier einige 59

Mickiewicz meint hier u.a. die Arbeiten von Paul Joseph Schaffarik: Über die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828, S.  149–158; ferner P.J.  Schaffarik: Slavische Alterthümer, Bd. I, op, cit., S. 256ff; Bd. II. S. 237ff; vgl. dazu die Übersicht der (bis heute kontroversen) Standpunkte im 19. und 20. Jahrhundert von Heinrich Kunstmann:

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_005

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Teil I

unabhängige slavische Staaten [wie Illyrien (…). Der Stamm der (Krowyzer) wurde später durch die Römer unterworfen.]60; späterhin verwandelten die Römer einige von denselben in Provinzen [Moesien und Pannonien]61, setzten römische Statthalter ein. Die Grenzen dieser Provinzen wechselten häufig, die Herde der Administration wuchsen zu Städten an, und wurden wie z.B. Wien für spätere Zeiten zu Vereinigungspunkten weitläufiger Staaten. Hierdurch also zuerst ging die Zivilisation nach dem Norden und wirkte auf die Barbaren ein; jedoch weder die mazedonischen Könige, noch die römischen Kaiser vermochten in etwa den Andrang der wandernden Völker aufzuhalten, welche auf diesem Wege tief in Europa eindrangen, weil ihre Macht nichts jenseits der Donau vermochte. Erst nachdem das Christentum auf slavischem Boden gefußt hatte, überschritt es diese Schranke, und seinen Einfluß einerseits gegen den Don, andererseits nach der Weichsel hin ausbreitend, konnte es die ungeheure Bevölkerung jener unbetretbaren und unbekannten Länder unterjochen und organisieren. Hier ist folglich die Wiege der slavischen Geschichte, hier sogar erhob sich zuerst eine ihrer Mundarten zur Würde der Sprache, wurde zuerst schriftlich, und zum Übersetzen der heiligen Schrift angewandt, nahm sie die Stelle der heiligen Sprache62 ein. Dessen ungeachtet ließen sich Staaten, welche zum Hauptsitz der Zivilisation und Kultur der slavischen Völker bestimmt schienen, im weiten Fortschritt nicht nur überflügeln, sondern fielen sogar in die Finsternis zurück. Verschiedene Umstände gaben die Ursache dazu. Die Lage auf der großen Wanderstraße des Barbarentums lähmte schon längst die Kraft jedes Keimes einer bedeutenderen Einheit. Die von den Flächen weggemähte Bevölkerung, häufig mit gänzlicher Vernichtung unter dem Tritt der wilden Die Slaven. Ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, Kapitel 2. „Auf der Suche nach der Urheimat der Slaven“), S. 58–66. 60 Ergänzung nach – Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S.  42; Über Illyrien vgl. Vgl. Włodzimierz Pająkowski, Leszek Mrożewicz, Bolesław Mrożewicz, Lothar Quinkenstein: Die Illyrier: Illirii proprie dicti. Geschichte und Siedlungsgeschichte. Versuch einer Rekonstruktion. Poznań 2000. Krowyzer, thrakischer Stamm, vgl. dazu P.J.  Schaffarik: Slavische Alterthümer, Bd. I, op, cit., S. 471–472. 61 Ergänzung nach – Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 42. 62 Über das (Alt)Krchenslavische (Altbulgarische, Altslavische) und Varianten – vgl. Jos Schaeken und Henrik Birnbaum: Altkirchenslavische Studien II: Die altkirchenslavische Schriftkultur: Geschichte – Laute und Schriftzeichen – Sprachdenkmäler (mit Textproben, Glossar und Flexionsmustern). München 1999; Georg Holzer: Altkirchenslawisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt 2002, S. 187–202.

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

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Wanderer bedroht, mußte in die Berge flüchten, und in der Tat sind auch hier die Bergbewohner die Vergegenwärtiger des wahren Slaventums; bei ihnen hat sich die slavische Sprache und Überlieferung bewahrt. In den Bergen wachsen, wie bekannt, einige Zweige der Literatur, ihre Blüte aber, wenngleich schön, ist jedoch nie reich. Es gibt Arten und Gattungen, die nur inmitten einer fleißigen und um ihre physischen Bedürfnisse unbesorgten Bevölkerung angebaut werden können. Daher hat man auch hier eine lyrische Poesie und geschichtliche Episoden geschaffen, aber alles, was Wissenschaft, was höhere Literatur ist, konnte weder Wurzel fassen, noch sich entwickeln. Noch ein wichtigerer Grund der Zerrissenheit, der Ohnmacht jener Völker, lag in ihrer Religionsverschiedenheit. Gerade in dem Augenblick bekehrt, als der Osten sich gewaltsam von der allgemeinen Kirche losriß, erlagen auch sie den Einwirkungen zweier verschiedenen, häufig feindseligen Strebungen. Die Führer jener Völker, ihrer Überzeugung oder der Richtung der politischen Verhältnisse folgend, neigten sich auf die Seite Roms oder Konstantinopels, nie jedoch konnten sie die Masse der Getreuen der einen oder der anderen Seite nach sich ziehen. Unmöglich war es daher, weder eine Monarchie, noch irgendein einstimmiges Reich zu bilden, welches einen sittlichen Verband besäße. Die Nachbarschaft der zivilisierten Völker, statt vorteilhaft in ruhigen Zeiten auf sie einzuwirken, drohte ihnen sogar mit Gefahr während der inneren Zwiste. Die in der Kultur höher stehenden Staaten bildeten, indem sie hier ihre Organisationen hineintrugen und einimpften, Keime eines Daseins, welche nicht das Mindeste mit dem Leben der slavischen Völker gemein hatten. Die Häupter der Slaven bemühten sich zuweilen, die römische, griechische, ja die feudale und später sogar die türkische Organisation nachzuahmen; hieraus entspann sich neben dem Kampf zweier Religionsbekenntnisse noch derjenige, welcher die Folge vieler verschiedenartiger Zivil- und politischer Ordnungen war. Während dieses unausgesetzten Krieges verschiedener Ideen und Geschlech­ ter untereinander, schien es jedoch einmal zur Umfassung aller Teile unter ein serbisches Zepter kommen zu wollen. Das Haus Nemanja vermochte gegen Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts seine Dynastie in Serbien fortzusetzen, und sogar viele umliegende Länder zur Huldigung zu bringen. Seine Oberherrschaft erstreckte sich schon vom adriatischen Meerbusen bis zu den Bergen Griechenlands, und in die Nähe der untern Donau. Bald jedoch fielen die Türken über das kaum erhobene Reich her, und seine Unabhängigkeit wurde zugleich mit dem politischen Dasein in einer erbitterten Schlacht zu Grabe getragen. Die Führer fielen, der Adel, die höhere Geistlichkeit, und was nur irgend von der Blüte des Volkes die entsetzliche Niederlage überlebt hatte, mußte landesflüchtig werden, weit die Schätze, Bücher, ja die ganze Macht und sogar das Andenken an die volkstümliche Überlieferung mit sich forttragend.

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Teil I

Es blieb nur das Volk, abgeschnitten von seiner Vergangenheit, weil es nicht zu lesen verstand, und nichts von seiner alten Geschichte wußte, schon seiner Zukunft beraubt, weil die unwiderrufliche Niederlage ihm für immer das politische Leben entriß. Dermaßen haben sich alle Rückerinnerungen der Serben in einem Kampfplatze eingeschlossen, ihre ganze nationale Poesie irrt traurig um einen einzigen Grabhügel auf den Feldern von Kosovo (Amselfeld)63 herum. Die Geschichte der hier längst vorgefallenen Schlacht ist für sie wunderbar frisch und gegenwärtig. Nicht zerstreut durch das jetzige Treiben, die Ereignisse der neueren Zeit, haben sie dieselbe fortwährend vor Augen. Heute noch geht der Serbe vor diesem Ort weinend vorüber, als wenn der Kampf vor einigen Tagen vorgefallen wäre, er spricht von ihm, wie von etwas Gegenwärtigem. Kosovo nimmt in der serbischen Poesie dieselbe Stelle ein, welche in der spanischen Xeres de la Frontera64 inne hat; nur zu ihrem Unglück haben die Serben kein Tolosa.65 Dieses betrifft jedoch nur die höhere Poesie, das volkstümliche Epos; die Lyrik hat nicht aufgehört in diesen Ländern zu blühen. Die Illyrier und Montenegriner setzen religiöse Hymnen zusammen, Liebeslieder, sie besingen sogar die berühmten Taten ihrer Väter und eigene; aber eine Dichtung, welche bloß mit dem Ruhm dieses oder jenes Geschlechts, dieser oder jener Familie sich befaßt, verdient nicht die erhabene Benennung einer volkstümlichen Poesie, denn sie berührt weder die Angelegenheiten der ganzen Christenheit, noch auch die des ganzen Stammes der Slaven. Folglich blieb die serbische Literatur nur im Volk, und man kann mit Kollár sagen: daß wenn in anderen Ländern die Schriftsteller für das Volk dichten, so singt im Süden der Donau das Volk für die Dichter.66

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Die Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) fand am 15. Juni (28. Juni) 1389 statt; vgl. Maximilian Braun: Kosovo. Die Schlacht auf dem Amselfelde in geschichtlicher und epischer Überlieferung. Leipzig 1937. In der Schlacht am Rio Guadelate (Provinz Cádiz) unterlag im Juni 711 das Heer des Westgotenkönigs Roderich der muslimischen Armee des Tāriq ibn Ziyād. Vgl. Dietrich Claude: Untersuchungen zum Untergang des Westgotenreichs (711–725). In: Historisches Jahrbuch, Bd. 108 (1988), S. 329–358. In der Schlacht bei Las Navas de Tolosa (16. Juli 1212) besiegte das christliche Bündnis aus Kastilien, Aragón, Portugal und Navarra unter Alfons VIII. die maurischen Almohaden unter Kalif Muhammad an-Nasir. Der Sieg leitete das Ende der maurischen Herrschaft ein. Vgl. Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelaler. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2006. Bezieht sich auf den Aphorismus von Jan Kollár Národní písně – „Že vzdělnostni nemá náš lid, cizozemci mluvíte! / Jakž? V y musíte lidu zpívati, nám pěje lid.“ (Ihr Ausländer behauptet, unser Volk besitze keine Bildung! / Wie das? Ihr müßt dem Volk singen, für uns singt das Volk), in: J. Kollár: Básně, op. cit., S. 352.

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

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Weiter gen Westen diesseits der Karpaten stellt sich das Land der Tschechen, eingeschlossen in der Gestalt eines fast regelmäßigen Vierecks dar. Es ist dieses ein Tal oder vielmehr ein Kessel zwischen konvergierenden Bergen, die rechts und links ihre Gewässer nach der am tiefsten gelegenen Mitte hinsenden, wo sie von der Elbe aufgenommen und weiter spediert werden, etwa 1000 Quadratmeilen groß, und mit etwas über 4 Millionen Einwohnern. Der schwierige Zutritt zu diesem Land schirmte es sogar schon während der Völkerwanderungen; die Barbaren, welche sich tief nach Europa hinein versenkten, umkreisten es in die Runde. In einer so glücklichen Lage gelegen, vermochten schon zeitig die Tschechen eine gewisse Ordnung in ihre Politik und Literatur zu bringen. Im 11. Jahrhundert gründeten sie schon die Erblichkeit67 des Thrones, und sicherten gesetzlich die Unteilbarkeit des Königreichs; zwei ungeheure Schritte im politischen Leben. Dieses Reich war auch das erste im Slaventum, welches die christliche Religion für die Grundlage der neuen Gesellschaft annahm. Desgleichen war ihre Sprache schon längst ausgebaut und besitzt Denkmäler68 aus dem 10. Jahrhundert, und im 11., 12. und 13. zählte sie schon viele geschriebene Werke; sie war auch an der Herausbildung der polnischen Sprache beteiligt. Nach dem Auslöschen der volkstümlichen Dynastie unterstützte das regierende Haus Luxemburg die Wissenschaften und Künste, später bemühte sich das österreichische nach Möglichkeit den Samen der örtlichen Kultur zu entwickeln. Ungeachtet aller dieser Vorteile jedoch blieb ihre Literatur einigermaßen wie kalt und tot. Es scheint, als hätte eine toddrohende Krankheit im Schoße dieser politischen Gesellschaft geruht, welche zur Erkenntnis ihrer selbst nicht kommen, und seine Bestimmung zwischen den christlichen Völkern nicht erraten konnte. Vielleicht war die glückliche Lage, die ungetrübte Ruhe selbst, die Ursache des Unglückes der Tschechen. Während die Länder der Rus’ unter dem starken Druck der mongolischen Atmosphäre alle Urstoffe ihrer Kräfte entwickelten, während Polen durch die von der Türkei heraneilenden Stürme in einem fort erschüttert wurde, waren die Tschechen gedeckt durch Polen und Ungarn in fortwährender Berührung vermöge Österreichs mit dem kultivierten Teile Europas. Diese Zivilisation wollten sie bei sich häuslich machen, entnahmen dieselbe von Außen, hatten aber im Innern nichts, sie zu nähren. 67

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Erbfolgeprinzip (Primogenitur), das die monarchische Erbfolge durch das Erstgeburtsrecht regelt. Es wurde nach dem Tod des ersten tschechischen Přemysliden-Königs Vratislav II. (1092) wirksam, dessen Thron – nach internen Auseinandersetzungen – sein ältester Sohn Břestislav II. bestieg. Vgl. Jörg Konrad Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. München 1997. Vgl. dazu die 10.–12. Vorlesung (Teil I).

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Teil I

Alle slavischen Völker zusammengenommen haben nicht so viel geschrieben als sie; dessen ungeachtet hat ihre Literatur keine selbstständige Kraft, schuf kein eigenes Erzeugnis, war immer nachahmend. Daher fing man allmählich an, die Muster der Nachahmung vorzuziehen, und die deutsche Sprache nahm den Vorrang vor derjenigen der Väter. Nach einiger Zeit erhoben sie sich zwar zur Verteidigung ihrer Volkstümlichkeit, aber auch dieser Kampf fiel unglücklich aus, weil sie die Volkstümlichkeit bloß von ihrer am meisten materiellen, oberflächlichen Seite begriffen, und bloß auf den Stamm und die eigne Sprache dieselbe stützten. Die Zunge war ihnen nicht eigentlich Sprache, sie betrachteten sie bloß als Werkzeug, als Mittel zur Mitteilung des Gedankens, nicht aber für den Schoß, der denselben schafft. Sie begriffen es nicht, daß die Sprache nur durch ihre innere Macht fortleben kann, daß ihre Anziehungskraft im geraden Verhältnis stehe zum Gesamten der Wahrheit, die sie enthält, ihre Wirkungskraft nach Außen im Verhältnis der Masse des Lichtes und der Wärme, die sie ausgibt. Anstatt also die siegende Kraft ihrer Sprache in der Wahrheit zu suchen, wollten sie den Triumph derselben in der materiellen Kraft finden. Ohne sich zu bemühen, gründlicher und erhabener als die Deutschen zu schreiben, vermeinten sie, mit geschriebenen Urkunden das Deutschtum von der Universität Prag zu vertreiben, ihre Volkstümlichkeit und Sprache trachteten sie mit Gesetzartikeln und dem Schwert zu schirmen. Ein so beengter nationaler Geist hatte nicht wenig Einfluß auf ihre Religionsansichten; diesen Geist als den Vergegenwärtiger der volkstümlichen Kirche unterstützte über alles die Kirche selbst, welche die tschechische Sprache adoptierte und rein tschechische Dogmen hatte. Nachdem sie sich kopfüber mit dem Feuer eines jugendlichen, fast barbarischen Volkes in den Religionskampf geworfen hatten, gebrauchten sie die theologischen Artikel wie die Wilden die Waffen oder den Branntwein, ihnen von der neueren sogenannten Zivilisation dargereicht, zur eigenen Vernichtung, zur eigenen Vertilgung. Österreich, damals der Vertreter des alten Europa, vermochte allmählich dieses Feuer zu dämpfen, die Kraftanstrengung für seine Zwecke zu lenken, die Ermüdeten zu unterjochen und, einmal Herr des erschöpften Volkes, rottete es mit Erbitterung seine Literatur als durchdrungen von gefährlichen Dogmen, als das Zeughaus der Rebellion aus. Zwei Jahrhunderte hindurch wurden mit der größten Emsigkeit alle Denkmäler Böhmens zerstört; bis endlich, als die Feindschaft schon besänftigt, fast in Vergessenheit geraten war, als die Böhmen schon vielemal Beweise der Anhänglichkeit an das österreichische Haus gegeben hatten, diese Regierung in unseren Tagen anfing, sie zu unterstützen, und sogar ihre nationalen literarischen Unternehmungen zu ermuntern. Merkwürdig und auffallend ist jedoch die Erscheinung, daß jener tschechische Geist, welcher so lange umsonst nach

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seiner Bahn zur Zukunft gestrebt hatte, gerade jetzt beim Aufwachen nach einem langen Schlaf, auf einmal die ihm gehörige Stellung findet. Fast scheint es, die Tschechen hätten erkannt, was ihr Beruf sei, wenigstens haben sie die ihnen von Niemandem streitig gemachte Stellung inmitten der slavischen Völker eingenommen. Zurückgeführt zur Tiefe ihres Wesens, haben sie sich auf die Vergangenheit gestützt, treten aus ihr heraus, und aus derselben wollen sie das gemeinschaftliche Band für alle Slaven hervorholen. Die tschechischen Gelehrten ähneln nicht im Mindesten den Altertumssammlern anderer Länder; von einem heiligen Feuer werden sie geleitet zur rastlosen Arbeit, wie etwa die Mönche des Mittelalters, welche den Glauben, diese aber Volkstum predigen, und mit geduldigem zugleich poetischem Geiste nachforschende Unternehmungen ausführen, wobei sie häufig Armut und Elend ertragen müssen. Auf dieser Bahn der slavischen Wissenschaft zeigt sich zu allererst der würdige Josef Dobrovský69; [wie Herodot durchwanderte er alle Länder, über die er sich informieren wollte; er war in Petersburg, Moskau und Warschau; er besuchte sogar slavische Siedlungen hinter den Alpen. Seine Nachfolger und Nachahmer folgten ihm mit derselbigen Kraft und Energie.70 Sie benutzen alle möglichen Mittel zur Erreichung des Zieles, sie schreiben in allen Sprachen, in Latein, in Deutsch, in Polnisch, zuweilen auch Französisch. Aus dem Licht der ganzen Zivilisation Vorteil ziehend, bemühen sie sich, das Slaventum vor dem ganzen zivilisierten Europa zu enthüllen. Indem sie die Verortung der Tschechen inmitten der slavischen Völker nutzen, versuchen sie, diese näher zueinander zu bringen und untereinander bekannt zu machen. Sie übersetzen die polnische Dichtung für die Serben, serbische Lieder für die Deutschen71, und indem sie slavische Denkmäler sammeln, veröffentlichen sie diese in 69

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Vgl. Josef Dobrovský: Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur. Prag 1792 (Reprint: Halle/Saale 1955); Slovanka: zur Kenntniß der alten und neuen slawischen Literatur, der Sprachkunde nach alten Mundarten, der Geschichte und Alterthümer. 2 Bde., Prag 1814–1815; Institutiones linguae slavicae dialecti veteris. Wien 1822; über Josef Dobrovský (1753–1829) vgl. Markus Wirtz: Josef Dobrovský und die Literatur. Frühe bohemistische Forschung zwischen Wissenschaft und nationalem Auftrag. Dresden 1999. Dazu zählen: Josef Jungmann (1773–1847); František Palacký (1798–1876); der Slovake Pavol Josef Šafárik [tschech. Šafařík; deutsch Schaffarik] (1795–1861); Vaclav Hanka (1791–1861); Jan Kollár (1793–1852); František Ladislav Čelakovský (1799–1852); vgl. Walter Schamschula: Geschichte der tschechischen Literatur. Band I: Von den Anfängen bis zur Aufklärungszeit. Köln-Wien 1990, S. 329–396. Daß die Tschechen polnische Literatur ins Serbische übersetzten, kann, wenn überhaupt, höchstens mit der Tätigkeit von P.J. Šafařík (Schaffarik) in Novi Sad in Jahren 1819–1833 in Verbindung gebracht werden – vgl. Petar Bunjak: Pregled poljsko-srpskich književnih veza (do II svetskog rata). Beograd 1999; serbische Literatur ins Deutsche übersetzte die deutsche Schriftstellerin Therese Albertine Luise von Jacob (pseud. Talvj) – vgl. 17. Vorlesung (Teil I).

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lateinischer Sprache für das aufgeklärte Europa. Im Zwist der feindlichen Literaturen stehen sie da als unparteische Richter, zuvorkommende Vermittler.]72 Die russischen Literaten haben immer die polnischen, diese wiederum die russischen im Verdacht; mit gleichem Vertrauen jedoch nähert sich der Russe wie der Pole dem fleißigen, gewissenhaften Tschechen; was nämlich besonders diese Gelehrten auszeichnet, das ist ihre hohe Unparteilichkeit. Sie haben diesen dauernden Grundsatz, die Wissenschaft über zeitliche Fragen zu erheben, die Geschichte unter der Oberfläche der politischen Umstände zu erforschen. [Sie rufen die verbrüderten Völker zur ursprünglichen Gemeinschaft des Stammes und der Sprache auf; sie erinnern unentwegt an die Kirche der heiligen Apostel, an den heiligen Jacek73 und den heiligen Jan Kanty74; sie erinnern daran, daß der heilige Kyrill in der Sprache der Tschechen, der Russen und der Polen schrieb. Sie möchten die Soldaten des Generals Kościuszko mit den Enkeln ihres Siegers versöhnen;]75 ja sie möchten im Glanz des Ruhmes die Rückerinnerungen ihrer gegenseitigen Kämpfe ersticken. Und wenn es ihnen nicht gelingt, das erwünschte Ziel zu erreichen, so rührt dieses vielleicht daher, daß sie noch nicht gänzlich von den ererbten Vorurteilen der Väter sich frei gemacht, daß sie gar zu viel auf eine oberflächliche, stammesgebundene Volkstümlichkeit geben, den Geist aber, welcher die Zivilisation der verschiedenen Völker belebt und entwickelt, zu wenig schätzen; dem sei jedoch wie es wolle, immer werden die Tschechen als die Patriarchen der slavischen Wissenschaft gelten, sie liefern nicht nur volkstümliche Dichter und Rechtsgelehrte, sondern man kann sagen, es ist dieses ein ganzes Volk von Forschern und Philologen. Da wir nun jetzt das gänzliche Bild des Slaventums vor Augen haben, und dasselbe mit dem westlichen Europa vergleichen können, so fällt uns die merkwürdige Ähnlichkeit der christlichen Länder, diesseits und jenseits der vom venetianischen Meerbusen gen Hamburg gezogenen Linie auf. Der Kampf der ganzen Christenheit gegen die Barbarei oder das Barbarentum gibt schon merkwürdige und belehrende Beobachtungen von einem gewissen Entsprechen, das da zwischen den Teilen der beiden Hälften obwaltet. Und 72

Dieser Absatz wurde nach der Edition von Wrontowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska, wydanie trzecie. Rok pierwszy, 1840–1841, Poznań 1865, S.  29) nachübersetzt und mit der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 47) verglichen. 73 Über Hyazinth von Polen (św. Jacek 1183–1257) vgl. Marian Kanior: Jacek. Święty dominikanin. Kraków 2007. 74 Johannes von Krakau – Jan Kanty (1390–1473), Theologieprofessor in Krakau; vgl. [http:// pl.jankanty.net]. 75 Der bei Gustav Siegfried und Wrontowski fehlende Absatz wurde nach der französischen Ausgabe nachübersetzt (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 47).

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so stellte Spanien, von Bergen umringt, den Muselmännern eine unbezwingliche Kraft des Widerstandes, Frankreich hingegen ließ sich in weite Unternehmungen ein. Spanien scheint sein Dasein zu verteidigen, Frankreich sucht Ruhm. Der deutsche Stamm, in die allgemeine Sache allmählich hineingezogen, verwendet sie zuletzt zu seinem Vorteil. Im heiligen römischen Reiche lag ursprünglich ein hoher Gedanke, die Verteidigung der Christenheit; dieses noch von den Hohenstaufen so ziemlich aufrecht gehalten und befolgt, wurde doch schon hin und wieder und später gänzlich für das Interesse des Kaisertums verwendet. Das Kaisertum oder vielmehr die Markgrafschaft Österreich zum Schutz des Frankenreiches vor den Ungläubigen und Slaven gegründet, erbte zuletzt alle Erfolge des Christenschwertes in ihren Ländern. Die bergigen Länder der Illyrier und Serben entsprechen in vieler Hinsicht dem spanischen Katalonien und Asturien. Ihre kriegerischen Taten, ihre Literaturen tragen mehr als einmal denselben Charakter. Es sind dieses die Gemeinplätze der abenteuerlichen Unternehmungen, der ritterlichen Schauspiele; hier und dort gibt es entführte Prinzessinnen, mit dem Schwerte erbeutete Kronen. Lange Zeit war das Schicksal Polens ähnlich demjenigen Frankreichs. Polen wie Frankreich behielt nichts für sich von der Beute der Ungläubigen, es blieb ihm nichts übrig, als eine große heimatliche Rückerinnerung und eine große Zuneigung bei den Fremden; die Völker sind daran gewöhnt, in Polen den Vergegenwärtiger eines edeln Gedankens im Kampf für das allgemeine Beste zu sehen. Endlich spielen die Tschechen und Russen Deutschland etwas ins Handwerk, man könnte sie die slavischen Deutschen benennen. Gewiß, dieser Vergleich zu weit getrieben, auf alle Einzelheiten erstreckt, könnte zu weit führen und falsch ausfallen; nennt ja aber der Deutsche selbst den Tschechen Ochse, den fleißigen, biederen, gutwilligen Tschechen, und welcher dennoch fähig ist wie der Deutsche, in Feuer für abstrakte Ideen zu erglühen und unter allen Slaven am meisten den deutschen Geist vorstellt. Andererseits scheint Rußland an England, dieses modifizierte Germanien, zu erinnern. In beiden sehen wir dieselbe Ausdauer in den Vorsätzen, dieselbe Kraft in ihrer Ausführung. Die Raschheit, welche das eine wie das andere von der Schwerfälligkeit der Deutschen des festen Landes unterscheidet, kann ebenso gut hier wie da, dem gleichmäßig eingeimpften Geiste der Normannen gehören.

5. Vorlesung (12. Januar 1841) [Antwort auf einige Vorwürfe]76 – Die Unterscheidungsmerkmale der slavischen Literaturen – Die russische, die polnische und die tschechische Literatur – Der Stammcharakter der Slaven, ihre Physiognomie, Wohnsitze und deren Einteilung; Einfluß der Natur auf die slavische Literatur – Das gesellschaftliche und religiöse Dogma der Slaven, in dem jegliche Form der Offenbarung fehlt.

[Seit dem Beginn meiner Vorlesungsreihe erreichen mich täglich Briefe slavischer Wissenschaftler mit Vorwürfen, die teils den Plan der Vorlesungen, teils einige Details meiner Ausführungen kritisieren. Ich gehe auf diese Briefe ein, weil sie nicht unwichtig sind; in ihnen wird der Charakter des literarischen Lebens der Slaven sichtbar. Die Literatur ist bei uns noch nicht wie eine verwelkte Blüte vom Baum des allgemeinen Lebens gefallen. Unsere Literatur steht weder für Vergnügen, noch ist sie Kunst um der Kunst willen. Die Literatur der Slaven besitzt eine enge Bindung an die Religion, an die Geschichte 76

Diesen Abschnitt faßt Gustav Siegfried lediglich zusammen; er wird daher in die Fußnote versetzt. An seine Stelle tritt in den Haupttext die ausführliche Darlegung der Gegenargumente nach der Übersetzung von Felix Wrontowski. – Abschnitt nach Gustav Siegfried: „Nachdem der Professor einige ihm in Briefen zugeschickten Vorwürfe und Fragen beseitigt hatte, nahm er einen derselben heraus, um an ihm als Leitfaden seine Zuhörer durch die literarische Vergangenheit der Slaven zu führen. Es ist nach der Meinung des Herrn Mickiewicz unmöglich, irgendein slavisches Volk als Mittelpunkt festzustellen, und um denselben herum das Ganze des Gegenstandes zu gruppieren, denn keine Sprache und keine Literatur hat ein überwiegendes Recht zum Vorrang, zur Oberhoheit unter den anderen. Daher muß man alle Fragen über die selbststandigen Volkstümlichkeiten bei Seite lassen, und den allgemeinsten, weitesten Gesichtspunkt auffinden, den slavischen Stamm in seiner Ganzheit betrachten, die Stufenfolge seiner Entwicklung aufspüren. In dieser Absicht teilte er den Gang seines Vortrages, wie folgt, ein. – 1. Allgemeine Charakterzüge der Slaven, Kennzeichen ihres Stammes und Beschaffenheit ihres Bodens, zumal durch diese viele historische und literarische Aufgaben gelöst werden. 2. Die ältesten und allen Slaven gemeinschaftlichen Literaturdenkmäler. 3. Die Denkmäler, welche den Übergang vom Heidentum zum Christentum bilden. 4. Das Zeitalter des Heldengedichtes, die serbische Poesie, der Sagenkreis, welcher die Herrschaft des Hauses Nemanja umfaßt. 5. Polen tritt im 15. Jahrhundert an die Spitze, sammelt in sich alle geistigen und sittlichen Kräfte der slavischen Länder, entwickelt seine Literatur und erhebt sie zur Kunst. 6. Endlich von dem Zeitpunkte der Hemmung seines Fortschritts im 17. Jahrhundert fängt die allgemeine Umbildung der slavischen Literaturen an; Rußland und Böhmen kommen wieder auf dem historischen und literarischen Feld zum Vorschein; dieser letzte Zeitabschnitt jedoch wird zum Gegenstand der Vorlesung des künftigen Jahres dienen. – Dieser Anordnung gemäß ist die gegenwärtige Vorlesung eine von den dreien, welche dem ersten Teil des Gegenstandes gewidmet sind.“ – (A. Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände. Erster Theil. Leipzig-Paris 1843, S. 42–43.)

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_006

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und an das politische Leben. Hier reicht es schon zuweilen, einen Dichter nur zu kritisieren, um dadurch schon alle die Slaven unterscheidenden religiösen und politischen Fragen aufbrechen zu lassen, um gleichsam den einen Stamm gegen die Brudervölker aufzustellen, die unter dem Einfluß mannigfacher Interessen und vieler Begehrlichkeiten getrennt sind. Es steht mir nicht an, mich auf eine Polemik einzulassen, zu der ich herausgefordert wurde. Diese Debatte würde ohnehin nur den slavischen Teil meines Publikums interessieren. Dennoch sei mir erlaubt, auf einige Vorwürfe einzugehen, die, wie ich meine, Aufmerksamkeit verdienen. Man warf mir vor, daß ich bei der Beschreibung des Kampfes der Slaven gegen die Barbaren den Anteil Russlands durchaus zu hoch eingeschätzt habe. Man sagt, ich habe die Kämpfe der Polen und der Litauer gegen die Tataren verschwiegen. Zunächst haben die Litauer, nachdem sie die Tataren besiegt hatten, dem tatarischen Trieb folgend, oft die slavischen Länder verwüstet. Lange waren sie Verbündete der Barbaren und Gegner der Zivilisation, und erst später, als sich Litauen mit Polen verbündete, gelang der Weg in die christliche Gemeinschaft.77 Hier kann man also über die Litauer wenig berichten. Die Polen wiederum kämpften zwar zuweilen gegen die Mongolen, es gelang ihnen jedoch nicht, ihnen einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Erst der Politik der Rus’ gebührt das Verdienst, die Mongolen mit ihren eigenen Waffen und z.B. durch die Lenkung der Macht des Krim-Khanats gegen andere Tataren besiegt zu haben. Indem die Moskoviter Großfürsten die Tataren untereinander zerstritten und ihnen nicht ermöglichten, ihre Kräfte zu konzentrieren, begannen sie über sie die Oberhand zu gewinnen, ja sogar sie zu erobern und zu unterwerfen. Auf diese Weise wurde die Goldene Horde aufgelöst, Sibirien und das Krim-Khanat wurden Teile des russischen Staates. Rußland erlangte den Sieg über die Tataren; heute stehen sie Rußland zu Diensten. Ich gehe nun zu Fragen der Literatur über. Man hat mir unterstellt, daß ich die slavischen Literaturen willkürlich und sogar unrichtig charakterisierte, indem ich ihre Hauptmerkmale vom Standpunkt der Gegenwart bestimmte. Ich sagte, die russische Sprache sei die Sprache der Gesetzgebung und der Befehle. Hierbei geht es mir nicht darum, dieser Sprache andere Qualitäten abzusprechen, nicht darum, an dieser Stelle zu vergessen über ihre berühmten Dichter zu sprechen, aber ich stütze mich dabei auf ein festes Faktum. Es liegt doch auf der Hand, daß die russische Jurisdiktion heute die Befehlsgewalt über eine große Anzahl der slavischen Bevölkerung besitzt, daß die russische Sprache in den Schulen, amtlich verordnet, die Sprache der Administration ist: 77 Über die Christianisierung Litauens vgl. den Sammelband – Chrystianizacja Litwy. Red. Jerzy Kłoczowski. Kraków 1987.

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Teil I

das zeichnet seinen heutigen Charakter aus. Unter den Werken des neueren russischen Schrifttums ist das berühmteste und bedeutendste die Sammlung von Gesetzen, herausgegeben durch die Kommission.78 Ich sagte auch, daß die polnische Sprache die Sprache des Gesprächs und der Literatur ist. Kann es denn anders sein? Polen besitzt seit langer Zeit kein eigenes Rednerpodium, von dem aus es die Wünsche des Volkes verkünden könnte; es verfügt nicht einmal über Lehrstuhleinrichtungen. Wodurch kann das Polnische, das aus den Schulen verbannt wird, das keinen Platz im Nationaltheater besitzt, seine Wirksamkeit entfalten, wenn nicht allein über die Literatur und das Gespräch? Nur das lebendige Wort, das Wort, das den Inhalt tiefster und elementarster Kräfte des Volkes verkörpert, das den Inhalt des historischen und bürgerlichen Lebens des Volkes darstellt, hält die polnische Literatur am Leben. Was die tschechische Literatur angeht, so habe ich mich in der vorangegangenen Vorlesung hinreichend geäußert; in dieser Hinsicht sehe ich keine Notwendigkeit neuer Erörterungen. Zu den mir gemachten Vorwürfen gehören obendrein diejenigen, die den Plan meiner Vorlesungsreihe betreffen. Jetzt wird es Zeit, auf diese einzugehen, denn nunmehr ist der Augenblick gekommen, in dem ich mir den Weg vorzeichne. Der Meinung einiger Gelehrten zufolge sollte ich eigentlich eine slavische Literatur als Mittelpunkt, als Basis bestimmen und, indem ich eine Hauptsprache zugrunde lege, um sie verschiedene nationale Dialekte gruppieren. Hierauf antworte ich: keine slavische Sprache verfügt über das notwendige Maß an Überlegenheit gegenüber der anderen, um als primär, elementar und urtümlich zu gelten. Slaven aus Ländern, in denen die Christianisierung zuerst begann, erheben explizit den Anspruch auf dieses Vorrecht. Ihrer Auffassung nach wäre es hinreichend, die kirchenslavische Grammatik als Grundlage unserer Forschungen zu wählen und sich darauf zu beschränken, die in dieser Sprache geschriebenen Werke zu interpretieren. Seit 40 Jahren existiert sogar unter den Slaven eine literarische Sekte79, die sich auf das Kirchenslavische so weit fokussiert hat, daß sie die Existenz der polnischen und russischen 78 79

Vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, op. cit. Gemeint ist die Anhängerschaft des Slavenoserbischen in der Vojvodina (Stevan Stratimirović, Milovan Vidaković und Jovan Hadžić), die an der russischen Redaktion des Kirchenslavischen festhielten und gegen die Sprachreform von Vuk Stefanović Karadžić waren; vgl. dazu – Jovan Jerković: Vuk und seine Gegener in der Vojvodina. In: Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988, S. 89–102; ferner – Anna Kretschmer: Slawenoserbisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt u.a. 2002, S. 473–476.

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Literatur leugnet, als nicht zum Urstamm gehörig und als heterodox verurteilt. Sie macht sogar bei den Volksliedern keine Ausnahme, da sie angeblich mit türkischen und deutschen Ausdrücken verderbt sind. Von diesem Standpunkt aus würde die slavische Literatur lediglich fünf oder sechs Bücher umfassen, bestehend aus dem Ritus und dem Evangelium. Damit konnte man nicht einverstanden sein; selbst die Altertumsforscher und unsere Philologen protestierten gegen die kompromisslose Anhängerschaft des Kirchenslavischen. Meiner Meinung nach ist die kirchenslavische Grammatik sehr nützlich und sie wird irgendwann als Grundlage für eine slavische Grammatik dienen, allerdings hat die kirchenslavische Sprache selbst keine Bedeutung; sie besitzt kaum Denkmäler, die man eigentlich als literarisch bezeichnet. Was die polnische, die russische und die tschechische Literatur angeht, so übte jeden von ihnen gewiß einen wechselseitigen Einfluß aus, aber keiner von ihnen gelang es, die Unabhängigkeit der Mitstreitenden aufzuheben. Die tschechische Sprache beeinflusste eher die Form als das Wesen des Polnischen; das Polnische dominierte im 17. Jahrhundert in Süd-Rußland; die russische Sprache machte auch Fortschritte und expandierte; allerdings besitzen alle diese drei Sprachen und Literaturen Elemente des autonomen Seins, das sie immer zu bewahren wussten. Da es schwierig ist vorauszusagen, welche Zukunft sie erwartet, sollten wir, indem wir alle Fragen der jeweiligen Nationalität beiseite lassen, eher darüber nachdenken, worin das umfassend Allgemeine unseres Gegenstandes besteht, und das ist die slavische Rasse. Beginnen wir mit der Bestimmung der physischen Merkmale dieser Rasse, die sie von anderen Stämmen unterscheiden, mit denen sie oft verwechselt wurde. Wir werden dann in der Natur der Erde, die verschiedene literarische Phänomene hervorbrachte, die Erklärung vieler historischer Ereignisse suchen. Anschließend werden wir uns mit der Betrachtung der Altertümer befassen, die Gemeingut aller Slaven sind und den Übergang vom Heidentum zum Christentum markieren. Bereits im 14. Jahrhundert erscheinen literarische Denkmäler der Serben. Wir werden uns mit dem lyrischen Zyklus über das Haus der Nemanjiden befassen. Später, im 15. Jahrhundert betritt Polen die Bühne und konzentriert alle geistigen und moralischen Kräfte des Slaventums in sich. Wir werden dann sehen, wie sich diese Literatur entwickelt und zur Kunst erhebt. Abschließend betreten wir dann die Epoche der Wiedergeburt der slavischen Literaturen; die Tschechen und Russen kommen wieder auf dem historischen und literarischen Feld zum Vorschein. Dieser letzte Zeitabschnitt wird Gegenstand des nächsten Jahres sein.]80 80

A. Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Tłumaczenie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Poznań 1865, S. 31–34.

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Die Slaven werden von den Gelehrten in die Reihe der bildungsfähigsten Menschen gestellt. Friedrich Blumenbach81 und Georges Cuvier82, welche verschiedentlich das Menschengeschlecht einteilen, stimmen jedoch darin überein, daß sie die Slaven zur ersten kaukasischen oder europäisch-arabischen Familie zählen. Andere, weniger Klang besitzende Namen, wollen die Slaven in eine Reihe mit den Tataren, Mongolen und Chinesen bringen, diese Einteilung aber wird von den slavischen Gelehrten nicht angenommen, da sie übrigens auch nur erweist, daß jene Naturalisten weder den gesellschaftlichen Zustand noch die Sprache und Überlieferungen dieser Völker erwogen haben, und indem sie lediglich aber auch fälschlich die physischen Merkmale in Betracht zogen, das sittlich religiöse Element unbeachtet gelassen haben. Andere wollen ihre Herkunft aus dem semitischen Stamme beweisen. Die ausgezeichneten Ethnographen und Philologen Wilhelm Humboldt83 und Heinrich Julius Klaproth84 stimmen darin überein, daß die Slaven dem indogermanischen, oder vielmehr dem indoeuropäischen Stamme angehören; sie sind folglich mit den Kimbern, Kelten, Hindus, Parsen, Armeniern, Kurden einer und derselben Abkunft. Dieser ungeheure Völkerstamm umfaßt den größten Teil der Erdkugel; seine Bevölkerung beträgt nach Klaproths Berechnung 360 Millionen. Die Slaven zählen hiervon 60–80 Millionen, machen daher den fünften Teil jener ungeheuren Masse aus. Der Slave hat einen hohen Wuchs, starken Körperbau und breite Brust; seine Füße und Hände sind nicht klein, aber wohlgebildet. Er ist augenscheinlich ein zum Landbau bestimmter Mensch. Der tiefdenkende deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder85 hat die ganze Bestimmung dieses Stammes 81 82

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Friedrich Blumenbach (1752–1840), deutscher Zoologe und Anthropologe; vgl. F. Blumenbach: De generis humani varietate nativa. Göttingen 1775 [Dissertation]; deutsche Übersetzung im Internet unter: [http://www.blumenbach-online.de]. Georges Cuvier (1769–1832), französischer Naturforscher, Begründer der sog. Katastrophentheorie; vgl. G.  Cuvier: Leçons d’anatomie comparée. 5 Bände. Paris 1798–1805 (deutsch: Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Band 1–4. Leipzig 1809–1810); vgl. Philippe Taquet: Georges Cuvier. Naissance d’un génie. Paris 2006. Wilhelm von Humboldt: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin 1836. Heinrich Julius Klaproth (1783–1835), deutscher Orientalist; vgl. H.J. Klaproth: Asia polyglotta. Paris 1823; vgl. Julius Klaproth: Briefwechsel mit Gelehrten, großenteils aus dem Akademiearchiv in St. Petersburg; mit einem Namenregister zu Julius Klapproth: Briefe und Dokumente. Hrsg. Hartmut Walravens. Wiesbaden 2002. „Allenthalben ließen sie sich nieder, um das von andern Völkern verlassene Land zu besitzen, es als Kolonisten, als Hirten oder Ackerleute zu bauen und zu nutzen; mithin war nach allen vorhergegangenen Verheerungen, Durch- und Auszügen ihre geräuschlose, fleißige Gegenwart den Ländern ersprießlich. Sie liebten die Landwirtschaft, einen Vorrat

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in eine Formel gefaßt, indem er sagte, sein Ziel wäre den Boden zu besitzen. William-Frédéric Edwards beschreibt in seiner Physiologie der Völker die Slaven folgendermaßen: Das Gesicht eher viereckig als oval, ist fast von gleicher Ausdehnung in die Länge und Breite; die Augen schon, offen, etwas tiefliegend und vielleicht zu klein im Vergleich mit dem ganzen Gesichte; die Nase gradlinig, Adlernasen kommen nicht vor; die Lippen der Nase genähert, oft breitgespalten, doch weder hängend noch aufgeworfen, wenngleich man sie selten so schön gezeichnet findet, wie bei den Persern und Griechen; die Haare kastanienbraun, in den nördlichen Gegenden jedoch gewöhnlich heller, in den südlichen fast schwarz; die Stämme an den Grenzen im allgemeinen üppiger als im Innern. Der Charakter dieses Volkes ist sanft, die Leidenschaften eher rasch und lebhaft als dauernd; der Slave vergißt leicht eine Kränkung, zuweilen auch eine Wohltat, jagt mehr den Vergnügungen als den Lüsten nach.86

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von Herden und Getreide, auch mancherlei häusliche Künste und eröffneten allenthalben mit den Erzeugnissen ihres Landes und Fleißes einen nützlichen Handel. Längs der Ostsee von Lübeck an hatten sie Seestädte erbaut, unter welchen Vineta auf der Insel Rügen das slawische Amsterdam war; so pflogen sie auch mit den Preußen, Kuren und Letten Gemeinschaft, wie die Sprache dieser Völker zeigt. Am Dnepr hatten sie Kiew, am Wolchow Nowgorod gebaut, welche bald blühende Handelsstädte wurden, indem sie das Schwarze Meer mit der Ostsee vereinigten und die Produkte der Morgenwelt dem nördund westlichen Europa zuführten. In Deutschland trieben sie den Bergbau, verstanden das Schmelzen und Gießen der Metalle, bereiteten das Salz, verfertigten Leinwand, brauten Met, pflanzten Fruchtbäume und führten nach ihrer Art ein fröhliches, musikalisches Leben. Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde.“ – Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände. Berlin und Weimar 1965, Bd. 2 (Vierter Teil, 16. Buch, 4. Slawische Völker), S. 279 (zuerst RigaLeipzig 1784–1791). Mickiewicz verwertet hier teilweise die Ausführungen von William-Frédéric Edwards (1777–1842), die auch P.J. Schaffarik (Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. I, S. 33–34) zitiert; vgl. W.-F. Edwards – Des caractères physiologiques des races humaines considérés dans leurs rapports avec l’histoire. Paris 1829, S. 81–82: „Le contour de la tête, vue de face, représente assez bien la figure d’un carré, parce que la hauteur dépasse peu la larger, que le sommet est sensiblement aplati, et que la direction de la mâchoire est horizontale. Le ne zest moins long que la distance de se base au menton; il est presque droit à partir de sa depression à la racine, c’est-à-dire sans coubure decide; mais, si elle était appreciable, elle serait légèrement concave, de manière que le bout tendrait à se relever; la partie inférieure est un peu large, et l’extrémité arrondie. Les yeux, un peu enfoncés, sont parfaiment sur la meme ligne, et, lorsqu’il sont un caractère particulier, il sont plus petits que la proportion de la tête ne semblerait l’indiquer. Les sourcils peu fournis en sont trèsrapprochés, surtout à l’angle interne; ils se dirigent de là souvent obliquement en degors. La bouche qui n’est pas saillante, et dont les lévres ne sont pas épaisses, est beaucoup plus prés du nez que du bout du menton. Un caractère singulier qui s’ajoute aux precedents, et qui est très-général, se fait remarquer dans leur peu de barbe, excepté à la

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Nicht gar zu viel darf man der Meinung neuerer Philosophen, was den Einfluß des Klimas auf den Menschen betrifft, folgen. Unmöglich kann man das Menschengeschlecht auf gleiche Linie mit dem Tier- und Pflanzenreich stellen, unbezweifelt ist es jedoch, daß der Mensch ewig solche Luft und Boden gesucht hat, welche am besten seinen angebornen Neigungen, seiner physischen Beschaffenheit entsprachen. Die Stadt ist ein Kerker für den Beduinen, nie läßt vom ewigen Herumziehen der Zigeuner, und nie führt der Slave, wenngleich sich in Steppen niederlassend, ein Nomadenleben; er durchläuft sie immer mit Widerwillen, schleppt nie seine Familie auf Wagen nach sich, sondern sehnt sich nach einem festen Wohnsitz, sei es auch nur in einem Gehege in der Wüste, oder unter dem elenden Dach einer Strohhütte. Landwirtschaft ist sein unerläßliches Bedürfnis. Möglich ist, daß derselbe untrügliche Instinkt, welcher die Vögel und Tiere in die geeigneten Gegenden leitet, auch die slavischen Völker aus den Hochlanden Asiens zu den Landschaften trieb, die sie früher eingenommen hatten, und wo wir sie jetzt sehen. Die Geschichte dieses Hinüberwanderns steht in keiner Verbindung mit der Literaturgeschichte, will man jedoch dasjenige berücksichtigen, was in dieser Hinsicht die Untersuchungen der Tschechen und eines russischen Gelehrten87 erläutert haben, so lassen sich in den ältesten Zeiten Spuren von slavischen Ansiedelungen am Bosporus entdecken. Durch diese Meerenge sind sie gewiß gegangen, oder es war dieselbe noch nicht durchbrochen, als sie schon diesseits sich befanden; sobald sie aber die Karpaten erreicht hatten, zerstreueten sie sich rasch über ganz Europa. Im Westen jedoch von kräftiger organisierten Völkern zurückgedrängt, im Norden von Nomadenhorden aufgehalten, gedrängt daher nach ihrem Mittelpunkt,

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lèvre supérieure.“ – (Der Umriß des Kopfes von vorne gesehen stellt ziemlich genau die Form eines Quadrats dar, weil die Höhe etwas größer als die Breite ist, die Spitze deutlich abgeflacht ist und die Richtung des Kiefers horizontal verläuft. Die Nase ist kürzer als der Abstand von der Basis bis zum Kinn; sie ist von ihrem Tiefpunkt bis zur Wurzel fast gerade, d.h. ohne erkennbare Krümmung; wenn sie jedoch erkennbar wäre, wäre sie leicht konkav, so daß die Spitze dazu neigt, sich zu erheben; der untere Teil ist etwas breit und die Spitze abgerundet. Die Augen liegen ein wenig tief, sind aber vollkommen auf einer Linie, und wenn sie ein besonderes Merkmal sind, sind sie kleiner, als es die Proportionen des Kopfes vermuten lassen würden. Die spärlich gefüllten Augenbrauen stehen sehr eng zusammen, besonders im Innenwinkel, und verlaufen von dort aus oft schräg nach oben. Der Mund, der nicht vorspringt und dessen Lippen nicht dick sind, liegt viel näher an der Nase als an der Kinnspitze. Ein besonderes Merkmal, das zu den vorhergehenden hinzukommt und sehr allgemein ist, ist ihr geringer Bartwuchs, außer an der Oberlippe.) Vgl. P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II („Ausbreitung der Slawen“), S. 1–48, der auch Arbeiten von Schlözer, Dobrovský und N. M. Karamzin auswertet.

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den Karpaten, schlossen sie sich allmählich in die heute bestehenden Grenzen ein. Der unermeßliche Raum ihrer Wohnsitze scheint auch gerade ein Land zu sein, vorzüglich zum Ackerbau bestimmt. Werfen wir einen Blick auf die Länder von den Karpaten bis zu dem Gestade des baltischen Meeres, so sehen wir eine ungeheure Ebene, bedeckt von einer dicken Schicht Pflanzenboden; nirgends sieht man hier nackte Felsen, oder flutdrohende Gewässer; nirgends wird der Mensch gezwungen, durch Kunst die Natur zu besiegen, überall findet er einen fruchtbaren, leicht zu bebauenden Boden. Diese Gegend ist so zu sagen von den Verhältnissen der übrigen Welt wie losgetrennt; die Flüsse, welche anderswo die Einwohner aufs Meer hinziehen, sind hier gleichsam wie gesperrte Wege zu diesem großen Bindungselement der Völker. Der Dnjepr ist vorerst durch Felsenrisse verrammt, ergießt sich dann in die Steppen nomadischer und den Slaven verfeindeter Völker. Der Niemen und die Weichsel treffen vor ihren Mündungen auf eine Kette von Seen und Morästen, hinter welchen das von einem fremden Stamme besetzte Meeresufer immer ein Landungsplatz räuberischer Völker war. Darnach fanden sich die Slaven zwischen ihnen in ihren Wäldern und Fluren gleichsam eingehegt. Dieser Wohnsitz der Slaven ist füglich in drei Querstreifen einzuteilen. Der mittlere Streifen besteht aus Wäldern, und zieht sich der Länge nach durch diesen ganzen Raum. Noch an der Oder sieht man die Überbleibsel waldiger Wüsteneien, welche über die Weichsel und den Niemen hinübersetzen, das Tal der Pripjet bedecken, dann jenseits des Dnjepr an die russischen Wälder stoßen, und durch ihre Vermittlung mit den Wäldern des Ural sich verbinden. Es ist ein besonders waldreiches Land. Es scheint, daß alle wilden Tiere hierdurch aus Asien nach Europa zogen, und heute noch haben sie hier ihre Hauptsitze. Wölfe, Bären, Elche, anderswo selten oder schon unbekannt, vermehren sich hier im Überfluß. Der Wisent, schon seit langer Zeit auf unserem Festland ausgerottet, hält sich noch in den Gegenden von Białowieża unter dem Schutz der Landesgesetze. Diese Wälder werden in verschiedenen Richtungen von weiten Fluren durchschnitten, welche häufig sandig trocken, meistenteils aber aus feuchten Wiesen bestehend, dem Vieh Nahrung liefern, aber nicht als Weideplätze für Herden wandernder Völker dienen können. Im Norden des Waldstreifs zieht sich eine lange Reihe von Seen hin; von dem See Gopło beginnend bis zum Peipus bilden ihrer beinahe fünfhundert an der Zahl gleichsam eine Kette von größeren und kleineren Gewässern, die durch Flüsse, Bäche und Kanäle verbunden sind. Diese Kette trennt die Slaven vom eigentlichen Litauen und den Finnen, die am baltischen Meere angesiedelt sind. Hier herrscht über andere Bäume die weiße Birke mit aufgelöstem Haar und empfängt die Huldigungen der litauischen und finnischen Dichter,

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bis sie, nach der kalten Seite hin sich erstreckend, zu einem Gesträuch verkrüppelt. Hierdurch ziehen unzählige Scharen Wasservögel nach anderen Ländern Europas hin; hierdurch kamen noch manch andere heute nicht mehr zu erblickende Tiere. Das Verweilen des Rentiers in diesen Gegenden gehört noch den Zeiten der Geschichte an, die Erwähnung jedoch von den Wandermäusen hat sich bloß in Volkssagen88 erhalten, und zwar als Sinnbild der Gefräßigkeit finnischer Völker89, von deren Einfällen die Geschichte nichts mehr zu sagen weiß. Im Süden des Waldstrichs erstrecken sich schon diesseits vorzüglich aber jenseits der Karpaten offene Fluren fruchtbaren Bodens. Das jetzige Königreich Polen, Wolhynien, Podolien, ein Teil der Ukraine, haben einen überall bebauungsfähigen und äußerst ergiebigen Boden. Die Fichte fängt hier an immer seltener zu werden, dafür aber beschattet desto dichter die majestätische Eiche lachende Haine, und wird zum Liebling des Liedes. Hierdurch geht die Bahn anderer Besuche aus den Wüsten und Steppen Asiens, es ist dieses der Heuschrecken- und Mongolenweg. Jenes Insekt verschwand den Mongolen ähnlich manchmal auf lange Zeiten, niemand sprach von ihm Jahrhunderte lang, dann erhoben sich wiederum plötzlich seine Wolken, die Sonne verfinsternd und die Erde bedeckend. Immer pflegte es in Polen seine Winterquartiere zu nehmen, die neue Brut drang dann mit dem Frühling zuerst zu Fuß vor, ließ die Felder wie von einer Feuersbrunst geschwärzt hinter sich, verschüttete Flüsse und Engpässe, und flog für den Sommer mit Flügeln versehen bis an die Ufer der Elbe und des Rheins. Erst das Bebauen der polnischen Fluren schnitt ihm den Zugang nach Europa ab. Die Örtlichkeit, die Natur dieser Gegenden, steht in enger Verbindung nicht nur mit der Literatur des gemeinen Mannes, sondern auch mit derjenigen der Gebildeten. Die Sagen des Volkes, seine Lieder, ebenso wie die Meisterwerke der modernen Kunst, sind voll von Schilderungen, Vergleichungen und Andeutungen, welche man weder fühlen noch verstehen kann, sobald nicht fortwährend die Bilder und Erscheinungen der Natur dem Geiste vorschweben. Die Heuschrecke z.B. ist in der Überlieferung und der Poesie des Volkes immer das Sinnbild der Tataren. „Lasset uns die Heuschrecke zertreten“ („Zgniećmy szarańczę“) war lange der Kriegsruf der Polen. Das Volk behauptet, auf den Flügeln dieses Insektes stehe mit Zauberzeichen geschrieben: „Gottes Strafe“, 88 89

Quelle nicht ermittelt. Angaben nicht ermittelt. Über die Gefräßigkeit der einzelnen Völker schreibt allerdings Christoph Meiners: Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen. 3 Bände. Tübingen 1811–1815, Bd. 3 (Tübingen 1815), S. 277: „Die gemischten Völker, die zum Theil tatarischen, zum Theil finnischen oder kalmükischen Ursprungs sind, haben mit dem schlechteren Blute ihrer weniger edlen Vorfahren auch ihre Gefräßigkeit geerbt.“

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und bemerkenswert ist, daß alle uralischen Hordenführer, von Attila an bis auf Tamerlan (Timur-Leng), jedesmal sich als die „Gottesgeißel“ ankündigten. Ein großer Dichter des Westens, Lord Byron, erriet so trefflich die Natur der Ukraine, die er niemals gesehen, indem er das mongolenartige Verfahren eines russischen Anführers mit folgenden Worten schildert: „Er fiel“, sind seine Worte, „auf dem Boden, der ihn gezeugt, und vergrub sich einer Heuschrecke gleich in die Erde, die er verwüstet.“90 Die altertümlichen Lieder dieser Gegenden scheinen der Widerhall von Vogelstimmen und Insektenschwirren zu sein. Der Sänger von Igor’s Kriegszug fängt die Dichtung mit dem Anrufen des mythischen Sehers Bojan an; er sagt: Боянъ бо вѣщий, аще кому хотяше пѣснь творити, то растѣкашется мыслию по древу, сѣрымъ вълкомъ по земли, шизымъ орломъ подъ облакы […].91 Denn der weise Bojan, wenn er auf einen ein Lied wollte dichten, dann wandelte er sich in Gedanken [zu einer Nachtigall] im Baum, zu einem grauen Wolf auf der Erde, zu einem stahlblauen Adler unter den Wolken […].92

Ferner schildert er das Anschlagen der Finger auf die Saiten seiner Leier wie folgt: „da ließ er zehn Falken steigen gegen eine Schar Schwäne“ („Тогда пущашеть 10 соколовь на стадо лебедêй […]“)93. In der neuen slavischen Poesie spielt desgleichen die Natur eine wichtige Rolle. Jeder Pole weiß auswendig jenes herrliche Bruchstück von Seweryn Goszczyński, wo die Schwätzerin Eiche dem Kosaken Nebaba ins Ohr alte Taten herabsäuselt.94 Liest man

90 91 92 93 94

Freie Wiedergabe der 36. Strophe aus dem 7. Gesang von Byrons „Don Juan“ über den Tod des russischen Feldmarschall Grigorij Aleksandrovič Potemkin (1739–1791): Made his last illness, when, all worn and wan, Da morsch und matt er unter einer Tanne He died beneath a tree, as much unblest on Sein Ende fand, ein ungesegnetes, The soil of the green province he had wasted, Auf grüner Flur, die er verwüstet hatte, As e’er was locust on the land it blasted Wie eine Heuschreck auf verheerter Matte. Slovo o polku Igoreve. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Tom 4: XII vek. Sankt-Peterburg 1997, S. 254. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert (Slovo + Seitenzahl). Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München1989, S. 21. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert (Lied + Seitenzahl). Slovo o polku Igoreve, op. cit., S. 254. Vgl. Seweryn Goszczyński: „Zamek kaniowski“. In: S. Goszczyński: Dzieła. Bd. II. Lipsk 1870, S. 87 (cz. III, rozdz. 10): „Czy dąb, gaduła, szepce w jego uchu / Smutne powieści o klęskach tej ziemi“ (Ob etwa die Eiche, die Schwätzerin, ihm ins Ohr / Traurige Geschichten von Niederlagen dieses Landes einflößt.)

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die klangvollen Strophen unseres Dichters Zaleski95, so scheint es wirklich, als summten ganze Bienenschwärme, Schmetterlinge und kleine Fliegen mit goldenen Flügelchen über die grünen Steppen der Ukraine einher. Das Bekanntwerden mit der Naturgeschichte des slavischen Bodens ist daher unerläßlich; außer diesem bleibt jedoch noch die organische Unterlage, der schöpferische Keim, das Geschlechtsdogma der slavischen Gesellschaft zu ergründen, einer Gesellschaft, welche gänzlich verschieden ist von der keltischen, germanischen, mongolischen und jeder anderen, die man bei den umliegenden Völkern erblickt. Untersucht man in dieser Absicht die Ereignisse des Altertums, so ist zuvörderst nötig, die religiösen Begriffe aufzuspüren. Die Slaven hatten den Begriff vom alleinigen Gott; ließen auch die Existenz eines bösen Geistes oder des schwarzen Gottes zu, welcher mit dem weißen Gott, dem allerhöchsten Verteiler von Belohnung und Strafe, kämpfte; sie glaubten an die Unsterblichkeit der Seele. Diese drei Hauptdogmen bilden die ganze alte Religion der slavischen Völker.96 Zu bemerken ist hierbei die gänzliche Abwesenheit des Gedankens an eine Offenbarung: nirgends findet sich die Spur eines sichtbaren Bandes zwischen der Gottheit und dem Menschen vor, nie hat Gott zu einem der Slaven gesprochen, ihnen nie seinen Propheten, seinen Sohn geschickt. Schon des Mangels an einer Offenbarung wegen konnte bei ihnen keine Mythologie entstehen, dieselbe war ja immer wie bekannt nichts weiter, als eine Entartung der Offenbarung. Eine Religion, wie wir sie in den ältesten Geschichtsschreibern, Denkmälern, Volkssagen und Überlieferungen der Slaven finden, beurkundet schon selbst das sehr hohe Altertum dieses Volkes. Wahrscheinlich ist es aus Asien noch vor der Offenbarung ausgewandert; der Zeitpunkt dieser Auswanderung ist schwer anzugeben, so viel 95

96

In der Ausgabe (Adam Mickiewicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 63) lautet der ganze Satz: „[Ein Kritiker] verglich die Strophen des polnischen Dichters Zaleski mit einem Insektenschwarm; tatsächlich ähneln diese Strophen, die Poetizität ausstrahlen, den Bienen und Schmetterlingen, die sich über die Steppen der Ukraine erheben.“ – Der Kritiker ist Aleksander Tyszyński (1811–1880), der damit auf Zaleskis Dichtung „Rusałki“ (Nymphen) anspielt. Vgl. A. Tyszyński: Amerykanka w Polsce. Petersburg 1837; auch in – A. Tyszyński: Pisma krytyczne. Red. Piotr Chlebowski. Kraków-Petersburg 1904, Bd. I, S. 37–39, worin er über die „Schulen der polnischen Poesie spricht“ und u.a. Zaleski als die „Nachtigal der ukrainischen Schule“ bezeichnet („Zaleski jest słowikiem ukraińskiej szkoły.“ – S. 37 [https:// archive.org]). Vgl. auch A. Mickiewicz über Zaleski in dem Gedicht (in vierfüßigen und dreifüßigen Jamben) „Do B.Z.“ (1841) – „Słowiczku mój! Leć, a piej! / Na pożegnanie piej / Wylanym łzom, spełnionym snom, / Skończonej piosnce twej!“ […]. Vgl. dazu Henryk Łowmiański: Religia Słowian i jej upadek (w. VI–XII). Warszawa 1986; Tadeusz Linkner: Słowiańskie bogi i demony. Z rękopisu Bronisława Trentowskiego. Gdańsk 2018 (3. Auflage).

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jedoch ist gewiß, daß es keine von den Begriffen, welche zu Abrahams Zeiten im Orient allgemein verbreitet waren, mit sich nach Europa gebracht hat. Es ist ein Urglaube, eine patriarchalische Religion, wie diejenige in der Genesis. Gott, Gottes Widersacher, die Unsterblichkeit der Seele und eine Spur der Erinnerung an eine Untat, die man sühnen muß, was aus dem Gebrauch der Opfer hervorleuchtet, das ist alles, was man hier deutlich bemerken kann. Die soziale Einrichtung selbst läßt das Übrige, was noch fehlt, erraten. Ohne Offenbarung gibt es keine Priesterschaft, und bei den alten Slaven fand weder ein erbliches noch ein Wahlpriestertum statt. Da außerdem keine Halbgötter und Heroen zugelassen wurden, so konnte eine Aristokratie ganz und gar nicht entstehen, diese nämlich gründet sich überall auf eine andere Abstammung als die der übrigen Sterblichen, auf einen göttlichen Ursprung. Deshalb mußte das slavische Volk ohne Priester, Geburtsadel und ohne Könige sein.

6. Vorlesung (15. Januar 1841) Die Armut und die Unzuverlässigkeit der Quellen zur slavischen Mythologie – Die Slaven besaßen keine Offenbarung, daher auch keine Philosophie – Die Kriegszüge der Barbaren waren religiös motiviert – Religionskult, Sitten und Gebräuche, slavische Siedlungen und ihre Geschichte – Überlieferungen antiker und neuzeitlicher Autoren über die Slaven – Ihr Geschlechtsname und die Spuren ihres Daseins in verschiedenen Ländern Europas.

[Es ist allgemein bekannt, wie wichtig bei der Erforschung der Herausbildung irgendeiner Nation die genaue Kenntnis ihrer religiösen Begriffe ist.] Die religiösen Begriffe geben den Inhalt des verflossenen Lebens der Völker zu erkennen, erklären ihren gegenwärtigen Zustand und sind der Schlüssel zu ihrer Zukunft. Unglücklicherweise ist jedoch dieser wichtigste Teil der slavischen Geschichte noch sehr im Dunkeln. Es fehlt uns nicht nur an alten Materialien zur Erkenntnis der slavischen Mythologie, sondern man kann sich auch auf das Urteil der neueren Gelehrten in dieser Beziehung wenig verlassen. Die alten Griechen haben in ihren Erwähnungen von den nördlichen Gegenden kaum einige unsichere Namen hinterlassen; die Byzantiner kamen erst im 6. Jahrhundert in nähere Berührung mit den Slaven; ihre Schriftsteller jedoch, meist Würdenträger oder Beherrscher des Kaiserreiches, richteten mehr ihre Aufmerksamkeit auf den sozialen und politischen Zustand dieser Völker, als auf den religiösen; nur die Schriftsteller des Westens allein, welche um diese Zeit ins Innere des Slavenlandes eingedrungen waren, haben über diesen Gegenstand etwas reichere Nachrichten bewahrt. Mönche waren es, Apostel, Bischöfe, welche schon ihrem Beruf nach über die Religionsvorstellungen der zu bekehrenden Heiden nachdenken mußten. Auch diese jedoch, aus falschem Hang, alles auf das ihnen bekannte System der griechischen und römischen Mythologie zu beziehen, haben den slavischen Gottheiten falsche Namen97 beigelegt. Durchaus wollten sie nur einen Jupiter, Merkur, eine Venus in ihnen sehen und haben daher die Eigentümlichkeit der dortigen Religion verwischt. Die heutigen Forscher, Geschichtsschreiber und Mythographen sind fast ohne Ausnahme der Spur der Gelehrten des vorigen Jahrhunderts, den französischen Enzyklopädisten gefolgt. Für sie ist die Mythologie eine Sammlung von 97

Vgl. dazu Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. Köln-Weimar-Wien 1992 (Kapitel „Die philologischen Quellen“), S. 1–16; darunter über Jan Długosz, der die Namen selbst erdachte: Jupiter – Jessa, Mars – Lada, Venus – Dzidzilela, Pluto – Nija, Diana – Dziewanna, Ceres – Marzanna (Ioannis Dlugosii Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae. Liber primus, liber secundus. Varsaviae 1964, S. 106–108.)

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_007

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willkürlichen, wenn nicht unsinnigen Erdichtungen; nie kam es ihnen in den Sinn, daß man diese Fabeln zu einem geordneten Ganzen zusammenstellen und aus ihnen einen Lichtstrahl zur Beleuchtung der Völkergeschichte gewinnen kann. Sie führen manchmal einige Mythen an, folgern aus ihnen auf den geistigen Zustand und das häusliche Leben des Volkes; versuchen es jedoch nie, seine gesellschaftliche Einrichtung und politischen Denkmäler auf diesem Wege zu enträtseln. Alle diese Gelehrten aber beleuchten ein und dasselbe in Bezug auf die drei Hauptgrundsätze der slavischen Religion. Das dreifache Dogma vom Glauben an einen höchsten Gott, an einen Geist, der ins Böse gefallen, und an die Unsterblichkeit der Seele unterscheidet in sittlicher Hinsicht die Slaven von den viele Götter verehrenden Griechen (Polytheisten), von den eine Menge geistiger Wesen zulassenden Kelten (Pantheisten) und von den religionslosen uralischen Stämmen ab. Dieses Dogma dient auch zum Grundstein ihres sozialen und politischen Lebens. Der Urglaube der Slaven, unberührt gelassen von irgendeinem Einfluß der Offenbarung, konnte seine reine Einfachheit zwar ewig bewahren, mußte aber zugleich unfruchtbar und unfähig, irgend einen Fortschritt aus sich heraus zu erzeugen, bleiben. Immer lassen die Mythologien einen gewissen Zusammenhang zwischen Gott und dem Menschen erraten; alle Philosophien nehmen ihren Ursprung, indem sie diese Verbindung erklären wollen, und müssen daher ihre Quelle in der Mythologie haben. Die indische, griechische und jedwede der ältesten Philosophien hatten nie etwas anderes vor, als das Rätsel zu lösen, welches durch eine wahre oder für wahr gehaltene Offenbarung gegeben war. Die Slaven besaßen kein solches Mysterium; der Geist dieses Volkes war nicht berufen zur Arbeit auf diesem Felde; unmöglich konnte daher bei ihnen eine Philosophie entstehen. Ihre Religion selbst war eher Meinung als Glaube; religiöse Ansichten hatten sie, aber kein religiöses Wort, ein Wort, welches höhere Wahrheiten offenbart und als begeistert durch eine überirdische Macht handelt. Niemals konnte daher dieses Volk sich um eine Stimme sammeln, nie einem einzigen allgemeinen Antrieb folgen, z.B. irgendeine große, gemeinschaftliche Unternehmung beginnen, die ein weitreichendes und geheimnisvolles Ziel hatte. Dies war auch zugleich die Ursache, daß sie nie Eroberer waren, und daß sogar vor ihrer christlichen Zeit keines von diesen Völkern kriegerisch war, keines weder ein zahlreiches Heer stellen, noch in einem weitgreifenden Plan handeln konnte. Die erobernden Barbarenhaufen leitete nämlich immer ein höherer, ein religiöser Gedanke. Die Schreiber der Chroniken des Mittelalters und die neueren Gelehrten erklären diese Tatsachen ganz anders. Die Ersten sehen in den Königen der West- und Ostgoten, ja sogar selbst in Attila und Dschingis-Khan irrende, romanhafte Abenteurer, unternehmende Ritter; die Letzteren schreiben alles persönlichen Interessen,

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materiellen Bedürfnissen, der Eroberungssucht in den Führern, der Armut und dem Hunger in den Völkern zu. Und doch reicht es hin, nur einen Blick auf die Überbleibsel der Poesie der Normannen98 zu werfen, um sich zu überzeugen, daß nicht gewöhnliche Absichten dieselben leiteten, daß ihnen immer eine Prophezeiung, eine Offenbarung Königreiche und Länder, die sie zu erobern hätten, zeigte. Selbst die uralischen Horden, die Horden der Verheerer und der Glaubenslosen, unterlagen diesem Gesetz der großen Völkerbewegung. Dschingis-Khan selbst z.B., jener Khan, den man als das vollkommenste Muster eines solchen Hordenführers betrachten kann, begab sich erst in die Wüste, ehe er einen Teil der Erdkugel zu vernichten unternahm, und erst nach mehrtägiger, gänzlicher Zurückgezogenheit in den Bergen verkündigte er sich als berufen, an der Welt Rache zu üben und die frevelnden Völker zu bestrafen. [Als die 200000 Einwohner zählende Stadt Buchara ihm zu Füssen fiel und rief, warum er sie vernichten wolle, sagte er, daß er es selbst nicht wisse, aber sie müßten eine Sünde begangen haben, sonst hätte Gott Dschingis-Khan nicht nach Buchara geschickt.]99 Da also die Slaven keine übernatürliche Macht anerkannten, so konnten sie auch nicht unter ihrem Einfluß massenweise auftretend handeln. Ihre Religion, ohne unmittelbares Band zwischen der Gottheit und den Menschen gelassen, forderte kein Priestertum, keine Hierarchie. Bei allen griechischen, keltischen, skandinavischen Völkern galten die Könige für Söhne oder absonderlich begünstigte Freunde irgend einer Gottheit, irgend eines mächtigen Geistes; auf diesen Grundsatz stützte sich bei ihnen die Idee der königlichen Macht und der Aristokratie. Die Slaven hatten nicht einmal die nötigen Namen zur Bezeichnung der Kasten in der Gesellschaft; die Namen der privilegierten Stände in ihrer Sprache sind fremden Ursprunges. Ebenso konnte bei ihnen keine Sklaverei aufkommen, denn dazu ist beim Herrn die Überzeugung seiner sittlichen Überlegenheit über den Sklaven unumgänglich notwendig. Sie behandelten ihre Kriegsgefangenen mit Milde, ließen sie gern für ein Lösegeld frei, und selbst ohne dieses erlaubten sie ihnen nach einem kurzen Aufenthalt alle Vorzüge der Mitbürgerschaft zu genießen. Hat man nun gesehen, welche Elemente der slavischen Religion abgingen, so ist es leicht, sich vom Ganzen ihrer geselligen Verfassung einen Begriff zu bilden. Und in der Tat war auch die gesellschaftliche Einrichtung der Slaven eigentümlich, in Nichts weder den keltischen Klans, noch den ausgedehnten 98 99

Vgl. Die „Edda“. Nach der Übersetzung von Karl Simrock neu bearbetet und eingeleitet von Hans Kuhn. 3 Bde., Leipzig 1935–1947, Stuttgart 2004. Ergänzt nach A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Tłumaczenie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Poznań 1865, S. 42.

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Alleinherrschaften des Orients, noch der indischen Kastenverfassung, noch den westlichen Königtümern ähnlich. Man weiß selbst nicht, wie man diese ganz besondere Art sozialer Existenz benennen soll. Ihr Keim und Mittelpunkt ist nicht, wie bei den Griechen und Römern, die Stadt; nicht der Herrschersitz, die Burg, nicht die Kirche endlich, sondern nur das Dorf. Die Gemeinde, das Dorf, der Weiler ist der Urstoff der sozialen Verbindung unter den Slaven; hier sehen wir gleichsam ein Lager, eine Gemeinschaft von Landleuten. Bekannt ist es aus der Geschichte, daß die Slaven zuerst ihre Niederlassungen in Gegenden gründeten, die zum Ackerbau geeignet waren, an Flüssen, in Tälern, zwischen Wäldern, niemals aber auf Bergen. Erst im 12. Jahrhundert begannen sie nach dem Beispiel der Deutschen auf den Gipfeln der Anhöhen sich anzubauen. War eine Ansiedelung bereits übervölkert, so dachte man an eine andere. Dies war also keine bewaffnete Einnahme eines neuen Bodens, sondern nur eine stille Übersiedelung eines Teiles der Bevölkerung in die Gegend, welche einer arbeitsamen Hand bedurfte. Dergestalt breitete sich dieses Volk rings umher auf dem urbaren Boden aus und nahm brauchbare Einöden in Besitz. Bemerkenswert ist die innere Einrichtung der Niederlassungen; viele Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Verfassung der alten griechischen und lateinischen Völkerschaften finden wir in ihr. Das Lesen des tiefdurchdachten Werkes des Herrn Pierre-Simon Ballanche100 über die römischen Altertümer liefert manche Erläuterung zu den slavischen Altertümern; vielleicht wird auch einst die gegenseitige Bekanntschaft mit dem Altertum des Nordens zur besseren Erkenntnis der südlichen Denkmäler beitragen. In Ermangelung historischer Materialien kann hier die lebende Überlieferung oder das Volkslied oft vieles Licht auf das Unbekannte werfen. Es scheint, daß die Anlage neuer Niederlassungen immer zuerst im Rat der Alten beschlossen wurde und niemals aus ökonomischen oder administrativen Aussichten stattfand. War der Landsitz von den Alten auserwählt worden, so spannte man ein Joch Ochsen vor den Pflug, von denen der eine weiß, der andere schwarz sein mußte, und umpflügte die Grenzen des Dorfes, welche Umpflügung bei den Slaven zagon hieß. Der zagon bezeichnete das gesetzmäßige Territorium der Niederlassung, außerhalb desselben war alles fremd oder cudo. Jedes freie und unabhängige Dorf führte den Namen swoboda oder słoboda (Freiheit), und hatte seine gewissen und herkömmlichen Plätze, wie in den alten griechischen und römischen Kolonien. Zu solchen Plätzen gehörte der geheiligte Wald, in welchem religiöse Verrichtungen, öffentliche 100 Pierre-Simon Ballanche (1776–1847), französischer Historiker; vgl. P.-S. Ballanche: Essai de palingénésie sociale. Paris 1820.

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Versammlungen und Gerichte abgehalten wurden. Dieser Wald hieß rok, daher sind die Ausdrücke roki, roczki noch bis jetzt in der juristischen Kunstsprache vieler slavischen Völker in Gebrauch. Wenn ein feindlicher Überfall drohte, so schickte man von Bäumen des heiligen Haines abgeschnittene Gerten (wicie) an die nachbarlichen Niederlassungen als ein Zeichen, das sie zur gemeinschaftlichen Verteidigung aufrief, eine Sitte, die ausdrücklich in den polnischen Einrichtungen bewahrt wurde. Neben dem heiligen Hain (uroczysko), dessen Spur man überall sieht, wo nur noch ein altes slavisches Dorf steht oder stand, findet man einen anderen Ort, horodyszcze genannt. Man kann diesen einigermaßen als das capitolium der Niederlassung ansehen. In dieser befestigten Umzäunung suchte man Schutz und sammelte sich zur Abwehr bei einem Überfall. Ein dritter Platz endlich entsprach beinahe dem palatinischen Hügel der Römer; hier verrichtete man Opfer, schickte späterhin die Missetäter zum Tode und verbrannte die Leichen, wovon auch dieser Ort den Namen zgliszcze (Brandstätte) oder żale (Klagestätte) bekam.101 So eine Niederlassung und Gemeinde bildete, getrennt von den übrigen, einen Staat, eine selbstständige Gemeinschaft. Sie stand unter der Regierung, eigentlicher nur unter der Leitung der Älteren; von einer festen und abgesonderten Behörde läßt sich keine Spur entdecken. Die Greise, als Inhaber der Nationalüberlieferungen und Landwirtschafts-Geheimnisse, als Bewahrer der Religionsvorschriften, standen an der Spitze der öffentlichen Verhandlungen, der ländlichen Verrichtungen und feierlichen Gebräuche. Die Gemeinde verwaltete mit ihrem Rat der Alten das gemeinsame, in den Grenzen des Dorfes eingeschlossene Eigentum. Die Erbschaft, wenigstens in der Art, wie sie heut zu Tage verstanden wird, war den Slaven unbekannt; diese merkwürdige und eigentümliche Tatsache hat von unseren Rechtsgelehrten Józef Hube102 erörtert. Nur das Hausgerät und der Erwerb ging als Erbschaft auf die Nachkommen oder Verwandten über; der Boden aber war Eigentum der ganzen Gemeinde. Es scheint, daß jede Familie neben ihrer Hütte einen kleinen Gemüsegarten ausschließlich für sich besaß; die Äcker um das Dorf herum wurden 101 Die Ausführungen und die polnischen Beispiele in diesem Absatz basieren auf dem 1818 publizierten Buch von Zorian Dołęga-Chodakowski [eigentlich Adam Czarnocki 1784– 1825]: O Sławiańszczyźnie przed chrześcijaństwem oraz inne pisma i listy. Opracował Julian Maślanka. Warszawa 1967. Vgl. dazu auch A. Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. Księga pierwsza. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Red. Julian Maślanka. Warszawa 1996, S. 17. 102 Józef Huby: Wywód spraw spadkowych słowiańskich. Warszawa 1832 (dt. Joseph Hube: Geschichtliche Darstellung der Erbfolgerechte der Slaven. Posen 1836). J.  Huby (1801–1891) war auch Mitglied der Congregatio a Resurrectione Domini Nostri Iesu Christi (Zgromadzenie Zmartwychwstania Pana Naszego Jezusa Chrystusa); zmartwychwstańcy – Resurrektionsten.

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gemeinschaftlich bebaut. Die Magazine, Schuttböden, Scharwerke und viele andere Baulichkeiten der Art bei den Landleuten in Polen und Rußland bestätigen noch heute die Entdeckung der frühern Einrichtungen. Was jetzt von der Regierungsbehörde oder vom Herrn abhängt, dessen Ausführung lag in alten Zeiten der Gemeinde selbst ob. Ist man auf diese Weise zu einer Vorstellung des sozialen Zustandes der Slaven gelangt, so kann man sich auch die alte slavische Geschichte erklären. Allmählich rückten sie im Stillen aus Asien nach Europa, in allen Richtungen ihre kleinen Niederlassungen ausbreitend, vor. Dieses zivilisierte Volk breitete sich unter den Pferdehufen der wandernden Horden und kriegerischen Stämme aus, konnte jedoch nicht aus sich heraus einen Staat, ein politisches Ganze bilden. Jede Niederlassung leistete dem Feind Widerstand; jedoch alle einzeln überwunden, vermochten sie nicht, die Unabhängigkeit ihres Geschlechtes zu erhalten. Ein Irrtum ist es zu glauben, daß während der Einführung des Christentums und vorher noch die nördlichen Länder öde und wüste dalagen; im Gegenteil finden sich Beweise vor für ihren Anbau im höchsten Altertum. Die wandernden uralischen, kaukasischen und skandinavischen Völkerschaften ernährten sich auf Kosten dieser ansässigen Ackerleute. Die Slaven, unaufhörlich von Eroberern getreten, mußten den Ausländern unbekannt bleiben: weil ihre Länder der Reihe nach die Namen der sich auf einander folgenden Sieger annahmen; und wenn ihre Religion kein Dogma besaß, welches fähig gewesen wäre, eine große politische Gemeinschaft zu erzeugen, so hatte dieselbe andererseits jedoch alle Grundsätze, welche der Privatgemeinschaft des hauslichen Lebens Ordnung und Kraft sichern. [Seit Urzeiten kannten sie den Getreideanbau. Das Wort zboże (Getreide), das die Griechen sitos (σιτος) nannten, ist slavischer Herkunft.]103 Herder104 sagt von den Slaven, dieses Volk sei der Segen der Erde gewesen; überall habe sich die Erde gefreut, wo es sich auf derselben niederließ. Den übrigen Völkern Europas, namentlich aber seinen Landsleuten, den Deutschen, wirft er alle die durch viele Jahrhunderte an diesem wohltätigen Geschlecht verübten Untaten vor. Aber die slavische Organisation, wenngleich eigentümlich und schön, war doch zur Vernichtung bestimmt, da sie keinen Keim der weiteren Entwicklung in sich trug; sie konnte dem tätigen Organismus anderer Völker nicht widerstehen. Sogar in dem tiefsten Dickicht ihrer morastigen Wälder hätten sie mit der Zeit ihr Geschlecht nicht schützen können, wenn sie nicht vorher in den Schoß ihrer Bevölkerung kriegerische 103 Ergänzung nach F.  Wrotnowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Poznań 1865, S. 45). 104 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit., op. cit., Bd. 2 (Vierter Teil, 16. Buch, 4. Slawische Völker), S. 279–282; Zitat vgl. Fußnote 85.

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Stämme aufgenommen hätten, die ihnen den Keim künftiger Staaten gebracht haben, und wenn nicht der christliche Glaube sie später aus dem Zustande der Zivilisations-Unbeweglichkeit, einer Folge der längst abgestorbenen Religion, herausgezogen hätte. Mithin fängt die Geschichte der weiten Länder zwischen dem Schwarzen und Baltischen Meer erst mit der christlichen Epoche an; die vorangegangenen Jahrtausende liegen im tiefen Dunkel. Die Slaven selbst haben, streng genommen, keine Geschichte gehabt; denn diese ist doch wohl die Vergangenheit eines zum Ganzen, zum Staat herangebildeten Volkes, sie aber lebten nur in zerstreuten Niederlassungen. Demungeachtet wäre es ein Irrtum, sie deshalb Barbaren zu nennen, wie dieses fremde Schriftsteller, und besonders die deutschen, zu tun nicht ermangeln, und sie etwa mit den wilden Einwohnern von Amerika zu vergleichen, um wo möglich auf diese Weise die an ihnen von den Deutschen verübten Gewalttaten zu entschuldigen. Die Schriftsteller des Altertums und des Mittelalters legen ein ganz anderes Zeugnis von den Slaven ab. Alle erkennen ihnen die löblichsten Eigenschaften des Charakters und der geistigen Anlagen zu. Die Griechen sagen sogar, daß unter den Slaven selbst die Namen der List und des Verrats unbekannt waren, und daß ihre Gastfreiheit so weit ging, daß sie die Sitte hatten, ihre Häuser offen stehen zu lassen, damit der fremde Wanderer immer Schutz und Nahrung finden könnte. Mut sprechen sie ihnen desgleichen nicht ab, fügen jedoch hinzu, daß sie nicht zu gehorchen verstanden und sich leicht hintergehen ließen; demnach bestand auch die griechische Politik darin, sie unter einander zu entzweien und gegen einander zu bewaffnen. Die Mönche des Westens, welche das Werk der Bekehrung bei ihnen ausübten, wenngleich sie viele Fehler an ihnen erblicken, behaupten jedoch ausdrücklich, daß die Slaven mehr als irgend ein ihnen bekanntes Volk am leichtesten im Stande waren, mit der christlichen Religion sich zu durchdringen. Erinnert man sich nun an die religiösen Vorstellungen und den politischen Zustand der Slaven, so ist es leicht zu erraten, daß jenes Volk, welches Herodot ackerbauende Skythen benennt, ein Volk, welches am Dnjepr seine wandernden Herren ernährt, kein anderes, als das slavische105 war. Ebenso jene 105 Die Slaven werden bei Herodot mit keinem Wort erwähnt. Mickiewicz folgt hier der Auffassung von J.P. Šafařík: „Die mit diesen stammverwandten pflügendenSkythen (Σκύθαι ἀροτῆρες) hatten das Binnenland vom unteren Dniepr bis zu den Quellen des Bog und Dniestr inne. Es beschäftigten sich diese Skythen mit Ackerbau und starkem Getreidehandel mit den benachbarten Völkerschaften. Sie waren ohne Zweifel nicht skythischer sondern slawischer Herkunft. […] Leider hat uns Herodot ihren besonderen Namen nicht erhalten.“ – P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. I, S. 270–271; Stelle bei Herodot: Geschichten und Geschichte. Buch  I–IV. Übersetzt von Walter Marg. Zürich 1973, Buch IV, 17–18, S. 319.

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biederen Einwohner des Nordens, in der poetischen Sprache der Griechen die Unsterblichen106 genannt, waren gewiß an die Unsterblichkeit der Seele glaubende Slaven. Was den eigentümlichen Namen anbelangt, welcher das ganze Geschlecht in der alten Geschichte bezeichnet hätte, so bleibt er immer ein unauflöslicher Zweifel für uns, weil die verschiedenen Zweige teils nach ihrem Ursprunge, teils nach ihrem Wohnsitze, oder endlich vom herrschenden Volke verschiedene Benennungen107 annahmen oder bekamen. In den ältesten Zeiten kannte man sowohl in Asien als in Europa die Slaven unter dem Namen der Heneten oder Weneden; später nannte man sie Skythen, Sarmaten usw. Man sagt, daß die Römer sie ganz allgemein mit den Ausdrücken: Selvi, Silvi, Slavi, Sclavi, Servi bezeichneten; möglich ist, daß daher selbst die Benennung des Sklaven bei den Römern kam, welche um so leichter im Mittelalter ihre Etymologie im Worte slavus haben konnte, als die deutschen und romanischen Völkerschaften einen ansehnlichen Teil des Slavenlandes unterjocht hatten. Die Ansiedelungen der Slaven verbreiteten sich über ganz Europa; das Andenken ihrer Anwesenheit findet man noch in Frankreich und England; überall jedoch vernichtet, erhielten sie sich bloß in nördlichen Gegenden, welche fern von der Nachbarschaft eines durch festere Einrichtung und höhere Bildung übermächtigen Gemeinwesens waren.108

106 Bei Herodot sind es der thrakische Stamm der Geten, die die Unsterblichkeit vertraten – vgl. Herodot: Geschichten und Geschichte, op. cit., Buch IV, 93–94, S. 352–353. 107 Vgl. dazu die Übersicht bei Paul Joseph Schaffarik [Šafařík]: Slawische Althertümer. Deutsch von Mosig von Aehrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843, Bd.  1, Kapitel: 7: Die ursprünglichen Namen der Slawen: Winden und Serben; ferner, aus heutiger Sicht – Heinrich Kunstmann: Die Slaven: ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 19–26, 58–66. 108 In der Übersetzung von L. Płoszewski folgt ein (kurzer) Abschnitt – vgl. Adam Mickiewicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 77, der sich sinngemäß in der 14. Vorlesung (Teil I), vierter Absatz, wiederholt.

7. Vorlesung (19. Januar 1841) Zur Altertümlichkeit der slavischen Besiedlung in Europa – Der gesellschaftliche Status der Slaven in vor- und nachchristlicher Zeit – Nutzen und Vorteile der Erforschung slavischer Sprache für die Philologie – Volkssage und Fabel in Europa und bei den Slaven.

Die Art und Weise, die slavischen Altertümer zu betrachten, wie wir sie oben dargelegt, stimmt nicht mit der Meinung der westlichen Gelehrten überein. Unserem System nach fällt die Einwanderung der Slaven in die entferntesten Zeiten des Altertums; die fremden Geschichtsschreiber dagegen bestimmen sie als die allerletzte Einwanderung der Völker nach Europa. Besonders bemühten sich die Deutschen leidenschaftlich, diese Meinung zu begründen; denn dadurch wurde der Widerwille der Germanen gegen diese vermeintlichen Nachzügler des asiatischen Barbarentums, welche dem europäischen Geschlecht sich auf einmal aufgedrängt hätten, fortwährend genährt. Die slavischen Schriftsteller folgten blindlings den Werken der Griechen und Deutschen und teilten jene Ansicht; Joachim Lelewel109 war der Erste, welcher das Altertum der Slaven zu enthüllen unternahm; die Arbeiten aber der russischen und böhmischen Gelehrten haben es zur unerschütterlichen Wahrheit erhoben. Genügend ist es jetzt in dieser Beziehung, die Werke eines Pavel Jozef Šafařík110 durchzusehen. Was jedoch die Mythologie betrifft, so ist es schwer, sich aus das Urteil irgendeiner schriftlichen Autorität zu berufen. Wollten wir die Auseinandersetzung dieses Gegenstandes auf Bücher stützen, welche von Namen slavischer Götter, Göttinnen und Könige aus den Zeiten des Heidentums wimmeln, so müßte unser System zusammenfallen, weil diesem nach keine Mythologie, Hierarchie, kein Königtum sich mit den Grundsätzen der alten Slaven vereinbaren könnte. Der Widerstreit jedoch zwischen unserer Behauptung und den Zeugnissen ist bloß scheinbar, er verschwindet bei einer tieferen Untersuchung. Sorgfältig ist hier nur zu unterscheiden, was den Slaven wahrhaft eigen, volkstümlich 109 Joachim Lelewel (1786–1861); vgl. J.  Lelewel: Wiadomości o narodach, aż do wieku dziesiątego we wnętrzu Europy będących. In: J. Lelewel: Pisma pomniejsze geograficznohistoryczne. Warszawa 1814; deutsche Übersetzung: Joachim Lelewel’s Kleine Schriften geographisch-historischen Inhalts. Übersetzt von Karl Neu. Leipzig 1836. [SUB Göttingen. Signatur: 8 H UN I, 947]. 110 Pawel Josef Šafařík: Slowanske starožitnosti. Praha 1837; dt. Übersetzung: Paul Josef Schafarik: Slawische Alterthümer. Übersetzt von Mosig von Ahrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. I. Band. Leipzig 1843, II. Band Leipzig 1844; ferner P.J. Schaffarik: Die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_008

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gewesen ist, und was sie von Fremden entlehnt und sich angeeignet haben. Ihre religiösen Vorstellungen blieben rein, aber einige Sachen und Benennungen, entweder durch die später aus Asien einwandernden Völker hineingetragen, oder von den Nachbarn entlehnt, haben die Einheit der slavischen Begriffe verwirrt. Dieser fremde Einfluß reicht bis in die fernsten Zeiten. Die Gottheit Triglov111 entspricht augenscheinlich der indischen Trias, Żywie und Marzanna112, oder das Prinzip des Lebens und des Todes lauten im Sanskrit ganz ebenso; diese Ausdrücke kann man ohne Kenntnis der slavischen Sprache nicht einmal verstehen. Es geht wohl schwerlich an, solche Übereinstimmung von Ausdrücken und Bedeutungen auf Rechnung des bloßen Zufalls zu schieben. Auf welche Weise konnten diese Worte jenen unermeßlichen Flächenraum, welcher den Sitz der Slaven von Mittelasien trennt, durchfliegen? Sind sie aus jenen Gegenden zur Zeit der Blüte des Brahmanentums herausgegangen, oder haben sie diese Worte nur zufällig in ihrer Sprache gehabt? Wie dem auch sei, wir wissen nur, daß die litauische und slavische Sprache dem Sanskrit sehr nahe steht. Wichtig ist es für die Literatur, die Bedeutung solcher Ausdrücke gründlich zu untersuchen, den Einfluß fremder Vorstellungen auf das politische und Kunstleben der Völker zu erforschen. Auf diesem Feld kann man diese Frage leicht entscheiden. Vorstellungen und Ausdrücke der Art sind nie ins slavische Leben eingedrungen; man kann sagen, daß sie nur aus der Oberfläche schwimmen. Es sind dieses keine Dogmen, nicht einmal Sinnbilder von Begriffen, welche die Grundlage einer Gesellschaft ausmachen, sondern nur dichterische Metaphern, frei von jeder Verbindung mit der Wirklichkeit. Eben dasselbe müssen wir von den germanischen Gottheiten halten, deren Namen wir in der slavischen Geschichte antreffen. Die solchen Gottheiten dargebrachte Verehrung kann man nur an den Rändern des Slaventums bemerken, in Kiev, Novgorod, Rethra und Arkona, d.i. in den den wandernden finnischen und skandinavischen Stämmen angrenzenden Ländern. Augenscheinlich hat hier die Nachahmungssucht aus den anliegenden Ländern, wo schon die Mythologie beträchtlich entwickelt war, einige ihrer Erzeugnisse verpflanzt. In Prillwitz im Großherzogtum Mecklenburg hat man neulich eine reichhaltige Sammlung von alten slavischen Götzenbildern113 gefunden; jedoch alle Erklärungen, die 111 Zu Triglovъ vgl. Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft, op. cit., S. 59ff., 73ff. 112 Vgl. zu diesem Irrtum, der (auch) auf Jan Długosz (Ioannis Dlugossi Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, Liber primus, Varsoviae 1964) zurückgeht: Leszek Moszyński, op. cit., S. 13. 113 Es handelt sich um die sog. „Prillwitzer Idole“, Bronzeskulpturen und bronzene Reliefplatten, ausgegraben in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Prillwitz (Ortsteil der Gemeinde

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man davon gegeben, haben nichts Wesentliches geliefert. Es scheint, daß diese Götzenbilder von den Skandinaviern und Finnen herübergekommen waren, von den Slaven aber nur durch Inschriften in ihrer Sprache nationalisiert wurden. Die Kunst des Gießens und Bearbeitens der Metalle kannten sie ja nicht; sogar die hölzernen Götzenbilder, obgleich von inländischer Arbeit, tragen den Stempel eines fremden Musters an sich. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Königtum bei den Slaven. Das Register der slavischen Könige fängt schon im dritten Jahrhundert nach Christo an; später wird dasselbe schon ziemlich reichhaltig. Jedoch erscheint die königliche Gewalt auch nur an den Rändern des Slaventums. Die Notwendigkeit einer Abwehr gegen Anfälle von außen vereinte hier die Niederlassungen im gemeinsamen Interesse und unterwarf sie der Regierung eines zeitweiligen Herrschers, weil man nirgends das Beispiel einer slavischen Dynastie antrifft. Und in den Schriftstellern des abendländischen Kaisertums haben wir ein ausdrückliches Zeugnis, daß die Slaven nur auf bestimmte Zeit sich Anführer wählten, und daß sie niemals zum Gehorsam geeignet waren. Die Byzantiner nennen sie ein Volk, welches weder zu regieren, noch zu gehorchen versteht. Die Religion und das Königtum kreisten lange rings um die Sitze der Slaven herum und konnten sich den Eingang ins Innere nicht öffnen. So war der Zustand dieses Volkes beschaffen bis zur Niederlassung der Barbaren unter demselben, welche später unter dem Einfluss des Christentums Königreiche gestiftet haben. Von den Zeiten vor Herodot bis ins sechste Jahrhundert bewahrte der slavische Stamm seine ursprüngliche Verfassung. Stellen wir uns eine unzählige Menge kleiner Niederlassungen ohne irgendein allgemeines Band, eine unendliche Zahl getrennter Ameisenhaufen, mit ihrer häuslichen Arbeit beschäftigt, vor, oder um einen andern Ausdruck zu gebrauchen, ein Land, voll von Phalansterien114, und wir werden einen vollkommenen Hohenzieritz im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern), dokumentiert in der Edition von Andreas Gottlieb Masch (1724–1807) – Die gottesdienstlichen Alterthümer der Obotriten, aus dem Tempel zu Rhetra, am Tollenzer=See. Nach den Originalien auf das genaueste gemahlet, und in Kupferstichen, nebst Hrn. Andreas Gottlieb Maschens Herzogl. Mecklenb. Strelitzischen Hofpredigers, Consistorial=Raths und Superintendentens Erläuterung derselben, herausgegeben von Daniel Wogen, Herzogl. Mecklenb. Strel. Hofmahler. Berlin 1771; [Im Internet unter – http://diglib.hab.de]; später als Fälschungen erkannt; vgl dazu – Rainer Szczesiak: Auf der Suche nach Rethra. Die „Prillwitzer Idole“. Neubrandenburg 2005. 114 Phalanstère (Phalasterium) – Produktions- und Wohngemeinschaften. Vgl. die von Charles Fourier (1772–1837) herausgegebene Zeitschrift und seine Beiträge in: „La Réforme industrielle ou le Phalanstère: journal la fondation d’ne phalange, réunion de 1100 personnes en travaux de culture, fabrique et ménage.“ Paris 1832–1834; vgl. Charles Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie und

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Begriff von der slavischen Gesellschafts-Verfassung haben. Unmöglich ist das Wort zu finden, welches alle wesentlichen Bedingungen eines solchen Volkslebens wiedergebe. Aus vieler Hinsicht scheint es jedoch, daß hier die Träumereien von Charles Fourier ein wirkliches Bestehen hatten. Eine vollkommene Gleichheit, gemeinsame, verschiedenartige und jedem entsprechende Arbeit machen das slavische Gesamtleben aus. Sehen wir jetzt zu, was die Ursache war, daß bei ihnen so ein Zustand statthaben konnte. Dieses Volk erfreute sich einer gänzlichen Gleichheit, denn alle hatten in ihm gleichartige Anlagen und Mittel, denselben Gegenstand der Beschäftigung. Sie kannten keine andere Lebensweise, als die des Ackerbaues, und der Ackerbau ist weder eine Wissenschaft, noch eine Kunst; jeder besitzt die dazu nötigen Anlagen und Kräfte. Leicht war es mithin für eine ganze Bevölkerung, sich ein gemeinsames Ziel zu setzen, wenngleich die Mannigfaltigkeit der Arbeit unendlich sein konnte. Die Einteilung in Serien und Gruppen wird noch heute in vielen Dörfern dauernd festgehalten. Der slavische Landmann durchgeht alle Stufen der ländlichen Beschäftigung. Zuerst hütet er Gänse, dann das Vieh; später wird er Schnitter, Pflüger, und endlich im vorgerückten Alter bekommt er die fast priesterliche Würde des Sämanns. Auf diese Weise konnte jeder die Art und Weise seiner Beschäftigung verändern und alle Einzelheiten der Landwirtschaft erlernen. Für solch eine Gesellschaft ist das Zusammenleben eine unumgängliche Notwendigkeit; deshalb fanden auch die preußische und die österreichische Regierung und einige polnische Herren, als sie im Interesse der Landwirtschaft selbst die Landleute in gesonderten Gehöften auseinander setzen wollten, in ihnen einen unbesiegbaren Widerwillen, und ein solcher Plan hat nirgends geglückt. Dieses Volk muß in Gemeinden leben und arbeiten. Aber damit so ein Zustand immer dauere, darf in ihm keiner von diesen mächtigen Antrieben entstehen, welche den Menschen erheben. Religion, Wissenschaften, Künste äußerten hier keine Tätigkeit; die Entwicklung einer jeden von diesen Mächten hätte den Organismus der slavischen Welt zertrümmert, hätte ihrer schlichten Glückseligkeit ein Ende gemacht. Und sie waren in der Tat glücklich. Die Schriftsteller der Griechen und des Mittelalters stellen sie dar als das fröhlichste und freudigste Volk auf der Welt. Später konnten die Deutschen, Unterjocher vieler von diesen ihr Leben abwechselnd in Arbeit, Tanz und Gesang zubringenden Stämmen, sich nicht genug über ihre treffliche Laune wundern und nannten sie springlustige Sklaven – Sclavi saltantis.115 Gesellschaftstheorie. Herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt am Busch. Berlin 2012; Guenter Behrens: Die soziale Utopie des Charles Fourier. Köln 1977. 115 Diese Bezeichnung taucht auf bei Emernicus monachus Augiensis et abbas Elwangensis [Emmerich von Ellwangen] (†866) auf. Vgl. Monumenta Germaniae Historica. Hrsg.

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Die glücklichen Zeiten der Slaven, ähnlich wie die der Bewohner von St. Domingo, nahmen in dem Augenblicke ein Ende, als die Zivilisation ihren Boden betrat; denn bis jetzt erlaubte ihnen ihr sozialer Zustand keinen Fortschritt und sicherte ihnen den Genuß einer etwas thierischen Glückseligkeit, welche sich zu wünschen eines Menschen, der seine höhere Bestimmung kennt, unwürdig wäre. Diese lange Periode fing etwa 780 vor Christo an, und dauerte bis zum Jahre  600 unserer Zeitrechnung. Es blieb von ihr keine eigentliche historische Spur übrig. Die Tätigkeit der Slaven wandte sich nicht zur Errichtung von Denkmälern aus Erz und Stein; es gibt bei ihnen keine altertümlichen Städte, keine erhabenen Überbleibsel der Baukunst; man findet selbst weder Denkmünzen, Münzen, noch Inschriften. Aus der ganzen Arbeit durch Jahrhunderte können sie nur ein einziges Erzeugnis aufweisen – ihre Sprache. Alle ihre Kräfte, alle ihre Fähigkeiten wurden zur Ausbildung derselben verwandt. Dieser Mangel an allen übrigen Arbeitsfrüchten, diese gemeinschaftliche Richtung der Bemühungen nach einem einzigen Ziel ist ein äußerst charakteristischer Zug. Wenn die frisch ausgeführten Arbeiten der Gebrüder Grimm116 über die deutsche Sprache unschätzbare Entdeckungen für das Germanentum mit sich brachten, wenn die französische Rechtsgeschichte Jules Michelet117 dergleichen mit Hilfe der Philologie zu erläutern verstand: so würde ungleich reichere Schätze die slavische Sprache darbieten, weil, während die anderen Völker nur einen Teil ihrer Mühe auf Bildung der eignen Sprache verbraucht, die Slaven ihr ganzes Geistesvermögen zum Bau dieses einen riesigen Denkmals verwendet haben. Die slavische Sprache, so alt wie die der Inder und Germanen, lebt noch heute im Munde von 80 Millionen Menschen. Will man hier irgendeiner Etymologie nachspüren, so muß man nicht tote Buchstaben vergleichen, sondern man kann die lebende Sprache erforschen, ihr bewegliches Gesicht schauen, einigermaßen in ihren Augen lesen. Vor allem aber ist diese Sprache eigenbürtig; sie duldet nichts Fremdes. Fremde Wörter sind zahlreich in sie gefallen, sind in ihr ertrunken; keines jedoch kann in Gebrauch kommen, ohne seinen fremden Charakter vorher zu verlieren. Nimmt man dagegen Georg Henrich Pertz. Band 2. Hannover 1829, „Scriptores rerum Sangallesium“, XI. „Ekkehardi IV. Casuum S. Galli Continuatio I., S. 101: „Tu psalterium arripe, puto non alicuius mimi ante ianuam stantis, sed neque Sclavi saltantis.“ [http://www.dmgh.de]. 116 Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. 4 Bände (Teile). Göttingen 1819–1837; Jacob Grimm: Rechts-Alterthümer. Göttingen 1828. 117 Jules Michelet: Origines du droit français. Paris 1837. Jules Michelet (1798–1874), Professor für Geschichte am Collége de France, war mit Mickiewicz befreundet; über Jules Michelet vgl. Wiktor Weintraub: Profecja i profesura. Mickiewicz, Michelet, Quinet. Warszawa 1975; außerdem Dorothea Scholl: Zwischen Historiographie und Dichtung – Jules Michelet. In: Poeta philologus: eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig. Bern-New York 2010, S. 139–160.

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irgendein beliebiges einheimisches Wort und betrachtet es von der Wurzel an bis in die äußersten Verzweigungen, so sieht man es immer in logischer und grammatikalischer Gesamtheit. Jedes dieser Wörter führt durch verschiedene Abänderungen ebenso in die ältesten Zeiten herunter, wie in die neuesten Tage hinauf. Man findet hier zugleich eine staunenswerte Ganzheit und Allgemeinheit. Man könnte sagen, daß diese ganze ungeheure Sprache gleichsam aus selbstbürtigem, von jeder Beimischung freiem Erz gegossen, auf einmal aus einem einzigen Wort hervorgeblüht ist. Denkt man über sie nach, so kommt man auf wichtige philologische Fragen, die von zwei verschiedenen philosophischen Schulen118 auf doppelte Weise gelöst werden. Diejenigen [die Traditionalisten], welche die Überlieferung annehmen, halten die menschliche Sprache für ein Geschenk der Offenbarung; nach der Meinung der Individualisten schuf der Mensch die Sprache sich selbst, indem er zuerst die sinnlichen Bedürfnisse und Gegenstände benannte, später diese Namen auf abstrakte Begriffe übertrug. Die Erforschung der slavischen Sprache söhnt gleichsam diesen Widerspruch aus. Beide Prinzipien findet man in ihr, das göttliche und menschliche; sie ist gleichsam eine Zusammensetzung aus zwei sich gleichzeitig entwickelnden Sprachen, von denen die eine von unsichtbaren Dingen zu sichtbaren herabsteigt, die andere sich von der sinnlichen Welt in den Kreis einer höhern Wirklichkeit emporhebt, und beide auf einer gewissen Stufe der Volksbildung sich begegnen. Diese Einteilung finden wir übrigens in der Genesis, wo Gott einem Teil der Wesen selbst die Namen beilegt, die Benennung der übrigen aber dem Menschen überläßt. Sowie man das Geheimnis der Schöpfung zu ergründen sich bemüht, ebenso möchte man die Gesetze der Sprachbewegungen entdecken. Unter allen Sprachen entspricht die slavische durch ihre Ausdehnung am meisten dem Unermeßlichen der Natur. Die Deutschen haben eine Naturphilosophie erzeugt, den Slaven scheint es vorbehalten zu sein, die Philosophie der Sprache zu geben. In dieser Hinsicht hat unser tiefdenkender Forscher Jan Nepomucen Kamiński119 schon ein System natürlicher und historischer Verhältnisse auf 118 Die Einteilung Traditionalisten und Individualisten entspricht etwa der Gegenüber­ stellung von Sprachphilosophie (Herder, Humboldt) versus Sprachgeschichte (historischvergleichende Sprachwissenschaft), die im 19. Jahrhundert über Grimm zu Franz Bopp und der junggrammatischen Schule führt; vgl. Gerhard Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1974 (Kapitel: „Romantische Sprachwissenschaft“). 119 Jan Nepomucen Kamiński (1777–1855); vgl. die Aufsätze – Czy nasz język jest filozoficzny? In: Haliczanin (Lwów) 1830, tom I, S. 71–108; Wywód filozoficzności naszego języka. In: Haliczanin (Lwów) 1831, tom II, S. 109–164; vgl. auch: Dusza uważana jako myśl, słowo i znak. Psychologiczno-etymologiczne poszukiwania Jana Nep. Kamińskiego. Lwów 1851. [www.pbi.edu.pl]. Es sind Versuche, Hegels Terminologie auf die polnische Sprache zu

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den Bau der slavischen Sprachen gegründet. Wenn die Erkenntnis der Natur zur Erklärung vieler sittlicher Erscheinungen führt, um wie viel mehr wird die Wissenschaft der Sprache, der Vermittlerin zwischen der stummen Welt und dem Geiste, zur Lösung so mancher philosophischen Aufgabe beitragen. Die slavischen Völker stellen vor dem Entstehen selbständiger Reiche unter sich ein großes Ganze dar. Da gibt es unter ihnen noch keine Mundarten und Volksüberlieferungen. Das ist für uns die Zeit, die gemeinsame und allgemeine Tradition zu betrachten. Sie bewahrt sich in den ältesten Volksliedern, Märchen und Sagen.120 Die slavischen Märchen und Sagen sind von der westlichen und östlichen verschieden. Fortwährend ausgebildet, sind sie im Osten schon ein Gegenstand der Kunst geworden; im Westen, durch die Kunst übertäubt, dagegen fast gänzlich verschwunden. Bei den Slaven hingegen dauern sie in ihrem ursprünglichen Zustand, sind weder Gattung der Literatur, noch ein Kinderspielzeug. Alte Überlieferungen werden dort noch heute so ernst erzählt, wie man ehemals bei den Griechen ein Epos sang. Das Hauptmerkmal des traditionellen Märchens ist das Phantastische. Der Ort und die Zeit für die Ereignisse werden in ihm unbezeichnet gelassen. Es geschieht alles ungewiß, wo und wann? Unbekannte, wunderbare Wesen erscheinen auf der Bühne: Tiere, die sich in Bäume verwandeln, Bäume, welche sprechen, Lindwürmer, ungeheure Vögel; nur der Mensch zeigt sich selten. Die Gestalten dieser Untiere sind undeutlich, unausgeführt, das ganze Bild, in ein geheimnisvolles Etwas gehüllt, schwebt gleichsam noch im Chaos der Schöpfung. Und dieses ist es besonders, was die altertümliche von der neuen Sage auszeichnet. Soll man in diesen Wundererscheinungen nur das Erzeugnis einer ausschweifenden Einbildungskraft erkennen, oder auch hoffen, irgendeine Wirklichkeit herauszufinden? Die heutige Wissenschaft ist bis ins Innere der Erde gedrungen, hat dort die Überreste einer Natur entdeckt, die nicht mehr auf der Oberfläche sich findet; unter diesen Überbleibseln zeigen sich Spuren von Wesen, welche wunderbar den durch die Überlieferung aufbewahrten Bildern gleichen. Bei allen Völkern beinahe spricht seit undenklichen Zeiten die Überlieferung von Drachen; unlängst hat man hier in den Gegenden von Paris in einer Sandsteinschicht den Abdruck eines riesigen geflügelten Amphibiums gefunden. Wäre es daher nicht möglich, daß diese Sagen sich auf übertragen; vgl. Adam Bar: Die ersten Einflüsse Hegels in der polnischen Zeitschriftenliteratur. In: Germanoslavica 1 (1931/1932), Nr. 1, S. 76–82. Kamiński übersetzte auch Goethe, Shakespeare und Schiller ins Polnische; vgl. Markus Eberharter: Die translatorischen Biographien von Jan Nepomucen Kamiński, Walenty Chłędowski und Wiktor Baworowski. Zum Leben und Werk von drei Literaturübersetzern im 19. Jahrhundert. Warschau 2018. 120 Gustaw Siegfried übersetzt „baśń“ (französisch „conte“) mit Fabel; gemeint sind allerdings auch das Märchen und die Sage.

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allgemeine Rückerinnerungen stützen, die noch aus den Zeiten vor der Sintflut herstammen, die durch die Urväter des Menschengeschlechts bewahrt und bei dem Auseinanderstreuen der asiatischen Bevölkerung durch die ganze Welt getragen wurden. Eine Menge von Beweisen bestärkt das Gemeinsame der ursprünglichen dichterischen Überlieferung. Was Apuleius von Madaura in Afrika, im 2. Jahrhundert nach Christo in seinen „Metamorphosen“ schreibend, geschöpft, was François Rabelais121 zu seinen Erzählungen entnommen, was sich zu den mittelalterlichen Romanen (Roman de Renart) herangebildet hat, das hören die slavischen Kinder noch heute aus dem Munde ihrer Kindermädchen. Genügend ist, ein einziges Beispiel hier anzuführen. In der „Naturalis historia“ (Naturgeschichte) von Plinius dem Älteren treffen wir auf folgende Formulierung: „Die Erde nimmt die Schlange, welche einen Menschen beschädigt hat, nicht mehr auf [..].“ („Illa serpentem homine percusso amplius non recipit poenasque [..].“122 Wenngleich auch sonst die Schreibart des rhetorischen Naturforschers nicht leicht zu verstehen ist, so scheint jedoch diese Stelle besonders unverständlich zu sein; erst der slavische Volksglaube dient ihr zum vollständigen Kommentar. Es behauptet nämlich bei uns das Volk, daß die Schlange, welche einen Menschen gebissen, für den Winter in kein Erdloch schlüpfen kann, und als ein dem Verderben geweihter Flüchtling verkommen muß. Möglich wäre es wohl, in den Sagen viele ähnliche Erlauterungen und merkwürdige Betrachtungen zu finden; was jedoch wichtiger, ist dieses, daß in ihnen wirklich sichtbare Spuren der anfänglichen Geschichte des Volkes sind, ja sogar mythische Erwähnungen seiner zukünftigen Schicksale. Das slavische Volk redet von den Tieren Asiens, die es nie gesehen; ihre Gestalten und Eigenschaften stellt es sich wahrhaft vor; die Namen des Elephanten, Löwen und des Kamels besitzt es in seiner Sprache. Woher ist denn dieses Alles gekommen, wenn die Überlieferung nicht in die Zeiten reicht, welche ihrer Ansiedlung in Europa vorangingen. Diese Überlieferung spricht noch von einem entfernten Land, das unter einem heißen Himmel hinter den Meeren liegt, wo die Flüsse der Unsterblichkeit strömen. Dorthin unternehmen die fabelhaften Helden der

121 Vgl. François Rabelais: Gargantua und Pantagruel. Herausgegeben und übersetzt von Horst und Edith Heintze auf der Grundlage der deutschen Fassung von Ferdinand Adolf Gelbecke. Augsburg 2005; vgl. ferner – Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1987. 122 Caii Plinii Secundi: Naturalis historiae libri XXXVII. Venedig 1559, Bd. 2, Kap. LXIII. S. 27.

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Slaven ihre Züge, um das wundervolle Wasser123 zu holen, kämpfen mit Geistern und finden den Phönix124, wachend über bezauberte Burgen. Diese Erzählungen nehmen sichtbar ihren Anfang im Osten und sind älter als „Tausend und eine Nacht“. Ihr Altertum übertrifft alles, was die geschriebene Literatur bewahrt hat.

123 Vgl. das Märchen „Das Wasser des Lebens“, in: Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. Düsseldorf und Zürich. 19. Auflage 1999, S.  486–491; vgl. auch – Claude Lecouteux: Lebenswasser. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. BerlinNew York 1996, S. 838–841. 124 Vgl. Julian Krzyżanowski: Polska bajka ludowa w układzie systematycznym. Wrocław 1962–1963, tom I, S. 176 (Nr. 550).

8. Vorlesung (22. Januar 1841) Zur Bedeutung der slavischen Volkssagen – Verzweigung der slavischen Sprache in Dialekte – Die russische, die polnische und die tschechische Sprache – Die Franken – Der Stamm der Lechiten und der Tschechen – Das polnische und das tschechische Königreich – Die Normannen begründen das Großherzogtum Rus’ – Die Asen.

Wenn auch die slavischen Sagen außer ihrem literarischen Wert keinen anderen Vorzug hätten, so waren sie doch sehr anziehend; aber ihr altertümlicher Charakter ist der Beachtung noch bei weitem würdiger. Leicht wäre es, in dieser Beziehung eine Menge bemerkenswerther Einzelheiten anzuführen. Die indische Überlieferung ist reich an Erzählungen von Weisen und Büßern, welche in Wüsten der Beschaulichkeit lebten; – das Schauspiel „Sakuntala“125 spricht von einem solchen Philosophen, der ganz unbeweglich Jahre lang in frommen Gedanken vertieft war, daß ihn ein Ameisenhaufen rings umlagerte, eine Schlange sich ihm ruhig um den Nacken wand und Vögel auf seinen Schultern nisteten. Ein ähnliches, jedoch noch mehr ausgeführtes Bild finden wir in den slavischen Überlieferungen, nur mit dem Unterschiede, daß der slavische Einsiedler nicht Brahmane, sondern Räuber war.126 Von Reue getroffen, stieß er seine Keule in die Erde und kniete vor ihr nieder. Aus der mit Tränen benetzten Keule wuchs ein ästiger Baum empor, und ehe er den Ablaß seiner Sünden erharrte, verschloß ihm eine Spinne den Mund, und Bienen fingen an, in sein Ohr, wie in einen Bienenstock, Honig zu tragen. Eine andere, beinahe ganz allgemeine Überlieferung erwähnt ein schwangeres Weib, welches schreckliche Untiere verfolgen, um seine Niederkunft zu hindern. Diese Erwähnung finden wir in verschiedenen Mythologien. Die Griechen haben daraus die Geschichte der von einer Gottheit verfolgten Latona127 gebildet; Ovid hat sie in seinen Dichtungen aufbewahrt; die Apokalypse128 aber deckte den geheimen Gedanken des ganzen Mythos auf. Bei den Slaven dauert er in seiner alten Form fort, nur in einzelnen Zügen den Stempel der diesem Volk eigentümlichen Vorstellungen an sich tragend. Das verfolgte Weib129 scheint hier ein Landmädchen, auch in dessen Tracht gekleidet zu sein. Immer näher die verfolgenden Ungeheuer hinter sich erblickend, bemüht sie sich, ihnen den 125 Vgl. das Werk des indischen Dichters – Kalidas: Sakuntula. Drama in sieben Akten. Einleitung, Übersetzung aus dem Sanskrit und Prakrit und Anmerkungen von Albertine Trutmann. Wien 2006. 126 Vgl. „Baśń o Madeju-pokutniku“ in: Julian Krzyżanowski: Polska bajka, op. cit., S. 235–238. 127 Über Latona (griechisch Leto) vgl. Ovid: Metamorphosen (VI. Buch). 128 Vgl. die Offenbarung des Johannes – „Der Kampf des Drachen gegen die Frau“ (12, 13–18). 129 Vgl. J. Krzyżanowski: Polska bajka, op. cit., S. 95–99.

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Weg abzuschneiden, und wirft in dieser Absicht zuerst ihre Bänder, dann ihr Tuch, zerreißt und wirft endlich ihr Haargeflechte hinter sich; die Bänder verwandeln sich in Flüsse, das Tuch wird zu einem See, aus den Haaren entstehen Bäume; – auf diese Weise decken Gewässer und ein dichter Wald ihre Flucht. Der schon früher erwähnte Verfasser der „Metamorphosen“130, Apuleius, ist auch der einzige Schriftsteller, welcher darin die mythischen Abenteuer der Liebe von „Amor und Psyche“ überliefert hat; jedoch ältere Denkmäler zeigen uns die Hauptgestalten und Ereignisse dieses Romans, die später durch die Bildhauerkunst und Malerei vervielfältigt wurden. Die Künstler des Altertums haben ihren Gegenstand nicht aus den Büchern des Apuleius geschöpft; sie fanden ihn in der allgemein verbreiteten Volkssage. Einen Beweis hiervon kann man in den neulich erschienenen slavischen Sagensammlungen131 haben. Dies merkwürdige Zusammentreffen der Überlieferungen hat viele höhere Geister verwundert. Walter Scott verglich schön die Volksüberlieferungen mit leichten, durch die ganze Welt hin getragenen Strohhalmen132, erklärte jedoch dadurch nichts. Man glaubte, daß merkwürdigere Erzählungen, aus einer Sprache in die andere übersetzt, zum Eigentum aller Völker geworden; doch in jenen alten Zeiten beschäftigte man sich weder mit Lesen, noch Übersetzen, und noch heutzutage sind die Slaven von ähnlichen Verbindungen mit den zivilisierten Völkerschaften abgeschnitten. Folglich muß man schließen, daß diese Überlieferungen einer ungemein entfernten, der Schreibkunst vorangehenden Zeit angehören und eine Gattung der gleichsam fossilen Literatur ausmachen. Ihre Überreste gleichen den Knochen vorsintflutlicher Tiere, gehören der ganzen Erde an, finden sich überall unter dem verschiedensten Klima, in den verschiedensten Ländern. Kein Vaterland kann man dem Mammut anweisen, und ebensowenig kann man wissen, welche Gegend der Sitz altertümlicher Mythen gewesen ist; dennoch, wo wir auf die meisten Fossilien-Knochen stoßen, da finden sich auch Volkssagen am reichsten; diese Schatzkammer merkwürdiger Überreste ist die slavische Welt. Lange Zeit lagen sie von der Wissenschaft und der Kunst unberührt; jetzt endlich ist die Zeit gekommen, wo die Kritik sie einer Sichtung unterwerfen soll, wo diese ÜberlieferungsLiteratur, in die schriftliche hineingetragen, verschwinden wird. Sie war, wie unterirdisches Wasser, allen bekannt und dennoch unzugänglich; erst in

130 Die „Metamorphosen“ wurden später auch „Der goldene Esel“ (Asinus aureus) genannt. 131 Vgl. František Ladislav Čelakovský: Slovanské národní písně. 1. dil, Praha 1822; 2. dil, Praha 1825; 3. dil, Praha 1827. Bd. 1 ist – V. Hanka, Bd. 2 – K. Brodziński, Bd. 3, – Vuk S. Karadžić gewidmet. 132 Stelle nicht ermittelt.

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unseren Tagen verstand es die Mechanik, zu ihr zu dringen und sie auf die Oberfläche herauszuschöpfen. Die Volkssagen haben schon durch ihre ehemalige Umbildung einige Literaturzweige erzeugt. Der Apolog (απολογος)133 und eine Art tierisches Epos verdanken ihnen ihren Ursprung. Aber die ernste Dichtung und die erhabene Sittlichkeit des alten Apologs verfielen mit der Zeit gänzlich, und das Epos, welches Tiere zu seinen Helden hat, veränderte seinen Charakter unter der Hand der mittelalterlichen Romanschreiber und der heutigen deutschen Schriftsteller. Die Dichter des Westens verliehen ihnen die Färbung ihres skeptischen und höhnenden Geistes; man hat selbst Goethe134 den Vorwurf gemacht, daß er mehr den mittelalterlichen Mustern, als der Volksüberlieferung gefolgt ist. Es besteht also der Unterschied zwischen der fossilen Welt organischer Wesen, und der ihr ähnlichen Literaturwelt darin, daß die erste tot daliegt, die zweite ihr Leben nicht verloren hat. Wenngleich die Volkssage nichts erzeugt, so geht sie doch Jahrhunderte durch und unterliegt der Veränderung. Daher ist es auch so schwer, sie wissenschaftlich zu beurteilen, was in ihr der überlieferte Urstoff, und was eine Beimischung des späteren Einflusses ist. Für die Slaven jedoch ist eine Forschung der Art von großer Wichtigkeit; denn diese Überlieferungm sind das einzige Denkmal ihrer allgemeinen, allen Völkern dieses Stammes gemeinsamen Literatur, welche noch der Zeit vorangeht, wo sich das Geschlecht in Nationen, die Sprache in Dialekte zerbröckelte. Die slavische Sprache beginnt schon im ersten historischen Augenblick sich zu teilen; doch es liegt der Keim dieser Teilung in ihrem Wesen selbst. Dieser eine Baum zeigt gleich von unten zwei getrennte Stämme; jeder von ihnen treibt später doppelte Äste. Die Doppeltheit ist ihr Hauptcharakter. Längst schon haben die Deutschen dies sonderbare Merkmal erblickt und haben ihren Ursprung in der mythischen Bedeutung des weißen und schwarzen Gottes135 gesucht, deren Dualismus sich auf gleiche Weise in der Sprache, 133 Vgl. Friedrich Adolf Krummacher: Apologen und Paramythien. Duisburg-Essen 1810. 134 Johann Wolfgang von Goethe: Reineke Fuchs (1794). 135 Helmold von Bosau (1120–1177): „Est autem Slavorum mirabilis error; nam in conviviis et compatacionibus suis pateram circumferunt, in quiam conferunt, non dicam consecracionis verba sub nomine deorum, boni scilicet atque mali, omnem prosperam fortunam a bono deo, adversam a malo dirigi profitentes. Unde etiam malum deum lingua sua Diabol sive Zcerneboch, id est nigrum deum, appellant.“ (Die Slawen haben aber einen sonderbaren abergläubischen Gebrauch. Bei ihren Schmäusen und Zechgelagen lassen sie nämlich eine Schale herumgehen, auf welche sie im Namen der Götter, nämlich des guten und des bösen, Worte, nicht der Weihe, sondern vielmehr der Entweihung ausschütten. Sie glauben nämlich, alles Glück werde von einem guten, alles Unglück aber von einem bösen Gotte gelenkt. Daher nennen sie auch den bösen Gott in ihrer Sprache Diabol oder Zcerneboch, d.h. den schwarzen Gott.) – Helmoldi Presbyteri

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wie in der ganzen Geschichte der Slaven abspiegelt. Und doch wie soll man diesem Unterschied nach die Völker und Sprachen einteilen? Wem das weiße und wem das schwarze Merkmal zuerkennen? Eine desto schwierigere Aufgabe, weil sie zugleich alle politischen, religiösen und sozialen Fragen berührt. Einige Gelehrten haben ein Gemenge von Mundarten russisch, ein anderes polnisch benannt. Die Polen nahmen diese Benennung nicht an, indem sie mit Recht behaupteten, daß der Name Rossija, und sogar Rus’ noch zu neu ist für das Altertum des Stempels, den er bezeichnen soll; – und obgleich die Tschechen der Eintracht wegen in dieser Hinsicht bereit waren, jede eigene Forderung aufgebend, mit ihrer Mundart unter die Benennung des PolnischTschechischen zu treten, so wurde der Streit doch nicht geschlichtet. Man wollte dann die Mundarten nach der geographischen Lage klassifizieren; es zeigte sich aber, daß beide Gattungen ebenso im Norden wie im Süden, im Osten, wie im Westen sich finden. Vergeblich bemühten sich noch die Tschechen, jede Reizbarkeit zu heben, indem sie die Sprachstämme mit Buchstaben136 oder Ziffern bezeichneten; immer mußte der Streit um das Recht des Vorranges stattfinden. Alle oben erwähnten Mittel konnten den gewünschten Erfolg nicht haben; denn die scheinbar grammatische Frage enthält viele andere wichtigere in sich. Man muß hierbei weder die Einteilung der Länderoberflache, noch der Bevölkerungsmasse, sondern die Hauptideen aufsuchen, welche durch die Form der zwei Sprachen repräsentiert werden, sie zum Standpunkte zu nehmen. Dann erst könnte die ganze slavische Sprache den Namen einer polnisch-russischen oder russisch-polnischen annehmen; denn Polen und Rußland sind keine Länderteile der Erde, sondern zwei Ideen im Slaventum, welche, zur Verwirklichung eilend, nach einer ausschließenden Bozoviensis Cronica Slavorum. Editio tertia. Hrsg. Bernhard Schmeidler. Hannover 1937, S. 102–103; Übersetzung nach: Helmold von Bosau: Die Chronik der Slawen. Hrsg. A. Heine. Stuttgart 1986, S. 160. 136 Die Klassifikation nach Buchstaben nahm J.  Dobrovský vor, indem er die slavischen „Völkerschaften“ in zwei Ordnungen einteilte: „A. Serbisch-östlicher Stamm: 1. Ordnung: a) Russen, b) Servier, c) Kroaten, d) Winden; B. Serbisch-westlicher Stamm: 2. Ordnung: a) Čechen, b) Wenden (1), c) Wenden (2), d) Lechen.“ – J.  Dobrowsky: Über zwei verschiedene Ordnungen der slawischen Sprachen, in: J. Dobrowsky: Slovanka. Zur Kenntniss der alten und neuen slawischen Literatur, der Sprachkunde nach allen Mundarten, der Geschichte und Alterthümer. Prag 1814, S.  165; Šafařík übernahm die Zweiteilung, modifiziert sie jedoch (in Ziffern) in „I. Südwestliche Ordnung. 1. Russische Abtheilung, 2. Bulgarische Abtheilung, 3. Illyrische Abteilung. a) die Serben jenseits der Donau, d) die Chorwaten, c) die Slawen in Kärnten oder die Winden (Slowenzen). II. Westliche Ordnung. 1. Lechische Abteilung. a) Lechen oder Polen, b. Schlesier, c) Pommern. 2. Czechisch-slowakische Abtheilung. a) Czechen, b) Mährer, c) Slowaken.  3. Polabische Abtheilung. Die Slawen in Norddeutschland: Lutizer oder Weleten, Bodrizer, lausitzer Serben, Miltschaner u.a.m.“ – P.J. Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Bd, II, S. 50.

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Herrschaft streben und gegenseitig sich herunterstoßen. Je nach dem verschiedenen Schicksale ihres Kampfes lasten die Länder und Völker der Slaven bald nach der einen, bald nach der andern Seite, und die ursprüngliche heidnische Zweiheit des slavischen Geschlechts und seiner Sprache findet ein neues Element seiner Fortentwicklung. Es gibt kein Geschlecht, keine Landschaft, wo man diesen Zwiespalt in verschiedenen und oft einander feindlichen Seiten nicht bemerken könnte; jedoch erst die Aufnahme eines geistigen Elements drückt ihm einen, bestimmten Stempel auf, leitet sie zu einer allgemeinen Mitte und verbindet sie mit der Gesamtbewegung der zwei großen Massen. Auch diese Bewegung geschieht in einer gänzlich entgegengesetzten Richtung; daher zwei Religionen, zwei Mundarten, zwei Alphabete und zwei konkurrierende Regierungsformen. Um diesen Unterschied auf Polens und Rußlands Charakter zu stützen, ist es nötig, in ihrem Keim selbst die schöpferischen Kräfte aufzusuchen, sich demnach in jene Zeit zurückzubegeben, wo die Staaten und Reiche sich im Slaventum zu bilden begannen. Mit dem sechsten Jahrhundert schließt die alte Geschichte der Slaven. Nach dem Durchzuge der Hunnen fanden keine so bedeutenden Überschwemmungen uralischen Stammes mehr statt. Die dem Attila nachziehenden Horden fingen an, sich in den slavischen Ländern anzusiedeln. Die nicht zahlreichen, aber furchtbaren Awaren schließen den Zug der grausamen Einbrüche und setzen sich zwischen dem adriatischen Meer und.den Karpaten fest. Kurz darauf im Jahrhundert erscheint hier das erste Königreich eines gewissen Samo, welchen Fredegar für einen Gallier hält.137 Dieses Königs Geschichte ist äußerst dunkel; gewiß ist nur, daß er Ausländer war und die Slaven zur Abwehr, sei es gegen die Awaren, sei es gegen die Franken, zusammenbrachte. Seine Familie regierte einige Jahre und verschwand gänzlich aus der Geschichte. Dafür erhebt sich sogleich das mährische Herrscherhaus138 und das Reich des Svjatopolk; endlich kommen die Magyaren, welche das mährische Reich vernichten und das ungarische gründen.

137 „Anno 40. regni Chlothariae homo nominen Samo, natione Francos, de pago Senonago […]“ (Im Jahre 40 regierte die Merowinger ein Mann namens Samo, fränkischer Herkunft, aus dem Gau von ‚Senonago‘) – Fredegarii et aliorum chronica. Vitae sanctorum. Hrsg. Bruno Krusch. In: Scriptores rerum Merovingicarum. Bd. II. Hannover 1958, S. 144. (Liber IV, 48). Vgl. dazu: Manfred Eggers: Samo – „Der erste König der Slawen“. Eine kritische Forschungsübersicht. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder. München-Wien. 42 (2001), S. 62–83. 138 Vgl. Martin Eggers: Das „Großmährische Reich“ Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert. Stuttgart 1995 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Bd 40).

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In dem Zeitraum von Samo an bis zum Entstehen Ungarns fanden jenseits der Karpaten Ereignisse von bei weitem wichtigerem Einfluss auf die künftigen Schicksale der Slaven statt. In der Zeit kamen die Mächte Polens, Böhmens, Rußlands auf. Hier entsteht die Frage, ob das politische und soziale Dogma dieser Mächte aus innerer slavischer Macht hervorgesprossen, oder ob es, durch Fremde hineingetragen wurde. Die Volksüberlieferung spricht von Lechen und Tschechen als Ankömmlingen vom fernen Osten, von den Gestaden des Kaspischen Meeres. Die Chronikenschreiber haben sie aufgenommen und wiederholt; aber eine spätere Kritik verwarf sie als falsch. Besonders griffen die Deutschen die Echtheit der alten polnischen und tschechischen Überlieferungen an. Schmerzlich war dies denen, welche an die Urgeschichte ihres Volkes zu glauben gewohnt waren, und der Fürst Jabłonowski, ein Pole von altem Schrot und Korn, bot, als er erfahren, daß August Ludwig Schlözer139 durch eine gelehrte Abhandlung den Lech vernichten wollte, demselben eine bedeutende Summe als Lösegeld für diesen König; mit der Zeit haben jedoch die slavischen Geschichtsschreiber selbst allgemein das fabelhafte Zeitalter als märchenhaft und unbegründet anerkannt. Erst neu entdeckte Zeugnisse ändern die Lage der Dinge wieder. Die aus den persischen und armenischen Überlieferungen entlehnten Denkmäler der orientalischen Geschichte stimmen wunderbar mit dem Inhalt der lechitischen Überlieferung überein; nur der Schauplatz der Ereignisse ist ein anderer, sie geschehen in den Gegenden des Kaukasus, wohin gerade die mazedonischen Truppen gedrungen sind. Möglich ist, daß das Andenken an diese Ereignisse mit den Weneden nach dem Slavenlande kam. Die tschechische Überlieferung ist von der polnischen nicht verschieden. Lech und Czech sind zwei leibliche Brüder. Während ihre Reiche sich an den Karpaten bildeten, 139 August Ludwig Schlözer (1735–1809): „Lech kam nicht vor dem Jahr 550 nach Polen, er kam nicht nach demselben, er kam niemals, Lech ist blosser Uebersetzungsfehler, ein noch nicht 400 Jahre altes Hirngespinst, ein historisches Unding. Laßt ihn ins Reich der Schatten wandeln.“ – August Ludwig Schlözer: Abhandlung über die Aufgabe aus der polnischen Geschichte ‚Könnte nicht die Ankunft des Lechs in Polen zwischen den Jahren 550 und 560 usw. erfolgt sein‘, welcher von der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig 1767 den 19. August der Fürstl. Jablonowskischen Preis zuerkannt worden. Danzig 1767. Etwas „entschärfte“ lateinische Fassung: Augusti Ludovici Schloezeri profess. Goetting. Dissertatio de Lecho praemio Iablonowiano adfecta d. XV. Maii MDCCLXX […]. Lipsiae 1771. [SUB Göttingen. Signatur:  4 H Polon  120/39]. Über die Preisschrift „Lech“ vgl.: Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v) Schlözer (1735–1809). Münster 2005, S. 96–100. Vgl auch Julian Maślanka: Spór o Lecha. In: J. Maślanka: Literatura a dzieje bajeczne. Warszawa 1984, S. 57–69; Józef Aleksander Jabłonowski (1711–1777).

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bemächtigten sich die Normannen einiger Städte im Norden und legten den Grund zum Großherzogtum Rus’. Ihre erobernden Ausfälle fangen noch im 4. Jahrhundert an; im 5. besuchen sie ohne Zweifel die slavischen Gegenden, im 6. und 7. treten sie schon unter dem Namen der Rus’140 auf. Sei es, daß sie ihren Wohnsitz in Schweden oder in Litauen gehabt haben, so ist jedoch immer ausgemacht, daß sie der Abstammung nach von den Slaven gänzlich verschieden waren. Wir haben also, die Spur von zwei fremden Geschlechtern in der Zusammensetzung der neu sich herausbildenden Mächte der Tschechen, Polen und der Rus’; aber die Lechito-Tschechen und die Normannen standen in Verwandtschaft miteinander. Nach den alten Überlieferungen der Normannen stammten ihre Voreltern, die Skandinavier, von Odin ab und waren verwandt mit den Asen und Brüder der nördlichen Skandinavier. Die Asen sind ein in der asiatischen Geschichte bekanntes Volk, von dem ein Zweig nach Skandinavien hinüberging und später den Namen West- und Ostgoten trug. Dieser Stamm nimmt nach der Meinung einiger Altertumsforscher seinen Ursprung aus Indien, wo er die Kriegerkaste bildete und von wo er innerer Unruhen wegen auswanderte. Alle Völker von diesem Stamme scheinen zum Kampf geschaffen zu sein; ihre Körperbildung unterscheidet sie von den Uralen, Semiten und Slaven. Ein hoher Wuchs, eine erhabene und gewölbte Stirne, Falkenaugen, eine Adlernase, Anlage zur Wohlbeleibtheit, lebhafte Leidenschaften, unersättliche Gier nach Sieg und Herrschaft, das sind ihre Hauptzüge in sittlicher und physischer Hinsicht. Dieses Volk war das einzige unter den asiatischen, welches das Geheimnis der Herrsch- und Verwaltungskunst besaß. Die Asen bildeten in Asien die Aristokratie der türkischen und uralischen Stämme, in Europa der germanischen und keltischen Völker. Die Skandinaven besetzten alle europäischen Herrschersitze außer einem einzigen, welcher einen Slaven zum König hatte. Ein Muster der den Asen eigentümlichen Organisation besteht noch im 140 Vgl. die Nestorchronik (Jahr 862): „[…] Und sie fuhren über das Meer zu den Warägern, zu der Rus’. Denn so hießen diese Waräger: die Rus’. Wie nämlich andere [Waräger] Schweden heißen, andere aber Normannen, Angeln, andere Goten, so auch diese.“ – Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’vestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001, S. 19. Zur (umstrittenen) Etymologie des Namens Rus’ aus skandinavischer und nichtskandinavischer Sicht vgl. Hartmut Rüss: Die Warägerfrage. In: Handbuch der Geschichte Russlands. Band 1 – bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum. Hrsg. Manfred Hellmann. I.  Halbband. Stuttgart 1981, S.  267–282 (mit weiterführender Literatur).

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Kaukasus, wo bis jetzt gerade von ihnen abstammende und wenig veränderte Völkerschaften sich finden. Die ziemlich verwickelte Zusammensetzung ihrer sozialen Verfassung enthielt keine Adelsaristokratie, ein unterjochtes Volk und Sklaven in sich. Dabei hatten sie auch Könige; diese jedoch, oft verändert, ohne Einfluß, konnten niemals eine feste Regierung einführen. Ebenso behaupteten bei den West- und Ostgoten die Aristokraten, welche sich von verschiedenen Göttern ableiteten, die erste Stelle, erhoben die Edelsten unter sich auf den Thron, ehrten ihre Könige, erlaubten ihnen aber nicht, sich solch eine Macht, wie wir sie in Rußland oder in andern Reichen heut zu Tage sehen, anzueignen. Mit einem Worte, um den ganzen Charakter dieses Geschlechts zu bezeichnen, genügt es zu sagen, daß es ein erzaristokratisches Geschlecht gewesen ist. Die von den Lechiten und Tschechen um das Karpatengebirge gegründeten Staaten sind von dem im Innern Rußlands durch die Normannen gestifteten wesentlich verschieden. Die ersten dehnten heruntersteigend nach dem baltischen Meer hin ihre Besitzungen aus, hatten aber weder ein dauerndes Ziel in ihren Plänen, noch Herrscher, die ihnen eine feste Verfassung verleihen konnten. Die Normannen hingegen breiteten sich fortwährend in der Richtung nach Süden unter der Leitung von Alleinherrschern aus und umfaßten bald ganz Rußland. Anfangs waren ihre Verhältnisse mit den Slaven eher auf einem Bündnis, als auf Siegesrechten begründet, und der politische Zustand der Länder der Rus’ war fast ganz so, wie der Apuliens und des südlichen Italiens zur Zeit des Einfalles derselben Eroberer; bald jedoch rissen die warägischen Führer vollkommen die Macht an sich, eigneten sich die Gemeinderechte an, unterdrückten die slavische Freiheit und wurden bald Herren aus Vormündern. Kaum verging ein Jahrhundert, so beherrschten schon die Fürsten aus Rjuriks Geschlecht den ungeheuren Flächenraum von Novgorod bis Kiev, von den baltischen Gestaden bis zur Donaumündung, zogen nach Beute gegen Griechenland und versuchten Konstantinopel zu überrumpeln. Übrigens unterscheidet sich die Geschichte dieser Fürsten in Nichts von der Geschichte der normannischen Führer in England. Ein Blut und ein Charakter sind in ihnen, dieselbe Gewalttätigkeit, Ehrsucht und Verschlagenheit, dieselben Familienkriege, derselbe Mord und Verrat. Die Verhältnisse Rußlands mit den Griechen bewirkten, daß die Byzantiner die Namen und Taten seiner Herrscher aus der Vergessenheit gerettet haben, während die Anführer der Lechiten und Tschechen, keine schriftliche Spur hinterlassend, in die Reihe mythischer Figuren getreten sind. Nur dieses wissen wir mit Bestimmtheit, daß das lechitischtschechische Geschlecht bald mit dem slavischen zusammenschmolz und in demselben zu Grunde ging; seine Herrscherfamilien traten bald ihre Stelle den einheimischen Geschlechtern ab. In Polen und im Tschechenland fing man an, Slaven zu Königen zu wählen. Auch die russischen Normannen verstanden in

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dritter Abkunft nicht mehr ihre Sprache und und führten den Namen Rus’141; aber ihre Dynastie dauerte noch lange fort. So entstehen also in beiden Gegenden Reiche, die eine entgegengesetzte Richtung einschlagen. Ihr Boden ist das alte Slaventum, die organische Kraft aber, das Band der Masse, ist das neue, aus Skandinavien und vom Kaukasus her eingewanderte Element. Die so gebildeten Körper beseelt später ein von anderswo herwehender Geist und schafft sie zu Staaten in der vollsten Bedeutung des Wortes um. Die christliche Religion verbindet und verschmilzt mit der Zeit, wenigstens in einigen dieser Länder, dermaßen alle Geschlechtsursprünge, daß man Jahrhunderte nachher die Spur der verschiedenen und sich ehemals heftig anfeindenden Rassen nicht erkennen kann. Wenn die moderne Geschichtswissenschaft von der Zusammensetzung dieser politischen Wesen zu disputieren anfängt und verschiedene Bestandteile absondert, so verdankt man dieses keineswegs dem Scharfsinn der Forscher. Daß man z.B. nach den neuesten Beobachtungen die Abstammung der höhern Klassen in England und Frankreich von Franken und Normannen anerkannt hat, wovon weder David Hume, noch die Schriftsteller des l8. Jahrhunderts etwas gewußt haben, diese Entdeckung ist keineswegs dem schärferen Auge unserer Gelehrten zu verdanken, sondern nur dem Umstand, daß jenes Band, welches die stammverschiedenen Elemente zusammenhielt, zerrissen oder geschwächt ist, und aus der zerfallenden Einheit diese selbst sichtbar hervortreten. Als mit dem Verfall und der Unterdrückung oder der Zurückstoßung der christlichen Religion, unter dem Vorwand, als sei sie nicht mehr hinreichend, es an Geist gebrach, da fingen die materiellen Bestandteile an, sich von selbst wie Gasarten aus einer faulenden Leiche auszuscheiden. Leicht war es dann, sie chemisch zu untersuchen. Diese Entdeckung jedoch hat für ein Volk, das zu einer solchen Selbstforschung gelangt, nichts Erfreuliches; anerkennen aber muß man sie, und jenes Volk sollte sich bemühen, das gestörte Gleichgewicht seines Wesens wiederherzustellen und die losgerissenen Urkräfte seiner Volkstümlichkeit in ein neues Leben zusammenzuspannen.

141 Auch „varjagi“ (Waräger); Waräger-Rus’-Skandinavier. „Einmal wird damit einer der warägischen Stämme bezeichnet, ein andermal das Territorium des Kiever Fürstentums im engeren Sinne, dann das gesamte ostslavische Land und seine Bewohner, und schließlich werden Waräger, Rus’ und slavische Stämme unterschieden. Die inzwischen unüberschaubare Literatur, die dem Thema der Herkunft des Rus’Namens gewidmet ist, hat trotz aller wissenschaftlichen Akribie im Detail bisher keine abschließende, allgemein akzeptierte Antwort gebracht.“ – H. Rüss: Die Warägerfrage, op. cit., S. 271.

9. Vorlesung (26. Januar 1841) Das Staatsgebilde der Lechiten, der Tschechen und der Rus’ – Neue Tradition – Das Königshaus der Popiels und die Dynastie der Piasten – Die normannischen Großfürsten der Rus’ – Verwandtschaftsbeziehungen der Rus’, der Lechiten und der Tschechen mit den Normannen durch gemeinschaftliche Abstammung von den Asen; Unterschiede der Regierungsformen – Ihre Hauptstädte – Christianisierung der slavischen Völker – Spaltung der Kirche – Fragen der slavischen Einheit.

In dem Zeitraum vom ersten König Samo bei den Slaven, bis zum Jahre 1000, verändert sich gänzlich die Organisation dieses Stammes und es entstehen Staaten auf der ganzen slavischen Erde. Lechien, Tschechien, und die Rus’ (bei den Eingeborenen und Polen wird immer der Name Rus’ gebraucht) sind Keime hier bis jetzt unbekannter Mächte und bringen neue Interessen auf die Bühne: die Geschichte und Literatur nehmen schon den Charakter der gleichzeitigen Epoche an. Die uralte Überlieferung, jene fossile Literatur, heruntergestoßen auf den Boden des häuslichen Lebens, verbirgt sich unter dem Dach der verräucherten slavischen Hütten, und soll dort fern von jedem Verhältniss mit der Entwicklung der Volkstümlichkeit und mit der politischen Bewegung der slavischen Völker liegen. Es entstehen erst neue Überlieferungen, welche der Geschichte zur Basis dienen und in den literarischen Schöpfungen auftreten sollen. Viele der späteren Dichter wußten aus ihnen ihre Bilder und Metaphern zu holen; wenn man diese Quelle nicht kennt, so ist es selbst unmöglich, die Kriegsrufe (Lach, Rus’) zu verstehen, welche sich Russen und Polen im Kampf mit Verachtung einander entgegen riefen und unter sich als Ehrennamen betrachteten. Die Lechiten waren nach ihrer dichterischen Überlieferung ein Reitervolk; im 6. Jahrhundert eroberten sie für sich den Boden des heutigen Großherzogtums Posen, breiteten sich bis zum Baltischen Meer aus und drangen manchmal bis an die Elbe vor. Ihre Könige wählten sie in einem Hause (Familie), und die Krone war gewöhnlich der Siegespreis im Wettrennen. Die Überlieferung von solchen Wahlen ist allen Völkern asiatischen Ursprungs gemeinsam. Diese fabelhaften Könige der Lechen überwinden manchmal fantastische Ungeheuer, Lindwürmer, führen Kriege mit Alexander dem Großen und mit Cäsar. Alles ist hier zusammengemengt; aus dem Orient gebrachte Überlieferungen schmelzen mit den slavischen Volkssagen zusammen. Endlich verschwindet das Königsgeschlecht der Lechiten (Leszki) und weicht dem Hause der Popiels, welches einen kurzen Übergang zu einer anderen Dynastie bildet. Unter den aus dem ersten Zeitraum durch die Chronikenschreiber aufbewahrten Überlieferungen findet man die Erwähnung von Urkunden zur Besitznahme aller

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nördlichen Länder, welche den Lechen von Alexander dem Großen und Cäsar gegeben wurden. Diese Urkunden sollen in einer Schlacht gegen die Türken verloren gegangen sein und irgendwo in Konstantinopel sich befinden; eine Überlieferung, welche vollkommen die grenzenlose Gier nach Eroberung des ganzen Nordens bezeichnet und eine geheime Hoffnung, in die durch diese Urkunden gesicherten Rechte zu treten, welche übrigens von einem Chronikenschreiber erdichtet wurden. Die lechitischen Überlieferungen sind bis zur Hälfte des 9. Jahrhunderts den Tschechen gemeinsam, die Lechiten nennen sich aber auch Sarmaten, wie später die Polen im dichterischen Tone gewöhnlich ihre Vorfahren benennen. Nach den Popiels nimmt schon die volkstümliche Dynastie der Piasten das Zepter; die Piasten waren Slaven. Der erste König aus diesem Stamm wurde vom Volk erwählt, seine Nachkommen herrschten lange, und der letzte Sprößling, ein kleiner Herzog in Schlesien, starb im 17. Jahrhundert.142 Die Dynastie der Piasten, unter welchen sich Polen ausbildete, hat ihr besonderes Merkmal. Diese Herrscher gelten in der gewöhnlichen Vorstellung immer für gute Familienväter, selbst für etwas zu gutmütig; Einfachheit und Milde bilden die Hauptzüge ihres Charakters; nie glänzen sie als eroberungssüchtige Krieger, aufgefordert oder angefallen bewiesen sich jedoch viele unter ihnen als erprobte und hochherzige Krieger, die dann auch das ihnen durch Waffenrecht Zugefallene wohl zu bewahren verstanden. Die moderne Kritik hat alle diese Überliefrungstatsachen verworfen. Man bewies, daß keine Verbindung zwischen Sarmaten und Slaven bestehe, und daß die Lechiten Slaven waren; über die Dynastie der Piasten lachte man. Und dennoch war diese fabelhafte Geschichte lange Zeit hindurch der Volkskatechismus. Sie allein ist vielleicht wahr, weil sie auf die Meinungen des Volks Einfluß gehabt, weil man bei öffentlichen Beratungen sich auf die Artikel des allgemeinen Glaubens an sie bezog, weil die alten Könige oft nach den mythischen Grenzen der lechitischen Herrschaft strebten, weil sie allein vom Volke nicht vergessen ist. Umsonst bemühen sich die Geschichtsschreiber, den Anfang des Wahlkönigtums in Polen erst m das 15. Jahrhundert zu setzen, wir finden seine Spur schon in der fabelhaften Überlieferung. Umsonst haben sie sich auch bemüht, Könige zu erniedrigen, welche das Volksandenken ehrt und als Muster des alten Slaventums betrachtet; standhaft verwirft das Volk diese Lehren, unter allen polnischen Königen hat es den Beinamen des Großen nur einem einzigen beigelegt, welcher nie Eroberer gewesen, keine glänzenden

142 Georg Wilhem I. (1660–1675), Herzog von Liegnitz, Brieg und Wohlau. Vgl. Eduard Mühle: Die Piasten. Polen im Mittelalter. München 2011.

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Tugenden eines Kriegers gehabt, sondern gut, freigebig und ein Vater dem Landvolke war; er stellte den volkstümlichen Charakter vor. Die Geschichte der normannischen (warägischen) Rus’ ist ganz anders. Die Normannen waren nicht so zahlreich wie die Lechiten. Ihr regierendes Haus hat oft Kriegerscharen aus Norwegen und Schweden zur Schlichtung der Thronstreitigkeiten oder zur Unterjochung ungehorsamer Städte herbeigerufen, aber diese Krieger plünderten in der Rus’ umher und kehrten dann wieder heim ins väterliche Land; was von ihnen auf der Erde der Rus’ blieb, das verlor schon im dritten Geschlecht jegliches Merkmal einer fremden Abstammung. Die Dynastie selbst verwandelte sich in eine slavische, und nichts mehr kam mit ihr ins Land als die neue Idee der Gewaltführung. Zweihundert Jahre hindurch kämpften diese Fürsten auf grausame Weise unter einander, sich Städte und Landschaften gegenseitig entreißend, und in diesem Kampfe erblickt man nicht das mindeste Volksinteresse, keine einzige volkstümliche Angelegenheit, es handelt sich nur darum, wer herrschen oder regieren soll. Ein vollkommen ausgebildetes Muster der normannischen Herrschaft sieht man in der Regierung des Hauses Anju-Plantagenêt143, aber die Eroberer Englands brachten den französischen Feudalismus mit sich, die Waräger-Fürsten der Rus’ dagegen haben nichts vorgefunden, woraus sie dieses System basieren könnten; denn das slavische Volk, in Städten und abgesonderten Weilern zerstreuet, hatte kein politisches Band, und unterlag mit seinem Land zugleich als ein an den Boden gebundenes Eigentum der Teilung der Sieger. Eine solche Teilung diente nicht einmal zur Basis irgendeiner Hierarchie, was hauptsächlich die Rus’ von allen anderen normannischen Staaten in Europa unterscheidet. Die Fürsten der Rus’ waren zugleich politische Oberhäupter und Bodeneigentümer, und der Großfürst stellte eher den ältesten Sohn in der Familie vor als den Thronerben. Die Vorstellung von der herrschenden Person in der Rus’ gestaltete sich von der bei den Polen gänzlich verschieden. Der altrussische Fürst ist der alleinige Herd der Macht, die Gewalt über alle Gewalten, das Volk nennt ihn sein Licht, stellt sich ihn als schrecklichen, übermächtigen, schlausten Staatsmann vor. Für seine Gewaltausübung und für die Rus’ gibt es keine bestimmten Grenzen. Wie die Lechiten und Tschechen sich auf ihre mythischen Urkunden beriefen, so wollten auch die Fürsten der Rus’ ihre Dynastie mit den Nachkommen des Augustus und Cäsar verbinden und in die Rechte der römischen Imperatoren tretend, sich als Herrn des Nordens geltend machen. Auf diese Weise trennte sich das Slaventum in zwei nebenbuhlerische Mächte, und von vorn herein berührt der Kampf eine ungemein weitaus 143 Vgl. Dieter Berg: Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters (1100–1400). Stuttgart 2003.

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sehende Frage. Es handelt sich hier nicht darum, einander irgendein Land zu entreißen, sondem um die Herrschaft über den ganzen Norden, über die ganze Welt. Schon die mittelalterlichen Chronikenschreiber haben die Sage so verstanden. Auf der einen Seite also steht das Reich der Normannen, auf der anderen das der Lechen und Tschechen, welche anfangs durch eine gemeinsame Überlieferung, später durch die Geschichte dermaßen verbunden sind, daß sie mehrmals Könige aus einem Geschlecht hatten. Schwer ist es dennoch, die Mittelpunkte der entgegenstehenden Mächte zu befestigen, ihre Hauptstädte scheinen fortwährend zu wandern. Anfänglich haben die Polen ihren Sitz an den Karpaten, später bauen sie ihre Hauptstädte inmitten der Ebene von Großpolen und versetzen dann wiederum den Thron an die Weichsel; die Fürsten der Rus’ rücken mit dem Laufe des Dnjepr nach Kiev vor, und kehren nach einiger Zeit wieder gen Norden hinauf zurück. Nirgends gibt es eine feste und wahre Landeshauptstadt, es gibt nur zwei dauernde feindliche Elemente des politischen Lebens, welche sich in der Masse der Slaven betätigen. Den Hauptsammelpunkt der Aktivitäten der Fürsten der Rus’ könnte man zwischen Novgorod und den Quellen des Dnjepr und der Daugava (Düna) begrenzen, die ideale Hauptstadt der Polen dagegen wahrscheinlich zwischen den Karpaten und der Weichsel festsetzen. Es ist merkwürdig, daß, wo nach der fabelhaften Sage der dreiköpfige Drache die Wiege der lechitischen Könige umlagerte, sich dort gerade die letzte Spur der polnischen Unabhängigkeit erhielt: im Umkreise der freien Stadt Krakau. Der ungeheure Zwischenraum, welcher die beiden Mittelpunkte trennt, umschließt die Länder, welche vom Dnjepr, dem Schwarzen Meer, dem Bug und dem Niemen eingefaßt sind. Diese Länder haben schon seit langer Zeit ihren Gesamtnamen verloren, denn die verschiedenen hier angesiedelten Stämme erkennen schon nicht mehr den Namen der Slaven als ihren Geschlechtsnamen an, und haben nie eine politische Einheit, ein gesondertes Reich gebildet. Normannen und Lechiten drangen mit ihrer Herrschaft in sie hinein, sie unterlagen einmal dem Zepter der Fürsten der Rus’, ein andermal dem polnischen System. Seitdem sie Rjuriks Haus unterjocht hatte, wurden sie in die Zahl der Länder der Rus’ miteinbegriffen; die Litauer haben ihnen den Namen, welcher an die alte Eroberung erinnert, aufbewahrt, und die Polen unterscheiden sie, indem sie ihnen einen neuen Stempel aufgedrückt haben, in ihrer Sprache mit dem Namen „ziemie ruskie“ (Länder der Rus’; franz. terres Russiennes)144 von dem russischen Reich (państwo Rosji; franz. empire Russe). 144 „Die Wendung ‚russisches Land‘ [Русская земля] wird in den Schriftdenkmälern des frühen Mittealters in verschiedener Bedeutung gebraucht. Sie bezeichnet: 1) das Gebiet des Fürstentums Kiew; 2) das Gebiet des Fürstentums Kiew zusammen mit dem der übrigen

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Diese ausgedehnten Ländereien waren der Schauplatz des Kampfes Rußlands mit Polen. Auf diesem Schlachtfeld rang die katholische Religion mit der östlichen Kirche, die Adelsrepublik mit dem Alleinherrschaftssystem. Dies ist der geographische Umfang des Slavenlandes von der Zeit an, wo in ihm Elemente entgegengesetzter Kräfte sich zu betätigen anfingen. Der Einfluß des Christentums entwickelt sich hier anfänglich nur langsam. Schon im 4. und 5. Jahrhundert haben Apostel die Lehre Christi unter den Slaven verbreitet. Es ist schon erwiesen, daß der große Kirchenvater, der heilige Hieronymus145, ein Slave von Geburt war. Die Sage schreibt ihm die Erfindung der slavischen Schrift zu. Etwas später finden wir viele Slaven unter den Patriarchen von Konstantinopel. Erst im 6. Jahrhundert liefert die Bekehrungsarbeit wichtigere Resultate, und gleich scheint das Apostelwesen selbst sich in zwei Äste zu trennen, und nimmt den Charakter des slavischen Dualismus an. Mithin berührt die Geschichte der Einführung des Christentums hier die tiefsten politischen und literarischen Fragen; indem man dieselbe mit Berücksichtigung dieser Fragen untersuchte, hat man sie nicht selten verzerrt und verbogen. Es gibt jedoch Umstände, welche den Streit entscheiden, den falschen Begriff berichtigen, können. Vorerst stimmen alle slavischen Schriftsteller darin überein, daß die Heiligen Kyrill und Method vom römischen Stuhle abgesendet waren, in den Jahren, welche dem östlichen Schisma vorangingen, arbeiteten, von den Päpsten Unterweisungen erhielten, sich immer aufs Oberhaupt der allgemeinen Kirche beriefen und endlich beide in Rom gestorben sind. Es waltet, also kein Zweifel ob in Bezug auf die Quelle der religiösen Aufklärung bei den Slaven; aber später bemühte man sich, aus verschiedenen Gründen diesen Ursprung zu verdecken. Die an ihrer Sprache hängenden Slaven wollten lieber das Übergewicht der griechischen oder vielmehr östlich slavischen Sprache geben, indem sie das Vorurteil hegten, daß die lateinische Sprache ihre Literaturdenkmäler vernichtet habe; es war also in ihrem Interesse zu behaupten, daß die griechische Kirche die Volkssprache rede. Von der anderen Seite gaben sich die nördlichen Schriftsteller besonderer Aussichten wegen die Mühe, auch die geringste Spur des Einflusses der westlichen Kirche zu verwischen. Die ganze Sache haben die modernen slavischen Altertumsforscher noch mehr verwirrt. südrussischen Fürstentümer, vor allem Perejasslawl’, Tschernogow und Nowgorod Ssewerskij; 3) das ganze ‚russische‘, d.h. ostslawische Volk und sein Siedlungs- und Reichsgebiet.“ – Ludolf Müller. In: Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 50. 145 Sophronius Eusebius Hieronymus (347–420); vgl. Alfons Fürst: Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike. Freiburg 2003.

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Es handelte sich darum, die Zeit anzugeben, in welcher die Alphabete146 im Slavenlande von der östlichen und westlichen Kirche angenommen wurden. Die Philosophen des vorigen Jahrhunderts haben oft, ohne selbst zu wissen warum, dennoch eine sichtbare Neigung zur griechischen Kirche gezeigt, weil sie die Negation der römischen war, sie suchten also darzutun, daß die slavische, von der westlichen Kirche angenommene Schrift eine Erfindung der Mönche gewesen sei, ersonnen, um der Tätigkeit der östlichen Kirche den Weg zu versperren. Diese Meinung fand Glauben bei allen Gelehrten; aber die Tschechen haben das Irrige dieser Deutung aufgehellt. Sie entdeckten, daß die ältesten Denkmäler mit den vom römisch-katholischen Ritus gebrauchten Charakteren geschrieben waren. Auf diese Weise scheint das Altertum beider Alphabete wenigstens gleich zu sein, während der Einfluß der katholischen Kirche ohne Zweifel vorangegangen ist. Es genügt endlich in dieser Hinsicht die Zeitangaben zu vergleichen. Die heiligen Kiryll und Method kamen zwischen den Jahren 860–867; das östliche Kirchenschisma fiel ins Jahr 880. Jene Lehrer standen während der Zeit ihres Apostellebens in keinem Verhältnis mit der griechischen Geistlichkeit. Erst nach der Spaltung der Kirche läßt sich die getrennte Richtung im slavischen Christentum bemerken. Um die Tendenz jener beiden religiösen Bewegungen abzuschätzen, muß man wissen, daß der römische Stuhl den Slaven das Vorrecht erteilt hatte, die Messe in ihrer Sprache zu lesen. Dieses Privilegium wurde zurückgenommen und wiederum in Folge einer abgelegten Rechtfertigung restituiert. Übrigens haben die Philosophen und Geschichtsschreiber des vorigen Jahrhunderts ein zu großes Gewicht auf diese Liturgienfrage gelegt; es schien ihnen, daß es für die Zivilisation der Slaven von der höchsten Wichtigkeit sei, daß die Religionsmysterien in der Nationalsprache gefeiert werden. Polnische und russische Schriftsteller haben sich lange mit diesem Gegenstand beschäftigt. Aber hier muß man vorerst die Amtssprache der Kirche, um so zu sagen, die bei den Sakramenten gebrauchte, von derjenigen unterscheiden, in welcher man die Glaubensartikel dem Volk erklärte. Rom hat als Sakramentalsprache die lateinische, griechische und syrische angenommen, empfahl aber überall das Volk in seiner eigenen Sprache zu belehren, und empfahl den Priestern, sie in jedem Land zu lernen. Man hat es unlängst in Frankreich versucht, die Muttersprache zur Liturgie zu nehmen, 146 Kyrillisch (Kyrillica) versus Glagolitisch (Glagolica), die als die ältere Schrift gilt. Vgl. dazu Bartholomeus [Jernej] Kopitar: Glagolita Clozianus id est codicis glagolitici […]. Vindobonae 1836 [www.dlib.si]; Pavel Josef Šafařík: Über den Ursprung und die Heimath des Glagolitismus. Prag 1858; ferner den Sammelband – Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Hrsg. Heinz Miklas. Wien 2000.

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und man hat aus dieser Reform große Resultate gehofft; es zeigte sich aber in Kurzem, daß die Sakramentalformeln, sei es lateinisch, sei es französisch gesprochen, dennoch immer gleichermaßen den Gelehrten zugänglich, dem Volk unverständlich geblieben sind. Im Gegenteil hat die Einführung des Lateinischen in die Religionsgebräuche des Slaventums ungemein ausgedehnte und wichtige Folgen gehabt. Die Kenntnis dieser Sprache hat die Tore zum römischen Altertum und zur Literatur des Mittelalters geöffnet. Auf diese Weise befreundeten sich die Priester mit der Aufklärung des Westens, bildeten später durch Sprechen und Schreiben die Nationalsprache aus, und verliehen ihr die Formen einer so alten und durchgebildeten Sprache. Die griechische Sprache von der östlichen Geistlichkeit vernachlässigt, hat den von der allgemeinen Kirche abgefallenen Ländern nicht dieselben Dienste geleistet. In Rußland hat man seit kurzer Zeit erst den griechischen Unterricht in Schulen befohlen. Man hat auch dem Christentum vorgeworfen, daß es den Slaven ihre Vergangenheit entrissen und ihre Denkmäler zerstört habe. Aber was waren denn diese Denkmäler des heidnischen Slaventums? Aus dem, was wir gesagt, kann man leicht schließen, wieviel diese Literatur besitzen konnte. Das Bedauern der Liebhaber, welche ein verlorenes Epos aufsuchen, ist wahrscheinlich vergeblich; das Drama konnte in Ländern, wo die politischen, sittlichen und Kunstbegriffe so wenig entwickelt waren, nicht entstehen. Nur die einzige lyrische Dichtung, welche die aus dem Familienleben geschöpften Gefühle ausdrückte, fand für sich ein geeignetes Feld. Diese Poesie blüht noch heut zu Tage bei den Serben, Illyriern und Kosaken, und was in ihr das Schönste ist, das ist sie späteren christlichen Eingebungen schuldig. Der Verlust der heidnischen Geschichte der Slaven erweckt ebenfalls ungerechte Klagen. Ihre Überbleibsel haben christliche Schriftsteller gesammelt und aufbewahrt, das Volk dagegen hat sie selbst verworfen, oder vielmehr sie ganz in die symbolische Sage von der Ankunft der drei Brüder Lech, Tschech und Rus verschmolzen. Diese drei Namen erinnern es an die Brüderlichkeit und an die Teilung der drei besonderen Reiche; übrigens weiß es nichts von seinem Ursprung, es hat alle Überlieferungen, welche zur gemeinsamen Wiege führen, vergessen. Die Klagen der Slavophilen, daß der Anfang der Staaten die Einheit des Slaventums zerrissen habe, sind ebenfalls unbegründet. Diese Einheit hat nie bestanden. Die Einheit der Völker findet sich nur auf der ersten Seite der religiösen Überlieferungen der Bibel aufgezeichnet, und wird sich, wie wir hoffen, auf der letzten Seite einer wahren Philosophie wiederfinden. Vor dem Anfang der politischen Geschichte hat kein allgemeines Band die Slaven vereinigt gehalten, diese Geschichte aber fortwährend an der Verwischung der Stammgemeinsamkeit gearbeitet, wovon jegliche Spur schon verschwunden

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ist. Der Pole sieht heut zu Tage einen Russen als einen Menschen von ganz besonderem Stamm an; der Serbe und der Tscheche bekennt sich gar nicht zur gemeinsamen Abstammung mit den Völkern der nördlichen und westlichen slavischen Länder. Die Idee eines vollständigen Slaventums dämmerte erst im vorigen Jahrhundert auf, es ist die Frucht der wissenschaftlichen und literarischen Arbeit der Gelehrten; aber um diese Einheit in der Tat zu erhalten, hat man wahrscheinlich Wege eingeschlagen, die nicht am besten zum Ziele führen. Die Gelehrten rufen immer im Namen des gemeinsamen Herkommens auf, nicht gedenkend, daß religiöse und politische Einrichtungen Unterschiede gemacht haben, und daß man nicht die ganze Geschichte eines Volkes vernichten kann, um es zum physischen Anfang zurückzubringen. So wollte man im vorigen Jahrhundert die Deutschen um die eine Idee Teutonias147 sammeln, indem man sie an den fabelhaften Patriarchen Teut erinnerte; diese Unternehmung stellte sich als vergeblich dar, und wurde von den wärmsten Verehrern der deutschen Einheit verlassen. Andere beschäftigen sich mit dem Gedanken eines künftigen Wiederaufbaues des Slaventums, und sehen als Mittel dazu diese oder jene Regierungsform an. Aber keine Regierung hat je so viel Kraft gehabt, um verschiedene Volkstümlichkeiten zusammenzufügen. Das römische Kaisertum, ein Ideal von materieller Kraft, hat seine Formen vielen westlichen Völkern aufgedrungen, jedoch beim ersten Barbarenstoß zersprang dieses tote Band auf immer. Desgleichen sollen auch die Slaven nicht hoffen, daß sie die physische Anziehungskraft des gemeinsamen Blutes vereinigen könnte, oder das lockende Versprechen einer gefälligen Staatsform; dieses kann nur ein allgemeiner Gedanke, eine große Idee hervorbringen, fähig ihre ganze Vergangenheit und Zukunft zu umfassen.

147 Vgl.: Teutonia oder Auswahl der vorzüglichsten Stellen aus den Original-Werken deutscher Schriftsteller für gebildete Söhne und Töchter. Hrsg. Maimon Fränkel und Gotthold Salomon. Leipzig 1813.

10. Vorlesung (29. Januar 1841) Der Einfall der Ungarn – Gründung des Königreichs; Verhältnis zu den Slaven – Entstehung slavischer Dialekte – Das älteste literarische Denkmal der Tschechen aus dem IX. Jahrhundert: – „Libussas Gericht“ (Libušin soud), das auch Einblicke in Fragen der Gerichtsbarkeit im alten Slaventum gewährt.

Während die Lechiten und Tschechen ihre Königreiche stifteten, bildete sich nebenbei ein drittes, das eines den Slaven fremden Stammes. Die Geschichte dieses Reiches hat keinen Zusammenhang mit der Literaturgeschichte der slavischen Völker, sein politischer Einfluß war jedoch groß und häufig verderblich für ihre Volkstümlichkeit, die sich hin und wieder zur Abwehr gegen denselben erhob. Wir sprechen vom Königreich der Ungarn. Im Jahre 888 zeigte sich die ungarische Horde aus jenen geheimnisvollen Gegenden, deren Lage sie selbst nicht gehörig zu bestimmen weiß. Vorgedrängt durch die hinterher folgende Flut des Barbarentums, und vom römischdeutschen Kaiser Arnulf von Kärnten148 herbeigerufen, erdrückte sie nach hartnäckigem Kampf das Reich der Mähren, ergoß sich über Deutschland, und erreichte selbst Frankreich und Italien. Von den deutschen Kaisern jedoch gehemmt und später zum Christentum bekehrt, zog sie sich in die jetzt bestehenden Grenzen des Königreichs Ungarn zurück und stiftete hier ihren Staat. Diese Horde ist das einzige Beispiel eines zusammengesetzten Völkerzuges, sie bestand aus drei Stämmen zugleich, was auch die Ursache ist, warum ihre Überlieferung die Überreste von Sagen vieler asiatischen Völker enthält. Ihre Masse bestand aus nördlichen Finnen, geführt durch türkische Reiterei, welche wiederum ihre Führer aus dem Stamm der Asen vom kaukasischen Land her besaß. Der Gesamtname ist Magyaren. In den Angaben der Ungarn wird Attila für den Stammvater der Könige dieses Geschlechts angesehen. Die Ausländer gaben ihnen den Namen Hunnen, Türken und Magyaren, von dem Namen des Landes, welches dem Wohnsitz der türkischen Horden benachbart war. Diese Einzelheiten sind für die Geschichte der Ungarn und anderer nach Europa gekommener Völker, deren Herkommen so schwer zu ermitteln ist, von Wichtigkeit. Wären die Magyaren allein gewesen, so würden sie als ein nicht zahlreicher Haufen sich bald mit der slavischen Bevölkerung vermischt haben; von dieser jedoch durch eine finnische und türkische Schicht geschieden, blieben sie unverändert. Ihre Sprache schwamm immer obenauf und konnte nicht 148 Arnulf von Kärnten (um 850–899). Vgl. den Sammelband: Kaiser Arnolf – das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts. Regensburger Kolloquium 9.–11.12. 1999. Hrsg. Franz Fuchs und Peter Schmid. München 2002.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_011

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in den Boden eindringen. Mit der Sprache der Finnen gesättigt, bildete sie sich zu einer von der slavischen so verschiedenartigen aus, daß sogar nach der Annahme des Christentums die Eroberer in ihr eine unbezwingliche Schranke zur innigeren Verbindung mit den Inländern fanden. Dieser Unterschied zwischen einer Sprache uralischen Herkommens und den Sprachen der indogermanischen Rassen bezeichnete inmitten christlicher Länder das Königreich Ungarn immer mit einem feindseligen Merkmal. Nie wollte der Magyare etwas Slavisches annehmen, und wiederum erlagen die Slaven auch nur mit Widerstreben und unbemerkt dem Einfluß des Magyarentums.149 Die Ungarn sprachen immer durch Dolmetscher, und heute noch in den Vorkommnissen mit dem regierenden österreichischen Haus bewahren sie diese Sitte. Daher kam es, daß man jetzt in Ungarn, in den Tälern, wo das erobernde Geschlecht sich leichter ausbreiten konnte, man allgemein die ungarische Sprache hört; auf den Bergen, wo die unterjochte Bevölkerung Zuflucht gesucht, erhielt sich die slavische in der Verwaltung als Sprache der Regierungsbehörden, in den kaufmännischen Büros und industriellen Einrichtungen herrscht die deutsche, und außerdem sprechen die Juden und Zigeuner noch ihre eigene. Inzwischen einer solchen Vermischung hat jedoch die slavische Volkstümlichkeit, herabgestoßen in die niedere Hütte, genügende Kraft besessen, den Druck auszuhalten und beginnt sogar auf die Magyaren zurückzuwirken. Schon zeigen sich dort Tageblätter in slavischer Sprache, es entstehen slavische Büchersammlungen. Offenbar verliert die magyarische Sprache ungeachtet der Talente ihrer Schriftsteller an Übergewicht. Ein Beweis ihrer Schwäche könnte schon das sein, daß die Regierung sie in Schutz nimmt, und mit Gewalt den Provinzen, in denen sich ihr das Slaventum widersetzt, aufdringt. Alle Veränderungen des alten Slaventums vollendeten sich um das Jahr 1000. Die Königreiche Lechien, Tschechien, Ungarn, die Länder slavischer Völker an den Karpaten, und das normannische Reich der Rus’ standen deutlich da. Von nun an endet die allgemeine Geschichte der slavischen Sprache und es beginnt die Geschichte besonderer Sprachen. Die früher Eine erscheint nun in zwei Hauptzweige geteilt, deren jeder mit einem zahlreichen Troß von Mundarten umgeben ist. Es wirft sich nun die Frage auf, welchem von diesen sollen wir in unseren Vorträgen den Vorzug geben; bei diesem, wenn auch für den Fremden trockenen Gegenstand müssen wir etwas verweilen. Als die slavischen Gelehrten einsahen, daß weder die Polen, noch die Russen die in dieser Beziehung von den Tschechen gemachten Vorschläge annahmen, 149 Vgl dazu Jan Kollár: „Etwas über die Magyarisierung der Slawen in Ungarn“. In: Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit. Hrsg. Heinrich Zschokke. Jahrgang 1821 (Aarau), S. 552–558.

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so wollten sie den Streit mit Hilfe von Urkunden höheren Alters, welche für die eine oder andere Partei sich vorfänden, schlichten. Ob der Name der Slaven aus dem Ausdruck słowo (das Wort) oder sława (die Ehre, der Ruhm), herrühre, darüber gibt es keine Einigkeit; die einen meinen, Slave bedeutet: ein Mensch, der sich ausdrücken kann, für die anderen ist der Slave ein berühmter Mensch.150 Wie dem auch sei, gewiß ist, daß dem allverbreitetsten Glauben nach die slavische Sprache diejenige bedeutet, welche allen Völkern dieses Stammes gemeinsam war, und daß dieser Stamm sich später in zwei Geschlechter, das russische und polnisch-tschechische geteilt hat. Welche von diesen ist nun die Sprache des Altertums, die gemeinsame? Oder welches von diesen Völkern besitzt die dieser Sprache zunächst kommende Mundart? Und welches hat daher das Recht des Vortrittes? Man meinte, daß, weil die Bücher der Liturgie die ältesten schriftlichen Denkmäler sind, diejenige Sprache die älteste sein müßte, in welcher das Evangelium den Slaven verkündigt worden. Dieses als Norm angenommen, müßte man der Abstammung der Geschlechter von diesem Urbild Stufen nachweisen. Die Serben und die Illyrier behaupteten das Recht der Erstgeburt zu haben; hiernach wäre die russische Sprache Enkelin, die polnische und die tschechische weitere Nachkommen der kirchlichen Sprache. Indessen die Frage so gestellt, konnte nicht lange bestehen. Dobrovský, von Natur ein Skeptiker und darum unparteiisch, bewies, daß die liturgische Sprache nicht die allgemeine slavische, sondern nur eine Mundart derselben gewesen sei.151 Man wußte nicht einmal zu bestimmen, ob diese die serbische, illyrische, oder ob sie eine Zusammensetzung beider sei. Die Tschechen152 sprechen bis heute unentschieden den Namen der serbisch-illyrischen Sprache aus. Der Streit hierüber wurde so hitzig, daß die Gelehrten viele Unannehmlichkeiten zu bestehen hatten, und zuletzt ließ man die Untersuchung auf diesem Wege fallen. Späterhin bemühte man sich, die Schwierigkeiten mit Beihilfe einer statistischen Tafel der slavischen Bevölkerung zu beseitigen.153 Man berechnete, wie viel Volk mit dieser oder jener Sprache rede. Das Übergewicht war natürlich auf 150 Zur Etymologie „Slave(n)“ vgl. die Übersicht bei Heinrich Kunstmann: Die Slaven: ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 23–34. 151 Vgl. Josef Dobrovský: Institutiones linguae slavicae dialecti veteris, quae quum apud Russos, serbos aliosque ritus Graeci, tum apud Dalmatas glagolitas ritis latini slavos in libris sacris obtinet. Vindobonae. 1822; J. Dobrovský: Cyrill und Method der Slawen Apostel. Ein historisch-kritischer Versuch. Prag 1823. 152 Vgl. P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 470–491, darin auch der damalige Forschungsstand. 153 Vgl. Jan Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth1837, S. 48, 68 (spricht von 70 Millionen

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russischer Seite; doch wollte man nach einem solchen System in Frankreich verfahren, so würden seine südlichen Mundarten vor den übrigen den Vorrang haben müssen, während das eigentlich Französische kaum in die zweite Reihe zu stehen käme. Überdies muß man noch berücksichtigen, daß die Gelehrten bei dieser Untersuchung dem russischen Stamm viele Mundarten beigezählt haben, die nicht dahin gehören. Man stritt endlich, wer zuerst im Slaventum das Christentum gepredigt habe und welcher Dialekt zur ersten Bibelübersetzung diente.154 Die Schriftsteller von russischer Seite führen zu ihrem Vorteil an, daß die ersten Apostel im Slaventum Griechen gewesen, und daß die russische Kirche ja auch eine griechische sei. Die Polen und Tschechen sagen dagegen, daß jene Apostel, wenngleich griechischen Ursprungs, von der westlichen Kirche abgesandt waren, daß sie stets von den Päpsten unterstützt worden und die ersten unter ihnen auch zu Rom verstorben sind.155 Was die Mundart selbst anbelangt, so ist der Streit noch verwickelter. Die Serben schreiben die Übersetzung der Bibel ihrer Sprache zu, die Gelehrten [Dobrovský]156 aber finden eine bulgarischserbisch-mazedonische Sprache in ihr. Die Russen mußten zuletzt eingestehen, daß der heilige Kyrill, weil er in Böhmen die christliche Religion gelehrt, demnach auch wohl tschechisch geschrieben habe.157 Kurz, auf keinem Wege gelangte man zur Entscheidung. Viel einfacher scheint es jedoch zu sein, alle diese ausschließlichen Hypothesen und Systeme bei Seite lassend, nur zu untersuchen, was uns die Schriftdenkmäler darbieten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß die ältesten Denkmäler dem tschechisch-polnischen Stamm angehören. Die Tschechen besitzen Überbleibsel vom Ende des 9. und Beginn des 10. Jahrhunderts,

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Slaven); Pavel Jozef Šafařík: Slowanský národopis. Bd. 1, Praha 1849 (dritte Auflage), S. 149 (spricht von 78 691 000 Millionen Slaven). Vgl. dazu die historische Übersicht von Hellmut Keipert: Das „Sprache“-Kapitel in August Ludwig Schlözers „Nestor“ und die Grundlegung der historisch-vergleichenden Methode für die slavische Sprachwissenschaft. Mit einem Anhang: Josef Dobrovskýs „Slavin“Artikel „Über die Altslawonische Sprache nach Schlözer“ und dessen russische Übersetzung von Aleksandr Chr. Vostokov, herausgegeben von Hellmut Keipert und Michail Šmiljevič Fajnštejn. Göttingen 2006. Der erste Apostel Kyrill starb am 14. Ferbruar 869 in Rom. J. Dobrovský: Institutiones linguae slavicae dialecti veteris, op. cit. Vgl. [Evgenij Bolchovitinov]: Slovar’ istoričeskij o byvšich v Rossii pisateljach Duchovnogo čina, Grekorossijkija cerkvii. Čast’ II. Sanktpeterburg 1818, S. 421–431 (Stichwort: Mefodij); A. Ch. Vostokov: Razsuždenie o slavjanskom jazyke, služaščee vvedeniem k Grammatike sego jezaka, sostavljaemoj po drevnejšim onago pis’mennym pamjatnikam. In: Trudy Obščestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti pri Imperatorskom Moskovskom Universitete, 17 (1820), S. 5–61.

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während die russischen nicht über das 11. Jahrhundert hinausreichen. Daher wollen wir auch die Geschichte der Literatur nach dem Alter ihrer Denkmale verfolgen. Das älteste hiervon ist erst vor kurzem in Prag auf wunderbare Weise entdeckt worden. Es ist ein Bruchstück eines Gedichtes, geschrieben im 9. Jahrhundert, welches mythische Taten aus den Zeiten der Niederlassung der Lechen und Tschechen erzählt. Dieses sparsame, auf vier Seiten gedruckte Bruchstück beleuchtet manche Frage sowohl in der Geschichte wie auch in der Gesetzgebung und Philologie. Man gab ihm den Titel „Libussas Gericht“ (Libušin soud).158 Der Gegenstand des Gedichtes ist ein Streit zweier Heldenbrüder von einem den Slaven fremden Stamm, geschlichtet durch eine fabelhafte Fürstin, deren gemeinschaftliche Sage die Tschechen und Polen besitzen. Was den größten Vorzug dieses Poems ausmacht, ist seine Schreibart. Es ist ein Zeitgenosse des Schwures von Karl dem Kahlen und des deutschen Ludwig, den ältesten Denkmälern der französischen Sprache.159 Und während diese von Franzosen nicht mehr verstanden werden, liest „Libussas Gericht“ jeder Tscheche und Pole mit Leichtigkeit. Im französischen Überrest sieht man noch kein Französisch, weder das des Südens noch des Nordens, sondern nur Barbarismen eines verdorbenen Lateins; und im Gegenteil findet man in dem Slavischen einen reinen Stil, genau befolgtes Versmaß und Gleichförmigkeit grammatischer Regeln. Ja es gibt hier sogar Verse, die als Muster des Wohlklangs und der Einfalt gelten können. Es zeigt sich schon eine vollkommen gebildete Sprache. Viel wichtigere Bemerkungen aber lassen sich noch hieraus für die Geschichte ziehen. Diese Handschrift bestätigt unsere Hypothese von der Einwanderung der Lechen und Tschechen, was zugleich einen Beweis für ihre Anthentizität abgibt, denn die tschechischen Gelehrten hielten sie stets für Slaven und leiteten ihren Ursprung von der Donau her. Das System der Erblichkeit, die Gemeinschaftlichkeit des Besitzes und die Familienrechte der Slaven sind hier deutlich angegeben. Wir sind hier im Stande, den Deutschen die 158 „Libušin soud“. In: Kralodworsky rukopis. Zbirka staročeskich zpiewo-prawnych basnj, s nekoliko ginymi staročeskimi zpiewy. Nalezen a wydan od Waclawa Hanky […] s diegopisnym uwodem Waclawa Aloysia Swobody. […] Königinhofer Handschrift. Sammlung altböhmischer lyrisch-epischer Gesänge, nebst andern altböhmischen Gedichten. Aufgefunden und herausgegeben von Wenceslaw Hanka […], verteutscht und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Wenceslaw Swoboda. 2. Auflage. Praha 1829, S. 196–203. Tschechisch-deutsche Parallelausgabe. Der altschechische Text wird nach der (neuen) orthographischen Fassung unter [www.rukopisy-rkz.cz] zitiert. 159 „Les serments de Strasbourg“ (Straßburger Eide) – in Althochdeutsch und Altfranzösisch; vgl. Siegfried Becker: Untersuchungen zur Redaktion der Straßburger Eide. Frankfurt am Main 1972.

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schöne wörtliche Übersetzung dieses Gedichtes von Herrn Hanka zu geben, welches, wie folgt, lautet: Aj, Vletavo, če mútíši vodu? če mútíši vodu striebropěnú? Za tě lútá rozvlajaše búria, sesypavši tuču šíra neba, oplákavši glavy gor zelených, vyplákavši zlatopieskú glinu? Kako bych jáz vody nemútila, kegdy sě vadíta rodná bratry, rodná bratry o dědiny otnie! Vadíta sě kruto mezu sobú lútý Chrudoš na Otavě krivě, na Otavě krivě, zlatonosně, Stiaglav chraber na Radbuzě chladně; oba bratry, oba Klenovica, roda stara Tetvy Popelova, jenže pride s pleky s Čechovými v sieže žírné vlasti prěs tri rěky.

Aj was trübst, Wltawa, du dein Wasser? Was trübst du dein silberschäumig Wasser? Hat dich aufgewühlet wilder Sturmwind, Schüttend her des weiten Himmels Wetter, Spülend ab die Häupter grüner Berge, Spülend aus den Lehmgrund, den goldsand’gen? Wie doch sollt ich nicht die Wasser trüben, Wenn im Hader sind zwei eigne Brüder, Eigne Brüder um des Vaters Erbgut? Grimmen Hader, führen mit einander Chrudos wild am Schlängelfluß Otawa, Am goldströmigen Schlängelfluß Otawa, An der kühlen Radbusa Held Stiaglaw, Beide Brüder, beide Klenavice, Alten Stamms von Tetwa, dem Popelssohn, Der mit Czech’s Geschwadern ist gekommen Durch drei Ströme in diese Segenslande.

Hier ist also deutlich die Einwanderung der Tschechen angegeben, als über drei Ströme kommend; einige behaupten von den Karpaten her über die Weichsel, oder und Elbe, andere wiederum über den Hron (Gran), die Waag und die Morava. Priletieše družná vlastovica, priletieše ot Otavy krivy, sěde na okénce rozložito v Libušině otně zlatě sědlě, sědlě otně světě Vyšegradě, běduje i narícaje mutno. Kdy se slyše jejú rodná sestra, rodná sestra v Lubušině dvorě, sprosi kněžnu utr Vyšegradě: na popravu ustaviti pravdu, i pognati bratry jejá oba, i súditi ima po zákonu.

Flog herbei nun die gesellge Schwalbe, Flog herbei vom Schlängelfluß Otawa, Setzt sich auf das breite Flügelfenster In Lubussas güld’nem Vatersitze, Auf dem heiligen Wyssegrad, dem Ahnsitz, Und sie jammert und sie trauert kläglich. Als dies höret ihre eigne Schwester, Eigne Schwester an Lubussas Hofe, Fleht im Wyssegrad zur Fürstenmaid sie, Zur Entscheidung ein Gericht zu halten, Vorzuladen ihre Brüder beide, Und zu richten sie nach dem Gesetze.

Die Ankunft einer Schwalbe von der Otava her nach Vyšehrad, die ihrer Schwester an Libušas Hofe von dem Streit der Brüder erzählt, ist keine poetische Figur von der Gesandtschaft, sondern in den alten slavischen Ländern und Volkssagen reden oft Vögel und andere Tiere die Menschen als ihre Brüder an.

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Teil I

Die Fürstin beruft nun: Svatoslav von L’ubica der weißen, Lutobor von Dobroslavs Kulme, Ratibor von dem Riesenbergkamm, Radovan von der steinernen Brücke, Jarožir von den strömigen Bergen, Strežibor von der reinen Sázava, Samorod von dem Silberfluss Mža (Mies), alle Kmeten, Lechen und Vladyken (Herrscher), und zuletzt die entzweiten Brüder Chrudos und Stiaglav. Augenscheinlich sind hier die Lechen ein höherer Stand ebenso wie die Kmeten und Vladyken oder die Regierenden, die Anführer. Kda sě sněchu lěsi i vladyky v Vyšegradě […], prokní stúpi rozenia-dlě svégo: stúpi kněžna v bielestvúcí rízě, stúpi na stól oten v slavně sněmě. Dvě věglasně děvě (vystúpistě), vyučeně věščbám vítězovým: u jednej sú desky pravdodatné, u vtorej meč krivdy kárajúcí, protiv ima plameň pravdozvěsten, i pod nima svatocudná voda.

Als sich einten Lechen und Wladyken Auf dem Wyssegrad […], Stellt nach der Geburt sich auf ein jeder: Tritt in schimmernd weißem Kleid die Fürstin, Tritt zum Vaterthron im hohen Reichsding: Zwei hochsinnige Jungfrauen, Unterrichtet in den Richtersprüchen: Hier bei der sind die Gesetzestafeln, Und bei der das Schwert, der Unbill Rächer, Gegenüber rechtverkündend Feuer, Unter ihnen heiligsühnend Wasser.

Hier geschieht Erwähnung von der Erprobung der Wahrheit durch Feuer und Spiegelwasser. Grundlos haben einige Kritiker aus diesem Umstand ein solches den christlichen Einrichtungen beimessend diese angeführte Poesie späteren Zeiten zuschreiben wollen, und dieses sogar trotz dem, daß sie einen Vers finden, wo sich Libuša ausdrücklich auf die ewigen Gesetze ihrer Götter beruft. Počě kněžna s otnia zlata stola: „Moji kmeté, lěsi i vladyky, Se! bratroma rozrěšite pravdu, jaže vadíta sě o dědiny, o dědiny otnie mezu sobú. Po zákonu věkožizných bogóv budete im oba v jedno vlásti, či sě rozdělíta rovnú mierú. Moji kmeté, lěsi i vladyky! rozrěšite moje výpovědi, budetě-li u vás po rozumu. Nebudetě-l’ u vás po rozumu, ustavíte ima nový nález, ký by smieril rozvaděná bratry!“ Klaněchu sě lěsi i vladyky, i počěchu ticho govoriti govoriti ticho mezu sobú, i chváliti výpovědi jeje.

Drauf von Vaters güld’nem Thron die Fürstin: „Meine Kmeten, Lechen und Wladyken! Recht bestellen sollet ihr zween Brüdern, Die zusammen hadern um ihr Erbgut, Um des Vaters Erbgut mit einander. Nach den Satzungen der ew’gen Götter Walten beide dieses Guts gemeinsam, Oder teilen sich zu gleichen Teilen. Meine Kmeten, Lechen und Wladyken! Ihr bestellt jetzo meinen Ausspruch, Wenn er sonsten ist nach eurem Sinne, Stellt ihr ihnen fest ein andres Urteil, Das versöhne die entzweiten Brüder.“ Neigten sich die Lechen und Wladyken, Fingen an sich leise zu besprechen, Leise sich zusammen zu besprechen, Und der Fürstin Ausspruch zu beloben.

10. Vorlesung (29. Januar 1841) Vsta Lubotor s Dobroslavska chlemca, jě sě tako slovo govoriti: „Slavná kněžno s otna zlata stola! výpovědi tvoje rozmyslechom, seber glasy po národu svému.“ I sebrastě glasy děvě súdně, sbierastě je v osudie svaté, i dastě je lěchóm provolati.

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Auf stand Lubotor vom Kulm Dobroslaw’s Und begann zu sprechen solche Worte: „Hohe Fürstin auf des Vaters Goldthron! Deinen Ausspruch haben wir erwogen: Sammle denn in deinem Volk die Stimmen.“ Stimmen sammeln drauf die Richterjungfrau’n, Sammeln sie in heiliges Gefäße, Geben sie den Lechen auszurufen. Vsta Radovan ot Kamenna Mosta, Auf stand Radowan von Kameny Most, jě sě glasy číslem prěgliedati, Und begann der Stimmen Zahl zu prüfen, i věčinu provolati v národ, Und die Mehrheit allem Volk zu künden, v národ k rozsúzeniu na sněm Allem Volk zum Rechtsding herberufen: sboren: „Beide eigne Brüder, Klenowice, „Oba rodná bratry Klenovica Alten Stamms von Tetwa, dem roda stará Tetvy Popelova, Popelssohn, jenže pride s pleky s Čechovými Der mit Czechs Geschwadern ist v sieže žírné vlasti prěs tri rěky, gekommen směríta sě tako o dědiny: Durch drei Ström’ in diese Segenslande, Budeta im oba v jedno vlásti!“ Beide eint ihr so euch um das Erbgut, Beide sollt gemeinsam sein ihr walten.“ Vstanu Chrudoš ot Otavy krivy, Auf stand Chrudos von der krummen žleč sě jemu rozli po utrobě, Otaw, trasechu sě lutostiú vsi údi; Gall ergoß sich ihm durch all sein Innres, máchnu rukú, zarve jarým turem: Und vor Wuth erbebten alle Glieder, „Gore ptencem, k nimže zmija Schwingt den Arm, und brüllet gleich dem vnorí! Ure: gore mužem, imže žena vlade! „Weh der Brut, wenn Ottern zu ihr dringen! Mužu vlásti mužem zápodobno, Weh den Männern, wenn ein Weib prevěncu dědinu dáti Pravda.“ gebietet! Männern ziemts zu herrschen über Männer: Erstgebornem ziemt nach Recht das Erbgut.“ Vsta Lubuša s otnia zlata stola, Auf von Vaters Goldthron stand Lubussa, vece: „Kmetě, lěsi i vladyky, Sprach: „Ihr Kmeten, Lechen und slyšeste zdě poganěnie moje; Wladyken! suďte sami po zákonu pravdu. Meine Schmähung habt ihr hier gehöret, U nebudu vám súditi svády. Richtet selbst das Recht nach dem Volte muža mezu sobú rovna, Gesetze, ký by vládl vám po želězu … Nimmer werd’ ich eure Zwiste schlichten. Dievčie ruka na vy k vládě slaba.“ Wählt den Mann euch unter eures Gleichen, Der euch herrsche mit dem Eisen. … Mädchenhand ist schwach, ob euch zu herrschen“

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Teil I Vsta Ratibor ot gor Krekonoší, jě sě tako slovo govoriti: „Nechvalno nám v Němcěch iskat pravdu, U nás pravda po zákonu svatu, juže prinesechu otci naši v sieže (žírné vlasti prěs tri rěky).“ […] vsiak ot svej čelědi vojevodí: mužie pašú, ženy ruby stroja, i umre-li glava čelědina, děti vsie tu zbožiem v jedno vladú, vladyku si z roda vyberúce, ký plezně-dlě v sněmy slavny chodí, chodí s kmetmi, s lěchy, vladykami. Vstachu kmetě, lěsi i vladyky, pochválichu pravdu po zákonu.160

Auf stand Ratibor vom Riesenbergkamm, Und begann zu sprechen diese Worte: „Recht bei Deutschen suchen wär’ unrühmlich: Recht besteht bei uns nach heiliger Satzung, Die mit hergebracht einst unsre Väter In diese Segenslande durch drei Ströme.“ der Vater führt sein Volk im Heere; Männer ackern, Weiber schaffen Kleider, Aber wenn nun stirbt das Haupt des Hauses, Walten insgesammt des Guts die Kinder, Sich ein Haupt erkiesend aus dem Stamme, Das des Wohles wegen geht zum Hochding, Geht mit Kmeten, Lechen und Wladyken.“ Auf steh’n Kmeten, Lechen und Wladyken, Hießen gut die Bill nach dem Gesetze.

Es ist dieses eine sehr klare Enthüllung des Erbschaftsystems und der Repräsentation in dem tschechisch-lechitischen Slaventum. Nie hat eine literarische Entdeckung mehr Aufsehen erregt, als dieses alte poetische Bruchstück. Es entstanden sehr lebhafte Streitigkeiten unter den Gelehrten über das Alter, das Deuten, und die Authentizität der Handschrift. Selbst der Patriarch der tschechischen Altertumsforscher, Dobrovský, war standhaft auf der Seite der Gegner, und nannte dieses Bruchstück untergeschobenes Geschreibsel.161 Erst als die zur Untersuchung der Schwärze herbeigerufenen Chemiker erklärten, daß der Versuch die Handschrift vernichten 160 Libušin soud, op. cit., S. 196–203. Dieser Abschnitt wird von Mickiewicz als das Ende von „Libussas Gericht“ angesehen, obwohl er bei Hanka am Anfang der „Grünberger Handschrift“ als Fragment unter dem Titel „Sněm“ (Das Gedinge) erscheint. Op. cit., S. 194; dt., S. 195. 161 Dobrovský spricht von „einem offenbar untergeschobenen Geschmiere“ – J.  Dobrovský: Literarischer Betrug. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst, XV (1824), Nr. 46, S. 260; Fortsetzung der Polemik – J. Dobrovský: Vorläufige Antwort auf des Herrn W.S[voboda]. Ausfälle im „Archiv [für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst]“ Nr.  64 vom 28. May  1824. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst, XV (1824), Nr. 79 vom 2. Juli 1824, S. 435–436; ferner Dobrovskýs Rezension über die Edition von Ignacy Benedykt Rakowiecki „Prawda ruska“ […].Tom I–II. Warszawa 1820–1822, (wo Rakowiecki in Band I, S. 234–241, Libušin soud veröffentlichte). In: Jahrbücher der Literatur, Bd. XXVII. Wien 1824, S. 88–119; im Internet unter [www.reader.digitale-sammlungen. de]. Tschechische Übersetzung in: Josef Dobrovský: Výbor z dila. Hrsg. Benjamin Jedlička. Praha 1953; vgl. auch Birgit Krehl: Die Fürstentafel von J.G. Herder und die so genannte Handschrift Libušin soud (Libušes Gericht) – ein Textvergleich. In: Prozesse kultureller

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könnte, konnte er sich nicht dazu entschließen und dachte bei sich: und wenn es nun doch ein wahres Dokument wäre, so daß die Liebe für die Altertümer bei ihm den Sieg davon trug, er wollte lieber seine Gegengründe ohne letzten Entscheid lassen, als ein Denkmal vernichten. Pavel Josef Šafařík, František Palacký und viele andere bestanden auf der Authentizität.162 Heut zu Tage setzt man es allgemein in das 11. Jahrhundert, den Gegenstand des Gedichtes aber als ein Ereignis des Jahres 721 nach Christo, und die Abfassung auf das Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts.163

Integration und Desintegration: Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. Hrsg. Steffen Höhne, Andreas Ohme. München 2005, S. 135–160. 162 Vgl. – Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Libušas Gericht, Evangelium Johannis, der Leitmeritzer Stiftungsbrief, Glossen der Mater Verborum. Kritisch beleuchtet von Paul Joseph Šafařík und Franz Palacký. Prag 1840, S. 167–186 (§ 23–24), die auch auf Dobrovskýs Einwände eingehen. Vgl. Leokadia Pośpiechowa: Problematyka czeska w wykładach A. Mickiewicza. In: „W ojczyźnie serce me zostało … “ W dwuchsetną rocznicę urodzin Adama Mickiewicza. Redakcja naukowa Jerzy Pośpiech. Opole 1998, S. 321–350. 163 Dieser Abschnitt stimmt mit der französischen Fassung (A. Mickiewicz: Les Slaves, Tome premier, op. cit., S. 132–133) und der Edition von F. Wrotnowski (A. Literatura słowiańska. Tom I. Poznań 1865, S.76–77) überein. In der Übersetzung von L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 121–122) ist er viel länger, wiederholt allerdings Informationen, die zu Libušas Soud oben angeführt wurden.

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Die literarische Entdeckung von Václav Hanka: „Die Königinhofer Handschrift“ (Královédvorský Rukopis) – Das Heldengedicht „Záboj, Slavoj, Luděk“ und seine Bedeutung – Der Kampf zwischen dem Christentum und dem Heidentum wird noch heute in der Literatur geführt – Das Christentum bringt den Slaven die Familie, die Regierung, die Bildung; es bereitet auch die Einheit der Slaven vor.

Václav Hanka164, bekannt in der slavischen Literatur, entdeckte zufällig im Jahre 1817 eine tschechische Handschrift in der Stadt Königinhof165, welche einige alte Gedichte enthielt. Die Handschrift selbst gehört dem 13. Jahrhundert an, jedoch findet man in ihr sehr alte Denkmäler. Ein Gedicht, betitelt „Záboj, Slavoj, Luděk“, scheint den Kampf der Tschechen mit Ludwig dem Deutschen (Ludwig II. „Germanicus“) in der Mitte des 9. Jahrhunderts zu besingen. Einige führen den Gegenstand dieses Heldengedichts bis auf die Zeiten des Königs Samo zurück, als dieser im Jahre  630 an der Spitze der Slaven die Franken zurückwerfend einen Heerführer des Dagobert überwältigte. Der Inhalt der Rhapsodie ist sehr einfach. Der tapfere Záboj, durch den Anblick der allseitigen Vernichtung der Freiheiten und des Väterglaubens von den Ausländern entrüstet, ruft die Landsleute zur Abwehr und Rache auf. Nachdem die bewaffneten Männer im Walddickicht versammelt sind, redet er sie mit einem Lied an, das von der Bedrückung handelt; er sagt, daß die Überrumpler fremde Götter eingeführt, die Vögel aus den heiligen Hainen verscheucht, die Bäume ausgerottet, die Örter für Gebete und Opfer zu besuchen verboten, nur eine Gattin von Jugend auf bis zum Tode zu haben befohlen hätten. Hier rafft sich Slavoj mit funkelnden Augen auf und ruft: Singe, du besitzt die Gabe, die Herzen zu erwärmen. Zábojs Lied greift nun tiefer in die Herzen, 164 Václav Hanka (1791–1861), tschechischer Philologe, Übersetzer und Dichter. Lyrikbände: Václav Hanka: Dwanactero pjsnj. Swazaček I. Praha 1815, swazaček II. Praha 1816; Hankowy pjesně. Praha 1831. Zum Forschungsstand über die Echtheitsfrage vgl. die Arbeiten von – Josef Fajfalik: Über die Königinhofer Handschrift. Wien 1860; Tomáš G. Masaryk: Náčrt sociologického rozboru RZho a RKho. In: Athenaeum, 3. Jg. (1886), Nr. 10, S. 406– 422; Antonín Bělohoubek: O mikroskopickém a mikrochemickém zkoumání Rukopisu Králodvorského. Praha 1887. Jan Gebauer: Unechtheit der Königinhofer und Grünberger Handschrift. In: Archiv für slavische Philologie, 10 (1887), S. 496–569; 11 (1888), S. 1–39; 161–188; František Mareš: Pravda o rukopisech Zelenohorském a Královédvorském. Praha 1931; Julius Dolanský: Záhada Ossiana v Rukopisech královédvorském a zelonohorském. Praha 1975; Julius Enders: Rukopis Zelenohorský a Královédvorský: vznik, styl a básnická hodnota staročeské orální poesie. Praha 1993; Miroslav Ivanov: Tajemství Rukopisů Královédvorského a Zelenohorského. Třebíč 2000. 165 Dvůr Králové nad Labem (Königinhof an der Elbe).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_012

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er erinnert die Genossen an die Ausflüge der Jugend, malt das Bild des Triumphs über die Feinde. Alle umringen ihn und reichen sich zu einer Verabredung die Hände. Die beiden Anführer wenden sich mit ihren Haufen gegen das feindliche Lager, sie entwerfen schnell einen Angriffsplan. Der Christenführer, hier Luděk genannt, tritt mit dem Heere auf; vor Wut schäumend, fordert er während der Schlacht den Záboj zum Zweikampf, und fällt von dessen Hand. Der gebrochene Feind will sich durch die Flucht retten, hierbei trifft er auf einen Fluß, wo ihn der letzte Stoß ereilt. Die Sieger kehren zurück und opfern ihren Göttern. Der Stil, das Anschauliche und die Urkraft der Dichtung dieses Bruchstücks sind bemerkenswert. Z črna lesa vystupuje skála, na skálu vystúpi silný Záboj, obzíra krajiny na vsie strany; zamúti sě ot krajin ote vsěch i zastena pláčem holubiným. Sědě dlúho i dlúho sě mútie, i vzchopi sě vzhóru jako jelen, dolov lesem, lesem dlúhopustým bystro spěcháše, ot muže k mužu, ot silna k silnu, po vsickéj vlasti. Krátká slova ke vsěm skryto řeče, pokloni sě bohóm, otsud k druhu spěcha. I minu deň prvý, i minu deň vterý, i kdaž za třetiem luna v noci bieše, sněchu sě mužie sěmo v les črn. K niem zdě Záboj; otvede je v úval, v ponížený úval hlubokého lesa. Stúpi Záboj najnížeje dolóv, vze varyto zvučno: „Mužie bratských srdec i jiskreních zrakóv, vám pěju najniží z dola. Piesň ide z srdce mého, z srdce najnížeje pohrúžena v hoři.“ „Otčík zaide k otcem, ostavi v dědině dietky svoje i svoje lubice i neřeče nikomu: ,Baťo, ty mluvi k nim oteckými slovy! I přiide cuzí úsilno v dědinu, i cuzími slovy zapovída; i kak sě zdie v cuzej vlasti ot jutra po večer, tako bieše zdieti dietkám i ženám i jedinú družu nám iměti po púti vsiej z Vesny po Moranu. I vyhánie z hájev vsě krahuje,

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Teil I i kací bozi v cuzej vlasti, takým sě klaněti zdě i jim oběcati oběť. I nesměchu sě bíti v čelo před bohy ni v súmrky jim dávati jiesti. Kamo otčík dáváše krmě bohóm, kamo k niem hlásat chodíváše, posěkachu vsie drva i rozhrušichu vsie bohy.“ „Aj, ty Záboju, ty pěješ srdce k srdcu pěsňú z střěda hořě. Jako Lumír, ký slovy i pěniem bieše pohýbal Vyšehrad i vsie vlasti, tako ty mě i vsiu bratř. Pěvce dobra milujú bozi: pěj, tobě ot nich dáno v srdce proti vrahóm!“ Zřě Záboj na Slavojeva zapolena zraky i pěniem dále srdce jímáše: „Dva syny, jejú hlasy přěcházesta v muská, vycházievasta v les, tamo mečem i mlatem i oščepem učista paži; Tamo pokrysta i vracesta sě rozkosem. Kehdy paže jejú bieše dorostla i jejú umy proti vrahóm, i dorostachu druzí bratřieci: ajta, vsi vyrazichu vz vrahy, i by krutosť jich búřiúce nebe i v dědiny vrátíše sě byvšie blahosť.“ Aj, skočichu vsici v dól k Záboju i tiščechu jej v přěsilná paži, i s prsú na prsy vsi kladechu rucě, věhlasno dáváchu slova k slovóm. I přicházéše noc přěd jutro; aj, vystúpichu z úvala rózno, vezdě ke vsěm dřěvóm, ke vsěm stranám bráchu sě lesem. I minu deň, i minu deň vterý, i po třětiem dni, kehdy sě zatemníše noc, bra sě Záboj v les, lesem za Zábojem sbory; i bra sě Slavoj v les, lesem za Slavojem sbory. Vsiak imě vieru k vojevodě, vsiak srdce úporno králu, vsiak zbraň bystru na král. „Aj, Slavoji bratře, tamo k modru vrchu!

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Vrch ten po vsěch po krajinách, tamo zaměřímy chody. Ot vrcha k ranému sluncu, tamo les temen, tamo si podámy rucě. Nynie beř sě lisími skoky, i jáz tako pojdu tudy.“ „Aj, Záboji bratře! čemu náše braň jmá tepruv ot vrcha soptati krutosť? Otsavad búřmy protiv králevým vrahóm!“ „Slavoji bratře! kdaž hada potřieti chceši, na hlavu najjistěje; tamo hlava jeho!“ Rozstúpi sě mustvo lesem, rozstúpi sě v pravo, v levo. Tudy taže Zábojevým slovem, onamo slovem prudka Slavoje, hlubinami lesóv k modru vrchu. I kehdy bieše pět sluncí, podasta si přěsilně rucě, i pozřěsta lysíma zrakoma na královy voje. „Sraziti nám drbí Luděk voje, voje své pod jednu ránu.“ „Aj, Luděče, ty si parob na paroby králie! Ty rci svému ukrutníku, že dýmem jesť nám velenie jeho!“ I rozlúti sě Luděk, rúčiem hlasem svola své voje. Podnebesie bě plno osvěty ot slunce, v osvětě plno blska z králevých vojev. Hotovi vsici nohu v krok i ruku v braň Luděkova dle slova. „Aj, Slavoj bratřě, tudy spěj lysími skoky, jáz pójdu vstřiecu jim v čelo.“ I vyrazi Záboj v přěd jako krupobitie; i vyrazi Slavoj v bok jim jako krupobitie. „Aj, bratřě, ti sie! nám krušichu bohy, ti sie! nám kácechu dřeva, i plašichu krahuje z lesóv. Bozi nám vícestvie dajú.“ Aj, prudkost vyrazi Luděkem z četných vrahóv protiv Záboju; i vyrazí Záboj, hořiúciema očima v Luděk měři: dub protiv dubu zřieti ze vsěho lesa. Záboj hna protiv Luděku nade vsie voje,

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Teil I Luděk udeři silným mečem, přětě třie kóže v ščítě. I udeři Záboj mlatem, otskoči hbitý Luděk, v dřevo vrazi mlat i skoti sě dřěvo na voj; i třiedeseť jich otide k otcem. I zlúti sě Luděk: „Aj, ty zhovadilý, ty veliká potvoro hadóv! mečem sě potýkaj se mnú!“ I máše Záboj mečem, kus ščíta vrahu otrazi. I tasi Luděk, meč sě smeče po koženě ščítě. I zapolesta sě oba k ranám, ranami vsie po sobě stesasta, i vsie kolem zbrocesta krviú, i krviú zbrocechu je mužie kolkol jejú vezdě v přelutej sěči. Slunce přejde poledne, i ot poledne juž na pól k večeru: i váleno ješče, ni sěmo ni tamo ustúpeno, i váleno zdě i váleno tamo ot Slavoje. „Aj ty vraže, běs v tě! Čemu ty nášu krev píješi?“ I chopi Záboj svój mlat, i otskoči Luděk, napřěže mlat Záboj výš vzhóru i vrže po vraze. Letě mlat, rozkoči sě ščít, za ščítem sě rozkočista Luděkova prsi. I uleče sě duše těžka mlata, i mlat i dušu vyrazi, i zanese pět siehóv u vojsku. Strach vrahóm vyrazi z hrdl skřeky: radost vzevzně z úst vojnóv Zábojevých, i zajiskři z radostnú zrakú. „Aj, bratřie! bozi ny vícestviem dařichu. Rozstúpi sě váš jeden hluk v pravo i v levo. Ze vsěch údolí sěmo sveďte koně, koni řěchci vešken ten les!“ „Záboji bratře, ty udatný lve! neupúščej búřit u vrahy!“ Ajta otvrže Záboj ščít, i v rucě mlatem i v druhej mečem, tako i přieč proráže dráhy u vrazěch. I by úpěti vrahóm, i by ustúpati vrahóm.

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Třas je hnáše z bojišče, strach z hrdl jich vyráže skřeky, koni řehce vešken les. „Vzhóru na koně, s koni za vrahy přese vsie vlasti! Rúčí koně neste v patách za nimi našu krutosť!“ I vkočichu hluci vz rúčie koně i skok na skok po vrazěch sě hnachu, ránu na ránu soptichu krutú krutosť. I míjechu rovně, i hory i lesi v pravo i v levo; vsie ubiehá v zad. Hučie divá řeka, vlna za vlnú sě vale, hučechu vsi voji, skok na skok vsie sě hnáše přěs búřiúcú řeku. Vody uchvátichu mnostvie cuzích, i přěnesechu své zvěsty na druhý břeh. I po krajinách vezdě v šíř i v šíř lútý ostřiež rozepě svoje křiedle svoje dlúzě, bystro léta za ptactvem; Zábojevi voji rozehnachu sě v šíř, vezdě po vlastech hnachu lúto po vrazěch; vezdě srážechu je i stúpáchu koni. Nocú pod lunú za nimi luto, dnem pod sluncem za nimi luto, i opěty temnú nocú, i po noci šedým jutrem. Hučie divá řeka, vlnu za vlnú sě vale; i hučechu vsi voji, skok na skok vsie sě hnáše přěs búřiúcú řeku. Vody uchvátichu mnostvie cuzích, i přěnesechu své zvěsty na druhý břeh. „Tamo k šedým horám! tamo dobúří naše pomsta!“ „Aj, Záboji bratře! juž nám nedaleko hory, a juž hlúček vrahóv, i ti žalostivo prosie.“ „Vrátno krajinú, tudy ty, jáz tudy, vyhubit vsie králevo!“ Vietr buří přes vlasti, vojsky búřie přes vlasti; v pravo i v levo vezdě širú silú vojsky, v radostné hlucě. „Aj, bratřie, aj šerý vrch! bozi ny tamo vícestvem dařili. Tamo i vele duš těká

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Teil I sěmo tamo po dřevěch. Jich boje sě ptactvo i plachý zvěř, jedno sovy neboja sě. „Tamo k vrchu pohřěbat mrch, i dat pokrm bohovóm, i tamo bohóm spásám dat mnostvie obětí, a jim hlásat milých slov i jim oružie pobitých vrahóv!“166 Aus dem schwarzen Walde ragt ein Felsen, Auf den Felsen steigt der starke Sáboj, Übersieht die Gau’n nach allen Weiten; Gram durchweht ihn von den Gauen allen, Und er seufzet, wie wenn Tauben weinen; Lange sitzt er, brütet lang’ im Grame. Und er rafft sich auf nun gleich dem Hirsche; Nieder durch den Wald, den weithin oben, Eilet rüstig fort von Mann zum Manne Eilt von Held zu Held im ganzen Lande. Spricht zu allen heimlich kurze Worte Neiget sich den Göttern, Eilt dann fort zu andern. Und ein Tag vergehet, Es vergeht der zweite. Und als Luna scheint der Nacht des dritten, Sammelten im Schwarzwald sich die Männer Her zu ihnen Sáboj, Führet sie zum Tale, Führt im weiten Forste Sie zum tiefsten Tale. Tief hinab von ihnen, Tiefab stellt sich Sáboj, Nimmt die helle Zither: „Männer, Brüderherzen, Mit dem Flammenblicke! Euch ein Lied nun sing’ ich,

166 Kralodworsky rukopis. Zbirka staročeskich zpiewo-prawnych basnj, s nekoliko ginymi staročeskimi zpiewy. Nalezen a wydan od Waclawa Hanky […] s diegopisnym uwodem Waclawa Aloysia Swobody. […] Königinhofer Handschrift. Sammlung altböhmischer lyrisch-epischer Gesänge, nebst andern altböhmischen Gedichten. Aufgefunden und herausgegeben von Wenceslaw Hanka […], verteutscht und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Wenceslaw Swoboda. Praha 1829 (1. Auflage 1819), S. 71–89. Zitiert nach der neuen orthographischen Fassung – Rukopis Zelenohorský a Královédvorský, vznik, styl a hodnota staročeské orální poesie. Hrsg. Julius Enders. Praha 1993. Im Internet unter [www.rukopisy-rkz.cz].

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Sing’ aus tiefstem Talgrund. Wohl von Herzen geht mir’s, Wohl vom tiefsten Herzen, Das in Gram versunken.“– „Ging zum Ahn der Vater, Ließ zurück im Erbland Die verwaisten Kinder, Ließ verwaist die Liebchen. Und zu Niemand sagt’ er: ‚Bruder! sprich zu ihnen, Du mit Vaterworten!‘ „Und da kommt der Fremdling Mit Gewalt ins Erbland; Und mit Fremdlingsworten Hier gebeut der Fremdling. Und was Sitte dort ist, Dort im Fremdlingslande, Morgens bis zum Abend, Gilt zu wahren folgsam Kindern so wie Frauen. Eine Ehgenossin Soll mit uns von Wesna Geh’n bis zur Morana.“ „Aus den Hainen trieben sie die Sperber, Und den Göttern, so die Fremde ehret, Mußten wir uns neigen, Ihnen Opfer bringen. Durften vor den Göttern Nicht die Stirne schlagen, Nicht im Zwielicht ihnen Speisen bringen, Wo der Vater Speisen bracht den Göttern, Wo er hinging, Lobsang anzustimmen. Ja sie fällten alle Bäume, Sie zerschellten alle Götter.“ – „Sáboj, ha du singest, Singst das Herz zum Herzen, Mitten aus dem Grame, Singst dein Lied wie Lumir, Der mit Wort und Sange Rührt den Wyssehrad und alle Lande; So du mich, die Brüder all’. Ja die Götter lieben wack’ren Sänger. Singe, denn dir ward’s gegeben, Gen den Feind ins Herz zu singen.“ –

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Teil I Sáboj blicket auf des Slawoj Glutentbrannte Blicke, Und bestürmt fortsingend ihre Herzen: „Zwei der Söhne, deren Stimme Eben schwoll zum Mannslaut, Gingen aus zum Walde; Dort mit Schwert und Streitaxt Und mit scharfem Speere Übten sie die Arme. Bargen dort sich heimlich Kehrten heim von dort in Freuden. Als ihr Arm zur Mannheit ward gediehen, Und ihr Geist zur Mannheit gen die Feinde, Und die andern Brüder auch erwuchsen; Ha! da brachen alle in die Feinde, Und ihr Grimm war Wettersturm des Himmels; Und zur Heimath wiederkehrte, Wiederkehrte der einst’ge Segen. Ha da sprangen all’ herab zu Sáboj Drückten ihn in ihre starken Arme, Und die Hände legten Sie von Herz zu Herzen; Und es reiht sich klug ein Wort zum andern. Und die Nacht rückt vor zum Morgen, Und sie gingen einzeln aus dem Thale, Fort entlang der Bäume, Fort nach allen Sekten aus dem Walde. Ein Tag war vergangen, Es verging der zweite Nach dem dritten Tage, Als die Nacht heran schon dunkelt, Sáboj zieht zum Walde Hinter Sáboj Kriegerhaufen; Slawoj zieht zum Walde Hinter Slawoj Kriegerhaufen. Alle voll Vertrau’n zum Führer, All’ im Herzen groll dem König, All’ ihm scharfe Waffen. „Auf denn, Bruder Slawoj! Dort zum blauen Berge, Der nach allen Gauen schauet; Dorthin lenken wir die Schritte! Dort vom Berg gen Sonnenaufgang Sieh’, ein dunkler Forst dort;

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Reichen wir dort uns die Hände! Ziehe du nun hin mit Fuchsesspringen; Hierhin zieh’ auch ich zum Ziele.“ „Ha, wie Bruder Sáboj! Was doch sollen unsre Waffen Grimm erst von dem Berg’ erschnauben? Laß von hier g’radaus uns stürmen Auf des Königs Würgerschaaren.“ „Höre Bruder Slawoj! Willst den Drachen du vertilgen, Tritt auf’s Haupt ihm, so gelingt es. Und sein Haupt, dort ist es.“ – Drauf das Heer teilt sich im Walde, Teilt zur Rechten sich, zur Linken; Ziehet hierhin nach des Sáboj Worte, Dorthin nach dem Wort des feurigen Slawoj, Hin zum blauen Berg durch Waldes Gründe. Sonne schien zum fünften Male, Und sie reichen sich die Heldenhände, Und sie spähen aus mit Fuchsesaugen Auf des Königs Heere. „All’ sein Heer muß uns zusammenballen, All’ sein Heer zu einem Streiche Ludiek. Ludiek, ha du bist ein Knecht nur, Knecht nur ob des Königs Knechten. Sag’ du deinem stolzen Zwingherrn, Daß nicht mehr denn Rauch uns gilt sein Machtwort.“ Drob ergrimmet Ludiek, Schnellen Rufes sammelt er die Heere, Rings im Wiederschein erglänzt der Himmel, Und ein Blitz im Wiederschein der Sonne Von des Königs Heer. All’ den Fuß zum Austritt fertig, All’ zur Wehr’ die Hand nach Ludiek’s Worte. „Auf nun, Bruder Slawoj! Hierhin eil’ in Fuchsessprüngen; G’rad’ die Stirne biet’ ich ihnen.“ – Und g’rad’aus bricht Sáboj Vorwärts gleich dem Hagelwetter, Und hervorbricht Slawoj In die Flank’ wie Hagelwetter.

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Teil I Bruder, sieh’, ha diese Malmten uns die Götter, Die fällten unsre Bäume, Scheuchten aus dem Hain’ die Sperber. Sieg verleihen uns die Götter!“ – Siehe, wilder Grimm entreißt den Ludiek Den zahllosen Würgern gegen Sáboj. Sáboj gegen Ludiek Bricht hervor mit flammensprüh’nden Augen. Eiche gegen Eiche stürmet, Aus dem Wald hervor sich reißend. Sáboj sprenget gegen Ludiek Weit voraus dem Heere. Siehe, Ludiek haut mit wucht’gem Schwerte, Und durchhaut drei Haut’ im Schilde. Sáboj haut mit seiner Streitaxt; Ludiek springt behend zur Seite. Einen Baum die Axt trifft, Und der Baum fällt auf die Scharen; Dreißig gehen heim zu ihren Vätern. Da ergrimmet Ludiek, „Ha Du reißend Unthier, Ha du grauses Drachenungeheuer, Ficht mit mir du mit dem Schwerte!“ Und das Schwert schwingt Sáboj, Haut ein Stück dem Feind’ vom Schilde. Ludiek greift zum Schwerte, Doch das Schwert glitt von dem häut’nen Schilde. Beid’ entflammen sich zu grimmen Streichen, Sie zerhauen Alles an einander. Netzen Alles rings mit Blute, Und mit Blut die Mannen sprengen Rings sie an in wildem, Grimmigem Gemetzel. Über Mittag schritt die Sonne, Über Mittag näher schon zum Abend; Und noch ward gekämpfet, Und nicht hier, nicht dorthin ward gewichen; So ward hier gekämpft von Sáboj, So ward dort gekämpft von Slawoj. „Fahr zum Bjes du Würger! Was sollst unser Blut du trinken?“

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Sáboj faßt die Streitart, Ludiek springt zur Seite. Sáboj schwingt die Streitaxt hoch in Lüften, Wirft sie nach dem Feinde: Fleugt die Axt dem Feinde nach; Und der Schild zerspringet, Hinter’m Schilde auch zerspringet Ludiek’s Brust zerspringet. Vor der wucht’gen Art erschrickt die Seele; Ja die Axt entrafft die Seele, Trägt hinaus ins Heer sie wohl fünf Lachter. Angstruf weckt der Schreck in Feindes Munde; Freude schallt vom Mund’ der Krieger, Schallt vom Mund’ der Krieger Sáboj’s, Strahlt aus freudehellen Blicken. „Brüder, ha, uns haben Götter Sieg verliehen! Eine Schar von euch theilt sich zur Rechten, Eine Schar von euch theilt sich zur Linken. Rosse führt herbei aus allen Thälern, Wieh’re rings von Rossen, Wald!“ – „Ha mein Bruder Sáboj! Ha du tapf’rer Löwe! Laß nicht ab vom Sturm auf Feinde!“ Ha, den Schild fortschleudert Sáboj, In der Hand das Schwert, die Art in jener, So quer ein bricht Bahnen Er sich durch die Feinde. Und die Dränger heulten, Und den Drängern galt’s zu weichen. Tras jagt sie vom Schlachtfeld, Schreck erpreßt den Kehlen lauten Angstruf. Roßgewieher rings im Wald. Auf zu Roß’, zu Roß’! Nach dem Feind zu Roß’, Durch die Länder all’! Schnelle Rosse traget, Auf den Fersen traget Ihnen unsern Grimm nach! Scharen schwingen sich auf schnelle Rosse; Sprung auf Sprung den Drängern nach sie jagen, Schlag auf Schlag, sie schnauben wild im Grimme. Und es schwanden Flächen, Schwanden Berge, Wälder, Rechts und links enteilet Alles rückwärts.

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Teil I Sieh’, ein Wildstrom brauset, Welle wälzet sich auf Welle; Sprung auf Sprung auch brausen alle Heere, Alles sprenget durch des Stromes Tosen. Viel der Fremden rafft die Flut hinunter; Trägt die Heimischen hinüber, Trägt sie hin ans andre Ufer. Durch die Gauen ringsum weit und breit, Weit die breiten Schwingen aus Spannt der wilde Weihe, Jaget dem Geflügel nach. – Sboj’s Kriegerhaufen Sprengen aus ins Weite Durch die Lande rings, Sprengen wild den Drängern nach; Schmettern, stampfen nieder Sie mit ihren Rossen. Wütend ihnen nach bei Lunas Scheine, Wütend nach im Sonnenglanz des Tages, Wieder dann im nächt’gen Dunkel, Nach der Nacht im Morgengrauen. Sieh, ein Wildstrom brauset Welle wälzet sich an Welle; Sprung auf Sprung nach brausen alle Heere, Alles sprenget durch des Stromes Tosen. Viel der Fremden rafft die Flut hinunter; Trägt die Heimischen hinüber, Trägt sie hin ans andre Ufer. „Dort zum grauen Gebirge! Dort vertobe unsre Rache!“ „Siehe, Bruder Sboj!“ Fern nicht mehr sind wir dem Berge, Sieh’ das Häuflein Feinde, Und wie sie so kläglich flehen!“– „Rückwärts durch die Gauen, Hierhin du, ich dorthin, Was des Königs, sei vertilgt!“– Winde brausen durch das Land, Heere brausen durch das Land, Durch die Lande rechts und links hin Stark in breiten Reih’n die Heere, Fort mit Freudenjauchzen. „Bruder, dämmern sieh’ den Berg!

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Ha die Götter haben Dort uns Sieg verliehen! Schaaren schwärmen dort von Seelen, Hier und dort von Baum zu Baum. Bange zagt vor ihnen Wild und scheu Geflügel; Nur die Eulen scheuen nimmer. Fort zum Berg, begrabt die Leichen, Bringt den Göttern Opferschmaus, Göttern dort, den Rettern, bringt Reicher Opfer Fülle dar, Stimmet an ihr Lieblingslied, Weiht die Wehr erschlag’ner Feinde ihnen!“167

[Das Werk besteht aus 300 Versen. Die von Hanka gefundene Handschrift enthält neben diesem Erzeugnis der altertümlichen slavischen Poesie noch sieben weitere, ebenfalls in Versen geschriebene Werke. Nach einer gründlichen Untersuchung stellte man fest, daß das Manuskript von irgendeinem Slaven aus dem 13. Jahrhundert geschrieben wurde, der darum bemüht war, es zu bewahren und der Nachwelt als Andenken an die ins Vergessen gleitende Vergangenheit zu überliefern. Diese Sammlung einiger Poeme enthält epische und lyrische Werke. Unter anderem befindet sich dort ein in Versen geschriebenes Werk über den König Václav (Wenzel II.)168; es scheint jedoch, daß an diesem Werk noch vor der Einfügung in die Sammlung große Veränderungen vorgenommen wurden, denn der Stil und die grammatischen Formen, die dort vorkommen, sind für eine genaue Bestimmung durchaus schwierig. Aber gerade dieser Mangel hatte zur Folge, daß der Gelehrte Dobrovský diesen Fragmenten weder ihre Authentizität noch ihre Altertümlichkeit absprach. Indem Dobrovský von den vier großen Zeitaltern der Zivilisation ausging, das Zeitalter des Perikles, des Augustus, Leos X. und Ludwigs XIV., neigte er notgedrungen dazu, alles, was nicht das Gepräge dieser vier Zeitalter in sich trug, als Barbarentum zu erachten. Deswegen weigerte er sich, dem in der vorhergehenden Vorlesung angeführten Poem, einem Poem mit einer Sprache voller Schönheit und korrekter Ausdrucksformen, Altertümlichkeit zu bescheinigen; mit Leichtigkeit dagegen bestätigte er Authentizität einem Werk, über das ich 167 Kralodworsky rukopis, op. cit., 71–89. 168 Milostná píseň krále Václava. In: Starobyla Skladanie. Památka XII.–XV. stoletj. Djl opozděný, wydán od Waclawa Hanky. Praha 1823. S. 220–227. Das Manuskript entdeckte 1819 der Bibliothekar Jan Václav Zimmermann, das er Franz Anton Graf von KolowratLiebsteinsky zuschickte. Vgl. dazu Karel Nesměrák: Milostná píseň krále Václava. Edice, rozbor a historie sporu. In: Zprávy České společnosti rukopisné, roč. VI (2005), čís. 7, S. 161–179.

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Teil I

gerade spreche, einem Werk, dessen Sprache und Formen bedeutend weniger kunstvoll erscheinen. Dabei gilt es heute als gesichert, daß die altslavische Sprache und ihre literarischen Denkmäler bedeutend höher als die Sprache und die literarischen Denkmäler der Slaven im Spätmittelalter einzuschätzen sind. Mir ist klar, meine Herren, daß diese Ausführungen durchaus keine große Bedeutung besitzen, und ich habe die Befürchtung, daß ich sie langweile; ich fühle mich jedoch verpflichtet, alle Details zu erklären, die die Erinnerungen der altertümlichen Slaven betreffen, Erinnerungen, die in einigen literarischen Fragmenten überliefert sind. Vergegenwärtigen muß man sich vor allem die große Teilung der Slaven in zwei Stämme bzw. in zwei Lager im ständigen Kampf, den ein Gelehrter als einen unterirdischen und überirdischen Kampf bezeichnete, und daß infolge dessen jede Idee, die die beiden Stämme erkannten oder die zu ihnen gelangt ist, einen doppelten Sinn erhielt, eine zweifache Anwendung und einen doppelten Ausdruck, immer gegen sich selbst gerichtet; man ging zuweilen so weit, daß man Ereignisse, Wörter oder Ideen vollends umdeutete, um aus ihnen lediglich ein Argument oder einen Beweis herauszufinden, der zur Unterstützung von Höherwertigkeit von Altertümlichkeit der einen Sprache gegenüber der anderen dienen kann. Mit der Entdeckung der Prager Handschrift [Grünberger Handschrift], deren Fragmente ins 7. Jahrhundert reichen, wurde die aktuelle Frage nach der Höherwertigkeit von Altertümlichkeit zugunsten der tschechischen Sprache entschieden. Sogar die Russen widersetzten sich nicht gleich dieser Lösung, später aber haben einige Verdachtsmomente, die aus der Idee und aus dem immer gegengerichteten System resultieren, den Tschechen die Freude an dem Privileg der anerkannten Erstplazierung verdorben. Die erneut aufgegriffene Disputation gab Anlaß zu einer heftigen literarischen Fehde. Dobrovský starb in dem Schmerz, daß er die Entscheidung über die Frage der Priorität von Altertümlichkeit nicht mehr erleben durfte. Dieser heftige Streit hält unter den slavischen Gelehrten bis heute an. Neben vielen anderen befehden sich Kopitar und Palacký nach wie vor.169 Die Heftigkeit des Streits war so groß, 169 Jernej Kopitar (1780–1844). Slovenischer Sprachwissenschaftler. Vgl. die Edition – Bartholomäus Kopitars „Streitschriften“, eingeleitet, erläutert und im Nachdruck herausgegeben von Wolfgang Kessler. Neuried 1986; František Palacký (1798–1876); vgl. Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Libušas Gericht, Evangelium Johannis, der Leitmeritzer Stiftungsbrief, Glossen der Mater Verborum. Kritisch beleuchtet von Paul Joseph Šafařík und Franz Palacký. Prag 1840, S.  167–186 (§ 23–24). Vgl. auch Ignac Jan Hanusch. Die gefälschten böhmischen Gedichte aus den Jahren 1816–1849. Prag 1868 [https://archive. org/details/diegeflschtenbh01hanugoog]; und den Sammelband von Dalibor Dobiáš,

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daß Kopitar einen polnischen Schriftsteller, einen Juristen und hochgebildeten Philologen170, verurteilte wegen seiner Neigung zur russischen Idee. Dobrovský fürchtete sich bis an sein Lebensende, seine definitive Meinung zu sagen, er wollte nicht seinen guten Namen als Kritiker, der ihm vom berühmten Goethe zuerkannt wurde, aufs Spiel setzen. Als Ersten verdächtigte man der Fälschung dieses poetischen Fragments Jungmann171; zu Unrecht, denn er ist ein gelernter Lexikograph, der sich niemals mit Poesie beschäftigte und auch nicht in der Lage ist, Verse zu schreiben. Hanka dichtete in seiner Jugend einige Gedichte, die jedoch keineswegs bezeugen, daß er zu einer solchen Fälschung fähig wäre; dennoch hat man ihn beschuldigt, daß er sich auf diese noble Fälschung einließ, um seinem Vaterland die bestrittene Höherwertigkeit der Altertümer zu sichern. Das war die Überzeugung von Dobrovský und einigen anderen slavischen Gelehrten.172 Um dieser Ansicht zu widersprechen, muß man das Schöne und die naive Feinheit des Stils dieser Werke in Augenschein nehmen, die jene Autoren niemals hätten authentisch nachahmen können, ebenso die historischen Details, die von den Tschechen gewöhnlich ignoriert werden, in den Werken aber genau angegeben werden; ein ähnlich Vorwurf widerspricht in keiner Weise dem Privileg auf die Höherwertigkeit der Altertümer, zugeschrieben auf dieser Grundlage dem westlichen Dialekt, der in den literarischen Erzeugnissen des 7. Jahrhunderts verwendet wurde.] Der Kampf, welcher diesem Gesang den Ursprung gab, der Kampf des Heidentums mit dem Christentum währt durch die slavische Literatur bis auf den heutigen Tag fort. Viele Slavenfreunde sind bemüht, ihn anzufachen. Eingenommen für die Altertümer ihres Landes, und glaubend, die christliche Religion habe ihnen die Vernichtung gebracht, sind sie derselben feind. Es rührt dieser von der irrigen Vorstellung von der Art und Weise, wie sie sich begründete, her: immer betrachten sie dieselbe als ganz neu und mit Gewalt aufgedrungen. Das Christentum darf jedoch nicht als eine Neuheit angesehen werden, denn nicht kam dasselbe, die alten Überlieferungen zu vernichten, sondern sie auszulegen und zu vervollständigen, was gerade den Charakter Kateřina Piorecká, Michal Fránek & Martin Hrdina: Rukopisy královédvorský a zelenohorský a česká věda (1817–1885). Praha 2014. 170 Wacław Aleksander Maciejowski (1792–1883). Vgl. die 19. Vorlesung (Teil II). 171 Josef Jungman (1773–1847), Schriftsteller und Philologe. Werke: Slownik c̆esko-nĕmecký Josefa Jungmanna. Praha 1835–1839 (5 Bände); Josef Jungmann: Historie literatury české aneb Soustavný přehled spisů českých s krátkou historií národu, osvícení a jazyka. Praha 1825. Übersetzte ins Tschechische – François-René de Chateaubriand (Atala), Johann Wolfgang von Goethe (Hermann und Dorothea), John Milton (Paradise Lost), Friedrich Schiller (Die Glocke). Vgl. Alois Jedlička: Josef Jungmann a obrozenská terminologie literárně vědná a linguistická. München 1991. 172 Vgl. dazu die Fußnote 161 in der 10. Vorlesung (Teil I).

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Teil I

des Fortschritts ausmacht. Allgemein ist bekannt, daß zwischen den Dogmen des Christentums und den heidnischen Überlieferungen ein Zusammenhang besteht. Die christliche Religion hat das Opfer nicht aufgehoben, nur seine Bedeutung enthüllt, sie hat den Begriff des bösen und guten Urwesens nicht ausgelöscht, nur ihr Verhältnis aufgeklärt; sie vereinigte sich folglich mit den wesentlichen Bedingungen des Glaubens der Heiden. Die Slaven der nördlichen Gegenden und der von den Normannen regierten Länder haben das Christentum, indem sie ihre altertümlichen Vorstellungen bewahrten, ohne Widerstand angenommen, und es gibt unter ihnen kein Beispiel von Kriegen aus dieser Ursache. Im Süden und Westen traf die christliche Religion darum auf Widerwillen, weil sie zugleich mit einer politischen Idee auftrat: deutsche Ritter führten sie ein, sich als Eroberer darstellend. In Polen erlosch sehr bald der anfangs angefachte Widerwillen; aber stark entbrannte er in den an Polen und Deutschland angrenzenden slavischen Ländern, wo der deutsche Feudalismus unter dem Vorwande der Verbreitung des Glaubens Christi eindringen wollte. Dieser Kampf hat daher mehr eine politische als religiöse Färbung, und es ist nicht schwer, das Christentum vor den ihm gemachten Vorwürfen zu verteidigen, im Gegenteil, mir Leichtigkeit kann man die großen Verdienste, die es geleistet, beweisen. Wenig hat man bis jetzt seinen Einfluß auf den häuslichen, sozialen und politischen Zustand des Slaventums betrachtet; ihm jedoch gehört die gänzliche Vollendung der Organisation dieser Länder und die Sicherung ihrer Unabhängigkeit. Die christliche Einrichtung der Familie durch das Sakrament der Ehe war schon eine große Reform der Slaven und näherte sie den Völkern des Westens. Ohne den Einfluß des Christentums hätte die innere Gewalt und Einheit der Reiche bei ihnen wohl nie entstehen können. Rußlands Fürsten und Polens Könige wurden erst dazumal wirkliche Vergegenwärtiger des Volkstums, als die ersten von den Bischöfen der östlichen Kirche, die zweiten von den Päpsten anfingen gesalbt zu werden. Dem Christentum ist hier noch das öffentliche, das Kunst- und sittliche Leben zu verdanken. Mit der Verbreitung des christlichen Glaubens wurde das die Slaven vereinigende Band enger. Die auf dem Kirchturm angebrachte Glocke war das erste Zeichen ihrer Vereinigung, zum ersten Mal kündigte sie ihnen durch ihren Laut an, daß sie Mitglieder einer großen Gesellschaft seien. Später diente diese Glocke als politisches Organ, rief die Slaven zu Beratungen (wiecie) herbei, ward das Sinnbild ihrer Unabhängigkeit. Die Seiten der Kirchen sind die erste steinerne Bauart im Slaventum, und das einzige Meisterwerk der Architektur. Die Einführung von Feiertagen, das Volk, wenn auch nur einige Tage der Arbeit und bloß materiellen Beschäftigungen entziehend,

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zwang sie unter Nachdenken und Vergnügungen sittlich zu leben. Endlich der Religionsunterricht in Kirchen und von Geistlichen gegründeten Schulen bewirkte eine wahre Revolution im Slaventum, das vorher keine öffentliche Aufklärung kannte. Alle diese christlichen Begründungen der Familie, der Pfarreien, der politischen Einheit der Reiche, die Feiertage, Kanzeln und Schulen vollendeten die große Reform des Slaventums. Von nun an ward dasselbe eine europäische Gesellschaft und trat in Bündnis mit den Völkern des Westens.

12. Vorlesung (5. Februar 1841) Die übrigen Dichtungen in der „Königinhofer Handschrift“ – Das Poem über die Tochter Kublai-Khans – Der religiöse Dualismus der Slaven: die katholische und die orthodoxe Kirche – Die Chronikenschreiber: Nestor und Gallus.

Die Heldengedichte in der „Königinhofer Handschrift“ geben eine Vorstellung von der historischen Poesie der Tschechen. Wir wollen sie nicht einzeln auseinandersetzen, zumal da nicht alle so alt sind und die Authentizität mehrerer sogar verdächtig scheint. Eins von ihnen gehört dem Ende des 13. Jahrhunderts an und erzählt eine Schlacht der Christen gegen die Tartaren. Dies ist das einzige Denkmal einer gleichzeitigen Dichtung, welche diesen Gegenstand besingt. Bemerkenswert ist, wie hier der Dichter die Ursache des Tartareneinfalls auffaßt; sie ist poetisch ersonnen. Die Tochter Kublai Khans, des aus Marco Polos173 Memoiren bekannten Kublai Khan, begehrte Europa zu sehen, nachdem sie von den Schätzen und Wundern der westlichen Länder gehört, und, von einem glänzenden Hofstaate begleitet, unternahm sie die Reise. Die Deutschen, durch ihre Schönheit und ihr Geschmeide angelockt, legten einen Hinterhalt im Wald, nahmen sie gefangen, beraubten und ermordeten sie. Kublai, davon benachrichtigt, wollte kaum der traurigen Botschaft Glauben beimessen, setzte dann ganz Asien in Bewegung, und an der Spitze unzähliger Scharen Rache schnaubend, überzog er die Christen mit Krieg, unterjochte Rußland, plünderte Polen aus und verheerte Ungarn. Hier beschreibt der Dichter den allgemeinen Schrecken und das mörderische Haupttreffen der Tataren mit den christlichen Heeren, wahrscheinlich bei Liegnitz. Die Tataren galten den Slaven als Zauberer, was man sich dadurch erklären kann, daß sie Schießpulver und feurige Wurfspeere gebraucht haben. Vor der Schlacht läßt auch Kublai seine Zauberer und Wahrsager zusammenrufen, um den Ausgang des Kampfes vorherzuwissen. Von allen Seiten eilen Zauberer, Wahrsager und Wundertäter herbei, teilen sich in zwei Parteien, und nachdem sie in der Mitte einen schwarzen Stab aufgestellt, spalten sie denselben in zwei Hälften, geben der einen Kublas Namen, der anderen den der christlichen Könige. Unter dem Zaubergesang geheimnisvoller Worte stellten sich beide Teile des Stabes gegeneinander zum Kampf, rangen miteinander,

173 Marco Polo (ca. 1254–1324); vgl. Marco Polo: Die Beschreibung der Welt: die Reise von Venedig nach China, 1271–1295. Hrsg. Detlef Brennecke. Wiesbaden 2013.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_013

12. Vorlesung (5. Februar 1841)

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und es überrang Kublais Teil. Wie denn auch wirklich die Tataren den Sieg davontrugen.174 Die lyrischen Dichtungen der „Königinhofer Handschrift“ verdienen nicht soviel Aufmerksamkeit, daß wir uns hier länger aufhalten; wir werden übrigens von ihnen noch bei Erwähnung der Poesie der Serben sprechen, bei denen diese Gattung soviel Schönheit und Ursprünglichkeit bewahrte. Lange vor der Zeitangabe dieser Dichtungen gab es schon in der Rus’ und in Polen Literaturdenkmäler. Den Ursprung dieser bereits vom Christentum durchdrungenen Literatur muß man erforschen. Wir haben gesehen, daß innerhalb des Slaventums zwei Reiche entstanden, welche aus dem Zoophytenleben vorerst ins animalische übergegangen, durch die Annahme des Christentums ein Menschenleben zu atmen begannen. Die Umstände, unter welchen diese Religion eingeimpft wurde, der Charakter und die Organisation der Geistlichkeit, das Verhältnis der geistlichen Gewalt zur weltlichen, alles dieses war in beiden Ländern gänzlich verschieden. Die Polen mußten ebenso, wie die Süd- und Westslaven, aus Politik Christen werden. Denn erstens konnte bei ihnen ohne Christentum sich keine Regierung gestalten, und dann hatten sie kein anderes Mittel, das Volk vor dem drohenden Verderben zu schützen. Schon zu Dagoberts175 Zeiten wurden die DonauSlaven von den Franken unterjocht; bald wurden aber die deutschen Kaiser noch schrecklichere Feinde für sie. Das ungeheure deutsche Reich, gestützt auf den Feudalismus, welcher durch Privilegien der freien Städte modifiziert und durch die Macht der Kirche in Schranken gehalten wurde, entbehrte im 174 Die entsprechende Stelle, ein Fragment aus dem Gedicht „Jaroslav“. In: Kralodworsky rukopis, op. cit., S. 120–121; dt. Übersetzung – S. 121–123, lautet: Kublaj káže vsěm svým čarodějém, Kublay rufet seine Zaub’rer alle, hadačém, hvězdářém, kúzelníkóm, Sternenkundige, Seher und Schwarzkünstler, aby zvěstovali uhodnúce, Zu erforschen, dann ihm zu verkünden, kteraký by konec boj jměl vzieti. Welchen Ausgang dieser Krieg wird nehmen. Sebrachu sě naliť čaroději, Eilig sammelten sich die Zaub’rer alle, hadači, hvězdáři, kúzelníci, Sternenkundige, Seher und Schwarzkünstler, na dvě straně kolo rostúpichu Schritten einen Kreis ab von zwei Seiten, i na dlí trest črnú položichu Einen schwarzen Stab entlang d’rein legend, i ju na dvě pólě rozcepichu. Den zerspellen dann sie in zwei Teile. Prvéj póle „Kublaj“ imě vzděchu, „Kublay“ nannten sie die eine Hälfte, vteréj póle „králi“ imě vzděchu, Und die zweite nannten sie die „Fürsten“; vetchými slovesy nad sim vzpěchu. D’rüber singen sie uralte Sprüche. 175 Vgl. dazu – Scriptores rerum Merovingicarum  2: Fredegarii et  aliorum Chronica. Vitae sanctorum. Hrsg. Bruno Krusch. Hannover 1888, Kap. 68, S. 154–155 (= Monumenta Germaniae Historica); im Internet unter [http://www.dmgh.de]. Deutsche Übersetzung – Die Chronik Fredegars und der Frankenkönige […]. Übersetzt von Otto Abel. 2. Auflage. Leipzig 1888, Kap. 68 (S. 40–41).

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Teil I

Innern einer großen Festigkeit, war aber übermächtig, sobald es im Geiste des Jahrhunderts sich für die christliche Sache erhob. Es ist bekannt, welche Macht die deutschen Kaiser den Türken entgegengesetzt haben. Auf den Ruf im Namen des Glaubens ging alles samt und sonders, freie Städte, Innungen, Barone. So wuchtete nun diese Masse mit ihrer ganzen Last auf den Slaven. Die Kirche feuerte dazu an, und die Privatleute wurden dazu gelockt, denn sie fanden Gelegenheit, eigne Stiftungen zu gründen. Man muß aber nicht meinen, daß sie ein Handelsinteresse dazu bewog; nichts war ihnen mehr fremd, als der Gedanke an Gewinn. Die Barone, welche auf Brandenburgs oder Großpolens Sand, oder mitten in den Morästen von Preußen sich anzusiedeln eilten, verließen sehr häufig reiche Ländereien, die Ufer des Rheins. In diesen wilden Gegenden erwartete sie ein hartes Leben voller Gefahren und Mühsale. Immer in der Rüstung zu leben gezwungen, sahen sie vielmals ihre Frauen und Kinder gemordet, und selten starb einer von ihnen ruhig auf seinem Lager. Was trieb sie also an, sich in diese Kämpfe und Beschwerden zu wagen? Dasselbe, was heut zu Tage reiche Leute in die Laufbahn politischer Bewegungen treibt – die Idee der Zeit, das Vorgefühl einer großen Zukunft. Der Kampf mit den Deutschen fiel für die Slaven höchst ungleich aus. Die Deutschen brachten die feste und ausgebildete Lehnsverfassung mit; die Slaven dagegen konnten ihnen nur ungeregelte Haufen entgegenstellen. Die Barone waren von keinem Haß gegen das slavische Geschlecht beseelt; überall, wo sie die Eingeborenen bekehrt hatten, gewährten sie ihnen denselben Schutz, wie den Ihrigen. Dessenungeachtet litten die Slaven unaussprechlich und verschwanden unter einer ihrer Natur widrigen Regierung. Im eroberten Land erhob sich sogleich die Burg des Lehnsherrn; neben derselben wurden Schmieden und Gewehr-Werkstätten errichtet. Deutsche Maurer bauten die Kirche, und bei dieser Arbeit entstanden Verbrüderungen, um in der Not den Verbündeten und Gläubigen Hilfe zu leisten; es bildete sich schnell eine Stadt, welche allmählich ihre ausländische Atmosphäre immer weiter verbreitete. Die von diesem Mittelpunkt zurückgedrängte slavische Bevölkerung, gedrückt durch die Elastizität des feudalen Wesens, außer Stande, ihre Sitten, Freiheiten und ihre Sprache zu bewahren, wurde überall, wo nur germanische Einrichtungen eingeschritten waren, verdrängt, obgleich sowohl die Barone, als auch die Päpste es inständig wünschten, ihr eine günstige Lage zu sichern. Welch ein Mittel gab es also, dieser Vernichtung Einhalt zu tun? Kein anderes, sagt ein Geschichtsschreiber176, als das Kreuz auf der Grenze aufzupflan176 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 657): Friedrich von Raumer: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit.

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zen, um den deutschen Kaisern das Schwert aus der Hand zu schlagen. Denn aufrichtige Menschen wollten den Christen keinen Krieg bringen, und traten die Slaven durch die Annahme des Glaubens in die Gemeinschaft der Kirche, so konnten die Kaiser nur politische Mißhelligkeiten mit ihnen haben und kaum einen Teil ihrer Macht gegen sie richten. Mit der Zeit wurden sogar die slavischen Fürsten durch Bündnisse mit den Baronen und durch Befestigung ihrer Macht im Innern des Landes den Kaisern selbst furchtbar. Solche Vorteile kamen durch die Annahme der christlichen Religion über Tschechien und Polen. Anders war die Lage in der normannischen Rus’. Es hatte sich gegen niemand weiter zu wehren, als gegen die nomadischen Horden, die manchmal ins Innere des Landes drangen. Die unternehmenden Normannen (Waräger) verfuhren sogar selbst angriffsweise und überfielen oftmals das östliche Kaiserreich. Die Griechen, um sich vor diesen Einbrüchen zu sichern, bemühten sich, die Rus’ zu bekehren. Fürst Vladimir177, ein Zeitgenosse Boleslaus des Großen (Bolesław Chrobry)178, der letzte Beherrscher Rußlands, der noch neue Normannenscharen aus Norwegen und Schweden herbeiführte, wollte dem durch den Einfluß des Christentums schon untergrabenen Heidentum die alte Kraft wiedergeben; doch bald ließ er diese Absicht fahren und heiratete eine griechische Prinzessin. Man erzählt, er habe vor seiner Bekehrung zuerst darüber nachgedacht, welche Religion zu wählen sei. Er ließ also Rabbiner aus einer nahen Judenkolonie zu sich rufen, forderte katholische Priester auf und schickte eine Gesandschaft ab, um die Geheimnisse und Gebräuche der östlichen Kirche kennen zu lernen. Ein griechischer Weise zog ihn der Sage nach auf seine Seite, indem er ihm in lebendigen Farben das jüngste Gericht schilderte.179 Allein die östliche Kirche neigte sich dazumal zur völligen Trennung von der allgemeinen, und dieses Schisma vollendete den Bruch des slavischen Nordens. Der Keim des Schismas lag schon in der ersten Zeit des Christentums. 6 Bände; 2. Auflage. Leipzig 1841, Band  2, Viertes Buch, Fünftes Hauptstück (Kapitel – Heinrich der Löwe und die Slaven). 177 Vladimir  I.  Svjatoslavič (um 960–1015), Großfürst von Kiev. Vgl. A.Ju. Karpov: Vladimir Svjatoj. Moskva 1997. 178 Bolesław Chrobry (um 967–1050), erster König von Polen aus der Piasten-Familie. Vgl. Jerzy Strzelczyk: Bolesław Chrobry. Poznań 1999. 179 Vgl. das Jahr  986 [6494] in: Ludolf Müller (Hrsg.): Handbuch zur Nestorchronik. Band IV: Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’verstr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001 (= Forum Slavicum. Bd. 56), S. 103–131.

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Griechenland, von Ewigkeit her das Vaterland der Philosophen, in der Dialektik geübt, an Polemik gewöhnt, konnte sich nicht in die im 6. Jahrhundert organisierte und noch früher durch viele Patriarchen der allgemeinen Kirche anerkannte Macht der römischen Bischöfe fügen. Übrigens suchten die Griechen nur einen Vorwand in der Dogmenlehre, um mit den minder zivilisierten und damals von Barbaren überfallenen Ländern zu brechen. Wenn also irgendein Bischof einen Vorwurf gegen die katholische Kirche erspähte, so war er gewiß, die Geistlichkeit und das Volk für sich zu haben. Um das Schisma zu vollenden, blieb nur übrig, die Unterstützung der Regierung zu erhalten. Nachdem Patriarch von Konstantinopel Photios den Regenten Bardas für sich gewonnen hatte, kündigte er Rom den Gehorsam auf und vollendete das seit langer Zeit sich heranbildende Schisma.180 Wichtige Folgen entsprangen hieraus für die östliche Kirche. Bis jetzt stützte sie sich auf Konzilien; aber mit dem Verfall dieser Grundlage hatte sie keine mehr außer der Regierung; sie ergab sich ihr also auf Gunst und Gnade und konnte ihr nie mehr die Spitze bieten. Von dieser Zeit an hörten folglich die Untersuchungen und Synoden auf; denn man befürchtete, daß aus ihnen irgendeine Meinungsverschiedenheit entstände, in welcher keine Berufung an ein höheres Tribunal mehr stattfand. Ferner mußte die Regierung nach logischer Notwendigkeit das Predigen verbieten; denn als Oberaufseherin ihrer Kirche fand sie kein Mittel, die von der Geistlichkeit verbreiteten Lehren zu kontrollieren, und hielt es für einfacher, die Kanzeln gänzlich abzuschaffen. So verlor also die östliche Kirche, statt jener unbegrenzten Freiheit teilhaftig zu werden, die man durch das Losreißen vom Apostelstuhl zu erlangen gehofft hatte, gänzlich ihre Unabhängigkeit und verstummte. Unter so bewandten Umständen nahm die Rus’ die Religion des griechischen Ritus an. Der ungeheure Unterschied zwischen der östlichen und westlichen Geistlichkeit spiegelte sich in der Bildung und Literatur der nördlichen Länder des Slaventums ab. Die Bischöfe des Ostens waren höchst fromme Männer, den Wissenschaften ergeben, aber fern von irgendeinem Einfluß auf die sozialen und politischen Bewegungen und Zustände. Sie befanden sich in einer ähnlichen Lage, wie heute die katholische Hierarchie; man betrachtete 180 Photios I. (um 820–891); Photius, der sich in der Slavenmission engagierte, sandte Slavenapostel nach Mähren. Dort kam es zum Konflikt zwischen Photius und dem Papst Nikolaus I., der in Mähren fränkische Missionare protegierte, die das Glaubensbekenntnis mit dem 589 in Spanien eingeführten „Filioque“ vertraten, welches Jesus Christus als Filius (Sohn) gegenüber Gott dem Vater gleichberechtigt macht; vgl. Hans-Georg Beck: Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich. Göttingen 1980, S. 96–118; Georgi Karpiev: Philosophie in Byzanz. Würzburg 2005, Kap. 4.; Bardas war von 856 bis 866 Regent für den byzantinischen Kaiser Michael III.

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sie als einen Teil der Verwaltung, als Staatsbeamten. Ganz anders führten die Bischöfe der westlichen Kirche ein praktisches Leben; sie gaben Werke heraus, schrieben Gesetze, griffen in die öffentlichen Angelegenheiten ein und kämpften sogar in Schlachten. Man sah sie im königlichen Rat, an der Spitze der Provinzial-Versammlungen, in Parlamenten, Gerichtshöfen, kurz überall. Es war die tätigste Klasse im Mittelalter. Die Klöster, welche in den germanischen und romanischen Ländern eine so bedeutende Rolle spielen, sind im Gebiet des griechischen Ritus kaum zu bemerken. Die östliche Kirche hatte nur einen Mönchsorden, den des heiligen Basilius181, wo diejenigen Zuflucht fanden, welche sich der Wissenschaft und dem beschaulichen Leben widmen wollten, während in der westlichen Kirche sich je nach den Zeitbedürfnissen Ordensregeln bildeten und spater Ritterorden entstanden, von denen einer die Verhältnisse der am baltischen Meer liegenden Gegenden veränderte und den Grundstein für das Königreich Preußen legte. Die Nationalfreiheiten der katholisch-slavischen Länder hatten ihre Quelle in der Kirchenverfassung. Der polnische König (Boleslaus der Kühne), welcher einen Erzbischof182 getötet, verlor die Krone, und seitdem fingen die Bischöfe in Polen an, für unverletzlich zu gelten. Sie hatten neben den weltlichen Herren Sitz im Senate und genossen in den Landtagen dieselben Vorrechte. Davon sah man nichts im Reich der Rus’. Was von der alten Freiheit in ihm geblieben war, das schloß sich in den Städten ein und konnte aus denselben schon nicht mehr herauskommen; hingegen nahm die Freiheit der Polen, nachdem sie sich vorerst im Kreise des königlichen Rates, dann der Landtage ausgebildet, endlich öffentlich das Wort. Auch das persönliche Ansehen der Geistlichkeit war in beiden Ländern gänzlich verschieden. Ungeachtet der festem Disziplin und der oft vollkommneren Sittenstrenge, erfuhr die altrussische Geistlichkeit von Seiten des Volkes und der Herrscher eine kränkende und gröbliche Behandlung.183 In Polen findet 181 Vgl. Horst Enzensberger: Basilianer. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band  1, München-Zürich 1980, Sp. 1523–1525. 182 Stanisław ze Szczepanowa – Stanislau von Krakau (um 1030–1079), Bischof von Krakau; vgl. Marian Plezia: Dookoła sprawy św. Stanisława. In: Analecta Cracoviensia, 11 (1997), S. 252–413; Agnieszka Rożnowska-Sadraei: Pater Patriae. The cult of Saint Stanislaus and the patronage of Polish kings 1200–1455. Kraków 2008. 183 Hier folgt ein Abschnitt aus der Übersetzung von L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 145, der in der französischen Edition und bei Wrotnowski (1865) fehlt: [In einem serbischen Lied wird berichtet, daß man einst, als es darum ging, wem die Krone gebührt, damit begann, die Meinung eines frommen griechischen Bischofs einzuholen (das Ereignis findet nämlich in einem Land statt, das zur östlichen Kirche gehört); was man beschloß, wurde unverzüglich ausgeführt; man schickte einen Boten, damit er den Heiligen findet. Als der Bote dort ankam und erfuhr, daß der Heilige in der Kirche weilt, geht er in die Kirche und schlägt den Bischof

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man kein ähnliches Beispiel der Verachtung und Grobheit gegen die katholischen Priester. Wenn manchmal polnische Schriftsteller und Dichter Haß gegen die Priester äußern, so ist selbst dieser Haß mit einer gewissen Hochachtung verbunden. Derselben Ursache wegen, aus welcher im östlichen Kaisertum die Lehrund Kanzelfreiheit der Kirche genommen wurde, verboten später schon nicht mehr die die Fürsten der Rus’, sondern russische Zaren den Geistlichen, die Landesgeschichte aufzuzeichnen. Lange waren die Priester hier die einzigen Schriftsteller und beschäftigten sich mit Abfassung von Chroniken, trugen in ihre Jahrbücher gleichzeitige oder frühere Ereignisse ein, und weil dieses zur Beurteilung der Verhältnisse nach subjektiven Ansichten Veranlassung gab, so mußte es in den Augen der Regierung bedenklich und gefährlich erscheinen. Der älteste slavische Chronikenschreiber, einer dieser Geistlichen, war Nestor184, ein Mönch des Kiever Höhlenklosters, gebürtig aus dem Gebiete zwischen dem Bug und Dnjepr, das stets der Zankapfel zweier Nachbarstaaten war und den Namen der Rus’ trägt. Nestor kannte keine Literatur des Westens, verstand nicht Lateinisch; er schöpfte sein ganzes Licht aus den byzantinischen Schriftstellern und hatte sich ganz in ihre Schreibart und Darstellungsweise hineingearbeitet. Allen politischen Ereignissen fremd, fern von den Schlachtfeldern, schrieb er in seiner stillen Klause auf, was er aus der mündlichen Überlieferung der Mönche über Landesgeschichte hörte. Diese Nachrichten reichten nicht über die Zeit des Normannen-Einbruchs. Er wurde in der Mitte des 11. Jahrhunderts geboren, beinahe zweihundert Jahre nach der mit der Peitsche, um ihn zu zwingen, das Anliegen des Volkes sofort zu erledigen.] – Es handelt sich um das Lied „Uroš i Mrnjavčevići“ (Zar Uroš und die Brüder Mrnjavčevići), in dem der Königssohn Uroš [später Zar Stefan Uroš IV. Dušan (1308–1355)] und die Adligen Vukašin Mrnjavčević, Uglješa Mrnjavčević und Gojko Mrnjavčević um die serbische Krone streiten. Sie einigen sich, den Rat beim Protopopen Nedeljko in Prizren zu holen, indem sie eine Gefolgschaft zu ihm entsenden. In der Kirche zu Pferde angekommen, „schwangen sie die gefloctenen Peitschen und schlugen auf den Protopopen Nedeljko ein“ („Потегоше плетене канџије, / Ударају протопоп-Недељка“). Nedeljko erklärt aber, diese Entscheidung könne nur sein Schüler, Kraljević Marko (Königssohn Marko), der Sohn von Vukašin Mrnjavčević, treffen. Kraljević Marko studiert die alten Bücher, konsultiert seine Mutter Jevrosima und eilt auf das Amselfeld (Kosovo polje), wo er den Protaganisten eröffnet, daß die Krone Uroš gebührt. Daraufhin bedroht ihn sein Vater mit dem Messer; Marko gelingt jedoch die Flucht. – vgl. „Uroš i Mrnjavčevići“, in: Vuk S. Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga druga u kojoj su pjesme junačke najstarije. Beograd 1958, S. 186ff. 184 Nestor (um 1056–um 1114), Mönch des Kiever Höhlenklosters; wird als Verfasser (oder Redakteur) der Teile der Nestor-Chronik („Povest’ vremennych let“) angenommen. Vgl. D.S.  Lichačev: Russkie letopisi i ich kul’turno-istoričeskoe značenie. MoskvaLeningrag 1947.

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Besitznahme der Rus’ durch Rjuriks Geschlecht; die slavische Geschichte dieses Landes kümmert ihn fast nicht mehr, und die normannische beschreibt er ohne Poesie, sehr einfach. Jedoch das, was er geschrieben, ist wichtig, besonders für die Geographie jener Gegenden. Nach dem Muster der Byzantiner beginnt er seine Jahrbücher mit einer Einleitung, welche die allgemeine Geschichte mit der Zeit und dem Gegenstande seiner Erzählung verbindet. Der gänzliche Mangel an Begeisterung und allgemeinem Überblick im Nestor gefiel gerade am meisten den Geschichtsschreibern185 des 18. Jahrhunderts, und diese haben ihn als Vorbild eines Historiographen aufgestellt. Seine einfache Darstellungsart verblendete sie so sehr, daß sie nicht wagten, gegen irgendwelchen chronologischen und geographischen Fehler in ihm sich zu erheben; sie wagten in keiner Hinsicht, die verletzte Wahrheit wiederherzustellen. Nestors Geschichte ist weder mehr noch weniger, und konnte es auch nicht sein, als nur ein Abglanz der byzantinischen Geschichte, der auf einen anderen Gegenstand gefallen war. Die Schriftsteller dieses östlichen Reichs hatten in der Zeit der Untergangsperiode keine poetische Begeisterung, kein höheres Streben, keine geistige Kraft mehr in der geschichtlichen Darstellung. Es sind Erzählungen eines schon abgestorbenen Volkes. Dieses trockene Wesen hat Nestor nur in Etwas durch die Anmut der schlichten, slavischen Frische belebt. Fast gleichzeitig mit Nestor erscheint ein polnischer Chronikenschreiber, mit Namen Gallus Anonymus.186 Man ist darüber nicht einverstanden, ob er ein Gallier oder Pole gewesen; die Forscher führen zwar verschiedene Gründe für und gegen das auf, was er geschrieben, berücksichtigen jedoch nicht im Mindesten den Rhythmus, das Maß seiner Verse, wo unter dem Latein, wie unter einer durchsichtigen Decke, der ganze Gang, die ganze Natur der echt polnischen Sprache durchleuchtet. Gallus war Kaplan bei Boleslaus Schiefmund (Bolesław Krzywousty), führte ein tätiges Leben im Frieden und im Kriege an der Seite des Königs. Er hat auch fremde Lander besucht und eine Reise nach dem heiligen Lande gemacht. Man sieht in ihn, beständig einen höchst beweglichen Mann, mit poetischem Geist begabt. Das Werk, welches 185 Vgl. August Ludwig Schlözer: Nestor. Russische Annalen in ihrer Slavonischen Grundsprache: verglichen, von Schreibfehlern und Interpolationen möglichst gereinigt, erklärt und übersetzt. Bd. 1–5. Göttingen 1802–1809; vgl. dazu – Hellmut Keipert: Das „Sprache“Kapitel in August Ludwig Schlözers „Nestor“ und die Grundlegung der historischvergleichenden Methode für die slavische Sprachwissenschaft, op. cit. 186 Gallus Anonymus (Gal Anonim) – gestorben um 1116; vgl. Eduard Mühle: Cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum. Neue Forschungen zum so genannten Gallus Anonymus. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 65 (2009), S. 459– 496; Johannes Fried: Kam der Gallus Anonymus aus Bamberg? In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 65 (2009), S. 497–545.

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er hinterlassen, hält die Mitte zwischen einer Chronik und einem Gedicht. Er erzählt hier die Geburt und die glänzenden Taten seines Monarchen; aber er verfolgt dessen Geschichte nicht bis zum Tode. Fast jedes Kapitel beginnt mit einer poetischen Anrufung, und wird oft durch Gebete unterbrochen und beendigt. Er schiebt dabei Übersetzungen von Kampfliedern der Deutschen und der benachbarten Slaven hinein. Gewöhnlich ist er heiter, scherzhaft, von scharfer Auffassung der Dinge; manchmal vergeht er sich gegen die Wahrheit durch allzu große Übertreibung in der Darstellung der Ereignisse, behält jedoch immer das Ganze vor Augen, und sein Werk macht auch ein geographisches und historisches Ganze aus. Obgleich er sich des Lateins bedient, so scheint ihm doch die polnische Sprache stets im Sinne zu liegen; im Liederbau besonders beobachtet er immer jenen Versfall der nationalen Kirchenlieder, und wie er sich in den polnischen Kirchen-Gesangbüchern noch erhalten hat. Das Wort Vaterland fließt ihm beständig aus der Feder, und er gebraucht dasselbe schon in der ausgedehntesten Bedeutung. Selbst ein polnischer Kritiker187, der selten einmal die Geschichte seines Volkes versteht, hat dieses bemerkt und ausgesprochen, daß das Vaterland bei Gallus nicht bloß die Erdscholle bedeute, sondern daß er etwas anderes darunter verstanden habe. Gallus begreift in der Tat die Gesamtheit der Bestrebungen, der Freiheiten und des Ruhms der Nation unter diesem Worte. Die ruhmvollen Taten Polens, seine fruchtbaren Gefilde, üppigen Wälder, stämmigen Männer, zahlreichen Herden, dies alles faßt er unter dem Worte Vaterland (patria) zusammen; von allem spricht er mit Liebe, Begeisterung und Stolz, wie ein für sein Land glühender Pole.188 Keine Ähnlichkeit ist zwischen ihm und Nestor, der gehörte Dinge kalt erzählt. Eher könnte man ihn vergleichen mit den gleichzeitigen Dichtern des Westens, den Troubadours und Minnesängern.

187 Jan Wincenty Bandtkie (1783–1846) im Vorwort seiner Edition – Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S.  XIX und XXII. Im Internet – [http://reader.digitale sammlungen.de]. 188 Die entsprechende Stelle bei Gallus (Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 17) lautet: Es ist das Land, wo die Luft gesund ist, der AckerPatria, ubi aër salubris, ager fertilis, boden fruchtbar, der Wald von Honig fließend, silva melliflua, aqua piscosa, das Wasser fischreich, wo die Krieger kriegerisch milites belliciosi, rustici laboriosi, sind, die Bauern arbeitsam, die Pferde ausdauequi durabiles, boves arabiles, ernd, die Stiere zum Pflügen geeignet, die Kühe vaccae lactosae, oves lanosae. reich an Milch, die Schafe reich an Wolle.

13. Vorlesung (9. Februar 1841) Der dualistische Charakter im slavischen Schrifttum – Zwei christliche Kirchen im Slaventum – Polen im XI. Jahrhundert – Der heilige Wojciech (Adalbert von Prag) als Patron Polens; sein Märtyrertum sein polnisches Nationallied – Die polnischen König haben nicht immer seine Botschaft verstanden – Vergleich der Chronikenschreiber: Nestor, Gallus, Thietmar von Merseburg und Cosmas von Prag; literarische Merkmale dieser vier Chronisten – Ursprung der Dialekte – Slavische Dialekte als besondere Sprachen – Ursachen der Entstehung und des Untergangs von Sprachen.

Die unterscheidenden Merkmale der Reiche, in welche sich das slavische Geschlecht gespalten, lassen sich auch aus den geschichtlichen Denkmälern in Geist, Charakter und Form der jedesmaligen Chroniken ersehen. Wichtig wäre es zu ermitteln, was die Ursache zu einer solchen oder andern Form dieser Denkmäler gewesen. Schon haben wir die Umstände gesehen, welche der Einführung des christlichen Glaubens in der normannischen Rus’ und in Polen beigesellt waren. Um diese Geschichte des Christentums zu ergänzen, ist es notwendig, noch einiger Modifikationen, denen das Dogma selbst und die Kirchenregel in diesen Gesellschaften sich unterziehen mußte, zu erwähnen. Die über die Rus’ herrschenden Normannenfürsten hatten, nachdem sie die christliche Religion der östlichen Kirche angenommen und den Untertanen aufgedrungen, einigermaßen die Oberhand über die Kirche sich zugeeignet, und waren fortwährend bemüht, dieses Umstandes zu eignem Vorteil sich zu bedienen. Das Christentum breitete sich hier langsam aus, streute den Samen für eine zukünftige Entfaltung; aber in das gesellige Leben einzudringen vermochte es nicht. In den Ländern Polens, in den Ländern der Lechiten und Tschechen hemmten Hindernisse anderer Art den Fortschritt des Christentums. Die Lechen und Tschechen bildeten eine Art bewaffneter Macht, sie waren ein ritterlicher Stand, machten schon gleichsam eine aristokratische Republik aus. Dieser Republik zeigte sich das Christentum in zwiefacher Rücksicht drohend: erstens heiligte es die königliche Gewalt, gab derselben eine Macht, die mit der überlieferten Ordnung der Lechen und Tschechen im Widerspruch war; zweitens erriet der ritterliche Stand instinktmäßig, daß es für die Massen Versprechungen enthielt. Diese Rasse nahm daher jedesmal die christliche Religion willig auf, sobald sie ihnen ihr Recht angesichts der Könige sicherte, hielt aber deren Entwicklung und Folgerungen immer auf, sobald es sich nur um die Anwendung auf das Volk handelte. Neben diesen beiden politischen Hemmnissen zeigte sich noch ein drittes, aus der Zusammenschmelzung der

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_014

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Stammgesellschaften entspringend. Die lechitische und tschechische Ritterschaft, nach der Beschreibung der Byzantiner, bestand aus tapferen, sorglosen und leichtsinnigen Männern. Mit den Slaven sich vermischend fügten sie ihrer Lebendigkeit noch die slavische Derbheit der Sitten und Sinnlichkeit bei. Die christliche Geistlichkeit von einer so beschaffenen Gesellschaft umringt, nahm allmählich den Nationalcharakter an, verlor Sittenstrenge, Würde und besonders den Enthusiasmus, der die Geistlichen des Mittelalters so auszeichnete. Den damaligen Charakter Polens hat treffend ein Chronikenschreiber jener Zeit geschildert, indem er von der Gesandtschaft spricht, die der polnische Fürst an den Papst, mit dem Verlangen der Königskrone, schickte. Der Papst gab geneigtes Gehör, schon war die Krone verfertigt, inzwischen erschien demselben ein Engel mit den Worten: die Polen seien noch nicht würdig, einen Gesalbten des Herrn zu ihrem König zu haben: Hec, inquit, gens magis diliget calumpniam, quam iusticiam, silvarum densitudinem et ferarum venacionem, quam camporum planiciem et frugum ubertatem, magis diligent canes, quam homines, plus pauperum oppresiones, quam divinas leges […].189 Dieses Volk – sagt er – liebt mehr die Übermacht als die Gerechtigkeit, hängt mehr an seinen Wäldern und Jagden, als an den Beschäftigungen des Ackerbaues und der Gesetzgebung; es hat seine Hunde und Pferde lieber als die Menschen, dazu der Armen Unterrdrückung mehr als göttliche Gesetze.

Die Päpste verweigerten damals lange Zeit den polnischen Fürsten den Königstitel. Die katholischen Bischöfe in Polen stammten am häufigsten aus den Familien der Großen, und zeigten in ihrem Benehmen die Tugenden und die Fehler ihrer ritterlichen Abkunft. Die niedere Geistlichkeit, die Äbte, die Pröbste, vom niederen Adel stammend, besaßen gleichfalls ihren Patriotismus, ihre kriegerische Neigung und gesellige Zuvorkommenheit, kümmerte sich aber wenig um die Sache der Religion. Auf diese Weise hatten die Polen nach ihrer Bekehrung sich nicht gehörig bemüht, dem Christentum auch die benachbarten heidnischen Völkerschaften zu gewinnen, und entsprachen folglich ihrem hauptsächlichsten Beruf nicht; 189 [Wincenty z Kielczy]: Vita S. Stanislai. In: Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], vitamque S. Stanislai […] adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S.  379–380; polnische Übersetzung in: Średniowieczne żywoty i cuda patronów Polski. Tłumaczyła J. Pleziowa, opracował Marian Plezia. Warszawa 1987, S. 282–283.

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denn den Glauben unter den Heiden zu verbreiten war dazumal der Hauptberuf, und die Nichterfüllung dieser Pflicht wurde später für Polen die Quelle tiefer Leiden. Die Könige rafften zahlreiche Scharen zusammen, unternahmen für diesen Zweck Eroberungszüge; sie fanden aber nur mit Schwierigkeit Apostel und Märtyrer bei sich. Die Apostel kamen aus fremden Ländern, es war notwendig, sie aus Tschechien und Deutschland einzuführen. Ein solcher Ankömmling, war der Heilige Wojciech (Adalbert von Prag)190, welcher kanonisiert, einer der polnischen Schutzheiligen ist und in der Geschichte Epoche macht. Wir müssen daher ausführlicher über ihn sprechen. Der Heilige Wojciech ist im Tschechenlande, in der Nähe der polnischen Grenze in einer ansehnlichen Lechitenfamilie geboren. Sein Vater war ein Graf und die Mutter eine Anverwandte des regierenden Fürstenhauses; diese Familie besaß ausgedehnte Verwandtschafts- und Freundschaftsverbindungen mit den Polen. Schon in der Kindheit für den geistlichen Stand bestimmt, schickte man ihn zur Erziehung nach Deutschland, dann bereiste er Frankreich, Italien und wurde nach seiner Rückkehr in Tschechien zuerst Subdiakon, dann Bischof zu Prag. Das Volk nahm ihn mit Begeisterung auf; es gefiel ihm, daß er gut slavisch sprach und sogar in dieser Sprache dichtete. Die Mächtigeren wie der gemeine Mann schätzten seine Sanftmut und Barmherzigkeit. Bald jedoch brach gegen ihn ein wütender Sturm los. Er führte neue Sitten ein, lud an seinen Tisch jeglichen Christen ohne Ansehen der Person, eiferte gegen den Sklavenhandel, weil die Juden damals in Tschechien und Polen Sklavenhandel trieben, endlich wollte er die Vielweiberei ausrotten. Dies Alles reizte die Prager dermaßen auf, daß sie ihren Bischof fortjagten. Dann wieder zurückgerufen und von Neuem verfolgt, wäre er beinahe das Opfer eines Aufruhrs geworden; seine Wohnung wurde abgebrannt und einige seiner Brüder ermordet. Nachdem sich der Grimm gelegt, suchte man ihn wieder durch Versprechungen zu gewinnen; er aber wollte nicht mehr seiner Diözese vorstehen, sondern dem Beruf nachgehend, den er längst gefühlt, ergriff er den Apostelstab. In dieser Absicht kam er nach Gnesen an den Hof Boleslaus des Großen, und eröffnete seinen Entschluß, die litauisch-preußischen Stämme, Polens gefährliche Nachbarn, bekehren zu wollen. Sehr freundlich von dem polnischen Monarchen empfangen, widmete er sich mehrere Jahre der Erlernung der Sprachen und Sitten dieser Völkerschaften, und fuhr dann auf der Weichsel 190 Tschechisch: Svatý Vojtěch (um 956–997). Vgl. A. Mickiewicz: Święty Wojciech. In: A. Mic­ kie­wicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Warszawa 1996, S.  149–159; ferner – Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte: Adalbert von Prag und Otto von Bamberg. Hrsg. Lorenz Weinrich und Jerzy Strzelczyk. Darmstadt 2005.

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in Begleitung von zwei Geistlichen nach Danzig herunter, von dort ging er nach Ostpreußen. Die Preußen boten ihm anfänglich keinen Widerstand, als er aber in einer Nacht sich erkühnte, in einen den Göttern geweihten Hain zu dringen und dort die Messe abzuhalten, zum Zeichen, daß Christus Besitz von diesem heidnischen Heiligtum nehme, fielen die Priester des Orts über ihn her und ermordeten ihn. Boleslaus der Große löste den Leib des Bischofs aus und setzte ihn in Gnesen bei. Das Gerücht vom Tod des Märtyrers und den Wundern an seiner Gruft erscholl durch die ganze Christenheit, und begann zahlreiche Pilger nach Gnesen zu ziehen. Otto III., ein andächtiger, treuherziger und guter Mann, der den heiligen Wojciech persönlich kannte und liebte, dazumal im Krieg mit dem polnischen Monarchen, schloß absichtlich Frieden, um den Leichnam des alten Freundes besuchen zu können. Mit zahlreichem und glänzendem Gefolge in Posen angelangt, ging er von dort barfuß bis nach Gnesen. Von Boleslau prachtvoll empfangen, nahm er die kaiserliche Krone von seinem Haupt, und sie diesem aufsetzend, rief er ihn zum König aus.191 Bis dahin hatten die polnischen Herrscher nur den fürstlichen Titel getragen, von nun an beginnt die christliche Geschichte des Königreichs Polen. Zugleich mit dem Königstitel erteilte der Kaiser dem Boleslau große politische und religiöse Vorrechte, er gab ihm die volle Gewalt, Bischöfe einzusetzen und die Angelegenheiten der Verwaltung der Kirche in seinem Lande selbst zu ordnen, was die Päpste kaum den Kaisern allein zu tun bewilligten. So wurde der Mittelpunkt des polnischen Reiches, der früher außerhalb der Grenzen in Deutschland, in Magdeburg gewesen, in das Innere des Landes hinübergetragen. Polen hatte mithin schon eine politische Hauptstadt, denn es besaß die religiöse, und zu jener Zeit war die religiöse Residenz zugleich der Mittelpunkt der politischen Einheit. Der Heilige Wojciech hat Polen die Krone gebracht und gezeigt, wohin es eigentlich das Schwert der Eroberung wenden müßte, außerdem hat er ihm ein poetisches Denkmal192 bis auf den heutigen Tag hinterlassen. Weder die Polen noch die Tschechen haben ein älteres, dessen Verfasser kundig wäre. Es ist dies eine Kriegshymne von ihm gedichtet, welche die Polen bis in das 16. Jahrhundert vor jeder Schlacht zu singen gewohnt waren, d.h. bis zu der Zeit, wo Polen zu erobern aufhörte. Einige Verse dieses berühmten Gesanges, der so häufig erwähnt und von den polnischen Historiographen wiederholt ist, wollen wir hier anführen. 191 Vgl. dazu den Sammelband: Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“. Hrsg. Michael Borgolte und Benjamin Scheller. Berlin 2002. 192 Mickiewicz schreibt hier – wie J.U. Niemcewicz – das Lied „Bogurodzica“ (Gottesmutter) irrtümlich dem Heiligen Wojciech (Adalbert) zu. Vgl. dazu J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Rok pierwszy, op. cit., S. 660–661).

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Gewiß wird es wunderlich erscheinen, in ihm nichts Ähnliches mit den heutigen Kriegsgesängen zu erblicken, eigentlich klingt er mehr wie eine einfache und fromme Bitte an die Allerheiligste Jungfrau. Hier ist der Anfang davon: Bogarodzica, dziewica, Bogiem sławiena Maryja, U twego syna, Gospodzina, matko zwolona Maryja! Zyszczy nam, spuści nam. Kiryielejson. Twego syna Krciciela zbozny czas, Usłysz głosy, napełni myśli człowiecze.

O! Mutter Gottes! Jungfrau! von Gott erwählte / Maria, bei deinem Sohne dem Heilande / Du geliebte Mutter / Maria! gewähre uns, gib uns / Kyrie-Eleison / deines Sohnes / Des Täufers heiliges Reich. / Erhöre die Stimmen, erfülle der Menschen Gedanken:

Etwas weiter sagt er: Adamie, ty boży kmieciu, Ty siedzisz u Boga w wiecu.

O! Adam du Gottes Kmiez Du sitzest bei Gott im Rat.

Eine Vergleichung, die aus der alten geselligen Ordnung der Slaven entnommen ist: Domieść nas, swe dzieci, gdzie królują Anieli. Tam radość, tam miłość, tam widzenie Twórca Anielskie, bez końca: Tam się nam zjawiło diable potępienie, Ni srebrem, ni złotem nas z piekła odkupił, Mocą swą zastąpił. Dla ciebie, człowiecze, dał Bóg przekłuć sobie Bok, ręce, nodze obie.…

Bringe du uns deine Kinder da, wo Engel herrschen. / Da ist Freude, da ist Liebe, da sieht man / Ohne Ende das Schaffen der Engel: / Hier hat sich uns des Teufels Spuk gezeigt. /Er hat uns weder mit Silber noch Gold erlöst, / zeigte seine Macht. / Für dich, o Mensch, hat er seine Hüfte, Hände und Füsse durchbohren lassen …

Endlich schließt er das Lied mit der Vorbereitung zum Tod und mit Gebet: Już nam czas, godzina, grzechów się kajaci, Bogu chwałę daci, Ze wszymi siłami Bogu miłowaci. […] Tegoż nam domieści, Jezu Chryste miły, Byśmy z Tobą byli, Gdzie się nam radują już niebieskie siły. Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, tako Bóg daj,

Schon nahet uns die Zeit und Stunde für die Abrechnung der Sünden, / Geben wir Gott die Ehre, / Lieben wir aus allen Kräften Gott. […] Dazu verhelfe uns, du lieber Jesu Christ, Daß wir mit dir sein, Wo sich unser freuen werden die Chöre der Engel.

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Teil I Byśmy wszyscy poszli w Raj Gdzie królują Anieli.193

Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, so gebe es Gott, Daß wir alle ins Paradies kommen, Wo die Engel Könige sind.

Die Sehnsucht nach dem Tod leuchtet schon in diesen Worten des Märtyrers durch, der mit seinem Blut den Boden der heidnischen Nachbarn Polens benetzte. Die polnischen Könige konnten jedoch nicht begreifen, was ihnen der Apostelstab anwies. Es gingen Apostel nach Preußen, nach Litauen und Pommern, und die Könige trachteten stets, die Länder der Rus’ und Tschechien zu erobern, die schon getauft waren, oder sie mischten sich in die Angelegenheiten des deutschen Kaiserreichs. Die Eroberungen Boleslaus des Großen, wenngleich noch so glänzend, blieben nutzlos für Polen. Er besaß schon fast ganz Böhmen, einen Teil Ungarns und die ungeheure Strecke der slavischen Länder von der Oder an bis zum Dnjepr, nach seinem Tod verlor jedoch Polen diese Eroberungen; da im Gegenteil die bekehrten preußischen und litauischen Lande später sich mit Polen zu einem einzigen Volkskörper vereinten. Aus dem also, was wir von den Hemmnissen der Ausbreitung des Christentums und von dem verschiedenen Charakter ber Geistlichkeit in den neben einander liegenden Ländern gesagt haben, kann man sich leicht den Unterschied zwischen den Chronikenschreibern der Rus’ und Polens erklären. Der schon erwähnte Nestor, ein einsamer Mönch, schreibt in seiner Klause die Vorfälle ohne irgendein Streben und einen politischen Gedanken, ohne Ziel und Plan auf. Nachdem er sein Buch „Povest’ vremennych let“ (Erzählung der vergangenen Jahre) benannt hat, bemüht er sich in demselben die schwindenden Überlieferungen zu bewahren. Sogar in Betreff der Form, ist er ungebildet, trocken und dunkel; die Abschnitte folgen bei ihm nacheinander, gleichsam wie abgerissene Sätze ohne Zusammenhang zu haben. Spricht er von Klöstern, über die Mönche, die Kirche, so fehlt es ihm nicht an Stoff, er verbreitet sich über die Sache, die er gut kannte, mit Vorliebe und Lust erzählte; muß er aber etwas von einer Schlacht sagen, so erzählt er gewöhnlich nur, wie sie endete, mit Sieg oder Niederlage; er will die Taten der Monarchen nicht beurteilen, lobt sie selten, tadelt nie. Bemerken kann man jedoch, daß er die Großfürsten der Rus’ gern mächtig gesehen, denn sie sind für ihn die Personifizierung des 193 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Rok pierwszy, op. cit., S. 661) eine Fassung der „Bogurodzica“, die auf Julian Ursyn Niemcewiczs populär gewordenen „Śpiewy historyczne z muzyką i rycinami“ (Geschichtliche Gesänge mit Musik und Illustrationen), Warszawa 1816, zurückgeht, aber ungenau zitiert wird. Textvorlage von Niemcewicz vgl. [http://literat.ug.edu.pl]. Textkritische Ausgabe und Kommentierung der „Bogurodzica“ vgl.: Bogurodzica. Hrsg. Jerzy Woronczak. Wrocław 1962.

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Landes Rus’, und er sieht von der Seite der Barbaren die drohenden Gefahren vorher. Um den Stil Nestors zu zeigen, wollen wir hier eine Stelle seiner Chronik anführen. В лѣто 6559.] […] и в них же бѣ прозвутерь, именемь Ларионъ, мужь благъ, и книженъ и постникъ, и хожаше с Берестового на Дьнѣпръ, на холмъ, кде нынѣ ветхый манастырь Печерьскый, и ту молитвы творяше, бѣ бо лѣсъ ту великъ. Иськопа ту печеръку малу, 2-саженю, и приходя с Берестового, отпеваше часы и моляшеся ту Богу втайнѣ. Посем же возложи Богъ князю въ сердце, и постави его митрополитомъ святѣй Софьи, а си печерка тако ста.194 [Im Jahre 1051.] […] unter diesen war ein Presbyter mit Namen Ilarión, ein frommer und bücherkundiger Mann und ein Faster. Und er pflegte von Berestovo zum Dnepr zu gehen, zu dem Hügel, wo jetzt das alte Höhlenkloster ist, und dort sein Gebet zu verrichten; denn es war dort ein großer Wald. Und ergrub eine kleine Höhle, zwei Klafter groß, und kam von Berestovo und sang hier die Stunden und betete im Verborgenen zu Gott. Danach aber legte Gott dem Fürsten ins Herz, und er setzte ihn in der [Kirche der] heiligen Sophia als Metropoliten195 ein, diese Höhle aber blieb so [leer].196 194 Polnoe sobranie russkich letopisej. Tom pervyj: Lavrent’evskaja letopis’. Vyp.  1: Povest’ vremennych let. Izdanie vtoroe. Leningrad 1926, S. 155. 195 Zusatz in Klammern von Mickiewicz: („bis dahin nämlich wählte der Patriarch von Konstantinopel den Metropoliten“). 196 Die Nestorchronik, op. cit., S. 192. In der Płoszewski-Übersetzung (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 156–157) folgt noch im Anschluß der Absatz: „Und nach nicht vielen Tagen war ein Mensch, mit weltlichem Namen , von der Stadt Ljúbeč. Und dem legte Gott ins Herz, in ein [fremdes] Land zu gehen. Der aber strebte danach, auf den Heiligen Berg zu gehen. Und er sah die Klöster, die dort waren. Und er ging umher und gewann die mönchische Lebensweise lieb. Und er kam in ein Kloster von den dort vorhandenen Klöstern und flehte jenen Abt an, er möge ihm das Mönchgewand anlegen. Der aber erhörte ihn und schor ihn und gab ihm den Namen Antónij. Und er unterwies ihn und belehrte ihn über die mönchische Lebensweise und sagte zu ihm: Gehe zurück in die Rus’, und der Segen vom Heiligen Berge sei . : Von dir werden viele Mönchen herkommen. Und er segnete ihn und entließ ihn, indem er ihm sagte: Gehe hin mit Frieden! Antónij aber kam nach Kiev und erwog, wo er leben könne. Und er ging durch die Klöster und gewann sie nicht lieb, da Gott es nicht wollte. Und er begann, durch die Waldschluchten und über die Berge zu gehen, suchend, wo Gott es ihm zeigen würde. Und er kam auf den Hügel, wo Ilarión die kleine Höhle gegraben hatte. Und er gewann diese Stätte lieb und siedelte sich in ihr an. Und er begann, mit Tränen zu Gott zu beten, indem er sprach: Herr festige mich an dieser Stätte! Und der Segen des Heiligen Berges und meines Abtes, der mich geschoren hat, sei auf dieser Stätte. Und er begann, hier zu leben, zu Gott betend, trockenes Brot essend und auch das nur einen Tag um den anderen, und Wasser mit Maßen trinkend und an der Höhle grabend. Und er gab sich nicht Ruhe weder bei Tag noch in der Nacht und

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Weiter beschreibt der Chronikenschreiber die Gründung des Klosters und das Aufblühen der Stadt Kiev um die Höhle197 herum, welche bis auf den heutigen Tag besteht und die Leichname vieler Märtyrer in sich faßt. Kiev also verdankt seinen Ursprung den Mönchen und die religiösen Andenken an den Ort gefesselt, bewirkten, daß es die Hauptstadt der Rus’ wurde. Das Volk gewohnt, sie als den Hauptsitz der Religion zu betrachten, verlangte nach Entstehen des Großfürstentums diese Stadt mächtig und berühmt zu sehen. Ebenso wie das Grab des heiligen Wojciech eine Zeitlang Gnesen den Vorrang unter den anderen polnischen Städten gab. Jedoch die polnischen Chronikenschreiber, welche, wie Gallus am Hof ihrer Herrscher lebten und die Gefahren mit ihnen teilten, mußten notwendig sich von Nestor in der Art der Erzählung, der Form und Schreibart unterscheiden. Nestor besaß keine anderen geschichtlichen Quellen als die byzantinischen. Die griechische Literatur zur Zeit des Abfalls der östlichen Kirche von der allgemeinen sank sogar schon in der eigenen Hauptstadt. Photius, der gelehrteste Mann seiner Zeit, war auch zugleich der gelehrteste unter den Griechen. Das Volk der Rus’, von Byzantium her zum Christentum bekehrt, konnte auch nichts mehr von dort entlehnen, als jenen geringen Rest der Literatur, der sich

verblieb in Mühen, in Wachen und Gebeten. Danach aber erfuhren [das] gute Menschen, und sie gingen zu ihm und brachten ihm, was nötig war. Und er wurde bekannt, wie der große Antonios. Und die zu ihm kamen, baten ihn um seinen Segen. Dann aber, als der große Fürst Jarosláv verschieden war, übernahm sein Sohn Izjasláv die Macht und setzte sich in Kiev [auf den Thron]. Antónij aber wurde berühmt im Russischen Lande. Izasláv aber erfuhr von seiner Lebensweise und kam mit seiner Gefolgschaft und erbat von ihm Segen und Gebet. Und der große Antónij wurde beinallen bekannt und geehrt. Und es begannen die Brüder zu ihm zu kommen, und er begann, sie aufzunehmen und [zum Mönch] zu scheren. Und es sammelten sich Brüder bei ihm, an Zahl 12. Und sie gruben eine große Höhle und eine Kirche und Zellen, die bis zum heutigen Tage da sind in der Höhle unter dem alten Kloster. Da aber die Brüder sich gesammelt hatten, sagte Antónij zu ihnen: „Siehe Gott hat euch, Brüder, gesammelt, und ihr seid vom Segen des Heiligen Berges. Denn mich hat ein Abt des Heiligen Berges [zum Mönch] geschoren, und ich habe euch geschoren. Und es sei auf euch der Segen zuerst von Gott, aber zu zweit von dem Heiligen Berge.“ Und da er ihnen dieses gesagt hatte, sagte er: „Lebet aber für euch. Und ich setze euch einen Abt. Ich selbst aber will mich auf jenem Berg niederlassen, allein, wie ich es auch zuvor gewohnt war, vereinzelt zu leben.“ Er selbst ging auf den Berg und grub die Höhle aus, die unter dem neuen Kloster ist, in welcher auch sein Leben endete, nachdem er, ohne jemals aus der Höhle herauszugehen, in Tugend gelebt hatte 40 Jahre, nicht herausgehend aus der Höhle, niemals, nirgendwohin, in der auch seine Reliquien liegen bis zum heutigen Tage.“ – Nestorchronik, op. cit., S. 192–194. 197 Kiever Höhlenkloster (Kievopečerskaja Lavra) – vgl. dazu Evgenij [Bolchovitinov]: Opisanie Kievopečerskoj Lavry. Kiev 1826; auch in: Evgenij Bolchovitinov: Vybrani praci z istoriï Kyeva. Kyjïv 1995, S. 271–392.

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noch unter der Dynastie der Komnenen198 neu belebt hatte. An den Chronikenschreibern der Rus’ sieht man nicht den mindesten Einfluß der griechischen Klassiker. Im Gegenteil aber blieb das Latein in der Kirche des Westens stets lebendig und angebaut. Die polnischen und tschechischen Autoren kannten Cicero, Virgil, Juvenal und Tacitus, sie strebten aus allen diesen Werken Nutzen zu ziehen, mit der Dichtkunst, der Beredsamkeit und Geschichtskenntnis der Alten sich vertraut zu machen. Anders konnte es sogar nicht kommen. Wie konnten sie in den Zeiten voll Bewegung und großer politischen Unternehmungen die kalten griechischen Chronographen als Muster wählen, oder die römischen Geschichtsschreiber aus der Epoche des Kaisertums nachahmen? – Die Kritiker werfen ihnen mit Unrecht eine Mischung verschiedener Schreibarten vor; diese Mischung entspringt gänzlich aus der Zusammenstellung einer Gesellschaft, die aus dem Zusammenfluss verschiedener Urelemente entstand. Gallus beginnt, wie wir schon gesagt haben, beinahe alle seine Kapitel mit Poesie, dann setzt er in Prosa fort und endet mit Gebet oder einer Elegie. Sein Werk den polnischen Bischöfen, die sich seiner annahmen, widmend, spricht er also: Ni vestra auctoritate suffultus, patres pretitulati, vestraque opitulatione fretus fierem, meis viribus in vanum tanti ponderis onus subirem, et cum fragile cymba periculose tantam equoris immensitatem introirem. Sed secures nauta poterit in navicula residens per undas sevientis freti navigare, qui nauclerum habet peritum, qui scit eam certam ventorum et syderum moderamine gubernare. Nec maluissem quoquomodo taute caribdis naufragium evitare […]. Nec dubitabo lippis luminibus viam incognitam palpitare, cum cognoverim rectorum oculos predencium luce lucidius choruscare.199 Würde ich nicht durch euer Ansehen, vorgenannte Väter, gestützt, und könnte ich mich nicht auf eure Mithilfe verlassen aus eignen Kräften würde ich vergeblich die Last einer solchen Bürde auf mich nehmen und unter Gefahren ein solch unermessliches Meer in einem zerbrechlichen Boot befahren. Sorglos aber wird der Seefahrer, im Schifflein sitzend, über die Wellen der tosenden Meerenge dahinsegeln können, der einen erfahrenen Lotsen hat, einen solchen, der es unter Führung der Winde und Gestirne sicher zu steuern weiß. Und ich hätte unter keinen Umständen dem Schiffbruch der so gefährlichen Charybdis entgehen können […] Und ohne Bedenken werde ich einen

198 Komnenen – Adelsdynastie im Byzantinischen Reich, aus der von 1057 bis 1059 und dann von 1081–1185 die byzantinischen Kaiser hervorgingen. 199 Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV (1824), S. 4–5.

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Teil I unbekannten Weg mit Triefaugen zitternd betreten, wenn ich weiß, daß die Augen die voranschreitenden Wegführer heller leuchten als das Licht.200

Man hat an den Schriftstellern des Mittelalters bemerkt, daß der lateinische Stil alles in ihnen unterdrückte, was sie Eigenes, Volkstümliches besaßen, und daß immer nur die Muttersprache Volksgefühle ausdrückt. Diesen Vorwurf darf man Gallus nicht machen; häufig verdreht er das Latein, legt ihm sogar Zwang an, um dasjenige in ihm wiedergeben zu können, was er Slavisches in der Seele trug oder in den Volksliedern gehört hatte. Keiner von den mittelalterlichen Schriftstellern hat eine lebhaftere Färbung der Örtlichkeiten. Sorgsam erzählt er die alten Gebräuche, führt er Personen auf die Bühne, so malt er ihr Bild aus, beschreibt die angewöhnten Gebärden, Bewegungen des Kopfes und wiederholt sogar ihre Scherze. Hinreichend ist es, irgendeine Erzählung des Gallus mit Nestors Beschreibung oder eines anderen gleichzeitigen Chronikenschreibers zu vergleichen, um seine Überlegenheit in dieser Hinsicht zu sehen. Betrachten wir z.B., wie er von dem Krieg der Polen mit den Deutschen spricht. Der Kaiser Otto [Heinrich V.] brach in Polen mit einem zahlreichen, geübten und an Mannszucht gewöhntem Heere ein. Die Polen nicht im Stande, ihm eine Hauptschlacht zu bieten, bemühten sich durch Überfälle den Feind zu quälen und zu vernichten. Gallus beschreibt vortrefflich diese zufälligen Treffen: Nam quocunque cesar se vertebat, vel ubicunque castra vel staciones faciebat, Bolezlauus quoque, quamquam posterius, incedebat, semperque vicinus stacioni cesaris persistebat. […] Non erat locus, ubi non putaretur Bolezlauus. Taliter eos assidue fatigabat, quandoque de capite, quandoque de cauda, sicut lupus, aliquos rapiebat, quandoque vero a lateribus insistebat.201 Denn wohin auch immer der Kaiser sich wandte oder auch immer er das Lager oder Wachposten aufstellte, zog auch Bolesaw bald früher, bald später einher, und immer war er dem Standquartier des Kaisers nahe. […] Es gab keinen Platz, wo man nicht Boleslaw vermutete. Auf solche Weise ließ er ihnen pausenlos keine Ruhe, wie ein Wolf packte er welche bald an der Spitze, bald am Ende, bald bedrängte er sie in den Flanken.

Gallus führt hier an dieser Stelle selbst Scherze an, die wir jedoch übergehen müssen, weiter aber spricht er wie folgt: 200 Polens Anfänge: Gallus Anonymus: Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz-Wien-Köln 1978, S. 43–44. Die deutsche Übersetzung wird nach dieser Ausgabe zitiert. 201 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 271, 273.

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Cesar vero, exemplis et operibus recognoscens, quia, frustra laborando, populum affligebat, nec divine voluntati resistere velebat, aliud secrecies cogitavit, et aliud se facturum simulavit. […] Equi moriebantur, viri vigilijs, labore, fame, cruciabantur, silve condense, paludes tenaces, musce pungentes, sagitte acute, rustici mordaces, compleri propositum non sinebant. Unde se Cracow simulans ire velle, legatos de pace Bolezlauo misit, et pecuniam, non tantam, nec tam superbe, sicut prius, quesierat, in hec verba.202 Doch der Kaiser, der an den warnenden Beispielen und Geschehnissen erkannte, daß er das Volk durch nutzloses Bemühen leiden ließ, dem göttlichen Willen aber nicht widerstehen konnte, dachte insgeheim an etwas anderes, täuschte aber vor, etwas anderes tun zu wollen. […] Pferde verendeten, die Männer litten unter Nachwachen, Anstrengung und Hunger, dichte Wälder, morastige Sümpfe, stechenden Fliegen, spitze Pfeile, bissige Landleute ließen nicht zu, daß das erfüllt wurde, was man sich vorgenommen hatte. Deshalb gab er vor, nach Krakau gehen zu wollen, er schickte Friedensunterhändler zu Boleslaw und verlangte eine Geldsumme, aber nicht in solcher Höhe und auch nicht so hochmütig, wie er früher gefordert hatte, mit folgenden Worten.

Die sittlichen Tugenden seiner Werke ist Gallus dem in Polen verbreiteten Christentum schuldig. Die Aristokratie hatte schon ihren eigentümlichen Charakter; große, edle Gestalten zeigten sich auf dem Schauplatz der Taten, zuweilen den Königen eine ernste Stirne bietend. Einer von diesen Männern mit Namen Sieciech203, den er mit Jugurtha204 vergleicht, füllt schon mit seinen Taten mehrere Abschnitte. Gallus muß schon seine Meinung über die Verhältnisse der Untertanen und Herrscher abgeben, den Charakter der Könige abwägen. Er verschweigt nicht wie Nestor ihr sittliches Verfahren, sondern er lobt oder verdammt sie je nach seinen religiösen und politischen Vorstellungen. Sein Held Bolesław ließ seinen Stiefbruder töten, der ein ewiger Störfried war, besiegt und aus dem Lande verwiesen, immer wiederkehrte und Krieg anfing. Dennoch sagt Gallus: „Quid ergo? Accusamus Zbigneum et excusamus Bolezlauum? Nequaquam!“205 („Was nun? Klagen wir Zbigniew an und entschuldigen wir Boleslaw? Keineswegs!“). Nebenbei sucht er aber die Schuld zu mildern, indem er an die Vergehen des Getöteten erinnert und hinzufügt:

202 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 277–278. 203 Sieciech (gestorben 1113), Vorname nicht übermittelt; Palatin des polnischen Herzogs Władysław Herman. 204 Vgl. Sallust: Bellum Iugurthinum – Der Krieg mit Jugurtha. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Josef Lindauer. Düsseldorf 2003. 205 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 307.

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Teil I Vidimus enim talem virum, tantum principem, tam deliciosum iuvenem, primam karinam ieiunantem, assidue cinere et cilicio humi pervolutum, lacrimosis suspirijs irrigatum […].206 Wir erleben nämlich einen solchen Mann, wie er gleich zu Beginn der Bußzeit fastete, unaufhörlich in Asche und im Bußgewand auf dem Boden hingestreckt, von tränenreichen Seufzern benetzt […].

Dann zählt er seine guten Taten auf, mit denen er das Verbrechen sühnen wollte, die Gründung von Klöstern, die Bußpilgerungen usw. Dies zeigt von einem schon dazumal sehr entfalteten sittlichen Gefühl im polnischen Volke, oder wenigstens in dem damals herrschenden Stande, in dem Stand der Ritter. Ebenso wie der Mord des Bischofs Stanisław der letzte politische Mord gewesen, so hatte auch diese Tat des Bolesław III. Schiefmund (Bolesław Krzywousty) keine Nachahmung unter seinen Nachfolgern. Und überhaupt stellt die polnische Geschichte von nun an kein Beispiel der Ermordung eines Prinzen von Geblüt durch einen König im dynastischen Interesse auf; die öffentliche Meinung war schon gebildet und entfaltet genug. Was jedoch am liebsten unser Geschichtsschreiber erzählt, das sind die Gastmähler, Jagden, Feldlager, Begebenheiten des Krieges, die königliche Großmut, der Reichtum, die Fülle von Gold und Silber, dessen es so viel gab, wie er sagt, daß man es wie Heu auf Haufen warf. Der Unterschied zwischen Gallus und Nestor wird sich noch mehr ausweisen, sobald wir sie neben die gleichzeitigen Geschichtsschreiber, neben Thietmar von Merseburg207, den berühmten deutschen Chronikenschreiber, oder neben Cosmas von Prag208 hinstellen. Thietmar hat früher gelebt als Nestor, er stammte aus einer mächtigen Familie, war der Sohn des Grafen Siegfried zu Walbeck, eines großen Herrn in Sachsen. Nachdem er Bischof zu Merseburg geworden, schrieb er Denkbücher 206 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 308. 207 Thietmar von Merseburg (975–1018). Vgl. – Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. Robert Holtzmann. Unverändeter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1935. München 1996 (= Monumenta Germaniae Historica); im Internet: [http://www.mghbibliothek.de]. Deutsche Übersetzung – Die Chronik des Thietmar von Merseburg. Nach der Übersetzung von Johann Christian Moritz Laurent, Johannes Strebitzki und Wilhelm Wattenbach. Neu übertragen und bearbeitet von Robert Holtzmann. Halle (Saale) 2007. 208 Cosmas von Prag (um 1045–1125). Vgl. – Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag (Cosmae Pragensis Chronica Boemorum). Hrsg. Bertold Bretholz und Wilhelm Weinberger Berlin 1923 [im Internet: [http://www.dmgh.de]. Deutsche Übersetzung: Cosmas von Prag: Die Chronik Böhmens. In Anlehnung an die Übertragung von Georg Grandaur neu übersetzt und eingeleitet von Franz Huf. 2 Bände. Essen 1987.

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seiner Zeit, in welchen er die tschechischen und polnischen Angelegenheiten mit umfaßte. Jedoch einem germanischen zur Begeisterung und Religiosität geneigten Stamme entsprossen, behielt er vor allem die Kirche im Auge, er ist der Geschichtsschreiber der katholischen Kirche und seines Bistums. Indessen da er äußerst unparteiisch ist, so tadelt er häufig den Kaiser, wenngleich dieser sein Schutzherr und sogar Anverwandter war; ebenso wie Gallus verzeiht er seinem Herrn, seinem Helden nie, wenn derselbe gegen das Wohl der Kirche gehandelt. Die heutigen Geschichtsschreiber verstanden nicht diese Unparteilichkeit zu würdigen, sie klagen den Thietmar an, er habe die Könige von Tschechien und Polen angeschwärzt, dem Kaiser aber sich undankbar erwiesen; im Grunde ist er jedoch weder ein Verleumder noch ein Undankbarer, sondern nur ein der Religion und Wahrheit ganz ergebener Mann. Jedes Buch seiner acht Bände enthaltenden Chronik beginnt Thiethmar mit einem Gebet, er liebt über alles gute Handlungen aufzuzeichnen, spricht selten von Schlachten und endet fast immer mit der Klage über eigene Unzulänglichkeit, bekennt seine Fehler und Vergehen, und da er nur für die Klöster schreibt, so bittet er zum Lohn um Gebete für seine Seele. In Erhabenheit der Ansichten, Kraft und Begeisterung steht er über Nestor und Gallus. Der Prager Cosmas, der Nachkomme einer polnischen in Tschechien angesiedelten Familie, nähert sich in Ton und Form Gallus; nur hat er nicht dies geschichtliche Talent, verstand seinem Werk nicht die Einheit des Begriffs und den gänzlichen Zusammenhang zu geben. Nachdem Gallus zuerst das geographische Bild entworfen, erzählt er die Kriege, setzt einige Bemerkungen über den politischen und sozialen Zustand hinzu, zur Abwechselung schiebt er einige Dichtungen hinein, beschreibt die Beratungen, und gezwungen, wiederum zu den Kämpfen zurückzukehren, erheitert er seine Erzählung mit Erwähnung der Gastmähler, der Jagden und Scherze; immer behält er die Einheit im Auge, befleißigt sich aber der Mannigfaltigkeit. Cosmas dagegen ist so ohne Ordnung wie Nestor; er gibt geradezu nur alles an, ohne irgendeine Absicht dabei zu haben; im Übrigen, da er kein Tscheche von Geburt ist, hat er auch nicht jenes Feuer der Begeisterung wie Gallus. Diese vier Chronikenschreiber sind die Muster, die sich später bei den deutschen, den tschechischen, den polnischen und den russischen Schriftstellern immerfort wiederholen. Der deutsche Chronikenschreiber ist ein Magnat, ein frommer Mann, gestrenger Richter für andere und sich selbst, ernst und gelehrt. Der tschechische ist den Wissenschaften ergeben, er brüstet sich mit den Kenntnissen und will für einen großen Gelehrten gelten. Der polnische ist vor allen übrigen Patriot, er gesteht’s von sich selbst, nicht gar zu genaue Bekanntschaft mit dem Evangelium zu haben, und er kann sich einer gewissen Freude beim

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Teil I

Beschreiben der Gewalttaten und Unbilden seiner Könige nicht enthalten, wenn diese nur für das Land von Nutzen waren. Sagt er, daß der Vater seines Helden beim Sterben den polnischen Herren befohlen habe, denjenigen seiner Söhne sich zum Könige zu wählen, der die Ehre und das Wohl des Volks am besten fördern würde, so setzt er schon die Ehre vor den Nutzen und beginnt zugleich, die Rechte eines jeden um das Zepter sich Bewerbenden abzuwägen. Dies kann man weder bei Nestor noch bei irgendeinem anderen von den Zeitgenossen sehen. Nestor als einfacher Mönch unternimmt nichts weiter als bloß die Überlieferungen der Vorfahren zu bewahren, er wiederholt sie treu und leutselig, ohne einen Gedanken oder politische Berechnung dabei zu haben. Was die verschiedenen Mundarten in den slavischen Chroniken anbelangt, so sind diese schon mit ihrem eigentümlichen Charakter bezeichnet. Die Gelehrten werfen die Frage auf, ob die Dialekte bloß die Aufeinanderfolge der Fortschritte der Sprache sind, die sich stets aus einer Mundart in die andere umwandeln muß, oder aber, ob man sie als besondere Äste eines Baums betrachten soll, die selbst sich entfaltend zu gleicher Zeit mit dem gemeinsamen Stamm wachsen? Einige behaupten diese letztere Ansicht, sie beweisen, daß mit der Geschichte einer jeden Sprache die Geschichte ihrer Dialekte entspringt, daß diese ganz an der Quelle der Sprache sichtbar sind und ihren Reichtum ausmachen. Darum hat man die griechische Sprache bewundert, weil sie drei Mundarten erzeugte. Jedoch vielen neueren Gelehrten zufolge, steht der Sprache notwendig eine Reihe verschiedener Umänderungen bevor, und sogar schon im Voraus kann man sagen, sie wird eine solche und solche Mundart bekommen, mit diesem und jenem abgeschlossenen Charakter. Die slavische Sprachlehre überzeugt uns jedoch, daß sie von ältester Zeit her in eine Mundartengruppe geteilt gewesen, die weder zusammenfließen noch sich vermischen können. Es gibt Altertumsforscher, welche die Vermutung aufstellen, daß die slavische Sprache zuvörderst in die tschechische sich umwandelte und später zur polnischen sich ausbildete, und diese müsse der Reihe nach eine andere Gestalt annehmen. Gegen diese Meinung zeugen die Denkmäler, die Prager Pergamente, das Lied209 des heiligen Wojciech (Adalbert) und die Nestor-Chronik. Die Mundarten haben hier ihre ganz ausgeprägte Form, sie zeigen sich als fähig zur fernem Entwicklung, nicht aber zur gänzlichen Umwandlung. Freilich kann der gegenseitige Einfluß der zu einem Stamm gehörigen, verbrüderten Sprachen dieselben modifizieren; die tschechische scheint in dem Hymnus „Bogurodzica“ durch, die polnische in den neueren Dichtungen der Serben, die serbische läßt sich in der altertümlichen 209 Gemeint ist das Lied „Bogurodzica“, das irrtümlich dem heiligen Wojciech zugeschrieben wird.

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Literatur der Rus’ entdecken, immer jedoch ist der Hauptcharakter der Schriften in jedweder dieser Sprachen selbstständig und abgeschlossen. Man kann sagen, daß die ganze slavische Sprache sich jetzt nicht in Mundarten teilt, sondern in Sprachen; sie ist wahrscheinlich die einzige Sprache, welche mehrere in sich faßt. Was gibt’s also für einen Unterschied zwischen Mundart und Sprache? In Frankreich hat man die Definition der Mundart gemacht, daß sie die Sprache einer Provinz oder einer Stadt, oder daß sie nicht die Sprache des Reichs sei, seine ganze Geschichte nicht vergegenwärtigen und auch nicht allen geistigen Bedürfnissen Genüge leisten könne. Diese Definition umfaßt eine bei weitem wesentlichere Bedingung nicht. Die Sprache muß notwendig das Erbteil der vorhergegangenen Zivilisation aufgenommen haben und fähig sein, die zukünftige sich anzueignen. Warum sind einige sehr entfaltete, reichhaltige Mundarten verschwunden oder im Verschwinden? Wohl nur darum, weil sie erstarrten. So sind z.B.  in  Frankreich die südlichen Dialekte, die viel reichhaltiger in der Ausdrucksweise, wohltönender und lieblicher ausfallen, zur Umgangssprache zurückgesunken, weil sie die Zivilisation des Altertums in sich nicht aufgefaßt, weil sie den Einfluß des Latein von sich gewiesen haben: indem sie hierdurch die Unverletzlichkeit ihrer Überlieferungen zu bewahren hofften, erstarrten sie durch ihre willkürliche Entfernung von dem Lauf der Geschichte und sind zum Tode verurteilt. Da im Gegenteil die nördliche Mundart, durchgearbeitet von der scholastischen Philosophie, und später durchgebildet durch die Nachahmung des Lateins, jetzt nicht nur die französische Zivilisation vorstellt, sondern zugleich alles, was in die Sprache von der lateinischen eingedrungen ist. Derselben Ursache wegen konnte der alte slavische Dialekt, unrichtigerweise als das Slavische schlechthin, d.h. das Kirchenslavische, bezeichnet wird, nicht die Zeit der ersten Übersetzung der heiligen Schrift und einiger liturgischen Bücher überleben, weil er dem fernem Fortschritt des Christentums nicht folgte, weil er unfähig, die werdenden Bedürfnisse inmitten der slavischen Völker auszudrücken, durchaus nur von der Vergangenheit sprechen mußte, und aus der lebenden Gesellschaft der Slaven verstoßen wurde. Unter den drei großen Sprachen, die heute die slavische umfassen, hat die russische nur die byzantinische Literatur beerbt, und wäre schon längst verdorrt, hätte sie sich nicht im späteren Verlauf an die neuere Zivilisation festgeklammert, hätte sie nicht zuerst das Polnische nachgeahmt und dann aus dem Lateinischen210 einen neuen Quell geschöpft. 210 Zu ergänzen wäre noch das Französische, das im 18. Jahrhundert auf die russische Gesellschaft und auf die russische Literatur stark einwirkt; vgl. Pavel  N.  Berkov:

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Teil I

Die tschechische Literatur hat sich durch den Einfluß der deutschen ersticken lassen; sie verstand es nicht, wie schon gesagt, sich das fremde Element anzueignen, und sie entfremdete sich selbst ihrem Volkstum. Die polnische Literatur, wenngleich weniger urtümlich als andere, wie z.B. die serbische, erwuchs dennoch am mächtigsten und weitesten. Da sie der lateinischen Überschwemmung nicht erlag, dann die französische Literatur sich aneignete, öfters die deutsche nachahmte, verlor sie nicht im Mindesten ihren wesentlichen Charakter.

Literarische Wechselbeziehungen zwischen Russland und Westeuropa im 18. Jahrhundert. Berlin 1968; ferner – Russko-evropejskie literaturnye svjazi. Ėnciklopedičeskij slovar’. Sankt-Peterburg 2008, S. 236–240 mit weiterführender Literatur.

14. Vorlesung (12. Februar 1841) Zur Geschichte der Westslaven zwischen Oder und Elbe; ihr Untergang – Otto von Bamberg und seine Mission in Pommern – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ (Slovo o polku Igoreve) – Bojan

Wir haben die ältesten Denkmäler, der von einigen Autoren wendischen oder sorbischen, von uns aber polnischen oder polnisch-tschechischen benannten Sprache, welche alle Mundarten der nördlichen und nordwestlichen slavischen Völker umfaßt, betrachtet. Diese bis jetzt in Polen und in Tschechien übliche Sprache hat ungeheure Verluste erlitten; denn die zahlreichen slavischen Stämme, welche im ganzen Westen sie geredet haben, sind verschwunden, ohne schriftliche Denkmäler zu hinterlassen, und heute bemühen sich die Polen und Tschechen, ihre Erben im Gebiete der Literatur, ihre Geschichte wieder aufzubauen, um wenigstens so vielen hingestorbenen und in der Vergessenheit begrabenen Völkern ein Grabmal zu errichten. Wir haben schon angedeutet, daß die Slaven in sehr alten Zeiten den Westen Europas bewohnten. Ohne uns, was die Sache der Altertumsforscher ist, in die Ergründung ihrer Urgeschichte einzulassen, werden wir jedoch einige Worte über die dem Mittelalter nähere Geschichte sagen. Ihr historischer Faden beginnt, schon an Denkmäler geknüpft, mit dem 8. Jahrhundert. Gelehrte Polen und Tschechen haben Diplome, Schenkungsurkunden, Privilegien, Briefe von Bischöfen, Fürsten, Königen und Kaisern entdeckt und erklärt, welche nicht nur die Existenz slavischer Kolonien im Westen bekräftigen, sondern auch ihr Verhältnis zu dem germanischen Stamme, welcher von allen Seiten diese kleinen Völker umgab und vernichtete, zu erkennen geben. Und so fragte im Jahre 751 der Bischof Bonifatius211 den Papst, ob es erlaubt sei, von den in der Mitte Deutschlands ansässigen slavischen Völkerschaften Abgaben zu fordern.212 Wir finden eine Spur ihres Daseins in Holland und sogar in England, wo die slavischen Benennungen Wilzenburg, Walzburg und Valzborg (Stadt der Weleten, Wilken oder Milzen) im Mittelalter sehr verbreitet, sich bis jetzt noch an vielen Stellen erhalten haben. Wir begegnen desgleichen diesem Laut in den Namen: Wiltun, Wiltsäten oder Wilts heut zu Tage Wiltshire, und vieler anderen englischen Städte. Übrigens ist das Vorhandensein der slavischen

211 Bonifatius (um 673–755), Missionar und Bischof von Mainz und Utrecht; vgl. Heinrich Wagner: Bonifatiusstudien. Würzburg 2003. 212 Vgl. dazu Jerzy Strzelczyk: Szkice średniowieczne. Poznań 1987, S. 267–268.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_015

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Weleten unter dem Namen der Wiltunisci213 in England durch die damaligen Chronikenschreiber begründet. Aber in allen diesen Ländern haben die Slaven keine politische Existenz genossen. Jedoch im Norden zwischen der Elbe und Oder, nach der Auswanderung der germanischen Stämme der Goten, Wandalen, Burgunder, Lepider, Scyren, Heruler, Turzilinger und anderer, haben die slavischen Völker einigermaßen Unabhängigkeit errungen, hatten wenigstens keine Fremden in ihrer Mitte. Die kriegerischen Goten, Vandalen und Scyrer strebten niemals sich in diesem Lande festzusetzen; vom germanischen Stamm banden sich allein die Saxonen oder Sachsen an den Boden, begannen Ackerbau zu treiben und wurden hier furchtbare Nachbarn der Slaven. Auf diese Weise war der Sitz der unabhängigen slavischen Völkerschaften, von denen wir zu reden vorhaben, zwischen der Mündung der Elbe und Oder, welche sie von Polen trennte, und dem tschechischen Krkonoše (Riesengebirge) eingeschlossen. Es ist ein sehr ausgedehntes Land, welches einen Teil von Sachsen, die alte Markgrafschaft Brandenburg, das Herzogtum Mecklenburg, das Gebiet der freien Städte Hamburg und Lübeck, dabei viele kleine deutsche Herzogtümer einnimmt. In diesem Land waren verschiedene kleine slavische Stämme, unter den Namen der Lutizen oder Weleten, der Milzen auch Wilzen, der Bodrizen oder Obotriten (Abotriten), der Milzaner oder Milzer, der Serben, Lusizer usw. bekannt.214 In der Tat aber hießen sie Weliki, d.h. die Großen oder Wilki, d.h. die Furchtbaren, die Kühnen. Alle trugen kriegerische Namen, unter denen sie am meisten im Mittelalter bekannt waren. In eine Unmasse getrennter Kolonien geteilt, hatten sie den Hauptsitz ihrer Macht und Regierung zwischen der Elbe und Oder. Die Abotriten waren in Mecklenburg 213 Mickiewicz stützt sich hier auf die Ausführungen von P.J. Schaffarik: „Dagegen werden die Weleten in den Niederlanden schon früher bei Venantius Fortunatus, falls meine Erklärung seiner Worte stichhaltig ist, und bei Beda genannt. Wahrscheinlich haben sich damals auch die einzelnen Geschlechter von Weleten nach England übergesiedelt, wo später die Stadt Wiltun, die Landschaft Wiltsäten oder Wilts (jetzt Wiltshire) und die Wiltunisci genannt werden. Beide, die niederländischen und die englischen Weleten, sind wenig bekannt, da sie sehr bald unserem Gesichtskreis entschwunden.“ – P.J. Schaffarik: Slawische Altertümer, op. cit., Bd. II, S. 552–553; dort auch die Quellenangaben zu Beda Venerabilis, Venantius Fortunatus und Johann Martin Lappenberg (Geschichte von England. Hamburg 1834, Bd. I, S. 122, 243). 214 Vgl. dazu – Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Hrsg. Joachim Herrmann. Berlin 1985; Sebastian Brather, Christian Lübke: Lutizen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 19. Berlin-New York, S. 51–56; Wolfgang H. Fritze: Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung und ihrer Entwicklung vom Stammesstaat zum Herrschaftsstaat. In: Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder. Hrsg. Herbert Ludat. Gießen 1960, S. 141–219.

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ansässig; die Lusizer bewohnten die heutige Lausitz und die sächsischen Lande. Jede dieser Völkerschaften zerfiel in Stämme, deren Aufzählung heute unmöglich ist, denn außer den Völkernamen führten sie Kriegsbeinamen von Tieren, Falken, Krähen, Raben usw., und deshalb erscheinen unter ihnen Wilken, Wraner, Rarożaner von Rarog – der Habicht usw.215 Diese tapferen und kriegerischen Völker, nach der Entfernung der Goten, Heruler und anderer Fremdlinge unabhängig geworden, zogen die Aufmerksamkeit der fränkischen Könige und Kaiser auf sich. Pipin der Kurze rief den zahlreichen Stamm der Abotriten zu Hilfe, und diese sandten 100 000 Krieger gegen die Sachsen. Nachher bemühte sich Karl der Große, um den ganzen Norden zu beherrschen, auch die slavischen Länder, die ihn von Polen trennten, unter sein Zepter zu bringen. Jedoch waren die Versuche Karls des Großen besonders gegen die Tschechen und die sächsischen Besitzungen gerichtet; er schloß demnach mit den Häuptlingen der Abotriten ein Bündnis, von denen einer, Namens Drasco216, ihm 60–80 000 bewaffnete Krieger als Hilfstruppen zur Eroberung von Sachsen brachte. Alle diese Einzelheiten sind wenig bekannt. Das Andenken dieser Kämpfe ist in den damaligen Denkmälern aufbewahrt, aber im Allgemeinen haben sich die Schriftsteller des Westens wenig mit diesen Völkern abgegeben. Gewiß ist aber, daß sie in den Riesenkämpfen Karls des Großen mit den Sachsen durch ihre Angriffe von der Elbe her beträchtlich mitgewirkt haben. Karl der Große hat selbst den Drasco mit einiger unabhängigen Gewalt zur Belohnung seiner Dienste ausgestattet.217 Die Ursache des Unglücks dieser Völker war die innere Uneinigkeit und politische Unmündigkeit, wie es die Schriftsteller Griechenlands, das mit den Slaven im Osten grenzte, und die gotischen und fränkischen Chronikenschreiber218, ihre westlichen Nachbarn, bezeugen. Jene kleinen Stämme, gezwungen gleich allen übrigen slavischen zum Kampf gegen zivilisiertere und besser 215 Vgl. dazu Karol Potkański: Lechici, Polanie, Polska. Wybór pism. Warszawa 1965, S. 136. 216 Drasco [Drażko, Thrasuco, Thrasucho, Thrasico, Drosuc, Drogo] (vor 789–810) – Heerführer und König („Samtherrscher“) der Abodriten; vgl. Bernhard Friedmann: Untersuchungen zur Geschichte des abodritischen Fürstentums bis zum Ende des 10. Jahrhunderts. Berlin 1986. 217 Im Jahre  804 Ernennung zum rex Abotritorum durch Karl den Großen; vgl. Richard Wagner: Das Bündnis Karls des Großen mit den Abodriten In: Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 63 (1898), S. 89–129. 218 Vgl. Jordanes: Die Gotengeschichte. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Lenelotte Möller. Wiesbaden 2012; Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 6: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi. Hrsg. Georg Heinrich Pertz. Hannover 1826.

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konstituierte Völker, halten ihre Häuptlinge, diese traten aber an die Spitze und verschwanden wieder einer nach dem anderen, ohne irgendeinen Keim einer politischen Organisation zu hinterlassen, und dabei stritten und haderten sie noch beständig unter einander. Deshalb sagt ein griechischer Kaiser219 im Testament, wo er seinem Sohn Rat erteilt, wie er auftreten soll, daß die Slaven immer von vielen Häuptlingen beherrscht, am leichtesten zu unterjochen seien, und daß es dazu schon hinreiche, den Samen der Zwietracht unter diese Häuptlinge zu streuen. Die westlichen Kaiser befolgten dieselbe Politik. Die Abodriten führten ununterbrochen Krieg mit den Lusizern, sobald nur die Deutschen sie einen Augenblick in Frieden ließen, benutzten sie dies sogleich, um sich gegenseitig zu raufen und zu vernichten. Ludwig der Deutsche und Ludwig der Fromme220 mischten sich oft in ihre Angelegenheiten und schlichteten ihre Streitigkeiten. Sie belohnten auch oft die Häuptlinge, und die von den Fremden verliehenen Titel standen in großem Ansehen bei den slavischen Völkern. Jene hier mit einigen Worten geschilderten Kämpfe und Kriege dauerten 200 Jahre. Oftmals begegneten sich Heere von 50 bis 60 000 Mann. Jedes von ihnen errang herrliche Siege und erlitt furchtbare Niederlagen. Aber unterdessen dehnte sich das deutsche Kaiserreich fortwährend allmählich nach Norden aus, besonders seit der Thronbesteigung der sächsischen Familie mit Heinrich I.221 Seit der Zeit konnten die slavischen Länder dem Andrang der Deutschen nicht mehr widerstehen: denn die fränkischen Kaiser zu sehr von jenen Gegenden entfernt, und ohne Hoffnung, sie auf immer mit ihrem Reich verbinden zu können, wirken auf den Norden meist nur durch politischen Einfluß; die sächsischen Kaiser aber gezwungen, im Interesse ihres Hauses sich mit den Angelegenheiten des Nordens zu beschäftigen, benutzten jede Gelegenheit, um neue Festungen zu errichten und immer weiter ins Innere der slavischen Länder einzudringen. Heinrich I. und Otto I. der Große222, zwei gewandte Staatsmänner und Krieger, vernichteten die Unabhängigkeit vieler selbstständiger slavischer Völker, und zwangen selbst die Slaven zur Annahme 219 Maurikios (539–602), Kaiser des Oströmischen Reiches von 582–602; Stelle nicht ermittelt; vgl. Ján Bakyta: Testament des Kaisers Maurikios. In: Byzantinoslavica, 68 (2010), S. 86–100. 220 Ludwig der Fromme (778–840); vgl. Egon Goshof: Ludwig der Fromme. Darmstadt 2005; Ludwig der Deutsche (um 806–876); vgl. Wilfried Hartmann. Ludwig der Deutsche. Darmstadt 2002. 221 Heinrich  I. (um 876–936); auch Heinrich der Vogler, der Finkler; vgl. Wolfgang Giese: Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft. Darmstadt 2008. 222 Otto  I. (912–973); vgl. Gerd Althoff: Otto  I., der Große. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19. Berlin 1999, S. 656–660.

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der christlichen Religion. Aber das Christentum verbreitete sich unter ihnen unter vielen Hindernissen und langsam, denn es kam mit den Deutschen, und brachte deutsche, feindliche und der slavischen Volkstümlichkeit verderbliche Einrichtungen mit sich. Das Christentum war damals in den Augen der Slaven nichts weiter als Deutschtum und Sklaverei. Die Fürsten, die Wojewoden und verschiedentlich anders benannten slavischen Häuptlinge wußten es wohl, daß sie keine Stütze im Volk hatten, und auf keine Weise das Eindringen der Fremden hemmen konnten; sie ließen sich also oft deshalb nur taufen, um Schutz in der Kirche oder Verbündete in den europäischen Völkern zu finden. Aber das Volk wollte nicht einmal etwas vom Christentum hören und mordete oft seine Häuptlinge, die sich bekehrt hatten. So befanden sich also jene unglücklichen Herrscher in einer mißlichen Lage, einerseits zwischen der Zivilisation und der unaufhaltbaren Macht des Christentums, und andererseits zwischen der Barbarei und der störrigen Hartnäckigkeit. Jeden Augenblick erschienen in diesen slavischen Ländern zwiefache Herren: neben dem christlichen Fürsten erhob sich ein heidnischer Führer, und wenn nichts mit den Deutschen zu schaffen war, so verdrängten sie sich gegenseitig. Um den Anfang des 11. Jahrhunderts ließ sich einer der mächtigsten Häuptlinge, der Anführer der Abodriten223 taufen, nahm den Titel eines Herzogs an und schuf ein unabhängiges Herzogtum; bald aber wurde er durch einen heidnischen Fürsten verdrängt. Mitten unter diesen schrecklichen Kriegen drangen die Deutschen immer weiter ein, bauten eine Festung nach der anderen und errichteten Bistümer. So errichtete Ludwig der Fromme das Erzbistum Hamburg, später aber gründete Otto  I.  die  Erzbistümer in Magdeburg und Merseburg. Die damaligen Erzbischöfe nahmen ihren Sitz gewöhnlich allein, oder in Begleitung weniger Getreuen ein; es waren dies Erzbischöfe in partibus, und oft vergingen hundert Jahre, ehe ihre Nachfolger von diesen Stellen wirklichen Besitz nahmen. Aber so groß war damals der Glaube, so mächtig die Begeisterung für das vorwärts dringende Christentum, daß man niemals an der künftigen Feststellung dieser Erzbistümer zweifelte, welche nur in Gedanken in noch zu erobernden Ländern abgegrenzt waren, wo sie am Ende in der Tat ihre Grenzen und die Erfüllung aller ihrer Hoffnungen fanden. Das Bistum Hamburg, zu wiederholten Malen zerstört und verbrannt, erhielt sich dennoch, und das Magdeburger wurde später ein Herd und Hauptsitz für die slavischen Länder, bis zur Errichtung des Erzbistums Gnesen, welches Hauptstadt von Polen wurde.

223 Godescalcus – Gottschalk der Wende (um 1000–1066), Godescalcus; abodritischer Fürst und Märtyrer.

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In das Ende des 11. Jahrhunderts fällt der letzte große Kampf zwischen den polabischen Slaven und den Deutschen. Die Abodriten hatten damals zwei Häuptlinge, einen Christen und einen Heiden. Der erste suchte Schutz bei den Deutschen, der zweite rief die Dänen zur Hilfe. Einige Zeit hindurch behielt der heidnische Anführer die Oberhand und wurde zum König aller dortigen slavischen Länder ausgerufen. Er hieß Cruto224, und die Hauptstadt seines Landes errichtete er auf der Insel Rana, Rügen. Seine Herrschaft dehnte sich bis zur Oder aus, und selbst einige pommersche Städte bis an die Weichsel erkannten seine Gewalt an. Aber bald verdrängte den alten König Cruto sein Nebenbuhler, Heinrich von Alt-Lübeck225, der Sohn von Gottschalk, welcher mit deutscher Hilfe ihm zuerst einige Gebiete entriß, dann, nachdem er sein junges Weib, die Fürstin Slavina, verführt, ihn selbst ermordete226 und sich des ganzen Reichs bemächtigte. Die Söhne Crutos gingen alle in gegenseitigen Kämpfen zu Grunde, und so erlosch dies Geschlecht, das eine Zeitlang glänzend an der Spitze gestanden. Einer von Gottschalks Söhnen in Lübeck zum Herrscher erhoben, nahm den allgemeinen Titel eines Königs der Slaven an, denn die Milzener, Abodriten und Lusizer wollten aus gegenseitigem Hass nicht, daß er sich König der einen oder der andern nenne. Jedoch dauerte auch dieses slavische Königreich nicht lange. Die letzten zwei Könige waren Przybysław (Pribislav) und Niklot.227 Im Kriege gegen die Deutschen führten sie die Heere der Heiden und fielen unter der Übermacht des Markgrafen von Brandenburg. Niklot ist gefallen und Przybysław wurde Christ. Dieser nahm den Titel eines sächsischen Fürsten an und ist der Ahne des mecklenburgischen Hauses, der einzigen Familie von rein slavischem Blute, die bis jetzt herrscht. In dieser Zeit, im 12. Jahrhundert, haben drei Herrscher: Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen, Albrecht der Bär, Herzog von Magdeburg und Bolesław Schiefmund (Krzywousty), König von Polen, der Unabhängigkeit der Elbslaven 224 Auch Kruto (Lebensdaten unbekannt – 11. Jahrhundert); Mickiewicz nennt ihn „Kruk“ (Rabe). Vgl. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 32: Helmolds Slavenchronik (Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Slavorum). Hrsg. Bernhard Schmeidler. Hannover 1937 (= Monumenta Germaniae Historica), Lib I, Cap. XXV: De Crutone, S. 47 ff. Deutsche Übersetzung – Helmold von Bosau: Slawenchronik. Neu übertragen und erläutert von Volker Stoob. Darmstadt (7. Aufl.) 2008. 225 Heinrich von Alt-Lübeck (vor 1066–1127), abodritischer Fürst. 226 Vgl. Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Slavorum, op. cit., liber I, Cap. XXXXIV: De morte Crutonis, S. 66ff. 227 Przybysław [Pribislav] – (um 1070–1156), Sohn des Abodriten-Fürsten Budivoj; Niklot (1100–1160), Abodriten-Fürst, Herkunft unbekannt; vgl. Nils Rühberg: Niklot. In: Biographisches Lexikon für Mecklenburg (2001), S.  176–181; ferner – Wolfgang  H.  Fritze: Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung. In: Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder, op. cit., S. 141–219.

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den letzten Stoß gegeben. Besonders waren der Sachse, dessen Charakter durch den Beinamen Löwe wohl bezeichnet ist, und Albrecht der Bär die wütendsten Verfolger des Slaventums.228 Von allen diesen Völkern, welche 100–200 000 Kämpfer auf den Kampfplatz stellten, die durch zwei Jahrhunderte hindurch der Macht des ganzen deutschen Kaiserreichs widerstanden, bleibt jetzt kaum eine Bevölkerung von 200000 Seelen übrig, wenn diese Zahl nicht noch übertrieben ist. Die deutschen Einrichtungen verzehrten allmählich ihre nationalen Elemente, die Slaven verloren nicht nur ihren Charakter und die Sprache ihrer Vorfahren, sondern starben selbst immer mehr aus. Dieses langsame und schmerzliche Hinscheiden zog sich vom 12. bis zum 15. selbst bis zum 16. Jahrhundert. Endlich brachte die religiöse Reform der slavischen Volkstümlichkeit den Todesstoß bei; und zwar auf folgende Weise: Die katholischen Bischöfe und Priester standen oft in der Mitte zwischen Volk und Regierung. Viele Bischöfe, wie im 10. Jahrhundert Brun von Querfurt229, wie selbst Thietmar von Merseburg230, wie Otto von Bamberg231, von dem wir später sprechen wollen, verliehen den slavischen Völkern Schutz. Sie schonten selbst ihre Sprache, denn der Katholizismus, welcher eine Amtssprache hatte, nämlich das Latein, hatte keine Ursache, Feind und Verfolger der einheimischen Sprachen zu sein. Alle Reformen hingegen, alle Sekten, die ihren Ursprung in irgendeinem Volk nehmen, werden so zu sagen national, und bemühen sich nachher, ihre Nationalität zu verbreiten. Luthers Reform, in Deutschland entstanden, war gänzlich deutsch und rottete vollends die Volkstümlichkeit der von Deutschen rings umlagerten Slaven aus. Unlängst, denn es sind kaum 30 Jahre her, wollte ein protestantischer Pastor aus Lübeck mit Namen Hennig232 ein Wörterbuch der Sprache der Weleten, 228 Vgl. Hans-Otto Gaethke: Herzog Heinrich der Löwe und die Slawen nordöstlich der unteren Elbe. Frankfurt am Main u.a. 1999; Jan-Christoph Herrmann: Der Wendenkreuzzug von 1147. Frankfurt am Main u.a. 2011. 229 Brun von Querfurt (974–1009); Erzbischof und Missionar; vgl. – Brun von Querfurt. Lebenswelt, Tätigkeit, Wirkung. Hrsg. A. Sames. Querfurt 2010. 230 Thietmar von Merseburg (975–1018), Bischof von Merseburg und Geschichtsschreiber; vgl. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. von Robert Holtzmann. Berlin 1935. (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores.  6, Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series; 9); Helmut Lippelt: Thietmar von Merseburg – Reichsbischof und Chronist. Köln 1973. 231 Otto von Bamberg (1060–1136); vgl. Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte: Adalbert von Prag und Otto von Bamberg. Hrsg. Lorenz Weinrich und Jerzy Strzelczyk. Darmstadt 2005. 232 Christian Hennig von Jessen (1649–1719) erforschte das Drävnopolabische; vgl. Christian Hennig von Jessen: Vocabularium Venedicum. Nachdruck besorgt von Reinhold Olesch.

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Wilzen oder Lutizer zusammenstellen; doch es wurde ihm schwer, selbst ein kurzes Wortverzeichnis zu sammeln. Kaum redeten noch einige Greise diese Sprache, und selbst diese schämten sich derselben in Gegenwart ihrer Kinder. Von ihnen hat Hennig die Überbleibsel dieser Sprache eines ehemals berühmten Volks erhalten und aufbewahrt, welche in Vergessenheit geriet und heute, man kann es sagen, nicht mehr lebt. Dies erinnert an die traurige Erzählung eines Reisenden, welcher in Amerika Zeuge der Vernichtung eines in jenen Gegenden berühmten Stammes von Eingeborenen gewesen ist. Er sagt, daß nur ein Individuum noch einige Wörter von der Sprache dieses Stammes kannte: es war ein alter Papagei, welcher im Walde herumfliegend die ehemals gehörten Ausdrücke manchmal wiederholte. So war das Schicksal der slavischen Völker, welche im Westen vom Rhein bis zur Elbe und Oder ausgedehnt wohnten. Nur ein Teil dieses weiten Landes, das Gebiet, welches Pommern heißt, entging der allgemeinen Vernichtung, indem es durch den König von Polen Bolesław Schiefmund bekehrt wurde. Die polnischen Könige drangen oft in den Kämpfen mit dem deutschen Reich unter die Milzener und Lusitzer, konnten aber niemals ihre Herrschaft weder auf religiöser noch politischer Grundlage befestigen. Bolesław rief von allen Seiten polnische Bischöfe und Priester auf, um das Evangelium diesen Heiden zu predigen, es fand sich aber Niemand willig zu den Verdiensten des Märtyrertums. Die Bischöfe lehnten die Aufforderung ab, die Priester entschuldigten sich mit mannigfachen Hindernissen, bis endlich nach drei Jahren vergeblicher Bemühungen in Polen der König sich an einen Deutschen, den Bischof Otto von Bamberg, wenden mußte. Dieser ehrwürdige und heilige Mann begann sogleich die polnische Sprache zu lernen, und nachdem er seine Güter und sein reiches Bistum verlassen, ging er als Apostel nach Pommern. Durch die ausdauernde Arbeit vieler Jahre vermochte er belehrend und durch Gaben aller Art sowohl die Anführer als auch das Volk lockend, den christlichen Glauben in diesem Lande, wovon ein Teil bei Polen blieb, zu begründen. Der letzte Zufluchtsort des Heidentums war die Insel Rana, Rügen, der alte Sitz des Königs Cruto. Dieser hatte dort einen prächtigen Tempel des Svantovid233 erbaut, und in ihm alle Götterbilder, die bei den Slaven zu finden und Köln 1959; ferner – Ewa Rzetelska-Feleszko: Polabisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt 2002, S. 363–365. 233 Svantovit (Svętovitъ, Svantevit, Sveti Vid, Swantewit, Svetovit, Svatovit, Świętowit oder Святовит) – slavische Gottheit; zur Etymologie vgl. die Übersicht bei Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. KölnWeimar-Wien 1992, S.  60, 71–72; bei den Südslaven – Veselin Čajkanović: O vrhovnom bogu u staroj srpskoj religii. Beograd 1994; ferner – Norbert Reiter: Das Glaubensgut der Slawen im europäischen Verbund. Wiesbaden 2009.

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einige selbst aus Deutschland hergebrachte, gesammelt. Die Dänen überfielen diese Insel, bemächtigten sich ihrer, und machten dem selbstständigen Dasein der Elbvölker und besonders der Weleten oder Lusizer, d.h. der Slaven, welche zum großen Sprachstamm der Polen und Tschechen gehörten, ein Ende. Wir wollen jetzt in chronologischer Ordnung fortfahrend zum Norden des Slaventums übergehen, und von dem ältesten und bedeutendsten literarischen Denkmal reden, welches am Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckt wurde, und aus dem 12. Jahrhundert, aus der Zeit, bei der wir eben stehen geblieben, stammt. Es ist ein Gedicht eines unbekannten Verfassers, zur Ehre des Fürsten Igor’. Der Graf Musin-Puškin234 bekam es im Jahre 1795 in der nach dem Tode eines Archimandriten von Kiev angekauften Handschriftensammlung, und wußte es, wie es scheint, anfangs nicht gehörig zu schätzen, denn er veröffentlichte es erst im Jahre 1800. Fünf Jahre später übertrug der Admiral Šiškov235 dieses Denkmal in die neuere Sprache und gab die Übersetzung samt dem Text heraus. Doch legte das Publikum ebenso wie der erste Herausgeber und die Erklärer kein großes Gewicht dieser Entdeckung und den poetischen Vorzügen des Werkes bei; daher kam es, daß Niemand die Echtheit der Handschrift bezweifelte, und jetzt könnte in dieser Hinsicht nur ein unentscheidbarer Streit entstehen, denn das Original ging während des Brandes von Moskau verloren.236 Igor’ Svjatoslavič, der Fürst von Novgorod-Seversk, lebte zwischen 1151 und 1202. Das Land der Rus’ damals in eine große Anzahl getrennter Fürstentümer geteilt, fortwährend durch Bürgerkriege der Nachkommen Rjuriks zerrissen, litt viel durch die Einbrüche der nordöstlichen Nachbarvölker, namentlich der Polovcer (Kumanen), welche besonders die südlichen Länder bedrängten. Die Fürsten der Rus’ unternahmen auch manchmal Angriffskriege gegen selbige. Einer dieser Angriffe ist der Gegenstand des Gesanges oder vielmehr dieser poetischen Erzählung vom Zuge Igor’s. Der Verfasser scheint Zeitgenosse seines 234 Aleksej Ivanovič Musin-Puškin (1744–1817) – Iroičeskaja pesen’ o pochode na polovcev udel’nogo knjazja Novagoroda-Severskago Igorja Svjatoslaviča, pisannaja starinnym russkim jazykom v ischode XII stoletija s pereloženien na upotrebljaemoe nyne narečie. Moskva 1800. Reproduktion dieser Ausgabe siehe unter: [www.slovoyar.ru]; vgl. auch L. S. Dmitriev: Istorija pervogo izdanija „Slova o polku Igoreve“. Moskva-Leningrad 1960. 235 Aleksandr Semenovič Šiškov (1754–1841); vgl. A.S.  Šiškov: Primečanija na drevnee sočinenie, nazyvaemoe Iroičeskaja pesn’ o pochode polovcev ili Slovo o polku Igorevom. In: Sočinenija i perevody, izdavaemye Rossijkoju Akademiju SPb., 1805. č. 1. S. 23–234. 236 Zur „Echtheitsfrage“ vgl. die Arbeiten von: Andre Mazon, Le Slovo d’Igor. In: The Slavonic and East European Review, XXVII (1949), S. 515–535; Edward L. Keenan: Josef Dobrovský and the Origins of the „Igor’ Tale“. Cambridge (Massachusetts) 2003, der Dobrovský als Verfasser des Igor’-Liedes hält; A.A. Zimin: Slovo o polku Igereve. Sankt-Peterburg 2006; A.A. Zaliznjak: „Slovo o polku Igoreve“. Vzgljad lingvista. Мoskva 32008.

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Helden gewesen zu sein; er spricht von ihm wie von einem gegenwärtig herrschenden Fürsten. Wenn man diesen Schriftsteller mit Nestor vergleicht, so sieht man, daß er ein Laie war, der jedoch die Bibel kannte, denn er gebraucht einmal einen biblischen Ausdruck. Man kann auch an zwei oder drei Stellen die Nachahmung normannischer Dichtungen, welche auf uns gekommen sind, bemerken. Das ist alles, was wir vom Verfasser wissen: sein Leben, sein Name sind gänzlich unbekannt, die Form und den Geist der Dichtung wollen wir später betrachten; die Zusammenstellung derselben aber ist höchst einfach. Der Dichter kündigt zuerst an, daß er die Sache so besingen wolle, wie sie stattgefunden, ohne sich nach der Weise des alten Bojan Erdichtungen zu erlauben. Не лѣпо ли ны бяшетъ, братие, начяти cтарыми словесы трудныхъ повѣстий о пълку Игоревѣ, Игоря Святъславлича? Начати же ся тъй пѣсни по былинамь сего времени, а не по замышлению Бояню!237 Nicht ziemte es sich für uns, Brüder, mit alten Worten zu beginnen den mühsalvollen Bericht von der Heerfahrt Igor’s, Igor’s, des Svjatoslav-Sohnes. Nein – beginnen soll dieses Lied nach den wahren Geschehnissen dieser Zeit und nicht nach dem Erfinden Bojans.238

Der hier erwähnte alte Schriftsteller Bojan ist uns unbekannt; in diesem Denkmal allein finden wir seinen Namen, sein oft wiederholtes Lob aber zeigt, daß er bei den Slaven in hoher Gunst gestanden. Darauf folgt die Erzählung der Unternehmung selbst. Igor’ macht einen Angriff gegen die Polovcer, um die in der Rus’ verübten Untaten zu rächen. Im Einverständnis mit drei Verwandten, ohne Mitwissen der Eltern und Mächtigeren beginnt er den Zug: die vereinigte Macht bricht auf, Unglück verkündende Geistererscheinungen vermögen die Krieger nicht aufzuhalten. Die in der ersten Schlacht zerstreuten Polovcer sammeln sich wieder und umringen von allen Seiten Igor’s Schar. Die Schlacht dauert zwei Tage, endigt am dritten mit einer gänzlichen Niederlage; Igor gerät in Gefangenschaft. Da erblickt der Vater der besiegten Fürsten, damals in Kiev weilend, das unglückliche Ereignis im Traum; bricht in lange Klagelieder über das Schicksal der Rus’ aus und besingt fast die ganze Geschichte seines Hauses. Igor’ entflieht endlich aus dem Gefängnis, kehrt nach Kiev zurück und 237 Slovo o polku Igoreve. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Tom  4: XII vek. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Sankt-Peterburg 1997, S. 254. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Slovo + Seitenzahl. 238 Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 21. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Lied + Seitenzahl.

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wird mit einem Triumpfgesang bewillkommt. Hier einige Abschnitte aus dem Anfang des „Lieds von der Heerfahrt Igor’s“239: Боянъ бо вѣщий, аще кому хотяше пѣснь творити, то растѣкашется мыслию по древу, сѣрымъ вълкомъ по земли, шизымъ орломъ подъ облакы, помняшеть бо, рече, първыхъ временъ усобицѣ. Тогда пущашеть 10 соколовь на стадо лебедѣй, которыи дотечаше, та преди пѣснь пояше старому Ярославу храброму Мстиславу, иже зарѣза Редедю предъ пълкы касожьскыми, красному Романови Святъславличю. Боянъ же, братие, не 10 соколовь на стадо лебедѣй пущаше, нъ своя вѣщиа пръсты на живая струны въскладаше, они же сами княземъ славу рокотаху. Почнемъ же, братие, повѣсть сию отъ стараго Владимера до нынѣшняго Игоря, иже истягну умь крѣпостию своею и поостри сердца своего мужествомъ, наплънився ратнаго духа, наведе своя храбрыя плъкы на землю Половѣцькую за землю Руськую. […] Тогда Игорь възрѣ на свѣтлое солнце и видѣ отъ него тьмою вся своя воя прикрыты, И рече Игорь къ дружинѣ своей: „Братие и дружино! Луце жъ бы потяту быти, неже полонену быти, а всядемъ, братие, на свои бръзыя комони да позримъ синего Дону“. […] Тогда въступи Игорь князь въ златъ стремень и поѣха по чистому полю. Солнце ему тъмою путь заступаше, нощь стонущи ему грозою птичь убуди, свистъ звѣринъ въста, збися Дивъ, кличетъ връху древа, велитъ послушати земли незнаемѣ, Влъзѣ, и Поморию, и Посулию, и Сурожу, и Корсуню, и тебѣ, Тьмутороканьскый блъванъ. […] (Slovo, op. cit., S. 254–256). Denn der weise Bojan, wenn er auf jemanden ein Lied wollte dichten, dann wandelte er sich in Gedanken [zu einer Nachtigall] im Baum, zu einem grauen Wolf auf der Erde, zu einem stahlblauen Adler unter den Wolken. Denn er gedachte, so sprach er, der Fehden der ersten Zeiten; da ließ er zehn Falken steigen gegen eine Schar Schwäne: Welchen einer erjagte, der sang zuvor ein Lied auf den alten Jaroslav; auf den tapferen Mstislav, der den Rededja schlachtete vor den Heerhaufen der Kassogen, auf den schönen Roman Svjatoslavič. Nein, Brüder: Nicht zehn Falken ließ Bojan steigen gegen eine Schar Schwäne, sondern er legte seine weisen Finger auf die lebendigen Saiten; die aber rauschten von selbst den Fürsten Ruhm. Beginnen wir aber, Brüder, diesen Bericht, der anhebt beim alten Wolodimer und reicht bis zum heute lebenden Igor’, welcher den Geist schmiedete mit seiner Festigkeit und ihn schärfte mit der Mannhaftigkeit seines Herzens. Erfüllt von 239 Gustaw Siegfried vermerkt an dieser Stelle: „Es ist schon ins Deutsche übersetzt, und wir geben daher diese Übersetzung, welche jedoch unserer individuellen Ansicht gemäß im Vergleich mit der Schönheit des Originals nüchtern erscheint.“ (A. Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände, op. cit., Teil 1, S. 155). Es handelt sich um die Übersetzung von Joseph Müller – Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, des Fürsten vom sewerischen Nowgorod Igor Swätslawitsch, geschrieben in altrussischer Sprache gegen Ende des zwölften Jahrhunderts. In die deutsche Sprache treu übertragen, mit einer Vorrede und kurzen philologischen und historischen Noten begleitet von Joseph Müller, der Philosophie Doctor und ehemals Professor am Gymnasium zu Heiligenstadt. Prag 1811. In dieser Edition wurde die neue Übersetzung von Ludolf Müller vorgezogen.

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Teil I kriegerischem Mut, führte er seine tapferen Heerscharen gegen das kumanische Land für das russische Land. […] Da schaute Igor’ auf zur lichten Sonne und sah von ihr mit Dunkel bedeckt alle seine Krieger. Und es sprach Igor’ zu seiner Gefolgschaft: „Brüder und Gefolgschaft! Es ist besser, erschlagen zu sein als gefangen zu sein! So lasst uns aufsitzen, Brüder, auf unsere schnellen Rosse, auf daß wir erblicken den blauen Don!“ […] Da trat Fürst Igor’ in den goldenen Steigbügel und ritt über das freie Feld. Die Sonne vertrat ihm mit Dunkel den Weg; die Nacht, stöhnend, erweckte ihm durch Gewitter die Vögel. Tierpfiff stand auf. Diw schwang sich empor, schreit auf den Wipfel des Baumes, lässt aufhorchen das unbekannte Land: Wolga und Meeresküste und das Land an der Sula und Sruroš und Korssun und dich, Ölgötze von Tmutorokan! (Lied, op. cit., S. 22–24)

Die Erscheinung, das Phantom, das Gespenst ist hier wie der hundertstimmige Ruf, welcher die Mär vom Kampf in ferne Länder trägt, an die Volga und Sula, ans Meer, nach Surož, Korsun, nach Tmutorakan und die Polovcer (Kumanen) schreckt. А половци неготовами дорогами побѣгоша къ Дону Великому: крычатъ телѣгы полунощы, рци, лебеди роспущени. Игорь къ Дону вои ведетъ. Уже бо бѣды его пасетъ птиць по дубию […]. Длъго ночь мрькнетъ. Заря свѣтъ запала, мъгла поля покрыла, щекотъ славий успе, говоръ галичь убудися. Русичи великая поля чрьлеными щиты прегородиша, ищучи себѣ чти, а князю – славы. (Slovo, op. cit, S. 256) Und die Kumanen flohen auf unbereiteten Wegen zum großen Don. Es kreischen die Wagen um Mitternacht wie aufgescheuchte Schwäne. Igor’ führt die Krieger zum Don. Doch schon lauert auf sein Unheil Gevögel im Eichengehölz. […] Lange dämmert die Nacht. Der Morgenschein entzündete das Licht: Nebel hat die Felder bedeckt. Das Schlagen der Nachtigallen schlief ein, das Geschwätz der Dohlen erwachte. Die Russensöhne umzäunten große Felder mit ihren roten Schilden, suchend Ehre für sich und Ruhm für den Fürsten. (Lied, op. cit., S. 24)

Jetzt erst findet das erste Zusammentreffen mit dem Feinde statt. Die Kämpfer der Rus’ tragen den Sieg davon: Съ зарания въ пятъкъ потопташа поганыя плъкы половецкыя и, рассушясь стрѣлами по полю, помчаша красныя дѣвкы половецкыя, а съ ними злато, и паволокы, и драгыя оксамиты. (Slovo, op. cit., S. 256) Vom späten Morgen des Freitags an zertraten sie die heidnischen Heerhaufen der Kumanen und zerstreuten sich wie Pfeile über das Feld, griffen sich die schönen kumanischen Mädchen und mit ihnen Gold und Brokate und teuren Seidesamt. (Lied, op. cit., S. 24)

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Diese schöne Beschreibung endet mit der Schilderung, wie das tapfere Geschlecht Olegs sicher in den Steppen einschlummert, vertrauend, daß Не было онъ обидѣ порождено ни соколу, ни кречету, ни тебѣ, чръный воронъ, поганый половчине! (Slovo, op. cit., S. 256) es nicht geboren war, daß der Falke es kränke, noch der Gierfalke, noch du schwarzer Rabe, heidnischer Kumane! (Lied, op. cit., S. 25)

Dies Vertrauen jedoch war verderblich, die Anführer der Polovcer, Gzak und Končak eilen mit frischen Kräften herbei und stürmen am folgenden Tage auf Igor’s Heer los. Другаго дни велми рано кровавыя зори свѣтъ повѣдаютъ, чръныя тучя съ моря идутъ, хотятъ прикрыти 4 солнца, а въ нихъ трепещуть синии млънии. Быти грому великому, итти дождю стрѣлами съ Дону Великаго! […] (Slovo, op. cit., S. 256) Anderen Tags sehr früh verkündet blutige Morgenröte das Licht. Schwarze Wolken kommen vom Meer, wollen bedecken die vier Sonnen, und in ihnen zucken blaue Blitze: Das wird großen Donner geben! Regen von Pfeilen wird kommen vom großen Don! […] (Lied, op. sit., S. 25)

Nachdem er den Anfang des Kampfes geschildert, unterbricht der Dichter seine Erzählung und wirft einen traurigen Blick auf das Land der Rus’ und seine Vergangenheit, erwähnt die Zeiten Olegs, und klagt, daß unter seiner Regierung jene Zwietracht, welche später alles Unglück brachte, reichlich ausgesät ward. Dann kehrt er wieder zu seiner Erzählung zurück, und die traurigen Bilder der inneren Zwietracht mit der Schilderung von Igors Niederlage verbindend, sagt er: То было въ ты рати, и въ ты плъкы, а сицей рати не слышано! Съ зараниа до вечера, съ вечера до свѣта летятъ стрѣлы каленыя, гримлютъ сабли о шеломы, трещатъ копиа харалужныя въ полѣ незнаемѣ среди земли Половецкыи. Чръна земля подъ копыты костьми была посѣяна, а кровию польяна; тугою взыдоша по Руской земли! Что ми шумить, что ми звенить давечя рано предъ зорями? Игорь плъкы заворочаетъ; жаль бо ему мила брата Всеволода. Бишася день, бишася другый, третьяго дни къ полуднию падоша стязи Игоревы. Ту ся брата разлучиста на брезѣ быстрой Каялы; ту кроваваго вина не доста, ту пиръ докончаша храбрии русичи: сваты попоиша, а сами полегоша за землю Рускую. Ничить трава жалощами, а древо с тугою къ земли преклонилось. Уже бо, братие, невеселая година въстала, уже пустыни силу прикрыла. Въстала Обида въ силахъ Дажь-Божа внука, вступила дѣвою на землю

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Teil I Трояню, въсплескала лебедиными крылы на синѣмъ море у Дону, плещучи, убуди жирня времена. (Slovo, op. cit., S. 258) Das geschah in jenen Kriegen und bei jenen Heerfahrten, aber von solchem Krieg wurde nie gehört! Von der Morgenfrühe bis zum Abend, vom Abend bis zum Licht fliegen gehärtete Pfeile, dröhnen Säbel gegen Helme, krachen stählerne Lanzen im unbekannten Feld inmitten des kumanischen Landes. Schwarz die Erde unter den Hufen, mit Knochen war sie besät und mit Blut begossen, als Kummer ging’s auf im russischen Lande. „Was lärmt mir, was klingt mir am Morgen, früh, vor der Morgenröte!“ Igor’ versucht, die Heerscharen zurückzubringen; denn es war ihm leid um den lieben Bruder Vsevolod. Sie hatten sich geschlagen einen Tag, sie hatten sich geschlagen den zweiten; am dritten Tagen gegen Mittag sanken die Feldzeichen Igor’s. Da wurden die Brüder getrennt am Ufer der schnellen Kajala. Da ging der blutige Wein aus, da beendeten das Gastmahl die tapferen Russensöhne: Sie hatten den Schwägern zu trinken gegeben und sich selbst hingelegt für das russische Land. Es neigt sich das Gras in Trauer, und der Baum hat sich mit Kummer zur Erde gebeugt. Schon ist, Brüder, unfrohe Zeit aufgestanden, schon hat Einöde die Kraft bedeckt. Auf stand Kränkung unter den Kräften des DashbogEnkels, betrat als Jungfrau das Land Trojans, plätscherte mit Schwanenflügeln auf dem blauen Meere am Don; verscheuchte plätschernd die fetten Zeiten. (Lied, op. cit., S. 27–28)

Dieses Unheil in Gestalt einer Jungfrau ist eine Erscheinung, welche oft in den slavischen Dichtungen auftritt und immer schreckliche Unglücksfälle ankündigt. Einige Stellen dieses Gedichts sind sehr dunkel. Die neuesten Ausgaben240 mit neuen Erklärungen sind nicht zu uns gelangt, aber die alten Kommentare deuten viele Stellen nicht gut. Jetzt, da man Volkslieder und Volkserzählungen241 eifrig zu sammeln und zu veröffentlichen anfängt, wird man in ihnen gewiß die beste Lösung der bis jetzt unerklärten Namen und unverständlichen Ausdrücke finden. Was z.B. jenen erwähnten Bojan242 betrifft, so mutmaßte man, daß dieser Sänger einer von den Rittern, von den Kriegern eines Fürsten der Rus’ gewesen 240 Vgl. Ivan Petrovič Sacharov (1807–1863) – Slovo o polku Igoreve, Igorja, syna Svjatoslava, vnuka Ol’gova. In: I.P.  Sacharov: Pesni russkago naroda. Čast’ 5. Sankt-Peterburg 1839, S. 154–304; darin auch die Durchsicht bisheriger Forschungen. 241 Vgl. Ivan Petrovič Sacharov: Pesni russkogo naroda. Čast’ I.  Sankt-Peterburg 1838 [http://e-heritage.ru]; Skazanija russkago naroda. Tom  I.  Sankt-Peterburg 1841 [http:// bibliotekar.ru]. 242 Nach  L.S.  Dmitriev stammt der Name „Bojan“ von dem Verb „баю“ – ich spreche, und bedeutet soviel wie „Erzähler, Dichter, Redner“ („разскащик, словесник, вития“) – L.A. Dmitriev: Istorija pervogo ozdanija „Slova o polku Igoreve“. Moskva-Leningrad 1960, S.  326. Vgl. auch – Heinrich Kunstmann: Bojan und Trojan. Einige dunkle Stellen des Igorliedes in neuer Sicht. In: Die Welt der Slaven, 35 (1990), 1, S. 162–187. Zur Etymologie

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ist; denn das Wort Boj bedeutet dasselbe, was „wojna“, der Krieg, der Kampf, deshalb bezeichnet Bojan einen „bojownik“ oder „wojownik“, d.h. Krieger. Man argwöhnte später, daß jener Bojan nichts weiter als ein ersonnenes Symbol der Volkssage ist, denn der slavische Ausdruck Baj bedeutet auch eine „bajka“, d.h. ein Märchen, eine Fabel. Beim Erzählen solcher Fabeln ist es selbst slavische Sitte, diesen fantastischen Gott anzurufen. Er soll einen Bauerkittel und Schuhe aus Lindenrinde tragen. Wenn der slavische Bauer Märchen zu erzählen beginnt, so fängt er damit an, daß er nach oben und rings um sich blickend, spricht: „Baj geht auf den Balken, Baj geht auf der Wand“, und dann, als wenn er ihn wirklich sehe, fragt er ihn: „Baj oder nicht Baj?“ d.h., soll ich reden oder nicht reden? Nur dieses ist von dieser Gottheit im Andenken des Volkes geblieben, und wohl möglich, daß der Name Bojan, welcher auch Bajan ausgesprochen werden könnte, der Name dieser erdichteten Person ist, welche die slavische Volkspoesie darstellt.

von Bojan vgl. Max Vasmer: Russisches etymolgisches Wörterbuch. Heidelberg 1976. Bd. 1; „Baj“ als slavische Gottheit konnte nicht ermittelt werden.

15. Vorlesung (16. Februar 1841) Fortsetzung der Betrachtung über das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ – Poetische Qualitäten des Liedes – Der Glaube an das Übernatürliche im Volk – Vampire und Vampirismus bei den Slaven – „Div“ – Die Bulgaren; ihre Eroberungen in Serbien, Belagerung, Einnahme und Vernichtung von Konstantinopel – Die Serben und ihre Herrscher – Die Uroš-Dynastie – Das Haus Nemanja.

Nach dieser Schlacht, in welcher, wie wir gesehen, die Polovcer den Kämpfern der Rus’ eine gänzliche Niederlage beibrachten und den Fürsten Igor’ gefangen nahmen, hatte sein Vater Svjatoslav einen vorhersagenden Traum, den er seinen Bojaren erzählt, wie folgt: А Святъславь мутенъ сонъ видѣ въ Киевѣ на горахъ. «Синочи съ вечера одѣвахуть мя, – рече – чръною паполомою на кровати тисовѣ; чръпахуть ми синее вино съ трудомь смѣшено, сыпахуть ми тъщими тулы поганыхъ тльковинъ великый женчюгь на лоно, и нѣгуютъ мя. Уже дьскы безъ кнѣса в моемъ теремѣ златовръсѣмъ. Всю нощь съ вечера бусови врани възграяху у Плѣсньска на болоньи, бѣша дебрь Кисаню и не сошлю къ синему морю». Und Svjatoslav sah einen dunklen Traum in Kiew auf den Bergen. „Heute Nacht, von Abend an, hüllte man mich“ so sprach er, „in ein schwarzes Leichentuch auf dem Bette aus Eibenholz. Man schöpfte mir blauen Wein, mit Bitternis gemischt. Man schüttete mir mit den leeren Köchern der heidnischen Dolmetscher eine große Perle auf den Schoß und liebkost mich. Schon sind die Sparren ohne Firstbalken an meinem goldgedeckten Palast. Die ganze Nacht von Abend an krächzten graublaue Raben. Bei Plesensk auf der Uferwiese waren Schlangen aus der Waldschlucht, und man trug mich zum blauen Meer.“

Die Bojaren hierauf erwidernd, verkünden ihm wie folgt, das Unglück. «Уже, княже, туга умь полонила. Се бо два сокола слѣтѣста съ отня стола злата поискати града Тьмутороканя, а любо испити шеломомь Дону. Уже соколома крильца припѣшали поганыхъ саблями, а самою опуташа въ путины желѣзны. Темно бо бѣ въ 3 день: два солнца помѣркоста, оба багряная стлъпа погасоста, и въ морѣ погрузиста, и съ нима молодая мѣсяца, Олегъ и Святъславъ, тъмою ся поволокоста. На рѣцѣ на Каялѣ тьма свѣтъ покрыла: по Руской земли прострошася половци, аки пардуже гнѣздо, и великое буйство подасть Хинови. „Schon, o Fürst, hat Kummer den Geist gefangen. Denn siehe, zwei Falken sind fortgeflogen vom goldenen Thron des Vaters, zu suchen die Stadt Tmutorokan’. Schon hat man den Falken die Flügel gestützt mit den Säbeln der Heiden und sie selbst gefesselt in eiserne Fesseln. Denn dunkel war es am

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_016

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dritten Tage. Die zwei Sonnen verdunkelten sich, beide Purpursäulen erloschen, und mit ihnen hüllten sich zwei junge Monde, Oleg und Svjatoslav, in Finsternis und versanken im Meer.“ Am Kajala-Flusse hat Dunkel das Licht bedeckt. Über das russische Land hin haben die Kumanen sich ausgebreitet wie Gepardenbrut, und große Kühnheit ward den Hunnen gegeben.“

Hier beginnt der schönste Abschnitt des Gedichts, in welchem der alte Fürst alle seine Gedanken und alle seine Wünsche der Rus’ zuwendet und den verwandten Fürsten Vorwürfe macht, daß sie das Vaterland verlassen haben. Diese Stelle ist in eine jede Sprache schwer zu übersetzen: Тогда великий Святъславъ изрони злато слово, слезами смѣшено, и рече: «О, моя сыновчя, Игорю и Всеволоде! Рано еста начала Половецкую землю мечи цвѣлити, а себѣ славы искати. Нъ нечестно одолѣсте, нечестно бо кровь поганую пролиясте. Ваю храбрая сердца въ жестоцемъ харалузѣ скована, а въ буести закалена. Се ли створисте моей сребреней сѣдинѣ! А уже не вижду власти сильнаго, и богатаго, и многовоя брата моего Ярослава, съ черниговьскими былями, съ могуты, и съ татраны, и съ шельбиры, и съ топчакы, и съ ревугы, и съ ольберы. Тии бо бес щитовь, съ засапожникы, кликомъ плъкы побѣждаютъ, звонячи въ прадѣднюю славу. Нъ рекосте: „Мужаемѣся сами: преднюю славу сами похитимъ, а заднюю си сами подѣлимъ“. А чи диво ся, братие, стару помолодити? Коли соколъ въ мытехъ бываетъ, высоко птацъ възбиваетъ, не дастъ гнѣзда своего въ обиду. Нъ се зло – княже ми непособие; наниче ся годины обратиша. Се у Римъ кричатъ подъ саблями половецкыми, а Володимиръ подъ ранами. Туга и тоска сыну Глѣбову!» Da ließ der große Svjatoslv ein goldenes Wort fallen, mit Tränen vermischt, und sprach: „O meine Brudersöhne Igor und Vsevolod! Früh habt ihr begonnen, das kumanische Land mit Schwertern zu reizen und euch Ruhm zu suchen. Aber nicht ehrenhaft habt ihr überwunden, nicht ehrenhaft heidnisches Blut vergossen. Eure tapferen Herzen sind in starkem Stahl geschmiedet und in Kühnheit gehärtet. Was habt ihr da angetan meinem silbrigen Grauhaar! Und schon sehe ich nicht mehr die Macht meines Bruders Jaroslav, des starken und reichen, mit seinen vielen Kriegern, mit den Vornehmen von Černigov: mit den Moguten und mit den Tatranen und mit den Šel’biren und mit den Topčaken und mit den Revugen und mit den Ol’beren. Denn die trage keine Schilde, nur ein Messer im Stiefelschaft, und so besiegten sie mit Geschrei die Heerscharen, läutend den Ruhm ihrer Ahnen. Aber ihr sprachet: ‚Wir wollen uns ermannen, den früheren Ruhm wollen wir uns rauben, den künftigen wollen wir uns teilen.‘ Aber ist es denn ein Wunderding, Brüder, daß ein Alter jung wird? Wenn der Falke in Mausern ist, treibt er Vögel in die Höhe. Er gibt sein Nest nicht der Kränkung preis. Aber dies ist das Übel: Mir fehlt der Beistand der Fürsten.“ Zum Schlimmen haben sich die Zeiten gewandt. Siehe, in Rimov schreit man unter den Säbeln der Kumanen, und Volodimir unter seinen Wunden. Kummer und Trübsal dem Sohn des Gleb!

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Teil I

Ferner ruft Svjatoslav alle Fürsten der Rus’ der Reihe nach auf: Vsevolod den Großen, Rjurik den Starken mit seinem Bruder David, den Jaroslav von Galič, den er achtsinnig nennt, den Roman und Mstislav, und nachdem er an Igor’ gelangt ist, sagt er: Нъ уже, княже, Игорю утръпѣ солнцю свѣтъ, а древо не бологомъ листвие срони: по Роси и по Сули гради подѣлиша. А Игорева храбраго плъку не крѣсити! Aber schon schwand, o Fürst, für Igor’ der Sonne Licht, und nicht zum Heile verlor der Baum sein Laub. An der Ros’ und an der Sula hat man die Städte verteilt. Und Igor’s tapfere Heerschar kann man nicht auferwecken.

Dann die anderen zur Rache aufmunternd, zählt er sie bei Namen: Инъгварь и Всеволодъ, и вси три Мстиславичи, не худа гнѣзда шестокрилци! Не побѣдными жребии собѣ власти расхытисте! Кое ваши златыи шеломы и сулицы ляцкии и щиты? Загородите Полю ворота своими острыми стрѣлами, за землю Русскую, за раны Игоревы, буего Святъславлича! Ingvar’ und Vsevolod, und ihr, alle drei Mstislav-Söhne, Sechsflügler aus nicht geringem Nest! Nicht durch Siegelose habt ihr eure Herrschaftsgebiete euch gerissen! Wo sind eure goldenen Helme und eure polnischen Speere und eure Schilde? Versperrt der Steppe das Tor durch eure scharfen Pfeile – für das russische Land, für die Wunden Igor’s, des kühnen Svjatoslav-Sohnes.

Dieses ganze Bruchstück ist übrigens zugleich ein Lobgesang für die Nachkommen Jaroslav des Großen, und mit dem Namen eines Jeden kommen dem alten Fürsten glänzende oder traurige Erinnerungen ins Gedächtnis. So z.B. beweint er die bösen Vorfälle: Уже бо Сула не течетъ сребреными струями къ граду Переяславлю, и Двина болотомъ течетъ онымъ грознымъ полочаномъ подъ кликомъ поганыхъ. Единъ же Изяславъ, сынъ Васильковъ, позвони своими острыми мечи о шеломы литовския, притрепа славу дѣду своему Всеславу, а самъ подъ чрълеными щиты на кровавѣ травѣ притрепанъ литовскыми мечи. Исхыти юна кров, а тьи рекъ: «Дружину твою, княже, птиць крилы приодѣ, а звѣри кровь полизаша». Не бысть ту брата Брячяслава, ни другаго – Всеволода, единъ же изрони жемчюжну душу изъ храбра тѣла чресъ злато ожерелие. Уныли голоси, пониче веселие. Трубы трубятъ городеньскии. Ярославе и вси внуце Всеславли! Уже понизите стязи свои, вонзите свои мечи вережени, уже бо выскочисте изъ дѣдней славѣ. Вы бо своими крамолами начясте наводити поганыя на землю Рускую, на жизнь Всеславлю: которою бо бѣше насилие отъ земли Половецкыи!

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

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Schon fließt die Sula nicht mehr mit silbernen Wogen zur Stadt Perejaslavl’, und die Düna fließt als Sumpf jenen gewaltigen Polockern unter dem Geschrei der Heiden. Allein aber ließ Izjaslav Vasil’kos Sohn, seine scharfen Schwerter klingen gegen lithauische Helme, verdarb den Ruhm seines Ahnherrn Vseslav, er selbst aber verdarb durch lithauische Schwerter, gefallen unter roten Schilden auf blutigem Grase, wie mit der Geliebten auf dem Brautbett. Und er sprach: „Deine Gefolgschaft, o Fürst, haben die Vögel mit ihren Flügeln bedeckt, und die wilden Tiere haben das Blut geleckt.“ Nicht war da der Bruder Brjačjaslav noch der andere Vsevolod. Nein: Allein war er, als seine Perlenseele ihm aus dem tapferen Leib entwich durch den goldenen Halsschmuck. Die Städte sind verzagt, dahin sank das Frohsein, Trompetenton ertönt in Gorodno. Jaroslav, und alle anderen Vseslav-Enkel! Nun lasst schon sinken eure Feldzeichen, steckt ein eure schartigen Schwerter! Denn schon seid ihr herausgefallen aus dem Ruhm eures Ahnherrn! Denn ihr habt mit eurem Aufruf begonnen, die Heiden gegen russisches Land zu führen, gegen den Reichtum Vseslavs. Durch Zwist nämlich geschah Gewalt vom kumanischen Lande.

Endlich die Taten und den Tod Vseslav erzählend, fügt er hinzu: Тому въ Полотскѣ позвониша заутренюю рано у святыя Софеи въ колоколы, а онъ въ Киевѣ звонъ слыша. Аще и вѣща душа въ дръзѣ тѣлѣ, нъ часто бѣды страдаше. Тому вѣщей Боянъ и пръвое припѣвку, смысленый, рече: «Ни хытру, ни горазду, ни птицю горазду суда Божиа не минути!» О, стонати Руской земли, помянувше пръвую годину и пръвыхъ князей! Dem läutet man zu Polock die Morgenmesse in der Frühe in der heiligen Sophia, mit den Glocken, er aber hörte in Kiev den Klang. Hatte er auch eine weise Seele in einem verwegenen Leibe, so litt er doch oft Unglück. Über ihn sang der weise Bojan schon vor alters den Vers, der kluge, und sprach: „Weder der Listige noch der Starke noch der geschickte Zauberer kann dem Gericht Gottes entgehen.“ Oh – stöhnen muß das russische Land, denkt es der ersten Zeiten und der ersten Fürsten!

Nach dieser Elegie folgt ein anderes Klagelied, das der Dichter der Fürstin Jaroslavna und Gattin Igor’s in den Mund legt. На Дунаи Ярославнынъ гласъ слышитъ, зегзицею незнаема рано кычеть. «Полечю, – рече, – зегзицею по Дунаеви, омочю бебрянъ рукавъ въ Каялѣ рѣцѣ, утру князю кровавыя его раны на жестоцѣмъ его тѣлѣ». Ярославна рано плачетъ въ Путивлѣ на забралѣ, аркучи: «О вѣтре вѣтрило! Чему, господине, насильно вѣеши? Чему мычеши хиновьскыя стрѣлкы на своею нетрудною крилцю на моея лады вои? Мало ли ти бяшетъ горѣ подъ облакы вѣяти, лелѣючи корабли на синѣ морѣ? Чему, господине, мое веселие по ковылию развѣя?»

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Teil I Ярославна рано плачеть Путивлю городу на заборолѣ, аркучи: «О Днепре Словутицю! Ты пробилъ еси каменныя горы сквозѣ землю Половецкую. Ты лелѣялъ еси на себѣ Святославли носады до плъку Кобякова. Възлелѣй, господине, мою ладу къ мнѣ, а быхъ не слала къ нему слезъ на море рано». Ярославна рано плачетъ въ Путивлѣ на забралѣ, аркучи: «Свѣтлое и тресвѣтлое слънце! Всѣмъ тепло и красно еси! Чему, господине, простре горячюю свою лучю на ладѣ вои? Въ полѣ безводнѣ жаждею имь лучи съпря-же, тугою имъ тули затче». An der Donau ist Jaroslavnas Stimme zu vernehmen. Als Kuckuck ruft sie in der Frühe zum unbekannten Lande: „Ich will fliegen“, spricht sie, „als Kukuck die Donau entlang, will benetzen den seidenen Ärmel im Kajala-Flusse, will dem Fürsten abwischen seine blutigen Wunden an seinem starken Körper.“ Jaroslavna weint in der Frühe zu Putivil’ auf dem Wehrgang und spricht: „O Wind, lieber Wind! Warum, o Herr, wehst du so stark? Warum trägst du die kleinen hunnischen Pfeile auf deinen leichten Flügeln gegen die Krieger meines Liebsten? War es dir denn zu wenig, oben, unter den Wolken, zu wehen, die Schiffe wiegend auf blauem Meer? Warum, Herr, hast du meine Freude zerweht über das Steppengras hin?“ Jaroslavna weint in der Frühe auf dem Wehrgang der Stadt Putivil’ und spricht: „O Dnjepr Slovutič! Du hast steinerne Berge durchbrochen durch das kumanische Land. Du hast gewiegt auf dir die Schiffe Svjatoslavs bis zum Heerhaufen Kobjaks. Wiege, Herr, meinen Liebsten zu mir, so brauchte ich nicht Tränen zu ihm senden zum Meer in der Frühe.“ Jaroslavna weint in der Frühe zu Putivil’ auf dem Wehrgang und spricht: „Lichte und dreimal lichte Sonne! Allen bist du warm und schön. Warum, Herr, bist du deinen brennenden Strahl auf die Krieger meines Liebsten gesendet, hast ihnen im wasserlosen Feld durch Durst die Bogen verkrümmt, durch Kummer ihnen die Köcher verschlossen?“

Hier erst beginnt die Erzählung von Igor’s Flucht aus der Gefangenschaft, dem ein geneigter Polovcer Ovlur ein Pferd zuführt. Diese ganze Beschreibung ist sehr poetisch: Прысну море полунощи; идутъ сморци мьглами. Игореви князю Богъ путь кажетъ изъ земли Половецкой на землю Рускую, къ отню злату столу. Погасоша вечеру зари. Игорь спитъ, Игорь бдитъ, Игорь мыслию поля мѣритъ отъ Великаго Дону до Малаго Донца. Комонь въ полуночи Овлуръ свисну за рѣкою – велить князю разумѣти: князю Игорю не быть! Кликну, стукну земля, въшумѣ трава, вежи ся половецкии подвизаша. А Игорь князь поскочи горнастаемъ къ тростию, и бѣлымъ гоголемъ на воду, възвръжеся на бръзъ комонь, и скочи съ него босымъ влъкомъ, и потече къ лугу Донца, и полетѣ соколомъ подъ мьглами, избивая гуси и лебеди завтроку, и обѣду, и ужинѣ. Коли Игорь соколомъ полетѣ, тогда Влуръ влъкомъ потече, труся собою студеную росу: претръгоста бо своя бръзая комоня. Донецъ рече: «Княже Игорю! Не мало ти величия, а Кончаку нелюбия, а Руской земли веселиа!» Игорь рече: «О, Донче! Не мало ти величия, лелѣявшу князя на влънахъ, стлавшу ему зелѣну траву на своихъ сребреныхъ брезѣхъ,

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одѣвавшу его теплыми мъглами подъ сѣнию зелену древу. Стрежаше его гоголемъ на водѣ, чайцами на струяхъ, чрьнядьми на ветрѣхъ». Не тако ли, рече, рѣка Стугна: худу струя имѣя, пожръши чужи ручьи и стругы, рострена к усту, уношу князя Ростислава затвори днѣ при темнѣ березѣ. Плачется мати Ростиславля по уноши князи Ростиславѣ. Уныша цвѣты жалобою, и древо с тугою къ земли прѣклонилося. […] – на слѣду Игоревѣ ѣздитъ Гзакъ съ Кончакомъ. Тогда врани не граахуть, галици помлъкоша, сорокы не троскоташа, полозие ползоша только. Дятлове тектомъ путь къ рѣцѣ кажутъ, соловии веселыми пѣсньми свѣтъ повѣдаютъ. Млъвитъ Гзакъ Кончакови: „Аже соколъ къ гнѣзду летитъ, – соколича рострѣляевѣ своими злачеными стрѣлами». Рече Кончакъ ко Гзѣ: «Аже соколъ къ гнѣзду летитъ, а вѣ соколца опутаевѣ красною дивицею». И рече Гзакъ къ Кончакови: «Аще его опутаевѣ красною дѣвицею, ни нама будетъ сокольца, ни нама красны дѣвице, то почнутъ наю птици бити въ полѣ Половецкомъ». Hoch spritze das Meer. Gen Mitternacht ziehen Wirbelstürme in Wolken: Dem Fürsten Igor’ zeigt Gott den Weg aus dem kumanischen Lande ins russische Land, zum goldenen Thron seines Vaters. Es erlosch die Dämmerung des Abends. Igor’ schläft. Igor’ wacht. Igor’ misst in Gedanken die Felder vom großen Don bis zum kleinen Donec. Das Pferd steht um Mitternacht bereit. Ovlur pfiff jenseits des Flusses. Er heißt den Fürsten aufmerken: Fürst Igor’ soll fort sein! Er rief, die Erde erdröhnte, das Gras rauschte auf. Die Zelte der Kumanen gerieten in Bewegung. Fürst Igor’ aber sprang als Hermelin zum Schilf und als weiße Schellente aufs Wasser. Er warf sich auf sein schnelles Roß und sprang von ihm herab als grauer Wolf. Und er lief zur Wiese des Donec und flog als Falke dahin unter den Wolken, schlug sich Gänse und Schwäne zur Speise am Morgen und zu Mittag und am Abend. Wenn Igor’ als Falke flog, dann lief Ovlur als Wolf, schüttelte im Laufen den kalten Tau von den Gräsern. Dann zuschanden geritten hatten sie ihre schnellen Rosse. Der Donec sprach: „Fürst Igor’! Nicht gering ist deine Größe und Končaks Haß und des russischen Landes Freude.“ Igor’ sprach: „O Donec! Nicht gering ist deine Größe, der du den Fürsten auf den Wellen gewiegt, ihm das grüne Gras hingebreitet an deinen silbernen Ufern, mich bekleidet hast mit warmen Nebeln unter dem Schatten des grünen Baumes, der du ihn behütet hast durch die Schellente auf dem Wasser, durch die Möwen auf den Wellen, durch die Reiherenten auf den Winden.“ Nicht also, heißt es, ist der Fluß Stugna. Kärglich strömt er dahin; doch da er fremde Bäche und Gießbäche verschlungen, breitete er sich bis zum Buschwerk und hielt den jungen Fürsten Rostislav fest auf dem Grunde beim dunklen Ufer. Es weint die Mutter Rostislavs um den Jüngling, den Fürsten Rostislav. Die Blumen verzagten vor Trauer, und der Baum hat sich mit Kummer zur Erde geneigt. […] Auf Igor’s Spuren reitet Gzak mit Končak. Da krächzten nicht die Raben, die Dohlen verstummten, die Elstern schwatzten nicht, Kleiber kletterten nur. Spechte zeigen durch Klopfen den Weg zum Fluß, Nachtigallen verkünden mit fröhlichen Liedern das Licht. Es sagt Gzak zu Končak: „Wenn der Falke zum Neste fliegt, werden wir den Falkensohn mit unseren vergoldeten Pfeilen erschießen.“ Sprach Končak zu Gzak: „Wenn der Falke zum Neste fliegt, so werden wir den jungen Falken fesseln durch ein schönes Mädchen.“ Und es sprach Gzak zu Končak: „Wenn wir

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Teil I ihn fesseln durch ein schönes Mädchen, werden wir weder den jungen Falken haben noch das schöne Mädchen. Dann werden uns die Vögel schlagen in der kumanischen Steppe.“

Dieses Zwiegespräch vom jungen Falken betrifft Volodimir, Igor’s Sohn, der in den Händen der Polovcer geblieben. Er verliebte sich in die Tochter ihres Fürsten Kryczak243 [Končak], und nachdem er sich aus der Gefangenschaft befreit, nahm er sie zur Gattin und gab ihr bei der Taufe den Namen Svoboda.244 Das Gedicht endet mit der Beschreibung der Freude über die Rückkehr Igor’s; es ertönen für ihn Lieder bis an die Donau, d.h. sehr weit; er besucht den heiligen Ort in Kiev, genannt Boričev-Hügel, wo, wie man glaubte, das Bild der heiligen Mutter Gottes aus Konstantinopel durch einen gewissen Pirogost’245 gebracht, sich befand; die Ehre des Fürsten erschallt wie im Chor durchs ganze Land. Солнце свѣтится на небесѣ – Игорь князь въ Руской земли. Дѣвици поютъ на Дунаи – вьются голоси чрезъ море до Киева. Игорь ѣдетъ по Боричеву къ святѣй Богородици Пирогощей. Страны ради, гради весели. Пѣвше пѣснь старымъ княземъ, а потомъ молодымъ пѣти! Слава Игорю Святъславличю, Буй Туру Всеволоду, Владимиру Игоревичу! Здрави, князи и дружина, побарая за христьяны на поганыя плъки! Княземъ слава а дружинѣ! Аминь. (Slovo, op. cit., S. 260–266) Die Sonne leuchtet am Himmel – Fürst Igor’ im russischen Lande. Die Mädchen singen an der Donau, die Stimmen wehen übers Meer hin bis nach Kiev. Igor’ reitet den Boritschew-Hügel hinab zur heiligen Gottesmutter Pirogoschtschaja. Die Länder sind froh, die Städte fröhlich. Haben wir den alten Fürsten das Lied gesungen, so müssen wir danach den jungen singen. Ruhm 243 Den Namen Kryczak anstelle von Končak übernimmt Gustav Siegried aus der Übersetzung von Joseph Müller – Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, op. cit., S. 81 (dort Kritschak). 244 Daß die getaufte Gattin von Vladimir (Volodimir) Igorevič Svoboda hieß, ist bei Vasilij Nikitič Tatiščev (1686–1750) überliefert; vgl. V.N.  Tatiščev: Istorija Rossijskaja v semi tomach. Moskva-Leningrad 1964, tom 3, S.  283 (1. Ausgabe – Moskva 1768–1843); vgl. dazu – Ėnciklopedija „Slova o polku Igoreve“ v pjati tomach. Hrsg. O.V.  Tvorogov (L.A.  Dmitriev, D.S.  Lichačev, S.A.  Semjačko). Sankt-Peterburg 1995, tom I, Stichwort: Владимир Игоревич. 245 Die Herkunft des Namens der Ikone „Gottesmutter Pirogoščaja“ und der Kirche „Церковь Успения Богорoдицы Пирогощи“ ist nicht ganz geklärt. A.I.  Sobolevskij führt den Namen auf den Bojaren Pirogost’ zurück, der sie aus Konstantinopel gebracht haben sollte; andere Forscher sagen: „Пирогощую наиболее вероятно следует производить от греческого слова πυργωτις башенная.“ (Pirogoščaja muß man wahrscheinlich aus dem griechischen Wort πυργωτις, turmartig, ableiten) – D.S.  Lichačev: Prigoščaja v „Slove o polku Igoreve. In: D.S. Lichačev: „Slovo o polku Igoreve i kul’tura ego vremeni. Leningrad 1978, S. 281; vgl. dazu das Stichwort „Пирогощая“ in: Ėncyklopedija „Slova o polku Igoreve“, op. cit.

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Igor’, dem Svjatoslav-Sohne, dem wilden Stier Vsevolod, Volodimir, dem Sohn Igor’s! Heil den Fürsten und der Gefolgschaft, die streiten für die Christen wider die heidnischen Heerscharen! Den Fürsten Ruhm und der Gefolgschaft. (Lied, op. cit., S. 31–42)

In diesem Gedicht sehen wir etwas ganz Entgegengesetztes dem, was uns in den übrigen slavischen Dichtungen der früheren Jahrhunderte vorkommt; wir sehen hier allgemein verbreiteten Schmerz und Trauer sehr abweichend von jener heiteren Lebendigkeit, mit der die polnischen Dichter und Chronikenschreiber beseelt sind. Nicht solche Gefühle finden wir z. B bei Gallus, wenn er die Stimme erhebt zur Ehre des Königs Bolesław, Eroberers von Pommern, wenn er das Soldatenlied anführt, in welchem die Nachkommen sich ihrer Taten brüstend sagen, sie hätten die Vorfahren übertroffen, weil jene gesalzenen und schon anrüchigen Fische herbeischafften, die Söhne aber sie frisch und lebendig nehmen, weil jene auf Hirsche, Rehe und Eber gejagt, diese aber die Untiere des Meeres erbeuten: Pisces salsos et fetentes apportabant alij, Palpitanes et recentes nunc apportant filij, Civitates invadebant patres nostri primitus, Hii procellas non verentur neque maris sonitus, Agitabant patres nostri cervos, apros, capreas, Hii venantur monstra maris et opes equoreas.246 Fisch in Salz und oft schon riechend, brachten andre einst heran, / Zuckende, noch lebendfrisch bringen ihre Söhne jetzt. / Unsre Väter, sie bestürmten Städte einst in früher Zeit, / Diese fürchten nicht die Stürme und des Meeres Brausen nicht. / Unsre Väter jagten Hirschen, Rehen und dem Wildschwein nach, / Diesen Meeresungetümen und den Schätzen aus der See.247

Dieses Lied drückt Freude und Triumph aus, weil Polen dazumal groß und zur Freiheit aufwuchs, da hingegen eine traurige Ahnung sich im Land der Rus’ kundgab. Schon an Nestor ist bemerkbar, daß dies Land in die Schwäche verfiel, sich nicht regieren und seinen Fürsten den kräftigen Willen zu großen Unternehmungen nicht geben zu können. Das slavische Epos hat diese Eigentümlichkeit an sich, daß ihm, so zu sagen, das Springfederelement (machine) fehlt, welches wir in allen poetischen 246 Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S. 193. 247 Polens Anfänge – Gallus Anonymus. Chronik und Taten der Herzöge und Füsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz u.a. 1978. S. 135.

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Teil I

Schöpfungen anderer Völker finden, d.h. es fehlt ihm am Wunderbaren (le merveilleux). Die Poesie der Normannen fliegt hoch auf, immer von Wolken umgeben; ihre Helden sind immer unter dem Einfluss irgendeiner Gottheit; jeder von ihnen muß ein furchtbarer Sieger sein. Die griechischen Dichter schufen einen Himmel, gelegen auf dem Berge Olymp, und die ihm entgegenliegende Seite stellten sie unter der Gestalt der Hölle (Τάρταρος) dar. Die griechische Poesie ist menschlich. Der Mensch handelt dort aus eigenem Antrieb, er ist der Urheber seiner Taten, obwohl er sich zwischen zwei entgegensetzten Polen befindet, zwischen den Gottheiten des Himmels und den Gottheiten der Hölle. Diese zwei Pole der unsichtbaren Welt geben die Triebkraft für alle ihre Begriffe. Die Slaven entbehren dieses Element: der Gesichtskreis ihrer Dichtung, wenigstens der altertümlichen, ist zwischen der Donau, den Wohnsitzen der Litauer und der Deutschen eingeschlossen. Was in derselben besondere Aufmerksamkeit verdient, das ist die Vervollkommnung der äußeren Form, der Plastik. Die normannischen Gedichte sind in dieser Hinsicht einförmig: der Dichter bewegt sich in dem Reich der Lüfte, er drückt sich jedoch klar und bestimmt aus; der griechische Stil ist glänzend und ausgebildet; die Slaven halten die Mitte zwischen der gelehrten Freiheit der Griechen und der ernsten Einfalt der Normannen; ihre Dumy (Romanzen) und Lieder könnte man mit den lyrischen Dichtungen der Skandinavier vergleichen, welche Bahn zu betreten den neueren Deutschen noch nicht gelungen ist. Die slavische Dichtung ist leicht und einfach, sie hat weder die skandinavischen noch griechischen Maße, nähert sich vielmehr der Prosa der lateinischen Kirche, dieser so musikalischen und harmoniereichen, zuweilen gereimten, zuweilen auch maßhaltenden Prosa. Ihre Form leuchtet in den alten Hymnen248 des Heiligen Wojciech und den schönsten Andachtsliedern durch. Wir haben alles angedeutet, was eine Vorstellung von der Schönheit dieser Poesie geben kann, und welche Gefühle sie in jedem Slaven weckt; um jedoch alle ihre Vorzüge und Redeschönheit abzuschätzen, ist es nötig, die Geschichte des slavischen Volkes genau zu durchschauen, denn jeder Ausdruck dieser Dichtung findet sich später bei allen polnischen und tschechischen Dichtern wieder, man kann sogar sagen, daß jeder Vers davon als Text den neuen Dichtern gedient hat, wenngleich sie selbst nichts davon wußten. In Rußland haben wenige Schriftsteller „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ gelesen, noch wenigere über denselben nachgedacht, denn dort gerät das Altslavische in Verfall und niemand wollte in die Schönheit des Stils dieses Denkmals eindringen.

248 Gemeint ist die „Bogurodzica“, die fälschlicherweise dem heiligen Wojciech (Adalbert) zugeschrieben wird.

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Die Polen249 haben fast nie von ihm gehört. [Die Tschechen250 veröffentlichten und untersuchten das Lied], allerdings geschah dies mehr der philologischen Forschung als seines poetischen Wertes wegen. Und doch ist dies eines der ältesten slavischen Dichtungsdenkmale und außergewöhnlich schön. Alle Bilder sind hier aus der Natur entnommen und ihr gemäß dargestellt. Der Slave kann dies Gedicht nicht ohne Freude und Rührung lesen; die bekannten Bilder erinnern ihn an alles und stellen ihm die Begebenheiten in so örtlichem Lichte dar, daß es ihm scheint, als wären sie von heute. Was ist z.B. wahrhafter als die Beschreibung der Flucht Igor’s? Um jedoch zu wissen, wie viel Leben in diesen Einzelheiten atmet, ist es nötig zu hören, wie ein entronnener Soldat oder politischer Gefangene, dem es gelungen, der Wache auf dem Wege nach Sibirien zu entschlüpfen, seine Wanderung durch die Steppen, seine Ängste und Hoffnungen erzählt. Auch er wird von Raben, Krähen und Elstern wie von Unheil verkündenden Vögeln sprechen, die dem Menschen in die Wüste nacheilen, seine Spuren entdecken, die Verstecke verraten, indem sie krächzend den Flüchtling verfolgen wie die Jagdhunde einen Fuchs. [Er wird auch sicherlich den Specht erwähnen, denn das ist kein unwichtiger Hinweis. In dieser waldarmen Steppengegend kündigt der Specht eine wichtige Botschaft an. Wenn die Wanderer ihn bemerkt, kann er hoffen, daß er in der Nähe Bäume findet, dann einen Hain, dann einen Bach und entlang des Baches einen Fluß, also einen Wegweiser in dieser Wildnis.] Diese Einzelheiten wird der Bewohner bevölkerter Länder, so verschieden in Sitten und Gebräuchen von jenen fernen Gegenden, wo die Begebenheit vor sich ging, nicht begreifen. Doch auch der französische Soldat, welcher in Rußland Kriegsgefangener gewesen, vernachlässigt nicht diese Waldvögel zu erwähnen, [was wir in den unlängst veröffentlichten Memoiren eines dieser Soldaten gelesen haben.251 Die patriotischen Empfindungen, die der Dichter Igor’ in den Mund legt, sind eine dichterische Fiktion. Er wollte eine Epoche, in der er selbst lebte, idealisieren und und Wünsche und Bedürfnisse des slavischen Volkes zum Ausdruck bringen. Er führt sogar die Worte des mythischen Dichters Bojan an, der sagt: «Тяжко ти головы кромѣ плечю, зло ти тѣлу кромѣ головы» (Zwar schwer ist es dir, Kopf, ohne Schultern, (aber) böse ist es dir, Leib, ohne Kopf!)252. Hier dominiert der Wille zur Macht und vor allem 249 Vgl. dazu Antonina Obrębska-Jabłońska: „Słowo o wyprawie Igora“ w przekładach polskich. In: Pamiętnik Literacki, 43 (1952), S. 408–441. 250 Vgl. Slovo o pluku Igorevě. Ruski text v transkripci, český překlad a výklady Josefa Jungmanna z R. 1810. Praha 1932 [http://nevmenandr.net]; Slovo o pluku Igorově. Přeložil Václav Hanka. Praha 1821. 251 Quelle nicht ermittelt. 252 Das Lied von der Heerfahrt Igor’s, op. cit., S. 42.

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Teil I

zur staatlichen Einheit. Die Waräger-Fürsten kümmerten sich jedoch wenig um nationale Angelegenheiten. Indem sie sich ausschließlich mit persönlichen Fragen von Einfluß und Macht beschäftigten, bekämpften sie sich ständig gegenseitig. Die Rus’ war ihnen so gleichgültig, daß sie bereit waren, sie zu verlassen, sich irgendwohin zu begeben, nur um zu herrschen. Der Urenkel253 Igor’s ging sogar bis an die Donau, um die Herrschaft über das Land der Bulgaren zu erlangen, und er hätte die russische Erde verlassen und sich an der Donau angesiedelt, wenn er nicht vom griechischen Kaiser vertrieben worden wäre.]254 Ferner finden wir in den alten slavischen Dichtern Erwähnungen, die jenem Volksglauben angehören, den man später in den serbischen Dichtungen [und in den polnischen Chroniken] bemerken kann. Dieser Glaube verbindet sich nicht streng mit dem Hauptdogma, er hält sich jedoch an dasselbe und hat mit ihm eine gemeinsame Quelle. Die Perser z.B. glauben, es gebe gewisse Geister, die den Elementen vorgesetzt sind; diese bei den Indern gewöhnliche Vorstellung ist auch bei den Slaven einheimisch. Die keltischen Völker lassen vornehmlich die Macht des Doppelsehens zu und die Fähigkeit die Zukunft vorherzuschauen. Unter den Deutschen, unter den am meisten entfalteten Geistern, zeigen sich die meisten hellsehenden Männer und Frauen; das Hellsehen (gewöhnlich das Sehen genannt) ist eine Eigenschaft des deutschen Geschlechts. Den Slaven gehört hauptsächlich der Glaube an upiory, 253 Mit „Urenkel Igor’s“ (l’arrière petit-fils) ist allerdings Igor’s Sohn Svjatoslav Igorevič (um 942–972) gemeint; über Svjatoslav  I. vgl. Andrej  N.  Sacharov: Diplomatija Svjatoslava. Moskva 1991. 254 Dieser Absatz fehlt bei G. Siegfried und ist nach F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, op. cit., Bd. I, Poznań 1865, S. 125) im Vergleich mit der französischen Ausgabe (A.  Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, 1849, S.  201–202) nachübersetzt worden. Der bei G. Siefried darauf folgende Absatz lautet: „Ein polnischer Dichter der Neuzeit, Antoni Malczewski, gebraucht häufig Worte und Ausdrucksweisen dieses Gedichts, obgleich man sieht, daß er es nicht in den Händen gehabt. Was das in ihm vorherrschende poetische Gefühl betrifft, so ist es folgendes: Der Dichter hat in seiner Schöpfung das Jahrhundert, in welchem er gelebt, idealisiert; er hat die damals allgemeinen Wünsche und Bestrebungen des slavischen Volkes ausgesprochen. Es ist hier vorherrschend das Verlangen nach einer Einheit, um die Fremden zurückzudrängen; das volkstümliche Gefühl, den Begriff des Vaterlandes, treffen wir in dieser Dichtung nicht, ebenso wie in der Geschichte der jemaligen Epoche keine Spur hiervon vorhanden ist, weil es noch nicht erzeugt war.“ kommt in der erwähnten Edition von F.  Wrotnowski nicht vor. In der französischen Ausgabe beginnt der Satz mit: „Les poëtes modernes polonais et russes […].“ – (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 201); L. Płoszewski fügt hinzu „Puszkin i Zaleski“ (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 187). Um die Reihenfolge der Absätze in der Wrotnowski-Edition (1863) einzuhalten, ist dieser Absatz in die Fußnote verlegt worden.

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Gespenster, Vampire, er ist von ihnen den Deutschen und Kelten mitgeteilt und sogar bei den alten Griechen und Römern bemerkbar. Daß sein Ursprung an das slavische Geschlecht geknüpft ist, davon hat man ohne weitere Untersuchung selbst in dem Namen des Gespenstes den Beweis. Der Name κατακαναςτα ist bei den Griechen nur die wörtliche Übersetzung des serbischen Ausdrucks [крвопилац]255, der „Blutsauger“ bedeutet, der lateinische Name strix aber stammt offenbar von dem slavischen strzyga, upiór – der Vampir. Der Begriff der upiory ist bei den Slaven so vollstandig ausgebildet, und gilt für so wahr, daß die Gelehrten, namentlich aber Dalibor256 ihn zu systematisieren und vollkommen zu erklären vermochten. Die upiory nach diesem Verständnisse sind weder Besessene, noch böse Geister, sondern vielmehr Mißgeburten. Ein upiór soll mit zwei Herzen geboren werden, und er weiß hievon anfänglich selbst nichts, nur erst mit der Zeit beginnt in ihm das böse Herz zu wirken. Im gewöhnlichen Leben kennen sich die upiory gegenseitig nicht, aber sie begegnen einander in heimlichen Zusammenkünften, wo sie gemeinschaftlich über die Mittel der Ausrottung oder Vernichtung der Bevölkerung beratschlagen; denn alle ihre Bestrebungen gehen nämlich nach diesem Ziele hin, und daher meint auch das slavische Volk, daß Hungersnot und Pestlust von ihnen verursacht werden. Dieser Glaube ist so verbreitet und lebendig in Serbien, der Krajina und der Herzegovina. Vor einigen Jahren, als in diesen Gegenden die Cholera wütete, hat das Volk diese Krankheit dem vernichtenden Einfluß der Vampire zugeschrieben; viele Männer und Frauen wurden vom Pöbel hingerichtet, weil man annahm, daß sie Vampire sind oder mit ihnen in Verbindung stehen. Die Dichtungen und sogar die Chroniken257 bezeugen oftmals ihr Dasein, und die Volksüberlieferungen lehren, wie man sich derselben entledigen soll. Das Mittel ist folgendes: Nachdem man einen Vampir ergriffen, muß man ihm Kopf und Beine abhauen, ihn dann selbst sorgfältig an den Boden des Sarges festnageln, denn sonst würde er beim ersten Schein 255 Vgl. Vuk Stefanovič Karadžić: Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima (Lexikon serbico-germanico-latinum). Beograd 41935, S. 311. 256 Pseudonym des ukrainischen Historikers und Etnographen Іван Миколайович Вагилевич (Ivan M. Vahylevyč – 1811–1866); polnisch Jan Wagilewicz. Autor der Abhandlung: „O upjrech i wid’mách“. In: Časopis Českého Musem, 14. Jg. (1840), Bd.. III, S. 231–261; Übersetzer des Igor’-Liedes ins Ukrainische; im Internet unter [http://litopys.org.ua]. 257 Vgl. Václav Hájek z Libočan: Kronyka czeská. Prag 1541; digitalisierte (lateinische) Ausgabe von 1819 unter [www.alep.muni.cze]. Deutsche Übersetzung: Wenceslai Hagecii von Libotschan, Böhmische Chronik […]. Übersetzt von Johannes Sandel. Leipzig 1718. Internet: [http://digital.ub.uni-duesseldorf.de]. Neue tschechische Ausgabe – Václav Hájek z Libočan: Kronika česká. Hrsg. Jan Linka. Praha 2013. Vgl. Zdeněk Beneš: Hájkova Kronika česká a české historické myšlení. In: Studia Comeniana et historica, Bd. 29 (1999), Nr. 62, S. 46–60.

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Teil I

des Mondlichts auf seine Gruft wiederaufleben und aufstehen. Aus diesen in der Türkei und Griechenland ausgebreiteten Meinungen hat Lord Byron, wie bekannt, ein schönes Gedicht gemacht.258 Daß der Vampirglaube von den Slaven ausging, ersieht man auch daraus, daß dieser Glaube sich bei den Griechen und Römern nicht im Geringsten mit dem religiösen System der Vielgötterei vereint, und die upiory dort nur als Schatten oder Mahren, welche das Land zur Verteidigung gegen Fremde aufriefen, dargestellt werden.259 [Neben Vampirgestalten begegnen wir noch anderen phantastischen Wesen, welche die Slaven vile260 nennen. Diese Wesen stammen aus dem Osten, ähnlich wie die Genien (genii), die über die Elemente herrschen. Selbst die Bezeichnung dieser östlichen Genien in den slavischen Sprachen, Div, stammt aus dem Sanskrit, und dieser wird bei den Persern bis heute verwendet und trägt dieselbe Bedeutung.261 Im Islam wurde später der Begriff Div mit „Teufel“ vermengt. In der neueren Poesie des Ostens erscheint der Div bereits als verfluchter Geist. Früher war das der Genius; in dieser Eigenschaft erscheint er in der slavischen und serbischen Poesie. Mit diesem einzigen Denkmal, das den Titel Igor’-Lied trägt und die Heerfahrt des Fürsten gegen die Polovcer besingt, endet die Geschichte der Poesie der mittelalterlichen Rus’. Bald erfüllten sich die düsteren Vorahnungen und Befürchtungen herannahender Katastrophen, die Nestor ängstigten und in diesem Poem zum Ausdruck gelangen. Der Mongolensturm überflutet die Rus’, entreißt ihr die Unabhängigkeit, zertritt die Zivilisation und ließ die Poesie verstummen.

258 George Gordon Byron: „The Giaour“. A fragment of a turkish tale. London 1813; dort tauchen die Namen Ghul und Afrit auf. Vgl. auch Mickiewiczs Übersetzung in: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom  2: Powieści poetyckie. Warszawa 1949; ferner: Christopher Frayling: Vampyeres – Lord Byron to Count Dracula. London-Boston 1992. 259 In der Übersetzung von L.  Płoszewski (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S.  190) lautet der Satz: „Im [Igor’-Lied] erscheinen Vampir-Gestalten nur als Gespenster, Schatten oder Mahren auf, welche das Land zur Verteidigung gegen Fremde aufrufen und Flüssen, Bergen und dem Meer die Heerfahrt Igor’s ankündigen. “ 260 Vila (Plural Vile) – Bergfee, Nymphe. Sie leben in hohen felsigen Bergen am Wasser; es sind junge, schöne, weißgekleidete Frauen mit langem Haar; – vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 64. 261 „Div(s)“ – Fabelwesen aus der iranischen Mythologie. Zu „div“ vgl. Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1976, Bd. 1, S. 350: „Unglücksvogel, Wiedehopf“; ferner – Vesta Sarkhosh Curtis: Persische Mythen. Stuttgart 1996; Norbert Reiter: Das Glaubensgut der Slawen im europäischen Verbund. Wiesbaden 2009.

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Begeben wir uns nun auf die andere Seite der Karpaten, indem wir einen Blick auf die Literatur der Bulgaren, vor allem aber die der Serben werfen.]262 Die unter dem allgemeinen Namen der Provinzen Illyrien und Mösien von der römischen Herrschaft umfaßten Länder waren von undenklichen Zeiten her durch die Slaven bevölkert. Der Einbruch der Barbaren vertrieb sie häufig aus den Tälern in die Berge und verwischte an vielen Orten die Spur ihres Namens. Dennoch, obgleich vermischt mit den Ankömmlingen und von ihnen unterdrückt, waren sie häufig im Stande das Joch derselben abzuschütteln. So rotteten zuerst zwischen den Jahren 637 und 640 die Kroaten ihre Unterjocher, die Avaren, aus, so wurden später nach dem Sturz der bulgarischen Übermacht die Serben berühmt. Das Nomadenvolk der Bulgaren263 kam im 4. Jahrhundert vom Don, sie hatten ihre eigene Regierung, verbreiteten sich später an der Donau, eroberten Moldavien, die Walachei und Siebenbürgen. Die slavischen Völker vermischten sich dermaßen mit ihnen, daß nach der Einführung des Christentums die ursprünglichen Bulgaren gar nicht mehr zu finden sind, die mit ihnen zusammengeschlossenen Slaven wurden aber unter diesem Namen dem östlichen Kaisertum furchtbar, sie belagerten im 9. Jahrhundert Konstantinopel. Bald jedoch trat der Kaiser Basileios II., genannt der Bulgaren-Mörder, auf, und nach einem dreißigjährigen, mit ungeheurer Grausamkeit geführten Krieg von 981–1019 vernichtete er das bulgarische Kaiserreich.264 Nur ein kleines Stück dieses Landes bewahrte eine gewisse Unabhängigkeit. Die Schriftsteller jener Zeit und beinahe alle späteren Forschungen behaupten, daß die ersten Kirchenbücher für die Slaven im Land der Bulgaren, in Mösien, Makedonien und Thrakien verfaßt worden sind. Die früheste Erwähnung der Slaven, als eines unabhängigen Volkes, geschieht zu Justinians265 Zeiten. Der Lehrer dieses Kaisers, Theophilos266, gesteht sogar, daß sein Zögling aus slavischem Geschlecht stamme. Es bestätigen dies die Namen des Justinian selbst, wie auch die seines Vaters und seiner Mutter. Dieser Kaiser führte unter den Seinigen den Namen Upravda, was auf Justinian herauskommt, denn die lateinischen Wörter jus, justitia, entsprechen 262 Der fehlende Absatz wurde nach F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, op. cit., Bd. I, Poznań 1865, S. 127) im Vergleich mit der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 204–205) nachübersetzt. 263 Vgl. Daniel Ziemann: Vom Wandervolk zur Grossmacht: die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter (7.–9. Jahrhundert). Köln-Weimar 2007. 264 Basileios II. – Βασίλειος ὁ Βουλγαροκτόνος (958–1025); vgl. Paul Meinrad Strässle: Krieg und Kriegführung in Byzanz. Die Kriege Kaiser Basileios’ II. gegen die Bulgaren (976–1019). Köln-Weimar 2006. 265 Justinian – Flavius Petrus Sabbatius Iustinianus (um 482–565); vgl. Mischa Meier: Justinian. Herrschaft, Reich und Religion. München 2004. 266 Theophilos (813–842), byzantinischer Kaiser von 829–842.

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dem slavischen pravda, der Laut „v“ ist aber nur der in vielen Sprachen gewöhnliche Beilaut. Der Vater Justinians wurde in der thrako-phrygischen Sprache Sabbatius, Sabbatios oder Sabbazios genannt, in der vaterländischen hieß er „Istok“, russisch vostok, polnisch wschód; die Mutter hatte einen offenbar slavischen Namen Biglenica oder Viglenica (lat. Vigilantia).267 Die an den Ufern der Donau ansässigen Serben verblieben in stetem Zusammenhang mit den Griechen und wurden durch sogenannte Župane268 regiert. Die Griechen verstanden es, ihre Oberhoheit über sie auszudehnen und ernannten selber die Groß-Župane, welche von den anderen Županen selten anerkannt wurden. Um das Jahr 1120 sehen wir Uroš269, den Urahnen 267 Mickiewicz übernimmt hier die Deutung des Namens von P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 160–161: „ Der Vater des Justinianus, den Prokop und Theophanes Sabbatios nennen, heuißt bei Theophiles mit seinem einheimischen Namen Istok (sol oriens), ein Name, welcher die slawische Übersetzung des thrakisch-phyrgischen Namens Sabbatios, Sabbazios ist; die Mutter und die Schwerster desselben hießen Bigleniza oder Wigleniza […]. Justinian selbst hieß unter seinen Landsleuten Uprawda oder Wprawda […], ein Name der mit dem lateinischen Justinanus übereinkommt; prawda heißt nämlich im Altslawischen soviel wie jus, justitia, w ist ein Hauch, der sehr häufig vor slawischen Wörtern gefunden wird.“ Schaffarik verweist hier auch auf Jacob Grimm, der eine ähnliche Deutung vornimmt – vgl. Jacob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanovitsch kleine Serbische Grammatik, verdeutscht von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824, S. IV (Fußnote). An der Legendenbildung von der slavischen Abstammung des bazantischen Kaisers Justinian beteiligten sich schon früher andere Forscher – Giacomo di Pietro Luccari [Jakob Lukarević]: Copioso Ristretto degli Abbali di Rausa [Ragusa]. Venedig 1605, Libro primo, S. 3: „Selimir dopò questo (come si vede nell’Efemeridi di Dolcea) prese per moglie la sorella d’Istok Barone Slauo, il quale haueua per moglie Biglenza sorella di Giustiniano, e madre di Giustino Imperatori Romani, i quali, com’hò veduto in un Diadario in Bulgaria, in lingua Slaua sono chiamati Vprauda, che significa Giustiniano, ò Giustino.“; auf Lucarri bezieht sich auch Józef Aleksander Jabłonowski: Leci et Czechi adversus scriptorem recentissimum vindiciae. Pars II. Lipsiae 1771, S. 229; das Werk kannte Mickiewicz. Ferner – Mavro Orbini: Il Regno degli Slavi. Pesaro 1601; vgl. dazu – vgl. Giovanna Brogi Bercoff: Il „Regno degli Slavi“ di Mavro Orbii et il „Copioso ristretto degli Annali di Rausa“ di Giaccomo Luccari. In: Studi slavistici in ricordo di Carlo Verdiani. Pisa 1979, S. 41–54; schließlich Niccolo Alamanni (1583–1626) als Herausgeber und Kommentator der „Geheimgeschichten“ von Prokopius von Cäsarea (= Procopius Caesariensis: Anecdota. Arcana historia, qui est liber nonus historiarum. Ex Bibliotheca Vaticana Nicolaus Alemannus protulit, latinè reddidit. Lyon 1623). 268 Županja – Gespanschaften; kleinräumige Territorial- und Verwaltungseinheiten in Serbien und Kroatien; župan – Gespan (Anführer, comes). 269 Das Datum 1120 übernimmt Mickiewicz von P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., S. 253; dort auch die falsche Behauptung, daß Uroš der Urahne des Hauses Nemanja ist; Uroš I. (um 1118–1140) – serbischer Groß-Župan von Raszien (Raška in Serbien) aus dem Geschlecht der Vukanovići; ihm folgte Uroš II. (um 1140–1161), der Groß-Župan von Serbien; vgl. Tibor Živković: Jedna hipoteza u poreklu velikog župana Uroša I. In: Istorijski časopis, 2005, broj 52, S. 9–22.

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des in diesen Gegenden einst glänzenden Hauses Nemanja. Nach ihm sehen wir Stefan Nemanja270, welcher mit Hilfe des morgenländischen Kaisers zum Groß-Župan ernannt wurde. Dieser Stefan Nemanja hatte drei Söhne.271 Der jüngste von ihnen, Sava, widmete sich dem klösterlichen Leben, war der erste serbische Erzbischof und ist berühmt in der Überlieferung des Reichs als der Apostel seines Vaterlandes. Der mittlere, auch Stefan Prvovenčani genannt, d.h. der zuerst gekrönte, übernahm die Regierung nach dem Vater; der älteste, Vukan, erhielt einen besonderen Teil des Landes.272 Später vermehrte sich das Geschlecht der Nemanjići (Nemanjiden) in viele Nebenäste und führte unter sich fortwährende Kämpfe. Die Geschichte dieser Zwiste ist sehr ähnlich der der Hauskriege im nördlichen Slaventum. Die Groß-Župane oder die hiesigen Fürsten gehören oftmals der entgegengesetzten Religion an; kein heidnisches Element ist jedoch sichtbar, nur zwei unterschiedliche Bekenntnisse treten auf die Bühne, das griechische und römische, die ganze Sache dreht sich aber um die Gewalt, um das Übergewicht. Die einen von ihnen suchen daher die Stütze in Konstantinopel, die anderen in Rom, und zuweilen bemühen sie sich, sowohl vom Papst als vom Patriarchen gesalbt zu werden, um sich von beiden Seiten her zu kräftigen oder die Entzweiung zu heben. Nebenbei besteht fortwährend Überfall, Verrat und Mord. Der Sohn stößt den Vater vom Thron, der Vater läßt dem Sohn die Augen ausstechen, oder verschließt denselben in ein Kloster; ein Bruder mordet den anderen oder seine unmündigen Kinder. Mit einem Worte, es wiederholt sich hier die politische Sitte Konstantinopels, und diese ganze Geschichte ist, man kann es sagen, eine treue Abschrift der Geschichte 270 Stefan Nemanja (1113–1199), Groß-Župan von Raška (Serbien); sein Vater hieß Zavida aus dem Hause Vukanović; Begründer der Dynastie der Nemanjiden (Nemjanići); vgl. Željko Fajfrič: Sveta loza Stefana Nemanje. Beograd 1998. 271 1. Sava (1175–1236), Sveti Sava; vgl. Sveti Sava: Sabrani spisi. Hrsg. Dmitrije Bogdanović. Beograd 1986; ferner – Milutin S. Tasić: Der heilige Sava. Beograd-Zemun 1994; 2. Stefan Nemanjić (Stefan Prvovenčani)  –  gestorben 1227; serbischer Groß-Župan (1196–1217) und serbischer König (1217–1227); vgl. Stefan Provenčani: Sabrani spisi. Beograd 1988; 3. Vukan (Lebensdaten unklar), König von Zeta (1196–1208), Fürst von Raszien (Raška) von 1202–1204. 272 Dieser Absatz wurde gleich korrigiert, weil Mickiewicz hier (und bei der Darstellung der serbischen Geschichte überhaupt) falsche Angaben aus der Einleitung von Therese Albertine Luise von Jakob fast wörtlich übernimmt; vgl. – Talvj: „Kurzer Abriß einer Geschichte des untergegangenen serbischen Reiches als Einleitung“. In: Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Erster Band. Halle und Leipzig 1835, S. XII–XIII). Vgl. dazu Krešimir Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti. Beograd 1936, S. 99–100, der darauf verweist, daß Talvj als Grundlage ihres Abrisses u.a. die Darstellung von Johann Christian von Engel benutzte – Geschichte des Ungarischen Reichs und seiner Nebenländer. III. Band: Geschichte von Serwien und Bosnien […]. Halle 1801.

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des stürzenden griechischen Kaiserreichs. Endlich im l4. Jahrhundert erhob sich einer der Nachkommen der Nemanjiden, Stefan Dušan273, gewaltig über die anderen empor, raffte alle Županien zusammen: er besaß Bosnien, Bulgarien, Makedonien, Albanien, Siebenbürgen, Dalmatien, ließ sich von der Stadt Ragusa huldigen, nannte sich Zar und gedachte sogar, den Titel des Kaisers der Serben und Triballier274 annehmend, Konstantinopel zu erobern. Der Zar Stefan Dušan aber, der Mörder seines Vaters, vermochte nicht die Regierung seinem Nachkommen zu sichern. Sein Sohn wurde von einem Mächtigen des Reichs verdrängt275 und das serbische Zarentum vernichteten bald die Türken. Die Taten des Hauses Nemanja, beginnend mit Stefan Uroš I., der wirklich ein großer Mann ist und sehr an jenen auf der Insel Rügen herrschenden Cruto erinnert, bis auf den Tod des letzten Nachkommen276 desselben, bilden einen poetischen Zyklus, den alle serbischen Volkssänger besingen. Es ist daher nötig, sich mit diesen Taten bekannt zu machen und einen Blick auf die Geschichte des Kampfes der Serben wider die Türken zu werfen, namentlich mit Murad I., der eine besondere Rolle in dieser Poesie spielt.

273 Stefan Dušan (1308–1355), auch Stefan Uroš IV. (Dušan Silni); er tötete seinen Vater Stefan Uroš III. Dečanski (1321–1331); hinterließ ein Gesetzbuch mit 135 Paragraphen – „Dušanov zakonik“; vgl. Božidar Ferjančić, Sima Ćirković: Stefan Dušan, kralj i car 1331–1355. Beograd 2005. 274 Im Jahre 1346 Krönung Stefan Dušans zum „Kaiser der Serben und Griechen“ (Zar Srba i Grka); Mickiewicz übernimmt den Ausdruck „Triballier“ von Talvj: Volkslieder der Serben, op. cit., Erster Teile, S. 22; über die „verschwommene“ Geschichte dieses (einst thrakischen) Stammes (illyrische Serben) vgl. P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 204; ferner – W. Felczak, T. Wasilewski: Historia Jugosławii. Wrocław 1985, S. 13, für die mit Triballiern seit dem 11. Jahrhundert die Serben gemeint sind. 275 Stefan Dušans Sohn, Stefan Uroš  V. (1337–171), auch Uroš Nejaki (Uroš der Schwache) genannt, mußte 1359 die Macht an Simeon Uroš Palaiologos abgeben, der bis 1370 herrschte. 276 Stefan Uroš V. (1337–1371) war der letzte Nemanjide.

16. Vorlesung (19. Februar 1841) Abriß der serbischen Geschichte277 – Der serbische Zar Lazar – Die Unterwerfung der Serben durch die Türken – Giovanni Capistro versucht einen Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren – Unterschiedliche Auffassung von Geschichte zwischen den byzantinischen Historikern und den serbischen Dichtern – Die serbische Mythologie – Das Lied von der „Vermählung des Zaren Lazar“ (Ženidba kneza Lazara), die Legende „Die Heiligen im Zorn“ (Sveci blago dijele) – Charakteristik der serbischen Dichtung und ihrer Rhapsoden – Parallelen zu Homer – Vuk Karadžićs Sammlung der serbischen Lieder und Erzählungen.

Das Anziehendste in der Geschichte der Slaven an der Donau hängt, wie wir schon erwähnt haben, mit dem Haus Nemanja zusammen, welches seit dem Ende des 11. Jahrhunderts durch das ganze 12., 13. und sogar das 14. hindurch das einzige in dieser Gegend unabhängige slavische Reich aufrecht erhalten hat. Denn die Bulgaren sind schon im 11. Jahrhundert gesunken, die Magyaren haben ihre uralische Volkstümlichkeit behalten, ohne sich mit den Slaven zu vermischen; die Geschlechter des Montenegro dagegen, und die Seestädte, obgleich der Beachtung sonst würdig, hatten in politischer Hinsicht keine Bedeutung: Serbien allein repräsentierte die Donau-Slaven. Der mächtigste unter seinen Beherrschern, der Zar Stefan Uroš IV. Dušan, zu Konstantinopel erzogen, wollte sein Reich auf byzantinische Art einrichten. Er bemühte sich, eine Hierarchie in der Regierung und eine strenge Hofetikette einzuführen. Er nahm dabei einige Institutionen des Westens an, und so gründete er z.B. den Orden des heiligen Stephan, schirmte den Handel und erteilte der Stadt Ragusa große Vorrechte. Nachdem er den Titel des Kaisers der Serben und Griechen angenommen, dachte er an die Eroberung Konstantinopels, aber der Tod hinderte ihn, dieses Vorhaben auszuführen. Er starb im Jahre 1355 und hinterließ einen unmündigen Sohn [Stefan Uroš  V.] und ein umfangreiches, in viele Teile gespaltenes Reich, denn er hatte den Häuptlingen der Länder die Königswürde gegeben. Die Statthalter, zum Tragen der roten Stiefel einmal berechtigt, welche die Auszeichnung der Herrscher waren, wollten nicht mehr, wie sie sich ausdrückten, barfuß gehen, und hörten auf, dem Zaren zu gehorchen.

277 Auch hier stützt sich Mickiewicz auf den oben zitierten „Abriß“ von Talvj, wobei er einige Fakten aus dem letzten Abschnitt der 15. Vorlesung wiederholt und historische Fakten falsch wiedergibt. Vgl. dazu K. Georgijević, op. cit., S. 99ff.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_017

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Die mächtigsten der Wojewoden, Jug Bogdan278, der Statthalter von Makedonien, Vukašin279 von dem nördlichen und Lazar Hrebeljanović280 vom nordwestlichen Serbien, kündigten der Zarin Jelena, der Witwe des Stefan Dušan, welche in der Hauptstadt Vukašins wohnte, den Gehorsam auf, und waren in beständigem Hader miteinander, bis endlich Vukašin den jungen Stefan Uroš V. ermordete;281 so erlosch das Geschlecht des Nemanja. Während dies geschah, brachen die Türken in Europa ein. Die griechischen Kaiser, schon gewohnt die Barbaren zur Hilfe aufzurufen, wendeten sich zuerst an die Bulgaren, und begingen später die Unbesonnenheit, die Tore ihres Reiches den Türken zu öffnen. Mit einer solchen Kriegsflotte, wie sie damals allein in Europa hatten, konnte man leicht diesen Einfall verhindern, aber sie setzten ein allzu großes Vertrauen auf die Mauern Konstantinopels. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, daß wilde Reiterscharen eine so vorzüglich befestigte, eine so große, so bevölkerte und mit wohlgeübten Truppen besetzte Stadt erobern könnten. Bald zeigte sich indessen dieses Vertrauen verderblich; die nach Rettung suchenden Griechen wendeten sich an die Serben. Jug, Lazar und Vukašin eilten mit einem bedeutenden Heer zu Hilfe, unverhofft trat ihnen aber Murad I. an der Spitze eines besseren bei [Černomen an der Marica] entgegen und vernichtete sie gänzlich. Jug und Vukašin fielen, Lazar rettete sich diesmal und wurde bald darauf zum König von Serbien ernannt.282 Aber 18 Jahre später, als sich Murad  I.  in  Asien eingerichtet, landete er wieder an 278 In der Volksüberlieferung als Jug Bogdan bekannt (eigentlich Vratko Nemjanić); historische Daten kaum überliefert; seine Tochter Milica heiratete Lazar Hrebeljanović. 279 Vukašin Mrnjačević; serbischer König von 1365–1371; gestorben in der Schlacht an der Marica. 280 Fürst Lazar Hrebeljanović (1329–1389); nach dem Zerfall der Nemnajiden-Dynastie führende Persönlichkeit in Serbien; fiel in der Schlacht am Amselfeld 1389. Vgl. Slavica Stefanović: Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar. In: „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Hrsg. Christiane Ackermann, Ulrich Barton. Tübingen 2009, S. 155–170. 281 Diese Information übernimmt Mickiewicz von Talvj, op. cit., S. 29: „Vukašin […] erschlug ihn eigenhändig mit seinem Streitkolben.“ Daß Vukašin Mrnjačević Stefan Uroš V. ermorderte, ist umstritten und unbewiesen; vgl. Željko Fajfrič: Sveta loza Stefana Nemanje. Beograd 1998, Abschnitt  50: „Legenda o smrti cara Uroša“; dort auch die Hinweise auf die Legendenbidung bei Mavro Orbini: Il Regno degli Slavi. Pesaro 1601 (serbische Übersetzung – Kraljevstvo Slovena. Beograd 1968). 282 Dieser Absatz vermengt Dichtung und Wahrheit. Gemeint ist die Schlacht an der Marica 1371 in Bulgarien, in der Vukašin Mrnjačević und sein Bruder Uglješa fielen; daß noch andere Woiwoden und Fürsten wie Jug Bogdan und Fürst Lazar an dieser Schlacht beteiligt waren, ist unklar; vgl. Vladimir Ćorović: Istorija srpskog naroda. Beograd 2001, Kapitel: „Marička pogibija“. Daß Jug Bogdan an der Schlacht an der Marica teilnahm, behautet Stojan Novaković: Srbi i Turci XIV i XV veka. Beograd 1893.

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Europas Gestaden und verlangte Tribut von den Serben. Lazar schickte nach allen Seiten um Hilfe, aber nirgends ward sie ihm. Der König von Ungarn, selber nach Serbien gelüstend, blieb ein ruhiger Zuschauer des Kampfes. Die deutschen Kaiser gaben weder Truppen noch Geldmittel her. Polen stand damals von diesen Angelegenheiten noch entfernt und trat erst 20 Jahre später in dieser Gegend auf die Bühne. Lazar indessen, nachdem er so viel Albaner, Bulgaren und Serben als er vermochte, zusammengebracht, stellte sich zum Kampfe. Die Tapferkeit des Königs, die Begeisterung seiner Reihen, wären vielleicht sieggekrönt worden, zum Unglück aber schlich sich eine Entzweiung unter die Führer ein. Zwei Schwiegersöhne Lazars, die mächtigsten Ritter und Herrn von Serbien, Miloš Obilić und Vuk Branković283, gerieten in bitteren Streit aus Veranlassung ihrer Frauen. Vuk ersann aus Haß und Rache Verrat, und indem er schon mit dem Sultan einverstanden war, verbreitete er Verleumdungen gegen Miloš und wollte ihn, den Unschuldigen, dieses Verbrechens verdächtig machen. Miloš erwiderte nichts auf diese Vorwürfe, nur in der Nacht vor dem Kampf entfernte er sich mit zwei Begleitern in aller Stille aus dem Lager, kündigte sich den türkischen Wachposten als Überläufer an, und in das Zelt des Sultans geführt, stieß er dem mit Freude ihn empfangenden Murad den Dolch in den Leib. In einer tapferen Wehr erlegte er hierauf viele Feinde, bevor er selbst in Stücken gehauen wurde. Diese heroische Tat brachte jedoch keinen Nutzen. Im Gegenteile war das Heer des Miloš, das vorher die wider ihn ausgestreuten Gerüchte vernommen, und jetzt nicht wußte, was mit ihm geschehen, wankend geworden und verlor den Mut. Vuk ging auf dem Wahlplatz in dem wichtigsten Augenblicke mit seinen Kriegsscharen über; Lazar verlor nach einem langen und wackern Widerstande an der Spitze der ihm Übriggebliebenen, sein Roß und geriet in Feindes Hand. Seinen Tod beschreiben verschiedentlich die Historiker, den meisten Glauben verdient jedoch ein polnischer Chronikenschreiber, bekannt unter dem Namen Janczar der Pole284, der als Janitschare von dem, was vorfiel, Augenzeuge sein konnte. Er sagt, der Sultan Bayezid I., Sohn des von den Serben getöteten Murad I., habe den König Lazar zu den Leichen seines Vaters und seines in der Schlacht gefallenen Bruders führen lassen, ihn alsdann mit drohender Stimme gefragt: „Wie konntest du dich erdreisten, solch ein Verbrechen zu begehen?“ („jakoś się śmiał o to pokusić?“) Hierauf erwiderte der König Lazar: 283 Miloš Obilić (um 1350–1389); vgl. P. Mihajlović: Junaci kosovske bitke. Beograd 2001; Vuk Branković (um 1345–1397) – vgl. Željko Fajfarić: Sveta loza Brankovića. Novi Sad 1999. 284 Pamiętniki Janczara Polaka przed 1500 rokiem napisane. Warszawa 1828; als Autor der Chronik wird der Serbe Konstantin Mihailović iz Ostrovice angenommen.

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„Wie konnte Dein Vater so verwegen sein, das serbische Königreich anzufallen?“ („Jak ojciec śmiał kusić się o królestwo serbskie?“). Ein treuer Diener des Königs, in der Schlacht und Gefangenschaft sein unzertrennlicher Genosse, beschwor ihn, auf sanftere Weise zu antworten. „Liebster Fürst“, sprach er, „dein Kopf ist nicht wie ein Weidenstamm, der zweimal wächst.“ („Książę miły, głowa nie jest jako pień wierzbowy, aby dwakroć rosła.“ Dies bändigte indessen Lazar nicht, er fügte sogar hinzu, daß, würde er an seiner Seite jenes haben, was ihm fehle, so lege er den Sultan neben seinen Vater und Bruder. Der Sultan befahl den König zu köpfen. Da kniete dessen Begleiter nieder, breitete seinen Mantel aus, um das Haupt seines Herrn hierauf zu empfangen; und als dies fiel, sagte er: „Geschworen habe ich, mein Haupt neben das Haupt meines Herrn zu legen“ („Przysięgałem Panu Bogu, że gdziekolwiek głowa Księcia Łazarza padnie, i tam i moja leżeć ma“285, und neigte seinen Nacken unter den Jatagan, der seinem Entschluss willfahrte. So starb der letzte König der Serben. Sultan Bajazet verlieh später Lazars Sohn Stefan ein Stück von den väterlichen Besitzungen, mit dem Titel eines Despoten, den Verräter Vuk Branković belohnte er aber mit einem anderen kleinen Teil, ganz wider dessen Erwartung, da er das ganze Königreich zu erlangen hoffte. Diese zwei Dynastien waren in beständigem Streit miteinander, denn die Nachkommen Lazars versuchten zuweilen die Unabhängigkeit wieder zu erlangen; die Brankowići hielten sich dagegen stets auf türkischer Seite. Der Kampf währte 150 Jahre. Die Serbien mußten außerdem an den inneren Streitigkeiten der Türkei teilnehmen und zu deren asiatischen Kriegen Hilfstruppen stellen. Wir sehen ihr Heer in der schrecklichen Schlacht bei Ankara, wo Sultan Bajazet völlig geschlagen und von den Tartaren in die Gefangenschaft geschleppt wurde. Nach dieser Niederlage unterstützten sie den Sultan Süleyman I. gegen seinen Bruder Mussa. Die christlichen Monarchen, statt aus dieser Schwächung der Türken Nutzen zu ziehen und ihnen den entscheidenden Schlag zu versetzen, bestrebten sich nur, jeder zu seinem Vorteil die politischen Verhältnisse zu wenden, und halfen bald Süleyman, bald Mussa, bald anderen Thronbewerbern, ohne im Geringsten daran zu denken, die Christen aus den Händen der Ungläubigen zu 285 Pamiętniki Janczara Polaka przed 1500 rokiem napisane, op. cit., S. 65; 67. Die von Mickiewicz benutze Ausgabe ist unvollständig und enthält viele Fehler. Über Fragen der (umstrittenen) Autorschaft, der Textgenese und Textvarianten vgl. Renate Lachmann: „Einleitung“, in: „Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik“. Eingeleitet und übersetzt von Renate Lachmann. Kommentiert von Claus Peter Haase, Renate Lachmann, Günter Prinzing. Graz 1975, S. 20–50. Die deutsche Übersetzung wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert. Über den Tod des Fürsten Lazar gibt es mehrere Versionen; vgl. dazu Željko Fajfarić: Sveta loza kneza Lazara. Beograd 2000, Kap. 8: Smrt kneza Lazara.

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befreien. Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts dachte man das letzte Mal an die Befreiung der Serben. Der Papst Sylvester sandte den berühmten Johannes Capistranus286, um einen Kreuzzug gegen die Türken zu Stande zu bringen. Capistranus durchreiste Deutschland, Ungarn und die slavischen Länder, im Namen Gottes um Hilfe für das Christentum flehend. Aber die Hussiten im Tschechenland, und die schismatischen Fürsten in anderen Ländern lähmten seine Unternehmungen. Der tschechische König vertrieb ihn sogar aus den Grenzen seines Reichs. Dieser große Mann sammelte jedoch Häuflein polnischen, ungarischen und tschechischen Volks, zog mit ihnen nach Belgrad und schlug die Türken zurück. Aber einige Jahre darauf machte sein Tod die Serben alles ferneren Beistandes verlustig. Die Witwe des letzten serbischen Despoten, Jerina Branković287, schickte eine Gesandtschaft nach Rom, ihr Reich dem Schutz des Papstes anvertrauend. Das Volk, indessen von der Geistlichkeit des morgenländischen Kultus aufgeregt, empörte sich deshalb, und rief wie jene griechischen Patriarchen: „Lieber die Türken als die Katholiken“; die Mächtigeren des Landes und die Einwohner der vorzüglichen Städte unterwarfen sich freiwillig dem Sultan (1459). Mahomet II. rückte in Serbien ein, und die festgesetzten Bedingungen verletzend, ließ er Städte und Dörfer niederbrennen, und schleppte 200 000 Gefangene nach der Türkei, wo sie sämtlich vor Hunger und Elend umkamen. Das ganze serbische Reich, außer einem kleinen Überbleibsel, welches später zu einem Fürstentum desselben Namens wurde, verwandelte sich in eine Wüste. So ist die Geschichte Serbiens aus den Quellen der byzantinischen und anderen Chroniken geschöpft; zwischen dieser Geschichte und den Volksüberlieferungen treten aber im 13. Jahrhundert, ja sogar schon am Ende des 12. Widersprüche ein. Das Volk und die Dichter begreifen anders die Vergangenheit und Zukunft ihres Landes. Die Könige, welche wir angeführt, die Feldherrn, deren Taten wir berührt, haben andere Namen bei den Griechen, andere bei den Serben. Zuweilen ist es schwierig, diese zwiefachen Tatenberichte in Einklang zu bringen, und welcher von ihnen mehr Glauben verdient, läßt sich gleichfalls nicht so leicht bestimmen. Hier und dort wird die Sache nach eigner Art erzählt, und hat ihre wahre Seite. Die Chroniken entwerfen, so zu sagen, die bloßen Umrisse des Bildes, die Dichter überziehen es mit lebendigen Farben. Die fremden Historiker verwischen den eigentümlichen Charakter, indem 286 Johannes Capistranus – Giovanni da Capistrano (1386–1456), italienischer Franziskaner, Wanderprediger, Heerführer und Judenverfolger. 287 Jerina (Irina) Kantakuzin (gestorben 1457), Frau des serbischen Despoten Đurađ Branković (um 1377–1456); in der Volksüberlieferung als „prekleta Jerina“ (verfluchte Jerina) bekannt; vgl. dazu Momčilo Spremić: Despot Đurađ Branković i njegova doba. Beograd 1994.

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sie allgemeine Ansichten von der inneren nationalen Regung trennen; das Volk dagegen hatte nur die Hauptzüge des Charakters seiner Helden behalten, erhob sie zu idealer Größe, und drückte in ihren Personen die nationalen Gefühle aus: die Dichter sondern die Vaterlandsgeschichte von jeder Seitenbetrachtung ab, verengen dadurch den Gesichtskreis, dies aber um ihn desto leichter mit dem Blicke ihrer Einbildungskraft zu umfassen. Füglich könnte man die fremden Schriftsteller der serbischen Geschichte mit jenen Geographen vergleichen, die auf der Karte vorzugsweise Flüsse und Berge des Landes aufzeichnen; die Volksdichter dagegen mit den Malern, die uns den lebhaften Anblick der Gegend, und die Färbung ihres Himmelgewölbes darstellen. Auf diese Weise fiel die Geschichte gänzlich der Poesie anheim, als es nach dem Untergang des Reichs in Serbien weder Könige noch politische Parteien und Bücher gab. Die christliche Religion nahm zuerst ein gewisses mythologisches Gepräge an. Aus ihren Legenden, ihren Wundern und ihren Heiligen bildeten die Dichter etwas dem Olymp Ähnliches. Die der Geschichte entnommenen Personen wuchsen alsdann in erdichtetem Glanz empor. Der Zar Stefan Dušan z.B., jener Vatermörder, ein stolzer, grausamer Mensch, gilt als Muster der Herrlichkeit und Macht. Die Dichtung erwähnt nichts von seinen Familienverbrechen, so wie Homer die Familienlaster der Atriden verschwieg, diesen Stoff den nachfolgenden Tragikern überlassend. Der in der Geschichte wenig gekannte Fürst Jug Bogdan ist bei den serbischen Dichtern ein ehrwürdiger Patriarch, umringt von tüchtigen Söhnen288, gleichsam ein zweiter Aymon von Savoyen289, der Vater vieler berühmter Ritter. Der Fürst Vukašin zeigt sich als ein schlauer Politiker und Krieger, etwa wie ein slavischer Odysseus. Der König Lazar stellt das vollendete Bild eines Ritters und echten Helden dar; wir sehen in ihm das Ideal der damaligen christlichen Gefühle. An Sittenreinheit, Gottesfurcht und Tapferkeit Godfried von Bouillon290 gleichend, besitzt er nebenbei noch den slavischen Charakter und liebt Gastmähler, Gesang und Pracht, hierin stimmt er mit den Neigungen seines Volkes überein. Alles wird in seiner poetischen Geschichte geheimnisvoll: sowohl seine Geburt, als seine

288 Über Jug Bogdan und seine 9 Söhne vgl. die Heldenlieder: „Banović Strahinja“; „Ženidba kneza Lazara“ (Die Hochzeit des Fürsten Lazar); „Car Lazar i carica Milica“; „Kneževa večera“ (Das Abendmahl des Fürsten); „Smrt majke Jugovića“ (Tod der Mutter der Jugovići). 289 Aymon von Savoyen (1273–1343). Erzählungen von den Abenteuern der vier Haimonskinder des Grafen Haimon (Aymon) von Dordogne aus dem Umfeld der Geschichten um Karl den Großen; altfranzösische Heldenlieder (Renaut de Montauban), La Chanson de Quatre Fils Aymons. 290 Godfried von Bouillon (um 1060–1100), Heerführer beim I. Kreuzzug.

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Erhebung und sein Tod. Nach der Meinung des Volkes war er ein Nebensohn291 des Zaren Dušan, von einem Weib aus hohem Geschlecht, der als Edelknabe am königlichen Hofe seine Erziehung genoß, und sich mit der Tochter [Milica] des berühmten Jug Bogdan vermählte, welche ihm dieser Patriarch deshalb gab, weil er im Prophetenbuch diese Bestimmung gefunden. Lazar hat später als Märtyrer für sein Volk die allgemeine Hochachtung gewonnen. Die Dichter wissen nichts von seiner Gefangennehmung durch die Türken, sie glauben immer, er sei auf dem Kampfplatz gefallen, und erzählen Wunder von seiner Tapferkeit. Diesem Zyklus der Heldenepik folgt der Zyklus der romanesken Poesie.292 Zu seinem Gegenstand hat er abenteuerliche Taten und Ereignisse, welche in keinem Zusammenhang mit der allgemeinen Volksangelegenheit stehen. Einzelne Ritter, jedoch immer vom König Lazar abstammend, sind im Kampf mit

291 Der Vater des Fürsten Lazar war Pribac Hrebeljanović; vgl. Željko Fajfarić: Sveta loza kneza Lazara. Beograd 2000. 292 Im französischen Original lautet der Satz: „Après ce premier cycle de la poésie épique, commence un cycle romanesque.“ (A.  Mickiewicz – Les Slaves, op. cit., Bd. I, S.  218). Vuk  S.  Karadžić unterteilt seine Sammlung in „Heldenlieder“ (junačke pjesme) und „Frauenlieder“ (ženske pjesme). Das entspricht der Zweiteilung Epik – Lyrik, wobei er im Vorwort einräumt: „Manche Lieder stehen so an der Grenze zwischen den Frauenliedern und Heldenliedern, daß man nicht weiß, wo man sie einordnen soll.  … Solche Lieder sind den Heldenliedern ähnlicher als den Frauenliedern; doch wird man kaum jemals hören, daß sie von Männern zur Gusle gesungen werden (es sei denn von Frauen), und sie werden wegen ihrer Länge auch nicht nach Art der Frauenlieder gesungen, sondern lediglich rezitiert“ – Narodne srpske pjesme, skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić. Knjiga prva, u kojoj su različite ženske pjesme. Leipzig 1824, S.  XIX. Karadžić spricht somit von einer „Zwischengattung“, ohne ihr einen eindeutigen gattungsstrukturellen Rahmen zu geben. Mickiewiczs Unterteilung in „cycle de la poésie epique“ und „cycle romanesque“ entspricht nach K. Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnost, op. cit., S. 116–117, eher der Gegenüberstellung von „chanson de geste“ (französische Heldenepik des XI.–Mitte XII. Jahrhundert) vs. „roman courtoise“ (höfischer Roman, höfische Epik – ab Mitte des XII. Jahrhundert in der französischen Literatur), zumal Mickiewicz vor einem französischen Publikum sprach; vgl. auch Henryk Batowski: Mickiewicz a serbska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 49, der feststellt, daß Mickiewicz – insgesamt gesehen – die serbischen Volkslieder einteilt in: (1) epische Heldenlieder, (2) romaneske Lieder (episch-lyrische Lieder – Liebesabenteuer der Helden, die in der Tradition des „roman courtoise“ stehen und sich der Romanze oder Ballade nähern), (3) phantastische Lieder, (4) lyrische Lieder (Frauenlieder), schließlich (5) „le cycle de poésie civile et domestique“ (Zyklus der häuslichen und ländlichen Lieder), die Batowski übersehen hat. Vgl. ferner die Einteilung der Volkslieder von Maximilian Braun: Zum Problem der serbokroatischen Volksballade. In: Slawistische Studien zum V.  Internationalen  Slawistenkongreß in Sofia 1963. Hrsg. Maximilian Braun und Erwin Koschmieder. Göttingen 1963, S. 151–174.

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den Türken, oder gehen selbst zu den Türken über; sie unternehmen Züge von Liebe, Rachsucht oder Ehrgeiz und dergleichen getrieben. Betrachten wir zu allererst eine Dichtung der ersten Art, welche die Vermählung des Lazar („Ženidba kneza Lazara“) schildert. Die Handlung geschieht am Hof des Zaren Stefan, bei welchem Lazar Knappe ist und dem er auf dem Thron folgen soll. Sie beginnt wie folgt: Вино пије силан цар Стјепане У Призрену граду бијеломе, Вино служи вјеран слуга Лазо, Па све цару чашу преслужује, А на цара криво погледује Царе пита вјерна слугу Лаза:

Trinket Wein der mächtige Zar Stefan, Sitzt in Prisren, in der weißen Feste; Schenkt ihm ein der treue Diener Laso, Überschenkt dem Zaren stets den Becher, Siehet scheel ihn an und von der Seite. Ihn befragt der Zar und spricht zum Diener:

„Ој Бога ти, вјеран слуго Лазо! Што те питам, право да ми кажеш: Што ти мене чашу преслужујеш? Што л’ на мене криво погледујеш? Али ти је коњиц олошао? Али ти је рухо остарило? Ал’ т’ је мало голијемна блага? Шта т’ је мало у двору мојему?“

„Soll dir Gott! mein treuer Diener Laso! Was ich frage, offenherzig sage; Was doch überschenkst du mir den Becher? Was sahst du mich scheel an, von der Seite? Ist dein Rößlein etwa dir verdorben? Oder ist dir dein Gewand veraltet? Oder hast des Geldes du zu wenig? Sprich, was mangelt dir an meinem Hofe?“

Њему вели вјеран слуга Лазо: „Вољан буди, царе, на бесједи! Кад ме питаш, право да ти кажем: Није мене коњиц олошао, Нити ми је рухо остарило, Нит’ је мало голијемна блага; Свега доста у двору твојему; Вољан буди, царе, на бесједи! Кад ме питаш, право да ти кажем. Које слуге послије дођоше, Све се тебе слуге удворише, Све си слуге, царе, иженио, А ја ти се удворит’ не могох, Мене, царе, не кће оженити За младости и љепоте моје.“

Ihm erwiderte der Diener Laso: „Nicht ungnädig, Zar! nimm meine Worte, Wenn ich, was du fragst, dir offen sage. Nicht mein gutes Rößlein ist verdorben, Noch sind meine Kleider mir veraltet, Auch des Geldes Hab’ ich nicht zu wenig. Alles ist vollauf an deinem Hofe.“ „Nicht ungnädig, Zar! nimm meine Worte, Wenn ich, was du fragst, dir offen sage! Alle Diener, auch die nach mir kamen, Alle haben Lieb und Gunst erworben, Alle, mächtiger Zar, sich vermählet, Ich allein darf mir nicht Gunst erwerben, Noch mit einer lieben Frau vermählen, Jetzt in meiner Jugendblüt und Schöne.“

Бесједи му силан цар Стјепане: „Ој Бога ми, вјеран слуго Лазо! Ја не могу тебе оженити Свињарицом ни говедарицом, За те тражим госпођу ђевојку, И за мене добра пријатеља,

Ihm versetzt der mächtige Zar Stephan, „Soll mir Gott! mein treuer Diener Laso, Kann dich doch des Rinderhirten Tochter, Dich der Sauhirtin nicht anvermählen? Suche ja für dich ein adlich Mädchen, Und für mich anständig wackre Freunde,

16. Vorlesung (19. Februar 1841) Који ће ми сјести уз кољено, Са којим ћу ладно пити вино. По чу ли ме, вјеран слуго Лазо! Ја сам за те нашао ђевојку, И за мене добра пријатеља, У онога стара Југ-Богдана, Милу сеју девет Југовића, Баш Милицу милу мљезиницу: Но се Југу поменут’ не смије, Није ласно њему поменути, Јер је Богдан рода господскога, Не ће дати за слугу ђевојку; Но чу ли ме, вјеран слуго Лазо! Данас петак, а сјутра субота, Преко сјутра свијетла неђеља, Поћи ћемо у лов у планину, Позваћемо стара Југ-Богдана, Шњим ће поћи девет Југовића, Ти не иди у планину, Лазо, Но остани код бијела двора, Те готови господску вечеру; Кад дођемо из лова планине, Ја ћу свраћат’ Југа на вечеру, А ти свраћај девет Југовића. Кад сједемо за столове златне, Ти навали шећер и ракију, Па донеси црвенику вино. Кад се ладна напијемо вина, О свачем ће Јуже бесједити, Како који добар јунак јесте, Изнијеће књиге старославне, Да казује пошљедње вријеме;“

181 So die Nächsten mir am Thron sein können, Und Genossen mir beim kühlen Weine! Aber höre, treuer Diener Laso! Hab dir da ein Mädchen ausgefunden, Und für mich auch eine wackre Freundschaft, Es ist die Milicaa, die liebe Tochter, Jüngstes Kind des Greises, des Jug Bogdan, Und der Jugowitschen schöne Schwester. Doch für wahr, es ist keine leichte Sache! Leicht ist’s nicht, mit Jug davon zu reden. Denn hochadligen Geschlechts ist Bogdan, Wird sein Kind nicht einem Diener geben. Aber höre, treuer Diener Laso! Heute ist Freitag, morgen Samstag, Und der heitre Sonntag übermorgen. Auf die Jagd will ich ins Waldgebirge, Mit dem alten Bogdan jagen gehen, Ihn begleiten die neun Jugowitschen, Aber begleiten die neun Jugowitschen, Aber du, geh auf die Jagd nicht, Laso! Sondern bleib daheim an unserm Hofe, Und bereit ein herrlich Abendessen; Kommen wir nun aus dem Waldgebirge, Will den alten Jug zum Mahl ich nötigen, Nötige du die neun Jugowjtschen; Sitzen wir dann an den goldnen Tischen, Sorge du für Zucker und für Branntwein, Und von rotem Wein auch gib uns reichlich. Wenn wir kühlen Weins uns vollgetrunken, Wird ein Jegliches der Greis besprechen, Was für Helden der und jener waren; Wird die altberühmten Bücher nehmen, Wird daraus die letzten Zeiten deuten.“

Es geschieht keine Erwähnung, was dies für ein Buch gewesen, die Dichter sprechen nur häufig davon, und zwar einstimmig mit der Volksmeinung, welche glaubt, es seien altertümliche Bücher, die alles vorhersagen, was da kommen soll, sogar bis auf die Veränderungen des Wetters. „Ти кад чујеш, вјерна слуго Лазо, А ти трчи на танану кулу, Те донеси ону чашу златну, Штоно сам је скоро куповао У бијелу Варадину граду Од ђевојке младе кујунџинке,

„Dann, sobald du dieses hörest, Laso! Eile hurtig nach dem schlanken Turme, Hole dir von dort den goldnen Becher Den ich neulich mir erhandelt habe, In der weißen Waradiner Feste, Und dafür dem jungen

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Teil I За њу дао товар и по блага; Наслужи је црвенијем вином, Поклони је стару Југ-Богдану, Таде ће се Богдан замислити, Чим ће тебе, Лазо, даривати, Те ћу њему онда поменути За Милицу ћерцу мљезиницу.“ Прође петак и прође субота, […]

Goldschmiedmädchen Anderthalb Saumlasten Gold bezahlte. Füll den Becher schnell mit rotem Weine, Bring dem Alten ihn als Ehrengabe; Sinnen wird der greise Jug, bedenkend, Was er wohl dafür dir schenke, Laso, Dann ist’s Zeit! Von Milica dann rede ich, Von der Tochter, von der letztgebornen!“ – Ging vorbei der Freitag und der Samstag, […]

Hier wiederholt sich alles, wie verabredet war, zuletzt langt der greise Jug Bogdan, am Tische sitzend, nach dem Buch, öffnet es und fängt an, wie folgt: „Видите ли, моја браћо красна! Видите ли, како књига каже: Настануће пошљедње вријеме, Нестануће овце и пшенице И у пољу челе и цвијета; Кум ће кума по суду ћерати, А брат брата звати по мегдану.“ Кад то зачу вјеран слуга Лазо, Он отрча на танану кулу, Те донесе ону чашу златну, […]

„Seht ihr hier, o meine edlen Brüder! Seht ihr hier wohl, was das Buch uns kündet! In den Zeiten, die nun kommen werden, Erzeugt der Boden weder Hafer noch Waizen, Auf der Flur nicht Bienen mehr, noch Blumen, Vor Gericht wird Pate und Pate streiten Und im Zweikampf Bruder sich und Bruder.“ Als der Knappe Laso dies vernommen, Eilt alsbald er nach dem schlanken Turme, Holte sich von dort den goldnen Becher, […]

Hier folgt wieder die ganze Erzählung von dem Becher, nach Art der Homerischen Gesänge; weiter kommt: Богдан прими златну купу вина, Купу прими а пити је не ће, Мисли Богдан, шта је и како је, Чиме ли ће даривати Лаза. Југу вели девет Југовића: „О наш бабо, стари Југ-Богдане! Што не пијеш златну купу вина, Штоно ти је поклонио Лазо?“

Bogdan nahm den goldnen Becher Weines Nahm ihn an, doch zögert er zu trinken. Sinnend sitzt der Alte, still bedenkend, Was dafür er wohl dem Laso schenke. Und es sprechen die neun Jugowitschen: „Lieber Vater, greiser Held Jug Bogdan! Warum trinkest du nicht aus dem Becher, Den soeben Laso dir verehret?“

Вели њима стари Југ Богдане: „Ђецо моја, девет Југовића! Ја ћу ласно пити купу вина, Него мислим, моја ђецо драга, Чиме ћу ја даривати Лаза.

Da erwiderte der alte Bogdan: „Meine Kinder, ihr neun Jugowitschen. Leicht ist mir’s zu trinken aus dem Becher, Doch ich sinne, meine lieben Söhne, Was dafür ich wohl dem Laso schenke!“

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Југу вели девет Југовића: Ласно ћеш га даривати, бабо: У нас доста коња и сокола, У нас доста пера и калпака.“

Und es sprachen die neun Jugowitschen: „Leicht kannst du ihn ja beschenken, Vater! Haben ja genug der Rosse und Falken, Mützen auch und Federn eine Menge.“

Тад’ говори силан цар Стјепане: Има Лазо коња и сокола, Лазо има пера и калпака; Лазо тога не ће ни једнога, Лазо хоће Милицу ђевојку, Баш Милицу милу мљезиницу, Милу сеју девет Југовића.“ Кад зачуше девет Југовића, Поскочише на ноге лагане, Потегоше маче коврдине, Да погубе цара у столици. Моли им се стари Југ Богдане:

Da begann der mächtige Zar Stephan: „Rosse und Falken hat der Laso selber, Laso hat auch Federn viel und Mützen, Laso will nur eines von euch haben, Laso will die Milicaa, die Jungfrau, Deine liebe Jüngstgeborne, Bogdan, Eure schöne Schwester, Jugowitschen!“ Als die Jugowitschen dies vernommen, Leichten Fußes sprangen auf die Brüder, Und die Schwerter aus der Scheide reißend, Stürzten sie dem Sessel zu des Zaren. Doch es bittet sie der alte Bogdan:

„Нете, синци, ако Бога знате! Ако данас цара погубите, На вама ће останути клетва; Док извадим књиге старославне, Да ја гледам, синци, у књигама, Јел’ Милица Лазу суђеница.“

„Halt ihr Söhne! wenn ihr Gott erkennet! Wenn den Zaren ihr mir heute tötet, Ewiglich wird Fluch euch dann verfolgen. Halt, bis ich die Bücher nachgeschlagen, Bis die Bücher ich befragt, ihr Söhne! Ob dem Laso Milica bestimmt sei!“

Књиге учи стари Југ Богдане, Књиге учи, грозне сузе рони: „Нете, синци, ако Бога знате! Милица је Лазу суђеница, На њему ће останути царство, Са њоме ће царовати Лазо У Крушевцу код воде Мораве.“

In den altberühmten Büchern liest er, Liest darin, und bittre Tränen weint er: „Halt! Ihr Kinder, wenn Ihr Gott erkennet! Wohl bestimmt ist Milicaa dem Laso, Und das Zarenreich wird ihm verbleiben, Wird mit Milica einst Laso herrschen, Einst in Kruschewaz an der Morawa.“

Кад то зачу силан цар Стјепане, Он се маши руком у џепове, Те извади хиљаду дуката, И извади од злата јабуку, У јабуци три камена драга, Обиљежје Милици ђевојци.293

Als der mächtige Zar dies vernommen, In den Gürtel griff er mit den Händen, Tausend Goldstück gab er her, zur Stelle; Aber einen schönen goldnen Apfel, Ausgezieret mit drei Edelsteinen, Gab der Braut er zum Verlobungspfande.294

293 Vuk Stefanović Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga druga u kojoj su pjesme junačke najstarije. Beograd 1958, S.  177–182. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Vuk + Band + Seite. 294 Die deutsche Übersetzung, die auch Mickiewicz zur Verfügung stand, stammt von Therese Albertine Luise von Jacob (1797–1870); Pseudonym – Talvj: Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Neue umgearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Teil. (Zweite Auflage). Leipzig 1853, S. 109–114. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Talvj + Teil + Seite.

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Teil I

Durch dieses historische Lied tritt Lazar zum ersten Male in den Bereich der Dichtung. Vom Zaren Stefan ist in der serbischen Lieder- und Gedichtsammlung, die wir besitzen, wenig die Rede. Diese Sammlung aber, welche schon alle möglichen Ideale, von denen wir gesprochen, enthält, vermehrt sich alltäglich und leicht ist es möglich, daß sich noch neue Sachen zur Ausfüllung dieser hellfarbigen Bilder finden werden. Was die dichterische Umwandlung der christlichen Begriffe in die Mythologie betrifft, so wollen wir das Beispiel dieser Verkrüppelung der religiösen Vorstellungen in den sinnlichen und tastbaren Kreis, sogleich in einer kleinen Legende, bekannt unter dem Titel „Sveci blago dijele“295, aufführen. Die Heiligen haben in der serbischen Poesie viel Ähnlichkeit mit den Göttern Griechenlands, und deshalb könnte auch ein tieferes Eindringen in jene über die wichtige Aufgabe der poetischen Geschichte der Griechen entscheiden. Glaubte man doch schon, daß z.B. die griechische Mythologie von Homer anfängt, daß die Dichter die griechische Mythologie geschaffen. Und doch sieht man schon in der ältesten griechischen Poesie die religiösen Vorstellungen bereits vollendet, ihr System bei weitem genauer ausgeprägt, und das Ganze vollständiger als in den Homeriden. In letzteren die Quelle der Mythologie suchen, heißt ebensoviel, als nach dem serbischen Volkslied die anfängliche Geschichte des Christentums zeichnen. Wie flach würde das Christentum erscheinen, und wie häufig würden wir seine Vorstellungen für lächerlich und unvernünftig halten! Und dennoch sind diese Vorstellungen der christlichen Religion entnommen; nur hat das Volk nach dem Verschwinden der Zivilisation des Landes, die Überreste der Sagen bewahrend, sie selbst umgearbeitet. Ein gleiches Verhältnis kann zwischen Homers Epoche und den Zeiten des Orpheus und Musaios296 obwalten. Das serbische Lied, das wir erwähnten, stellt die Heiligen im Himmel um die Teilung der Patronschaft über verschiedene Dinge im Streit dar. Die Mutter Gottes nähert sich in diesem Augenblick und erzählt ihnen die Unglücksfälle, die sich in Indien, d.h. in sehr weiter Ferne zugetragen haben. Der heilige Elias, über den Donner gebietend, hat hier große Ähnlichkeit mit Jupiter:

295 Wörtlich: Die Heiligen teilen den Schatz; bei Talvj „Die Heiligen im Zorn“ (Talvj, I, S. 55). 296 Musaios (um 490–530); spätantiker Dichter; vgl. Musaios: Hero und Leander. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar von Karlheinz Kost. Bonn 1971.

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Мили Боже! чуда великога! Или грми, ил’ се земља тресе! Ил’ удара море у брегове? Нити грми, нит’ се земља тресе, Нит’ удара море у брегове, Већ дијеле благо светитељи: Свети Петар и свети Никола, Свети Јован и свети Илија, И са њима свети Пантелија; Њим’ долази Блажена Марија, Рони сузе низ бијело лице. Њу ми пита Громовник Илија:

„Lieber Gott! o übergroßes Wunder! Rollt der Donner? oder bebt die Erde? Schlagen Meereswogen ans Gestade? Nicht der Donner ist es, noch die Erde, Noch das Meer, das ans Gestade schlaget. Teilen sich die Heiligen in die Segen: Teilen sich St. Petrus und St. Niklas, St. Johannes auch und St. Elias, Außerdem der heilige Pantalemon. Und es nahet die selige Maria, Tränen netzen ihr das weiße Antlitz, Und sie fragt der Donnerer Elias:

„Сестро наша, Блажена Марија! Каква ти је голема невоља, Те ти рониш сузе од образа?“ Ал’ говори Блажена Марија: „А мој брате, Громовник Илија! Како не ћу сузе прољевати, Кад ја идем из земље Инђије, Из Инђије из земље проклете? У Инђији тешко безакоње: Не поштује млађи старијега, Не слушају ђеца родитеља; Родитељи пород погазили, Црн им био образ на дивану Пред самијем Богом истинијем! Кум свог кума на судове ћера, И доведе лажљиве свједоке И без вјере и без чисте душе, И оглоби кума вјенчанога, Вјенчанога или крштенога; А брат брата на мејдан зазива; Ђевер снаси о срамоти ради, А брат сестру сестром не дозива.“

„Unsre Schwester, selige Marija! Welches große Leid hat Dich befallen, Daß Dir Thränen von den Wangen strömen?“ Ihm versetzt die selige Maria: „Ach, mein Bruder! Donnerer Elias! Wie sollt ich nicht heiße Thrillen weinen, Da ich komme aus dem Lande Indien, Aus dem gottverfluchten Inderlande? Lastet schwer Gottlosigkeit auf Indien! Nicht den Eltern ehret mehr der Jüngre, Folgt das Kind nicht Vater mehr noch Mutter, Ihre Frucht verderbten die Erzeuger. Mög ihr Antlitz schwarz sein vor dem Rate, Vor dem wahrhaftigen Gott! Vor Gericht erscheinen Pat und Pate, Vor Gericht mit lügnerischen Zeugen, Ohne Glauben, mit befleckten Seelen, Gold erpressend von dem Trauungspaten. Zweikampf kämpfen leibliche Gebrüder, Sicher ist die Braut nicht beim Brautführer, Und die Schwester ehrt nicht mehr der Bruder!“

Њој говори Громовник Илија: Сејо наша, Блажена Марија! Утри сузе од бијела лица, Док ми овђе благо под’јелимо, Отић’ ћемо Богу на диване, Молићемо Бога истинога, Нек нам даде кључе од небеса, Да затворим’ седмера небеса, Да ударим’ печат на облаке, Да не падне дажда из облака, Плаха дажда, нити роса тиха,

Sprach darauf der Donnerer Elias: „Unsre Schwester! selige Maria! Trockne deine Tränen von den Wangen. Sieh, wenn wir geteilt uns in die Segen, Wolln wir gehen in den Rat des Herrn, Wollen den wahrhaftigen Gott anflehen, Daß er uns die Himmelsschlüssel gebe; Daß die sieben Himmel wir verschließen, Unser Siegel auf die Wolken drücken, Daß sie Nachts nicht mehr der Mond durchleuchte,

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Teil I Нити ноћу сјајна мјесечина, Und nicht Regen falle aus den Wolken, Да не падне за три годинице; Weder stromweis, noch im sanften Taue Да не роди вино ни шеница, Daß er nicht drei volle Jahre falle, Ни за цркву часна летурђија.“ Weder Wein noch Waizenkorn gedeihe, Кад то чула Блажена Марија, Noch die heiligen Brote für die Kirche!“ Утр сузе од бијела лица. Als dies hört die selige Maria, Када свеци благо под’јелише: Wischt vom weißen Antlitz sie die Tränen. Петар узе винце и шеницу, Und die Heiligen teilten jetzt die Segen: И кључеве од небеског царства; Wein und Waizen nahm der heilige Petrus, А Илија муње и громове; Und die Schlüssel von dem Himmelreiche; Пантелија велике врућине; Nahm Elias Donnerkeil und Blitze; Свети Јован кумство и братимство. Pantalemon nahm die große Hitze; И крстове од часнога древа; Bruderbund und Patenschaft Johannes, А Никола воде и бродове; Und die Kreuze von dem heiligen Holze; Па одоше Богу на диване, Aber Flüß und Weiden nahm St. Niklas. Молише се три бијела дана Und sie gingen nach dem Rat des Herrn, И три тавне ноћи без престанка, Und sie beteten drei weiße Tage, Молише се, и умолише се: Ohne Unterlaß drei dunkle Nächte Бог им даде од небеса кључе, Beteten, bis endlich sies erbaten. Затворише седмера небеса, Gab der Herr des Himmelreiches Schlüssel, Ударише печат на облаке, Und sie schlossen zu die sieben Himmel, Те не паде дажда из облака, Drückten ihre Siegel auf die Wolken, Плаха дажда, нити роса тиха, Daß der Mond sie nicht durchleuchten Нит’ обасја сјајна мјесечина: konnte, И не роди вино ни шеница, Noch der Regen aus den Wolken konnte, Ни за цркву часна летурђија. Weder stromweis, noch im sanften Taue; Daß nicht Wein noch Waizen mehr gediehe, Пуно време за три годинице: Noch zum Abendmahl die heiligen Brote. Црна земља испуца од суше, У њу живи пропадоше људи; Dauert volle Zeit drei langer Jahre. А Бог пусти тешку болезању, Von der Trockniß borst die schwarze Erde, Болезању страшну срдобољу, Offnen Mundes Lebende verschlingend; Те помори и старо и младо, Und es schickte Gott die schwere И растави и мило и драго. Krankheit, Herzensweh! entsetzenvolle Krankheit! Цио остало, то се покајало, Alt und Jung rafft hin sie ohn Erbarmen, Господина Бога вјеровало. Aus einander reißt sie Lieb und Teure. И осташе Божји благосови, Да не падне леда ни снијега Was da übrig blieb, ging reuig in sich, До један пут у години дана; Betete und glaubte an Gott den Herrn. Како онда, тако и данаске. Und es blieben Segnungen von oben, Боже мили, на свем тебе вала! Daß nur einmal in dem langen Jahre Што је било, више да не буде!297 Schnee und Eis vom Himmel niederfalle. Sowie damals, also ist es heute! Lieber Gott, für Alles, Preis und Dank dir! Nimmer mehr geschehe, was geschehen!298

297 „Sveci blago dijele“,Vuk, II, S. 9–11. 298 Talvj I, S. 55–58.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

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Betrachten wir die Form und Gestaltung der serbischen Dichtungen, so finden wir in ihnen auch große Ähnlichkeit mit der Homerischen. Die Poesie der alten Skandinavier und der Deutschen der Neuzeit hat vor allem einen lyrischen Charakter; dieser entspringt aus dem germanischen Trieb zu den unbezeichneten und unbekannten Reichen der Ideenwelt. Die Dichtung der Slaven trägt besonders den Charakter des Epos; sie hält sich an ein Volk, das von der Vorstellung der Reichsmacht durchdrungen ist, an ein Volk, welches sein politisches Dasein verloren, aber das Andenken seiner Macht bewahrt hat und seine Taten erzählt. Selbst jene erhabene Unparteilichkeit, die wir in Homer bewundern, zeichnet auch die slavische Poesie aus: ungeachtet der starken Bindung an die volkstümlichen Begriffe, findet man in ihr dennoch eine gewisse religiöse Unparteilichkeit. Vergleichen wir, was uns von dieser Dichtung inmitten eines heute lebenden Volks bekannt ist, mit den Überlieferungen der Homerischen Lieder, so bieten sich uns merkwürdige Bemerkungen. Im Allgemeinen besteht diese Dichtung aus abgeschlossenen Bruchstücken, aus Schilderungen von Begebenheiten, die keinen gehörigen Zusammenhang, noch unmittelbare Verbindung haben, sich jedoch immer an ein Hauptereignis knüpfen. In diesen Bruchstücken, in diesen abgesonderten Erzählungen wiederholen sich häufig einige Verse, einige Meinungen, ein für allemal gegeben und allgemein angenommen. Das Volk weiß sie auswendig und bemüht sich, sie überall anzubringen; verändert wiederum allmählich den Text der Schilderungen, vermehrt oder verkürzt ihn, so daß unmöglich zu unterscheiden, was sich hierin Altertümliches, und was später Hinzugekommenes befindet. Dieses fortwährende Umarbeiten läutert das Wesen der Erzählung, verwischt alles, was die Spur der Individualität des Dichters trägt, was an Manier grenzt; es ist dies fürwahr die einzige Dichtung, frei von Regeln und Formeln. Bei den Alten hatte diese Eigenschaft die Homerische Dichtung, bei den Neueren die serbische. Denn da die erhabensten Schöpfungen das Erzeugnis eines einzelnen Genius sind, so tragen sie immer dessen individuelles Gepräge, was gewöhnlich in das übergeht, was wir Manier nennen. Auf diese Weise bewahrt die serbische Poesie ihr inneres Wesen, verändert aber stets die Form, und ist zugleich altertümlich und immer neu. Allgemein gepflegt, in den Liedern des Volkes tönend, durch Rhapsoden herumgetragen, lebt sie mit dem Leben des ganzen Volkes. Diese Rhapsoden, diese Sänger, häufig auch Schöpfer volkstümlicher Gedichte, sind noch zur Vollendung der Ähnlichkeit mit Homer arm und blind. Nicht nur auf den Bergen, auch auf dem platten Land Serbiens bedeutet ein Blinder und Dichter dasselbe; das Almosennehmen gibt ihm jedoch nicht den niedrigen Charakter der Bettler, setzt sie nicht im Mindesten herab. Geachtet und gastfrei aufgenommen, gehen sie von Dorf zu Dorf, Gebete und Lieder absingend, häufig auch dichterische Erzählungen wiederholend.

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Teil I

Der Hauptherd der Dichtung dieser Gattung ist in den Berglanden, in den Gegenden von Montenegro, in Bosnien und Herzegovina. Hier bilden sich Heldengedichte299 und gehen von hier aus in die Ebenen, wo das Volk sie in ihren Mundarten wiederholt, nur zuweilen einige Worte ändernd. Jedoch faßt in den Ebenen das Heldengedicht nicht leicht festen Fuß: selten singt man dort große Rhapsodien, vielmehr liebt man die Lieder und Erzählungen oder Sagen von Raubmördern, von Gespenstern und Erscheinungen. Erst zu Anfang dieses Jahrhunderts ist diese Poesie Gegenstand der Beachtung für die Ausländer geworden, und der erste unter den Serben, Vuk Stefanović Karadžić300, unternahm die Aufschreibung derselben, er veröffentlichte seine Sammlung in den Jahren 1814–1815.301 Er erzählt, welche Schwierigkeiten er hierbei erfuhr. Die Armen, die Bettler wollten nicht singen vor einem Mann, der das Aussehen eines Fremden hatte. Überdies, wenn einer von ihnen eine schöne Stimme besitzt, vernachlässigt er gewöhnlich die Gedichte, und zieht vor, musikalische Lieder zu singen. Die schönsten Stücke kann man von denjenigen hören, die ohne Gesang Erzählungen, begleitet von ihrer Laute mit einer einzigen Saite [Gusla], vortragen, und zuweilen nur gefühlvollere Stellen oder wichtigere Begebenheiten absingen. Karadžić erwähnt besonders einen Greis302, der alle Landeslieder wußte, und von welchem er das Meiste zu seiner Sammlung entlehnte. Es war dies ein ernster Mann, einst ein wandernder Kaufmann, der später, da er einen Türken erschlagen, gezwungen ward, in den Bergen sich aufzuhalten, wo er sein Gedächtnis mit dem ungeheuren Schatz der Volksdichtungen bereicherte.

299 Vgl. Maximilian Braun: Das serbokroatische Heldenlied. Göttingen 1961. 300 Vuk Stefanović Karadžić (1787–1864); vgl. dazu den Sammelband – Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem Internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988. 301 Mala prostonarodnja slaveno-serbska pesnarica. Wien 1814 (Reprint: Beograd 1958); Narodna srbska pěsnarica. Wien 1815; es folgte dann die vierbändige Ausgabe – Narodne srpske pjesme. Skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić (Jadranin in Tršića, a od starine Drobnjak iz Petnice), filosofije doktor; Sanktpeterburgskoga voljnoga opštestva ljubitelja Ruske slovesnosti, i Krakovskoga učenoga društva člen korespondent. Knjiga prva, u kojoj su različne ženske pjesme. Leipzig 1824; Knjiga druga, u kojoj su pjesme junačke najstarije. Leipzig 1823; Knjiga treća, u kojoj su pjesme junačke poznije. Leipzig 1823; Knjiga četvrta, u kojoj su različite junačke pjesme. [Wien] 1833. 302 Tešan Podrugović (1783?–1820?); vgl. Vladan Nedić: Vukovi pjevači. Beograd 1990.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Die serbische Poesie – Die Legende von der „Erbauung Ravanicas“ (Zidanje Ravanice) – Beispiele aus anderen Liedern; Beschreibung der Schlacht auf dem Amselfeld – Zur Poetik der serbischen Lieder – Drei Epochen der serbischen Literatur: Heldenlieder, romaneske und romantische Dichtung – Königssohn Marko und König Arthur.

Um in die einzelnen poetischen Bruchstücke, die das slavische Nationalepos bilden, eine feste Ordnung zu bringen, müßte man mit der frommen Legende von der Erhebung des Tempels in Ravanica [„Zidanje Ravanice“] beginnen. Der Zar Lazar, jener Edelknabe, der eine Fürstin heiratete und den Thron Serbiens bestieg, zeigt sich hier aus dem Höhepunkte seines Glanzes und seiner Macht. Prachtvoll begeht er hier den Jahrestag seiner Taufe, einen bei den Slaven feierlichen Tag. Die zusammengebetenen Herren des ganzen Landes sitzen schmausend am kaiserlichen Tische. Wahrend des Mahls nähert sich ihm seine Gemahlin, die Zarin Milica, dazumal auch die schönste der Frauen, in herrliche Gewänder gehüllt, die der Dichter vom Haupt bis zu den Schuhen detaillierend beschreibt. Wenngleich die Sitte verbot, sich zu einer solchen Stunde zu nähern, und noch viel mehr den Mann anzusprechen, so erklärt sie dennoch, nicht länger verschweigen zu können, was ihr in den Sinn gekommen; und indem sie nun anführt, wie alle seine Vorfahren aus dem Geschlecht Nemanja nicht nutzlos Schätze gesammelt, sondern für das Heil ihrer Seelen Kirchen und Klöster gegründet, zählt sie deren Stiftungen auf. Für die slavische Geschichte ist diese Stelle schätzenswert, ebenso wie die Erwähnungen in der „Ilias“ über den Ursprung einiger Städte, worauf sich später die griechischen Historiographen vielmals berufen. Der Zar Lazar, von den Worten seiner Frau betroffen, erklärt, daß er in Resava an der Ravana eine Kirche aufführen will, wie es noch keine gegeben: […] „Хоћу градит’ цркву Раваницу У Ресави крај воде Равана; Имам блага, колико ми драго, Ударићу темељ од олова, Па ћу цркви саградити платна, Саградићу од сребра бијела, Покрићу је жеженијем златом, Поднизати дробнијем бисером, Попуњати драгијем камењем.“

[…] „Bau’n will ich Rawaniza, die Kirche, In Ressawa, an dem Strome Rawan; Geld hab’ ich soviel ich nur begehre. Blei soll sein das Fundament der Kirche, Und mit Mauern will ich sie umgeben, Auferbaut von glänzend weißem Silber, Will sie mit aufgereihten Perlen Und mit Edelsteinen sie verzieren.“

Alle Herren standen auf, verneigten sich und belobten das Vorhaben des Zaren; nur der einzige Miloš Obilić, derselbe, welcher später den Murad tötete, blieb © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_018

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Teil I

unverrückt sitzen, und sah in das Buch, d.h. in jenes der Schicksale, welches in der slavischen Dichtung den Kalchas303 der Griechen vertritt, und der befragte Wahrsager vor jedem wichtigen Entschluß, vor jeder Hauptschlacht ist. Lazar, den sinnenden Miloš wahrnehmend, füllte den Becher und sprach: „Здрав да си ми, војвода Милошу! Па ми и ти штогођ проговори, Јера хоћу задужбину градит’.“

„Auf dein Wohlsein, o Wojwode Milosch! Aber wolle auch ein Wort mir sagen, Ob ich eine Stiftung bauen solle!“

Скочи Милош од земље на ноге, Скиде с главе самур и челенке, Па је часно кнеза подворио; Додаше му златну купу вина, Прими Милош златну купу вина, Не пије је, почне бесједити: „Вала кнеже, на бесједи твојој! Што ти хоћеш задужбину градит’, Време није, нити може бити; Узми, кнеже, књиге цароставне, Те ти гледај, што нам књиге кажу:

Milosch sprang vom Boden auf die Füße, Nahm vom Haupte Zobel und Tschelenken, Neigte tief sich vor dem heil’gen Fürsten, Reicht ihm Jener einen goldnen Becher. Milosch nahem den goldnen Becher Weines, Doch nicht trank er, und begann zu sprechen: „Preis und Dank dir, Fürst, für deine Worte! Wie du bauen willst die fromme Stiftung, Dazu ist und kann es jetzt nicht Zeit sein! Nimm, o Fürst, die alten Zarenbücher, Siehe selbst, was uns die Bücher sagen:

Настало је пошљедње вријеме, Хоће Турци царство преузети, Хоће Турци брзо царовати, Обориће наше задужбине, Обориће наше намастире, Обориће цркву Раваницу, Ископаће темељ од олова, Слијеваће у топе ђулове, Те ће наше разбијат’ градове; И цркви ће растурити платна, Слијеваће на ате ратове; Хоће цркви покров растурити, Кадунама ковати ђердане; а цркве ће бисер разнизати, Кадунама поднизат’ ђердане; Повадиће то драго камење, Ударат’ га сабљом’ у балчаке И кадама у златно прстење; Већ ме чу ли, славни кнез-Лазаре!

Ist die letzte Zeit herangekommen, Überwält’gen wird das Reich der Türke, Bald als Herrscher walten wird der Türke; Niederreißen wird er unsre Klöster, Niederreißen unsre heil’gen Stifte, Dein Rawaniza auch niederreißen. Aus dem Grunde wird das Blei er graben, Es zerschmelzen zu Kanonenkugeln, Unsre festen Burgen zu zerschmettern; Wird zertrümmern deiner Kirche Wände, Schmuck für seine Rosse draus zu schmieden; Wird der Kirche goldnes Dach zertrümmern. Ihren Frau’n zu feinen Halsschmuckketten; Wird die Kirch’ entkleiden ihrer Perlen, Ihrer Frauen Brust damit zu zieren; Wird heraus die Edelsteine brechen,

303 Kalchas (Κάλχας) – Seher der Griechen; vgl. Thomas  A.  Schmitz: Vorhersagen als narratives Mittel in der griechischen Epik von Homer bis Quintus von Smyrna. In: Mantik: Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur. Hrsg. Wolfgang Hogrebe. Würzburg 2005, S. 111–132.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Да копамо мермера камена, Да градимо цркву од камена, И Турци ће царство преузети И наше ће задужбине служит’ Од вијека до суда Божјега: Од камена ником ни камена!“304 […]

191 In des Säbels Griff sie einzufügen, In die goldnen Ringe ihrer Frauen. Darum höre mich, glorreicher Herrscher! Laß vom Fels uns Marmorsteine brechen, Uns von festem Stein die Kirch’ erbauen. Mag der Türke das Reich bewält’gen, Gott zum Dienste stehen unsre Kirchen Ewiglich bis zum Gerichtstag Gottes, Denn vom Stein holt Keiner einen Stein nur!“305 […]

Lazar befolgte den Rat, der auch wirklich in Erfüllung ging, denn bis auf den heutigen Tag soll das in der serbischen Dichtung hochberühmte Ravanica irgendwo bestehen. Nach diesem Bruchstück, welches das traurige Vorgefühl der künftigen Unglücksfälle ausdrückt, könnte man eine andere Stelle erwähnen, wo schon der Sultan Murad mit Heeresmacht anrückt und dem Lazar die Herausforderung zuschickt: Цар Мурат у Косово паде, Како паде, ситну књигу пише, Те је шаље ка Крушевцу граду, На кољено Српском кнез-Лазару: „Ој Лазаре, од Србије главо! Нит’ је било, нити може бити: Једна земља, а два господара; Једна раја, два харача даје; Царовати оба не можемо, Већ ми пошљи кључе и хараче, Златне кључе од свијех градова, И хараче од седам година; Ако ли ми то послати не ћеш, А ти хајде у поље Косово, Да сабљама земљу дијелимо.“306 […].

Es zog Zar Murat auf das Kosovo-Feld, Schrieb dort einen feingeschriebenen Brief, Sandte ihn nach der Burg Kruševac, Zu Händen Lazars, des Fürsten der Serben: „O Lazar, Haupt des serbischen Landes! Solches gab es nie, noch kann es das geben: Ein Land nur und der Herrscher zwei, Eine Raja zahlt doppelte Steuer. Wir beide können nicht Herrscher sein, So schicke mir die Schlüssel von allen Burgen, Und die Steuer von sieben Jahren. Wirst du mir aber dieses nicht schicken, So komm denn nach dem Kosovo-Feld, Daß wir das Land mit den Säbeln teilen. […]

304 „Zidanje Ravanice“, Vuk 1958, II, S. 196–197. 305 Talvj I, S. 116–118. 306 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[I] (Fragmente aus verschiedenen KosovoLiedern), in: Vuk 1958, II, S.  301; bei Talvj fehlen die Fragmente  I–III; vgl. dazu K.  Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma, op. cit., S.  175–176. Übersetzung nach Maximilian Braun, op. cit., S. 230.

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Teil I

Nachdem Lazar das Schreiben des Sultans gelesen, weinte er bitterlich, verschickte an die Untertanen den Befehl, daß man sich umgehend sammeln solle, und sprach fluchend: […] „Ко не дође на бој на Косово, Од руке му ништа не родило: Ни у пољу бјелица пшеница, Ни у брду винова лозица!“307

[…] „Wer nicht zur Kosovo-Schlacht komme, Dem möge nichts mehr glücken: Weder die Erde weißen Waizen geben, Noch die Weinberge die Trauben!“

Hier muß man das Weitere, was der Schauplatz der Ereignisse darbietet, hinzufügen. Das ist die Sendung eines Falken von der Allerheiligsten Jungfrau zu Jerusalem, mit der Anfrage bei Lazar, was er wohl wähle, das irdische oder das himmlische Reich? Полетио соко тица сива Од Светиње од Јерусалима, И он носи тицу ластавицу. То не био соко тица сива, Веће био светитељ Илија; Он не носи тице ластавице, Веће књигу од Богородице, Однесе је цару на Косово, Спушта књигу цару на колено, Сама књига цару беседила:

Kam ein grauer Edelfalke geflogen, Weither von Jerusalem, dem heiligen, Und er trägt ein kleines Schwalbenvöglein; Doch es war kein grauer Edelfalke, Nein, es war der heilige Elias; Und er trug kein kleines Schwalbenvöglein, Trug ein Schreiben von der Mutter Gottes, Trug es auf das Amselfeld zum Zaren. Fällt dem Zaren auf das Knie das Schreiben, Und das Schreiben spricht zum Zaren als:

„Царе Лазо, честито колено! Коме ћеш се приволети царству? Или волиш царству небескоме, Или волиш царству земаљскоме? Ако волиш царству земаљскоме, Седлај коње, притежи колане, Витезови сабље припасујте, Па у Турке јуриш учините, Сва ће Турска изгинути војска; Ако л’ волиш царству небескоме, А ти сакрој на Косову цркву, Не води јој темељ од мермера, Већ од чисте свиле и скерлета, Па причести и нареди војску; Сва ће твоја изгинути војска, Ти ћеш, кнеже, шњоме погинути.“

„Zar Lazar! Du von erlauchtem Stamme! Sage, welches Reich du dir erwählest; Willst das Himmelreich du lieber haben, Oder willst das irdische Reich du lieber? Wenn das irdische Reich du dir erwählest, Sattle Rosse, zieh die Gurte fester, Laß die Helden ihre Säbel schnallen, Greife an mit Sturm das Heer der Türken, Und das ganze Heer wird Dir erliegen; Aber willst das Himmelreich Du lieber, Wohl! errichte auf dem Amselfelde Eine Kirche, nicht auf Marmorgrunde, Nein, gefertiget aus Seid’ und Scharlach, Daß das Heer zum Abendmahle gehend, Und entsündigt sich zum Tod bereite! Alle Deine Krieger werden fallen, Du, o Fürst, mit ihnen untergehen!“

307 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[II], in: Vuk 1958, II, S. 301.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) А кад царе саслушао речи, Мисли царе мисли свакојаке: „Мили Боже, што ћу и како ћу? Коме ћу се приволети царству? Да или ћу царству небескоме? Да или ћу царству земаљскоме? Ако ћу се приволети царству, Приволети царству земаљскоме, Земаљско је за малено царство, А небеско у век и до века.“ Цар воледе царству небескоме, А него ли царству земаљскоме, […].“308

193 Als der Zar Lazar dies Wort vernommen, Dacht’ er nach, ein Jegliches bedenkend: „Herr, mein Gott! was soll und welches soll ich? Welches wähl’ ich mir von beiden Reichen? Soll ich mir das Himmelreich erwählen? Oder mir das irdische Reich erwählen? Wenn das irdische Reich ich mir erwähle: Irdisches ist kurz nur und vergänglich, Himmlisches für Zeit und Ewigkeiten!“ Und der Zar will vor dem irdischen Reiche Lieber sich das Himmelreich erwählen. […].“309

Nirgends tritt der christliche Gedanke, eine neue Bahn der Dichtung anhebend, so klar und deutlich ausgeprägt hervor, wie in diesem slavischen Gedicht. Wie bekannt, waren die Heroen des Altertums glückliche Menschen, reich, gesund und voll physischer Kraft. Homer nennt die Reichen und Gewaltigen immer Söhne und Lieblinge der Götter, und betrachtet dagegen das Elend und Unglück als Beweis der Ungnade und des Zorns der Himmlischen. Dieser Begriff ist die Grundlage der Epopöe, und das Heldengedicht endet dort, wo die Unglücksfälle des Helden beginnen. Bei den Dichtern des Christentums, bei den Minnesängern und Troubadouren, die in moralischer Hinsicht höher, und in literarischer vollkommner als die Slaven sind, ist jedoch diese dem Evangelium gemäße Erhebung der Armut und des Leidens nicht so ausgeprägt. Namentlich zeigen sich die späten Dichter, die literarisch gebildet waren und unter dem Einfluß der Alten, zuweilen der Griechen selbst, schrieben, häufig fortgerissen von den Überlieferungen der nördlichen und der germanischen Völker. Die Vorstellung des völligen Aufopferns seines Selbst gehört der serbischen Epopöe; sie ist nichts anderes, als eine durchgehende Erzählung großer Niederlagen und Unglücksfälle. Den Triumph bestimmt sie im Himmel, und fordert auf der Erde nur Ruhm für seine Helden; da im Gegenteil in der Poesie der Neuzeit, und in der Dichtung der wieder zu Heiden gewordenen Völker am häufigsten die Kraft gepriesen wird. Diese Verehrung der Kraft und des Wohlergehens, die am Beginn der Staatengeschichte des Altertums aufging, beschließt hier die Taten der Völker. Nachdem Lazar die Herausforderung Murads erhalten, und sich für das Los der Schlacht entschieden, bereitet er ein prachtvolles Gastmahl; denn alle wichtigen Begebenheiten in den slavischen Dichtungen müssen mit einem 308 „Propast carstva srpskoga“ (Der Untergang des serbischen Reichs), Vuk 1958, II, S. 288–290. 309 Bei Talvj „Fromme Vorbereitung“, in: Talvj II, S. 121–122.

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Teil I

Schmaus anfangen und enden. Die zwei Woiwoden Miloš Obilić und Vuk Branković sind schon in Streit geraten. Vuk schmiedet Verrat und sucht den Verdacht desselben auf Miloš zu werfen; Lazar verfährt mit ihnen offen und edel. Zar Lazar gibt auf seiner Festung Kruševac ein Gastmahl. Alle Großen und die vornehmsten Frauen310 sitzen am Tisch. Ihm zur Rechten sitzt der greise Jug Bogdan; neben ihm seine Söhne, die neun Jugovići, zur Linken Vuk Branković und ganz am Ende der Woiwode Miloš Obilić (der Platz ganz am Ende des Tisches ist der ehrenvollste bei den Slaven). Den güldenen Becher nimmt Zar Lazar zur Hand, und spricht zu seinen serbischen Herren: […] „Коме ћ’ ову чашу наздравити? Ако ћу је напит’ по старјешству, Напићу је старом Југ-Богдану; Ако ћу је напит’ по господству, Напићу је Вуку Бранковићу; Ако ћу је напит’ по милости, Напићу је мојим девет шура, Девет шура, девет Југовића; Ако ћу је напит’ по љепоти, Напићу је Косанчић-Ивану; Ако ћу је напит’ по висини, Напићу је Топлици Милану; Ако ћу је напит’ по јунаштву, Напићу је војводи Милошу.

[…] „Wem verehr’ ich dieses Becher Weines? Brächte ich ihn dar gemäß dem Range, Müßte ich ihn Alt-Jug-Bogdan bringen; Brächte ich ihn dar gemäß dem Adel, Müßte ich ihn Vuk Branković bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Liebe, Müßt’ ich ihn meinen neun Schwägern bringen; Meinen Schwägern, den neun Jugovićen; Brächte ich ihn dar gemäß der Schönheit, Müßt’ ich ihn Ivan Kosančić bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Größe, Müßt’ ich ihn Milan Toplica bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Kühnheit, Müßt’ ich ihn Miloš Obilić bringen.

Та ником је другом напит’ нећу, Већ у здравље Милош-Обилића! Здрав, Милошу, вјеро и невјеро! Прва вјеро, потоња невјеро! Сјутра ћеш ме издат’ на Косову, И одбјећи турском цар-Мурату!“ […]“311

Doch nichts anderm soll mein Zutrunk gelten Als dem Wohle von Miloš Obilić. Heil dir, Miloš, Treuer und Verräter! Einst Getreuer, späterhin Verräter! Du wirst mich im Amselfeld verraten Und zum Kaiser Murad überlaufen! […]“312

310 Im Original „господичиће“ (junge Herren) – vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkim i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 100. 311 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[III], Vuk II, S. 302–303. 312 Unter dem Titel „Das Nachtmahl des Fürsten“ übersetzt von Stefan Schlotzer, in: Serbische Heldenlieder. Übersetzt von Stefan Schlotzer. Mit einem Kommentar von Erika Beermann. München 1996, S. 107–108; bei Talvj fehlt dieser Text.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

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Miloš stand auf, leerte den Becher und sagte ruhig: „Auf dem Amselfeld werden wir sehen, wer der Treue und wer der Verräter ist!“ („Виђећемо у пољу Косову, / kо је вјера, ко ли је невјера!“).313 Im folgenden Lied (IV) nahm Miloš in der Nacht vor dem Kampf zwei Freunde, von denen der eine als der Schönste, der andere als der am besten Gewachsene oben angeführt sind, und ging ins türkische Lager, um Murad zu töten. Unterwegs beratschlagte er mit den Gefährten, sie Brüder heißend. Bei den Serben, und im Allgemeinen bei den Slaven, bedeuten ein Gefährte und ein Bruder fast das Nämliche; es gab ritterliche Genossenschaften oder Verbrüderungen, worüber wir im Verlaufe unserer Vorträge mehr sprechen werden. Miloš sagt: „Побратиме, Косанчић-Иване, Јеси л’ турску уводио војску? Је ли много војске у Турака? Можемо ли с Турци бојак бити? Можемо ли Турке придобити?“ Вели њему Косанчић-Иване: „О мој брате, Милош Обилићу, Ја сам турску војску уводио, Јесте силна војска у Турака: Сви ми да се у со преметнемо, Не би Турком ручка осолили!“ […].

„O Schwurbruder Ivan, Kosančiće, Hast du denn das Türkenheer erkundet? Hat der Türke eine große Streitmacht? Können wir uns mit den Türken schlagen? Können wir die Türken niederringen?“ Zu ihn spricht der Kosančiće Ivan: O mein Bruder Miloš, Obiliće, Habe wohl das Türkenheer erkundet, Ein gewalt’ges Heer gehört den Türken: Wenn wir alle uns in Salz verwandeln, Würzen wir den Türken nicht die Mahlzeit!“ […]

Dieser Vergleich erinnert an einen ähnlichen, von Homer gebrauchten, wo Agamemnon314 die Griechen anfeuernd, sagt: sie wären so zahlreich, daß, wenn ein Trojaner für zehn Griechen den Wein einschenkte, so würden noch viele Zehner ohne Mundschenken bleiben. Dies ist fast dieselbe Weise, den Gedanken auszudrücken. „Ево пуно петнаест данака Ја све ходах по турској ордији, И не нађох краја ни хесапа: […]“

„Sieh, es sind jetzt volle fünfzehn Tage, Die ich in der Türkenmacht umherzog, Und ich fand kein Ende, keinen Abschluß: […]“

Hier folgen Beschreibungen von Einzelheiten der Örtlichkeit, sehr schätzbar für die Geschichte, weiter fährt Kosančić fort:

313 Vuk II, S. 303. 314 Vgl. „Ilias“, II. Gesang, Verse 123–129.

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Teil I „Све је турска војска притиснула, Коњ до коња, јунак до јунака, Бојна копља као чарна гора, Све барјаци као и облаци, А чадори као и сњегови; Да из неба плаха киша падне, Ниђе не би на земљицу пала, Већ на добре коње и јунаке.“ […]

Überall dort liegt die Türkenstreitmacht: Pferd an Pferd und Recke neben Recke, All die Speere wie ein schwarzer Bergwald All die Fahnen wie des Himmels Wolken, Und die Zelte wie ein weites Schneefeld. Wenn vom Himmel jäher Regen fiele, Nirgend fiele dieser auf die Erde, Sondern auf die Pferde und die Recken. […]

Hier fragt wiederum Miloš: „Ја Иване, мио побратиме, Ђе је чадор силног цар-Мурата? Ја сам ти се кнезу затекао Да закољем турског цар-Мурата.“ […] Ал’ говори Косанчић Иване: „Да луд ти си, мио побратиме! Ђе је чадор силног цар-Мурата, Усред турског силна таобора, Да ти имаш крила соколова, Пак да паднеш из неба ведрога, Перје меса не би изнијело.“315 […]

„Lieber Ivan, o du mein Schwurbruder, Sag, wo steht das Zelt des Kaisers Murad? Ich versprach dem ehrenreichen Fürsten, Türkenkaiser Murad zu erstechen.“ […] Doch da spricht der Kosančiće Ivan: „Töricht bist du, o du mein Schwurbruder! Wo des mächt’gen Kaisers Murad Zelt steht, Mittelpunkt im mächtigen Türkenlager – Selbst wenn du des Falken Flügel hättest Und du dort aus heiterm Himmel einfielst, Trügen dir kein Fleisch heraus die Federn.“316 […]

Endlich bittet ihn Miloš, er möchte dem Zaren nichts sagen, und mit seiner Erzählung die christlichen Heerscharen nicht entmutigen. Was die Beschreibung der Schlacht selbst betrifft, so wird diese verschiedentlich in mannigfaltigen Bruchstücken, die nicht ganz mit einander übereinstimmen, erzählt. Vom Tode Jug-Bogdans und seiner Familie, ja selbst Lazars, gibt es viele sich widersprechende Sagen. Bekannt ist aus der Geschichte, daß JugBogdan mit den Gebrüdern zehn Jahre vor der Niederlage auf dem Amselfeld gefallen ist, die Dichter jedoch besingen den Tod des Vaters und seiner neun Söhne immer als hier geschehen. Die schönste Beschreibung dieser Schlacht („Car Lazar i carica Milica“) findet sich in folgenden Stellen, von denen die erste das Bild des sich in Marsch setzenden Heeres gibt.

315 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[IV], Vuk, II, S. 304–305. 316 Übersetzt von Stefan Schlotzer, in: Serbische Heldenlieder, op. cit., S. 109–110.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

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Цар Лазаре сједе за вечеру, Покрај њега царица Милица; Вели њему царица Милица: „Цар-Лазаре, Српска круно златна! Ти полазиш сјутра у Косово, С’ собом водиш слуге ‚и војводе, А код двора ни ког‘ не остављаш, Царе Лазо, од мушкијех глава, Да ти може књигу однијети У Косово и натраг вратити; Одводиш ми девет миле браће, Девет браће, девет Југовића: Остави ми брата бар једнога, Једног брата сестри од заклетве.

Saß der Zar Lazar beim Abendmahle, Neben ihm Frau Miliza, die Zarin. Und es sprach Frau Miliza, die Zarin: „Zar Lasar, du Serbiens goldene Krone! Morgen ziehst du nach dem Amselfelde, Führest mit dir Diener und Woiwoden, Lässest keinen mir an meinem Hofe, Und mir bleibt kein männlich Haupt zurücke, Daß ich einen Brief dir schicken könnte, Nach dem Schlachtfeld und zurück erwarten; Führest ja mit dir neun liebe Brüder, Meine Brüder, die neun Jugowitschen; Laß mir einen einzigen der Brüder, Einen Bruder nur zum Schwur der Schwester!“

Њој говори Српски кнез Лазаре: „Госпо моја, царице Милице! Кога би ти брата највољела Да т’ оставим у бијелу двору?“ – „Остави ми Бошка Југовића.“ Тада рече Српски кнез Лазаре: „Госпо моја, царице Милице! Када сјутра бијел дан осване, Дан осване и огране сунце, И врата се отворе на граду, Ти ишетај граду на капију, Туд’ ће поћи војска на алаје: Све коњици под бојним копљима, Пред њима је Бошко Југовићу, И он носи крсташа барјака; Кажи њему од мене благосов, Нек да барјак, коме њему драго, Па нек с тобом код двора остане.“

Ihr antwortete der Fürst der Serben: „Sage, liebe Miliza, Frau Zarin, Welchen wünschest du von deinen Brüdern, Daß er dir im weißen Hofe bleibe?“ – „Laß mir hier den Jugowitschen Boschko!“ Und es sprach Lazar, der Fürst der Serben: „Also sei es, Miliza, Frau Zarin! Morgen bei des weißen Tages Anbruch, Tages Anbruch und der Sonne Aufgang, Wenn die Pforten sich der Feste öffnen, Geh hinaus du vor das Tor der Feste. Dorten zieht das Heer in Reih und Glied hin, All zu Rosse und mir Kampfeslanzen. Vor ihm her der Jugowitsche Boschko, Der die Kreuzesfahne ihm voranträgt. Ihm vermelde meinen Gruß und Segen, Mag er, wem er will, die Fahne geben Und bei dir in deinem Hofe bleiben!“

Кад у јутру јутро освануло И градска се отворише врата, Тад’ ишета царица Милица, Она стаде граду код капије, Ал’ ето ти војске на алаје: Све коњици под бојним копљима, Пред њима је Бошко Југовићу На алату вас у чистом злату, Крсташ га је барјак поклопио, Побратиме! до коња алата;

Als am Morgen nun der Morgen anbrach, Und sich öffneten der Feste Pforten, Ging Miliza früh hinaus, die Zarin, Und blieb stehen in dem Tor der Feste. Sieh, da zog das Heer in Reih und Glied hin, All zu Rosse und mit Kampfeslanzen; Vor ihm her der Jugowitsche Boschko, Ganz von echtem Golde glänzt sein Rotroß;

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Teil I На барјаку од злата јабука, Из јабуке од злата крстови, Од крстова златне ките висе, Те куцкају Бошка по плећима; Примаче се царица Милица, Па увати за узду алата, Руке склопи брату око врата, Пак му поче тихо говорити: „О мој брате, Бошко Југовићу! Цар је тебе мене поклонио, Да не идеш на бој на Косово, И тебе је благосов казао, Да даш барјак, коме тебе драго, Да останеш са мном у Крушевцу Да имадем брата од заклетве.“

Ал’ говори Бошко Југовићу: „Иди, сестро, на бијелу кулу; А ја ти се не бих повратио, Ни из руке крсташ барјак дао, Да ми царе поклони Крушевац; Да ми рече дружина остала: Гле страшивца, Бошка Југовића! Он не смједе поћи у Косово За крст часни крвцу прољевати И за своју вјеру умријети.“

Пак проћера коња на капију. Ал’ ето ти старог Југ-Богдана И за њиме седам Југовића, Све је седам устављала редом, Ал’ ниједан ни гледати не ће. Мало време за тим постајало, Ал’ ето ти Југовић-Воина, И он води цареве једеке Покривене са сувијем златом, Она под њим увати кулаша, И склопи му руке око врата, Па и њему стаде говорити: „О мој брате, Југовић-Воине! Цар је тебе мене поклонио, И тебе је благосов казао, Да даш једек’, коме тебе драго, Да останеш са мном у Крушевцу, Да имадем брата од заклетве.“

Aber bis zum goldgelbrotem Rosse Hängt und decket ihn die Kreuzesfahne; Auf der Fahne ragt ein goldner Apfel, Goldne Kreuze aber aus dem Apfel, Von den goldnen Kreuzen hängen Quasten, Hängen tief und schlagen Boschkos Schultern. Näher trat Frau Miliza, die Zarin Faßte das goldgelbe Roß am Zügel, Schlang die Arme um den Hals des Bruders, Und ins Ohr ihm sprach sie flüsternd also: „Lieber Bruder, Jugowitsche Boschko! Dich geschenket hat der Zar der Schwester; Sollst nicht ziehen nach dem Amselfelde, Seinen Segen läßt er dir entbieten; Geben sollst du, wem du willst, die Fahne, Und bei mir hier in Kruschewaz bleiben, Daß zum Schwure mir ein Bruder bliebe.“ Ihr entgegnete der Jugowitsche: „Gehe, Schwester, nach dem weißen Turme; Aber ich geh nicht mit dir zurücke, Noch die Fahne geb ich aus den Händen, Wenn ganz Kruschewaz der Zar mir böte! Daß das Heer mit Fingern auf mich wiese: Seht die Memme, seht den feigen Boschko! Der sich nach dem Amselfeld nicht waget, Für das Kreuz nicht will sein Blut vergießen, Für den heiligen Glauben nicht will sterben!“ Und so sprechend, sprengt er aus dem Tore. Sieh, da kommt der greise Jug Bogdane! Ihm zur Seite sieben Jugowitschen. Alle sieben ruft sie nach der Reihe, Doch kein einziger will die Zarin sehen. Und ein Weilchen steht sie so noch harrend. Sieh, da kommt der Jugowitsche Wojno, Der des Zaren prächtige Rosse führet, Ganz bedeckt sind sie mit trocknem Golde; Und sie faßt das Grauroß, das er reitet, Schlingt die Arme um den Hals des Bruders, Und beginnet so zu ihm zu reden: „Lieber Bruder, Jugowitsche Wojno! Dich geschenket hat der Zar der Schwester,

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199 Seinen Segen läßt er dir entbieten, Wem du willst, sollst du die Rosse geben, Sollst bei mir hier bleiben in Kruschewaz, Daß zum Schwure mir ein Bruder bliebe.“

Вели њојзи Југовић Воине: „Иди, сестро, на бијелу кулу; Не би ти се јунак повратио, Ни цареве једеке пустио, Да бих знао, да бих погинуо; Идем, сејо, у Косово равно За крст часни крвцу прољевати И за вјеру с браћом умријети.“

Ihr entgegnete der Jugowitsche: „Gehe, Schwester, nach dem weißen Turme, Doch zurücke kehrt kein wackrer Krieger, Und verläßt des Zaren Rosse nimmer; Wüßt er auch, daß in der Schlacht er fiele! Laß mich, Schwester, auf dem Amselfelde Für das heilige Kreuz mein Blut verspritzen, Mit den Brüdern für den Glauben sterben!“

Пак проћера коња на капију. Кад то виђе царица Милица, Она паде на камен студени, Она паде, пак се обезнани; Ал’ ето ти славнога Лазара, Када виђе госпођу Милицу, Уд’рише му сузе низ образе; Он с’ обзире с десна на лијево, Те дозивље слугу Голубана: „Голубане, моја вјерна слуго! Ти одјаши од коња лабуда, Узми госпу на бијеле руке, Пак је носи на танану кулу; Од мене ти Богом просто било! Немој ићи на бој на Косово, Већ остани у бијелу двору.“

Dieses sprechend, sprengt er aus dem Tore. Als Milica dieses sah, die Zarin, Auf dem kalten Steine sank sie nieder, Sank sie nieder und in tiefe Ohnmacht. Sieh, da kam der Zar Lazar geritten. Als der Frau Miliza so erblickte, Rannen Tränen über seine Wangen, Von der Rechten schaut er nach der Linken Und Goluban rief er, seinen Diener: „Hör, Goluban, du mein treuer Diener! Steig hinunter von dem Schwanenrosse, Nimm die Herrin bei den weißen Armen, Trag zurück sie nach dem schlanken Turme. Ich erlaub es dir, zurückzubleiben, Folg uns nicht, Goluban, auf das Schlachtfeld, Sondern bleibe du im weißen Hofe!“

Кад то зачу слуга Голубане, Проли сузе низ бијело лице, Па одсједе од коња лабуда, Узе госпу на бијеле руке, Однесе је на танану кулу; Ал’ свом срцу одољет’ не може, Да не иде на бој на Косово, Већ се врати до коња лабуда, Посједе га, оде у Косово.

Als Goluban dies, der Diener, hörte, Flossen Tränen über seine Wangen; Doch herab stieg er vom Schwanenrosse, Nahm die Herrin bei den weißen Armen, Trug zurück sie nach dem schlanken Turme; Doch dem Herzen kann er’s nicht verwehren, Daß er nach dem Amselfeld nicht ritte; Und er sucht sein Schwanenroß von neuem, Sitzet auf, zum Amselfeld es lenkend.

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Teil I

Hier erst folgen die Erzählungen von der Schlacht; die erste Nachricht von derselben bringen zwei Raben, dann kommt Lazars Stallmeister, bedeckt mit Wunden. Кад је сјутра јутро освануло, Долећеше два врана гаврана Од Косова поља широкога, И падоше на бијелу кулу, Баш на кулу славнога Лазара, Један гракће, други проговара: „Да л’ је кула славног кнез-Лазара? Ил’ у кули нигђе никог нема?“ То из куле нитко не чујаше, Већ то чула царица Милица, Па излази пред бијелу кулу, Она пита два врана гаврана:

Als am Morgen nun der Morgen anbrach, Sieh, da flatterten zwei schwarze Raben Weit daher vom breiten Amselfelde, Ließen auf dem weißen Turm sich nieder, Auf dem Turme des erlauchten Fürsten, Einer krächzend und der andre sprechend: „Ist der Turm dies des ruhmvollen Fürsten? Und ist niemand drinnen in dem Turme?“ Aus dem Turme tönte keine Stimme; Aber drinnen hörte sie die Zarin, Trat heraus drauf aus dem weißen Turme, Also die zwei schwarzen Raben fragend:

„Ој Бога вам, два врана гаврана! Откуда сте јутрос полећели? Нијесте ли од поља Косова? Виђесте ли двије силне војске? Јесу ли се војске удариле? Чија ли је војска задобила?“ Ал’ говоре два врана гаврана: „Ој Бога нам, царице Милице! Ми смо јутрос од Косова равна, Виђели смо двије силне војске; Војске су се јуче удариле, Обадва су цара погинула; Од Турака нешто и остало, А од Срба и што је остало, Све рањено и искрвављено.“

„Grüß euch Gott, ihr beiden schwarzen Raben! Sagt, wo kommt ihr her so früh am Morgen? Wart ihr etwa auf dem Amselfelde? Saht ihr dorten wohl zwei mächtige Heere? Schlugen sich die beiden mächtigen Heere? Aber welches, sprecht, ist Sieger blieben?“ Ihr entgegneten die beiden Raben: „Schönen Dank, Frau Miliza, die Zarin! Kommen von dem Amselfeld so frühe, Haben dort gesehn zwei mächtige Heere, Welche gestern eine Schlacht geschlagen, Wo die Fürsten beider Heere blieben. Von den Türken blieben wenige übrig; Aber was von Serben blieb am Leben, Alles ist verwundet und verblutet!“

Истом они тако бесјеђаху, Ал’ ето ти слуге Милутина, Носи десну у лијевој руку, На њему је рана седамнаест, Вас му коњиц у крв огрезнуо; Вели њему госпођа Милица: „Што је, болан, слуго Милутине? Зар издаде цара на Косову?“

Während daß die Raben also sprachen, Sieh, da nahet Milutin, der Diener; In der linken Hand trägt er die rechte, Seinen Leib bedecken siebzehn Wunden, Und sein gutes Roß schwimmt ganz im Blute, Ihm entgegen rufet Frau Miliza: „Ach! was ist das, Milutin, du Armer! Hat Verrat etwa den Zar vernichtet?“

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Ал’ говори слуга Милутине: „Скин’ ме, госпо, са коња витеза, Умиј мене студеном водицом, И залиј ме црвенијем вином; Тешке су ме ране освојиле.“

Ihr erwidert Milutin, der Diener: „Hilf mir, Herrin, von dem Heldenrosse, Wasche mir die Stirn mit kaltem Wasser Und besprenge mich mit rotem Weine! Schwere Wunden rauben alle Kraft mir!“

Скиде њега госпођа Милица, И уми га студеном водицом, И зали га црвенијем вином. Кад се слуга мало повратио, Пита њега госпођа Милица:

Und die Herrin half ihm von dem Rosse, Wusch die Stirne ihm mit kaltem Wasser, Und erquickt ihn dann mit rotem Weine. Aber als er sich gestärkt ein wenig, Fragt Frau Milica dann ihren Diener:

„Што би, слуго, у пољу Косову? Ђе погибе славни кнеже Лазо? Ђе погибе стари Југ Богдане? Ђе погибе девет Југовића? Ђе погибе Милош војевода? Ђе погибе Вуче Бранковићу? Ђе погибе Бановић Страхиња?

„Sprich, wie war es auf dem Amselfelde? Wie ist der ruhmvolle Fürst gefallen? Sage, wie der greise Jug, mein Vater? Und wie fielen die neun Jugowitschen? Und wie fiel Herr Milosch, der Woiwode? Aber wie Herr Wuk, mein andrer Eidam? Und wie fiel des Banes Sohn, Strahinja?“

Тада слуга поче казивати: „Сви осташе, госпо, у Косову. Ђе погибе славни кнез Лазаре, Ту су многа копља изломљена, Изломљена и Турска и Српска, Али више Српска, него Турска, Бранећ’, госпо, свога господара, Господара, славног кнез:Лазара. А Југ ти је, госпо, погинуо У почетку, у боју првоме. Погибе ти осам Југовића, Ђе брат брата издати не шћеде, Докле гође један тецијаше; Још остаде Бошко Југовићу, Крсташ му се по Косову вија; Још разгони Турке на буљуке, Као соко тице голубове. Ђе огрезну крвца до кољена, Ту погибе Бановић Страхиња. Милош ти је, госпо, погинуо Код Ситнице код воде студене, Ђено млого Турци изгинули; Милош згуби Турског цар-Mурата И Турака дванаест хиљада; Бог да прости, ко га је родио! Он остави спомен роду Српском,

Drauf beginnt der Diener zu erzählen: „Alle blieben, Herrin, auf dem Schlachtfeld. Wo der hochberühmte Fürst gefallen, Liegt gar mancher Kampfspeer, ganz zertrümmert, Ganz zersplittert, türkische und serbische; Aber Serbenspeere sind die meisten, All zum Schutz des Fürsten abgesendet, Unsres Herrn, des hochberühmten Zaren. Aber Jug – schon in den Vorgefechten Fiel er, Frau, im Anbeginn des Kampfes! Und es fielen acht der Jugowitschen, Nicht verlassen wollten sich die Brüder Bis sich immer einer regen konnte. Noch war Boschko da, der Jugowitsche, Auf dem Schlachtfeld wogte seine Fahne, Scharenweise jagt er noch die Türken, Wie der Falk die Tauben vor sich her treibt. Wo das Blut hoch wogte bis zum Kniee, Dorten sank des Banes Sohn Strahinja; Milosch aber, Herrin, ist gefallen An dem kalten Wasser der Sitniza, Wo erschlagen viele Türken liegen. Milosch tötete den Sultan Murat, Und mit eigner Hand zwölftausend Türken. Segn ihn Gott dafür, und all die Seinen!

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Teil I Да се прича и приповиједа Док је људи и док је Косова. А што питаш за проклетог Вука, Проклет био и ко га родио! Проклето му племе и кољено! Он издаде цара на Косову И одведе дванаест хиљада, Госпо моја! љутог оклопника.“317

Leben wird er in der Serben Herzen, Leben stets in Sage und Erzählung, Bis die Welt und Amselfeld vernichtet! Aber fragst du mich nach Wuk, dem Buben? Treffe Fluch ihn und die Seinen alle! Fluch, Fluch ihm samt seinem ganzen Stamme! Er, er war es, der den Zar verraten Über ging er mit zwölftausend Kriegern, Mit zwölftausend bösgesinnten Reitern!“318

Alle diese Erzählungen erinnern häufig an die „Ilias“. Während des Ausfalls der Trojaner ins Lager der Griechen kommt der verwundete Antilochos319 von dem Kampfplatz und Patrokles wäscht seine Wunden, reicht ihm Wein wie die Zarin Milica dem Stallmeister Milutin. Im Charakter der Helden könnte man mehrmals dieselben Züge entdecken: die Homerische Poesie ist allen bekannt, wir werden uns daher nicht weiter auf die Zeichnung der Sitten und Menschen des Heldenzeitalters einlassen. Dieses Zeitalter ist sich allenthalben ähnlich. Ebenso wie die Homerischen, sind auch die slavischen Helden einfache Männer, leidenschaftlich, geneigt zum Zorn, und, über alles den Krieg liebend. Die Tapferkeit betrachten sie als die größte Tugend, ehren die Religion, lieben Überfluß und Pracht, häufig sind sie gewalttätig, aber nicht roh. Der Krieg ist für sie nicht wie bei den wilden Amerikanern eine Jagd auf Menschen; im Gegenteil, sie achten die Völkerrechte, halten den Eid heilig, das Ehrenwort, sie kämpfen mit ehrbarem Schwert. Ihr Charakter wird durch das Christentum noch erhoben: wir sehen in der serbischen Poesie weder die furchtbare Rache der Griechen, noch die Grausamkeit der Trojaner; es herrscht hier eine größere Menschlichkeit, die Sieger verschonen die Kriegsgefangenen, weiden sich nicht an den Leibern der gefallenen Feinde. Das andere Geschlecht zeigt sich desgleichen in einer milderen Stimmung. Die Slavin jener Zeit ist noch im Kreise des häuslichen Lebens eingeschlossen, selten tritt sie auf einen 317 „Car Lazar i carica Milica“, Vuk, II, S. 281–287. 318 Bei Talvj „Auszug und Schlacht“ – Talvj, II, S. 125–131. 319 Eigentlich ist es Eurypylos, den Patroklos verarztet („Ilias“, XI. Gesang, Verse 842–847); im XV. Gesang, Verse 392–394, heißt es über Patroklos: „Saß noch stets in des edlen Eurypylos schönem Gezelte, / Ihn mit den Worten erfreuend, und fügt’ auf die schmerzende Wund’ ihm / Lindernde Heilungssäfte, die dunkele Qual zu bezähmen.“ – Homer: „Ilias“. Übertragen von Johann Heinrich Voß. In: Griechische Klassiker. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Walter Jens. München 1959, S. 234.

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ausgedehnten Schauplatz, noch wirkt sie nicht politisch mit, genießt kein Ansehen einer sittlich freien, unabhängigen Person, ihre Sitten und Gewohnheiten sind noch morgenländisch; daher rührt auch ihre Bescheidenheit und Ängstlichkeit, welche man in der sogenannten weiblichen Poesie antrifft. Der Mann ehrt jedoch das Weib als seine Gefährtin, seine Mutter und die Mutter seiner Kinder. Nirgends trifft man in der serbischen Poesie Beispiele von jener Verachtung des weiblichen Geschlechts, welche in den dichterischen Schöpfungen der mehr ausgebildeten, aber auch mehr verdorbenen Gesellschaften zu finden sind. Allgemein wird das Weib in jener Zeit, d.h. am Ende des 14. Jahrhunderts, als die ritterliche Dichtung in Europa erlischt und der Roman beginnt, nur ein Gegenstand der Betrachtung in Hinsicht der Körperschönheit; sie nimmt nur ein durch Gefühle der Leidenschaft. Einen bei weitem mannigfaltigeren Beruf hat sie in der Poesie des Altertums, und besonders in der serbischen Dichtung, wo sie keine Sklavin mehr ist, wenngleich sie noch nicht von jener Heiligkeit, welche ihr das germanische Geschlecht zuerkannte, von diesem strahlenden Kranz der Ehre, mit welchem das Christentum das Ideal eines Weibes krönt, umringt wird. Das epische Bruchstück der Schlacht auf dem Amselfeld schließt mit dem Bild eines Weibes in einem Mädchen, das einen bekannten Ritter unter den Gefallenen aufsucht. Hier können wir sehen, wie die Slaven in ihrer Dichtung das Weib vorstellen: Уранила Косовка девојка, Уранила рано у недељу, У недељу прије јарка сунца, Засукала бијеле рукаве, Засукала до бели лаката, На плећима носи леба бела, У рукама два кондира златна, У једноме лађане водице, У другоме руменога вина; Она иде на Косово равно.

In der Früh, das Amselfelder Mädchen, In der Frühe geht hinaus sie, sonntags, Sonntag morgens vor der lichten Sonne. Aufgestreift sind ihre weißen Ärmel, Aufgestreift bis zu den Ellenbogen; Auf den Schultern trägt sie weiße Brote, Und zwei goldne Becher in den Händen. Einen Becher füllet frisches Wasser; Aber roten Wein enthält der andre: Also geht sie nach dem Amselfelde.

Па се шеће по разбоју млада, По разбоју честитога кнеза, Те преврће по крви јунаке; Ког јунака у животу нађе, Умива га лађаном водицом, Причешћује вином црвенијем И залаже лебом бијелијем.

Auf der Wahlstatt wandelt jetzt die Jungfrau, Auf der Wahlstatt des erlauchten Fürsten, Kehrt die Helden um, im Blute schwimmend; Aber wo sie Einen lebend findet, Wäscht sie ihn mit ihrem frischen Wasser Träufelt in den Mund den roten Wein ihm, Speiset ihn mit ihrem weißen Brote.

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Teil I Намера је намерила била На јунака Орловића Павла, На кнежева млада барјактара, И њега је нашла у животу, Десна му је рука осечена И лијева нога до колена, Вита су му ребра изломљена, Виде му се џигерице беле; Измиче га из те млоге крвце, Умива га лађаном водицом, Причешћује вином црвенијем И залаже лебом бијелијем; Кад јунаку срце заиграло, Проговара Орловићу Павле:

Also wandelnd, führte sie der Zufall Zu Paul Orlowitsch, dem Heldenjüngling, Zu des Fürsten jungem Fahnenträger. Und sie fand den Armen noch am Leben: Abgehauen war die rechte Hand ihm, Und der linke Fuß bis an die Kniee, Ganz zerbrochen hing die eine Rippe, Und man sah die weiße Lunge liegen. Und sie zog ihn aus den Strömen Blutes, Wusch ihn ab mit ihrem frischen Wasser, Träufelt’ in den Mund den roten Wein ihm, Speiset’ ihn mit ihrem weißen Brote, Als von neuem sich sein Herz nun regte, Also sprach Paul Orlowitsch, der Jüngling:

„Сестро драга, Косовко девојко! Која ти је голема невоља, Те преврћеш по крви јунаке? Кога тражиш по разбоју млада? Или брата, или братучеда? Ал’ по греку стара родитеља“320

„Liebe Schwester, Amselfelder Mädchen! Welches große Leid hat dich befallen, Daß du hier im Heldenblute wühlest? Wen doch sucht die Jungfrau auf der Wahlstatt? Einen Bruder, einen Sohn des Bruders? Oder suchst den Greis du, den Erzeuger?“

Проговара Косовка девојка: „Драги брато, делијо незнана! Ја од рода никога не тражим: Нити брата нити братучеда, Ни по греку стара родитеља; Мож’ ли знати, делијо незнана, Кад кнез Лаза причешћива војску Код прекрасне Самодреже цркве Три недеље тридест калуђера? Сва се Српска причестила војска, Најпослије три војводе бојне: Једно јесте Милошу војвода, А друго је Косанчић Иване, А треће је Топлица Милане;

Sprach das Mädchen drauf vom Amselfelde: „Lieber Bruder, unbekannter Krieger! Keinen such ich von den Anverwandten, Nicht den Bruder, noch den Sohn des Bruders, Noch such ich den Greis hier, den Erzeuger. Weißt du wohl, du unbekannter Krieger! Wie der Fürst Lazar dem Kriegesheere Jüngst drei Wochen durch von dreißig Mönchen, In der prächtigen Kirche Samodresha, Noch die Sakramente reichen lassen? All das Herr der Serben ging zum Nachtmahl, Ganz zuletzt drei kriegrische Woiwoden. Milosch, der Woiwode, war der eine, Und der zweite war Kossantschitsch Iwan, Doch der dritte hieß Milan Topliza.“

320 In der Fußnote erklärt Vuk Karadžić: „Po greku (po grijehu) roditelj znači pravi otac. Ovdje se pokazuje znak narodnoga mišljenja, da je grijeh i ženiti se. Ja sam slušao od oca jednoga velikog gospodara gde govori za svoga sina: ‚On je moj po grijehu sin, ali ga meni sad valja slušati.‘ (Erzeuger durch Sünde bedeutet richtiger Vater. Hier gelangt das volkstümliche

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Ја се онде деси на вратима, Кад се шета војвода Милошу, Красан јунак па овоме свету, Сабља му се по калдрми вуче, Свилен калпак, оковано перје, На јунаку коласта аздија, Око врата свилена марама, Обазре се и погледа на ме, С’ себе скиде коласту аздију, С’ себе скиде, па је мени даде: ‚На, Девојко, коласту аздију, По чему ћеш мене споменути, По аздији по имену моме: Ево т’ идем погинути, душо, У табору честитога кнеза; Моли Бога, драга душо моја, Да ти с’ здраво из табора вратим А и тебе добра срећа нађе, Узећу те за Милана мога, За Милана Богом побратима, кој’ је мене Богом побратио, Вишњим Богом и светим Јованом; Ја ћу теби кум венчани бити.‘

За њим иде Косанчић Иване, Красан јунак на овоме свету, Сабља му се по калдрми вуче, Свилен калпак, оковано перје, На јунаку коласта аздија, Око врата свилена марама, На руци му бурма позлаћена, Обазре се и погледа на ме, С руке скиде бурму позлаћену, С руке скиде, па је мени даде: ‚На, девојко, бурму позлаћену, По чему ћеш мене споменути, А по бурми по имену моме: Ево т’ идем погинути, душо, У табору честитога кнеза; Моли Бога, моја душо драга, Да ти с’ здраво из табора вратим,

205 Aber ich stand dort an der Türe, Als vorbei ging Milosch, der Woiwode, Herrlich war der Held in diesem Leben! Auf dem Pflaster schleppte nach sein Säbel, Federn schmückten seine seidne Mütze; Einen rundgefleckten Mantel trug er, Aber um den Hals ein seidenes Tüchlein, Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge: Da den rundgefleckten Mantel löst er, Nahm ihn ab, und mir ihn reichend sprach er: ‚Mädchen, nimm den rundgefleckten Mantel, Wolle meiner du dabei gedenken, Bei dem Mantel meines Namens denken! Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, In das Lager des erlauchten Fürsten. Bete du zu Gott, du liebe Seele! Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Und auch dir die Gunst des Glückes werde: Dann will ich dich meinem Milan geben, Meinem Milan, meinem lieben Freunde, Dem ich Brüderschaft einst zugeschworen, Bei dem höchsten Gott und Sankt Johannes. Pate bin ich dann dir bei der Trauung.‘ Und es folgte ihm Kossantschitsch Iwan. Herrlich war der Held in diesem Leben! Auf dem Pflaster schleppte nach der Säbel, Federn schmückten seine seidne Mütze; Einen rundgefleckten Mantel trug er, Aber um den Hals ein seidenes Tuch Und am Finger ein vergoldet Reiflein. Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge. Von dem Finger zog er ab das Reiflein Zog es ab, und mir es reichend, sprach er: ‚Mädchen, nimm den Fingerreif, vergoldet, Wolle meiner du dabei gedenken, Bei dem Ringe meines Namens denken! Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, In das Lager des erlauchten Fürsten. Bete du zu Gott, du liebe Seele,

Denken zum Ausdruck, demgemäß auch heiraten eine Sünde sei. Ich hörte von einem stattlichen Herren über seinen Sohn sagen: ‚Er ist mein Sohn durch die Sünde, aber nun muß ich auf ihn hören.‘) – vgl. Vuk, II, S. 310; ferner – Jevto M. Milović: Talvj erste Übertragung für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig 1941, S. XVIII–XIX.

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Teil I А и тебе добра срећа нађе, Узећу те за Милана мога, За Милана Богом побратима, кој’ је мене Богом побратио, Вишњим Богом и светим Јованом, Ја ћу теби ручни девер бити.‘

Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Und auch dir die Gunst des Glückes werde: Dann will ich dich meinem Milan geben, Meinem Milan, meinem lieben Freunde, Dem ich Brüderschaft einst zugeschworen, Bei dem höchsten Gott und Sankt Johannes. За њим иде Топлица Милане, Aber ich will dir Brautführer werden.‘ Красан јунак на овоме свету, Und es folgte ihm Milan Topliza. Сабља му се по калдрми вуче, Herrlich war der Held in diesem Leben! Свилен калпак, оковано перје, Auf dem Pflaster schleppte nach der Säbel, На јунаку коласта аздија, Federn schmückten seine seidne Mütze: Око врата свилена марама, Einen rundgefleckten Mantel trug er, На руци му копрена од злата, Aber um den Hals ein seidenes Tuch Обазре се и погледа на ме, Und am Arme eine goldne Spange. С руке скиде копрену од злата, Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge. С руке скиде, па је мени даде. Von dem Arme nahm er die goldne Spange, ‚На, девојко, копрену од злата, Nahm sie ab, und mir sie reichend, sprach По чему ћеш мене споменути, er: По копрени по имену моме: ‚Mädchen, nimm du hin die goldne Spange! Ево т’ идем погинути, душо, Wolle meiner du dabei gedenken, У табору честитога таста; Bei der Spange meines Namens denken! Моли Бога, моја душо драга, Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, Да ти с’ здраво из табора вратим, In das Lager des erlauchten Fürsten. Тебе, душо, добра срећа нађе, Bitte du zu Gott, du liebe Seele, Узећу те за верну љубовцу.‘ Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Liebste, dir des Glückes Gunst auch werde: Dann erwähl ich dich zur treuen Gattin.‘ И одоше три војводе бојне. Њи ја данас по разбоју тражим.“

Und sie gingen hin die Woiwoden. Siehe, diese such’ ich auf der Wahlstatt!“

Ал’ беседи Орловићу Павле: „Сестро драга, Косовко девојко! Видиш, душо, она копља бојна Понајвиша а и понајгушћа, Онде ј’ пала крвца од Јунака Та доброме коњу до стремена, До стремена и до узенђије, А јунаку до свилена паса, Онде су ти сва три погинула, Већ ти иди двору бијеломе, Не крвави скута ни рукава.“

Und der Heldenjüngling spricht entgegnend: „Liebe Schwester, Amselfelder Mädchen! Siehst du, Liebe, jene Kampfeslanzen, Wo am allerhöchsten sie und dicht’sten? Dorten strömte aus das Blut der Helden, Stieg dem guten Ross bis an den Bügel, Bis an Bügel und an Steigeriemen, Und dem Helden bis zum seidnen Gürtel, Dorten sind sie alle drei gefallen! Aber du geh nach dem weißen Hause, Nicht mit Blut beflecke Saum und Ärmel!“

Кад девојка саслушала речи, Проли сузе низ бијело лице, Она оде свом бијелу двору

Als das Mädchen diese Worte hörte, Flossen Tränen über ihre Wangen, Und sie ging nach ihrem weißen Hause,

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Кукајући из бијела грла: „Јао јадна! уде ти сам среће! Да се, јадна, за зелен бор ватим, И он би се зелен осушио.“321

207 Jammerte aus ihrem weißen Halse: „Weh, Unselge, welch Geschick verfolgt dich! Griffst du, Arme, nach der grünen Föhre, Schnell vertrocknen würden ihre Blätter!“322

Diese Erzählung sollte eigentlich, wie wir schon erwähnten, das Heldenzeitalter, welches viele Bruchstücke oder abgesonderte Dichtungen in sich faßt, beschließen. Ihr Rhythmus ist äußerst einfach: trochäischer Zehnsilber [deseterac] mit Zäsur nach der vierten Silbe (4+6). Diese Einfachheit macht den Vers sehr leicht, und daher rührt wohl die Menge der Dichtungen in diesen Gegenden; denn bei den anderen Slaven, wo der Rhythmus schwieriger ist, liebt das Volk vielmehr in Prosa zu erzählen. Dieser Tonfall, außerdem der Musik untergeordnet, kann auch die Ursache gewesen sein, daß die hiesige Dichtung sich nicht vervollkommnete. Denn indem er sie zu eintönig gemacht, nahm er ihr das Freie der Erzählung, und besonders auch die Möglichkeit, diese Erzählung zu verschönern. Wenn wir den griechischen Hexameter betrachten, so kann man sehen, daß er ebenfalls aus zwei Versen, geteilt durch die Zäsur besteht, die man später vereint hat, aber diese Reform erfolgte erst, als man aufgehört hatte, die Dichtungen mit Begleitung der Musik abzusingen und sie zu sprechen begann. Bei den slavischen Völkern hingegen bleibt die Dichtung immer unter Leitung der Musik, daher auch das Festhalten an einigen lyrischen Formeln, das Wiederholen derselben Worte, das Beginnen der Zeilen auf einerlei Weise, was alles die freie Beweglichkeit des Rhythmus der Epopöe fesselt. Der serbische Dialekt ist von allen slavischen Mundarten am meisten harmoniereich und musikalisch, er mildert und erweicht die Härte der Konsonanten und ist gleichsam die italienische Sprache der Slaven.323 Schon hat man dies bemerkt, und wir selbst haben aufmerksam gemacht, daß der Ton der Konsonanten das Gewebe des Körpers einer Sprache bildet, und alle ihre Mundarten sind, was dies betrifft, sich ähnlich, alle ihre Worte bestehen aus denselben Konsonanten, nur anders umgestellt, die Vokalen aber geben ihnen den Atem, den Geist. Die serbische Mundart besitzt ein sehr vollstandig entwickeltes System der Konsonanten, aber das der Vokale ist arm und gering. Das System der Vokale ist im Vergleich zu den übrigen slavischen 321 „Kosovska djevojka“ (Das Mädchen vom Amselfeld), Vuk, II, S. 306–310. 322 Talvj II, S. 134–138. 323 Eine ähnliche Auffassung vertritt auch P.  J.  Schaffarik in seiner „Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten“. Ofen 1826, S. 204: „Unstreitig ist die serb. Mundart im türkischen Serbien u. österr. Dalmatien die vocalreichste unter den Slawinen, und kommt in dieser Hinsicht der italienischen Sprache am nächsten.“

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Teil I

Sprachen, am vollkommensten in der polnischen und tschechischen, erstere schon an reinen Vokalen reich, besitzt noch außerdem einige, die durch die Nase ausgesprochen werden (Nasalvokale).324 Dem sei nun wie ihm wolle, bei so vielen Vorteilen, bei der Liebe des Volks für die Dichtung und seinem angeborenen Talent für den Gesang, neben den großen Volksüberlieferungen und einer außerordentlich schönen poetischen Sprache, wie geht es zu, daß sich bis dahin keine vollständige Epopöe gebildet hat? Daß man die Bruchstücke derselben in kein organisches Ganze zu vereinen vermochte? Einige Gelehrte haben die Hoffnung, dieses werde noch erfolgen, und sogar ausländische Gelehrte, wie Johann Severin Vater und Jacob Grimm, erwarten ein slavisches Epos.325 In Wahrheit aber betrachtet man die Geschichte der Literatur dieser Länder, so kann man Gründe zum Zweifeln finden, daß je eine solche Schöpfung erfolgen werde. Bis dahin hat das Volk nichts der Art geschaffen, und die Gelehrten werden wahrscheinlich nicht glücklicher hierin sein. Wir haben gesagt, daß der serbischen Poesie gänzlich eine Mythologie326 mangelt, eine solche gab es nie bei den Slaven. Als sie später den christlichen Glauben annahmen, erschufen sie aus den von einander abweichenden Vorstellungen desselben etwas der griechischen Mythologie Ähnliches, diese jedoch konnte sich nicht entfalten. In dem alten Griechenland war die Religion zu Homers Zeiten in den Tempeln bei den Priestern eingeschlossen, und das Volk war geradezu abergläubisch. Der Aberglaube machte sogar die Außenseite der Religion. Leute von größeren Geistesfähigkeiten, die Dichter, 324 Mickiewicz stützt sich hier (offensichtlich) auf Jakob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanowitsch kleine serbische Grammatik verdeutscht und mit einer Vorrede von Jacob Grimm. Nebst Bemerkungen über die neueste Auffassung langer Heldenlieder aus dem Munde des Serbischen Volks, und der Uebersicht der merkwürdigsten jener Lieder von Johann Severin Vater. Leipzig und Berlin 1824, S. XXXI: „Die südslavischen Sprachen scheinen mir mehr Feinheit der Consonanten, die nordslavischen mehr Feinheit der Vocale kundzugeben.“ 325 Diese Einschätzung stammt von J.S.  Vater: „In einer, so weit es möglich ist, chronologischen Zusammenordnung würden sie eine Art von Leben des braven, redlichen und frommen Helden werden. Aber sie sind weder im Munde der Nationen dazu zusammengewachsen, noch ursprünglich darauf angelegt; obwohl mehrere dieser Lieder genug Stoff zu einem größeren epischen Ganzen, genug Verwickelungen und Abwechselungen der Ereignisse enthalten.“ In: Wuk’s Staphanowitsch kleine serbische Grammatik, op. cit., S. LIX. 326 Vgl. Natko Nodilo: Stara vjera Srba i Hrvata. Split 1981 (Arbeiten aus den Jahren 1885– 1889); Franjo Ledić: Mitologija Slavena – tragom kultova i vjerovanja starih Slavena.  2 Bde., Zagreb 1969–1970; Veselin Čajkanović: Mit i religija kod Srba. Hrsg. Vojislav Ðurić. Beograd 1973; Zdeněk Váňa: Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Stuttgart 1992; Aleksander Gieysztor: Mitologia Słowian. (3. Auflage) Warszawa 2006.

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die Künstler, bildeten im Volk die Vorstellungen der Mythologie, sie entwickelten ihr System durch Belehrung oder Werke der Kunst. Und so waren die Sänger der Homerischen Lieder zur Zeit ihrer schönsten Blüte, zu den Zeiten des Peisistratos327, als man es unternahm, die Bruchstücke der Epopöe zu sammeln, schon keine Bettler mehr, sondern Künstler, angesehene Männer, Lehrer der geselligen Bildung. Diese Klasse konnte sich nie bei den Serben ausbilden; die christliche Mythologie, durch welche sie den griechischen Olymp ersetzten, konnte von niemandem lieber, als vom gemeinen Mann angenommen werden. Denn einerseits konnte die christliche, bei den benachbarten Völkern herrschende Religion, welche auf dem Wege des Wissens und der Kunst weiter geschritten, sich mit den groben Begriffen der serbischen Poeten nicht befreunden; andererseits vernichtete der Einfluß des Islam diese Poesie, und verursachte, daß das Volk immer mehr die religiösen Vorstellungen verunstaltete. So ward das Wunderbare, also das, was der Grund, der Stamm des Epos ist, den Slaven gleich zu Anfang entzogen. Nach Verlust der politischen Unabhängigkeit veränderte sich sogar die Sprache der Serben merklich, indem sie viele türkische Worte in sich aufnahm.328 Die Nachbarschaft der uralischen Völker verschlechterte schon von jeher die slavische Sprache; bemerkt hat man jedoch, daß sie fremde Worte ausnehmend, nie Zeitwörter annimmt, bloß Hauptwörter. Es ist dies eine wichtige Bemerkung. Denn eine vollkommne, und aus einem Guß hervorgebildete Sprache, hat ihren Anfang im Zeitwort; letzteres ist ihr wesentlicher Teil, man kann sagen, der göttliche, die Substantiva aber bilden ihre Fülle, ihren materiellen Teil. Es gibt Sprachen, die fremde Zeitwörter annehmen und dadurch sich zu Grunde richten. Eine solche war die bretonische329 im jetzigen England, die in sich den geistigen Teil der normannischen Sprache aufnehmend, deutlicher, klarer und vollständiger wurde, aber ihren eignen, lebendigen, so zu sagen, göttlichen Urstoff ertötete. Ähnlich erging es vielen keltischen Sprachen. In diesen kann man eine Menge höherer Gedanken und Gefühle nicht ausdrücken, ebenso wie man mit dem Stift nicht die Färbung und den Lichtglanz wiedergeben kann. Darum wird man nicht in keltische Sprachen Stellen der morgenländischen Dichtungen, ja nicht einmal einige Schöpfungen der germanischen 327 Peisitratos (um 600 v. Ch. .– 527–528 v. Ch.) – Begründer der Peisistratiden-Tyrannis in Athen. 328 Vgl. Abdulah Škaljić: Turcizmi u srpskohrvatskom jeziku. Sarajevo 1965; György Hazai und Matthias Kappler: Der Einfluß des Türkischen in Südosteuropa. In: Handbuch der Südosteuropa-Linguistik. Hrsg. Uwe Hinrichs. Wiesbaden 1999, S. 649–675. 329 Vgl. Johannes Heinecke: Bretonisch. In: Variationstypologie – Variation Typology. Ein sprachtypologisches Handbuch der europäischen Sprachen – A Typological Handbook of European Languages. Hrsg. Thorsten Roelcke. Berlin 2003, S. 308–323.

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Poesie übertragen können. Die slavische Sprache, wenn sie gleich eine Menge fremder Substantive bei sich einheimisch gemacht, unterwirft dieselben ihren Deklinationsformen nicht, führt sie auch nicht in ihren inneren Organismus ein und bildet aus ihnen keine Zeitwörter, auf diese Weise aber bewahrt sie ihren wesentlichen Urstoff unbefleckt, das Zeitwort nämlich, das ihr Mark ist. Bei dem Allen jedoch werden weder die Slaven, noch die übrigen Völker je im Stande sein, eine zweite „Ilias“ oder „Odyssee“ zu schaffen. Die Bruchstücke von Dichtungen, über welche wir eben gesprochen, haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Nachlaß des Homerischen Zeitalters, sie entstanden auf dieselbe Weise, und wichtig ist’s ihnen nachzuforschen, sogar zur Aufhellung der Geschichte der griechischen Literatur selbst; man darf sich aber nicht täuschen und etwa meinen, daß die Sammlung dieser Gedichte mit der ungeheuren und wunderbar schönen Schöpfung der Griechen in Vergleich kommen, oder daß irgend je aus ihnen ein so herrliches Ganze entstehen könne. Nach dem Verfall der Unabhängigkeit Serbiens, und gegen Ende des Heldenkreises beginnt ein zweiter Zyklus, den man den romanesken Zyklus [cycle romanesque] nennen könnte. Die Volksbegebenheiten hören auf Hauptgegenstand der Dichtung zu sein, der Volksgedanke wählt sich irgendeinen vereinzelten Mann, häuft in ihm seine Vorstellungen zusammen und macht ihn zum Vertreter des Zeitalters. So ist unter den auf die Bühne kommenden Gestalten aus dem Zyklus der Heldenlieder besonders Vukašins Sohn, Marko der Königssohn330, bemerkbar. Alle glänzenden Taten der serbischen Ritter hat man ihm zugedacht; er ist der Held auf allen Schlachtfeldern, er trägt in sich alle Züge des gesamten serbischen Volkstums. Hierdurch hat er Ähnlichkeit mit Artur, dem Könige der Bretonen, der auch den Zeitabschnit der ritterlichen Dichtung seines Landes einnimmt. Wie nach den Volkssagen Artur bis auf den heutigen Tag lebt, so gilt auch Marko in der Volksdichtung für unsterblich. Man hat ihn drei Jahrhunderte lang am Leben gesehen, gekriegt hat er durch ganz Europa, in den slavischen Ländern, d.h. im Westen, nachher ist er weder gestorben, noch gefallen, sondern als die Anwendung des Pulvers allgemein wurde, hat er, erschrocken darüber, daß auch die schwächste Hand den wackersten Ritter umwerfen könne, sich in die Berge begeben und verweilt dort irgendwo. 330 Marko Kraljević (um 1335–1394); vgl. Gabriella Schubert: Marko Kraljević – eine Identifikationsfigur der Südslawen. In: Bilder vom Eigenen und Fremden aus dem Donau-BalkanRaum. Analysen literarischer und anderer Texte. Hrsg. Gabriella Schubert, Wolfgang Dahmen. München 2003, S. 101–120; Barbara Beyer: Marko über allen. Anmerkungen zum südslawischen Universalhelden und seinen Funktionalisierungen. In: Erinnerungskultur in Südosteuropa. Bericht über die Konferenzen der Kommission für interdisziplinäre Südosteuropa-Forschungen im Januar 2004, Februar 2005 und März 2006 in Göttingen. Hrsg. Reinhard Lauer. Berlin-Boston 2011, S. 149–187.

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Die Gedichte, welche die Taten des Königsohnes Marko besingen, bilden den Zyklus der romanesken Lieder; nach diesem erst folgt ein dritter Zyklus [cycle poesie civile et domestique], der sich mit dem Besingen der Privatereignisse, der alltäglichen Begebenheiten des Lebens, mit einem Worte, des häuslichen und ländlichen Treibens beschäftigt.331 Ehe wir uns zur Betrachtung der romanesken Poesie wenden, ist es nötig, hier eine Bemerkung zu machen, welche die Stellung der Serben zu den Türken und Griechen betrifft. Die Niederlage auf dem Amselfeld war nicht die hauptsächlichste Ursache von Serbiens Fall: die geheimen Triebfedern, welche die dortigen Slaven für lange Zeit unter die Herrschaft der Türken brachten, und ihre Sache nicht nur mit dem Geschicke des griechischen Kaisertums, sondern auch mit demjenigen anderer Völker des Morgenlandes verflochten, liegen in etwas anderem. Weiter unten werden wir diese erörtern.

331 In der französischen Edition lautet der Satz: „La poëme qui raconte les hauts faits du prince Marco forme le cycle romanesque, après lequel vient le cycle de poésie civile et domestique.“ (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 249); Mickiewicz unterteilt die serbischen Volkslieder in (1) Heldenepik – (2) romaneske Lieder – (3) Lieder über das häusliche und ländliche Treiben – (4) phantastische Lieder – (5) Frauenlieder; vgl. auch Henryk Batowski: Mickiewicz a serbska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 49; vgl. ferner Maximilian Braun: Zum Problem der serbokroatischen Volksballade. In: Slawistische Studien zum V.  Internationalen  Slawistenkongreß in Sofia 1963. Hrsg. Maximilian Braun und Erwin Koschmieder. Göttingen 1963, S. 151–174, der die Einteilung der „Zwischengattung“ in „episch-lyrische Lieder“, „Romanzen“ und „Balladen“ in Frage stellt und eine neue Einteilung vornimmt, die von den jeweiligen Liedern ausgeht (vgl. Narodne srpske pjesme, skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić. Knjiga prva, u kojoj su različite ženske pjesme, op. cit., Nr. 342–345, 646, 731–733, 735–738, 741, 745, 746).

18. Vorlesung (2. März 1841) Historische Ursachen des Niedergangs der Serben – Slaven und Hellenen – Das byzantinische Reich: Stärke und Niedergang – Die Rolle der Slaven im türkischen Reich – Der Königssohn Marko in der serbischen Poesie – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića) – Montenegro und die Montenegriner.

Serbiens Verderben schreibt die Dichtung dem Verrat einiger ihrer Anführer und der türkischen Tücke zu; aber die wahrhaften Ursachen der Unglücksfälle, der Unterjochung der Slaven liegen in ihrer Zukunft verborgen. Die ganz besondere Einrichtung dieser Völker, ebenso wie ihre Lage zwischen der Türkei, dem Westen Europas und Griechenland führte ihre politische Vernichtung herbei. Diese Wahrheit fängt jetzt an, erkannt zu werden. In der Geschichte des Mittelalters und des griechischen Kaiserreichs hat man dunkle Stellen angetroffen, die man aufzuhellen begonnen, indem man slavische Denkmäler befragt; und man bemerkt, daß sogar die Geschichte des türkischen Reichs nur auf diese Weise gänzlich verstanden werden kann. Erst neulich, als die orientalische Frage alle Gemüter bewegte, haben Schriftsteller verschiedener Länder, und unter ihnen viele Franzosen, Europas Meinung aufzuklären gesucht, sie haben verständlich gemacht, daß diese Frage weder eine türkische noch arabische, sondern nur eine christliche und vor allem eine slavische sei, daß es unmöglich sei, etwas über die Zukunft dieser Gegenden auszusagen, ohne in ihre Vergangenheit eingegangen zu sein. Welches war nun die Vergangenheit der türkischen und griechischen Slaven? Wir sagten schon, daß man sogar im 6. Jahrhundert von ihnen nichts wußte, und daß weiter hinauf ihre Geschichte ordentlich zu entwickeln sehr schwierig ist; die neuere Kritik ist jedoch auf scharfsinnige Vermutungen gekommen, welche die geschichtliche Wahrscheinlichkeit für sich haben. Die Untersuchung über die Anfänge Griechenlands hat zu der Entdeckung seiner Ureinwohner geführt. Noch zu Homers Zeiten kannte man die Pelasger, und zwar als ein sehr altes aber verfallenes, durch die Hellenen, Achäer und Dorer überwältigtes Volk. Diese Pelasger verschwinden später in der Geschichte, es scheint jedoch, daß ihr Geschlecht nicht umgekommen, nur daß es unter anderem Namen die dem hellenischen, einem aus kriegerischen in Städten lebenden, Völkern zusammengesetzten Bund unterworfene Bevölkerung ausmachte. Unter dieser Bevölkerung fesseln am meisten die Aufmerksamkeit die Lakonen, durch die Spartaner in ihrer berühmten Republik bezwungen, die aber ihre Herren überlebt haben, und in den Jahrhunderten des Mittelalters sich noch auf derselben Stelle befanden, dieselben Gegenden am Eurotas einnahmen. Dort

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_019

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treten auch die Mainoten in ähnlicher Weise und am selbigen Ort angesiedelt auf, man sieht aber nicht mehr die Spartaner zwischen Nauplia und Monembasia, inmitten einer Bevölkerung, welche die Sprache der Zakonen redet, und welche die Deutschen, man weiß nicht warum, Tzekonen332 nannten. Diese Bevölkerung erregte schon im Mittelalter die Verwunderung der mit der Geschichte des alten Griechenlands unbekannten griechischen Kaiser. Und doch behaupten die damaligen Schriftsteller, z.B.  Nikephorus  Gregoras333 und andere, daß die Zakonen Nachkommen der Lakonen oder Lakonier seien. Die neueren Gelehrten, wie Villoison334, ein Franzose, und Thiersch335, einer der vorzüglichsten deutschen Philologen, bemühten sich die Geschichte dieser Zakonen, mit derjenigen der Pelasgier zusammenzustellen, indem sie bewiesen, daß die Überreste der Lakonier ein Geschlecht der Ureinwohner des alten Griechenlands und pelasgischen Stammes gewesen. Der jene Gegenden besuchende Engländer Leake336 ist in seinen veröffentlichten Forschungen über diesen Gegenstand derselben Meinung. Daß aber eine Verbindung zwischen den Slaven und Lakoniern, oder der ackerbauenden Bevölkerung von Griechenland und Pelasgern besteht, davon überzeugen uns offenbar die seit 332 „Konstantin Porhyrogeneta erwähnt Tzekonen, vielleicht nicht verschieden von Zakonen, so auch schon früher Nikephoros Gregoras und Pachymeres, welche dieselben für Nachkommen der Lakonier ausgeben.“ – Paul Joseph Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. 2, S. 230. Im Folgenden stützt sich Mickiewicz auf Schaffariks Darstellung, in der Quellen von Gregoras, Villoison, Thiersch, Leake und Jakob Philipp Fallmerayer (Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittealters. Stuttgart-Tübingen 1836, Teil II, S. 442ff.) auswertet werden. Über diese Forschungen vgl. – Regina Quack-Manoussakis: Das Griechenbild der Deutschen zur Zeit der griechischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Das Bild Griechenlands im Spiegel der Völker (17. bis 20. Jahrhundert). Hrsg. Evangelos Konstantinu. Frankfurt am Main-New York 2008, S. 183–202. 333 Nikephorus Gregoras (um 1295–1359/61), byzantinischer Geschichtsschreiber; vgl. sein Werk: Rhomäische Geschichte. Historia Rhomaike. Übersetzt und erläutert von Jan Louis van Dieten. In Fortsetzung der Arbeit von Jan Louis van Dieten übersetzt und erläutert von Franz Tinnefeld. 6 Bände in 7 Teilen. Stuttgart 1973–2007. 334 Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison (1750–1805), französischer Gräzist; Entdecker des Codex „Venetus A“ der „Ilias“ Homers; auf seiner Reise durch Griechenland entdeckte er den zakonischen Dialekt; vgl. – Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison: De l’Hellade à la Grèce: voyage en Grèce et au Levant (1784–1786). Hrsg. Étienne Famerie. Hildesheim, New York, 2006 (=Altertumswissenschaftliche Texte und Studien. Bd. 40); vgl. auch Joseph Michael Deffner: Zakonische Grammatik, Bd. 1. Berlin 1881; Michael Deffner: Λεξικόν τής Τσακωνικής διάλεκτου. Athen 1923. 335 Friedrich Wilhelm Thiersch (1784–1860), deutscher Altphilologe; vgl. seine Abhandlung – Die Sprache der Zakonen. In: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Philologische und Historische Klasse, Bd. 1. München 1835, S. 511–582. 336 William Martin Leake (1777–1860), englischer Archeologe; vgl. sein Werk – Researches in Greece. London 1814.

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den Urzeiten her noch bestehenden Namen der Städte und Ortschaften, wie z.B. Warsowa, Polonitza337 und viele andere. Es genüge, einen dieser Namen auf der Karte der pelasgischen oder mainotischen Ansiedlungen zu lesen, um nicht mehr hieran zu zweifeln. Es vermeinten zwar die Byzantiner, diese Völker seien im 6. oder 7. Jahrhundert nach Griechenland gekommen, die Nachforschungen der heutigen Ethnologen entkräften aber ganz und gar ihre Angaben. Wir sehen daher, daß die Slaven nicht bloß das nördliche Griechenland, wo sie sich bis jetzt befinden, also nicht bloß Makedonien und Thrakien, sondern den ganzen Peloponnes einst eingenommen haben. Sie lebten dort als von Achäern und Hellenen Unterjochte; später aber, als der griechische Bund schwach zu werden begann, zu den Zeiten des Aufblühens der makedonischen Übermacht, waren sie es gewiß, die mit den Arnauten, Albanesen zusammen Alexander des Großen Kriegsheere ausmachten. Doch bald nachher, als das römische Reich nach Griechenland seine künstliche, vollendete, zugleich militärische Organisation verpflanzte, wurden sie wieder unterjocht. Nach Roms Verfall erbte das byzantinische Kaiserreich das Werk und entwickelte es weiter. Die wenig gekannte, aber viel verleumdete Geschichte dieses Kaiserreichs hat großen Wert für die Geschichte der nördlichen Länder, denn es gibt slavische Völker, die nicht nur einzelne Regierungsformen, sondern sogar den Geist von Byzanz her entnahmen. Das byzantinische Kaisertum stellt unleugbar die künstlichste und prachtvollste Maschine dar, die je Menschen nach den Grundsätzen der Verstandesberechnung allein regiert hat. Es war dies die bis aufs äußerste getriebene Aufopferung des Volks für den Staat. Eine Aristokratie hat dort nicht geherrscht, denn sogar die Kaiser hatten durch sich selbst nur äußerst wenig Gewalt, Alles nur lenkte und bewegte die Regierungsmaschine, ihren Mittelpunkt in der Person des Kaisers besitzend. Als Herd der Regierung stellte er das Reich vor, er befahl, verwaltete, strafte; als Mensch bedeutet er fast gar nichts; weder liebte 337 Diese Beispiele stammen von dem österreichischen Orientalisten Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861); vgl. J.Ph. Fallmerayer: Welchen Einfluß hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slaven auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attika? Oder nähere Begründung der im ersten Bande der „Geschichte von Morea während des Mittelalters“ aufgestellten Lehre über die Entstehung der heutigen Griechen. Stuttgart und Tübingen 1835, S. 74–75; dort auch – „Ein zweites Varsova findet sich im Gebirge zwischen Arkadien und Achaja, in welchem auch Krakova oder Krokova (Krakau) heute noch bewohnt wird.“ (S.  75). Vgl. auch Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Erster Theil: Untergang der peloponnesischen Hellenen und Wiederbevölkerung des leeren Bodens durch slavische Volksstämme. Stuttgart und Tübingen 1830. Zweiter Theil: Morea, durch innere Kriege zwischen Franken und Byzantiner verwüstet und von albanesischen Colonisten überschwemmt, wird endlich von den Türken erobert. Von 1250–1500 nach Christus. Stuttgart und Tübingen 1836.

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noch haßte man ihn, er hatte auch keine persönlichen Parteigänger. Hatte man ihn vom Thron gestürzt, so endete auch alle Freundschaft und Feindschaft für und gegen ihn. Man schnitt ihm Nase oder Ohren ab, verschloß ihn in ein Kloster, und niemand erinnerte sich seiner mehr. Vom Kaiser nach unten zu verbreitete sich die Verwaltungsbehörde, eine graduierte Bürokratie, welche Regierung und Gerichtsbarkeit des Landes ausmachte. Sie war aus gebildeten Männern zusammengesetzt, die durch Erfahrung gereift, zum Amt erst nach vollendeten vorgeschriebenen Studien, abgelegtem Staatsexamen und langer, praktischer Übung zugelassen wurden. Ein streng diszipliniertes, blind gehorsames Heer stand der Obergewalt zu Befehl. Zur Grundlage aller dieser Kunstgerüste diente der römische Kodex, dessen Tiefe und Vollkommenheit bekannt ist. Die Bedeutung der einzelnen Menschen schwindet hier gänzlich, alle sind gleich im Angesicht des Gesetzes, oder vielmehr der Regierung; alles wird hingeopfert, damit nur diese künstliche und seelenlose Maschine weitergeht. In einem in der Art gebildeten und zusammengefügten Reiche fehlte es jedoch am Besten, nämlich am Leben; und die Untertanen, bei allem möglichen Gehorsam für die Regierung, fühlten dennoch keinen Beweggrund, dieselbe aus eigenem Antriebe zu unterstützen und zu schonen. Darum, wenn nur irgendwo das kaiserliche Heer verdrängt wurde, so wollte das Volk sich lieber unter der Herrschaft der Barbaren befinden, die, wenn auch gewaltsam, doch in ihren Leidenschaften wenigstens etwas Menschliches zeigten, als die Lasten tragen, welche ihnen durch eine unsichtbare und unerbittliche Ordnung der Dinge auferlegt wurden. Im Übrigen waren die Barbaren nicht so geübt in der Finanzverwaltung, und sie beruhigten sich mit irgendwelcher Abgabe, da hingegen das griechische Kaiserreich bei Vervollkommnung des Katasters die Steuern immer höher hinauftrieb, und die stets wachsenden Bedürfnisse des Staates dem Volke mit äußerster Bedrückung drohten. Im Westen konnte ein solcher Stand der Dinge nicht festen Fuß fassen; der keltische Geist widersetzte sich ihm hartnäckig; aber die Griechen, die noch zur Zeit der römischen Republik in langen Bürgerkriegen ihre Elementarverfassung vernichtet hatten, bahnten dem Despotismus den Weg. Da sie schon jegliches Vertrauen in sich selbst verloren hatten, wurden sie die unterwürfigsten Sklaven des römischen Kaisertums; sie vernünftelten hierüber, bemühten sich auf logischen Gesetzen es zu begründen und mit ihren Theorien zu bekräftigen. Schon zur Zeit Scipios war es Polybios338, ein Grieche, welcher zuerst die künftige Einheit der Römer vorhersagte, und später haben die griechischen Rechtsgelehrten jeden Schritt der römischen Kaiser gerechtfertigt. 338 Vgl. Polybios: Geschichte. Übersetzt von Hans Drexler. 2 Bde., Zürich 1961–1963.

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Teil I

So also fanden sich die slavischen Völker Griechenlands und der Donauländer inmitten zweier Extreme, nämlich dem morgen- und abendländischen Kaisertum, und konnten es nicht über sich gewinnen, weder für das eine Neigung zu fassen, noch in das andere einzugehen. Der Feudalismus vernichtete, wie wir dies schon gezeigt, hier ihre geselligen Einrichtungen, und dort im byzantinischen Reich war für sie auch nicht der geeignete Ort. Es kam vor, daß einige von ihnen Bischöfe, Heerführer und sogar Kaiser wurden, aber das Regierungssystem und selbst der militärische Stand, langen Dienst und strenge Mannszucht erfordernd, war geradezu der slavischen Natur zuwider. Daher konnten sie die Sklaven des Reichs sein, nie aber seine Bürger werden. Als nun dieses Reich im 11. und 12. Jahrhundert zu wanken begann, treten mit einmal diese unbekannten Slaven überall und auf allen Punkten Griechenlands und des Morgenlandes auf. Im 8. Jahrhundert erheben sie sich gegen die griechischen Kaiser. Geschlagen und von Neuem unterjocht, werden sie massenweise nach Kleinasien zum Zurückdrängen der Türken geschickt, sie gehen aber auf ihre Seite über und siedeln sich in jenen Gegenden an. So geschieht Erwähnung von solch einer Ansiedlung, wobei ein Heer von 120–150 000 Mann nach Asien überging, und ein slavischer Anführer, mit Namen Thomas [der Slave]339, vereinte sich mit den Türken und brachte den Griechen viele Niederlagen bei. Leicht wird es nun sein, den Verfall des byzantinischen Kaiserreichs sich zu erklären. Dieses ungeheure Reich, welches nicht nur ganz Griechenland, sondern auch Syrien und Ägypten umfaßte, vermochte nicht einer Handvoll Araber zu widerstehen, weil die Bevölkerung es verlassen hatte. Moralisch war es schon früher durch die Sektierer zerrissen. Die Arianer, Manichäer, Kopten, neigten sich dem Islam zu; aber die physische Ursache seiner Zerstörung lag in den Slaven. Als die Slaven in Kleinasien und später in Griechenland die Türken aufnahmen, oder sie wenigstens duldeten, da war das Kaiserreich schon unrettbar verloren. Bekannt ist, daß Murad, nachdem er die Janitscharen gestiftet, den Christen befahl, ihm einen Sohn von je fünfen aus jeder Familie zu geben. Die Griechen verwandte er zur Flotte, die Slaven machte man zu Janitscharen. Diese allererste regelmäßige Infanterie in Europa, 40 000, später 50–60 000 Mann zählend, war die Auswahl, die Hauptkraft der türkischen 339 Über Thomas den Slaven berichten (unterschiedlich) die byzantischen Geschichtsschreiber Genesios, Skylitzes und Theophanes; vgl. den Artikel – Thomas „der Slave“. In: Prosographie der mittelbyzantinischen Zeit. Erste Abteilung (641–867). 5. Band. Hrsg. Ralph-Johannes Lilie u.a., Berlin-New York 2001, S.  33–37; ferner – Joseph Genesios: Byzanz am Vorabend neuer Größe. Byzantinische Geschichtsschreiber. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Anni Lesmüller-Werner. Wien 1989; Johannes Skylitzes: Byzanz wieder ein Weltreich. Das Zeitalter der Makedonischen Dynastie. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Hans Thurn. Graz u.a. 1983.

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Heere. Die fünfzehn- oder sechzehnjährigen Knaben zum Dienste ausgehoben, beschnitten und fortwährend in den Waffen geübt, bildeten die Leibgarde und zugleich die furchtbarste Schar der Sultane auf den Schlachtfeldern gegen die Heere Europas, die lange Zeit noch undiszipliniert und ungeregelt waren. Es ist nicht lange her, daß dieser Übelstand unter den Griechen und Slaven noch bestand. Die Ersteren erwiesen ihre Dienste den Türken auf der Flotte und in der Diplomatie, die Letzteren im Militär. Endlich verdarben die Türken durch sich selbst, und diese uralten Völker stehen sich wieder Auge in Auge gegenüber. Dies alles ist wenig bekannt, und im Allgemeinen hat die europäische Politik, sogar zu der Zeit, als sie hauptsächlich nur auf die Vertreibung der Türken bedacht war, sich nie beflissen zu erkennen, wodurch ihre Macht gewachsen ist, und wodurch sie sich erhält. Heute erst beginnen weiterschauende Geister diesen Gegenstand zu untersuchen. Ein Franzose340 unternahm eine Zeitschrift herauszugeben, um sich der Sache des Morgenlandes zu widmen. Wir finden in selbigem einen kurzen Hinblick auf die Sache von demselben Gesichtspunkt aus, den wir angegeben. Die Geschichte der dortigen Völker kurz zusammenfassend, sagt der Autor: Die Griechen und Slaven sind die ältesten Besitzer der Türkei. Auch heute noch besitzen sie fast das gesamte Land, wenn auch zu einem geringen Teil unterjocht. Die armen Slaven bewohnen die trockenen Berge im Landesinnern. Die reichen Griechen beherrschen die fruchtbaren Ebenen. Die Griechen haben den Handel, die Künste, die schönen Städte und die Freude; die Slaven haben den Ackerbau, das Land, die harte Arbeit und die Mühen. Da die Slaven ihren hellenischen Brüdern zahlenmäßig weit überlegen waren, versuchen sie natürlich, diese zu verdrängen, um ihren Reichtum zu zu erben. Daher rührt die Antipathie zwischen beiden Völkern, die auf das Mittelalter zurückgeht, Die Türken kamen, wie später die Deutschen nach Ungarn, als Beschützer und nicht als Herren. Die Griechen freuten sich auf ihre Verbündeten, die Türken, die wie immer ihre Kräfte mißbrauchten, wurden zu Eroberern. Les Grecs et les Slaves sont les plus anciens maîtres de la Turquie. Encore aujourd’hui, ils posèdent, quoique peoples subjugués, la presque totalité du sol. Les Slaves pauvres occunent les arides montagnes d l’intérieur du pays. Les Grecs riches sont maîtres des plaines fertiles. Aux Grecs le commerce, les 340 Cyprien Robert (1807–?1865); Lehrstuhl-Nachfolger von A.  Mickiewicz am Collège de France von 1845–1857; Begründer der französischen Slavistik; Herausgeber der Zeitschrift „L’Orient européen, social, religieux, littéraire. Revue mensuelle […]“ (Paris 1840), die nur in zwei Heften erschien; vgl. auch – Cyprian Robert: Die Slawen der Türkei, oder die Montenegriner, Serbier, Bosniaken, Albanesen und Bulgaren, ihre Kräfte und Mittel, ihr Streben und ihr politischer Fortschritt. Aus dem Französischen von Marko Fedorowitsch. Dresden und Leipzig. 1844. Über C. Robert vgl. Leszek Kuk: Wielka Emigracja a powstanie słowianofilstwa francuskiego. W kręgu działalności Cypriana Roberta. Toruń 1991.

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Teil I arts, les belles villes, la joie; aux Slaves l’agriculture, les campagnes, les rudes travaux et les peines. Or, ces derniers, se trouvant beaucoup plus nombreux que leurs frères heleniques, cherchaient naturellement à refouler ceux-ci pour hériter de leurs richesses. De là cette antipathie entre les deux peoples, qui date do moyen âge. Les Turcs vinrent, comme plus tard les Allemands sont venus en Hongrie, en qualité de protecteurs et non de maîtres. Les Grecs recurent avec joie leurs allies, les Turcs, qui abusèrent, comme toujours, de leurs forces, et plus tard devinrent conquérants.341

Der Autor schließt schließt seine Auseinandersetzung mit der Behauptung, daß die morgenländische Frage vor allem eine slavische sei, ihre Lösung aber nicht ohne tiefe Erschütterungen erfolgen würde, welche von Grund aus das Morgenland umändern und sogar stark in Europa widerhallen müssen. Nach diesen Bemerkungen ist nicht schwer vorherzusehen, wo dies alles hinauswill, und womit es wohl enden könnte. Die Griechen sind gezwungen, sich an die Hilfe der Slaven zu wenden; wenn also die Bevölkerung Griechenlands, der slavischen Länder und Syriens, welche katholisch ist, keinen gehörigen Herd der Unterstützung für sich findet, so wird die ganze Angelegenheit in die Hände des russischen Kaiserreichs kommen. Das Schicksal und die Lage der die Griechen hassenden, die Lateiner fürchtenden und durch die Türken unterjochten Slaven sind in der serbischen Poesie unter der fabelhaften Person jenes Königsohns Marko342 dargestellt, welchen wir früher schon erwähnt. Marko wird Türke, und in der Tat hat er der Geschichte nach den Türken sich ganz genähert, ist sogar in einer Schlacht gegen die Christen geblieben. Wir sehen ihn daher als einen slavomuselmannischen Helden; es ist dies die Geschichte der türkisch gewordenen slavischen Provinzen, wie Albaniens, des türkischen Bosnien usw., welche, wenngleich den Koran achtend, die Türken nicht leiden können, und bei jeder Gelegenheit sich gegen den Padischah erheben. Marko hat einen harten und übermütigen Charakter. Die Dichtung singt, daß er einst auf der Jagd mit Wesir Murad, als dieser seinem Falken geflissentlich den Flügel gebrochen, zuerst über seine Verwaisung unter den Türken eine Träne geweint, nach seinen 341 Cyprien Roberts: La Question d’Orient ramanée à ses principes de philosophie sociale. In: L’Orient Européen, social, religieux et littérature. Revue mensuelle. 1 (1840), S. 26–27. Die Publikation war mir nicht zugänglich. Das (unvollständige) Zitat wurde aus der französischen Edition übernommen (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 258–259). 342 Bei der folgenden Charakteristik der Figur des Kraljević Marko stützt sich Mickiewicz auf die Ausführungen von Talvj (Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Neue umgearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Teil. Leipzig 1853, S. 29–31); vgl. dazu K. Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti, op. cit., S.  132–134; ferner Henryk Batowski: Mickiewicz a polska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 29–57.

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serbischen Brüdern aufgeseufzt, und dann den Wesir erschlagen habe. Der Sultan, statt ihn zu bestrafen, beschenkte ihn mit tausend Goldstücken, und sagte ihm lachend insgeheim: „Бе аферим, мој посинко Марко! Да нијеси тако учинио, ја те не бих више сином звао: свако Туре може везир бити, а јунака нема као Марко.“ […] „Нај то тебе, мој посинко Марко, пак ти иди те се напиј вина.“343

„Mögest du dafür leben leben, Söhnchen Marko! Hättest du dich also nicht betragen, Möchte ich meinen Sohn dich nicht mehr nennen. Jedes Türklein kann Wesir ja werden. Doch wie Marko lebt kein andrer Held mehr!“ […] „Nimm dies Geld, mein Sohn, von deinem Herren, Trinke auf mein Wohlsein, tapfrer Marko!“344

Der Dichter fügt jedoch hinzu, daß der Sultan dem Marko nicht deshalb zum Weintrinken gab, weil ihn etwa seine Tat erfreute, sondern er wollte ihn nur sobald als möglich loswerden, denn furchtbar war Marko im Zorn. Es ist dies das Bild der Janitscharen und der Politik des Padischah gegen sie. Marko segelte später ins Morgenland, er kämpfte in Ägypten, wanderte in den Ländern Asiens herum. Dies sind die Taten der slavischen, nach Kleinasien gesandten Heere, und der Mamelucken, unter denen es sehr viele Slaven gab. Das poetische und fabelhafte Ende dieses Helden kann ebenfalls dem Hergang der Geschichte und der Zukunft der in ihm personifizierten Völker angepaßt werden. Den Dichtern zufolge lebte Marko 300 Jahre, also fast bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Gerade in dieser Zeit aber verschwindet auch der letzte Überrest der Unabhängigkeit der Donau-Slaven, sogar der Titel des serbischen Despoten wird aufgehoben. Marko jedoch fiel nicht durch Türkenhand, er starb den ihm von Gott bestimmten Tod, welchen die Serben „den alten Blutvergießer“345 nennen. Eines Morgens, als er vom Gestade des Meeres in die Berge ritt, fing sein Roß an stetisch zu werden, und wollte nicht von der Stelle: „Давор’, Шаро, давор’, добро моје! Ево има сто и шесет љета Како сам се с тобом састануо, Још ми нигда посрнуо ниси; А данас ми поче посртати, Посртати и сузе ронити:“

„Ei, was ist Šarac, mein Bester! sind es doch schon 160 Jahre, als wir uns begegneten, und noch nie bist du gestolpert, heute aber beginnst du zu wanken, zu schwanken und Tränen zu vergießen.“

343 „Lov Markov s Turcima“ (Markos Jagd mit den Türken), Vuk 1958, II, S. 416. 344 Bei Talvj „Marko und die Türken“, Talvj, I, S. 238. 345 „Stari krvnik“ – Siehe „Smrt Marka Kraljevića“ (Vuk 1958, II, S. 427); vgl. auch hier unten.

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Hierauf redete die Vila (ein phantastisches Wesen, etwa eine Nymphe, Bergfee) schreiend vom Urvina-Berg herab: „Побратиме, Краљевићу Марко, Знадеш, брате, што ти коњ посрће? – Жали Шарац тебе господара, Јер ћете се брзо растанути.“

„Höre Bruder, Königssprosse Marko! Weißt du, Freund, warum dein Roß gestolpert? – Höre, um seinen Herren trauert Šarac, Denn ihr werdet bald euch trennen müssen!“

Marko erwiderte im Zorn: „Б’јела вило, грло те бољело! Како бих се са Шарцем растао, Кад сам прош’о земљу и градове, И обиш’о исток до запада, Та од Шарца бољег коња нема, Нит’ нада мном бољега јунака!“

„Weiße Wila! soll der Hals dir weh tun! Wie könnt’ ich mich von dem Šarac trennen, Der durch Land und Städte mich getragen? Weit vom Aufgang bis zum Niedergange Gibt es doch kein besser Roß auf Erden, Wie als ich kein bessrer Held auf Erden!“

Nun antwortet wieder die Vila: „Побратиме, Краљевићу Марко, Тебе нитко Шарца отет’ неће, Нит’ ти можеш умријети, Марко, Од јунака, ни од оштре сабље, Од топуза, ни од бојна копља: - Ти с’ не бојиш на земљи јунака; Већ ћеш, болан, умријети, Марко, Ја од Бога, од старог крвника! Ако л’ ми се вјеровати нећеш, Када будеш вису на планину, Погледаћеш з десна на лијево, Опазићеш двије танке јеле, Сву су гору врхом надвисиле, Зеленијем листом зачиниле, Међу њима бунар вода има: Онђе хоћеш Шарца окренути, С коња сјаши, за јелу га свежи, Наднеси се над бунар над воду, Ту ћеш своје огледати лице, Па ћеш виђет’ кад ћеш умријети.“346

„Bundesbruder, o Kraljević Marko! Nicht Gewalt wird Šarac dir entreißen, Noch vermag, Freund Marko, dich zu töten Heldenarm und nicht der scharfe Säbel, Nicht der Kolben, nicht die Kampfeslanze. Keinen Helden fürchte du auf Erden! Aber streben wirst du, armer Marko, Durch Gott selbst, den alten Blutvergießer. So du nicht willst meinen Worten glauben, Reit hinan zu des Gebirges Gipfel, Schaue von der Rechten zu der Linken. Sehen wirst du dort zwei schlanke Tannen, Die des Waldes Bäum all überragen, Schön geschmückt sind sie mit grünen Blättern. Aber zwischen ihnen ist ein Brunnen, Dorten kehre rückwärts deinen Šarac, Sitze ab und bin ihn an die Tanne. Neige dich hinab aufs Brunnenwasser, Daß dein Antlitz du im Spiegel schauest, Siehest dorten, wann du sterben werdest.“347

346 „Smrt Marka Kraljevića“ (Der Tod des Königssohns Marko) – Vuk 1958, II, S. 426–428. 347 Talvj, I; S. 255.

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Da tat Marko, wie ihm befohlen, und überzeugte sich, daß er wirklich dem Tod nahe sei. Seinem Šarac hieb er nun den Kopf ab, auf daß ihn die Türken nicht bekämen, zerbrach den Säbel in vier Stücken, schleuderte den Kolben bis ins Meer hinein, und schrieb sein Testament über die drei Beutel Goldes, die er immer bei sich führte, so verfügend: den einen Beutel bestimmte er für den, der ihn begraben würde, den zweiten für Kirchen und Klöster, den dritten für die blinden Sänger, daß sie seine Taten besängen. Dann legte er sich unter einer Tanne nieder und verschied. Die Vorübergehenden glaubten, er schlafe, bis der Mönch Basilius herankam, welcher, nachdem er das Schreiben gelesen, das Geld nahm, und den Leichnam im Kloster Hilandar auf dem Berge Athos bestattete. Nebenbei behaupten andere Sagen, Marko lebe bis auf den heutigen Tag, und werde sich noch einst zeigen. Ganz und gar so verhält es sich mit der Nationalität der Serben, sie ist erstorben oder vielmehr eingeschlummert in den Bergen. Nach der Vernichtung des serbischen Reichs in den Ebenen haben sich die geschichtlichen und poetischen Überlieferungen jener slavischen Gegenden zu den Montenegrinern und den Einwohnern einiger Länder am Meer geflüchtet.348 Zu den Zeiten des Kampfes der Serben mit den Türken beginnt eine Art Poesie, welche Privatbegebenheiten, Liebschaften, Abenteuer und die Taten einzelner berühmter Männer besingt.349 Da diese Schöpfungen aber nicht wie das Epos die ganze, sondern nur die niedrige, durch enge Schranken begrenzte Welt umfassen und das Wunderbare hier nicht durchaus notwendig ist, so haben auch die serbischen Dichter, da sie diesen Hebel entbehren konnten, die höchste Stufe der Vollkommenheit hierin erlangt. Das schönste und zugleich das längste350 in diese Reihe gehörende Gedicht – denn es hat die Ausdehnung eines ganzen Gesanges der „Ilias“ – ist das von der „Vermählung des Maksim Crnojević“ („Ženidba Maksima Crnojevića“). Ohne Zweifel besitzt

348 Zu den (vielen) Legenden über den Tod von Marko Kraljević vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkim i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 358; ferner – Jovan R. Deretić: Zagonetka Marka Kraljevića. O prirodi istoričnosti u srpskoj narodnoj epici. Beograd 1995; Ivan Zlatković: Epska biografija Marka Kraljevića. Beograd 2006. 349 In der französischen Ausgabe lautet der Satz: „Une nouvelle poésie commence après l’époque de la lutte contre les Turcs. Ce nouveau cycle littéraire est composé de romans, contenant le récit des aventures, des exploits guerriers ou amoureux de quelques individus importants de l’histoire serbienne.“ – A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 262. Im Gegensatz zur „poésie epique“, dem Zyklus der Heldenepik, handelt es sich hier – nach der bisherigen Typologie – um den Zyklus der höfischen Epik („cycle romanesque“), die lyrisch-epischen romanesken Gedichte. Vgl. auch 16. Vorlesung (Teil I). 350 Es umfaßt 1227 Verse (Zehnsilber – deseterac).

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keine einzige Literatur etwas Ähnliches, was in jeder Hinsicht so vollständig, so gut durchgeführt und zugleich in den Einzelheiten so vollendet wäre. Ivan351, der Vater Maksims, einer von den Beherrschern Bosniens, zurückgedrängt von den Türken in die Gegenden der Crnogora (Montenegro), stammte, seiner Herkunft nach, von den serbischen Zaren ab. Sein Vorhaben, den Sohn mit der Tochter des Dogen von Venedig zu vermählen und die hieraus erfolgenden Unglücksfälle sind der Gegenstand der poetischen Erzählung. Ehe wir sie jedoch vornehmen, geziemt es sich wohl etwas von dem gesellschaftlichen Leben und den Familiensitten der Montenegriner352 zu sagen, einesteils weil das Gedicht von ihnen entlehnt ist, andernteils, weil sie mit der Zeit die Serben in politischer und literarischer Hinsicht vertreten haben. Diese Gegend, am meisten den aufgeklärten Ländern Europas genähert, ist dennoch wenig bekannt. Im Übrigen pflegt das dort einheimische slavische Element eine allgemein so wenig gekannte Sache zu sein, daß der Statistiker Dominique Dufour de Pradt353 in seinem Werk über die Türkei und Griechenland die Grenzen des Letzteren bis an die Donau setzt, ganz und gar vergessend, daß zwischen Griechenland und der Donau die Bevölkerung der Slaven um Vieles mehr beträgt, als die Zahl aller Griechen zusammen genommen. Ein französischer Schriftsteller, der Oberst Vialla, welcher vor etwa 20 Jahren die Gegenden von Montenegro bereiste, und ein Werk unter dem Titel: „Voyage historique et politique au Monténégro“354 herausgab, behauptet, daß die Montenegriner eine griechische355 Mundart reden; was aber noch viel drolliger: er sagt, daß er diesen Dialekt ganz genau inne gehabt. Das montenegrinische Land liegt zwischen Dubrovnik und Bosnien, welches es von den türkischen Provinzen scheidet. Es besteht fast nur aus einem 351 Ivan Crnojević herrschte in Montenegro von 1465–1490; er hatte drei Söhne: Đurađ, Stjepan und Staniša, der in den Volksliedern Maksim genannt wird. 352 Mickiewicz stützt sich hier auch auf die anonym erschienene Abhandlung von Vuk Stefanović Karadžić: Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes. Stuttgart-Tübingen 1837. 353 Dominique Dafour de Pradt: L’Europe par rapport à la Gréce et à la reformation de la Turquie. Paris 1826. Im Internet unter: [http://reader.digitale-sammlungen.de]. 354 L.C.  Vialla de Sommières: Voyage historique et politique au Monténégro. 2 Bände. Paris 1820; deutsche Übersetzung in Auszügen: Reise nach Montenegro. Aus dem Franz. des Obristen Vialla de Sommiere. Jena 1821 [http://zs.thulb.uni-jena.de]; L.C.  Vialla de Sommières (Lebensdaten unbekannt) war französischer Gouverneur der Illyrischen Grenzprovinz Cattaro [Kotor] und Chef des Generalstabes der Illyrischen Armee zu Ragusa (Dubrovnik). Vgl. auch – Heinrich Stieglitz: Besuch auf Montenegro. StuttgartTübingen 1841 (Neudruck: Hannover 2008), der auf Vialla de Sommières kritisch eingeht. 355 „Diese Illyrische Sprache ist ein Dialect des Griechischen, obgleich Einige behaupten, daß sie das Slavonische oder Altsarmatische sei. Sie ist zugleich reich und laconisch, energisch und wohlklingend.“ – Vialla de Sommières: Reise nach Montenegro, op. cit., S. 151.

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Felsengebirge, das sich bis an das Meer zu dem schmalen Ufer des österreichischen Albanien erstreckt. Die Geologie ihrer Wohnsitze erklären sich die Einwohner wie folgt. Sie sagen: der Herr Gott habe bei der Erschaffung der Welt die Steine in einem Sack auseinander getragen, als er aber an diesen Ort gekommen, sei der Sack zerrissen und die Steine zahllos verschüttet worden. Der Flächeninhalt dieses Landes ist nicht genau bekannt; kein Geograph hat sich je dahin verirrt. Man glaubt, daß es 50 Quadratmeilen enthält. Ebensowenig ist man in Betreff der Seelenzahl einig. Einige Statistiker geben die Zahl 50 000 andere 100 000 an. Die Montenegriner selbst rechnen sich auf 20 000 Flinten, d.h. 20 000 waffenfähige Männer. Dies kleine Völklein war jedoch im Stande, seine Unabhängigkeit bis jetzt zu bewahren. Geschützt durch undurchdringliche Gegenden und eigne Tapferkeit, trieb es immer die Überfälle der Türken, der Österreicher und in der letzten Zeit des französischen Kaiserreichs zurück. Sehr interessant für die Slaven ist seine Geschichte, im Besonderen verdient aber sein gesellschaftlicher Zustand Berücksichtigung, denn in ihm kann man das vollkommenste Bild der slavischen Gesellschaft sehen. Völlige Freiheit herrscht hier; es ist vielleicht das einzige freie Land auf Erden, das Land der Freiheit und der Gleichheit. Die Montenegriner kennen unter einander weder die Unterschiede der Geburt, noch des Vermögens, noch wollen sie irgendwelche Stufen einer Hierarchie anerkennen, so daß das Volk fast gar keine Art von Regierung kennt. Vier Kreise sind mit 24 Geschlechtern oder Familien bevölkert, von denen eine jegliche unter einem angeerbten Hauptmann verbleibt, aber dieser Häuptling besitzt keine Gewalt. Auch besteht ein erbliches Amt des Fahnenträgers, der im Kriege die große Fahne schwingt, und dieses bringt ihm einige Ehre und Achtung, gibt aber nicht im Mindesten das Recht, über die Streitkräfte zu verfügen, dem Heer zu befehlen. Nach dem Erlöschen der hier einst herrschenden serbischen Dynastie nahm der Bischof oder vladika die Stelle des Fürsten ein. Er hat jetzt eigentlich die Oberleitung des Landes, wenngleich ohne wirkliche Gewalt. Er ruft das Volk zu den Waffen, wenn die Türken einzudringen drohen, nimmt den ersten Sitz im Rat, im Grunde aber befiehlt er nur der Geistlichkeit. Das Slaventum hat aber hier dermaßen die Religion und die christlichen Einrichtungen verschlungen, daß auch die Geistlichen ihren abgesonderten Charakter verloren haben. Häufig ist der Pope zugleich Gastwirt, er schenkt Wein, singt Poesien, die Laute dazu schlagend, und unterscheidet sich weder in Sitten noch sogar in seiner Kleidung von den übrigen gewöhnlichen Inländern. Die Montenegriner scheren den Kopf, tragen Schnurrbärte und gehen immer bewaffnet mit Flinte und Säbel. Diese Gesellschaft, ohne irgendeine Obergewalt und ohne Regierung, hat ihre allgemein geachteten Gesetze und Gewohnheiten, welche die Bürger in

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Sicherheit leben lassen und ihre gegenseitigen Berührungen in Schranken halten. Die Blutrache ist hier zu einem so eingewurzelten und entwickelten Gesetz geworden, daß die Rechtsgelehrten in dieser Hinsicht bei den Montenegrinern lernen könnten. Hat einer von ihnen einen Landsmann erschlagen, so hat die ganze Familie, das ganze Geschlecht die Pflicht, für ihn Rache zu nehmen, d.h. nicht gerade den Schuldigen selbst zu erschlagen, sondern nur einen aus seiner Familie oder aus seinem Geschlechte, ja häufig sogar wählen die Rächer geflissentlich, um desto glänzendere Genugtuung zu nehmen, das angesehenste Haupt der Gegenpartei. Zuweilen jedoch, besonders wenn die beklagte Familie sehr mächtig und der Rache nicht leicht zugänglich ist, kommt es zu Verträgen, und dann erfolgen die Forderung und das Auszahlen eines Kopfgeldes. Gewöhnlich beträgt das Kopfgeld etwa 100 Goldstücke. Ereignet sich ein Diebstahl, so übernehmen die gewandteren Einwohner freiwillig, da es keine Polizei gibt, das Ausspürungsgeschäft. Für ein Geringes suchen sie den Dieb auf, klagen ihn öffentlich an, zwingen zur Rückgabe des gestohlenen Gutes, oder rächen sich, indem sie nach ihm schießen, und nun beginnt die Reihe der blutigen Genugtuungen. Der Diebstahl ist dort jedoch äußerst selten. Zur Zeit der Kriege Österreichs und Rußlands mit den Türken hatten die Montenegriner sehr tätigen Anteil. Österreich hat sie viele Male gegen die ottomanische Pforte aufgewiegelt, nie aber beim Friedensschluß sich darum bekümmert, was aus diesen Verbündeten werden würde, nie stellte es deshalb eine Bedingung. Ebenso schickt Rußland, wie oft es auch gegen die Türkei loszuschlagen vornimmt, immer seine Agenten, die Montenegriner auf die Beine zu bringen, und einen Überfall von ihrer Seite her zu machen, dann aber überläßt es dieselben dem eignen Schicksale, ohne Schirm und Schutz gegen die Rache der Türken. Noch im Jahre 1834 drang aus dieser Veranlassung ein starkes türkisches Heer in das Land der Montenegriner ein, konnte sich aber nicht lange darin halten. Der im Jahre 1830 einen Monat nach der Juli-Revolution verstorbene Petar I. Petrović-Njegoš356, ein seltener Mann, sehr achtungswert und außerordentlich im Lande beliebt, genoß sogar außerhalb der Grenzen großes Ansehen, und war von vielen europäischen Monarchen gekannt, die mit ihm Verträge abschlossen. Bei den Slaven hat sein Name einen großen Ruf, er gilt für einen Heiligen. Die Einzelheiten seines Hinscheidens verdienen eine Erwähnung, denn in ihnen kann man die treuen Abrisse der volkstümlichen Sitten sehen. Als er sich dem Tod nahe fühlte, berief er die Ältesten seines Volkes, und da es sehr kalt, im ganzen Haus aber kein Ofen war, so ließ er sich in 356 Petar I. Petrović Njegoš (1748–1830); auch Sveti Petar Cetinjski – Fürstbischof (vladika) von Montenegro; vgl. Desanka Milošević: Die Heiligen Serbiens. Recklinghausen 1963.

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die Küche tragen, legte sich vor den Feuerherd hin und empfing dort die versammelten Häuptlinge. Zuerst verkündete er ihnen, daß seine letzte Stunde nahe, ermahnte sie zur Friedfertigkeit, prägte ihnen ein, keine Ausländer und deren Einfluß ins Land zu lassen, und verlangte als Zeichen der Trauer um ihn eine eidliche Versicherung, daß sie einige Monate hindurch Waffenstillstand unter sich halten würden. Als er diesen Eid erhalten, kehrte er ins Bett zurück und verschied ohne Leiden, ohne Zeichen des Krankseins. Sein Nachfolger357, ein tätiger und gewandter Mann, genießt dies Ansehen bei den Seinigen nicht. Er reiste auf Verlangen des russischen Kaisers nach Petersburg, und von diesem mit einem Jahresgehalt ausgestattet, suchte er nach seiner Rückkehr, Geld umherwerfend, Polizei, Gerichtsbarkeit und Senat einzuführen. Alle diese Reformen sind bis jetzt jedoch nicht angenommen worden, und es steht zu hoffen, daß sie auch nichts ausrichten werden. Die Senatoren versammeln sich zu den Sitzungen in einem geräumigen Haus, dessen Hälfte ein Stall ist, sie kommen mit Flinten, denn sie müssen auch selbst ihre Erkenntnisse vollziehen, und zum Lohne für die Mühsal bekommt jeder von ihnen Mehl zu Brot und 200 Franken. Da dies nun das einzige besoldete Amt ist, so verlangte jeder Montenegriner, Senator zu sein, und der Fürstbischof konnte sich wirklich nicht anders helfen, als indem er ein Gesetz gab, kraft dessen alle Montenegriner der Reihe nach zur Senatorwürde zugelassen werden. Die Verordnungen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit gehen nicht besser von statten. Wie will man da den Schuldigen richten, der sich in den Schoß der Familie verbirgt, diese es aber für ihren höchsten Schimpf hält, ihn irgendjemandem auszuliefern. Im Falle eines Streites wählen gewöhnlich die Parteien einen Schiedsrichter. Der Aufgeforderte bespricht sich zu allererst, was er dafür bekommen würde, hernach verpflichtet er sich das, was er ausspricht, auch durchzuführen. Darum sieht man immer darauf, daß der Richter kräftig ist, gut zu schießen versteht und zahlreiche Freunde besitzt; denn nach gefälltem Urteil betrachtet die verlierende Partei es durchaus nicht für ihre Schuldigkeit, sich demselben zu unterwerfen. Die abgeschlossene Lage des Landes und die eigentümlichen Sitten haben diesem Volk die Unabhängigkeit gesichert, das im übrigen gutmütig, zuvorkommend und gastfrei ist, nie aber auswärts zu einem Ansehen kommen konnte. Es scheint, als ob alle slavischen Völker solch einen Zustand durchgelebt hätten, wenn sie ebenfalls befestigte Sitze in den Gebirgen gehabt. Außer 357 Petar II. Petrović Njegoš (1813–1851). Sein bedeutendes episches Hauptwerk „Gorski vijenac“, Wien 1847, war Mickiewicz nicht bekannt. Deutsche Übersetzung: „Der Bergkranz“. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Alois Schmaus. München 1963.

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diesem natürlichen Schutz war den Montenegrinern noch der gegenseitige Neid der Nachbarn, der Venetianer, Österreicher und Türken nützlich, die einander von diesem Punkt als von der Vormauer ihrer Grenzen zurückstießen. Die ganze Dichtung dieser bergigen Gegenden webt sich um die Geschichte kleiner Kämpfe mit dem Feind, und um die Angelegenheiten des häuslichen Lebens. Da jedes Geschlecht das Recht hat, Krieg zu führen, und zuweilen in Verabredungen einzugehen, ohne die anderen zu befragen, so liefert eine Masse von Streitigkeiten und Gefechten mit den Türken Stoff genug für die Dichter. Im Kreis der häuslichen Begebenheiten feiern sie die denkwürdigen Feste, Gastmähler und besonders Hochzeiten. Die Hochzeit ist bei den dortigen Slaven die wichtigste Zeremonie; in vielen Liedern sind die geringfügigsten Einzelheiten des Freiens und der Trauung weitläufig erzählt. Die Weiber sind nicht von sich selber abhängig; verpflichtet die Wirtschaft zu führen, arbeiten sie zu Hause und aus dem Felde; die Männer aber, stets mit Angelegenheiten des Krieges beschäftigt, denken selbst nicht an die Wahl der Gattin. Die Ehen der Jugend verabreden die Häupter der Familien, zuweilen schon auf 20 Jahre vor dem Tag der Trauung. Wenn nun dieser Augenblick naht, ist der Bräutigam verpflichtet, alle seine Verwandten und Freunde einzuladen, um ein desto glänzenderes Gefolge zu haben. Es trifft sich dann, daß später das Volk noch hundert Jahre nachher der glänzenden Hochzeit gedenkt, und von derselben wie von einem Wunder spricht. Der nächste Verwandte des Verlobten führt die Jungfrau zur Trauung; ihm ist sie anvertraut, bis er sie in die Hände des Gatten abgibt. Noch sind dabei andere hochzeitliche Ämter; ein Werber, Brautführer, Ältester des Zuges, Platzmacher, ebenso von dem anderen Geschlecht, und außerdem ein Possenreißer, der amtlich Narrheiten aufführen und alle erheitern muß. Im Übrigen hat die ganze Verrichtung ein kriegerisches Ansehen; die Männer treten geschmückt und gewaffnet auf, wenngleich sie auch ohnedies nie vom Säbel und der Flinte sich trennen, sei es bei der Arbeit im Felde, sei es ruhig unterm Dach sitzend.

19. Vorlesung (5. März 1841) Die poetischen Vorstellungen der Serben vom griechischen Kaiserreich und den Ländern der Lateiner (235) – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića).

Um das Bild des häuslichen Lebens, der Sitten und des Charakters der DonauSlaven, besonders aber der Bergbewohner zu vollenden, wird es genügen, eins von den ritterlichen Gedichten durchzugehen, welches voll lebhafter Farben und vollkommener Skizzen ist. Die Erzählungen dieser Art sind immer getreu, eben wie das Homerische Epos selbst. Nirgends hat der Geist des Dichters weniger Spielraum als bei einem Epos; die Einbildungskraft ist hier von der Wahrheit selbst gefesselt. Das Wundersame sogar, was wir im Heldengedicht antreffen, ist keine neue Schöpfung, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung, hin und wieder eine Parodie der alten religiösen Überlieferung. Der Dichter erfindet nichts, er entnimmt der Geschichte den Gegenstand, und in diesem selbst liegt schon der Plan des Gedichts. Betrachten wir die „Ilias“, diesen Kampf zwischen einer sich hinter den Mauern verteidigenden Stadt, und dem Lager, das an eine Flotte gelehnt ist. Die ganze Verschiedenheit des Schauspiels entspringt hieraus; zwei verschiedene Regierungen, zwei besondere Endzwecke und zwei verschiedene Verfahrungsweisen. Alles dies ist geschichtlich, der Dichter malte nur die Wirklichkeit, und darum tragen seine Beschreibungen überall das Zeichen der Wahrheit. Dieselbe Wahrheit ist auch das Hauptverdienst der ritterlichen Erzählungen der Slaven. Es gebührt der Lage des Landes und den kriegerischen Anlagen der Einwohner. Schon haben wir ihre Berührungen mit dem Morgen- und Abendland auseinandergesetzt. Die Dichtung verfährt anders hierin. Für die Dichter gibt es kein griechisches Kaiserreich, sie kennen nur den Kaiser, der sich ihnen als eine ehrbare, weise Person darstellt. Von den Rittern Griechenlands sprechen sie nicht, befassen sich nur mit seiner Religion. Griechenland als Kirche tritt häufig auf die Bühne. Der Berg Athos, eingeschlossen inmitten der türkischen Besitzungen, ist ein geheiligter Ort, etwa ein Delphi oder Lesbos des slavischen Griechenlands. Diese von Mönchen bevölkerte Gegend (man zählt ihrer dort auf 6000) hat sich mit einer Menge Kirchen und Klöster bedeckt. Viele von diesen haben die Herrscher Serbiens aufgebaut, sie betrachteten sich als Schutz- und Schirmherren dieses heiligen Berges, und nahmen häufig im Alter das Mönchsgewand, ihr Leben in klösterlicher Stille hier zu beschließen. Diese Vormundschaft ist jetzt auf die russischen Kaiser übergegangen, die ihre religiöse Oberherrschaft über alle von der ionischen Kirche

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_020

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abhängigen Länder ausdehnen. Was ihre Begriffe von dem Westen betrifft, so stellen die Serben ihn sich als den Tummelplatz der romantischen Begebenheiten und des Rittertums vor; denn der christliche Heldengeist, den sie in der eignen Geschichte so vorherrschend finden, erinnert sie unwillkürlich an die Lateiner. Unstreitig gab sich der Einfluß des Westens auf die Slaven während ihrer Kämpfe mit den Türken kund; sie wurden damals durch das Treiben der durch ihre Länder ziehenden Kreuzzüge erregt. Der erste Kreuzzug ging durch Serbien, und die deutschen Anführer nahmen unterwegs zum Krieg gegen die Ungläubigen slavische Bevölkerung mit. Die Slaven zeigten für die Kreuzfahrer Mitgefühl, ungeachtet der einzelnen Gefechte, in welche ihre Bergbewohner mit den ungeregelten Haufen der europäischen Streitkräfte gerieten. In der Zeit aber, von der wir nun reden, sah man in diesen Gegenden keinen von jenen bewaffneten Durchzügen und die Vorstellungen der Serben hatten sich gänzlich geändert. Früher stellte sich ihnen das Abendland in den Kaisern und Rittern der Franken dar; jetzt ward für die Slaven Venedig die Vergegenwärtigerin des Reichtums, der Künste und der Macht des Westens. Es ist für sie ein kriegerischer Staat; ein Doge beherrscht ihn. Die Söhne, Brüder und alle seine Verwandten sind ihnen die größten Persönlichkeiten. Der Doge besitzt immer unermeßliche Schätze, er unterhält eine Flotte und zahlreiche Heere in seinem Sold, es dienen ihm sogar Regimenter aus Slaven angeworben. Mit der Tochter eines solchen Dogen beschließt der serbische Fürst Ivan Crnojević, der seine Residenz in Žabljak am Skutari-See hat, seinen Sohn zu verheiraten. Der Dichter erzählt zuerst die Reise nach Venedig: Подиже се Црнојевић Иво, те отиде преко мора сиња, и понесе три товара блага да он проси лијепу ђевојку за Максима, за сина својега, милу шћерцу дужда од Млетака Иво проси, дужде се поноси; но се Иво оканити неће, снаху проси три пуне године, снаху проси, а просипље благо. Ја кад Иван благо похарчио, Латини му дадоше ђевојку, ђевојачки прстен прифатише. […]

Es erhebt sich Zernojevitsch Iwan, Übers blaue Meer hin will er ziehen, Drei Saumlasten Schätze mit sich führend; Werben will er um ein schönes Mädchen, Um des Dogen von Venedig Tochter, Werben sie zur Braut Maxim, dem Sohne. Iwan wirbt; es brüstet sich der Doge; Doch nicht lassen will er von dem Mädchen, Freiet um die Schnur drei volle Jahre, Freiet und verschwendet viel des Gutes, Aber als er all sein Gut verschenket, Sagen die Lateiner ihm die Braut zu, Und empfang’n den Ring aus seinen Händen.“ […]

Nun folgen die Verabredungen. Man wurde einig, daß künftigen Herbst der Bräutigam die Verlobte abzuholen kommen solle. Der Doge führt mit seinen Söhnen, in Begleitung von 100 lateinischen Rittern, Ivan auf das Schiff zurück.

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Bei der Abfahrt aber beging Letzterer einen Fehler. Immer war er besonnen, verständig, nun aber entwichen ihm übereilte Worte. Vor Freude und Stolz erglühend sprach er: „Пријатељу, дужде од Млетака, чекај мене с хиљаду сватова, од хиљаде мање бити неће, чини ми се хоће бити више; кад пријеђем море у то поље, ти истури хиљаду Латина, нек ми срету у пољу сватово: неће бити љепшега јунака у мојијех хиљаду сватова ни у твојих хиљаду Латина од Максима, од мојега сина, сина мога, мила зета твога!“

„Freund und Schwager, Doge von Venedig! Harre mein mit tausend Hochzeitleuten! Minder sollen es nicht sein, als tausend; Möglich immer, daß es mehr noch werden! Komm ich übers Meer auf dies Gesilde, Schütte auch Venedig tausend Mann aus, Daß sie meinen Hochzeitszug empfangen! Siehe, unter allen tausend meinen, So wie unter deinen tausend Mannen, Wird es keinen schönern Helden geben, Schoner als Maxim, als es mein Sohn ist, Als mein Sohn und bald dein lieber Eidam!“

А то слуша дужде од Млетака, два сокола, два дуждева сина, и слушаше стотина Латина. Мило било дужду од Млетака, руке шири, те г’ у лице љуби: „Фала, пријо, на бесједи такој! Кад ја стекох мила зета свога, ком љепоте у хиљади нема, вољећу га него око једно, вољећу га нег’ једнога сина; ја ћу њему даре приправљати, приправљати коње и соколе, и ковати чекркли челенке, и резати коласте аздије, нека носи, нека се поноси; ако л’ тако то не буде, пријо, хоћеш доћи, ал’ ћеш грдно проћи“.

Dies vernahm der Doge von Venedig/ Und die beiden Falken, seine Söhne, Dies vernahmen hundert der Lateiner. Herzlich freute dessen sich der Doge, Arm ausbreitend, küßt er ihn ins Antlitz: „Lob und Dank dir, Freund, um solche Worte! Wird ein solcher Schwiegersohn zuteil mir, Dessen Schönheit Tausend’ überstrahlet, Werter will ich, als ein einzig Auge, Wert, wie einen einzigen Sohn ihn halten, Reichlich ihn mit Gaben auch bedenken, Roß’ und Falken will ich ihm verehren, Und Tschelenken, die im Wind sich drehen. Rundgefleckte Oberkleider, Alles Soll er tragen, stolz damit einhergehn. Aber schwer, wenn dein Wort nicht eintrifft, Wird dein Kommen dir zu stehen kommen!“

Bemerkenswert ist, daß diese Volkspoesie mit solchem Anstand sich hier ausdrückt; indem der Doge Ivan ohne beleidigende Worte droht, sagt er in diplomatischer Redeweise, daß, wenn er ihn täusche, er hieraus Unannehmlichkeiten haben könnte. Alle Kritiker erblicken in diesem Gedicht einen auffallenden Charakter des ruhigen Stils, der Mäßigung und Überlegung. In den Stellen selbst, wo die Helden heftig ausbrechen, ihre Worte zuweilen herb sind, haben doch die ganzen Anreden Sinn und Ordnung der Gedanken. Dagegen herrscht in der heutigen Dichtung allgemein leidenschaftliche Wallung; unter

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der angeblichen Ruhe, den kalten Sätzen bricht eine gewisse innere Unordnung hervor. Dies Merkmal des Ernstes, der Ruhe, zeichnet die slavische Dichtung vor allen übrigen aus, sie entspringt aus dem Charakter des Volkes. Die Reisenden haben schon bemerkt, daß die Serben, und namentlich die unabhängigen Bergbewohner, bei ihren Beratungen den Ernst und die Geduld bewahren, die sich etwa nur in James Fenimore Coopers Romanen358, wenn er von den Helden der Wilden spricht, wiederfinden. Es trifft sich häufig, daß der Sprechende die Zuhörer aufreizt, die Gegner auffordert, seine Einwürfe zu widerlegen, daß er dieses bis zu Beleidigungen treibt, und dennoch kann nichts ihr Schweigen brechen, sie hören unverändert bis ans Ende, zuweilen lassen nur die größeren Rauchwolken aus ihren Pfeifenröhren die inneren Gefühle erraten, wenngleich jedes Mitglied seine Waffe unter den Händen hat, und jede Bewegung seiner Gefährten scharf im Auge behält. Da nun Ivan das Meer hinter sich hatte, ritt er mit sich selbst zufrieden und fröhlich nach Hause. Als ihm die Türme von Žabljak sichtbar wurden, spornte er vor Ungeduld sein Pferd, verließ das Gefolge und eilte der Festung zu. Die Gemahlin, am Fenster des Palastes stehend, erkennt den Mann von weitem, sendet die Diener zu seinem Empfang, eilt selbst vor das Tor, küßt ihm Hände und Saum des Kleides, ruft Maksim herbei, daß er den Vater bewillkommne. Maksim reicht Ivan den silbernen Sessel, zieht ihm die Oberstiefel von den Füßen. Der Fürst erkennt den Sohn nicht, er sieht sich nach ihm um, und endlich mit dem Blick sein Angesicht treffend, schaut er ihn lange schweigend an. Welch schmerzhafter Anblick! Die Blattern haben ihn bis zum nicht Wiedererkennen verunstaltet. Das rosige Gesicht ist gelb und höckrig geworden, die weiße Stirn schwarz und von Pockennarben gefurcht. Kurz, dereinst so schöne Maksim ist jetzt häßlich. Die furchtbare Seuche hat sich zum ersten Male an ihm im Land gezeigt. Dem Ivan standen nun plötzlich die Worte vor dem Geiste, mit denen er sich unbedachtsam vor dem Dogen hören gelassen. Er zog die Augenbrauen zusammen, ließ den schwarzen Schnurrbart tief herabhängen und, niemandem ein Wort sagend, saß er da mit zur Erde gesenktem Antlitz. Das sah seine Gemahlin, sie näherte sich ihm, küßte ihm die Knie und fragte:

358 James Fenimore Cooper (1789–1851); vgl. Sirinya Pakditawan: Das Bild des Indianers in den Werken von James Fenimore Cooper. Stereotypisierung und Individualisierung. Saarbrücken 2007.

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19. Vorlesung (5. März 1841) […] „Господару, ја се молим тебе, што с’ у образ сјетно невесело? Ал’ нијеси снаху испросио? Ал’ ти није по ћуди ђевојка? Али жалиш три товара блага’“

[…] „Ich beschwöre dich, mein Herr und Gatte! Was so trübe blickst du, und so finster? Hast die Schnur vielleicht du nicht erhalten? Ist das Mädchen nicht nach deinem Sinne? Oder ist’s dir leid um deine Schätze?“

Ал’ је Иво љуби бесједио: „Ну одаље, да те бог убије! Ја сам нама снаху испросио; а по ђуди Латиика ђевојка: што је земље на четири стране љепоте јој у сву земљу нема, онакога ока у ђевојке, […] Ја не жалим три товара блага. у Жабљаку пуна кула блага, на благу се ни познало није;

Ihr entgegent Iwan Zernojewitsch: „Laß mich gehen! – Daß dich Gott erschlage! Wohl hab ich erhalten die Lateinerin, Und nach meinem Sinne ist das Mädchen. Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten, Doch du findest drauf nicht solche Schönheit, Solch ein Auge nicht wie bei dem Mädchen, […] Auch nicht leid ist’s mir um meine Schätze, Ist mir voll der Schätze doch der Turm hier, Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet!“

Hier erzählt der Fürst die ganze Sache und sagt: но сам дужду ријеч оставио: да доведем хиљаду сватова, да љепшега од Максима нема; јутрос, љубо, нема грднијега! Ја се бојим кавге преко мора, кад Максима сагледају мога.“

„Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen, Mitzubringen tausend Hochzeitsleute, Die Maxim an Schönheit überträfe. Und nun ist er häßlicher als alle! Hader fürcht ich nun von den Lateinern, Wenn sie solchen Bräutigam erblicken!“

Als die Fürstin alles gehört, sagte sie im Zorne, ihn ermahnend: […] „Господаре, да од бога нађеш! Куд те сила сломи преко мора на далеко четр’ест конака, преко мора – да не видиш дома, ни без јада доведеш ђевојку! – а код твоје земље државине, земље твоје, Бара и Улћиња, Црне Горе и Бјелопавлића, ломна Куча и Братоножића, и лијепе варош-Подгорице, и Жабљака твоје постојбине, и Жабљака и око Жабљака; да ожениш јединога сина, и да наћеш за сина ђевојку,

[…] „Siehst du, Herr! das ist des Himmels Strafe, Daß der Übermut dich übers Meer trieb, Übers Meer, fern, vierzig Tagereisen! Nichts als Herzleid hast du von der Braut nun, Siehst vielleicht dein Haus zum letzten Male! Hättest du nicht in deinem Reich und Landen, Deinem Antivari und Dulcigno In Bjelopaulitsch und Montenegro In dem felsigen Kutsch und Bratonoshitsch, In der schönen Stadt, in Podgoriza, Oder hier in Shabljak, deiner Heimat

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Teil I проћу себе главна пријатеља; но те сила сломи преко мора?!“

Hier in Schabljak, oder in der Gegend Auch ein wackres Mädchen finden können, Sie dem einzigen Sohne zu vermählen, Hier auch eine angeseh’ne Freundschaft? Doch der Übermut trieb übers Meer dich!“

Ivan brauste auf diese Worte wie lebendig Feuer: […] „Ни сам био, ни сам је просио: ко ми дође да ми је честита, живу ћу му очи извадити!“

[…] „Fort! ich war nicht dort! Hab’ nicht gefreiet! Wer kommt, um mir Glück zu wünschen, Auf der Stelle stech ich ihm sein Aug aus!“

Diese Drohung, im Stillen von Mund zu Mund gehend, gelangt an alle, groß und klein. Niemand kommt, Ivan zu bewillkommnen, die Zeit vergeht langsam. Das eine Jahr wird zu dreien, sechsen und zuletzt zu neun Jahren. Erst im zweiten Jahre bekommt Ivan einen Brief vom neuen Anverwandten, der schon anfing ein alter zu werden, denn, dem sei wie ihm wolle, neun Jahre sind keine Kleinigkeit! Der Doge warf ihm Unredlichkeit vor, und verlangte, daß er den Bräutigam schicke oder die Verlobte von dem Versprechen entbinde. Heftiger Schmerz ergriff den Crnojević und da er keinen Ritter bei sich hatte, um sich Rat zu holen, schaute er trüben Auges und verwirrt seine Gattin an: […] „Љубо моја, ну ме сјетуј саде: Ал’ ћу снаси књигу оправити, да се наша снаха преудаје; ал’ ћу слати, али слати нећу?“

[…] „Gib mir einen Rat jetzt, meine Gattin! Soll der Schnur ich solch ein Schreiben senden, Daß sie einem andern sich vermähle? Soll ich’s senden, oder soll ich’s lassen?“

Weise erwiderte seine Ehehälfte: „Господару, Црнојевић-Иво, ког су љубе досле сјетовале, кога досле, кога ли ћ’ одселе, с дугом косом, а памећу кратког Ал’ ти хоћу ријеч проговорит: од бога је велика гриота, а од људи зазор и срамота, ђевојачку срећу затомити и у њену роду узаптити. Послушај ме, драги господаре! Од шта си се данас препануо? Ако су га красте иштетиле, ако бидну главни пријатељи, за то ријеч проговорит неће: свак се боји муке и невоље.

„Mein Gebieter, Zernojewitsch Iwan! Wann doch war’s die Gattin, welche Rat gab? Wann bisher? Und soll es nun geschehen? Frauen sind langhaarig, doch kurzsinnig. Aber gern will ich mein Wort dir sagen: Vor dem höchsten Gott ist’s große Sünde, Aber Schimpf und Schand ist’s vor den Leuten, Dieses Mädchens Glück zu unterdrücken, Und im Vaterhaus sie einzuschließen. Nun vernimm mich, lieber Herr und Gatte! Nimm dir dies nicht allzu sehr zu Herzen! Haben ihn auch arg entstellt die Blattern, Sind es wackre Leute und Verwandte: Werden sie darum kein Wort verlieren.

19. Vorlesung (5. März 1841) Господару, још бесједим тебе: ако с’ кавге преко мора бојиш, имаш данас пуну кулу блага, у подруме трољетнога вина, у амбаре бијеле вшенице: имаш на што свате покупити. Рекао си хиљаду сватова, данас купи и хиљаде двије, по избору коње и јунаке. Ја кад виде тамо у Латина, прегледају силу и сватове, да је Максим слијепо дијете, не смију ти кавгу заметнути. Купи свате те води ђевојку, господаре, више не премишљај!“

233 Jeder scheut sich ja vor Not und Kummer! Laß, o Herr, jetzt dieses mich noch sagen! Wenn du überm Meere Streit befürchtest, Hast du doch den ganzen Turm voll Schätze, In den Kellern Wein auch von drei Jahren, In den Speichern hast du weißen Weizen, Kannst in Menge Hochzeitsgäste laden! Tausend sprachst du – sammle du zweitausend! Lauter auserwählte Ross’ und Helden! Sehn nun die Lateiner so dich kommen Mit dem mächtigen Heere der Hochzeitgäste: Wär auch der Maxim ein blinder Knabe, Dürften sie dir keinen Streit beginnen. Grüble nicht mehr drüber, Herr! Die deinen Sammle du und hole du die Braut ein!“

Ivan, erfreut durch den guten Rat der Gattin, schickte einen Tataren mit der Antwort nach Venedig, dem Dogen verkündend, daß er seiner Ankunft gewärtig sein könne; dann nahm er einen großen Bogen weißen Papiers, schnitt ihn in Stücke und befahl seinem Schreiber, Einladungsbriefe zur Hochzeit an die Herren zu schreiben. Den Miloš Obrenović machte er zum Ältesten des Zuges, seinen Neffen Ivan, den Hauptmann der Montenegriner, zum Brautführer, die anderen forderte er zuvorkommend auf, alle ermahnend, nicht allein zu kommen, sondern mit einem möglichst zahlreichen und nach den einzelnen Anweisungen geschmückten Gefolge. Hier ruft der Dichter aus: Ја да можеш оком погледати н ушима јеку послушати, кад се ситне књиге растурише од тог мора до зелена Лима, те пођоше српске поглавице и војводе, што су за сватове, и делије све главни јунаци! Кад виђеше старци и тежаци, потурише рала и волове, све се на јад сломи у сватове у широко поље под Жабљака; а чобани стада оставише, девет стада оста на једноме, све се сломи у широко поље господару јутрос на весеље; од Жабљака до воде Цетиње све широко поље притискоше:

Hättet ihr’s mit Augen sehen können, Hättet ihr’s mit Ohren hören können, Als die Schreiben auseinandergingen Von dem Meer bis zum grünen Lim hin, Wie sich rüsteten die Serbenhäupter Und die zu dem Fest geladnen Edlen, Alle vornehm angesehne Helden! Als die Greis und Ackersleut es sahen Ließen sie den Pflug stehn und die Stiere, Drängten alle sich zum Hochzeitzuge, Nach der breiten Ebene unter Shabljak. Von den Herden eilten fort die Hirten, Daß auf einen Hirten neune kamen. Alles stürzte nach der breiten Ebne, Zu des Herren großem Hochzeitfeste. Weit von Shabljak bis zum Strom Zetinja Deckten sie das ebene Gefilde:

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Teil I коњ до коња, јунак до јунака, бојна копља како чарна гора, а барјаци како и облаци, разапе се чадор до чадора, под чадоре красне поглавице.“

Roß an Roß und Held an Held gedränget, Kampfeslanzen, wie ein schwarzer Bergwald, Fahn an Fahne, wie ein Meer von Wolken Zelt an Zelte stehen, aufgeschlagen, Wo die wackren Oberhäupter rasten.

Fürwahr kein Scherz und Kleinigkeit ist dies Alles! Das  18. Jahrhundert war so rücksichtslos, daß es Autoren gab, welche die Gesänge der „Ilias“, die die Macht Priams, wie auch die Reichtümer der Trojaner feiern, in ein lächerliches Licht stellten. Namentlich Voltaire359 spottete über ihre Reichtümer. Freilich, wenn wir sie mit den Kapitalien der heutigen Bankiers vergleichen, so müssen sie uns armselig erscheinen. Allein man darf nicht die Poesie den zeitlichen, engherzigen Ansichten unterziehen wollen; man muß sich in Gedanken in die Zeit und an den Ort versetzen, wo die Tatsachen sich zugetragen. Der Dichter hielt sich dort nicht bei dem Wert der Kapitalien auf, er schätzte nicht die Kräfte, er erforschte das Gefühl des Volks, das Maß der Dinge war für ihn die Bewunderung, welche er in seiner Erzählung aufbewahrt und die uns noch jetzt ergreift, wenn wir sie lesen. Die zur Hochzeitsfeier Gebetenen rasteten einen ganzen Tag im Lager. In der Nacht vor Tagesanbruch erhob sich ein Führer, trat aus seinem Zelte und nahte der Festung. Es war Jovan, der Hauptmann, jetzt zum Brautführer ernannt. Er hatte niemanden bei sich, nur zwei Diener folgten ihm von weitem, so daß er sie kaum gewahr werden konnte, seine ernste Stirn hatte sich schrecklich durch Gedanken gefaltet, tief hing ihm der schwarze Bart herab. Düsterernst trat er auf die Schanzen, besichtigte die Kanonen, blickte lange nach der Gegend von Montenegro, dann nach den Ländern des Sultans hin, aber sein unruhiger Blick wendete sich oft auf die mit Kriegsvölkern bedeckte Ebene. Ivan Crnojević, seinen Neffen auf einem so seltsamen Gange erblickend, näherte sich, grüßte ihn und fragte: Warum zu dieser Unzeit, warum in dieser Trauer? Der Hauptmann antwortete:

359 Voltaire äußerte sich über Homer kritisch in seinem „Essai sur la poésie épique“ (1727), der in England entstanden ist; in der überarbeiteten Fassung von 1732 fiel sein Urteil allerdings wesentlich positiver aus, wobei er auch La Motte kritisiert; vgl. dazu – Georg Finsler: Homer in der Neuzeit: Von Dante bis Goethe. Italien, Frankreich, England, Deutschland. Leipzig und Berlin 1912, S.  238. Im Streit um Homer im 18. Jahrhundert („Querelle des Anciens et des Modernes“) waren federführend beteiligt: Charles Perrault (1628–1703) und Antoine Houdar de La Motte (1672–1731) – Discours sur Homère (1714), die Homer u.a. der Unwahrscheinlichkeit bezichtigten; vgl. – Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Hrsg. Werner Krauss und Hans Kortum. Berlin 1966.

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „Прођи ме се, мој ујаче Иво! Коју бих ти ријеч бесједио, ти ми ријеч послушати нећеш: а кад би ме, ујо, послушао, да отвориш те подруме твоје, да даш доста изобила вина, да напојиш у пољу сватове, па да пустиш те хитре телале, нек телали кроз сватове викну, нек сватови сваки дому иде. Ну растури то весеље твоје, мој ујаче, Црнојевић-Иво! Е смо нашу земљу опустили, сломила се земља у сватове, оста земља пуста на крајини. зешља наша страшна од Турака. од Турака преко воде сиње. Мој ујаче, Црнојевић-Иво, и прије су вођене ђевојке. И прије су момци ожењени, и прије су весеља бивала у свој земљи у свој краљевини; твога јада ниђе није било. да подигнеш земљу у сватове! А далеко кости занијети браћи нашој преко мора сиња. преко мора четр’ест конака, ђе нам тамо своје вјере нема. нит’ имамо красна пријатеља, но је нама, белћи, земља жедна. па кад виде преко мора сиља, када виде све српске јунаке, ја се бојим кавге међу браћом, може јада бити на весељу. Мој ујаче, Црнојевић-Иво, да ја тебе једне јаде кажем: синоћ пољу легох под чадором, допадоше двије моје слуге, на перо ме ћурком покриваше и господско лице завијаше; очи склопих, грдан санак виђех, грдан санак, да га бог убије! Ђе у сану гледам на небеса, на небу се, ујо, наоблачи, па се облак небом окреташе, облак дође баш више Жабљака, више твога поносита града,

235 […] „Laß in Ruh mich, werter Oheim Iwan! Welches Wort ich dir auch sagen möchte: Wirst du meinem Worte doch nicht folgen. Aber willst du es beachten, höre! Öffne du, so viel du hast der Keller, Gib im Überflusse roten Wein her, Und bewirte deine Gäste reichlich; Dann erlasse einen schnellen Herold, Laß den Hochzeitscharen laut verkünden, Daß sie wieder heimwärts kehren sollen, Und zerstöre selbst die Hochzeitsfeier! Werter Oheim Zernojevitsch Iwan! Denn wir haben unser Land verödet, Alles drängt gewaltsam sich zum Zuge, Und die Grenzen bleiben leer und öde! Von den Türken droht Gefahr dem Lande, Von den Türken überm blauen Wasser. Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Eh schon hat man Bräute eingeholet, Eher haben Jünglinge gefreiet, Eh’r hat man Vermählungen gefeiert, In dem ganzen Land und Königreiche; Hattst du doch nicht Not zum Hochzeitszuge Das gesamte Volk hier zu versammeln! Sollen unsre Brüder die Gebeine Weithin tragen, übers blaue Meer fort, Vierzig Tagereisen, in die Fremde, Wo wir Keinen haben unsres Glaubens, Keine guten Freunde nirgends treffen, Wo vielleicht nach unserm Blute man dürstet? Sind nun alle unsre Serbenhelden, Alle drüben überm blauen Meere; Leicht kann unter ihnen Streit entstehen! Schmerz und Not fürcht ich von dieser Hochzeit! Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Laß mich meinen Kummer dir vertrauen! Gestern Abend leg ich mich zur Ruhe, Fliegen gleich herbei die beiden Diener, Decken mich der Quere mit dem Pelzrock, Sorglich des Gebieters Haupt einwickelnd. Doch die Augen schließ ich kaum, als furchtbar Mich ein böser Traum zusammenschüttelt. Wie im Traume ich gen Himmel blicke,

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Teil I од облака пукоше громови, гром удари тебе у Жабљака, баш у твоју красну краљевину, у дворове твоју постојбину; Жабљака ти огаљ оборио и најдоњи камен растурио; што бијаше један ћошак бијел, ћошак паде на Максима твога, под ћошком му ништа не бијаше, испод ћошка здраво изишао. – Мој ујаче, Црнојевић-Иво, не смијем ти санак исказати, тек ако је сану вјеровати, вјеровати сану и биљези, да ти, ујо, хоћу погинути, погинути у твоје сватове, јал’ погинут, јали рана допаст. Мој ујаче, да од бога нађеш! Ако мене штогод биде тамо, каква мука у весељу твоме, јал’ погинем, јал’ допаднем рана, чекај, ујо, онда јаде грдне! Ел’ ја водим ђеце под барјаке породице љута Црногорца, под барјаке ђеце пет стотина: ђе јаокнем, сви ће јаокнути, ђе погинем, сви ће погинути. Но ти с’ молим јутрос на подранку молим ти се, а љубим ти руку, да растуриш у пољу сватове, нек сватови сваки дому иде. Прођ’ с’ ђевојке, да је бог убије!“

Trübt und schwärzt der Himmel sich urplötzlich, Und die Wolken ziehn und treiben rastlos, Sammeln sich gewaltig über Shabljak, Über deiner stolzen Burg, mein Oheim! Aus den Wolken brüllet jetzt ein Donner, Schlägt der Donnerkeil ein in dein Shabljak, Grad in deinen Königssitz, den schönen, In die Höfe deines Vaterhauses! Drauf ganz Shabljak greift die Wut der Flamme, Daß es nieder bis zum tiefsten Grund brennt! Dort, wo sich erhebt das weiße Lusthaus, Stürzt’s herab auf deines Sohnes Schultern; Unverletzt zwar bleibt Maxim darunter, Aber andre tötet er im Fallen! Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Nicht zu deuten wag ich diesen Traum dir; Nur soviel: Darf einem Traum man trauen, Einem Traume traun und seinen Zeichen: Höchst verderblich wird mir deine Hochzeit, Sei es nun, daß ich des Todes sterbe, Oder niederlieg an schlimmen Wunden! Oheim Ivan, daß dir’s Gott vergelte, Wenn auf deinem Feste mich ein Leid trifft, Sei’s nun, daß ich falle oder Wunden Mich auf dieser Hochzeit niederwerfen: Schreck und Wehe würde deiner harren, Denn du weißt, die Knaben, die ich führe, Montenegros wilde Söhne sind sie, Eines Stammes, all für einen stehend, Und fünfhundert folgen meinen Fahnen! Wo ich weh ruf, rufen alle wehe! Wo ich falle, werden alle fallen! Darum küß ich dir die Hand, und bitte, Jetzt, wo wir in aller Früh uns treffen! Lasse auseinander gehn die Scharen, Daß ein jeder wieder heimwärts kehre! Laß die Braut! – daß sie der Herr erschlüge!“

Auf diese Worte des Neffen entgegnete Ivan heftig, zur Unzeit wäre er ihm seinen Traum zu erzählen gekommen, da alles zur Reise bereit; und fügte hinzu: […] „Зао санак, сестрићу Јоване, Бог годио и бог догодио, на тебе се таки санак збио!

[…] „Einen schlechten Traum hast du da geträumt! Gott soll richten, Gott soll es entscheiden,

19. Vorlesung (5. März 1841) Кад га виђе, рашта оповиђе, оповиђе јутрос на подранку, кад сватови мисле да полазе? – Мој сестрићу Јован-капетане, сан је лажа, а бог је истина; ружно си се главом наслонио, а мучно си нешто помислио. – Знаш, сестрићу, не знали те људи доста ми је и муке и руге: насмија се сва господа наша, а шапатом збори сиротиња, ђе ми сједи снаха испрошена и код баба и код старе мајке, а ђе сједи за девет година. – Знаш, сестрићу. не знали те људи да ћу тамо јунак погинути. нећу моју снаху оставити ни весеље јутрос растурити! Но како си мене старјешина и пошао ђевер уз ђевојку, ну набрекни на камену граду, ну набрекни, призови тобџије, нека топе пуне и напуне, нек напуне тридесет топова: па призови старца Недијељка, што му б’јела прошла појас брада који чува топе баљемезе, чува топе Крња и Зеленка, а којијех у свој земљи није у влашкијех седам краљевина, у турскога Отмановић-цара – ну призови старца Недијељка. нека топе пуни па препуни, нека прида праха и олова, нек подигне небу под облаке. нека пукну стари баљемези; хабер подај пољу у сватове, нек се наша браћа ослободе, нек одмакну коње од обале од студене од воде Цетиње, е се могу коњи покидати, у Цетињу воду поскакати, браћу нашу кићене сватове изубаха ватити грозница: ну објави и свој браћи кажи да ће пући тридесет топова, хоће пући Крњо и Зеленко. Па закажи, мој мили сестрићу, нек чауши у то поље викну,

237 Ob an dir es in Erfüllung gehe! Träumtest du ihn, warum ihn verkünden? Jetzt wo wir in aller früh uns treffen, Wo zum Aufbruch sich die Freunde rüsten? Höre, Neffe, Kapetan Johannes! Träume lügen, Gott nur ist die Wahrheit! Hast wohl mit dem Kopfe falsch gelegen, Oder hattest Widriges im Sinne! Wisse Neffe! daß mir Gott verzeihe! Schon genug hab ich an Schimpf und Schande! Alle Edeln haben mein gespottet, Und das niedre Volk von mir geflüstert, Daß verlobt des Sohnes Braut geblieben Bei dem Vater und der alten Mutter, Und bereits neun Jahre sitzt und harret! Wisse Neffe, daß mir Gott verzeihe! Wenn ich auch den Heldentod dort falle, Länger will ich nicht die Schnur verlassen, Und die Hochzeitsleute heut zerstreuen! Aber du, der du ein Haupt der Scharen, Und Brautführer bist bei unsrer Hochzeit, Deine Stimme erschall auf diesem Felsschloß! Rufe laut, daß das Geschütz sie laden, Dreißig an der Zahl, Kanonen laden! Ruf herbei den greisen Nedijelko, Dem der weiße Bart bis übern Gurt hängt, Der des mächtigsten Geschützes Hüter, Des gewaltgen Kernjo und Selenko, Wie im ganzen Land es nicht zu finden, In den sieben Christenkönigreichen, Noch beim türkischen Ottomanensultan! Rufe nun den greisen Nedijelko, Daß er lad, im Überflusse lade! Geben soll in Meng er Blei und Pulver! Von dem Donner soll der Himmel beben, Wenn er aus dem mächtigen Geschütz kracht! Laß die Kund erschallen bei den Freunden, Daß sich unsre Brüder mutig fassen, Und vom Strande sie die Ross’ entfernen, Von dem kalten Wasser der Zetinja, Denn es könnten wild die Rosse werden, Könnten sich hinein ins Wasser werfen, Und die Brüder würd, unvorbereitet, Kalten Fiebers Frost zusammenschütteln! Doch du meld und sag es allen Brüdern, Daß nun die Kanonen donnern werden,

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Teil I нека крену из поља сватове, ево ћемо преко мора сиња“.

Donnern auch der Kernjo und Selenko! Gib Befehl darauf, mein lieber Neffe, Daß die Herolde es laut verkünden: Rüsten sollen sich die Hochzeitsgäste, Zeit ist’s, übers blaue Meer zu ziehen!“

Die Beschreibung dieser mächtigen Kanonen, deren Wiederhall von Albanien bis Venedig hörbar sein sollte, entspricht der allgemeinen Vorstellung der slavischen Völker von der wunderbaren Wirkung dieser Kriegswerkzeuge. Vor dem Arsenal in Moskau liegt eine große schwedische Kanone360, welche nie von den Russen gebraucht worden ist; der Pöbel versammelt sich jedoch alltäglich um sie herum, und erzählt mit Grausen, welch schreckliche Verheerungen sie in den französischen Reihen verursacht habe. Kaum gab Nedijelko das Zeichen mit dem so fürchterlichen Donner, daß die Pferde auf die Knie fielen und viele Ritter den Taumel bekamen, so bewegte sich auch das ganze Heer unter lärmender Musik in geordnetem Zuge. Bei der Ankunft am Meere, ehe die Schüsse sie aufnahmen, belustigte sich die fröhliche Ritterschar auf dem anmutigen Ufer. Diese ritten junge Pferde zu, jene übten sich im Speerwerfen; wer gerne trank, lag neben den Krügen goldfarbigen Weines. Ivan ritt auf seinem prachtvollen Roß Žurav [Kranich] umher, an seiner Seite tummelten sich der starke und schlanke Maksim, nur verunstaltet von den Blattern, und Miloš, der schönste von allen Jünglingen. Ivan, tief in Gedanken versunken, blickte bald den einen, bald den anderen an, dann wandte er sich dem Kreis der Heerführer zu und erklärte ihnen den Beweggrund seines Unfriedens und seiner Trauer. Endlich sagte er: „кад бисте ме, браћо. послушали, да скинемо перје и челенку са Максима, мила сина мога, на Милоша Обренбеговића, да Милоша зетом учинимо, док ђевојку отуд изведемо“.

„Wollt Ihr meinem Rate folgen, Brüder! Laßt Maxim uns, meinen lieben Sohn, Von Tschelenk und Federn uns entkleiden, Und damit den schönen Milosch schmücken, Daß er für den Bräutigam dort gelte, Bis wir die Lateinerin heimgeführet!“

Niemand wagte es, diesem Rat (eigenmächtig) beizustimmen, denn alle fürchteten den Maksim zu beleidigen, weil sie wußten, daß er, der Abkömmling eines blutgierigen Geschlechts, sich blutig rächen könne. Nur Miloš allein trug kein Bedenken.

360 Die Zarenkanone – Царь-пушка. Im Jahre 1586 vom Gießermeister Andrej Čochov gegossen: 5, 34 Meter lang, 39,312 Tonnen schwer.

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „О Иване, наша поглавице, што дозвиљеш и браћу сазивљеш Но ми пружи десну твоју руку и задај ми божу вјеру тврду за Максима, за твојега сина, да Максиму жао не учиниш. на весељу ђе га сад потураш. од мене ти божја вјера тврда: лревешћу ти снаху преко мора и без кавге и без муке какве: тек, Иване, нећу тевећели: што год биде дара зетовскога, да ми дара нитко не дијели“.

239 […] „Warum, Iwan, edler Serbenhäuptling! Warum rufst und sammelst du die Brüder? Mir nur strecke deine Recht’ entgegen! Schwöre mir bei Gottes fester Treue, Daß Maxim, daß deinem lieben Sohne, Wenn du so ihn von der Hochzeit wegdrängst, Du durch solches nicht Beleidigung anfügst! Aber ich, bei Gottes fester Treue, Übers Meer will ich die Braut dir führen, Ohne Hindernis und ohne Hader. Doch so leicht nicht tu ich dieses, Iwan! Was dem Bräutigam man auch verehre: Keiner teile mit mir die Geschenke!“

Es ist dies auch einer von den charakteristischen Heldenzügen, und erinnert an den Streit Agamemnons mit Achill wegen der Teilung der Beute.361 Ivan Crnojević lachte laut und rief aus: „О Милошу, српска поглавице. шта помињеш дара зетовскога? Тврђа вјера, брате, од камена, нитко т’ дара дијелити неће; преведи ми снаху преко мора, доведи је у бијели Жабљак, и ја ћу те, брате, даривати: даћу тебе двије чизме блага, и даћу ти моју купу златну, која бере девет литар’ вина, што ј’ од сува саливена злата: и још ћу те, брате, даривати: даћу тебе суру бедевију, бедевију што ждријеби ждрале, што ждријеби коње огњевите, објесићу т’ сабљу о појасу. која ваља тридест ћеса блага“.

„Serbenhäuptling, o Woiwode Milosch! Was erwähnst du doch der Brautgeschenke? Fester ist als Stein der Schwur der Treue: Keiner soll mit dir die Gaben teilen! Führe du die Schnur mir übers Meer nur, Nach dem weißen Shabljak, meinem Sitze, Außerdem harrt dein noch dort Belohnung! Zwei der Stiefeln geb ich dir, voll Goldes, Einen Becher auch von lautrem Golde, Groß und hoch, neun Liter Wein enthält er. Ferner noch verehr ich dir, mein Bruder, Eine Stut, arabischen Geschlechtes, Weiß und glänzend; aber graue Füllen Wirft sie, Kranichfüllen schnell und feurig. Und zum letzten, einen prächtgen Säbel Schnall ich dir um deine Heldenhüften: Der an dreißig Beutel Goldes wert ist.“

Nach gemachtem Vertrag nahm man die Mütze mit dem Zierrat des Bräutigams vom Haupt Maksims und setzte sie Miloš [Obrenović] auf. Maksim sagte nichts; nur schaute er düster drein. Jetzt folgt die Beschreibung der Überfahrt nach Venedig, der Ankunft und Aufnahme der Serben. Der Doge faßte sich kaum vor Freuden, da er sah, daß in der Tat sein Schwiegersohn der schönste aller lateinischen und serbischen Ritter war. Drei Tage ruhten die Gäste, den 361 Vgl. „Ilias“, I. Gesang, Verse 121ff.

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Teil I

vierten in der Frühe begannen die Feierlichkeiten. Es kamen der Reihe nach die Geschenke. Einer von den Söhnen des Dogen ließ einen weißen fleckenlosen Hengst in den Marmorhof führen. Schwer beladen ist das Roß mit Silber und Gold, und auf ihm sitzt die schöne Venezianerin mit einem Falken auf dem Arm. Der Sohn des Dogen redete Miloš an: „На поклон ти коњиц и ђевојка, и на коњу и сребро и злато, и на поклон сива тица соко, кад си тако виђен међу браћом“.

„Zum Geschenk empfange Roß und Jungfrau Und des Rosses Schmuck, so Gold als Silber, Zum Geschenk auch diesen grauen Falken, Weil der schönste du von allen Brüdern!“

Der zweite Bruder der Verlobten brachte einen Säbel, dessen Scheide von gediegenem Gold solchen Wertes war, daß man eine ganze Stadt dafür hätte kaufen können; ihn dem Miloš umschnallend, sprach er: „Trage, Schwager, diesen Säbel, möge er Deinen Ruhm vermehren!“ („Носи, зете, те ми се поноси!“; S. 533). Der alte Doge gab ihm einen Hut mit Federn kostbar eingefaßt. Inmitten der Einfassung glänzte, der Sonne gleich, ein edler Stein und blendete die Augen der Anwesenden. Nachher kam die Mutter und schenkte dem Eidam eine Tunica von lauterm Gold und wunderbarer Arbeit, denn es war weder gewebt noch gesponnen, sondern mit den Fingern geflochten. Den Halsverschluß vertrat eine in den Kragen eingesetzte Schlange, so täuschend nachgebildet, daß sie lebendig schien und gifterfüllt beißen wollte. In ihrem Kopf brannte ein großer Diamant, leuchtend von selbst am Tage und in der Nacht, damit das neue Ehepaar im Brautgemach ohne Lampe sein könne. Staunend sahen die Serben zu, als nun noch der Oheim der Verlobten, ein kinderloser Greis, der sie erzogen und wie sein eigen Kind geliebt, sich näherte. Er ging gestützt auf einen Stab und trug unterm Arme eine kleine Rolle. Aber welch Wunder! Als er sie entfaltend dem Miloš über die Schultern warf, zeigte sich dieselbe als ein Mantel von unschätzbarem Wert, der den Ritter und sein Roß ganz bedeckte. Maksim sah alles scheel von der Seite; schier verzehrte ihn der Neid; er sah, daß ein anderer nahm, was ihm gehörte! Nach beendigten Feierlichkeiten und Gastgelagen stießen die Serben wieder von Venedig ab, landeten am anderen Ufer und gelangten auf dieselbe Ebene, wo sie früher so fröhlich versammelt, jetzt aber traurig von einander scheiden sollten. Maksim wollte zuerst die Mutter begrüßen, und eilte mit zehn Gefährten dem Zuge voran. – Kaum ward dieses Miloš gewahr, als er auch sein Roß anspornte, es kurz in den Zügeln faßte und in zierlichen Sprüngen der Verlobten sich nähernd, berührte er sie sanft mit der Hand. Der nicht undurchsichtige Schleier verhinderte ihr das Sehen nicht; als sie nun den Ritter an ihrer Seite gewahr wurde, ergriff eine

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Verwirrung der Armen Sinne, sie schlug den Schleier ganz zurück, gab Miloš ihr schönes Antlitz frei zu schauen und streckte beide Hände ihm entgegen. Diejenigen, die dies sahen, stellten sich, als hätten sie nichts gesehen; aber Ivan Crnojević bemerkte es und konnte sich vor Verärgerung nicht halten, erzählte ihr die ganze Sache und auf Maksim weisend, sprach er entrüstet: „Dieser ist Maxim, dein wahrer Gatte.“362 Die Venezianerin, nicht gewöhnt an die Ergebenheit der serbischen Frauen, hielt zu Ivans großer Verwunderung das Roß auf, erhob die freie Stirn und erwiderte: […] „Мио свекре, Црнојевић-Иво, Максиму су срећу изгубио, како с’ другог зетом учинио. Рашта, свекре, да од бога нађеш? Ако су га красте иштетиле, ко је мудар и ко је паметан, томе, свекре, ваља разумјети, и свак може муке допанути; ако су га красте нашарале, здраве су му очи обадвије, срце му је баш које је било; ако л’ си се, свекре, препануо, ђе је Максим још танко дијете, њега чеках за девет година, њега чеках у бабову двору, и још бих га за девет чекала у Жабљаку, у вашему граду, ником не бих образ застидила, ни ја роду, ни ја дому моме. Но ти, свекре, – богом ти се кунем ја ти враћај благо са јабане, са вашега војводе Милоша, те удари на Максима твога, јал’ напријед ни крочити нећу, баш да ћеш ми очи извадити“.

[…] „Warum, Schwäher, Zernojewitsch Iwan, Hast du selbst das Glück Maxims zerstöret, Deines Sohns, um eines Fremden willen, Fälschlich ihn zum Bräutigam ernennend? Schwäher! möge dir dies Gott vergelten! Wie ihn immer auch entstellt die Blattern, Wer vernünftig ist und weißt, Vater, Sieht wohl ein, daß heute oder morgen Jeden Not und Unglück kann befallen. Ist sein Antlitz schwarzbunt von den Blattern: Seine Augen sind gesund und sehend, Und das Herz ist, wie es war, geblieben. Warum also bist du so erschrocken? Halt ich doch neun Jahr auf ihn gewartet, Still und sittig in des Vaters Hofe; Würde noch neun Jahre auf ihn warten, Dort in eurer weißen Feste Schabljak, Keiner sollt erröten meinetwillen, Weder ihr, Verwandte, noch die Meinen. Jetzo laß mich dich bei Gott beschwören: Nimm vom fremden Mann zurück die Schätze! Fordre sie zurück von dem Woiwoden, Gib sie dem Maxim, dem sie gebühren! Tus! sonst tu ich keinen Schritt mehr vorwärts, Sollt es mir auch beide Augen kosten!“

Der bestürzte Ivan, nicht wissend was anzufangen, ruft die Woiwoden zusammen, fragt sie um Rat und bittet um ihre Vermittlung, in der Sache zwischen 362 G. Siegfried übernimmt hier die Übersetzung von Talvj. Im Original lautet die Stelle: „Оно ти је дијете Максиме.“ (Jener ist der Junge Maxims) – Vuk II, S. 537.

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ihm und Miloš. Eingedenk jedoch, daß er geschworen, alle Geschenke ihm zu lassen und noch mehrere seinerseits beizufügen, wollen die Woiwoden nichts sagen. Da sprengt Miloš mit seinem goldgelben Araber herbei, und läßt sich so vernehmen: […] „О Иване, наша поглавице, камо вјера? – Стигла те невјера! Нијесмо ли вјеру учинили: да ми дара нитко не дијели? А сад сте се томе присјетили! Кад си мучан и кад си невјеран, море ћу ти дара поклонити рад’ хатара наше браће красне: прва ћу ти дара поклонити – на поклон ти вранац и ђевојка; да је пута и правога суда, ђевојка је мене поклоњена, поклонио и отац и мајка, поклонила оба брата њена; ал’ о томе нећу говорити, већ ти хоћу дара поклонити, и на коњу и сребро и злато, и поклонит сивога сокола, и на поклон сабља од појаса; свега ћу ти дара поклонити, већ ја не дам цигле до три марве; не дам с главе тастове челенке, са рамена коласте аздије, и ја недам од злата кошуље, хоћу носит мојој земљи дивној нек пофала мојој браћи буде; кунем ви се и богом и вјером, не дам тако три комата дара!“

[…] „Iwan Zernojewitsch! Haupt der Serben! Sprich, wo bleibt die fest beschworne Treue? Also mög dich selbst Verrat einst treffen! Habt ihr mir nicht angelobt die Gaben? Und ihr steht verwirrt jetzt und bedenkt euch? Nun, so hör! wenn treu sein dir so schwer fällt: Überlassen will ich dir das Meiste, Wills aus Achtung für die wackern Freunde, Erst nun geb ich dir von den Geschenken Die Lateinerin und ihren Rappen, Denn, soll strenges Recht darob entscheiden, Mein ist dieses Mädchen, mir geschenket, Mir geschenkt von Vater und von Mutter, Mir geschenkt von ihren beiden Brüdern. Doch darob will ich kein Wort verlieren. Zum Geschenk empfange sie von mir nun, Auch des Rosses Gold und Silber, alles, Auch der graue Falke sei der deine, Und der Säbel selbst von meinen Hüften. Alles dies will ich dir willig lassen; Dreierlei nur will ich selbst behalten: Dieses rundgefleckte Oberkleid hier, Auf dem Haupt die prächtige Tschelenka, Und das wundersame Hemd von Golde. In die schöne Heimat will ichs tragen, Daß ich Lob von meinen Brüdern ernte. Bei dem Herrn und unserm Christenglauben! Von den dreien werd ich nimmer lassen!“

Der ganze Kreis der Ältesten lobt einmütig seinen guten Willen und Edelmut; aber die Tochter des Dogen beruhigt sich nicht, sie weint um ihre teuren Hochzeitsgeschenke und ruft Maksim herbei. Der entsetzte Ivan stellt ihr umsonst die Streitsucht seines Sohnes vor, und fleht sie um Alles in der Welt, nicht die Freude in blutige Schlacht zu verwandeln. Maksim vernahm den Ruf, eilte herbei, fragte, was es gäbe, und mußte diese unglückseligen Worte hören:

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „О Максиме, немала те мајка! Мајка нема до тебе једнога, а по данас ни тебе не било! Од копља ти градили носила, а од штита гробу поклопнице! Црн ти образ на божем дивану, како ти је данас на мегдану са вашијем војводом Милошем; зашто благо дадосте другоме! А није ми ни тог жао блага, нека носи, вода г’ однијела! Но ми жао од злата кошуље, коју но сам плела три године а са моје до три другарице, док су моје очи искапале све плетући од злата кошуљу; мислила сам да љубим јунака у кошуљи од самога злата а ви данас дадосте другоме! Но ме чу ли, ђувеглија Максо, брже враћај са јабане благо! Ако л’ благо повратити нећеш кунем ти се богом истинијем напријед ти ни крочити нећу но ћу добра коња окренути, догнаћу га мору до обале, па ћу ватит листак шемишљиков, а моје ћу лице нагрдити, док покапље крвца од образа, по листу ћу писати јазију, додаћу је сивоме соколу, нека носи стару бабу моме, нека купи сву латинску силу нек ти хара бијела Жабљака нек ти враћа жалост за срамоту“

243 […] „O Maxim, du deiner Mutter Einzger! Nie mehr möge sie dich wiedersehen, Nimmer dich lebendig mehr umarmen, Kampfeslanzen seien deine Bahre, Schilder mögen Leichenstein dir werden, Schwarz vor Gottes Richtstuhl sei dein Antlitz, Schwarz, also wie heut es ist, beim Zweikampf, Den du sollst mit dem Woiwoden kämpfen! Warum einem andern meine Schätze? Doch nicht leid tut mir’s um alle Schätze! Hab er sie! So hab ihn das Verderben! Aber leid ist mir’s ums goldne Hemde, Welches ich drei Jahr geflochten habe, Tag und Nacht mit meinen drei Gespielen, Daß mir fast die Augen ausgeträufelt, Immer an dem goldnen Hemde flechtend. Meinen Bräutigam wollt ich drin küssen, Schön geschmückt im Hemd von lautrem Golde. Und ihr gebt es einem fremden Manne! Doch, mein Bräutigam Maxim, vernimm mich! Fordre du sogleich zurück die Schätze, Aber wagst du dieses nicht, und willst nicht: Nun, so schwör ich, beim wahrhaftigen Gotte, Keinen Schritt tu ich mehr vorwärts – höre! Schnell mein gutes Roß wend ich zurücke, Treib es fort bis an das Meergestade Pflücke dort ein Blatt von Schemischlik, Und das eigne Antlitz mir zerreißend, Daß das Blut mir von den Wangen träufelt, Schreib ich einen Brief an meinen Vater, Geb ihn meinem grauen Edelfalken, Daß er schnell ihn nach Venedig trage. Sammeln wird mein Vater die Lateiner, Wird zerstören euer weißes Schabljak, Euch die Schmach mit Angst und Not bezahlen!“

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Teil I Кад то зачу дијете Максиме, то Максиму врло зајад било, врана коња натраг приповрну опаса га троструком канџијом пуче кожа коњу по сапима, а покапа крвца по копити, но му љуто пусник поскочио, по три копља у небо скочио, по четири земље прескочио. Не деси се доброга јунака, да увати грдна злосретника, но му сокак пољем учинише, а нико се јаду не досјети, порашта је коња повратио.

Als Maxim, der Knabe, dies vernommen: Wut ergreift ihn – seinen Rappen wendend, Schlügt er ihn mit dreigeflochtner Peitsche, Daß umgürtend sie sich um das Roß schlingt, Daß die Haut zerspringet auf dem Rücken, Und das Blut bis auf die Hüften träufelt. Rasend springt der wilde Hengst und bäumt sich; Hoch springt er, drei Lanzen hoch gen Himmel, Weit springt er vier Lanzen auf der Erde. Und kein wackrer Held ist gegenwärtig, Aufzuhalten den unseligen Wütrich! Eine Straße bahnt sich im Gedränge, Alle stehn erstarrt, doch keiner ahnet, Warum er den Rappen umgewendet.

А кад виђе војвода Милоше, грохотом се јунак насмијао: „Фала богу, фала истиноме, куд се оно Максим затрчао?“ А не види јаде изненада. Кад допаде дијете Максиме, на Милоша бојно копље пушти, бојнијем га копљем ударио по челенку међу очи црне; на затиљак очи искочише, мртав паде под коња дората;

Auch Woiwode Milosch steht und sieht es, Und er ruft lautlachend ihm entgegen: „Nun, Gott sei gepriesen, der Wahrhaftge! Wohin stürzet denn Maxim so eilig?“ Unversehens trifft ihn das Verderben, Denn als rasend nun Maxim daher stürmt, Schleudert er nach Milosch seinen Kampfspeer, Trifft ihn grade unter der Tschelenka, Trifft ihn zwischen beiden schwarzen Augen, Daß die Augen aus der Stirn ihm springen, Und er tot herabstürzt von dem Braunen.

Милош паде, а Максим допаде, колико му крвце жедан бјеше, ману сабљом, одс’јече му главу, пак је вранцу баци у зобницу, а ђевојку оте у ђевера, пак побјеже на муштулук мајци.

Milosch fällt, Maxim sich auf ihn werfend, Wutentbrannt nach seinem Blute dürstend, Schwingt den Säbel, hauet ihm das Haupt ab, Wirft es in den Hafersack dem Rappen, Dann entreißt die Jungfrau er dem Führer, Jagt zur Mutter nach dem Botenlohne.“

Hier erst entbrennt der allgemeine Kampf zwischen den Stammverwandten und dann den weiteren Freunden des Erschlagenen und des Mörders. Der Dichter sagt, die Ritter hätten, von Grausen ergriffen, sich zuerst furchtbar angeschaut, dann kochte plötzlich das Blut in ihnen, und sie fingen an sich blutige Geschenke von Blei und Eisen zuzuteilen. Danach beschreibt er die Schlacht in riesigen Abrissen, macht aus ihr etwas dem Kampf der Ureinwohner mit den Kentauren Ähnliches. Der Rauch des Geschützes und der Dampf

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des warmen Blutes hüllte das Feld in Nebel, die Kugeln und Säbelhiebe verteilten in der Dunkelheit die Trauer den unglückseligen Müttern, Schwestern und lieben Frauen. Der Blutstrom bedeckte den Boden bis an die Knie der Pferde. Ivan Crnojević watete nun langsam in demselben mit ewig schmerzerfüllter Seele und bat den Herr Gott wenigstens um einen Windstoß, daß er sehen könne, wer gefallen und wer noch lebe. Der Wind vom Waldgebirge kam heran und erhellte ein wenig das Feld. Nun fängt er an die blutigen Leichname umzuwenden, die toten Häupter zu betrachten, ob vielleicht seinen Sohn er nicht finde. Dieses verrichtend, stieß er auf seinen Schwestersohn, den Hauptmann Jovan (Johannes), der Brautführer gewesen und vor dem Aufbruche von Žabljak den bösen Traum gehabt, jetzt aber in Blut und Wunden unkenntlich dalag. Schon schritt düster der Greis weiter, als dieser ihn anrief: […] „Мој ујаче, Црнојевић-Иво, чим си ми се тако понесао: или снахом, или сватовима, ил’ господским даром пријатељским, те не питаш несретна сестрића, јесу ли му ране досадиле?’“

[…] „Sprich doch, Oheim! Zernojewitsch Iwan! Was ist’s, worauf Du so stolz geworden? Ist’s die Schnur? sind es die Hochzeitgäste? Oder sind’s die prächtgen Brautgeschenke? Daß du deinen unglückseligen Neffen Nicht befragst, ob ihn die Wunden schmerzen?“

Ivan weinte hierauf bittere Tränen, er wollte den Neffen retten; der hinscheidende Ritter entgegnete ihm aber mit schwacher Stimme: […] „Прођи ме се, мој ујаче Иво! Камо очи? – Њима негледао! Овакве се ране не видају: лијева је нога саломљена, саломљена надвоје, натроје, а десна је рука одсјечена, одсјечена рука по рамену, а по срцу сабље доватиле, испале су црне џигарице’“.

[…] „Laß in Ruh mich sterben, Oheim Iwan! Wo hast du die Augen? siehst nicht dieses, Daß man solche Wunden nicht mehr heile? Furchtbar ist der linke Fuß zerschmettert, Dreimal, viermal wohl entzweigebrochen, Abgehauen ist der rechte Arm mir, Abgehauen ganz bis an die Achsel! Tief herausgefallen hängt die Leber, Und das Herz hat hart gestreift der Säbel!“

Da bat ihn Ivan, so lange er noch zu sprechen vermöge, ihm zu sagen, was aus Maxim geworden. Der Hauptmann entgegnete, Maxim sei nicht gefallen, sondern er habe die Verlobte fortgerissen und sei gen Žabljak geflohen; nach diesen Worten verschied er. Der Ohm legte seinen Leichnam bei Seite, schwang sich aufs Roß und sprengte nach seiner Hauptstadt davon. Vor dem Tor der Festung findet er eine Kampflanze in die Erde gestoßen, einen Rappen daran gebunden, Maxim sitzt und beschreibt auf dem Knie ein weißes Stück Papier,

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Teil I

die Venezianerin steht neben ihm, demütig und schweigend auf den Scheidebrief wartend. Maxim schrieb an den Dogen: […] „О мој тасте, дужде од Млетака, купи војску, сву латинску земљу, те ми харај бијела Жабљака, и ти води милу твоју шћеру ни љубљену, ни омиловану – мене прође моја госпоштина, и држава моја краљевина; хоћу бјежат преко земље дуге, хоћу бјежат цару у Стамбола, како дођем, хоћу с’ потурчити!“

[…] „O mein Schwäher! Doge von Venedig! Rufe alle deine Macht zusammen, Alle Krieger des Lateinerlandes Und verheere unser weißes Schabljak! Nimm zurücke deine liebe Tochter, Ungeküßt zurück und unumarmet! Aus auf ewig ist’s mit meiner Herrschaft, Aus mit meinem Reich und Fürstentume! Fliehen will ich durch die weite Erde, Fliehn nach Stambul zu dem Türkensultan, Fliehn zu ihm und auch ein Türke werden!“

Die Kunde davon erscholl schnell im ganzen Land, und so kam sie auch zu Ohren der Obrenovići. Johann (Jovan) Obrenović, der Bruder des erschlagenen Miloš, nahm hurtig, ohne ein Wort zu sagen, sein Pferd, sattelte es mit dem besten Zeug, schlug ein Kreuz und schwang sich in den Sattel, mit folgenden Worten von den Seinigen Abschied nehmend: […] „Хоћу, браћо, и ја у Стамбола, одох, браћо, браћу да сачувам, ко дорасте у тој земљи нашој. Тамо оде крвничко кољено, он ће дворит цара у Стамболу, издвориће какву војску силну, те ће земљу нашу погазити. Браћо моја и пак породице, док чујете мене у животу, у животу, у Стамболу билу, немојте се, ђецо, препанути; он не смије војску подигнути: он ће на вас, а ја ћу на њега“.

[…] „Ich auch will nach Stambul gehen, Brüder! Euch zu schützen, und die Enkel alle, Die in unsrem Land erwachsen werden; Denn blutdürstigen Geschlechts ist jener, Der nun höfisch wird dem Sultan dienen, Daß er ihm ein nötig Heer ausrüste, Unser Land verheerend unterjoche. Aber hört, ihr Brüder, Stammverwandte! Nicht, so lange ihr mich noch wißt am Leben, Mich am Leben und im weißen Stambul, Sollt Gefahr ihr fürchten, meine Kinder! Nicht wag er ein Heer mir aufzuheben! Hat mit euch er es: mit ihm hab ich es!“

Die beiden Gegner trafen an den Toren Istambuls zusammen und stellten sich gleichzeitig dem Sultan vor. Der Türke wußte schon von allem, nahm die beiden Helden auf, machte sie zu Türken und nannte den Jovan Mahmudbeg, den Maxim Skanderbeg. Nach neunjährigem Dienst bekam jeder weiße Roßschweife und ein Paschalik. Nur bekam Mahmudbeg die fruchtbaren und reichgesegneten Ebenen Dukadjin-Gebietes; Skanderbeg aber die dumpfen, morastigen Ländereien der Bojana und des Skutari-Sees. Das ganze Leben

19. Vorlesung (5. März 1841)

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hindurch, sagt der Dichter, haßten sich die beiden feindlichen Häupter, und ihre Nachkommen vergießen bis zum heutigen Tage Blut unter einander. […] Како таде, тако и данаске, нијесу се нигда умирили, нити могу крвцу да умире но и данас ту просипљу крвцу.363

[…] „Sowie damals, also ist es heute! Noch nicht abgebüßet ist die Blutschuld, Nimmer noch versöhnten sich die beiden, Blut vergießend bis zum heutigen Tage.“364

Auf diese Weise drückt die Poesie den Kampf der christlichen mit den muselmannischen Serben aus.365

363 „Ženidba Maksima Crnojevića“ (Heirat des Maksim Crnojević), Vuk, II, S. 508–549. 364 Talvj II, S. 229–270. 365 Vgl. auch die Darstellung von Johann Severin Vater: Die Hochzeit des Maxim Cernojewitsch. In: Wuk’s Stephanowitsch kleine serbische Grammatik verdeutsch und mit einer Vorrede von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824, S. LXI–LXXII; ferner – S. Ferdinand d’Eckstein: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr. 2 (Februar), S. 243–269 und II, Nr. 6 (Juni), S. 373–410.

20. Vorlesung (9. März 1841) Die Familiengefühle bei den Slaven – Wahlbrüderschaft (pobratimstvo) – Die Präsenz des Christlichen und Muselmannischen – Abenteuer des Stojan Janković – Bajo Pivaljan oder die Herausforderung zum Zweikampf – Die Gedächtniskraft bei den Slaven – Das Edle des Stils ihrer Dichtung – Das Triviale wird in den Städten erzeugt – Phantastische Elemente (Gestalt der Vila) – Vampire (upiory).

Die im oben angeführten Gedichte besungenen Begebenheiten haben eine große geschichtliche Bedeutung für das Land der Montenegriner. Die Slaven, welche sich dem abtrünnigen Maksim [Crnojević] angeschlossen, wurden Muselmannen, erhoben die Hand gegen ihre Brüder, die Christen, und führten die Türken ins Land. Endlich unternahm der dortige Bischof366 im vorigen Jahrhundert etwas der Bartholomäus-Nacht Ähnliches gegen sie. Auf ein gegebenes Zeichen warfen sich die Montenegriner über ihre verrückten Landsleute, machten alle ohne Barmherzigkeit nieder und befreiten das Land gänzlich von der muselmännischen Bevölkerung. Die Sammlung der montenegrinischen Lieder ist noch nicht beendet, unbekannt ist, ob diese Begebenheit den Anfang zu einer epischen Dichtung [poésie épique] gegeben; jedoch kann man hieran zweifeln, denn seit dem 15. Jahrhundert zersplittert sich das Epos, ebenso bei den Montenegrinern wie bei den Donau-Slaven, in kleine romaneske Gedichte [petits romans]. Das in diesen romanesken Gedichten besonders Charakteristische ist das Gefühl der Familie, was auch die Haupttriebfeder für das Tun der Einzelnen ausmacht. Die Verwandtschaft und der freiwillig angenommene Bruderbund ist das Heiligste bei den Slaven, in die Familie schließt sich ihre ganze Welt. Die Dichter kennen kein größeres Unglück, als das Verwaistsein. Der Vater, den die Slaven jener Gegenden mit dem ehrbaren Namen baba367, von den Türken entlehnt, benennen, empfängt von seinen Kindern die größten Beweise der Achtung und des Gehorsams, sein Greisenalter verleiht ihm aber einen Heiligenschein. 366 Danilo I. Petrović Njegoš (um 1670–1735); vgl. Rastislav V. Petrović: Vladika Danilo i vladika Sava (1697–1781). Beograd 1997. Das Thema des Kampfes gegen die Türken thematisiert Petar II. Petrović Njegoš (1813–1851) in seinem Nationalepos „Gorski vijenac“, Wien 1847, das Mickiewicz nicht bekannt war; deutsche Übersetzung: „Der Bergkranz“. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Alois Schmaus. München 1963. Dort wird im dritten Kapitel über die blutige Vernichtung der Türken aus der Perspektive der jeweiligen Heeresanführer berichtet. Dieses Ereignis wird auch als „Bartolomejska noć u Crnoj Gori“ bezeichnet. 367 Auch „babo“ – vgl. Vuk Stefanovič Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima. Beograd 41935, S. 10.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_021

20. Vorlesung (9. März 1841)

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Bei den Türken fußt diese Hochachtung auf religiösem Glauben und auf der Furcht, bei den Slaven aber, wo die zärtlichen Familienregungen nicht durch Vielweiberei vernichtet sind, auf der Liebe. Nach dem Vater und der Mutter, die auch in den wichtigsten Vorfällen miträt, folgen die Brüder. Nichts Rührenderes als die brüderliche Liebe bei diesen Völkern. Der jüngere Bruder, nachdem er erfahren, daß der ältere ein Räuber geworden, geht ihn suchen, fällt von seiner Hand, und im Verscheiden erst von dem Unglücklichen erkannt, stirbt er freudig, daß er wenigstens des Bruders teures Antlitz noch einmal gesehen, des Bruders liebe Stimme gehört.368 Häufig weinen in der Dichtung Brüder und Schwestern, daß sie niemanden haben, bei dessen liebem Haupt sie schwören könnten. Mit solchem Gefolge tritt also die Familie in den durch die romanesken Gedichte besungenen Ereignissen auf, d.h. in Hochzeiten und Schlachten. Außerdem treffen wir noch einen besonders slavischen Charakter, den Charakter der Wahlbrüderschaft (pobratimstvo).369 Dieser ist bei den Slaven von den urältesten Zeiten her bekannt. Was auch der Anfang dieser Genossenschaft sei, so sehen wir doch ihre Spuren schon in den Geschichtschreibern; so viel ist gewiß, daß sie in Mazedonien sich vorfand, und sich lange in Theben erhielt. Das Christentum hat diese Sitte geheiligt, die bis auf den heutigen Tag in ganzer Kraft bei den Serben, Bulgaren und sogar den Albanern fortdauert. Junge Leute, die unter einander den Gefährtenbund schließen, sich im Geiste verwandt machen wollen, gehen in die Kirche und nehmen die Weihe der Brüderschaft. In der morgenländischen Kirche gibt es sogar einen Ritus für das Einsegnen dieser sittlichen Verbindungen. Die Gefährten übernehmen die Schuldigkeit, sich gegenseitig in Allem zu unterstützen; Vermögen und Leben werden zum gemeinsamen Gute. Nicht aus der Gefangenschaft lösen, oder im Kampf den Gefährten nicht verteidigen, wäre die größte Schande. Heiratet der eine, so ist der andere Hochzeitsführer, während des Krieges dient der jüngere dem älteren gewöhnlich als Stallmeister. Die Einförmigkeit in der Beschreibung der Hochzeitsfeier vermannigfacht sich durch die verschiedene Lage der zwei Familien, der christlichen und der türkischen, auch durch die verschiedene Erziehungsweise der Kinder bei den Serben und bei den Türken. Das türkische Mädchen erwächst eingesperrt und unsichtbar, bis zu dem Augenblick der Vermählung kennt sie ihren Verlobten nicht. Häufig jedoch erschallt die Kunde, daß dieser oder jener Pascha eine 368 Vgl. „Predrag i Nenad“, Vuk 1958, II, S. 76–82. 369 Vgl. dazu: Stanisław Ciszewski: Künstliche Verwandtschaft bei den Südslaven. Leipzig 1897; Walter Puchner: Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes. Wien-Köln-Weimar 2009 (Kap. 13: Adoptio in fratrem).

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Teil I

Tochter von wunderbarer Schönheit besitze, aber niemandem ist es möglich, sie zu sehen, denn sogar die Sonne hat sie noch nicht gesehen, weil der Strahl der Sonne, wie der Dichter sagt, nicht zu ihr dringen kann. Dann erst läßt sich der slavische Ritter auf Abenteuer ein, die Schöne zu erobern. Gewöhnlich tritt er in die Dienste des Pascha, wird Janitschare und, jetzt näher, sucht er durch alle möglichen Mittel dessen Tochter kennen zu lernen. Zuweilen gelingt es ihm, ihr Herz und ihre Hand zu erlangen; zuweilen aber am Ziele seiner Wünsche, nach langjährigen und gefahrvollen Mühsalen, entdeckt er nun plötzlich ein physisches oder moralisches Gebrechen, und hieraus entspinnen sich auch neue Verwicklungen und weitere Folgen der Romanze. Zu der Reihe solcher romanesken Gedichte gehört folgendes, das die Abenteuer des Stojan Janković besingt: Још од зоре нема ни помена, Удбињска се отворише врата, И изие једна чета мала, За тридесет и четири друга, Пред њоме је Лички Мустај-беже,; Оде беже у Кунар планину, Да он лови лова по планини. Хода беже три-четири дана, Ништа бего уловит’ не може, Поврати се Лики и Удбињи,

Noch vom Morgenrot war kein Gedanke, Als das Tor von Udbinja sich auftat, Und ’ne kleine Kriegerschar herauskam, Vierunddreißig türkische Gefährten; Vor der Schar der Mustaj-Beg von Lika. Geht der Weg nach dem Kunar-Gebirge, Um im grünen Bergwald Jagd zu jagen; Schweift umher drei Tag und vier vergebens, Nichts erjagen kann der Beg und fangen, Kehrt zurück nach Lika und Udbinja.

Када сиђе под гору јелову, Уврати се на воду чатрњу, Да почине и да воде пије; Баци очи под јелу зелену, Ал’ с’ од јеле разасјале гране;; Када дође Мустај-беже Лички, Пјан катана под јеликом спава Сав у срми и у чистом злату: На глави му калпак и челенке, Један калпак, девет челенака,; Покрај њих је крило оковано, Ваља крило хиљаду дуката; На плећима зелена долама, На долами тридесет путаца, Свако пуце по од литру злата,; Под гр’оцем од три литре злата, И оно се на бурму отвара, У њем’ носи за јутра ракију; По долами троје токе златне, Златне токе по од двије оке,; Двоје вите, а треће салите; На ногама ковче и чакшире,

Jetzt kommt er hinab zum Tannenwalde, Wendet sich nach dem Cisternenwasser, Um sich, Wasser trinkend, zu erfrischen. Sieh, da blitzt es schimmernd durch die Zweige, Und er naht sich einer grünen Tanne, Sieht darunter, Mustaj-Beg von Lika, Einen trunknen Krieger eingeschlafen, Ganz in Silber und in lautrem Golde. Auf dem Haupte Mütze und Tschelenken Auf der einen Mütze neun Tschelenken, Neben diesen ein beschlagner Flügel, (Tausend Goldstück war er wert, der Flügel) Auf den Schultern einen grünen Dolman, Auf dem Dolman dreißig prächtge Knöpfe, Jeder Knopf zu einer Litra Goldes! Unterm Halse einen von drei Litren, Der mit Schrauben sich läßt ab- und andrehn; (Morgens früh wird Branntwein drin getragen); Auf dem Dolman ferner drei Beschläge,

20. Vorlesung (9. März 1841) Жуте му се ноге до кољена, Побратиме, како у сокола, Из ковчи су синчири од злата,; На синчирим’ ситне титреике, Што ђевојке носе у гр’оцу; Опасао мукадем појаса, За појасом девет Даницкиња, Све у чисто заљеване злато;; О бедри му сабља окована, На сабљи су три балчака златна И у њима ри камена драга, Ваља сабља три царева града; У крилу му лежи павталија,; На њојзи је тридесет карика, Свака павта од десет дуката, Код нишана од тридесет дуката, Више злата, него љута гвожђа;

251 Goldbeschläge, an Gewicht zwei Oka, Zwei gedrehet und gegossen einer; An den Füßen Unterkleid mit Hefteln, Goldgelb sind die Füße bis zum Knie, Daß es wie beim Falken anzusehen; Aus den Hefteln laufen goldne Ketten, Feines Schmuckwerk an den langen Ketten, Wie die Mädchen sie am Halse tragen. Köstlich ist der Gurt, der ihn umgürtet, Hinterm Gurt neun danziger Pistolen, Alle neun mit lautrem Gold umgossen; An der Hüfte ein beschlagner Säbel, An dem Säbel sind drei goldne Griffe, Blitzen draus hervor drei Edelsteine. Wohl drei Zarenstädte wiegt das Schwert auf! Ihm im Schoß liegt eine Ringelflinte, Dreißig Reife sind daran befestigt, Jeder Ring zehn Goldstück wohl an Werte! Am Visir von dreißig Goldstück einer! Ist mehr Gold daran, als grimmes Eisen.

Die Türken hocherfreut über die unerwartete und leichte Beute, werfen sich über den schlafenden Ritter, binden ihm die Arme rückwärts und treiben ihn vor sich hin in die Festung. Erst, als sie im offnen Felde waren, begann Mustaj-Beg: […] „Ој Бога ти, незнана катано! Откле ли си, од које л’ крајине? Како л’ тебе по имену вичу? Куда ли си био намислио?; Камо твоја дружина остала?“

[…] „O um Gott! du unbekannter Krieger! Woher bist du, und von welcher Gegend? Wie bist du genannt, mit welchem Namen? Und wohin hast du gedacht zu gehen? Wo sind deine übrigen Geführten?“

А катана њему проговара: „Што ме питаш, Мустај-беже Лички? Јеси л’ чуо Латинско приморје, Код приморја ришћанске Котаре; И у њима Јанковић-Стојана? Ја сам главом Јанковић Стојане; Нисам више ни имао друга, Осим Бога и себе једнога, А нијет сам био учинио,; Да се спустим до под твоју кулу, Да измамим Хајкуну ђевојку, Да одведем себе у Котаре, Па ми не би од Бога суђено: Проклето ми пиће преварило.“

Ihm entgegnete der fremde Krieger: „Warum fragst du, Mustaj-Beg von Lika? Hast du je von der latein’schen Küste, Von des christlichen Kotari Küste, Und dem Stojan Jankowitsch vernommen? Dieser Stojan bin ich und kein andrer! Nicht Begleiter noch Gefährten hatt ich, Gott alleinzig und ich selbst war mit mir! Und der Vorsatz, der mich hergeführet? Nah zu deinem Turme wollt ich gehen, Locken dorten Haikuna, das Madchen, Daß ich sie entführe nach Kotari. Doch es war von Gott mir nicht beschieden, Ein verwünscht Getränk hat mich verraten!“

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Teil I Тада рече Мустај-беже Лички: „Бе аферим, Јанковић-Стојане! Баш си дошȏ у онога руке, Који ће те, море, оженити!“

Drauf versetzte Mustaj-Beg von Lika: „Bravo! Bravo! Stojan Jankowitsche! Bist da in die rechte Hand gefallen, Die dich nun vermählen kann, mein Bürschchen!“

So sprechend, erreichten sie die Festung und hielten vor dem Turm MustajBegs an. […] Испод куле Мустај бега Личког, Гледа чету мало и велико, И Хајкуна са бијеле куле Мила сестра Мустај-бега Личког, Пред њоме је ђерђеф од марџана, У рукама игла од биљура, Пуни злато по бијелу платну; Када виђе чету из планине, Они воде свезана јунака Код његова свијетла оружја,; Испред себе ђерђеф отурила, Двије му је ноге подломила, Па је собо била говорила: „Боже мили! чуда великога! Зла погледа у добра јунака! Како ли га Турци преварише, И без ране и без мртве главе Свезаше му руке наопако?“ Кад дружину на рачун узела, Ал’ не има друга седморице.

[…] Klein und Groß ersieht die Schar der Krieger, Haikuna auch aus dem weißen Turme, Liebe Schwester Mustaj-Begs von Lika. An dem Stickrahm sitzt sie, von Korallen, In den Händen Nadeln von Kristallen, Deckt mit rotem Gold das weiße Linnen. Als zurück sie sah die Jäger kehren, Einen Helden schwer in Banden führen, Trotz des Glanzes seiner mächtigen Waffen: Stieß voll Neugier sie den Rahmen von sich, Heftig, daß zwei Füße ihm zerbrachen, Sprach verwundert zu sich selbst die Worte: „Lieber Gott! welch wunderbar Ereignis! Wie so böse schaut der Held und tapfer! Wie wars möglich doch, ihn zu betrügen? Ohne totes Haupt und ohne Wunde, Sind die Händ ihm rückenangebunden!“ Aber als sie nun die Krieger zählte, Sieh, da fehlten sieben der Gefährten.“

Der Beg nahm nun die Waffen Stojans, gab sie der Hajkuna in die Schatzkammer zu tragen, und ließ ihn selbst in den 400 Ellen tiefen brunnenförmigen Kerker werfen, wo Wasser bis an die Knie und Menschenknochen bis an den Hals waren. – Alsdann ging Mustaj in die neue Schenke mit den Gefährten zu zechen, und vor Udbinjas Türken zu prahlen. […] Подиже се лијепа ђевојка, Она иде на тавничка врта, И донесе једну кову вина, На узицу спушта у тавницу, Са тавнице грлом довикује:

[…] Da erhebt sich schnell das schöne Mädchen, Schleicht sich leise nach des Kerkers Türe, Eine Kanne Weines trägt sie mit sich, Läßt mit Stricken nieder sie in Kerker, Ruft aus vollem Halse ins Gefängnis:

20. Vorlesung (9. März 1841)

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„О јуначе, Бог те не убио! Откле ли си, од које л’ крајине? Како ли те Турци преварише, Те свезаше код оружја руке?“

„Fremder Held! dich möge Gott bewahren! Woher bist du und von welcher Gegend? Wie bist du genannt, mit welchem Namen? Wie bist du betrogen von den Türken, Daß sie dich trotz deiner Waffen banden?“

Узе Стојан, те он попи вино, Па ђевојци бјеше бесједио: „Ко ме виче са тавнице б’јеле? Пиво ми је грло преузело, Пусти мене на чекрк узицу, Извуци ме до пола тавнице, Па ћу тебе онда казивати.“

Stojan nahm die Kanne Wein und trank ihn; Dann erwiderte er dem Mädchen also: „Wer ists, der mich ruft aus meinem Kerker? Schnürte mir der Trunk den Hals zusammen, Laß mir den gedrehten Strick hinunter, Zieh mich bis zur Hälfte meines Kerkers, Was du fragst, will ich dir alles sagen!“

Als dies nun geschah, wiederholte der Ritter noch einmal seine Frage, und da er erfuhr, daß die Schwester des Beg mit ihm redete, rief er aus: […] „О Хајкуна, да те Бог убије! Ја сам главом Јанковић Стојане,; Ја сам с тебе допао тавнице; Пјана су ме Турци преварили, Те свезали наопако руке.“

[…] „Haikuna! O dich soll Gott erschlagen! Bin der Stojan Jankowitsch, kein andrer! Deinetwegen kam ich ins Gefängnis, Trunken hat der Türke mich betrogen, Und die Hände rückenangebunden!“

Nach diesen Erläuterungen sagte die Türkin dem Ritter, daß man ihn morgen töten würde, wenn er nicht zum Islam sich bekehren wolle, und fügte hinzu: […] Потурчи се, Јанковић Стојане, А ја ћу ти бити вјерна љуба. У мог брата Мустај-бега Личког Та имају двије куле блага: Једна моја, а друга његова; Ако буде мријети по реду, Хоће нама обје останути.“

[…] ,,Werd ein Türke, werd es, wackrer Stojan! Und ich will dir treue Gattin werden. Sieh, mein Bruder Mustaj-Beg von Lika, Hat zwei Türme voller Gold und Schätze, Sein ist einer, aber mein der andre; Wird der Tod die Folgenreihe halten, Werden wir einst beide Türme haben!“

Ihr erwidert Stojan Janković: […] „А не лудуј, Хајкуна ђевојко! Бога ми се не бих потурчио, Да ми даду Лику и Удбињу. Ја имадем у Котарим’ блага; Више, Богме, него у Турака, А бољи сам јунак од Турака. Ако Бог да, лијепа ђевојко!

[…] „Mädchen Haikuna, sprich nicht so töricht! Da sei Gott vor, daß ich Türke würde, Und erhielt ich Lika und Udbinja! Hab genug des Gutes in Kotari, Beim Allmächtigen, mehr wohl als die Türken. Bin ein bessrer Held auch, als die Türken!

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Teil I Сјутра прије половине дана Окренуће скакат’ Котарани; По Удбињи и око Удбиње, Извадиће Стојка из тавнице.“

Wenn es Gott vergönnet, schönes Mädchen! Morgen, eh des Tages Hälft entflohen. Kommen die Kotarer angeflogen Kommen her nach Udbinja im Sturme, Und befreien mich aus dem Gefängnis.“

Одговара Туркиња ђевојка: „Бе не лудуј, Јанковић-Стојане! Докле твоји Котарани дођу,; Хоће тебе Турци погубити; Већ јеси ли, болан, вјере тврде, Да ћеш мене узет’ за љубовцу, Да избавим тебе из тавнице?“

Ihm entgegnete das Türkenmädchen: „Stojan Jankowitsch, sprich du nicht töricht! Eh sie nahn, die Krieger aus Kotari, Haben dich die Türken schon getötet! Aber bist du, Christ, getreuen Wortes, Willst du mich zu deiner Gattin nehmen, Selbst befrei ich dich aus dem Gefängnis.“

Stojan versicherte sie von seiner Redlichkeit und versprach sie zu ehelichen. Die Türkin ließ ihn wieder auf den Boden des Kerkers hinunter und eilte nach ihrer Wohnung. Mustaj aus dem Kaffeehause wiederkehrend, fand die Schwester sterbenskrank, besorgt fragte er, was ihr fehle? Das listige Mädchen antwortete: „Не питај ме, брате Мустај-беже! Забоље ме и срце и глава, Сву је мене зима обузела: Богме, брате, мријети ваљаде:; Већ ти сједи на меке душеке, Да ти паднем у криоце главом, Да ја пустим моју гр’јешну душу.“

„Frage mich nicht, Mustaj-Beg, mein Bruder! Schmerzt das Herz mich und der Kopf mich heftig, Fieberfrost hat gänzlich mich ergriffen; Gott, mein Bruder, sterben werd ich müssen! Setz dich auf dies weiche Polsterbette! Laß den Kopf in deinen Schoß mich legen, Daß ich aushauch meine sündige Seele!“

Der liebende Bruder weinte und drückte die sterbende Schwester an die Brust, sie aber steckte unterdessen die Hand in seinen Busen, und entwendete ihm drei Schlüssel von Kerker, Schatzkammer und Stall. Nachher beruhigte sie sich ein wenig. Mustaj verließ sie in der Hoffnung, daß sie etwas einschlummre, und ging selbst mit den Türken zu beratschlagen, welche Todesart der Gefangene zu erdulden habe. Kaum war er fort, als Haikuna vom Divan aufsprang, nach der Schatz- und Waffenkammer eilte, einen Hafersack mit Dukaten füllte, Stojans Waffen wegtrug und ihn aus dem Kerker in den Stall führte. Hier nahmen sie Mustajs weiße Kampfstute und seiner Gattin schwarzes Reitpferd, und beide entkamen glücklich. Jedoch hiermit endet die Romanze noch nicht. Als es wieder Abend wurde, wollte der Ritter unweit der Grenzen von Kotor, auf dem grünen Anger übernachten; Haikunas Bitten und guter Rat, unaufhaltsam weiter zu eilen, blieben fruchtlos. Das Haupt an die Knie des schönen Türkenmädchens gestützt, schlief er ruhig, sie aber konnte kein Auge zutun, die ganze Nacht besorgt dasitzend, blickte sie nach der Gegend von Udbinja.

20. Vorlesung (9. März 1841)

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Da sah sie in der Ferne einen Staubwirbel in der Morgendämmerung sich erheben, und zugleich inmitten dieser Dampfwolke die Reiter, an ihrer Spitze den Mustaj. Stojan zu wecken, wagte sie nicht, und weinte nur; erst ihre heißen Tränen, die auf sein Gesicht und seine Stirn herabfielen, unterbrachen seinen Schlaf. Verwundert fragte er: […] „Што је тебе, Туркињо ђевојко! Те прољеваш сузе од очију? Ил’ ти жалиш брата Мустај-бега? Ил’ његова блага големога?; Ил’ ти није у вољу Стојане?“

[…] „Sprich, was fehlt dir, schönes Türkenmädchen! Daß dir Tränen aus den Augen strömen? Ist dir’s leid um deinen Bruder Mustaj? Ist dir’s leid um seine großen Schätze? Oder bin ich nicht nach deinem Sinne?“

Dies ist es nicht, antwortet Haikuna, sondern weist nach der nahenden Reiterschar, und beschwört ihn zu fliehen. Ganz ruhig erwidert aber Stojan: […] „Не ћу Богме, Хајкуна ђевојко, Жао су ми Турци учинили, У трави ме пјна притиснули, Сад се хоћу дариват’ са шуром; Већ ти јаши вранца од мејдана, А дај мене твојега ђогата, Побољи је мало од вранчића, Да ја идем шури у сретање.“370

[…] „Nimmer, schöne Türkin, tu ich dieses! Mich beleidigt haben schwer die Türken, Wie sie trunken mich im Grase banden. Jetzt will ich den Schwager schön beschenken! Steige du nun auf den Kampfesrappen; Aber mich laß jenes Roß besteigen, Das ein wenig besser, als der Rappe, Daß dem Schwager ich entgegen reite!“371

Nun folgte der Kampf; es versteht sich, daß der slavische Held siegte. Dreißig Türken hieb er zusammen, den Mustaj aber nahm er lebendig gefangen und ihm Gleiches mit Gleichem vergeltend, trieb er ihn mit auf den Rücken gebundenen Händen vor sich her. So zu Haikuna gelangend, wollte er ihn vor ihren Augen niederhauen, die Schwester rettete jedoch den Bruder durch Bitten. Stojan schenkte ihm das Leben zum Hochzeitsangebinde, und schickte ihn nach Udbinja zurück, mit der Mahnung, daß, wenn er wieder mit den Udbinjanern Wein trinke, er in allem die Wahrheit rede und nimmer lüge, taufte dann die schöne Türkin, heiratete sie und lebte sehr glücklich. Ähnliche romaneske Lieder gibt es an 20 in der Sammlung des Karadžić. Eine von ihnen beschreibt einen Zweikampf („Bajo Pivljanin i Beg Ljubović“), 370 „Ženidba Stojana Jankovića“ (Die Hochzeit des Stojan Janković). In: Vuk Stefanović Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga treća u kojoj su pjesme junačke srednijeh vremena. Beograd 1954, S. 123–134. 371 Bei Talvj „Stojan Jankowitsch“, Talvj II, S. 296–307.

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Teil I

ein in den Ritterromanen erschöpfter Stoff: da er hier aber zwischen Türken und Slaven stattfindet, so wollen wir die Stellen anführen, welche die Weise des Verfahrens der beiden Parteien zeigen. Ein türkischer Beg fordert einen der slavischen Hauptmänner, der ihm früher seinen Bruder getötet, zum Zweikampf heraus. Der Geforderte bittet, er möge ihm die in der Jugend begangene Schuld verzeihen, und sagt, er wolle nicht wieder von Neuem Blut vergießen, wenn ihn das Glück begünstige. Er erbietet sich, das Kopfgeld für den Erschlagenen zu zahlen. Der Türke verwirft es, er schreibt einen zweiten Brief mit Beleidigungen, und stellt erniedrigende Bedingungen: […] „Ао Бајо, пивљанско копиле, ја се с тобом помирити нећу да ми дадеш хиљаду дуката док не дођеш мом бијелу двору, не пољубиш хрта међу очи, и кр’ата коња у копито, онда мене у скут и у руку, и преда мном у земљицу црну.“

[…] „Bajo! Schrieb er, du Pivaner Bastard! Nicht will ich mit dir mich je versöhnen, Gäbst du mir auch tausend Stück Dukaten, Bis du kommst nach meinem weißen Hofe, Meinen Windhund auf die Augen küssest, Mein arabisch Roß auf seine Hufe; Dann mir selbst demütig Saum und Hände, Mir zu Füßen drauf die schwarze Erde!“

Der Slave knirscht mit den Zähnen, und antwortet den Kampfplatz bezeichnend; dann ruft er seinen Bundesbruder, kleidet sich in Seide und Samt, nimmt zwei Schwerter und geht nach der besprochenen Stelle. Der Beg war schon angekommen, hatte sein Zelt aufgeschlagen und saß im Schatten, sich am kühlen Weine labend, den ihm sein Gefährte Šaban-Aga reichte. Der Pivaner Bajo trat ins Zelt, setzte sich zur Erde und sprach: […] „Добро јутро, беже Љубовићу, у зао час по ме или по те!“

[…] „Guten Tag, Beg Ljubowitsch, Sei nun mir, sei dir die Stunde unheilsam!“

Hierauf warf er ihm die beiden Schwerter quer über den Schoß, und setzte hinzu: […] „Ето, беже, два мача зелена, оба мача од једног ковача; ти избери кога теби драго, узми бољег, остави горега да не речеш да је пријевара“372.

[…] „Siehe, Beg, die beiden grünen Schwerter! Alle zwei von Einem Waffenschmiede, Wähl dir, welches Dir beliebt von beiden, Nimm das bessre, lasse mir das schlechtere. Daß du nicht, Du seist betrogen, sagest!“373

372 „Bajo Pivljanin i beg Ljubović“, Vuk 1954, III, S. 472, 474. 373 Bei Talvj „Verrat im Zweikampf“, Talvj II, S. 290, 292.

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Dies Anerbieten der Waffenwahl gehört zu derselben Sitte der Slaven, die sich überall zeigt, wo es auf eine Teilung ankommt. Bei der Erbschaftsteilung nach dem Tod der Eltern, bei einer sonst streitigen Sache, oder bei der Wahl der Verteidigungsmittel vor Gericht hat immer der jüngste Bruder, die angeklagte Partei, der vorgeladene Gegner das Recht der Wahl. Die von uns angeführten Gedichte haben mehrere hundert, auch bis tausend und einige hundert Zeilen, wie z.B. die Hochzeit des Crnojević. Es scheint wunderbar, daß so große dichterische Schöpfungen, nur von Munde zu Munde gehend, 300 Jahre bestehen konnten. In den Abhandlungen über die Homeriden haben diejenigen, welche Vicos und Wolfs System374 bekämpften, die Frage gestellt, wie es möglich gewesen, daß der Barbar jener Zeit die ungeheure Masse von Versen im Gedächtnis behalten? Dies scheint noch begreiflicher in Betreff der lyrischen Dichtung, insbesondere der Stellen, die lebhafteres Gefühl atmen. Indem der Dichter sich hier den Stoff wählte, konnte er in die Stimmung des Originals sich versetzen und war im Übrigen ganz frei; er spann weiter nach Belieben. Aber im Heldengedicht ist ein Thema gegeben, von dem nicht abzuweichen ist; es gibt wesentliche Teile desselben, man könnte sie die materiellen nennen, die man nicht umstellen noch umändern kann. Wie soll man z.B. die Aufzählung der häufig sehr zahlreichen Heere, wie die Ortsnamen, die Eigennamen, oder andere Geschlechtsableitungen und genaue Situationen verzieren und vervielfältigen; – und doch sind dies sehr anziehende Dinge in jedem Epos. Diesen Teil desselben vermochten die Kunstdichter nie nachzuahmen. Der sogenannte Katalog in Torquato Tassos „Das befreite Jerusalem“ [1. Gesang] ist ohne Geschmack; selbst Walter Scotts Beschreibungen langweilen häufig, weil es keine Gewißheit gibt für ihre Wahrheit, da hingegen die Geschichte mit Vertrauen auf die Angaben der Homerischen und auch slavischen Dichtungen sich stützt. Um sich dieses außerordentliche Beispiel der Gedächtniskräfte zu erklären, muß man die Geschichte und alle Einzelheiten des Zustands jener Völker kennen. Die Übung bewirkt viel, das ist gewiß, aber dies löst das Rätsel noch nicht. Die Slaven scheinen eine ausschließliche Gabe, das Gedächtnis der Vergangenheit zu besitzen, sie sind derselben ganz besonders ergeben, erträumen dieselbe nicht, schaffen sie auch nicht in Gedanken, sondern man kann sagen, sie sehen dieselbe vor Augen. Ihre Einbildung ist wie angesiedelt in den 374 G. Vico und F.A. Wolf tragen Zweifel an der Existenz des Dichters Homer vor. Vgl. Giambattista Vico: Principj di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni. Neapel 1725 (3. Ausgabe Neapel 1744); deutsche Übersetzung: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der völker. Übersetzt von Erich Auerbach. Berlin 2000; Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum […]. Halle (Saale) 1795 (3. Auflage: Halle 1884; Reprint – Hildesheim 1963); deutsche Übersetzung: Prolegomena zu Homer. Übersetzt von Hermann Muchau. Leipzig 1908.

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vergangenen Zeiten, stets schaut sie dieselben, und ist immer bereit, nicht nur von den poetischen Überlieferungen, sondern auch von den am meisten prosaischen, alltäglichen und gleichgültigen Sachen geheime Worte zu lispeln. Im gewöhnlichen Treiben, beim Gerichtsverfahren, rufen sie die Vergangenheit zum Ratgeber und Zeugen auf, an das Gedächtnis der Greise wenden sie sich wie an ein Archiv. In der neulich durch Widenmann und Hauff in Stuttgart veröffentlichten Sammlung375 trifft man merkwürdige Beispiele dieser Art. Ein reisender Deutscher376 war unlängst Zeuge folgender Begebenheit. Etwa vor einigen fünfzig Jahren ging ein Mädchen, einer mächtigen slavischen Familie angehörig, in die Ansiedlung eines anderen Geschlechts. Unterwegs begegnete ihr ein Venezianer und beleidigte sie mit unanständigen Worten; und als sie bei ihrer Ankunft es den Nachbarn klagte, vernachlässigten diese ihre Beleidigung zu rächen. Hieraus entstanden Streitigkeiten zwischen den Ansiedlungen dieser beiden Geschlechter, und erst jetzt stellten sich die beiden Parteien vor ein Friedensgericht. Als nun die angeklagte Partei die erste Ursache des Streites leugnete, bezeugten die herbeigerufenen Greise, daß sie in der Tat in ihrer Kindheit von dem Vorfall des Mädchens mit dem Venezianer gehört hätten. Ivan Crnojević, dessen Abenteuer in dem Gedicht von der Hochzeit seines Sohnes erzählt sind, ist eine dermaßen bekannte Person, daß die Inländer ihn ihren alten Ivan nennen, als wenn er in ihrer Mitte noch lebte; dies führt öfters den Fremden in Irrtum, denn er ist am Anfang des 13. Jahrhunderts gestorben. Alles dies sind Elemente, die in den Inhalt des Heldengedichts eingehen, aus ihnen haben sich die Bruchstücke der slavischen Dichtung dieser Gattung gebildet; und je mehr jemand den Reichtum der Materialien erforschen wird, desto mehr wird ihn das glückliche Zusammentreffen von Umständen verwundern, das aus ähnlichen Stoffen eine „Ilias“ und „Odyssee“ geliefert hat. Das Schicksal der durch die Christen geraubten, getauften und geehelichten Türkinnen bietet desgleichen vielen Stoff für die slavische Poesie. So will z.B. ein junges Türkenmädchen, das von einem Ritter entführt worden, lieber sterben als ihren Glauben ändern; sie tritt auf den obersten Söller, und nach dem väterlichen Hause hinüberschauend, ruft sie:

375 Reisen und Reisebeschreibungen der älteren und neuesten Zeit, eine Sammlung der interessantesten Werke über Länder- und Staatenkunde, Geographie und Statistik. Hrsg. Eduard Widenmann und Hermann Hauff. Stuttgart-Tübingen. In dieser Reihe erschien dann anonym die Darstellung von Vuk Stefanović Karadžić – Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes. Stuttgart-Tübingen 1837. 376 Der Verfasser ist [Vuk Stefanović Karadžić]: Montenegro und die Montenegriner, op. cit; Begebenheit nicht gefunden.

20. Vorlesung (9. März 1841) „Бабин дворе, мој велики јаде! Мој мејтефе, мој велики страху, доста ти сам страха поднијела док сам ситну књигу научила!“377

259 „Vaterhaus, o du mein großes Herzleid! Meine Schule, einst mein großer Schrecken! Hast genug des Schreckens mir geschaffen, Als ich seine Schrift noch lernen mußte.“378

Hierauf nahm sie ihr Kleid zusammen und stürzte sich vom Turm: doch vergaß die Unglückliche, ihr langes Haargeflecht zusammenzurollen, und so blieb sie mit den Haaren am Haken eines Fensters hängen. Das arme Mädchen blieb in diesem Zustand, bis die Haare eins nach dem anderen zerrissen waren; alsdann stürzte sie tot zur Erde. Der Ritter baute ihr ein prächtiges Grabmahl. Die Begebenheiten, mögen sie von Wichtigkeit sein oder auch nur alltäglich und geringfügig, sind in diesen Dichtungen immer mit edlem Anstand erzählt. Nicht nur ehrbar ernst, sondern sogar edel ist ihr Charakter. Als in Frankreich die ersten Übersetzungen von der Sammlung des Vuk Stefanović Karadžić379 erschienen, haben die Kritiker dies bemerkt, und untersuchten nun, woher es komme, daß in dieser Poesie, die ganz und gar dem gemeinen Mann angehört, nichts „Pöbelhaftes“ sich vorfinde. Der Baron Ferdinand d’Eckstein380 bemerkt ganz mit Recht, daß die Grobheit in den Städten sich ausbrütet, das Landvolk aber, der ackerbauende Mann sich immer edel ausdrückt. Man könnte hinzufügen, daß die Römer auf diesen Unterschied immer Acht gaben. Die Poesie des Pöbels nannten sie trivial, d.h. marktschreierisch. Frei stand es bei ihnen den Bürgern Volksszenen aufzuführen, in welchen man Landleute und Soldaten auf die Bühne brachte; nie aber durfte eine Stadtposse gespielt werden, sie war streng verboten, und wer in derselben eine Rolle übernahm, der verlor die Bürgerwürde. Die eigentliche Posse und alle mit ihr verwandten Gattungen sind in den Städten ausgemistet worden. Ihr Anfang in Europa gehört den Deutschen zu den Zeiten der Reformation und des Verfalls der ritterlichen Poesie. Einer von Luthers Zeitgenossen, Hans Sachs381, veröffentlichte Spottverse, und schuf diese Gattung von Poesie und das satyrische Lustspiel. Diese Gattung konnte im Slaventum, wo es keine Städte gab, nie aufkommen. Die Satire ist den Slaven nicht im Geringsten eigen, sie besitzen sogar nicht einmal 377 „Opet tvrđa u vjeri“ (wörtlich: „Nochmals standhaft im Glauben“), in: Vuk 1953, I, S. 500. 378 Bei Talvj „Christ und Türkin“, Talvj II, S. 211–212. 379 Elise Voïart (1786–1866): Chants populaires des Serviens, recueillis par Wuk Stéphanowitsch, et traduits d’après Talvj, par Mme Elise Voïart. Bde. 1–2. Paris 1834. 380 Ferdinand d’Eckstein in seinen Aufsätzen: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr. 2, S. 243–269 und II, Nr. 6, S. 373–410. 381 Hans Sachs (1494–1576); verfaßte mehr als 4000 Meistergesänge, ferner Schwänke und Fastnachttsspiele, Komödien und Tragödien; Hans Sachs ist eine der Hauptfiguren in Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“; vgl. Wilhelm Richard Berger: Hans Sachs. Schuhmacher und Poet. Frankfurt am Main 1994.

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jenen Urstoss derselben, den man bei den Völkern des Westens Witz nennt, und welcher immer etwas Gehässiges und Beißendes in sich enthält. In seiner Entwicklung erzeugt dieser Witz die Satire und das Lustspiel, beim Verfall aber die Verzerrung, die Karikatur. Im Gegensatz dazu strebt die wahrhafte Volkspoesie, die sogenannte gemeine, nach Erhabenheit; und wenn sie etwa abweicht von diesem Ziel, wenn sie fällt, sich durch Übertreibung versündigt, wird sie zuweilen sinnwidrig, niemals aber lächerlich. Diese Feststellung ist für die slavischen Poesie von grundsätzlicher Bedeutung. Sogar in den fröhlichen Liedern und noch mehr in den politischen Gesängen der Tschechen kann man kein einziges frivoles Stichwort finden. Die herzliche Fröhlichkeit könnte wohl ein anmutiges Lustspiel erzeugen, nie aber sich ins Satirische verirren. Die Satire bezeichnet übrigens immer das Zeitalter des Verfalls der Dichtung, zum Glück für die slavischen Länder ist sie in ihnen noch nicht ausgebrütet.382 Zwischen den romanesken Gedichten, der Liederpoesie oder den sogenannten Frauenliedern [ženske pjesme], über die uns noch zu sprechen übrigbleibt, befindet sich eine vermittelnde Gattung, die man phantastisch nennen könnte, weil derselben ein gewisses wunderbares Element zum Grunde liegt. Dieses Wunderbare tritt hier unter der Gestalt eines phantastischen Wesens, der Vila, auf. Anfänglich kam diese Ausgeburt allem Anschein nach von den Fremden. Die Vila ist etwas den Genien, Gnomen, Sylphen Ähnliches, sie vereint in sich die Eigenschaften aller dieser Phantasiegeschöpfe. Die Dichter stellen sie immer als eine außerordentlich schöne Jungfrau dar. Sie erhebt sich in den Lüften, jagt den Wolken nach. Gefahrlich ist’s, ihr zu begegnen, und besonders ihre Spiele zu stören. Zuweilen gibt sie dem Reisenden guten Rat, häufiger jedoch täuscht sie ihn lieber. Wie die ganze Mythologie der Slaven weder Anfang noch Ende hat, so ist es auch unbekannt, woher dieses Wesen gekommen, und welchen Zweck es gehabt. In der poetischen Maschinerie wirkt diese Springfeder sehr einfach und kann die Kräfte nicht vertreten, welche die Mythologie der germanischen und keltischen Völker darbietet. Wir erblicken sie in sehr alten, noch dem Heldenzeitalter der Nemanjiden angehörenden Dichtungen, in der Legende von der Gründung der Stadt Skadar („Zidanje Skadra“). Der König Vukašin beschloß mit seinen Brüdern eine Feste zu bauen, aber die herbeigeführten Handwerker arbeiteten drei Jahre vergeblich, denn immer 382 Mickiewicz kannte offensichtlicht nicht die Komödien des kroatischen Dichters Marin Držić (1508–1567) – vgl.: Leksikon Marina Držića. Hrsg. Sonja Martinović. Zagreb 2009; ferner die Komödien des serbischen Dichters Jovan Sterija Popović (1806–1856); schließlich die Werke von Nikolaj V. Gogol’ (1809–1852), mit dem er 1836 in Paris Kontakt hatte; vgl. dazu H.  Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 48.

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wichen die erhobenen Mauern auseinander, oder versanken in die Tiefe. Endlich zeigt sich dem König die Vila und kündigt an, daß die Festung niemals fertig würde, wenn er nicht zwei Geschwister, genannt Stoja und Stojana, fände. Als die Nachsuchungen in dieser Hinsicht zu Nichts geführt, erklärt wiederum die Vila des Waldes dem Vukašin, daß er umsonst Arbeit und Geld verschwende, wenn er ihr nicht willfahrend, in die Wand der Feste ein Weib seiner Familie lebendig vermaure. Die Gattinnen der drei herrschenden Brüder trugen, nach der Sitte Homerischer Zeiten, den Männern das Essen an den Fluß Bojana, wo diese die Arbeiter beaufsichtigten. Die Vila gebot diejenige zu opfern, welche morgen zuerst mit dem Frühstück käme. Vukašin benachrichtigt hiervon die Brüder, er beratschlagt mit ihnen, und alle drei stimmen dafür, sich dem Schicksal zu unterwerfen, und geloben einander, davon zu schweigen. Aber der König selbst verrät das Geheimnis zuerst, er warnt die Frau, nicht aus dem Hause zu gehen. Der zweite Bruder macht es ebenso; nur der Jüngste hielt Wort und sagte der seinigen nichts. Den anderen Tag stand die Sonne schon hoch, die beiden älteren Schwägerinnen beschäftigten sich mit etwas Anderem und trafen keine Anstalt, mit dem Essen an den Fluß zu gehen; die dritte hatte desgleichen Ursache zum Bleiben, denn sie wartete ein Kindlein in der Wiege, das nicht längst geboren. Ihre alte Mutter wollte für sie gehen, aber die in ihrer Pflichterfüllung eifrige Gattin sprach: […] „Седи, вели, наша стара мајко, те ти њијај чедо у колевци! Да ја носим господскога ручка; од бога је велика греота, а од људи зазор и срамота, код три снае да ти носиш ручак.“

[…] „Ruhig bleibe sitzen, meine Mutter! Schaukle mir das Kindlein in der Wiege, Daß ich selbst das Mahl den Herren bringe; War es doch vor Gott gar große Sünde, Und vor allen Leuten Schimpf und Schande, Wenn statt unsrer Dreie du es brächtest.“

Als der jüngste Bruder seine Frau ankommen sah, stürzte er ihr weinend entgegen, umarmte und küßte sie wehmütig klagend. Doch Vukašin ließ ihn nicht lange trauen, sondern nahm die Schwägerin bei der Hand, führte sie dem Maurermeister zu und bedeutete ihm, was er zu tun habe. Der Meister rief sogleich die Handwerker herbei, die sich frisch an die Arbeit machten. Lächelnd sah die Unglückliche dem Treiben zu, nicht wissend, was der Scherz zu bedeuten habe: doch bald ergriff sie Grauen. Die Mauer ging schon bis an ihre Knie; entsetzt rief sie den Mann zur Hilfe, dieser aber lief davon, ohne sich umzusehen. Man mauerte weiter, und die Steine umschlossen sie schon bis über die Hüften; in Verzweiflung flehte sie um Mitleid zum König, doch dieser und alle liefen fort, sich die Ohren zuhaltend. Da wandte sie sich an den Meister:

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Teil I […] „Богом брате, Раде неимаре, остави ми прозор на дојкама, истури ми моје б’јеле дојке, каде дође мој нејаки Јово,: каде дође, да подоји дојке!“

[…] „Du, in Gott mein Bruder, lieber Meister! Laß ein Fensterlein an meiner Brust mir, Laß hinaus die weiße Brust mich halten, Wenn mein Säugling kommt, das Kind Johannes, Wenn er kommt, daß ich ihm Nahrung reiche!“

Der Meister erbarmte sich, und ließ ihr ein Fensterchen an der Brust: […] Опет, тужна, Рада дозивала: „Богом брате, Раде неимаре, остави ми прозор на очима: да ја гледам ка бијелу двору кад ће мене Јова доносити и ка двору опет односити.“383

[…] Und noch einmal flehte sie zum Meister: „Ich beschwöre dich, in Gott mein Bruder; Laß ein Fensterlein mir an den Augen, Daß ich schau nach meinem weißen Hofe, Wenn sie mir das Kind Johannes bringen, Und wenn man nach Haus ihn wieder träget!“384

Auch diese Bitte erfüllte der Meister. Nach der Sage lebte sie ein ganzes Jahr, durch ein Wunder erhalten, und verwandelte sich nachher in einen Stein, aus dem noch heute zwei Quellen, die eine von Tränen, die andere von Milch, sickern. Es ist dies die slavische Niobe. Die Erzählung scheint jedoch tatarischen Ursprungs zu sein, denn der Gedanke, Leute einzumauern, ist im Widerspruch mit den Sitten der Slaven, und erinnert an den gewöhnlichen Brauch der Mongolen. Ein zweites phantastisches Gedicht voller Anmut erzählt die Erscheinung eines Knaben nach dem Tod. Eine Mutter hatte neun hübsche Knaben, das zehnte Kind war eine Tochter, die schönste unter den Geschwistern, mit Namen Jelica. Die Mutter war Witwe, und erzog ihre Kinder bis zu der Zeit, wo die Söhne heiraten und die Tochter sich vermählen konnte. Drei Freier kamen und warben um ihre Hand: der eine war ein Ban, der andere Woiwode, und der dritte ein naher Nachbar. Die Mutter hätte den Letzten am liebsten zum Eidam gehabt, Jelica neigte sich dem Woiwoden zu, die Brüder aber waren für den überseeischen Aga gestimmt.

383 „Zidanje Skadra“ (Die Erbauung Skadars [Skutari, heute Shkodër in Albanien]), Vuk, II, S. 119, 122–123. 384 Bei Talvj „Erbauung Skadar’s“, Talvj I, S. 78–86.

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20. Vorlesung (9. März 1841) […] „Ја ти пођи, наша мила сејо, Ја ти пођи с преко мора бану, Ми ћемо те често походити: У години свакога мјесеца, У мјесецу сваке неђељице.“

[…] „Gehe nur, du unsre liebe Schwester, Geh nur mit dem Bane überm Meere! Geh nur, oft besuchen dich die Brüder, Kommen zu dir jeden Mond im Jahre, Kommen zu dir jede Woch im Monde!“

Das Mädchen gab den Bitten und Versprechungen nach, sie ging mit dem Aga übers Meer. Doch es verstrich ein Jahr, ein zweites und ein drittes, keiner von den Brüdern ließ sich blicken; alle waren an der Pest gestorben, die einzige Mutter blieb verschont als arme verwaiste Greisin. Jelica weinte Tag und Nacht betend und stöhnend: […] „Мили Боже, чуда великога! Што сам врло браћи згријешила, Те ме браћа походити не ће?“ Њу ми коре млоге јетрвице: Кучко једна, наша јетрвице! „Ти си врло браћи омрзнула, Те те браћа походити не ће.“

[…] „Lieber Himmel, welch ein großes Wunder! Wie hab ich an ihnen mich versündigt, Daß die Brüder nimmer zu mir kommen!“ Und es höhnten sie die Schwägerinnen: „Du Verworfene! Deine Brüder müssen Dich verachten, daß sie nimmer kommen!“

Gott im Himmel erbarmte sich ihrer und befahl zweien Engeln: […] „Ид’те доље, два моја анђела, До бијела гроба Јованова, Јованова, брата најмлађега, Вашијем га духом заданите, Од гроба му коња начините, Од земљице мијес’те колаче, Од покрова режите дарове; Спремите га сестри у походе.“

[…] „Geht hinunter, meine beiden Engel! Zu dem weißen Grabe des Johannes, Des Johannes, ihres jüngsten Bruders. Haucht den Knaben an mit eurem Geiste: Aus dem weißen Grabstein macht ein Roß ihm, Und ein Brot bereitet ihm aus Erde, Aber aus dem Leichentuch Geschenke; Rüstet ihn, daß er zur Schwester gehe!“

Die Engel vollführen den Befehl, der Jüngling wird durch ein Wunder erweckt, und nachdem er den Befehl erhalten, nicht über einige Tage zu weilen, setzt er sich zu Roß und reist nach der Wohnung des Aga. Die Schwester, ihn von weitem erblickend, eilt heraus, den Bruder zu bewillkommnen, sie weint vor Freuden, hält ihm die lange Vergessenheit vor, und inmitten des Schluchzens und der Umarmungen fragt sie ihn mit einem Mal: „Што си тако, брате, потавњео Баш кан’ да си под земљицом био?“

„Sag, warum bist du so grau geworden, Grad als wär’st im Grabe du gewesen?“

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Teil I

Der Knabe entgegnet ihr: „Шути, сејо, ако Бога знадеш! Мене јесте голема невоља: Док сам осам брата оженио, И дворио осам милих снаха; А како се браћа иженише, Девет б’јелих кућа начинисмо; За то сам ти поцрњео, сејо.“

„Schweige, Schwester, wenn du Gott erkennest, Denn gar großes Leid hat mich befallen; Hab ich die acht Brüder doch vermählet, Aufgewartet den acht Schwägerinnen; Aber als sie all vermählet waren, Da erbauten wir neun weiße Häuser. Sieh, davon bin ich so schwarz geworden!“

Drei Tage blieb der Bruder bei der Schwester, sie freuten sich, und weinten; als er dann abreisen wollte, bestand Jelica durchaus darauf, ihn bis zur Mutter zurückzubegleiten. Umsonst suchte er sie auf alle Weise davon abzubringen. Sie machten sich also zusammen auf die Reise und gelangten in das heimatliche Dorf. Vor diesem stand eine Kirche; Jovan hielt an und sprach zu Jelica: […] „Ти почекај, моја мила сејо, Док ја одем за бијелу цркву: Кад смо средњег брата оженили, Ја сам златан прстен изгубио, Да потражим, моја мила сејо.“385

[…] „Warte hier ein wenig, liebe Schwester, Bis ich nach der weißen Kirche gehe; Als den mittlern Bruder wir vermählten, Hab ich dort den goldnen Ring verloren, Laß mich suchen, laß mich, meine Schwester!“386

Er entfernte sich und verschwand. Jelica konnte ihn nicht zurück erwarten, sie ging seiner Spur nach, und erblickte auf dem Friedhof neun Gräber; an einem derselben war die Erde frisch umgewühlt, und aus dem Grabe ließ sich ein schneidender Wehton vernehmen. Sie eilt nun ins Dorf, kommt an die Wohnung der Mutter und hört in derselben den traurigen Ruf des Kuckucks. Nicht der graue Kuckuck war’s, fügt der Dichter hinzu, sondern die verwirrte greise Mutter, die ihre Kinder beweinte. Sie erkannte die Tochter nicht, und meinte, die Pest sei wieder an der Schwelle. Die Slaven stellten sich nämlich die Pest als eine weibliche Gestalt vor, die unter verschiedenem Vorwand sich in die Häuser einlädt, und, einmal hineingeschlüpft, alles tötet. Endlich reißt Jelica die Mutter aus dem Irrtum, sie stürzen sich in die Arme und sinken tot zur Erde. Es sollte uns hier auffallen, daß die Slaven der christlichen Religion entnommene Vorstellungen in ihre Poesie einführen und den eigenen Aberglauben an die Vampire ganz vermeiden; ebenso wie die Dichtung der Kelten nicht häufig den Glauben an das doppelte Gesicht berührt, welches doch bei ihnen in den 385 „Braća i sestra“ (Die Brüder und die Schwester), Vuk, II, S. 41. 386 Bei Talvj „Jeliza und ihre Brüder“, Talvj I, S. 295–299.

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Erzählungen des gemeinen Mannes eine große Rolle spielt. Möglich, daß jenes Grausen, welches solche Dinge verursachen, die Dichter abschreckt, sich damit zu befassen, und daß übrigens diese Art des Wunderbaren zu der sehr plastischen Form der slavischen Dichtung nicht paßt. Sie ist daher hier auch gänzlich ausgeschlossen; mit Ausnahme der Vila, die nichts Grausenhaftes, nichts weder etwa sehr Erhabenes, noch Tiefes an sich hat, tritt keine übernatürliche Erscheinung hier auf; die upiory gehören ganz zu den Fabeln oder den Sagen des Volks. Unlängst, wie schon erwähnt, hat ein tschechischer Schriftsteller387 etliche von diesen Fabeln veröffentlicht, wir werden einige Worte hierüber sprechen, um eine nähere Kenntnis jener abergläubischen Meinungen, die im Slaventum ausgebrütet, und von vielen älteren und neueren Völkerschaften angenommen sind, zu erleichtern. Wir sagten früher, daß der upiór (von den Italienern Vampir genannt, Strix bei den Klassikern) eine zwiefache Seele, ein doppeltes Herz, ein gutes und schlechtes haben soll; dieses satanische Herz wirkt allein nach dem Tode, zuweilen jedoch auch schon im Leben, es ist die Ursache des Unglücks. Der Mensch, der ein satanisches Herz besitzt, soll im 18. oder 20. Lebensjahre schon von seinen Brüdern, den upiory, angefallen werden; er versteht ihre Sprache, die keinem anderen verständlich ist, lernt die Bedeutung ihrer Winke usw. Nun stiehlt er sich aus dem Haus, und vom Mondlicht geführt, trifft er den Ort, wo sie ihren Sabbath halten, nämlich die Beratungen, auf welche Weise die Bevölkerung zu vernichten sei. Den upiór erkennt man an der gelben Gesichtsfarbe und an jenem Augenglanz, welchen der englische Dichter Charles Robert Maturin in „Melmoth the Wanderer“388 im Sinne der Volkserzählungen und Lord Byron389 beschrieben haben. Dem Gedicht zufolge geht ein Bettler durch ein slavisches, von der Pestlust betroffenes Dorf; er spricht in einer Hütte um Almosen an, und bemerkt eine Katze, welche schnurrend alle Winkel des Hauses durchstöbert. Als er sie genau betrachtet, däucht ihm, als hätten ihre Augen Ähnlichkeit mit denen einer ihm bekannten Frau. Er greift daher nach dem Messer, und haut dem Kätzchen eine Pfote ab. Die Katze verschwand sogleich, und die Pest hörte im Dorfe auf; der Bettler aber begegnete nach einiger Zeit der Frau des dortigen

387 Gemeint ist der ukrainische Forscher Ivan M. Vahylevyč (1811–1866); Pseudonym Dalibor; Autor der Abhandlung: „O upjrech i wid’mách“. In: Časopis Českého Musem, 14. Jg. (1840), Bd.. III, S. 231–261; darin befinden sich auch ukrainische Erzählungen über Vampire. Vgl. die 15. Vorlesung (Teil I). 388 Charles Robert Maturin (1782–1824); deutsche Übersetzung: Malmoth der Wanderer. Übersetzt von Friedrich Polakovics. München 1969. 389 Vgl. 15. Vorlesung (Teil I).

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Teil I

Popen mit verbundener Hand, und überzeugte sich so, daß sie es gewesen, die sich in eine Katze verwandelt hatte. Eine Menge ähnlicher Fabeln kreist in den slavischen Ländern umher. Es gibt in denselben weitläufigen Erzählungen, wie die upiory sich unter einander verständigen, wie sie sich gegenseitig helfen, auch zuweilen harten Kampf führen. Gewöhnlich umgeben sie einen Menschen, welcher bestimmt ist, ihr Gefährte zu werden, ziehen ihn zu ihrem Haufen, und führen nicht geheure, grauenhafte Spiele auf, die erst mit dem Hahnschrei enden. Man hat an 50 wunderliche Worte, die vorzugsweise in der Sprache der upioren vorkommen sollen, gesammelt, deren Entstehen übrigens unbekannt ist.390 An eines wollen wir hiebei erinnern, daß die griechischen Dichter neben den Namen der Örter zuweilen die Namen derselben beifügen, wie sie in der Sprache der Götter gebraucht werden; sie berufen sich auf das himmlische Wörterverzeichnis. Man ist nicht darüber einig, was den Anfang zu einer solchen Sage gegeben; nur so viel ist gewiß, daß, wie gesagt, der Glaube an upiory, wenngleich er allgemein in den slavischen Ländern sich erhalten, und vielen Fabeln, die sogar in die Dichtungen des Abendlandes übergingen, den Ursprung gegeben hat, dennoch nicht im Mindesten auf die slavische Dichtung Einfluß äußert; denn dieser Aberglaube erweckt das Gefühl des Entsetzens, und der slavische Stil könnte dabei nicht Herr seiner selbst bleiben. Es bleibt uns einiges Besondere in der idyllischen, oder weil sie fast ausschließlich von Frauen und der Jugend gesungen und gedichtet wird, in den sogenannten Frauenliedern zu erwähnen übrig. Auf keine Weise ist es möglich, sie einer der bekannten Gattungen zuzuteilen. Nach den Einteilungen der Schule wollen einige Schriftsteller die lyrische und lyrisch-epische Dichtung in ihr erkennen.391

390 Quelle nicht ermittelt. 391 Vgl. J.W. Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Bd. 32. München 1962, S. 77–87; Jacob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanovitsch kleine Serbische Grammatik, verdeutscht von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824; Krešimir Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti, op. cit., S. 149–156.

21. Vorlesung (12. März 1841) Bruchstück aus dem Gedicht „Die Hochzeit des Königssohn Marko“ (Ženidba Kraljevića Marka) – Die Frauenlieder (Ženske pjesme) – „Gesang vom Tod der Gattin des HasanAga“ (Hasanagica) – Fürst Miloš Obrenović – Vuks Sänger.

Als wir die Bemerkung machten, daß der slavischen Dichtung das komische und satirische Element392 ganz und gar fremd ist, sagten wir, daß diese Poesie dennoch die herzliche und aufheiternde Fröhlichkeit nicht ausschließt. Zum Beweis kann man eine unterhaltende Szene aus dem Gedicht von der Heirat des Königsohnes Marko anführen. Nachdem Marko die Hand der bulgarischen Prinzessin erhalten, kehrte er mit der Verlobten, wie gewöhnlich unter zahlreichem Gefolge von Freunden und weither zusammen gebetenen Gästen, zurück. Der Pate oder Trauungsvater war der Doge von Venedig; der Brautführer ein Verwandter des Königsohns. Unterwegs hob der Wind zufällig den Schleier der Fürstin; der in der Nähe weilende Doge erblickte ein wunderbar schönes Antlitz, und entbrannte vor Begierde. Aber um die Braut zu verführen, war es zuerst nötig, den Brautführer zu gewinnen. Der Venezianer bietet ihm einen Stiefel voll Dukaten, er bietet ihm einen zweiten und dritten, bis endlich der Erkaufte die ihm anvertraute Jungfrau ins Zelt des Dogen bringt. Der Doge nähert sich, nötigt sie zum Sitzen, und erklärt ihr seine Liebe; die entsetzte Prinzessin stößt ihn zurück, und ruft: […] „Болан куме, дужде од Млетака! Под нам’ ће се земља провалити, А више нас небо проломити […].“

[…] „Armer Pate, Doge von Venedig! Schnell verschlingen würde uns die Erde, Über uns zusamm’ der Himmel stürzen!“

Hierauf antwortet der Doge, der dem Don Juan ähnelt, daß er schon viele Traurings- und sogar Tauftöchter geküßt, und doch stehe die Erde fest unter seinen Füßen, auch sei der Himmel Gott sei Dank noch unversehrt. Die Fürstin sucht sich nun mit Ausflüchten zu helfen, sie gibt vor, die Mutter habe ihr verboten, irgend jemals einen bärtigen Mann zu küssen. Der Doge läßt sogleich den Bader rufen, und den Bart abscheren. Die Verlobte sammelt unbemerkt die Haare in ihr Taschentuch; und um zu erfahren, wo das Zelt ihres Verlobten sei, stellt sie sich besorgt, daß Marko in der Nähe das Gespräch hören könnte. Der Doge beruhigt sie und setzt hinzu: 392 Vgl. die 20. Vorlesung (Teil I).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_022

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Teil I […] „Ено Марка на среди сватова, Ђе је бијел чадор разапео, На чадору јабука од злата, У јабуци два камена драга, Те се види до полу сватова; Већ ти сједи, да се милујемо.“393

[…] In der Gäste Mitte ist der Marko, Wo das weiße Zelt dort aufgeschlagen, Das geziert ist mit dem goldnen Apfel Und der Apfel mit zwei Edelsteinen. Dort siehst du’s auf des Feldes Mitte! Aber setze dich, daß ich dich küsse!“394

Dies brauchte sie nur zu wissen: unter einem Vorwand geht sie für einen Augenblick aus dem Zelt, eilt aber sogleich in ihres Gatten Schutz. Marko nimmt anfänglich diesen unzeitigen Besuch übel auf, doch, nachdem er alles erfahren, begibt er sich zu den treubrüchigen Freunden und fragt nach der Verlobten. Der Venezianer will die ganze Sache in Scherz verwandeln; sagt, er begreife es nicht, daß das Volk, unter welchem er sich befinde, keinen Scherz verstehe. Marko läßt ihn nicht länger reden, er zeigt den Bart vor als Beweis des bösen Plans. Hier schon wird die Sache tragisch, es erfolgt der Tod des Dogen und des Brautführers. Dieses Bruchstück ist eine komische Szene. Die Griechen leiten den Beginn ihres Lustspiels auch von Homer ab, bei welchem sich jener Thersites395 vorfindet, der später für Aristophanes das Muster wurde. Aber diese Szene wird ruhig und ernsthaft erzählt; nie dürfen wir vergessen, daß dies durch den Mund blinder Greise geschieht, die es sich als eine Verletzung ihrer Würde anrechneten, wenn sie einen leichtsinnigen Scherz oder ein zweideutiges Wörtchen wiederholten. Was die Frauenlieder [„ženske pjesme“] betrifft, so sind diese äußerst schwer zu sammeln, weil man sie nur in den Häusern oder während der Spiele der versammelten Jugend singt. In die Öffentlichkeit treten sie nur durch Vermittlung der blinden Frauen, welche diese „weiblichen Lieder“ herumtragen, wie die Greise die Heldengedichte; jedoch ist hierbei zu bemerken, daß, wenn die Greise das Original häufig verbessern, die alten Weiber im Gegenteil meist die serbische Poesie verderben; sie nehmen ihr jenes Aroma, jenes Musikalische des Stils, das ihre Hauptvorzüge ausmacht. Nichts Anmutigeres gibt es, als den Stil dieser Lieder: er ist sogar besser und genauer als derjenige der Heldenlieder. Es ist die höchste Vollkommenheit, zu welcher der slavische Stil sich erheben konnte. Diese Anmut rührt gewiß von der Reinheit der Sitten, von der streng bewahrten Bescheidenheit im Leben dieses Volkes her. Darum wird 393 „Ženidba Marka Kraljevića“ (Die Hochzeit des Königssohns Marko), Vuk, II, S. 327–328. 394 Bei Talvj „Heirat des Königssohnes Marko“ – Talvj I, S. 154–163. 395 Über Thersites, den häßlichen, geschwätzigen, feigen und ungeliebten Helden im Kampf um Troja vgl. „Ilias“ (Zweites Buch, Verse 212–277); vgl. die Komödien von Aristophanes „Die Ritter“, „Die Wolken“.

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die Kunst auch nie dazu gelangen, die jungfräuliche Unschuld der slavischen Volkslieder nachzuahmen, gerade so wie es unmöglich ist, die naiven Bewegungen eines Kindes nachzubilden. Diese Liedchen lassen sich in keine schulgemäße Einteilung bringen. Es ist dies weder eine lyrische noch dramatische Dichtung; es gab keine solche bei den Griechen, kaum findet sich davon eine Spur in einigen Bruchstücken der „Griechischen Anthologie“ (Anthologia Graeca). Es sind dies kleine Gefühlsbilder, und zwar von Gefühlen, die öfters ohne Ursache und Zweck zu sein scheinen. Die Griechen auf Sizilien haben in Folge der Betrachtung ihrer Volkslieder, einen Schritt weiter getan, und eine neue Gattung, bekannt unter dem Namen der Idyllen, geschaffen. Theokrit verlieh ihr den dramatischen Charakter; aber öfters verdarb er sie durch Einführung gar zu künstlicher Zusammenstellungen. Andere große Dichter, wie Moschos und Bion396, hielten sich in derselben vielmehr an die lyrische Form; der reinste Urstoff dieser Gattung blieb jedoch bei den Slaven. Am meisten fesselt die Aufmerksamkeit die Harmonie, d.h. die vollkommene Wahl der Form, die genaue Übereinstimmung des Gefühls mit der Sprache. Denn das Gefühl, durch den gehörigen Ton nicht wiedergegeben, wird zum Nachäffen, gerade wie die verfehlte Bewegung zur Grimasse. Alle Augenblicke widerfährt dieses den germanischen Dichtern des Mittelalters, da im Gegenteil die slavischen von diesem Fehler gänzlich frei sind. Wir wollen hier einige der in Rede stehenden Liedchen anführen, um davon eine Vorstellung zu geben. Zuerst ein Liedchen „Das serbische Mädchen“ betitelt, welches von allen Schriftstellern, die in dieser Poesie sich umgesehen, zu den schönsten gerechnet wird. У Милице дуге трепавице, прекриле јој румен’ јагодице, јагодице и бијело лице. Ја је гледах три године дана; не могох јој очи сагледати, црне очи, ни бијело лице, већ сакупих коло ђевојака, и у колу Милицу ђевојку, — не бих ли јој очи сагледао.

Hat schön Miliza gar lange Brauen, Sie bedecken ihr die roten Wänglein, Roten Wänglein und das weiße Antlitz. Habe sie gesehn drei lange Jahre, Konnt ihr nicht ins schöne Auge schauen, Nicht ins Auge, noch ins weiße Antlitz. Da zum Ringeltanze lud ich Mädchen, Lud zum Tanz Miliza auch, die Jungfrau, Ob ich nicht ins Aug ihr schauen könne?

396 Moschos (2. Jh. v. Chr.) – altgriechischer Grammatiker und bukolischer Dichter. Vgl. August Meineke: Theocriti, Bionis et Moschi carmina. Accedit brevis annotatio critica. Leipzig 1825; Eduard Mörike, Friedrich Notter: Theokritos, Bion und Moschos: Deutsch im Versmaße der Urschrift. Stuttgart 1855; Bion von Smyrna (lebte um das Jahr 100 v. Chr.) – schrieb bukolische Gedichte nach dem Vorbild von Theokrit.

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Teil I Als sie Ringeltänz’ im Grase tanzten, Када коло на трави играше, War es heiter – Plötzlich überzog sichs, бјеше ведро, пак се наоблачи. Daß der Blitz erglänzte durch die Wolken, По облаку зас’јеваше муње, све ђевојке к небу погледаше, Und die Mädchen all gen Himmel schauten. ал’ не гледа Милица ђевојка, Nur Miliza tat es nicht, die Jungfrau, већ преда се у зелену траву. Sah ins grüne Gras, sowie sie pflegte. Ђевојке јој тихо говорише: Flüsternd redeten die andern Mädchen: „Ој Милице, наша другарице, „O Miliza! Freundin und Gespielin! ил’ си луда, ил’ одвише мудра, Bist du überklug, wie? Oder albern? те све гледаш у зелену траву, Daß du stets das grüne Gras bestehest, а не гледаш с нама у облаке, Nicht mit uns auf nach den Wolken blickest, ђе се муње вију по облаку?“ Nach den Wolken, die der Blitz durchАл’ говори Милица ђевојка: schlängelt?“ Ihnen drauf erwiderte Milica: „Нит’ сам луда, нит’ одвише мудра, „Weder bin ich überklug, noch albern; нит’ сам вила — да збијам облаке, Auch die Wila nicht, die Wolken sammelt, већ ђевојка — да гледам преда Bin ein Mädchen, darum seh ich vor се.“397 mich.“398

Man kann einige Bruchstücke ähnlicher Art bei den griechischen Dichtern finden. Hier ist ein zweites Lied: Ђул дјевојка под ђулом заспала, ђул се круни, те дјевојку буди. Дјевојка је ђулу говорила: „А мој ђуле, не круни се на ме! Није мени до штано је теби, већ је мени до моје невоље: млад ме проси, за стара ме дају. Стар је војно трула јаворина; вјетар дува, јаворину љуља; киша иде, јаворина труне. Млад је војно ружа напупила, вјетар дува, ружа се развија; а од кише бива веселија; сунце сија, она руменија“.399

Unter Rosen schläft das Mädchen Rose, Eine Rose fällt und weckt die Rose. Spricht das Mädchen da zur Blume Rose: „Falle nicht auf mich, ach meine Rose! Nicht ist mir der Sinn wie Dir gestellet, Habe nur mein großes Leid im Herzen. Freit ein Jüngling mich – ein Greis erhält mich! Ist ein alter Gatt’ ein fauler Ahorn: Weht der Wind – erschüttert schwankt der Ahorn; Regen fällt, und mehr und mehr verfault er. Junger Gatte, eine Rosenknospe: Weht der Wind – es öffnet sich die Rose; Regen fällt – sie glänzt in freudiger Schöne; Scheint die Sonne – rot und röter strahlt sie.“400

Dieses Lied gehört schon einer anderen Gattung an; es gibt wenige der Art. Die einfachen sind die häufigsten, ähnlich den griechischen, besonders den uralten, wie wir sie in der Anthologia Graeca finden. Zum Beispiel: 397 „Srpska đevojka“ (Serbisches Mädchen) – Vuk, I, S. 453–454. 398 Talvj „Serbische Mädchensitte“, Talvj II, S. 23. 399 „Đevojka se tuži đulu“ (Das Mädchen beklagt sich bei der Rose), Vuk, I, S. 307. 400 Bei Talvj „Alt und jung“ – Talvj II, S. 118.

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21. Vorlesung (12. März 1841) С вечера је киша ударила, у по ноћи поледица пала. Ја се диго да потражим драга, и ја нађо зелену ливаду; на ливади мог драга долама, на долами свилена марама, на марами сребрна тамбура, код тамбуре зелена јабука. Ја размишља мисли свакојаке: ако би му доламу узела, млад је зелен, бојим се озепшће; ако би му мараму узела, мараму сам у милости дала; ако би му тамбуру узела, тамбуру су моја браћа дала. А ја мисли све на једно смисли: загришћу му зелену јабуку, — нека знаде, да сам долазила, да сам моје драго облазила.401

Gestern Abend strömte Regen nieder, In der Nacht war Glatteis drauf gefallen. Und ich ging den Liebsten aufzusuchen. Sieh, da fand ich auf der grünen Wiese, Auf der Wiese meines Liebsten Dolman; Auf dem Dolman lag sein seiden Tüchlein, Drauf von Silber seine Tamburine, Bei der Tamburin ein grüner Apfel. Und ich sann, ein jedes übersinnend: Wenn ich weg des Liebsten Dolman nähme, Fürcht ich, daß der zarte Jung erfröre; Wenn ich weg das seidne Tüchlein nähme, War das Tuch einst meiner Liebe Gabe; Wenn ich weg die Tamburine nähme, Ist sie ein Geschenk von meinen Brüdern. Sann und sann, bis ich das Ein ersonnen: In den grünen Apfel will ich beißen, Will ich beißen, aber nicht ihn essen, Daß er wisse, ich sei da gewesen, Da gewesen, meinen Freund zu suchen.402

Nun noch ein Lied in griechischer Weise: Седи мома у градини, бразду бразди, воду мами — да намами у градину, да залива рано цвеће, рано цвеће: бел босиљак, бел босиљак, жут каранфил. Где браздила, ту заспала: вргла главу у босиљак, вргла руке у каранфил, вргла ноге у водицу, покрила се танком крпом; избила је ситна роса, као летњу препелицу, к’о јесењу лубеницу. Отуд иде лудо младо, лудо младо нежењено, увати се за два коца, па прескочи у градину, па говори лудо младо: „Да л’ да берем киту цвећа?

In dem Garten saß das Mädchen, Grub die Furche für das Wasser, Daß sie’s in den Garten leite, Frühe Blumen zu begießen, Frühe Blumen, gelbe Nelken, Und Basilikum, das weiße. Wo sie grub, sank sie in Schlummer, Legt den Kopf in das Basilikum, Steckt die Hände in die Nelken, Setzt die Füße in das Bächlein, Deckt sich zu mit dünnen Tüchern. Senkt der Tau sich darauf nieder, Wie auf eine Sommerwachtel, Wie auf eine Herbstarbuse. Sieh, da kommt ein junges Fäntchen, Junggeselle war das Fäntchen, Schwingt, sich auf zwei Pfähle stützend, Sich hinüber in den Garten. Und es spricht das junge Fäntchen: „Soll ich einen Strauß mir pflücken?

401 „Žalostiva draga“ (Die fürsorgliche Geliebte), in: Vuk I, S. 372. 402 Bei Talvj „Des Mädchens Zweifel“, Talvj II, S. 138.

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Teil I Да л’ да љубим младу мому? Кита цвећа мал до подне, — млада мома мал до века!“403

Soll das schöne Kind ich küssen? Hab am Strauß ’nen Schatz bis Mittag, An der Jungfrau ewig einen.“404

Wählen wir endlich noch „Liebende Besorgnis“: „Пјевала бих, ал’ не могу сама, драгог ми је забољела глава, пак ће чути, те ће зажалити, и рећи ће да не хајем зањга. А ја хајем, и душицу дајем; куд гођ ходим, на срцу га носим — као мати чедо премалено.“405

„Singen möcht ich, doch ich darfs nicht heute, Denn es schmerzt das liebe Haupt dem Freunde. Hören würd er’s, und im Herzen trauern, Sagen, daß ich nicht um ihn besorgt sei. Doch ich sorg um ihn, und gäb die Seele; Trag ihn auf dem Herzen, wo ich weile, Wie die Mutter ihren kleinsten Liebling.“406

„Nachtigal, sing nicht so frühe“: Славуј-пиле, мори, не пој рано, — еј Недељо, мори, дилберо! — не буди ми господара: сама сам га успавала, сама ћу га и будити: отићи ћу у градину, узабраћу струк босиљка, уд’рићу га по образу: „Устај, аго, устај, драго!“ И он ће се пробудити.407

Nachtigall, sing nicht so frühe! Wecke mir nicht meinen Herren! Selbst hab ich ihn eingeschläfert, Selbst will ich ihn auch erwecken! Will ins Gärtchen draußen gehen, Und Basilienstauden pflücken, Will damit die Wang ihm streicheln, Und der Liebste wird erwachen!408

Das Denkmal: Под Будимом овце пландовале; отисла се ст’јена од Будима, те побила свилоруне овце, и убила два млада овчара: Шећер-Марка и Андрију Злато. Марка жали и отац и мајка,

Dicht bei Buda ruhten Schaf im Schatten, Stürzt ein Stein von Budas Wällen nieder, Tötete viel seidenwoll’ge Schafe, Und erschlug zwei junge Schäferknaben: Mark, den Süßen, und den goldnen Andres. Vater, Mutter um den Marko trauern;

403 „Djevojka je imanje do vijeka“ (Ein Mädchen ist ein ewiges Gut), in: Vuk I, S. 350. 404 Bei Talvj „Zweifel“ – Talvj II, S. 33. 405 „Pjevala bih, al’ ne mogu sama“ (Ich möchte singen, kann es aber nicht allein), in: Vuk I, S. 398. 406 Bei Talvj „Liebende Besorgnis“ – Talvj II, S. 64. 407 „Slavuju, da ne pjeva rano“ (Nachtigal, sing nicht so früh), in: Vuk I, S. 430. 408 Bei Talvj „Nachtigal, sing nicht so frühe“, Talvj II, S. 57.

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21. Vorlesung (12. März 1841) а Андрију ни отац ни мајка, него једна из села дјевојка; жалила га, па је говорила: „Јаој, Андро, моје чисто злато! Ако бих те у пјесму пјевала, пјесма иде од уста до уста, па ће доћи у погана уста. Ако бих те у рукаве везла, рукав ће се одмах издерати, па ће твоје име погинути. Ако бих те у књигу писала, књига иде од руке до руке, па ће доћи у погане руке.“409

Ach, um Andres Vater nicht noch Mutter! Nur allein ein Mädchen aus dem Dorfe Trauerte um ihn, und sprach die Worte: „Weh, Andreas, o mein reines Gold du! Soll ich dich in einem Lied besingen? Ach, von Mund zu Munde geht das Lied ja, Bis es kommt auf ungeweihte Lippen! Soll dein Bild ich in den Ärmel sticken? Ach, der Ärmel wird in Stücken reißen, Und dein Name mit ihm untergehen! Soll ich dich in einem Buch beschreiben? Gehen wird von Hand zu Hand das Büchlein, Bis es kommt in ungeweihte Hände! Darum grab ich in mein Herz dich ein, Dort soll Lieber dir’s am wohlsten sein!“410

Selbstgespräch: Девојка је лице умивала, умивајућ’ лицу беседила: „Да знам, лице, да ће те стар љубит’, ја би ишла у гору зелену, сав би пелен по гори побрала, из њега би воду исцедила, и њом би те свако јутро прала; кад стар љуби, нека му је горко! А да знадем да ће млад љубити, ја би ишла у зелену башчу, сву би ружу по башчи побрала, пак би воду из ње исцедила, и њом би те свако јутро прала; кад млад љуби, нека му мирише, нек мирише, и нек му је драго! Волим с младим по гори одити, нег’ са старим по бијелу двору; волим с младим на камену спати нег’ са старим у меканој свили.“411

Wäscht ihr schönes Angesicht das Mädchen, Und sie spricht, die holden Wangen netzend: „Wüßt ich, daß ein Greis dich küssen würde, Antlitz, ging ich nach dem grünen Walde, Sammelte dort alle Wermutskräuter, Brühte sie und machte draus ein Wasser, Wüsche dich damit jedweden Morgen, Daß der Kuß dem Alten bitter schmecke. Aber wüßt ich, daß ein Jüngling käme, Gehn würd ich in den grünen Garten, Alle Rosen mir im Garten pflücken, Und daraus ein Wasser mir bereiten, Dich damit jedweden Morgen waschen, Daß der Kuß dem Jünglinge wohl dufte, Wohl ihm dufte, und sein Herz erquicke. Lieber ging mit ihm ich ins Gebirge, Als beim Alten ich im Hofe bliebe, Lieber auf dem Felsen mit ihm schlafen, Als auf weicher Seide mit dem Alten.“412

409 „Kako žali djevojka“ (Wie das Mädchen klagt), in: Vuk I, S. 425. 410 Bei Talvj „Irdische Denkmäler“ – Talvj II, S. 77. 411 „Opet djevojka i lice“ (Nochmals das Mädchen und das Antlitz), in: Vuk I, S. 310. 412 Bei Talvj „Selbstgespräch“ – Talvj II, S. 29.

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Teil I

„Des Mädchens Fluch“: Везир Зејна по бостану везла, по бостану и по ђулистану. Мајка Зејну на вечеру звала: „Оди, Зејно, вечер’ вечерати, вечерати шећерли-баклаву!“ Зејна мајци тијо одговара: „Вечерајте, мене не чекајте! Није мени до ваше вечере, већ је мени до моје невоље: данас ми је драги долазио, и велики зулум починио: по башчи ми цвеће почупао, на ђерђефу свилу замрсио. Кун’ га, мајко, обе да кунемо! Тавница му моја недра била! Руке моје – синџир око врата! Уста моја очи му испила!“413

Im Melonengarten stickt schön Smilja, Im Melonengarten unter Nelken, Mutter rief zur Abendmahlzeit Smilja: „Komm, schön Smilja, komm zur Abendmahlzeit!“ Aber sie erwiderte der Mutter: „Speiset immer, harret mein nicht heute! Nicht das Abendmahl liegt mir am Herzen, Habe nur mein großes Leid im Sinne. Heute ist der Liebste mir gekommen, Hat gar großen Schaden angerichtet, Im Geheg die Blumen mir zertreten, An der Arbeit mir verwirrt die Seide. Fluch ihm, Mutter, daß wir Beid’ ihm fluchen: Ein Gefängnis sei dem Freund mein Busen! Meine Arme Ketten seinem Halse! Und mein Mund soll ihm das Aug’ aussaugen!“414

Aus diesen wenigen Liedern kann man sich einen Begriff von der ganzen Gattung machen. Die meisten unter ihnen sind aber höchst einfach; nur das letzte der oben angeführten hat gewissermaßen eine Art komischer Wendung. Zur Reihe der erstem gehört folgendes: Умре Конда једини у мајке. Жао мајци Конду закопати, закопати далеко од двора, већ га носи у зелену башчу, те га копа под жуту неранчу. Свако га је јутро облазила: „Сине Конда, јел’ ти земља тешка, ил’ су тешке даске јаворове?“ Проговара Конда из земљице: „Није мени, мајко, земља тешка, нит’ су тешке даске јаворове, већ су тешке клетве девојачке: кад уздишу, до бога се чује;

Konda starb – er, seiner Mutter Einz’ger! Weint die Mutter; will ihn fern vom Hofe, Fern von ihrem Hofe nicht bestatten, Trägt ihn in des Hauses grünen Garten, Begräbt ihn unter goldne Pomeranzenbäume; Und sie schleicht zu ihm jedweden Morgen. „Sprich Sohn Konda, drückt dich wohl die Erde? Stöhnst du um den Druck der Ahornbretter?“ Horch, da haucht es aus der Tiefe leise: „Nicht die Erd’ ist’s, die mich drückt, o Mutter,

413 „Zejnina kletva“ (Zejnas Fluch), in: Vuk I, S. 404. 414 Bei Talvj „Des Mädchens Fluch“, Talvj II, S.  51. Den Namen des Mädchen „Vezir Zejna“ ersetzt hier Therese A.L. von Jacob durch Smilja.

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21. Vorlesung (12. März 1841) кад закуну, сва се земља тресе; кад заплачу, и богу је жао!“415

Nicht die Ahornbretter meiner Wohnung – Was mich quält, der Schmerz ist’s der Geliebten! Grämen sie sich, so dringts bis zum Himmel; Seufzen sie, so dröhnt die ganze Erde, Weinen sie, so muß es Gott erbarmen.“416

Der Einklang der Darstellung mit dem Inhalt rührt in diesen Liedern daher, daß sie Erzeugnisse der augenblicklichen Begeisterung sind. Diese ganze Poesie ist eine Blüte, die sich auf einmal und in ihrer vollen Kraft entfaltet. Man muß es wissen, auf welche Weise gewöhnlich die Strophen der Art entstehen. Die Burschen und Mädchen sprechen bei gemeinsamen Spaziergängen und Belustigungen in einigen Versen alles aus, was sich bei dem einen oder dem anderen stärker im Gedanken und im Herzen regt. Beim Anblick der schönen Natur, in diesem Augenblick poetischer Rührung, wenn der zivilisierte Mensch einen Bleistift sucht, um die Landschaft abzubilden, oder andere zum Betrachten einlädt; singt sich der Serbe ein Liedchen, und hat er die wahre Dichtung getroffen, da braucht er sie nicht zu wiederholen, denn nach den Gesetzen, welche in der sittlichen Welt ebenso gewiß sind, wie die physischen in der materiellen, wird die wahre Form zu einer ewigen; man behält sie leicht, sie drückt sich in der Seele ab, und es vergißt sie weder derjenige, der sie selbst gebildet, noch die, welche sie gehört. Ebenso wie z.B. in Frankreich ein treffendes Wort, ein witziger Einfall sogleich das ganze Land durchfliegt und überall wiederholt wird, so gelangt in Serbien jedes poetische Bildchen, jeder musikalische Gesang zur Kenntnis aller Menschen, wird zum Gemeingut. Es gibt keinen Menschen, dem nicht im Leben ein Augenblick schöpferischer Begeisterung zu Teil geworden, und aus den Denkmälern solcher Augenblicke, aus den so geschaffenen Strophen entstehen Lieder. Aber diese Gesänge sind nur eine Sammlung und keine Entwicklung von Motiven, etwas, was für die Kunst nicht passen würde. Der Künstler kann und muß oft die Motive entfalten, um nicht in Wiederholung oder handwerksmäßiges Aneinanderleimen zu geraten; hier im Gegenteil sammelt das Volk die ursprunglichen Keime der Dichtung selbst, die Anfangsgründe der Kunst, so zu sagen. Wie uns das slavische Epos darstellt, was die Rhapsoden vor Homer waren, so sehen wir auch in den Liedern der Serben die Geschichte der griechischen idyllischen Dichtung. Die Idee und die Form in dieser Dichtung sind aus einem Guß, eng mit einander verschmolzen. Erst die Kunst beginnt sie später zu trennen und zu entwickeln, und dann erscheint Verschiedenheit des Stils; dieser Stil endlich, 415 „Kletve djevojačke“ (Der Mädchen Flüche), In: Vuk I, S. 291. 416 Bei Talvj „Der Mädchen Flüche“, Talvj II, S. 84.

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Teil I

immer mehr in Gattungen eingeteilt, zersetzt sich gänzlich und geht in Prosa über. Wenn die Rhetorik edle Ausdrücke von unedlen, rhetorische Wendungen von gewöhnlichen, einen erhabenen Stil von einem blumenreichen zu unterscheiden anfängt, dann kann man schon den Beginn der Prosa erkennen. In der slavischen Poesie berühren sich alle Stilarten, es herrscht in ihnen ein Unterschied nach den Gefühlen und Gedanken, die sie ausdrücken, aber es findet sich in der Form selbst kein stark hervortretender Gegensatz. Was würde man z.B. in Frankreich sagen, wenn jemand einem berühmten Tragiker neben den Versen von Racine und Corneille417 eine Strophe von Clément Marot, Marc Antoine Désaugier oder Pierre-Jean Béranger418 in den Mund legte? Ließe sich solche Mischung begreifen? Und bei den Slaven geht dieses an. Ein Bruchstück eines Frauenliedes läßt sich bei ihnen trefflich mit einem Heldengedicht verschmelzen, wenn der Rhythmus derselbe ist. Das Heldengedicht seinerseits verwandelt sich sehr leicht ins Drama. Es reicht hin, Gespräche zu formieren, Abschnitte unter Personen zu verteilen, um aus einem Epos ein gutes Bühnenstück zu bilden. Einer von den jetzigen talentvollen Schriftstellern, Sima Milutinović, hat unlängst ein Trauerspiel419 herausgegeben, das von den Slaven mit Beifall aufgenommen wurde. Dieses Trauerspiel enthält eine Menge Bruchstücke (die natürlich je ein kleines Ganzes bilden) aus dem Gedicht von der Schlacht auf Kosovo. Lazars Worte, die Antworten seiner Frau sind wörtlich angeführt. Der Dichter stimmte selbst sein tragisches Gebilde nach dem Kammerton eines Volksliedes und wußte dem ganzen Stücke neben der Färbung des Altertums einen Hauch von Einfachheit der Volksdichtung zu verleihen. Der Rhythmus der Lieder ist von dem des Epos sehr verschieden. Fast alle griechischen Formen, mit einigen der Sprache wegen nötigen Abänderungen, vom gewöhnlichsten Versmaß an bis zum künstlichen Bau der alkäischen und sapphischen Strophe, findet man in den weiblichen Liedern wieder. Dies Lied erhebt sich auch leicht zum ernsten Ton des Trauerspiels, und das schönste 417 Jean Baptiste Racine (1639–1699); vgl. John Sayer: Jean Racine. Life and legend. Oxford 2006; Pierre Corneille (1606–1684); vgl. Georges Couton: Corneille et la tragédie politique. Paris 1985. 418 Clément Marot (1497–1544) – C.  Marot: Œuvres poétiques completes. Paris 1990–1993, 2 Bde.; Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772–1827) – M.A.  Désaugiers: Chansons et poesies diverses. Paris 1855; Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) – Die Nachtigall mit der Adlersklaue: Bérangers Lieder in deutschen Übersetzungen (1822–1904) von Dietmar Rieger. Tübingen 1993; Französische Chansons: von Béranger bis Barbara; französisch/ deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dietmar Rieger. Stuttgart 1988. 419 Simeon Milutinović (1791–1848) – ТРАГЕДІА ОБИЛИЋЪ матично сочинѣниіе Симеона Милутиновиђа Сарайліе. Leipzig 1837. Vgl. auch Mickiewiczs  16. Vorlesung (Teil III).

21. Vorlesung (12. März 1841)

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Beispiel dieser Gattung ist der Gesang vom Tode der Gattin des Hasan-Aga („Hasanagica“), der erste, den man in Europa kennen gelernt und veröffentlicht hat. Der Abbé Alberto Fortis420 hörte und schrieb ihn französisch nieder, später aber erschienen andere Übersetzungen. Goethe, von der reizenden Einfachheit dieses Gedichtes eingenommen, hat es ins Deutsche übertragen. Merkwürdig, daß Goethe, welcher das Slavische nicht verstand, und den Text nur aus drei Übersetzungen erriet, überall das Falsche derselben erkannte, und von allen die treueste Übersetzung lieferte.421 Es ist ein türkisches Lied; die slavischen Türken, d.h. die Slaven, welche den Islam bekennen, haben ihre Volkssprache nicht vergessen und nicht verlassen, sie singen slavisch: Шта се б’јели у гори зеленој? Ал’ је снијег, ал’ су лабудови? Да је снијег, већ би окопнио; лабудови већ би полетјели. Нит’ је снијег, нит’ су лабудови, него шатор аге Хасан-аге; он болује од љутијех рана. Облази га мати и сестрица, а љубовца од стида не могла.

Was ist Weißes dort am grünen Bergwald? Ist es Schnee wohl, oder sind es Schwäne? Wär es Schnee, er wäre weggeschmolzen, Wären’s Schwäne, wären weggeflogen, Weder ist es Schnee, noch sind es Schwäne, ’s ist das Zelt des Aga Hassan-Aga, Wo er niederliegt an schlimmen Wunden. Ihn besucht die Mutter und die Schwester, Doch vor Scham vermag es nicht die Gattin.

Кад ли му је ранам’ боље било, он поручи вјерној љуби својој: „Не чекај ме у двору б’јелому, ни у двору, ни у роду мому!“ Кад кадуна р’јечи разумјела, још је јадна у тој мисли стала јека стаде коња око двора. Тад побјеже Хасанагиница да врат ломи куле низ пенџере; за њом трче дв’је ћере дјевојке: „Врати нам се, мила мајко наша; није ово бабо Хасан-ага,

Als er nun genas von seiner Wunde, Da entbot er seiner treuen Gattin: „Harre meiner nicht am weißen Hofe, Nicht am Hofe und nicht bei den Meinen.“ Als die edle Frau dies Wort vernommen, Blieb erstarrt sie stehn vor großem Leide. Als sie Rosseshufschlag hört am Hofe, Da entflieht des Hassan-Agas Gattin, Will sich aus des Turmes Fenster stürzen; Folgen eilend ihr zwei liebe Töchter. „Kehr zu uns zurück, liebe Mutter, Nicht der Vater ist es, Hassan-Aga,

420 Abate Alberto Fortis: Viaggio in Dalmazia. 2 Bde., Venedig 1774. (Reprint: München 1974). 421 Johann Wolfgang Goethe: KLAGGESANG von der edlen Frauen des Asan Aga, aus dem Morlackischen. In: Johan Wolfgang Goethe: Sämtliche Gedichte. Erster Teil. dtv Gesamtausgabe. Band  1. München 1961, S.  267–269; vgl. auch J.W.  Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Bd. 32. München 1962, S. 77–87. Analyse und Kommentare zu „Hasanagica“ vgl. Milan Ćurčin: Das serbische Volkslied in der deutschen Literatur. Leipzig 1905 (= Diss. Wien). Serbische Übersetzung von Branimir Živojinović: Milan Ćurčin: Srpska narodna pesma u nemačkoj književnosti. Beograd-Pančevo 1987, S. 46–88; ferner Jevto M. Milović: Übertragung slavischer Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß. Leipzig 1939, der J. Kopitars, P. Šafaříks und Vuk S. Karadžićs Übersetzungen für Goethe dokumentiert und analysiert.

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Teil I већ даиџа Пинтеровић беже“. И врати се Хасанагиница, тер се вјеша брату око врата: „Да мој брате, велике срамоте — гдје ме шаље од петеро дјеце!“ Беже мучи, ништа не говори, већ се маша у џепе свионе, и вади јој књигу опрошћења да узимље потпуно вјенчање, да гре с њиме мајци унатраге.

Ist der Beg Pinterowitsch, der Oheim!“ Und es kehret Hassan-Agas Gattin, Hängt sich jammernd um den Hals dem Bruder: „O mein Bruder, o der großen Schande! Von fünf Kindern will er mich vertreiben!“ Schweigt der Beg und redet keine Silbe. Und er greift in seine seidne Tasche, Zieht darauf heraus den Brief der Scheidung, Daß sie frei zur greisen Mutter kehre, Einem anderen sich zu vermählen.

Кад кадуна књигу проучила, два је сина у чело љубила, а дв’је ћере у румена лица; а с малахним у бешици синком од’јелит се никако не могла, већ је братац за руке узео и једва је с синком раставио, тер је меће к себи на коњица; с њоме греде двору бијелому.

Als die edle Frau den Brief durchlesen, Küßt sie auf die Stirn die beiden Söhne, Auf die roten Wangen beide Töchter; Aber von dem Kleinsten in der Wiege, Nicht vermag sie’s, sich von ihm zu trennen. Bei der Hand nimmt sie der Bruder endlich, Reißt sie mühsam los vom zarten Knaben, Reitet mit ihr nach dem weißen Hofe.

У роду је мало вр’јеме стала, мало вр’јеме, ни недјељу дана; добра када и од рода добра, добру каду просе са свих страна, а највише имоски кадија. Кадуна се брату своме моли: „Ај тако те не желила, брацо, немој мене дават ни за кога, да не пуца јадно срце моје гледајући сиротице своје“. Али беже ништа не хајаше, већ њу даје имоском кадији.

Kurze Zeit nur weilt sie bei den ihren, Kurze Zeit, noch keiner Woche Tage, Ward die edle Frau von edlem Stamme, Ward die Frau begehrt von allen Seiten, Auch vom großen Kadi von Imoschki. Bittet sehr die edle Frau den Bruder: „Ich beschwöre dich bei deinem Leben, Wolle keinem andern mich vermählen, Daß mir nicht das Herz, das arme, breche, Wenn ich meine Waisen wiedersehe!“ Doch der Bruder achtet nicht ihr Flehen, Sagt sie zu dem Kadi von Imoschki.

Још кадуна брату се мољаше да напише листак б’јеле књиге, да је шаље имоском кадији: „Дјевојка те л’јепо поздрављаше а у књизи л’јепо те мољаше: кад покупиш господу сватове и кад пођеш њеном б’јелу двору, дуг покривач носи на дјевојку — када буде аги мимо двора да не види сиротице своје“.

Und noch einmal bat die Frau den Bruder, Daß ein weißes Briefblatt er beschreibe Und es senden solle an den Kadi: „Es begrüßt die junge Frau dich freundlich, Bittet dich mit diesem Briefe bestens, Wenn du edle Hochzeitsgäste ladest Und nach ihrem weißen Hofe ziehest, Woll ihr einen langen Schleier bringen, Daß sie drin ihr Angesicht verhülle, Wenn sie vor des Aga Hof vorbeikommt, Daß sie ihre Waisen nicht mehr schaue!“

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21. Vorlesung (12. März 1841) Кад кадији б’јела књига дође, господу је свате покупио; свате купи, греде по дјевојку. Добро свати дошли до дјевојке, и здраво се повратили с њоме;

Als das weiße Schreiben kam zu Kadi, Sammelte er edle Hochzeitsleute, Zog mit ihnen, heim die Braut zu führen. Glücklich kamen sie zu ihrer Wohnung, Glücklich kehrten sie mit ihr zurücke.

а кад били аги мимо двора, дв’је је ћерце с пенџера гледаху, а два сина пред њу исхођаху, тере својој мајци говораху:

Aber als sie vor des Aga Hofe Sahn die beiden Töchter aus dem Fenster, Vor der Türe traten beide Söhne, Und sie riefen an die Liebe Mutter:

„Сврати нам се, мила мајко наша, да ми тебе ужинати дамо“. Кад то чула Хасанагиница, старјешини свата говорила: „Богом брате, свата старјешина, устави ми коње уза двора, да дарујем сиротице моје“.

„Kehr zu uns zurück, liebe Mutter, Daß das Mittagsmahl wir mit dir teilen!“ Als dies hörte Hassan-Agas Gattin, Sprach zum Ältesten sie des Hochzeitszuges: „Ältester, o du in Gott mein Bruder! Laß die Rosse hier am Hofe halten, Daß ich meine Waisen noch beschenke!“

Уставише коње уза двора. Своју дјецу л’јепо даровала: сваком сину ноже позлаћене, свакој ћери чоху до пољане; а малому у бешици синку, њему шаље убошке хаљине.

Und die Rosse hielten vor dem Hofe, Schön beschenkte sie die lieben Kinder, Gab den Söhnen goldne Lederstrümpchen, Gab den Töchtern ungeschnittnes Laken, Und dem kleinsten Knäblein in der Wiege Sendet sie auch ein seidnes Kleidchen.

А то гледа јунак Хасан-ага, пак дозивље до два сина своја: „Ход’те амо, сиротице моје, кад се неће смиловати на вас мајка ваша срца каменога“. Кад то чула Хасанагиница, б’јелим лицем у земљу удрила; упут се је с душом раставила од жалости, гледајућ сироте.422

Als der Held da sah dies, Hassan-Aga, Rief er zu sich seine beiden Söhne: „Kommt zu mir, ihr, meine armen Waisen, Nicht Erbarmen wird sie mit euch fühlen, Denn von Stein ein Herz hat eure Mutter!“ Als dies Hassan-Agas Gattin hörte, Schlug zu Boden sie mit weißem Antlitz, Und erplötzlich riß sich los die Seele Bei dem Schmerzensanblick ihrer Waisen.423

Man findet viele ähnliche Gedichte unter den Schöpfungen der moslimischen Dichter, aber sie sind im Allgemeinen der Form nach nicht so vollkommen, wenn sie auch mehr Kraft und mehr tragischen Geist besitzen. Obgleich die Moslime die Sprache und alle Formen des slavischen Stils gebrauchen, so 422 „Hasanagica“, Vuk III, S. 538–543. 423 Bei Talvj „Hasan-Agas Gattin“, Talvj II, S. 271–274.

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Teil I

lassen sie sich in der Poesie immer von der Neigung zum Übertreiben hinreißen, welche den orientalischen Völkern eigentümlich, und den albanesischen und bosnischen Slaven durch den Koran, wie es scheint, mitgeteilt worden ist. Hier unterdrückt gewöhnlich die Form den Gedanken, und die Gedanken dringen oft mit Gewalt durch die Form hindurch. So z.B. schaut der Dichter, indem er die Macht der Augen einer berühmten Schönheit beschreiben will, auf die Stadt Travnik und ruft: Што се оно Травник замаглио?! Или гори, ил’ га куга мори? Ил’ га Јања очим’ запалила? — Нити гори, нит’ га куга мори, већ га Јања очим’ запалила, изгореше два нова дућана, два дућана, и нова механа, и мешћема, гдје кадија суди.424

„Was so schwarz umhüllet stehet Trawnik? Brennt es drinnen? Rast die Pest in Trawnik? Oder ist’s von Janja’s Aug entzündet? Nein es brennt nicht, nicht die Pest rast drinnen; Doch entzündet ist’s von Janjas Augen. Abgebrannt sind schon zwei neue Läden, Ja, zwei Läden und die neue Schenke, Das Gericht auch, wo der Kadi Recht spricht.“425

Man möchte fast glauben, daß es ein Scherzgedicht ist, und doch hat es der moslimische Dichter ganz ernstlich gemeint. An einer anderen Stelle klagt die Mutter über ein Mädchen, welches die Ruhe ihrer Söhne vernichtet, und droht dieselbe in einem Turm einzuschließen. Das Mädchen antwortet kaltblütig, daß es mit seinem Blick die Mauern durchbohren, die eisernen Türen durchbrechen und den Turm umstürzen würde.426 Deutlich sieht man hier den orientalischen Charakter. Alle diese Gedichte sind der Sammlung von Vuk Stefanowić Karadžić entnommen, welcher schon vier Bände herausgegeben hat, und wenigstens noch einen fünften und sechsten verspricht. Unlängst erst hat man begonnen, an solche Sammlungen zu denken. Am schwersten ist es, die Frauenlieder zu sammeln, denn wie gesagt, die alten Weiber verderben ihren Text und die jüngern wollen nicht singen; wenn man sie darum bittet, antworten sie zornig, sie seien keine blinden alten Weiber. Das einzige Mittel ist, sich deshalb an die Kinder zu wenden; das herangelockte Kind singt, und die Mädchen verbessern dann jeden Fehler; so erhält man zuweilen das vollständige Lied. Die romanesken Lieder fahren noch fort bei den Slaven zu blühen und sich zu verzweigen; der Geist, welcher diese Dichtungsart geschaffen, lebt noch in 424 „Travnik zapaljen očima“ (Travnik durch Augen entzündet), in: Vuk I, S. 507. 425 Bei Talvj „ Travnik von Augen entzündet“, Talvj II, S. 217. 426 „Oči sokolove i đavolove“, Vuk  I, S.  391; bei Talvj „Fakenaugen, Teufelsaugen“, Talvj II, S. 218.

21. Vorlesung (12. März 1841)

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seiner ganzen Kraft, der Geist des Epos hingegen scheint sehr geschwächt zu sein. Vuk Stefanović, wie wir angedeutet, verdankt das Erworbene meistenteils einem Rhapsoden427, den er im Elend fand. Dieser sonderbare Mensch, zuerst reisender Kaufmann, später Räuber im Gebirge, und dennoch – nach der Aussage von Vuk selbst – bieder und ehrlich, fristete endlich sein Leben dadurch, daß er auf dem Rücken Holz in die Stadt trug. Herr Karadžić nahm ihn zu sich, gab ihm zu essen und zu trinken und später ein bequemes Obdach in einem Kloster, wo er etwa hundert Bruchstücke von Heldengedichten und romanesken Liedern diktierte, und viele Lieder verbesserte, denn er sang nicht minder gut als er vortrug. Unglücklicherweise jedoch zerstörte die Revolution, welche eben ausbrach, diese Quelle, der Rhapsode verließ das Kloster, ergriff die Waffen und fiel im Kampfe gegen die Türken. Später bemühte sich derselbe Vuk Stefanović, als er am Hofe des unlängst vom Throne gestürzten Fürsten Miloš Obrenović weilte, alle im Lande befindlichen Rhapsodiensänger zu versammeln. Miloš, der kaum seinen Namen zu unterschreiben versteht, war ein großer Liebhaber der Dichtkunst. Vuk Stefanović hörte von einem solchen Sänger mit Namen Milija428, besonders berühmt wegen seines Vortrages des oben angeführten Gedichtes von der „Hochzeit des Maksim Crnojević“; er bat den Fürsten ihn ausfindig zu machen. Der Fürst befahl, den Dichter lebendig oder tot zu bringen. Man fand und brachte ihn, aber die von ihm gehegten Hoffnungen wurden getäuscht. Der Sänger war erstens sehr alt, fürs Zweite ganz zerfetzt von Jatagan- und Säbelhieben während seines langen Dienstes in einer Räuberbande; er wollte nicht singen, man mußte ihn erst mit Branntwein betrunken machen; dann trug er nicht vor, sondern sang, und wenn er ein Gedicht anfing, durfte man ihn nicht unterbrechen, weil er sonst durch keine Bitten mehr sich bewegen ließ, es zu beendigen. Die Stenographie war dort nicht bekannt, deshalb mußte man, um alle Verse in dem Maße aufzufassen, wie sie aus dem Munde des Sängers kamen, ihn mit mehreren Schreibern umringen. Die zivilisierten Leute aus der Umgebung des Fürsten, solche, die im russischen Heere gedient, und besonders alle, welche auf deutschen Schulen gewesen, betrachteten dieses mit Verwunderung; sie konnten nicht begreifen, wozu das mühevolle Sammeln dienen sollte, und verlachten daher den Sammler und seinen Dichter. Zuletzt überredete man den Greis, Herr Vuk habe ihn zum Besten, und tue alles bloß des Spaßes halber. Der beleidigte Milija verließ den fürstlichen Hof, und entlief, so daß man ihn nicht mehr finden konnte. 427 Tešan Podrugović; vgl. das Ende der 16. Vorlesung (Teil I). 428 Starac Milija, der alte Milija (gestorben um 1822); vgl. die Edition – Starac Milija: Pjesme. Hrsg. Adnan Čirgić, Ljubomir Đurković, Aleksandar Radoman. Podgorica 2012.

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Teil I

Ein dritter sehr angesehener Sänger, welcher mit vielen trefflichen Gesängen die Sammlung bereichert hat, war ein Räuber von Handwerk, und wurde von Herrn Vuk im Kerker gefunden, wo er wegen des Mordes eines Weibes gefangen saß. – Die Tat beging er deshalb, weil die Frau, wie er sagte, eine Hexe gewesen, die ihm sein Kind bezaubert habe. Dies geschah im Jahre 1820.429 Die Sammlung Vuks wird wenigstens das Andenken des poetischen Zustandes jener Länder bewahren, denn wer kann wissen, was mit ihnen selbst geschehen wird. Zum Glück für sie haben die Türken das Familienleben nicht angetastet, die österreichische Regierung unternimmt auch keine systematischen Maßregeln um ihnen die Nationalität zu entreißen. Österreich bekümmert sich selbst so wenig um die dortigen Slaven, daß in einem Buche, welches zum Schulgebrauche vor einigen Jahren in Wien erschien, die Montenegriner, d.h. die Crnogorci, wie sie sich selbst nennen, zum tatarischen Stamme gerechnet werden. Aber als zur Zeit Napoleons diese Gegenden durch französische Truppen eingenommen wurden, drohte schon ein schwerer Schlag dem Dasein jener Völker, welche friedlich nach ihrer alten Sitte und Poesie lebten. Die französischen Behörden wollten dort gleich nach eignem Muster Gendarmerie, Präfekturen und Bistümer einfuhren, ohne zu berücksichtigen, ob dieses mit dem sittlichen und geistigen Zustande des Volkes zusammenstimmte. Man reizte dadurch die Einwohner, besonders die verständigeren Leute, welche die Folgen einer so raschen Reform befürchteten. Daher kam es, daß, während die Türken und Österreicher aus den angeworbenen Montenegrinern ganze Regimenter bilden konnten, die Franzosen nur einen unbeugsamen Trotz unter ihnen fanden. Endlich tat der Marschall Auguste Fréderic Louis Viesse de Marmont430, welcher dort die Heere befehligte, den Vorschlag, überall Wege zu bauen, und selbst durchs Gebiet von Montenegro eine Heerstraße zu führen. Die Montenegriner zeigten jedoch soviel Verstand, daß sie dieses nicht zu erlauben, und bis heute gibt’s in ihrem Land weder Wege noch Stege. Es ist gewiß niemand der Meinung, daß es auf ewig so bleiben solle, und daß dort nicht manches sich ändern müsse. Allein selbst die reisenden Deutschen, welche jene Gegenden besticht und lange über ihren sittlichen, literarischen und politischen Auftand nachgedacht haben, tragen kein Bedenken anzuerkennen, daß hier der fremde Einfluß durchaus zu verhüten sei. Sie sagen, daß, wenn die Montenegriner und die Serben fremden Spekulanten Eingang gewährten, dasselbe mit ihnen geschehen würde, was mit den 429 Gemeint ist Stojan, ein Hajduke aus der Herzegovina; Lebensdaten unbekannt; vgl. Vladan Nedić: Vukovi pjevači. Beograd 1990. 430 Auguste Fréderic Louis Viesse de Marmont (1774–1852); von 1809–1811 Generalgouverneur der „Illyrischen Provinzen“ (Hauptstadt Laibach – Ljubljana).

21. Vorlesung (12. März 1841)

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Galliern geschah, welche durch die Römer aus ihrem eignen Land verstoßen wurden, und daß diese Völker vielmehr aus ihrer Religion, aus ihrem Glauben ihre weitere Bildung entwickeln und zugleich begreifen lernen sollten, daß man dem Vaterland manchmal ohne Sold, den sie stets fordern, dienen, den Lastern der Habsucht und des Neides entsagen, bei sich irgendeine feste Regierung einführen, jedoch gar nicht mit der Einladung und Aufnahme fremder Lehrer sich beeilen müsse, welche mit den Wissenschaften und Künsten auch den Untergang bringen könnten. So ist die Meinung der Deutschen, welche im Allgemeinen nicht sehr freundschaftlich für den slavischen Stamm gesinnt sind. Der Schriftsteller, aus dem wir dies Urteil geschöpft, fügt noch hinzu, daß kein Volk sich auf andere Weise zu einer höheren Stufe der Macht erheben kann, als durch die Vermehrung der Kraft in sich selbst.431

431 Geimeint ist Vuk Stefanović Karadžićs anonym erschienener Reisebricht „Montenegro und die Montenegriner“. Stuttgart-Tübingen 1837.

22. Vorlesung (19. März 1841) Übersetzungen der serbischen Lieder – Zum Erbrecht bei den Slaven – Die Städte der alten Rus’ – Kiev – Novgorod – Polen, die Rus’ und Tschechien im XII. Jahrhundert – Anfänge Preußens – Der Orden der Kreuzritter; Kämpfe, Macht und Niedergang – Die Litauer – Die Invasion der Tataren – Polen und die Tataren.

Wer die slavischen Sprachen nicht versteht und begierig wäre, die Dichtungen, aus denen wir Auszüge gegeben haben, im Ganzen kennen zu lernen, kann sie in einer englischen Übersetzung432 lesen, und besser noch in einer deutschen, herausgegeben durch Fräulein Therese Albertine Luise von Jakob unter dem Namen Talvj.433 Diese Übersetzung begreift nicht die ganze Sammlung; ist aber sehr treu. In Frankreich hat ein allgemein gekannter Schriftsteller434 in den Jahren 1825 und 1827 eine anonyme Sammlung slavischer Gedichte veröffentlicht, welche in den nördlichen Ländern großes Aufsehen erregte. Der Verfasser behauptete, daß er das Illyrische vollkommen verstehe, er gab vor, daß er jene Gegenden besucht habe und in seiner Arbeit von einem berühmten slavischen Rhapsoden435 unterstützt worden sei, er fügte sogar dessen in Kupfer gestockene Abbildung seinem Werke hinzu. Diese Sammlung schien außer der Ballade: 432 Narodne Srpske Pjesme. Serbian Popular Poetry. Translated by Sir John Browring. London 1827. Vgl. Celia Hawkesworth: Der Widerhall des Werkes von Vuk Karadžić und der südslawischen Volksdichtung in Britannien im 19. Jahrhundert. In: Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem Internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988, S. 333–345. 433 Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Erster Theil, Halle 1825, zweiter Theil, Halle 1826; neu umgearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig 1853; Nachdruck in der Reihe: Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen. Sechste Reihe. Band  11. Hrsg. Louis Krompotić. Hannover 2007. Über Therese A.L. von Jacob vgl.: Jevto M. Milović: Talvjs erste Übertragungen für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig 1941; ferner den Sammelband: TALVJ – Therese Albertine Luise von Jacob-Robinson (1797–1870). Aus Liebe zu Goethe. Mittlerin der Balkanslaven. Hrsg. Gabriella Schubert und Friedhilde Krause. Weimar 2001. Neuere Übersetzung – vgl. die Auswahl: Serbische Heldenlieder. Übersetzt von Stefan Schlotzer, mit einem Kommentar von Erika Beermann. München 1996 (= Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, Bd. 37). 434 Prosper Mérimée: La Guzla ou Choix de poesies illyriques recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Herzégovine. Paris-Strassboug 1827. Vgl. dazu Voyslav M. Yovanovitch: La Guzla de Prosper Mérimée. Étude d’histoire romantique. Paris 1911. 435 [Maglanovich]: Die Figur des Guslaren Hyacinthe Maglanovich ist eine Erfindung von Prosper Mérimée; vgl. „Notice sur Hyacinthe Maglanovich“ (P. Mérimée: La Guzla, op. cit., S. 29–35).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_023

22. Vorlesung (19. März 1841)

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„Der Tod der Gattin Hassan-Agas“ („Hasanagica“), welche schon früher von Alberto Fortis436 herausgegeben wurde, sonst nirgends Gedrucktes zu enthalten. Als die slavischen Dichter das Original nicht finden konnten, begannen sie den französischen Text zu übersetzen, oder vielmehr zurückzuübersetzen. Es ließ sich aber hierbei sogleich etwas der slavischen Poesie Fremdartiges erkennen, z.B. ohne weiter zu suchen, sehr lange Erzählungen von Gespenstern und Vampiren, was alles, wie wir schon gesagt haben, in der Dichtung nicht stattfindet und nur zu den Volksmärchen gehört. Der Verdacht wurde also rege, und der berühmte russische Dichter Aleksandr Sergeevič Puškin437 schrieb an den französischen Entdecker, und befragte ihn über die näheren Umstände seines Fundes. Der vermeintliche Übersetzer gestand ohne Umschweife die List; er sagte, daß er in der Tat den Plan, die slavischen Länder zu besuchen, gehabt, dann aber sich besonnen und gefunden habe, daß es weit sicherer sei, vorerst eine Beschreibung der Reise zu machen, dem Buchhändler zu verkaufen und nachher für dieses Geld zu reisen, um sich zu überzeugen, wie weit die Einbildungskraft von der Wirklichkeit sich entfernt. Er wollte dabei, wie er hinzufügt, sich auf Kosten der damals für die Volksdichtung und örtliche Färbung sich verbreitenden Begeisterung belustigen. Dies war in der Zeit des Kampfes der Klassiker und Romantiker; alle sprachen von den Dichtungen dieser Art und das Werk des Herrn Claude Charles Fauriel438 wurde mit allgemeinem Beifall aufgenommen. Eine Menge Nachahmer stürzte in die geöffnete Bahn, und es kam zu einem solchen Mißbrauch, daß keiner mehr an das wirkliche Dasein der slavischen Poesie glauben wollte; man betrachtete sie nur als Erfindung des witzigen französischen Schriftstellers. Dies kann die Ursache sein, warum die wahre Übersetzung, welche später im Jahre 1834 Elise Voïart439 herausgegeben, getreu und wörtlich nach der deutschen Übersetzung von Therese A. L. Jakob, schlecht aufgenommen wurde. An dieser Stelle wollen wir die Geschichte der serbischen Literatur verlassen, die wir bis zum 14. Jahrhundert geführt haben. Dieses Volk, eingeschlossen in den Bereich seiner Vergangenheit, war wie es scheint bestimmt, der 436 Alberto Fortis: Viaggio in Dalmazia. Bd. 1, Venedig 1774. 437 Puškin übersetzte einige Gedichte aus Mérimées „La Guzla“ vgl. A.  S.  Puškin: Pesni zapadnych slavjan. In: Biblioteka dlja Čtenija, 1835, tom 9, otd. I, S.  5–32. Vgl. dazu Boris V. Tomaševskij: Genezis „Pesni zapadnych slavjan“. In: Atenej. Trudy Puškinskogo Doma, vyp. III, Leningrad 1926, S. 34–45; Mickiewicz übersetze das Gedicht „La Morlaque à Venise“ („Morlach w Wenecji“); Merimée übersetzten in Polen auch A. Chodźko, E. Odyniec und S. Garczyński. 438 Charles Fouriel: Chants popilaires de la Grèce moderne. 1824–1825; deutsche Übersetzung – Neueste Lieder der Griechen von Wilhelm Müller. 2 Bde., Leipzig 1825. 439 Chants populaires des Serviens recueillis Wuk Stéphanowitsch et traduits d’après Talvj par Mme Elise Voïart. Paris 1834.

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Teil I

Tonkünstler und Dichter des ganzen slavischen Stammes zu werden, ohne selbst zu wissen, daß es ihm einst so hohen literarischen Ruhm bringen würde. Lassen sie, meine Herren, uns jetzt unsere Blicke auf die Länder der Rus’, Polen und Tschechien wenden, die eine andere Bestimmung zu erfüllen hatten. In der Mitte des 11. Jahrhunderts haben wir die weiten Gebiete der Rus’ unter die zahlreiche Nachkommenschaft Jaroslavs verteilt gesehen. Etwa vom Jahre 1150 an vermehrt sich das Haus Rjurik ungemein rasch, und schon in der dritten Generation zeigen sich mehr als 60 Fürsten, welche eigene und fast unabhängige Besitzungen haben. Die Hauptstadt der Kiever Rus’ (Kievskaja Rus’)440 war dem Scheine nach Kiev, und das Oberhaupt der Großfürst; die Idee der Einheit hatte jedoch nirgends eine Grundlage. Die Fürsten vergaßen Skandinavien und ihre göttliche Abstammung von Odin, sie wurden Slaven. Durch den Anblick der byzantinischen Kaiser fühlten sie sich zum Despotismus und zur Alleinherrschaft hingezogen, verlangten fußfällige Verehrung; aber damit bei ihnen solche Gewalt entstehen könnte, war es zunächst unentbehrlich, das Erbfolgerecht einzuführen, welches in Konstantinopel unbekannt war, denn die Erbfolge nach dem Recht der Erstgeburt ist eine abendländische Einrichtung. Von der anderen Seite konnten die Slaven, so fremd jeder politischen Einheit, so unfähig einen Staat zu bilden, den Fürsten keine ihren Zwecken dienliche Kraft verleihen. Es scheint jedoch, daß diese allgemein-slavische Sitte nur unmerklich auf die Organisation oder vielmehr Desorganisation des Staates gewirkt hat. Seit undenklichen Zeiten bewahrte man bei den Slaven die Sitte, daß bei vorkommender Erbschaftsteilung das jüngste Kind den besten Teil nahm, weil es mehr als andere der Unterstützung bedürfe. Allmählich also begannen auch die slavisierten Nachkommen Rjuriks das Land der Rus’ als eine große slavische Gemeinde zu betrachten, und weil in der Gemeinde nach dem Tode des Familienvaters, seine Besitzung ohne Rücksicht auf die Verwandtschaftsgrade demjenigen Verwandten übergeben wurde, welcher dessen am meisten bedurfte, so erkannten auch die Fürsten, wenn einer unter ihnen gestorben, seinen Teil irgendeinem aus ihrer Mitte zu, der keinen Besitz hatte oder herabgekommen war. Daraus entsprangen Verwirrungen ohne Ende. Die Großfürsten verteilten Länder, die Verwandten wollten ihren Aussprüchen nicht Gehorsam leisten, und so oft der jüngere Zweig mit dem älteren in Streit kam, war er gewiß, die slavische Vorstellungsweise für sich zu haben.

440 Vgl. Jan Kusber: Kiever Rus̕. Teilfürstentümer und Mongolenherrschaft. In: Studienhandbuch Östliches Europa. Band  2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Hrsg. Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln-Weimar-Wien 2002, S. 153–161; Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013 (3. Auflage 2016), Erster Teil: Die Kiever Rus’ (9. Jh. bis 1240).

22. Vorlesung (19. März 1841)

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Nichts Traurigeres, nichts Langweiligeres als die Geschichte der Rus’ während der anderthalb Jahrhunderte der inneren Zwiste. Durchaus kein allgemeines Streben, keinen Hauptgedanken kann man hier auffinden. Jedoch beginnen in diesem Wirrwarr allmählich vier Hauptbruchteile des erschütterten Ganzen sich zu unterscheiden, von denen jeder eine besondere Gestalt annimmt. Zuerst im Norden auf der Grenze der normannischen Länder, an den Ufern und Quellen der großen Flüße, nach deren Lauf die Normannen ins Slaventum vorschritten, erwachsen die Gemeinden zu Städten wie Novgorod, Pskov, Smolensk, Polock. Diese freien Städte richten sich nach Art der Republiken ein, unter Oberleitung kriegerischer Führer und Fürsten, welche die bewaffnete Macht befehligen. Ihre Einrichtung ist weder der Organisation italienischer Republiken noch der Städte des deutschen Kaiserreichs ähnlich. Die italienische Einrichtung und auch die der französischen Städte fußte ganz und gar auf römischen Institutionen, es waren municipia mit ihren Kurien, Magistraturen usw. Die kaiserlichen Städte stützten sich auf Korporationen. Diese Körperschaften, aus Handwerkern und Künstlern bestehend, hatten Zusammenhang mit der Kirche; ihre geheime Pflicht war, Kirchen zu bauen. Es ist bekannt, daß diejenigen Handwerke, die nur zur Befriedigung der alltäglichen menschlichen Bedürfnisse dienten, in den Kreis dieser großen Vergesellschaftungen nicht eingingen. Bei den Slaven fand nichts Ähnliches statt; die Körperschaften konnten bei ihnen kein Band im religiösen Gedanken haben, Kaufleute allein machten die echte Klasse der städtischen Bürger aus, die übrigen Bewohner der Städte bestanden größtenteils aus Besitzern des Bodens. Die Kaufleute, wenngleich große Vorrechte genießend, standen doch immer unter den Grundbesitzern und den Fürsten oder kriegerischen Führern. Die Landleute aber, um die Städte herum auf den Ländereien der Bojaren und Fürsten ansäßig, ihren Herren gänzlich untertan, ohne Einfluß auf den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten, waren nur ruhige Zuschauer der Regierungen und der inneren Zwiste. Die kaiserlichen Städte wurden bei dem deutschen Reich mit vertreten, sie hatten ihre Abgesandten, gaben ihre Stimmen auf den Reichstagen; aber die slavischen Städte waren als Körperschaften nur durch die Fürsten repräsentiert. Leicht war es daher vorherzusehen, daß ihre zweifelhafte Unabhängigkeit nicht lange dauern konnte. Im Süden war Kiev die reichste und bevölkertste Stadt der Kiever Rus’, dazumal auch eine der größten Europas; sie zählte gegen 150 000 Einwohner. Sie blieb immer die Hauptstadt der Rus’. Diese Stadt, stets unter dem Auge des Großfürsten, empörte sich von Zeit zu Zeit, konnte jedoch nie ihre Selbstständigkeit erringen; im Übrigen war sie als Sitz der Regierung häufig den Sanktionen und Überfällen von Seiten der Prätendenten bloßgestellt, und erfuhr so die Unglücksfälle innerer Unruhen, wie auch die Niederlagen des Krieges.

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Teil I

In der Mitte des Landstriches zwischen Novgorod und Kiev wohnte ein Geschlecht, das dem slavischen fremd war, nämlich das finnische, durch Wüsteneien abgeschieden, die, bekannt unter dem Namen des Muromskischen Waldes441, sich bis jetzt erhalten haben. Dies besiegte Geschlecht trat seine Wohnsitze den Slaven ab, oder ergab sich ihrer Übermacht. Die Fürsten der Rus’ dehnten ihre Eroberungen immer mehr gegen die Volga aus, führten die Slaven daselbst ein und unterjochten die Finnen. Bald erhob sich in diesen östlichen Gegenden die Stadt Vladimir an der Kljaz’ma und es entstanden Fürstentümer, gegründet auf ganz anderen Grundsätzen, ohne Ähnlichkeit mit dem Slaventum, nur durch ihre Fürsten mit demselben vereint. Die slavischen inmitten der Finnen zerstreuten Ansiedler, bildeten kein politisches Ganze, sie konnten dem Gemeinwesen die ihnen eigentümliche Organisation weder einimpfen noch erhalten; mit einem fremden Stamm sich vermischend, verloren sie die Reinheit ihrer Sprache und des Blutes, vergaßen ihre Sitten. Über diesen Zusammenfluß verbreitete sich die kriegerische Gewalt der Fürsten ohne Widerstand, hier entsproß der Keim des späteren moskovitischen Zarenreichs. Als die Herrscher in den Gegenden von Zales’e442, die Fürsten von Suzdal’, auch den Thron zu Kiev bestiegen, begannen sie daran zu denken, die Oberleitung zu sich herüberzuziehen. Einer von ihnen, Andrej Bogoljubskij443, überfiel Kiev wie ein Feind, plünderte es rein aus, verheerte es und verlegte die Residenz nach Vladimir an der Kljaz’ma. Von nun beginnt eine neue Epoche; die Kiever Rus’ hat schon in ihrem Schoß eine feindliche Macht, welche sich auf fremdartigen Elementen zu erheben und den Rest zu unterjochen strebt. Bis dahin führten die Fürsten nur als Führer feindlich gesinnter Heere unter einander Kriege; das Volk wurde verschont, und wartete ruhig ab, wem der Sieg es zuteilen würde. Jetzt zeigt sich eine andere Staatskunst, die Fürsten von Suzdal’ führen nun gegen die slavischen Bewohner der Rus’ Haufen eines anderen Geschlechts, sie verheeren das Land ohne Barmherzigkeit, schleifen die Widerstand leistenden Städte, nehmen die Bevölkerung mit sich, und treiben sie in die Gegenden von Zales’e (Zalesskaja Rus’). Auf diese Weise konnte das zu Grunde gerichtete Kiev sich nie wieder erheben. Es blieb noch der vierte Teil des Landes, von dem unteren Dnjepr bis an die Karpaten und die Walachei, bekannt unter dem Namen Rot-Ruthenien (Ruthenia rubra), Halitsch (Halicz) oder Roth-Reußen, Galizien. Die Fürsten 441 „Muromskij les“: liegt auf dem Gebiet der Vladimirer Rus’ – zwischen Vladimir, Rjazan’ und Murom. 442 Das zales’e-Gebiet („Land hinter dem Wald“) – Waldland zwischen oberer Volga und Oka; polnisch: Zalesie. 443 Andrej Jur’evič Bogoljubskij (um 1111–1174). Fürst von Vladimir und Suzdal’, ab 1157 Großfürst von Kiev; vgl. N.N. Voronin: Andrej Bogoljubskij. Moskva 2007.

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dieser südlichen Marken fanden in Kiev schon weder Stütze noch Ursache, es zu fürchten, und rissen sich von ihm ab; da ihre Länder aber häufig durch die Heere aus dem Norden der Rus’, der Polen und Ungarn überzogen wurden, so konnten sie kein abgesondertes Ganzes erschaffen. Die Herrscher derselben, die Bündnisse und Familienverträge mit den Königen von Polen und Ungarn schloßen, neigten sich immer mehr dem Westen zu, ihre Untertanen aber sahen das politische Leben in Polen schon bedeutend entwickelt, bekamen Lust dafür und sehnten sich nach ähnlichen Freiheiten. Einige Zeit hindurch überwog hier der Einfluß Ungarns und der Königssohn dieses Hauses (Andreas II.) bestieg sogar den Thron zu Halitsch, mit dem Königstitel. Später erhielt diesen Titel vom römischen Stuhl der Fürst von Kiev (Vladimir Jaroslavič, knjaz’ galickij) und dem ganzen südlichen Teil der Rus’, indem er alle diese Länder zur Einheit mit der allgemeinen Kirche zu bringen versprach. Es war jedoch vorauszusehen, daß diese Gegenden von Polen und der Kiever Rus’ würden auseinander gerissen werden. Nach dem Tod Bolesław Schiefmunds (Bolesław Krzywousty), das heißt vom Jahre 1139 an, war auch Polen fast 200 Jahre lang ein Raub fortwährender Wirren und Teilungen; nur die Tschechen allein entgingen einer ähnlichen Schwächung, indem sie frühzeitig die Bande ihrer Einheit fester knüpften, und die Erbschaft des Thrones, zuerst für den ältesten Bruder des Königs, dann für den Erstgeborenen desselben bestimmten. Dieses Reich schien bestimmt zur Verteidigung des Slaventums vor den Gefahren, die Polen und die Rus’ von allen Seiten bedrohten. Letzteres indeß, zerstückelt und am meisten verwirrt, hatte doch wenigstens einen Gedanken, der inmitten dieses allgemeinen Wirrwars durchleuchtete, es brachte endlich aus diesen fortwährenden Erschütterungen ein Endergebnis. Diesen Gedanken kann man im Seufzen der russischen Dichter über die Uneinigkeit der Fürsten, und in der Stimme der Chronikenschreiber, welche tief das Bedürfnis der Einheit fühlen, bemerken. Wenn wir uns des Charakters der Serben, der Montenegriner und aller unabhängigen Slaven erinnern, wenn wir ihre eigenen Meinungen über sich in Betracht ziehen, die uns Reisende444 anführen, daß sie nämlich gar zu unbändig sind, als daß irgend jemand sie regieren könnte, so ist leicht zu ersehen, welche schreckliche Erfahrungen der slavische Volksstamm, bestimmt, einst ein mächtiges Volk zu werden, zuvor durchmachen mußte, wie viele der fremden Überfälle, der Kriege, Verheerungen und harter Bedrückungen es bedurfte, um in ihm die alten Urstoffe zu ersticken, um ein neues ihm Leben einzuimpfen. Die Überfälle und Unterjochungen begannen zuerst die nördlichen Gegenden zu berühren, indem sie 444 Vgl. Vuk S. Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, op. cit.

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aus dem nicht slavischen, jedoch vor kurzem den Slaven unterwürfigen Land ausgingen. Die Küstenländer des baltischen Meeres vom Peipus-See bis zur Mündung der Weichsel, waren bereits besetzt vom lettischen Stamme, welcher die Liven, Kuren, Semgallen, Litauer und Prußen (Prūsai) umfaßte; letztere darf man jedoch nicht mit den deutschen Preußen verwechseln. Dieser nicht zahlreiche Stamm betrug im Ganzen einige Millionen. Sein Anfang ist in Dunkel gehüllt; er gehört dem indo-germanischen Stamme an, hat jedoch eine Sprache445, verschieden von der deutschen, slavischen und der aller übrigen Nachbarvölker; diese Sprache steht dem Sanskrit sehr nahe. Er besaß eine reiche, entfaltete Götterlehre, in vieler Hinsicht der gallischen ähnlich. In derselben gab es kein so abgerundetes Ganzes wie in der germanischen, aber sie war ein vielfarbiges Gewebe von Begriffen und Sagen. Die ganze Schöpfung stellt sich dem Bewußtsein dieser Völker als die Welt einer zahllosen Menge Geister dar. In der Erde, im Wasser, in den Bäumen, in der Luft, sogar im Klang und Ton sieht es geistige Wesen von eigentümlicher Natur. Ihre Regierung war eine religiöse, sie lag in den Händen der Priester, die sehr ähnlich den Druiden waren, große Gewalt sogar über die Fürsten hatten, und einem Oberpriester, einem heidnischen Papst, Kriwe Kriwejto446 genannt, gehorchten, welcher in Preußen wohnte, und seine Befehle nach Pommern, Litauen und bis hinter die Düna sandte. Die den Preußen benachbarten Polen unterließen, ungeachtet der Ermahnungen des römischen Stuhles, dieses Land zu bekehren; sie besuchten es, wie der Chronikenschreiber447 sagt, mit dem Schwert des Aposteltums und dem der Eroberung, zogen jedoch häufig das letztere vor; sie wollten lieber die reichen Landschaften in Besitz nehmen, als ihnen die Leuchte der Zivilisation 445 Vgl. Rainer Eckert: Altpreußisch. In: Lexikon der europäischen Sprachen. Hrsg. Miloš Okuka und Gerald Krenn. Klagenfurt (Celovec) 2002, S. 589–596. 446 Kriwe Kriwejto: „Das Wort Kryw ist ein recht altpreußisches Wort und bedeutet einen der Obermacht hat, so in Geistlichen als Weltlichen Sachen zu sprechen und anzuordnen, ist soviel wie Oberrichter oder Pontifex.“ – Matthäus Prätorius: Deliciae prussicae oder preussische Schaubühne im wörtlichen Auszuge aus Manuscript hrsg. von William Piersson. Berlin 1871, S. 38. Matthäus Prätorius (um 1635–1704), Historiker und Ethnograph; vgl. Ingė Lukšaitė: Matthäus Prätorius – Geschichtsschreiber der Preussischen Kultur. Leben, Werk und Wissenschaftliches Schaffen, In: Matthaeus Praetorius. Prūsijos įdomybės, arba Prūsijos regykla. Deliciae Prussicae oder Preussische Schaubühne. Herausgegeben von Ingė Lukšaitė und Vilija Gerulaitienė. Vilnius. Bd.  1 (1999), S.  85–140; vgl. auch – Cromeri Martini Polonia sive de originibus et rebus gestis Polonorum libri XXX. Coloniae Agrippinae 1584, lib. III, S. 42. 447 Vgl. – Galli anonymi cronicae et gesta ducum sive principium Polonorum. Hrsg. Karol Maleczyński. Kraków1952; Vorwort zum I. Buch; deutsche Übersetzung: Polens Anfänge – Gallus Anonymus. Chronik und Taten der Herzöge und Füsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz u.a. 1978.

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und des Glaubens bringen. Die Deutschen kamen daher den Slaven hier zuvor und begannen das Christentum zu verbreiten. In der Mitte des 12. Jahrhunderts landete zufällig der Mönch Meinhard448 mit bremischen Kaufleuten an dem Gestade, wo jetzt Riga steht, und verkündete zuerst den Einwohnern (Liven) das Evangelium. Es gelang ihm, einige der angeseheneren Einwohner zu bekehren; er setzte sich in der Gegend fest, und die Kaufleute erwirkten ihm, nachdem sie hier eine Niederlassung gegründet, den Schutz des dänischen Königs gegen die Überfälle. Der Papst (Celestine III.) ernannte ihn später zum Bischof. Die Nachfolger Meinhards verließen sich nicht auf die schwache Stütze der Kaufleute und der entfernten Monarchen, sie beschlossen, den Orden der Schwertritter zu stiften. Bewaffnete Mönche, in einer gut versehenen Feste angesiedelt, begannen nun Angriffskriege, eroberten im Verlaufe von 50 Jahren eine bedeutende Landesfläche, und wurden sogar den großen Städten der angrenzenden Novgoroder Rus’ gefährlich.449 Von der anderen Seite kam ein Apostelmönch450 nach Preußen, erwarb einige Schüler und gründete mit Hilfe des Fürsten von Masowien (Konrad Mazowiecki) in Polen einen Ritterorden, die Brüder von Dobrzyn (Fratres milites Christi de Dobrin).451 Alle diese Orden waren den Templern nachgebildet; nur hatte die polnische Geistlichkeit, abgeneigt der strengeren Disziplin und sogar dem Papst Gregor VII. feindlich, als er das Zölibat einführte, nicht religiöse Kraft genug, den Geist im Lande zu erheben, welcher eine so gewaltige Einrichtung hätte erhalten können, wie die des Schwertritterordens war. Daher wuchs die Zahl der Dobrzynskischen Brüder nicht, und als sie einst eine schwere Niederlage erlitten, verloren sie den Mut. Alsdann versetzte sie der Fürst Konrad von Masowien452 nach Drohiczyn453, wo sie ausstarben. Die Überbleibsel des deutschen Kreuzritterordens, welche aus Palästina von den Türken verjagt, in Europa

448 Meinhard von Segeberg (um 1130–1196); vgl. Manfred Hellmann: Meinhard. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band  16, S.  665; ferner – Livländische Reimchronik. Mit Anmerkungen, Namenverzeichnis und Glossar. Hrsg. von Leo Meyer. Paderborn 1876 (Reprint: Hildesheim 1963). 449 Vgl. dazu – Anti Selart: Livland und die im 13. Jahrhundert. Köln-Weimar 2007, S. 55–122 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte. Bd. 21). 450 Christian von Preußen (um 1180–1245), der erste Bischof von Preußen. Vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens: von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens. Band 1. Königsberg 1827, S. 428–433. 451 Vgl. Friedrich Benninghoven: Der Orden der Schwertbrüder – Fratres milicie Christi de Livonia. Köln–Graz 1965. 452 Konrad  I Mazowiecki (1187/88–1247); vgl. Jürgen Sarnowski: Der Deutsche Ritterorden. München 2007. 453 Drohiczyn – polnische Kleinstadt in der Woiwodschaft Podlachien.

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Zufluchtsstätten fanden, aber nirgends mehr eine selbstständige Macht bildeten, führte er in das Kulmer Land an der preußischen Grenze. Die Anfänge aller Reiche sind gewöhnlich in Dunkel gehüllt und doch ist es gewiß anziehend zu sehen, wie sie entstehen. In der Geschichte dieser bewaffneten Mönche finden wir den Keim eines späteren Königreichs. Was hier aber am meisten zu verwundern, ist, daß sie inmitten feindlicher Völkerschaften, unter einem ganz fremden Geschlechte, das nicht ein deutsches Wort verstand, sich ansiedelten und im Stande waren, ein deutsches Reich zu gründen, welches später die Gestalt des Nordens von Europa umänderte. Die Besitzung der Kreuzritter wurde im Laufe der Zeit, nach vielfachen Schicksalen, zum Königreich Preußen; welche wichtige Rolle dieses spielt, ist bekannt. Hermann von Salza454, der Reihe nach der vierte Großmeister des Kreuzritterordens, ein äußerst genialer Mann, sah von vorne herein alle Folgen, welche dies Werk des Christentums haben könne, und beauftragte einige Ritter mit Ausforschung und Besitznahme des Landes. Einer von ihnen, Hermann von Balk455, genannt der Eiserne, erbaute eine kleine Feste in der Gegend von Danzig, von welcher aus die Ritter, nach vieljährigen fortwährenden Kämpfen, eine bedeutende Besitzung errangen, sodaß sie, von Deutschland häufig mit Freiwilligen unterstützt, zu einer bedeutenden Macht sich emporschwangen. War die feudale Hierarchie den Slaven verderblich, indem sie dieselben systematisch und mit Berechnung angriff, so kommt doch nichts der Vernichtung gleich, welche das Festsetzen dieser bewaffneten Mönche den Preußen gebracht. Der Orden war nicht das Lager eines vorübergehenden Feindes, sondern ein beständiges und ordentliches Kriegsheer, ja das am meisten Manneszucht haltende und regelmäßigste, was irgend je gekannt ward; es überragte hierin die römischen Legionen, denn diese empörten sich zuweilen, da hingegen der Gehorsam und die Geduld der Kriegermönche ohne Grenzen war. Alles Notdürftigen beraubt, fasteten sie vier Tage in der Woche, schliefen auf bloßer Erde, kannten keine andere Bedeckung als ihre Mäntel, brachten die Abende mit Gebet, die Nächte in Wachen und die Tage im Kampfe zu. Diese Scharen bestanden aus dem ansehnlichsten deutschen Adel, d.h. aus Männern, die von Kindheit auf in den Waffen sich geübt. Fast alle fielen durch Feindeshand, aber gleich kamen neue an ihrer Stelle. Geriet einer in Gefangenschaft, so ging er im Panzer und zu Pferde auf den Scheiterhaufen. Nie ließen ihnen die Preußen 454 Hermann von Salza (um 1162–1239); vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens: von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens, Bd. 2: Die Zeit von der Ankunft des Ordens bis zum Frieden 1249. Königsberg 1827, Kapitel IV. 455 Hermann von Balk (gestorben 1239) – Landmeister von Preußen; vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens, op. cit., Kapitel VI.

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und Litauer das Leben und häufig mußten sie auf eine grausame Art sterben. Ihrerseits verschonten auch die Deutschen nur äußerst selten die Preußen und Litauer, wüteten aber besonders gegen diejenigen, die einmal getauft wieder dem Heidentum sich zuwandten; die bekehrten und friedfertigen Heiden aber genossen alle Bürgerrechte, sogar die Rechte des deutschen Adels, nur durften sie nicht in den Orden aufgenommen werden. Der Widerwille der nördlichen Slaven und Pommern gegen die Deutschen entsprang aus der gänzlichen Verschiedenheit ihres Wesens und ihrer sozialen Einrichtung; dagegen hatten die Preußen und Litauer in ihren Neigungen und Institutionen etwas Gemeinsames mit den Deutschen; auch war ihr Gemüt ebenso religiös und tief, der Charakter ernst und tüchtig. Die Häupter hielten ihre Klane in Ordnung und Unterwürfigkeit, auch wenn sie Untertanen der Kreuzritter wurden. Der Widerstand hatte seinen Grund hauptsächlich in der heidnischen Religion; es war dies der Kampf des letzten Überrestes von Heidentum gegen das Christentum in Europa. Fünfzig Jahre hindurch ohne Barmherzigkeit mit Feuer und Schwert verheerend, eroberte der Orden fast das ganze Land der Preußen. Erst dann verwandelten sich die einst armen Ritter in feudale Herren. Ihre Großmeister nahmen Sitz auf den Reichstagen des deutschen Bundes mit dem Charakter selbstständiger Fürsten, und fingen an, sich weder um die Befehle der Päpste und ihre Ermahnungen, noch um die Drohungen der deutschen Kaiser zu kümmern. Weichlichkeit und Völlerei schlichen sich in den Orden ein, sodaß im Augenblick seiner höchsten äußern Blüte, wo er nämlich eine bis dahin im Norden Europas unerhörte Kriegsmacht von 40 000 Mann regelmäßiger Truppen ins Feld stellen konnte, und dazu über ungeheure Schätze verfügte, ihm das innere Verderben den Todesstoß versetzte. Von da an war der Fall unfehlbar, denn der Leichnam, seines Geistes bar und ledig, ging von selbst in Verwesung über. Als die Kreuzritter den eigentlichen Zweck ihres Ordens verlassen hatten, so fingen sie an auf Eroberungen auszugehen, sie wandten ihre Schwerter gegen christliche Länder und fielen in Polen ein. Bald darauf, nach der Vereinigung mit den Schwertrittern, vernichteten sie einen bedeutenden Teil der preußischen und lettischen Bevölkerun in ihren Sitzen aber gründeten sie die Fürstentümer Preußen, Livland und Kurland, und führten ein neues Element inmitten des Slaventums ein. Ein Teil dieser Bevölkerung, mehr von der See entfernt und den Überfällen der Normannen weniger ausgesetzt, aber jetzt durch die Kriege der Mönche mit verbrüderten Geschlechtern aufgereizt, trat plötzlich aus seinen Wäldern und Sümpfen sie nannten diese Heimat Litwa (Litauen) hervor, und erwarb bald den Namen eines Volkes, welches später den Streit des nördlichen Slaventums mit dem südlichen schlichten sollte, indem es die unter sich wogenden

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Teile in ein Ganzes zusammenfaßte und zusammenfließen ließ. Ehe jedoch dies geschah, waren die Litauer furchtbare Feinde der Slaven; sie unterwarfen fast alle benachbarten Länder der Rus’, plünderten häufig die reichen Gegenden von Polock, Smolensk, Pskov, Novgorod, drangen später bis nach Kiev und Rot-Reußen, und fielen alljährlich in Polen ein, wo sie alles niedermetzelten und verbrannten. Unterdessen nahten von der andern Seite weit furchtbarere Niederlagen mit dem Geschrei der Mongolen, von welchen wir schon früher eine allgemeine Ansicht gegeben. Diese rückten unter Führung Batu-Khans, DschingisKhans Neffen, von der Volga gen Süden vor, fielen zuerst über die Polovcer her, und wollten ihrer hinterlistigen Politik gemäß den Russinen [Ruthenen] weiß machen, daß sie es nur mit den Völkern der Steppen zu tun hätten. Die Fürsten der Rus’ jedoch, die Gefahr vorhersehend, versammelten ihre Kräfte und vertraten den Tataren an der Kalka456 den Weg, wo sie eine entsetzliche Schlacht verloren und alle auf der Walstätte blieben. Die Kljaz’mency, d.h. die Fürsten an der Kljaz’ma (Vladimirer Rus’), in dem hinter den Wäldern gelegenen finnischen Russland (Zalesskaja Rus’), hatten allein keinen Anteil an dieser Schlacht. Die Mongolen rückten dieses Mal nur bis Novgorod-Severskij; dann aber wandten sie sich mit dem Lauf des Dnjepr nach dem Schwarzen Meer, und ihrer großen strategischen Berechnung getreu, vernichteten sie, nachdem auf diese Weise die in den Steppen lebenden Geschlechter abgeschnitten und umringt waren, dieselben auf ihrem Rückweg nach Asien. Bald darauf kam jedoch Batu-Khan mit den Horden wieder, und ging nun gerade auf die Sitze der Kljaz’mencen in Zales’e zu, nahm die Städte nach einander ein und vernichtete sie; Rjazan’, Kostroma, Suzdal’, Vladimir, Moskva, Toržok fielen auf diese Weise, er selbst zog sich erst aus den Gegenden des Groß-Novgorod (Velikij Novgorod) zurück. Der dritte Mongolenzug hatte schon die Richtung nach Kiev und Halicz, von dort aber nach Polen und Ungarn. Der König von Ungarn, aus seinem verödeten Lande fliehend, suchte auf einer der Inseln des adriatischen Meeres Zuflucht, gerade zur Zeit, als ein anderer Monarch, Chorasans457 mächtiger Sultan, welcher aus dem durch die Heere desselben mongolischen Führers geplünderten Asien entflohen war, auf dem Kaspischen Meer umherirren mußte. Die allenthalben überwältigten Fürsten der Rus’ erlagen der Übermacht der Tataren. Die Fürsten der Vladimirer Rus’ dachten zuerst an Rettung, indem sie unterhandelten und sich ergaben, sie reisten von nun an nach der goldenen 456 Die Schlacht an der Kalka: 28.–31. Mai 1223. 457 Historische Region im Gebiet des heutigen Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan.

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Horde, vor dem Khan mit ihrem Antlitz den Staub der Erde zu berühren, und von ihm die Belehnung mit ihren Fürstentümern zu erlangen. Von nun an regierten sie im Namen des tatarischen Khans, und ihre Gewalt stützte sich auf die seinige. Eine wichtige Aufgabe war gelöst, der Keim der Einheit, erzeugt im finnischen Russland (Vladimirer Rus’), fand jetzt seine Grundlage in der mongolischen Gewalt, von ihr aus sollte er Leben und Kraft gewinnen; um zu regieren, war es nun nicht mehr nötig, auf die Meinung des Volks, oder auf die Beratungen der Städte zu achten, es reichte hin, die Gunst des Khans zu besitzen. Das tatarische Zelt wurde nun erst zu einem politischen Kabinett, wo die wichtigsten Angelegenheiten des nördlichen Europa und ganz Asiens entschieden wurden. Die Fürsten der Rus’, anfänglich demütig und gehorsam, fingen mit der Zeit an, auf die Abschüttelung des Jochs zu denken; 150 Jahre hindurch ersannen sie geduldig und geschickt alle Mittel, um die innere Eintracht der Horde zu zerreißen und ihre Macht zu schwächen, und vernachlässigten nie, aus jedem Unfall der Mongolen Nutzen zu ziehen. Lange jedoch schien es, als gäbe es kein einziges selbstständiges Reich im Slaventum. Die Tschechen bewahrten ihre Einheit, aber das tschechische Volk, bestimmt, wie früher zu erwarten stand, die Hauptrolle zu spielen, den übrigen voranzugehen, verließ den eignen Weg, indem es in seinen Institutionen und in politischer Richtung das deutsche Wesen nachzuahmen begann. Dasjenige, was es erlösen sollte, wurde sein Verderben. Die Herrscherfamilie und die Aristokratie, fortgerissen durch die europäische Zivilisation, entsagte ihrem Volkstum. Die Monarchen verschmähten die Volkssprache und redeten deutsch, der Adel verdeutschte gänzlich und das Volk hatte kein einziges, rechtliches Mittel zur Zurückweisung des Ausländischen, welches durch die Obergewalt und die höhern Klassen verbreitet wurde. Polen, damals in Teile zerspalten, außerdem von Deutschen, Mongolen und selbst Tschechen angefallen, schien zur unfehlbaren Vernichtung bestimmt. Indessen waren es gerade diese Teilungen in Fürstentümer, welche seine Zukunft gerettet haben. Denn der hohe Adel, stets in Berührung mit den Fürsten, deren natürlichen, immerwährenden Rat er ausmachte, vereinte sich immer inniger mit der Nationalsache; oftmals berufen, die Streitigkeiten unter den Fürsten zu schlichten oder zu entscheiden, war er gezwungen, sich auf die Meinung des Volkes zu stützen und Hilfe bei dem niedern Adel zu suchen; der Adel kam dadurch immer mehr ins öffentliche Leben, und so bildete sich ein zahlreicher Ritterstand, welcher das Reich als Eigentum betrachtend, dasselbe zu verteidigen und zu retten für sein Interesse hielt. Oftmals sehen wir daher die Woiwoden an der Spitze des Adels gegen Mongolen und Deutsche streiten, sie ergreifen die Waffen aus eignem Antrieb, ohne Geheiß, sogar ohne Erlaubnis der Fürsten.

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Dieses sehr ausgebreitete und rührige politische Leben rettete Polen, denn es erweckte in der großen Masse des Volks die Liebe für die öffentliche Angelegenheit, und erleichterte die Verbreitung der wahren Zivilisation in derselben. Dadurch erhob sich auch Polen, wenngleich in geschmälerten Grenzen, am höchsten unter den nördlichen Völkern in der Freiheit und Aufklärung; später aber, mit Litauen vereint, bekam es die Geschicke des größten Teiles des Slaventums in seine Hände.

23. Vorlesung (23. März 1841) Zur literarischen, geistigen und politischen Situation der Slaven im Norden nach dem Ende des XII. Jahrhunderts – Gründung des Großfürstentums Moskau; Jurij Dolgorukij, Andrej Bogoljubskij, Mstislav Mstislavič Udatnyj – Niedergang der normannischen Rus’ – Die Finnen; ihre Poesie – Nächste Entwicklungsphase des Großfürstentums Moskau – Die Geschichtsschreiber der Rus’ nach Nestor – Polen im XIII. Jahrhundert – Herausbildung der polnischen Staatsidee – Merkmale der polnischen Geschichtsschreibung im XIII. Jahrhundert – Vladimir Monomach und Wincenty Kadłubek.

Als wir die nördlichen Länder betrachteten, gingen wir schon auf das 12. Jahrhundert über. Drei große Begebenheiten ragen in der Epoche, die wir vor uns haben, hervor. Die Dichtung verschwindet in ihnen; sogar das Schreiben der Chroniken hört auf; politisches Leben erfaßt die Gemüter. Leicht wird es, diesen Verfall der Dichtung und slavischen Beredsamkeit zu erklären, sobald wir uns an die Verwirrung erinnern, in welche diese Länder von Beginn des 12. Jahrhunderts geraten. Die Ereignisse treten nach einander ohne sichtbaren Zusammenhang auf, die ganze Geschichte stellt ein Bild, ähnlich dem Kampf jener Geschöpfe im Tropfen Wasser, dar, die man nur mit Hilfe des Mikroskops sieht und welche sich verschlingen und im Nu wieder gebären. Dieses Gewirr nimmt in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine stetigere Richtung. Der Fürst Jurij Dolgorukij (Langhand)458 ist der wirkliche Gründer des neuen Rußlands, oder vielmehr des Großfürstentums Moskva. Nachdem er sich von den Slaven losgerissen, begann er von seinem Sitze aus auf dem gar nicht slavischen Boden mit der Kraft der finnischen Stämme sich nach Süden und Norden auszudehnen. Von nun an wird die Geschichte erst klar; wir sehen zuvörderst den Kampf dieses fürstlichen Hauses mit seinen nächsten Angehörigen; dann den Kampf desselben mit allen übrigen Herrscherfamilien in der südlichen und nördlichen Gegend. Dieser Krieg, begonnen mit der Plünderung Kievs in der Mitte des 12. Jahrhunderts, endete mit der Niedermetzelung von Novgorods Bevölkerung und der gänzlichen Vernichtung der nördlichen Republiken im 15. Jahrhundert, wo dies neue moskovitische Reich sich vollends aus den Trümmern der slavischen Elemente festsetzte. Der Sohn und Nachfolger Jurijs, Andrej Bogoljubskij, ein wackerer Krieger und immer bereit, mit Verrat zu erreichen, was er mit Gewalt nicht vermochte, bestärkte die Politik der russo-finnischen Fürsten. Seine Nachfolger verlegten den Hauptsitz nach Moskau und führten unter dem Schutz der Mongolen 458 Jurij Dolgorukij (1090–1157).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_024

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das Werk der Vorfahren weiter. Aber das Streben der moskovitischen Fürsten fand ungeheure Hindernisse in der Religion, den Sitten und Verfassungen der Städte, zuweilen auch in der Charakterfestigkeit einzelner Männer. Schwierig ist es jetzt zu erklären, warum die Patriarchen und Bischöfe sich der in der Gegend von Zales’e an der Kljaz’ma entstandenen Richtung widersetzten, die wir von nun an den moskovitischen Lebenstrieb nennen werden; die Spuren dieses Widerstandes sind jedoch in den Jahrbüchern sichtbar. Die östliche Kirche war schon durch die normannischen Fürsten gänzlich unterjocht, sie achteten aber die Person und das Leben der Geistlichen; erst die Herrscher der Vladimirer Rus’ begannen die Bischöfe wegen irgend einer Widersetzlichkeit gegen ihren Willen der Ketzerei anzuklagen, und schickten sie in die Verbannung. So wurde z.B. ein gewisser Leon459, welcher sich der Willkür des Fürsten Andrej widersetzte, als Ketzer, den man überführt habe, daß er in den Weihnachtstagen und zu Ostern Fleisch gegessen, vertrieben.460 Bis dahin versorgte man auch die jüngeren Söhne des fürstlichen Geschlechts mit Landesteilen; die Brüder und Anverwandten des Großfürsten schlossen mit ihm Verträge, sie empfingen von ihm ein Stück Land oder gewisse Zahlungen. Jetzt ergriffen die Fürsten von Zales’e (Zalesskaja Rus’) und von Moskau ein anderes Mittel: sie verfolgten die Geschwister, vertrieben sie aus Rußland, und von Teilungen wollten sie nichts mehr hören. Die uralte Sitte der slavischen Länder erforderte, daß, so oft die Ältesten des Ritterstandes aufgerufen wurden, um nach dem Tod des Fürsten über die Wahl seines Nachfolgers zu beraten, die Meinung der Gemeinden, der slobody, die aus alter Zeit herstammten, einzuholen war. Diese Sitte, bloß im Slaventum bekannt, erhielt sich auch in der Rus’. Das Alter der Städte, ihr ehrenwertes Greisentum, wurde geachtet. Sogar im Herrschaftsbereich der Moskauer Fürsten mußte man dies Vorrecht des Altertums bewahren, sich auf die Meinung der oft kleinen Städte berufen; und die Slaven wollten sogar die Erkenntnisse der neu emporgeblüten Städte, wie Vladimir, Suzdal’, Kostroma und später Moskva, deren Namen sie nicht einmal kannten, nicht für rechtskräftig anerkennen. Mit der Zeit jedoch 459 Leon (Leontij II, Bischof von Rostov), gestorben 1171. 460 Mickiewicz unterlief hier ein Fehler. In der Nestor-Chronik (Jahr 1164) lautet die Stelle: „Леонъ епископъ […] поча Суждали учити не ѣсти мясъ въ Господьскыя празникы, в среды и в пяткяы […].“ – (Der Bischof Leon begann die Suzdal’er zu lehren, daß man während der kirchlichen Feiertage, die auf einen Mittwoch oder einen Freitag fallen, kein Fleisch essen dürfe); vgl. Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  334. Diese Äußerung übernimmt auch Karamzin; vgl. Nikolaj Michajlovič Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I.  Sinjukov. Moskva 1989, kniga pervaja, tom III, glava I („Velikij knjaz’ Andrej. G. 1169–1174“).

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brach die feine List der herrschenden Fürsten, vereint mit Übermacht, diesen Widerstand. Es waren jedoch auch Verteidiger der örtlichen Vorrechte unter Rjuriks Nachkommen, welche den slavischen Gedanken begünstigten und sich an die Spitze der volkstümlichen Bewegung stellten. Der ruhmwürdigste unter ihnen, der wackerste Ritter in der Sache der altertümlichen normannischen Rus’ war Mstislav Mstislavič Udatnyj (Udaloj)461, dessen Laufbahn einige Jahrzehnte vor dem Tatareneinbruch beginnt, und in der Schlacht an der Kalka endet. Dieser Fürst, ein wahrer fahrender Ritter, Eigentümer nicht gar zu großer Besitzungen in den Gegenden von Polock und Smolensk, wo man die alten Gebräuche und Vorstellungen langer bewahrte, ging mit einer besoldeten Kriegsschar von einem Ende der ganzen Rus’ zur anderen; er entschied die Streitigkeiten der Fürsten, wies die Übergriffe der Herrscher zurück, hob die Freiheiten der Städte wieder und beruhigte die Empörungen derselben. Sein Ruhm wurde weit verbreitet, allenthalben fand er Vertrauen und Unterstützung, weil er nirgends seinen eigenen Vorteil suchte. Bald sehen wir ihn in Novgorod die Ordnung einführen, bald wieder in Kiev einen Fürsten stürzen und den Thron einem anderen geben, und dann wieder nach Novgorod eilen, um die innern Unruhen beizulegen und die Bevölkerung vor der Übermacht der Fürsten von Zales’e retten, den besiegten Friedensstörern die Bedingungen des Friedens in Vladimir an der Kljaz’ma vorschreiben; einige Monate später ist er schon im Süden an Polens Grenze, wo er den unmündigen Thronfolger von Halicz schirmt. Endlich, als er von der Annäherung der Tataren gehört, eilt er dem Don zu und fällt dort in der Schlacht. Die Geschichte beschuldigt jedoch Mstislav, daß er aus zu großem Selbstvertrauen oder aus Stolz, ohne das Eintreffen aller Streitkräfte aus der Rus’ abzuwarten, die Schlacht an der Kalka angenommen und die Ursache der Unglücksfälle, welche diese Niederlage herbeiführte, geworden sei. Es scheint aber gewiß, daß die Moskauer Fürsten, welche frühzeitig die ihnen günstigen Folgen aus dem mongolischen Überfall berechnet, gar nicht daran dachten, gegen Batu-Khan vorzurücken. Mit diesem Überfall endet die Geschichte der normannischen Rus’, und es tritt allmählich die finnische Rus’ auf die Bühne. Das Geschlecht der finnischen Fußgänger, welches vom Weißen Meer bis an die uralischen Berge sich erstreckte, wo es das Geschlecht der finnischen Reiter berührte, wurde in der vorgeschichtlichen Zeit, vielleicht im 4. oder 5. Jahrhundert von den Slaven unterdrückt und zerstreut. Als später im 9. Jahrhundert die Normannen sich zu Herren der slavischen Länder gemacht, gründeten sie ihre normannische Rus’. Jetzt, da der Geist der Normannen sinkt, entsteht ein neues Reich, in 461 Mstislav Mstislavič Udatnyj (~ 1170–1228).

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welchem die Slaven, einst Herren der Finnen, dann ihre Gefährten unter der Herrschaft der Normannen, endlich zugleich mit den Normannen der Übermacht nicht irgend eines neuen Stammes, sondern dem neuen Geiste, dem Zepter eines Fürstentums erliegen, das den finnischen und slavischen Geist in Eins zusammengeflossen vorstellt. Es geziemt sich nicht, die moskovitischen Fürsten alles Unheils, das von nun an die Rus’ betrifft, anzuklagen, wie dies einige Geschichtschreiber tun. Die Ursache dieser ungeheuren Umwandlung hing nicht von ihrer Neigung oder persönlichen Untauglichkeit ab; ihre selbstsüchtige und beutegierige Politik war nicht das Ergebnis ihres Willens allein. Nach dem Auseinandersprengen des finnischen Geschlechts dauerte sein Geist fort, und zog jetzt in den neuen Körper ein. In der Geschichte kann man mehr als ein Beispiel ähnlichen Überganges sehen. Häufig wird ein Volk, politisch verschwindend, in das folgende eingesogen, und es entsteht hieraus eine neue Gesellschaft. So hat der Geist des Volkes der Bretonen einen großen Einfluß auf die Sachsen, und später auf die Normannen, welche den Sachsen folgten, ausgeübt. So vereinte sich auch in den Gegenden der Kostroma, des Suzdal’ und der Moskva, in jenem Stammsitz der neuen Macht das finnische Geschlecht innig mit dem slavischen, und wenn wir uns an den Charakter jenes Volkes erinnern wollen, so wird leicht die Zukunft des Reichs, in welchem er einen wichtigen Urstoff ausmacht, zu erraten sein. Der finstere, elende, für Joch oder Vernichtung geschaffene Finne, begegnete im Slaven einem höheren Wesen, als er selbst; aber er hat dasselbe durch seine Berührung besudelt. Der Finne, einzeln genommen, ist immer Sklave; benutzt ihn eine höhere Gewalt als Werkzeug, so wird er ein Vernichter. Großer Schaden für die Geschichte ist es, daß die Lieder der nördlichen Finnen verloren gegangen sind, weil sie die einzigen ihres ganzen Stammes waren, welche zuweilen sangen. Der Mongole, d.h. der reitende Finne, kennt keine Poesie. Nur die Überbleibsel der finnisch-nördlichen Dichtung, durch Überlieferung beim russischen Volk aufbewahrt, geben uns eine Vorstellung, was dies Geschlecht einst war. Unter den Liedern Groß-Rußlands tragen einige geradezu den finnischen Charakter. Eins von ihnen z.B. ist in Gestalt eines Rätsels, welches die verratene und verlassene Geliebte ihren Freundinnen in folgenden Worten aufgibt: Der Liebste hat mich verraten, der Liebste hat mich verlassen; ich jedoch habe ein Mittel gefunden, auf meinem Liebsten zu schlafen, mich mit ihm zu bedecken, in meinen Liebsten mich zu kleiden, und mir sogar zu leuchten mit ihm.462 462 Mickiewicz paraphrasiert hier ein großrussisches Rätsel-Lied, das in der kannibalistischen Tradition der Volkslieder steht: „Я из рук, из ног коровать смощу, / Из буйной головы ендову скую, / Из глаз его я чару солью, / Из мяса его пирогов напеку, / А из

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Um zu verstehen, was dies bedeutet, muß man wissen, welchen Nutzen die nördlichen Finnen, die Lappländer, aus dem Rentier ziehen. Das Rentier gibt ihnen Fleisch zur Nahrung, Haut zur Bedeckung und Kleidung, Talg zur Versorgung der Lampen. Diese Finnin ist also, nachdem sie ihren ungetreuen Liebhaber getötet, mit seinem Leichnam, wie mit einem abgeschlachteten Rentier verfahren mit seinem Fett hat sie sogar ihre Lampe gefüllt. Ein solcher Sinn liegt in jenem kannibalischen Rätsel. Wollen wir die an Amerikas Menschenfresser erinnernde Dichtung neben die Zartgefühl und Anmut atmenden, serbischen Liedern stellen, von der wir einige Proben gesehen, so wird uns der ganze Unterschied zwischen dem gelben, finnischen Geschlecht und dem Stamm der Slaven mit einem Male klar. Dieses nordische Geschlecht in dem Land überwiegend, wo sich der Keim des moskovitischen Reichs entfaltete, wurde die Basis der neuen Macht. Die Fürsten Jurij und Andrej haben nichts mehr getan, als nur den niedergehaltenen finnischen Geist auf die Oberfläche gezogen und die Zügel seines Ungestüms in ihre Hand genommen. Hierbei fanden sie im allgemeinen Ruf nach Einheit eine ihnen zustimmende Neigung der slavischen Rus’, nur mit dem Unterschied, daß, was bei dem Volk das Verlangen der Einheit war, sich bei den Fürsten in Begierde nach Raub und Alleinherrschaft umwandelte. Nach den ersten Fürsten, deren Politik häufig wankt und auch Widerstand in den Landessitten, in den Städten und einzelnen Männern, wie wir gesehen, erfährt, folgt eine andere schon den Mongolen untertänige Herrscherreihe. Diese bilden Ivan I., genannt Kalita463, sein Sohn und seine übrigen Nachkommen. Sie versetzen die Residenz nach Moskau, und bringen ihr Leben meistenteils im Lager der Horde zu, dort erlernen sie unbemerkt die mongolische Politik, und helfen zugleich dem Khan eifrig, das Joch über die Rus’

сала его я свечей налью. / Созову на беседу подружек своих, / Я подружек своих и сестрицу его, / Загадаю загадку неотгадливую: / Ой, и что таково: / На милом я сижу, / На милова гляжу, / Я милым подношу, / Милым подчиваю. / А и мил предо мной, / Что свечою горит? / Никто той загадки не отгадывает; / Отгадала загадку подружка одна, / Подружка одна, то сестрица его. / – „А я тебе, братец, говаривала: / Не ходи, братец, поздным-поздно, / Поздным-поздно, поздно вечера“. Quelle: Nadežda Stepanova Kochanovskaja [Sochanskaja]: Neskol’ko russkich pesen. In: Russkaja beseda 1860, № 1, S. 99; auch in: Aleksej Ivanovič Sobolevskij: Великорусские народные песни. Sankt-Peterburg 1895, t. 1, S. 223, Nr. 162. [https://archive.org/details/velikorusskiiana01sobouoft/page/222/mode/2up]. Über den europäischen-russischen Kontext vgl. Leopol’d Franzovič Voevodskij: Kanibalizm v grečeskich mifach. Opyt po istorii razvitija nravstvennosti. Moskva 2016, S. 85ff. (1. Ausgabe: Санкт-Петербург 1874). Für diesen Hinweis danke ich meiner Kollegin und Privatdozentin Frau Dr. habil. Marianna Leonova (GeorgAugust-Universität Göttingen). 463 Ivan I. Danilovič (1288–1341).

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auszudehnen. Der Sohn jenes Ivan Kalita464, ein gewandter, listiger Mann, wirkt wie ein Vermittler zwischen dem slavischen Volk und den Mongolen; er übernimmt es, die Abgaben vom ganzen Land zu erheben, und im Namen der Rus’ sie den Mongolen zu überliefern. Es ist dies der erste Schritt der moskovitischen Fürsten zur Selbstherrschaft und Despotie. Zuerst bemächtigen sie sich der Schatzführung des Landes, sie verrichten das Amt der Zolleinnehmer für die Khane; später strafen sie die Empörer, sie erhalten von der Horde die richterliche Gewalt, werden zu Vollstreckern der tatarischen Gerechtigkeit; am Ende werden sie als rechtliche Eigentümer des Zepters anerkannt. Nach 300 Jahren geheimen und öffentlichen Kampfes erklart sich Ivan III., der moskovitische Fürst, für den Zaren, er nimmt den Titel an, welchen die Slaven dem tatarischen Khan gaben; und von da an beginnt wieder eine neue Geschichte der Rus’. In dieser Umwandlung bilden die wichtigsten Zeitpunkte folgende Reihe. Im Jahre 1150 errichtet Jurij Dolgorkij sein Fürstentum und reißt sich von den slavischen Ländern los; 100 Jahre später (wenn wir die runde Zahl nehmen), also 1250 fallen die Tataren über die Rus’ her, es beginnt die neue Laufbahn der Dynastie des Jurij, die von der einen Seite die Tataren zu hintergehen, von der anderen die Rus’ zu unterjochen trachtet. Wiederum nach hundert Jahren, also 1350 versucht die in Moskau befestigte Dynastie die tatarische Oberherrschaft abzuwerfen; in 30 Jahren nach dieser Zeit trägt schon Dmitrij Donskoj465, einen großen Sieg über den Khan Mamaj davon, wenngleich er noch nicht den Sieg zu benutzen wagt, sondern zu der Unterwürfigkeit unter die früheren Herren zurückkehrt, und ihnen Tribut zahlt. Erst 100 Jahre nachher, also 1450 bekleiden sich die moskovitischen Fürsten mit der früher unbekannten Würde des Zaren. Das moskovitische Zarentum zeigt sich völlig befestigt. Von nun an ändert sich alles. Dieser neue Herd in der früheren Rus’ breitet sich einerseits nach dem Ural aus, bekommt das Übergewicht über die Tataren, bemüht sich, sie zu ruinieren und zu vernichten; andererseits verfährt er mit grimmiger Tücke gegen die südlichen Länder, gegen Kiev und Halicz; auch überfällt er gewaltsam Novgorod und die nördlichen Republiken, um aus diesen Eroberungen einen neuen Staat zu errichten. Dieses lange Gewebe von Taten gänzlich zu entwirren, ist heut zu Tage aus Mangel an Urkunden sehr schwierig. Die Schreiber der Chroniken hören, wie erwähnt, zu Anfang des 13. Jahrhunderts auf. Schon können sie nicht mehr den 464 Simeon Ivanovič Gordyj (1316–1353). 465 Dmitrij Ivanovič Donskoj (1350–1389). Im Jahre 1380 besiegte Donskoj in einer blutigen Schlacht auf dem sog. Schnepfenfeld (russ. Kulikovo oder Kulikovskoe Pole) am oberen Don den Khan Mamaj, den faktischen Herrscher der „Goldenen Horde“.

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Lauf der verwickelten und geräuschvollen Begebenheiten verstehen, sie erfassen nur einige Zeitangaben und besondere Ereignisse, ohne im Mindesten eignes Urteil noch genauere Aufklärung über dieselben zu geben. Einzig als Beispiel ihres Stils und ihrer Schreibart liefern wir einige Zeilen aus einem von Nestors Fortsetzern; alle übrigen sind ihm gleich: Въ лѣто 6653 [1145]. Принесе благовѣрная княгыни Елена князя Ярополка изъ гробници въ церковь святаго Аньдрѣя и положи и у Янъкы, и митрополитъ Михаилъ иде Царюгороду. Въ то же лѣто иде Игорь с братьею своею на Лахы, а другымъ в помочь Того же лѣта Кыевъ погорѣ, половина Подолья. Въ лѣто 6654 (1146). Приде Володимеръ и взя Прилукъ; и совокупи Всеволодъ братью свою на Радосыни. […] и везоша и Вышегороду, и тамо скончася мѣясца іюля въ 30 день.466 Im Jahre 6654 [1145] setzte die fromme Fürstin Helena den Leichnam des Fürsten Jaropolk in der Kirche des heiligen Andreas, unfern von dem Grabe Ivans, und der Metropolite Michael nach reiste nach Konstantinopel. In diesem Jahr zog Igor’ mit seinen Brüdern in den Krieg gegen die Lachen und die anderen [Lachen] zur Hilfe. In diesem Jahr gab es eine Feuersbrunst in der Kiever Rus’, halb Podolien verbrannte. Im Jahre 6654 [1146]. Volodimir machte einen Zug gegen Priluk und eroberte die Stadt. Vsevolod vereinigte sich mit den Brüdern in dem Dorf Radosynja […] und fuhr nach Vyšegorod und verstarb am 30 Juli.

Und so weiter. Es ist unbekannt, warum die Polen miteinander kriegten, welche Partei die Fürsten unterstützten, warum der eine Fürst mit dem anderen sich vereint, und ein Jahr später auf Tod und Leben ihn bekämpft. Der Chronikenschreiber zeichnet alles ohne Ordnung auf, und nachdem er ebenso gleichgültig die abscheulichsten Untaten irgendeines Fürsten erzählt hat, setzt er nachher hinzu, daß im selbigen Jahre dieser so gute, großherzige und fromme Fürst gestorben sei. Einige Geschichtsschreiber waren jedoch im Stande in diesen Zeitangaben die Keime weit ausgebreiteter Wirkungen politischer Taten, und vieles die Kultur Betreffende, aufzufinden. So ist z.B. in den wenigen Worten des oben angeführten Fortsetzers die ganze moskovitische Geschichte eingeschlossen. 6670 [1162]. Томъ же лѣтѣ выгна Андрей епископа Леона изъ Суждала, и братью свою погна Мьстислава и Василка и два Ростиславича сыновца

466 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Izdannoe po vysočajšemu poveleniju archegrafičeskoju kommissieju. Tom pervyj. I. II. Lavrentievskaja i troickaja letopisi. Sanktpeterburg 1846, S. 136.

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Teil I своя мужи, отца своего передніи. Се же створи хотя самовластець быти всей Суждальскои земли.467 Im Jahre 6670 [1162] hat der Fürst Andreas [Bogoljubskij], den Bischof Leon aus Suzdal’ verjagt und seine Brüder Mstislav, Vasil’ko und zwei RostislavNeffen, die unter seinem Vater gedient, um Selbstherrscher von Suzdal’ zu werden.

Diese Worte erregten die Aufmerksamkeit aller, denn sie enthalten unerhörte Sachen: die Verjagung eines Bischofs, die Verjagung der Verwandten des Fürsten und sogar ihrer Parteigänger. Diese an sich selbst so einfache Erzählung haben die russischen Historiographen verschiedentlich ausgelegt, jeder nach seiner Weise. Unter anderen setzte sich Karamzin468, der gewöhnlich nur die Überlieferungen der Chroniken zusammenstellt, hier durchaus eine Verschwörung dieser Fürsten gegen den Staat in den Sinn. Allein dieser Begriff vom Staat, welchen Karamzin zur Grundlage seiner ganzen Geschichte genommen, war damals noch unbekannt. Allenthalben sieht er einen Staat, allenthalben stellen sich ihm die Regierungen der Monarchen, die Empörungen der Untertanen, und zuletzt die Hinrichtungen der Verschworenen vor Augen. Um daher etwas aus jenen Worten ziehen zu können, konnte er sich auch hier nicht ohne Verschwörung und Untersuchung behelfen. Die polnischen Geschichtschreiber treffen, wie es scheint, besser den Sinn der im Text angezeigten politischen Umwälzung durch die einfachen aber klar bezeichnenden Worte: „Der Fürst Andrej […], um Suzdal’s Selbstherrscher zu werden […]“, tat dies und jenes; Worte, welche das erste und letzte Mal in den russischen Jahrbüchern gesagt worden. Nirgends findet sich eine Erwähnung der Selbstherrschaft mehr. Mit Ausnahme der geschriebenen Gesetzgebung besteht die ganze Literatur der damaligen Rus’ in Chroniken und Schriften mit Jahresangaben. Diese Fortsetzer Nestors verlieren aber immer mehr den persönlichen Charakter, und werden so abgeschmackt trocken, daß man sie kaum nur wie uralte Münzen und Medaillen brauchen kann, die in der Erde gefunden, zur Berichtigung des Zeitpunkts für dieses oder jenes Ereignis dienen; das ist ihr ganzer Wert. Wie nun das moskovitische Großfürstentum schnell in seiner neuen Bahn fortschreitet, sehen wir in Polen desgleichen eine lebendige Bewegung, die das 467 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Izdannoe po vysočajšemu poveleniju archegrafičeskoju kommissieju. Tom vtoroj. III. Ipat’evskaja letopis’. Sanktpeterburg 1845, S. 91. 468 Vgl. N. M. Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I. Sinjukov. Moskva 1989, kniga pervaja, tom III, glava I („Velikij knjaz’ Andrej. G. 1169–1174“).

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Volk in ganz entgegengesetzter Richtung fortträgt. Aus der Teilung des Landes nach dem Tode Bolesław des Schiefmunds (Bolesław III Krzywousty)469 unter seine Söhne ersteht ein neues Polen, noch einige Zeit durch das alte mit Hilfe der Kirche zurückgehalten, die den vorigen Zustand der Dinge bewahren will, und mit Hilfe einzelner Großen, welche ihrem Vaterlande die Richtung des europäischen Strebens geben wollen. Die Kirche war anfänglich, nach dem dazumal durch das ganze Christentum angenommenen Bräuche, für den ältesten der Söhne [Władysław II.]470; dieser aber, verwandt mit dem österrechischen Haus und mit dem römischen Kaiser, strebte darnach, die feudale Ordnung bei sich einzuführen, d.h. Polen für den Zweck „der Bedeutung und Macht“ zu regeln. Seine Gattin, eine hochmütige Deutsche471, welche die slavische Unordnung nicht zu tragen vermochte, beschwor ihren Mann, den Verwirrungen einmal ein Ende zu machen und stellte ihm fortwährend die Ordnung der Dinge vor Augen, wie sie dieselbe am kaiserlichen Hofe zur Genüge gesehen. Władysław II., durch dieses Zureden geneigt gemacht, nahm sich vor, seine Brüder zu vertreiben; er erklärte diesen Schritt als notwendig für das Wohl des Reichs, und hoffte in den Bischöfen eine Stütze zu finden. Diese Gewalttat empörte aber die Geistlichkeit und das Volk, besonders die mächtigeren Herren, die schon eine größere Bedeutsamkeit besaßen. Statt also das ganze Land zu gewinnen, verlor er selbst sein Fürstentum und mußte mit seiner Frau nach Deutschland fliehen. Etwas später wollte sein Bruder Mieczysław472, genannt der Alte, ein Mann von großen Fähigkeiten, dieselbe Politik ergreifen, wagte jedoch nicht, Gewalt zu brauchen, sondern bemühte sich, die Herzen durch Beredsamkeit zu gewinnen, indem er den Großen, wie man schon damals sich ausdrückte, die Notwendigkeit eines Oberhauptes für das Land vorstellte. Viermal gelangte er zur Gewalt, aber immer wieder durch die vereinten Brüder aus seiner Hauptstadt vertrieben, war er nicht im Stande, in Polen die Alleinherrschaft einzuführen. Die Herren, die Woiwoden und Bischöfe beriefen sich immer auf das Testament des verstorbenen Königs, sie betrachteten dies Vermächtnis als Polens Kardinalgesetz, und wie oft auch der älteste unter den Fürsten an die Wiederherstellung der Einheit dachte, bestanden sie immer kräftig auf der Teilung. Es leitete sie ein gewisses Vorgefühl, daß aus diesen Teilungen eine vermittelnde Gewalt zwischen dem Herrscher und dem Volk entstehen dürfte, eine Oligarchie, ein Senat. Darum haben auch die geistlichen und weltlichen Herren 469 Bolesław III. Krzywousty (1086–1138). 470 Władysław II. (1105–1163). 471 Agnes von Österreich (1111–1157), Tochter von Leopold III. von Babenberg. 472 Mieczysław Stary – [Mieszko III.] (1126/27–1202).

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die ältere Linie der Piasten verlassen und sich an die jüngere gewandt, welche endlich auch der Papst bestätigte. Wir sehen also in Polen, ebenso wie früher in der Rus’, die jüngere Linie das Zepter ergreifen. Nur reißt in der Rus’ die jüngere Linie immer mehr die Gewalt an sich, dahingegen treten die polnischen Fürsten, um Zuneigung zu gewinnen, immer mehr Gewalt ab, erteilen zuerst den großen Herren, dann dem höheren und zuletzt auch dem niederen Adel große Vorrechte. In der neuen Rus’ geschieht anfänglich alles im Namen der Fürsten, später im Namen der Mongolen auf Befehl des Khans; in Polen werden die Staatsangelegenheiten im Rat der um den Fürsten versammelten Großen verhandelt, und dies Reich bedeutet nicht nur das Fürstentum, sondern es beginnt schon der Begriff des Vaterlandes zu tagen. Die Chronikenschreiber der Rus’ zeichnen bloß Ortsereignisse auf, kaum tun sie nebenbei dessen Erwähnung, was in den benachbarten Fürstentümern sich zugetragen, und diese würden sie nicht interessiren, wenn nicht Rjuriks Nachfolger in ihnen herrschten; kein anderes Band vereint die Länder der Rus’. Nicht also ist es mit Polen. Viele Fürsten fallen vom Königshaus ab, diese Fürsten sind mit ihm durch keine Feudalordnung verbunden, nicht seine Lehnsträger, erkennen die Pflicht des Gehorsams nicht an, schwören ihm sogar keine Treue, schließen oft als selbstständige Herrscher mit fremden Monarchen Bündnisse; und dessenungeachtet betrachtet die öffentliche Meinung ihre Fürstentümer immer als zu Polen gehörig. Die Vorstellung der Einheit, scheinbar so einfach und doch mit so großer Mühe sich bildend, ist Polen der Kirche schuldig. Indem die Kirche den polnischen Monarchen krönte, stellte sie schon in seiner Person den Begriff des Reichs dar. Der König eingeführt in die Familie der christlichen Fürsten, erblickte sich als den Vertreter des Landes, er fing an, dessen Einheit zu begreifen. Diese bewahrten und erhielten später zur Zeit der Teilungen die Bischöfe, sie unterließen nicht, sich zu versammeln und Synoden zu bilden. Während der Streitigkeiten unter den Fürsten, ja selbst während der Kämpfe und Zerwürfnisse versammelten sich dennoch fortwährend die Prälaten, die weltlichen Herren, die Woiwoden, Kastellane und andere Große, ja sie zwangen sogar die Fürsten, selbst die Synoden zu berufen. Diese stellten die moralische Vertretung Polens dar, als es ohne Regierungsrepräsentanten sich befand, obgleich dasselbe vor den Augen der Welt immer seine selbstständige Persönlichkeit befaß. So haben die Bischöfe von Pommern, nachdem die pommeranischen Fürsten sich von Polen losgerissen, nie vernachlässigt, im Kreise der Beratungen über die öffentlichen Angelegenheiten Polens unter Vorsitz des Primas von Polen zu erscheinen; so haben später die Bischöfe Schlesiens und sogar vieler preußischen Provinzen ohne Unterbrechung im Rat gesessen;

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diesem präsidierte der Erzbischof von Gnesen. Auf diese Weise entstand und befestigte sich die Vorstellung von einem polnischen Reiche. Auf diesen Synoden473 wurden auch Gesetze gegeben. Die organischen Gesetze der Rus’ befassen sich nur mit der Festsetzung der Unterwürfigkeit des Sklaven unter seinen Herrn, des Herrn unter den Fürsten; die polnischen Gesetze bestimmen die Rechte der Stände im Volke, sie sind schon politisch. Die alte Rus’ besaß nur eine Zivil- und Kriminalgesetzgebung, die Polen aber außerdem schon dazumal eine politische. Die Synode schützte den Landmann, sie wehrte den Hofleuten, d.h. den fürstlichen Dienern, nach Willkür Abgaben oder Schenkungen irgend einer Art zu erheben, begründete eine geregelte Gerichtsbarkeit; jede dieser Anordnungen aber endete mit der religiösen Formel: „Verflucht sei, wer dies Gesetz bricht“ (Ktokolwiek zgwałci to prawo, niech będzie przeklęty.“). Diese Gesetze waren für ganz Polen gültig, ja man betrachtete sie sogar als verpflichtend für die unabhängigen Fürsten von Pommern, später für die Fürsten von Schlesien und endlich für den ganzen Adel von Halicz, welches Land immer mehr mit Polen verschmolz. Die Gerichtsbarkeit in der alten Rus’ ging von den Gemeinden in die Hände der von den Fürsten ernannten Landesverweser über; in Polen aber verblieb sie immer bei den Versammlungen des Ritterstandes, welche sowohl in Kriminalals in Zivilsachen entschieden; der auf einer solchen Zusammenkunft vorsitzende Beamte leitete sie nur, hatte jedoch nicht einmal eine entscheidende Stimme. Alles eilte daher in Polen der Freiheit, in der alten Rus’ der Alleinherrschaft zu. Von zwei Seiten drohten diesen Reichen verschiedene Gefahren: Polen neigte zur Anarchie, die alte Rus’ zum Despotismus. Die damaligen polnischen Geschichtsschreiber, so vielmals von den Deutschen kritisiert, erregen ein bei weitem lebendigeres Interesse, als die altrussischen Chronisten des 13. Jahrhunderts. Wie diese trocken und langweilig sind, so haben jene, jeder in seiner Art, einen ausgeprägten Charakter. Nach den frommen, religiösen Chronikern, 473 Die erste Versammlung war in Łęczyca (Woiwodschaft Łódź): „Auf einem Tag zu Leczyca (fälschlich „Synode“ genannt) 1180 ließ sich Kasimir („der Gerechte“) von den Großen seines Teilgebiets und des Senioratsgebietes sowie von sämtlichen Bischöfen die Aufhebung des Senioratsprinzips und die erbliche Zugehörigkeit Krakaus und des Senioratsgebietes […] zu seiner engeren Familie bestätigen. Der Preis für diese Sanktionierung einer Usurpation war der Verzicht auf das ius spolii des Fürsten gegenüber den Bischöfen, die Einziehung der persönlichen Hinnterlassenschaft eines verstorbenen Bischofs. Eine Bulle Papst Alexanders III. bestätigte Kasimir 1181 seinen Besitz und die Aufhebung des Senioratsprinzips.“ – Gotthold Rhode: Kleine Geschichte Polens. Darmstadt 1965, S. 43–45; vgl. auch A. Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. Księga trzecia. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Red. Julian Maślanka. Warszawa 1996.

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nach der Epoche Thietmars von Merseburg474 und Gallus, folgt die der polnischen Chronikenschreiber, welche schon pragmatische Geschichte schreiben; sie sind sogar die ersten pragmatischen Historiographen Europas. Ihr wenn auch lateinischer Stil ist dennoch echt polnisch; das Polnische leuchtet hier bei jedem Federzuge unter der leichten Hülle lateinischer Worte hindurch. Sein allgemeiner Fluß ähnelt sehr dem Stil gleichzeitiger Schriften aus der alten Rus’, die sich in den Archiven vorfinden, und von dem der Chroniken unendlich verschieden sind. In diesen Denkmälern finden wir Einfalt und Ehrbarkeit wie sie das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ auszeichnet. Unter ihnen ist schätzbar die „Belehrung des Fürsten Vladimir Monomach“. Wir wollen hier einige Stellen desselben anführen, wo er seinem Sohn Rat und Ermahnungen erteilt, und zugleich erzählt, was ihn am meisten beschäftigte. И мировъ есмъ створилъ с половечьскыми князи безъ одиного 20, и при отци и кромѣ отца, а дая скота много и многы порты своѣ. И пустилъ есмъ половечскых князь лѣпших изъ оковъ толико: Шаруканя 2 брата, Багубарсовы 3, Осеня братьѣ 4, а всѣх лѣпших князий инѣхъ 100. […] и инѣхъ кметий молодых 15, то тѣхъ живы ведъ, исѣкъ, вметах в ту рѣчку въ Салню. Und Friedenschlüsse habe ich gemacht mit den Kumanenfürsten neunzehn, zu Zeiten meines Vaters und ohne den Vater, und gab ihnen dabei viel Vieh und viele meiner Kleidungsstücke. Und von höheren Kumamenfürsten ließ ich soviel aus den Fesseln frei: 2 Brüder des Šarukan, 3 des Bagubars, 4 Brüder des Osen’ und aller anderen ihrer besten Fürsten 100. […] und von anderen jungen Recken 15. Diese führte ich lebend weg und erschlug sie und warf sie in das Flüsschen, die Salnja.

Nachher beschreibt er weitläufig seine Jagdherrlichkeiten: Тура мя 2 метала на розѣх и с конемъ, олень мя одинъ болъ, а 2 лоси, одинъ ногами топталъ, а другый рогома болъ, вепрь ми на бедрѣ мечь оттялъ, медвѣдь ми у колѣна подъклада укусилъ, лютый звѣрь скочилъ ко мнѣ на бедры и конь со мною поверже. И Богъ неврежена мя съблюде. И с коня много падах, голову си розбих дважды, и руцѣ и нозѣ свои вередих […]. Весь нарядъ, и в дому своемь то творилъ есмь. И в ловчих ловчий нарядъ сам есмь держалъ, в конюсѣх, и о соколѣхъ и о ястребѣх.475

474 Vgl. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. Robert Holtzmann. Berlin 1980. 475 Poučenie Vladimira Monomacha. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Tom  1: XI–XII veka. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Sankt-Peterburg 1997, S. 469–470. Vladmir Vsevolodič Monomach (1053–1125), von 1113–1125 Kiever Großfürst; Schriftsteller.

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Zwei Auerochsen haben mich mit dem Pferd auf den Hörnern geworfen. Ein Hirsch stieß mich, und zwei Elche: einer trat mich mit den Füßen, der andere stieß mich mit den Hörnern. Ein Eber riß mir das Schwert an der Hüfteweg. Ein Bär zerbiß mir am Knie die Satteldecke. Ein grimmes Tier sprang mir an die Hüfte und warf das Pferd mit mir um, und Gott bewahrte mich unbeschadet. Und vom Pferd fiel ich oft, zweimal schlug ich mir den Kopf auf und verletzte meine Hände und Füße. […]. Die ganze Ordnung auch im eigenen Haus habe ich selbst geschaffen. Und bei der Jägerei habe ich selbst die Jagdordnung festgesetzt, und im Pferdestall und in der Falknerei und bei der Habichtjagd.476

Dessenungeachtet rät er dem Sohn, in allen den Stücken ihm nachzuahmen, und weder die Bären, noch die Polovcer zu scheuen. Welch ungeheurer Unterschied zwischen den damaligen Chroniken und dieser Erzählung! Denn letztere atmet wenigstens Leben, sei es auch nur das häusliche, private, welches noch slavisch war, da hingegen die Chroniken sich schon mit dem neuen Zustande befassen, sie reden vom Reich, das nichts Slavisches in sich hat. Die polnischen Chronikenschreiber scheinen treue Brüderschaft mit dem Verfasser jenes Testaments zu halten; man findet denselben Stil bei ihnen, besonders aber dasselbe tiefe Gefühl der Natur. Alle Augenblicke nehmen sie in ihren Metaphern Bilder aus der Schöpfung, erzählen die Geschichte der Tiere; zuweilen fassen sie ganze politische Reden aus Fabeln und Apologen ab. Wir haben früher des Kriegs erwähnt, der zu Bolesław des Schiefmunds Zeiten durch dessen natürlichen Bruder Zbigniew477 entstanden war. Dieser Zbigniew wurde einst in einer Schlacht gefangen und vor das Gericht des fürstlichen Rates gestellt. Der Chroniker führt nun die Herren auf, wie einer für, der andere gegen den Beklagten spricht. Der öffentliche Ankläger beginnt: Non enim facile planta conualescit, cuius radicem uermis in ipso plantationis exordio cauteriat. Immo qui salici surculus inseritur, salicti sequitur saporem […]. Fama est, leenam quandoque conmisceri cum pardo, unde linciam nasci dicunt. Qua deprehensa leo in inuidiam eius cum lupa conmiscetur; hinc nascitur leoxippus, qui uulgo lupus rabidus dicitur […]. Est enim eadem istius natura que basilisci, que cicute, que olophagi, que cerastis. Nam et basiliscus serenitate uisus enecat et exstinguit. Cicuta quo dulcior, eo nocendi efficacior. Olophagus nunquam crudelior, quam simplicitate blanditur columbina. Cerastes uero quandam in cornibus putans maiestatem regem sese gerit reptilium.478 476 Belehrung des Vladimir Monomach. In: Handbuch zur Nestorchronik. Band IV: Die Nestorchronik. Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001, S. 356–358. 477 Zbigniew (1070–1112), Herzog von Polen, Großpolen, Kujawien und Masowien. 478 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum – Mistrza Wincentego zwanego Kadłubkiem Kronika Polska. Hrsg. Marian Plezia. Kraków 1994, S. 76–77.

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Teil I Denn nicht leicht kann eine Pflanze gesund wachsen, deren Wurzel von Anfang an vom Wurm angefressen wird. Und selbst wenn man den Ast mit Pfropfreis veredelt, nimmt er bitteren Geschmack an. […]. Man erzählt, daß die Löwin sich manchmal mit dem Leoparden paart, woraus, wie man sagt, ein Panther (Panthera uncia) entsteht: wenn der Löwe sie dabei ertappt, paart der sich aus Eifersucht mit der Wölfin […]. Seine Natur ist nämlich der des Basilisten (Leguan), des Drachens, der gehörnten Schlange ähnlich. Denn der Basilisk tötet und vernichtet durch die Schärfe des Blickes; je süßer der Schierling umso giftiger ist er. Der Drachen ist umso grausamer, wenn er sich mit der Unschuld einer Taube einschmeichelt. Die gehörnte Schlange wiederum zeigt mit ihren Hörnern eine gewisse Herrlichkeit an, sie verhält sich wie ein König der Reptilien.

Um nun zu verstehen, wohin dies zielt, muß man die Naturgeschichte nach den damaligen Vorstellungen des Volkes kennen, mit den damals üblichen Meinungen bekannt sein, welche bis auf den heutigen Tag im slavischen Volke in Betreff des Panthers, des Wolfslöwen und der gehörnten Schlange sich erhalten haben. Diese Schlange galt im Altertum für den König der Tiere. Nachdem der Redner auf solche Weise seine Gedanken in Hinsicht der Geburt Zbigniews ausgedrückt, richtet er die Aufmerksamkeit auf dessen Erziehung und sagt: Accedit ad hec et egregiorum educatrix disciplina, cuius perfectionem nunc apud Teutones, nunc aput Bohemorum perfectissimos continuis sudoribus uix tandem hic est assecutus.479 Hinzukommt hier noch die Tugend- und Sittenlehre, die sowohl bei den Deutschen als auch bei den vortrefflichen Böhmern in schweißtreibender Arbeit stets perfektioniert wurde.

Hieraus sieht man, daß diese Gelehrten nicht die allerbeste Meinung in Polen für sich hatten. „Wer weiß nicht, was die sittlichen Grundsätze der Prager sind?“ („Aut quis ignorat, que Pragane sit ethice preceptio?“).480 Hier folgt eine lange Reihe Sprichwörter, als diesen Gelehrten und Tschechen angehörig. Unter anderem: „Reiche die Hand hin, mein Sohn, achte aber zugleich darauf, was du greifst!“ „Willst du jemanden sicher töten, trachte sein Arzt zu werden.“ [Das Publikum lacht] 479 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 77. 480 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S.  77. Ebenda folgt der Vers: „Sis blandus, fili, pariter et insidiosus […]“ (Sei gleichzeitig ein Schmeichler und ein hinterlistiger Mensch, mein Sohn).

23. Vorlesung (23. März 1841)

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„Ein Mensch, von dem kein Vorteil zu ziehen, gleicht einem Baum ohne Frucht.“ „Spare nie die Versprechungen: dies verpflichtet dich zu Nichts, kann dir aber Viele verbinden.“ Und dergleichen mehr. Derselbe Chroniker beginnt sein [III.] Buch, wo er von dem unbegrenzten Ehrgeiz des durch die Mutter aufgereizten Fürsten spricht, wie folgt: Est quoddam uolucrum genus, quas nonnulli uranites, alii vero seponas vocant. Earum est ea natura ut omnium oscinum, etiam sue nature, nisi tempore conceptus, dedignentur consortia et quot pullos quelibet educatura est, tot nidos in diuersarum cedrorum cacumunibus edificat et in singulis singula oua ponit Vnde sepona quasi seorsum ponens dicitur; alias uolucres ad cubandum cogit sicut cuculus currucam. Porro pulli simul nascuntur et euolant, immo stupendum, peruicacitatis uolatu montium et arborum superant suprema et celsis emensis nubibus, quia in humili aspernantur quiescere, sub ipsius etheris puritate, alto nature consilio soporantur, unde uranites id est celestes dicuntur; uranos enim Grece, celum Latine. Sepe uento prohibente ad ima descendere non possunt et sic instar fulicarum in aëre fame depereunt.481 Es gibt eine besondere Art Vögel, die einige „uranidae“, andere aber „seponae“ nennen. Ihre Eigenart ist die, daß sie die Gesellschaft aller Vögel meiden, sogar die eigener Artgenossen, ausgenommen während der Paarungszeit. Je nachdem, wie viele Junge ein Paar aufziehen will, so viele Einzelnester baut es in den Zedernwipfeln und legt in jedem Nest ein Ei: daher rührt der Name Sepona her, d.h. einzeln (separat) gelegt. Zum Ausbrüten werden andere Vögel genötigt, so z.B. der Kuckuck. Alsdann kriechen die Jungen gleichzeitig aus dem Ei und fliegen fort; mehr noch, indem sie sich im Flug mit frappierender Geschwindigkeit über Berg- und Baumwipfel erheben und dank der angeborenen Fähigkeiten, schlafen sie im blauen Himmel, weil sie das Ausruhen auf der Erde verachten: daher nennt man sie die Uraniden, d.h. die himmlischen Vögel: griechisch ούρανός, lateinisch caelum. Zuweilen, wenn der Wind sie daran hindert, können sie nicht herunterfliegen, und dann sterben sie wie die Blässhühner vor Hunger in der Luft.482

Dies bedeutet, daß die Mutter483 des Fürsten, weil sie hochmütig wie eine Uranide war, dem Sohn den Kopf mit hochfahrenden Gedanken vollgepfropft hat, die ihn so hoch aufgetrieben, daß er, nicht vermögend in den Kreis der 481 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 122. 482 uranidae, seponae – Neologismen, (Phantasie-Namen) von Kadłubek, vgl. den Kommentar von Brygida Kürbis in: Mistrz Wincenty (tzw. Kadłubek): Kronika polska. Hrsg. B. Kürbis. Wr.-W.-Kr. 1992, S. 165–166. 483 J. Maślanka verweist darauf, daß es sich hier nicht um die Mutter, sondern um die Frau des Herzogs Władysław II. Wygnaniec (1105–1159 handelt (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 694).

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Teil I

wirklichen Bedürfnisse des praktischen Lebens zurückzukehren, seinen Untergang fand. Die Kritiker haben diesen Stil484 sehr verlacht; doch gibt es nichts, was mehr volkstümlich, mehr slavisch wäre, als diese Art sich deutlich zu machen. Wir werden ihn später noch in den ernstesten Auseinandersetzungen im Sejm finden, und es lassen sich sogar bis auf die letzten Zeiten Spuren desselben in Polen und Tschechien wahrnehmen.

484 Vgl. dazu die Einleitung von B.  Kürbis, in: Mistrz Wincenty (tzw. Kadłubek): Kronika polska, op. cit., S. CXVI.

24. Vorlesung (26. März 1841) Charakteristika der polnischen Chroniken und der Chronisten der Rus’ im Vergleich – Wincenty Kadłubek – Gesetzgebende Texte – Polnische Gesetzgebung und die römische Tradition – Veto – Tschechien im XV. Jahrhundert; Feudalwesen und Deutschtum – Die Reimchronik des sog. Dalimil – John Wycliff – Kampf der Tschechen gegen das Deutschtum – Jan Hus – Jan Žižka – Ende des Hussitenkrieges – Aufstieg Moskaus und Litauens – Die Vereinigung Litauens mit Polen.

Der eigentümliche Stil der polnischen Chronisten des 13. Jahrhunderts und ihrer Zeitgenossen, der für die Slaven so vielen Reiz hat, wurde von den Fremden scharf kritisiert. Insbesondere die Deutschen, welche vor allem die mythische Geschichte Polens ganz und gar verwarfen, weil sie in derselben weder die Zeitangaben noch die geographischen Bestimmungen fanden, die Deutschen sage ich, welche etwas Unmögliches verlangten, nämlich daß die Sagen ihren registerartigen und auf der Karte bezeichneten Anfang hätten, mußten über die Form dieser Chroniken um so mehr die Achseln zucken. Diese Herrn Gelehrten, ihr ganzes Leben in Bibliotheken eingeschlossen, wie z.B.  Gottfried Lengnich485, August Ludwig Schlözer486 und unlängst Johannes Voigt487, waren durchaus nicht im Stande, diese Weise der Slaven, sich unter einander zu verständigen, wie wir es in den angeführten kleinen Bruchstücken gesehen, zu begreifen, wo nämlich immerwährend Vögel, Amphibien und Tiere auftreten, und der Stil der abgelauschten Sprache des Tierreichs entnommen scheint. So jedoch haben die Slaven geredet, und so war die Sprache jener Zeiten, wo die Könige ihre Tage auf Jagden verlebten, wo die Großen, der Adel und sogar die Geistlichen mit Leidenschaft der Jagd oblagen. Den einzigen Stoff für die Sagen gaben die Erzählungen des Volkes; daher treffen wir überall eine Berufung auf letztere. Die Chroniker wiederholen ohne Unterlaß: „wie bekannt“, und erzählen Sachen, die jetzt niemand weiß, ja die unter dem Volk vergessen zu sein scheinen. So sagen sie z.B., indem sie von Beginn des Tierreichs erzählen: „Allgemein bekannt ist, daß, wenn die Löwin den Löwen verrät, dieser sich

485 Gottfried Lengnich (1689–1774), Danziger Historiker; vgl. G.  Lengnich: Polnische Geschichte von Lechii bis August. Danzig 1740–1741; ferner: Włodzimierz Zientara: Gottfried Lengnich. Ein Danziger Historiker in der Zeit der Aufklärung. 2 Bde., Toruń 1995–1996. 486 Vgl. die 8. Vorlesung (Teil I), Fußnote 139. 487 Johannes Voigt (1786–1863); deutscher Historiker; vgl. J. Voigt: Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens. 9 Bände., Königsberg 1827–1839.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_025

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Teil I

unter die Wölfe begibt und eine Wölfin zum Weibchen nimmt“, und tausend andere ähnliche Einzelheiten.488 Die Chroniker der alten Rus’, gewöhnlich trocken in ihren Geschichten, erzählen zuweilen Ereignisse, die den Anekdoten angehören, mit größerer Lebendigkeit, was ihnen jedoch äußerst selten begegnet. In den vier Fortsetzern Nestors finden wir nur eine dieser Art, die Heirat der Fürstin von Polock mit Vladimir dem Großen. Der Chroniker hat diesen Abschnitt in seine Jahrbücher aus den alten Überlieferungen, die er im Gedächtnis trug, eingeschoben. Als Vladimir von der Schönheit der Rogneda, Tochter des Rogvolod, Fürsten von Polock gehört, schickte er zu ihm Gesandte mit der Bitte um ihre Hand. Der Vater benachrichtigte hiervon die Tochter, diese aber antwortete: „Не хочю розути робичича“.489 (Ich will dem Sohn der Sklavin nicht die Schuhe ausziehen). Eine Pflicht der slavischen Gattinnen war nämlich, den Männern die Fußbekleidung zu lösen. Der darob erzürnte Vladimir, überfiel Polock, ließ die ganze Familie des Fürsten Rogvolod hinrichten und führte Rogneda mit Gewalt fort. Später, als Vladimir nebenbei noch andere Frauen hatte, was Rogneda mißfiel, nahm sie sich vor, ihn zu töten. So kam sie einst mit dem Dolche zum schlafenden Fürsten, er erwachte zufällig und hielt ihre Hand auf. Da begann sie unter Tränen zu klagen: Сжалиласи бяхъ, зане отца моего уби и землю его полони мене дѣля, и се нынѣ не любиши съ младенцем симъ. Sie klagte, den Vater hast du mir gemordet, mein Land mir entrissen, und jetzt liebst du weder mich noch dein Kind.

Vladimir jedoch befahl ihr, sich wie zur Trauung zu kleiden, den fürstlichen Schmuck anzubringen und sich dann auf die Totenbahre in der Mitte des Zimmers hinzulegen, worauf er sie töten wollte. Rogneda erfüllte den Befehl, gab jedoch, zuvor ihrem Sohne Izaslav ein entblößtes Schwert in die Hände und sagte:

488 Paraphrasierung des bereits angeführten Zitats aus der 23. Vorlesung: „Fama est, leenam quandoque conmisceri cum pardo, unde linciam nasci dicunt. Qua deprehensa leo in inuidiam eius cum lupa conmiscetur; hinc nascitur leoxippus, qui uulgo lupus rabidus dicitur.“ (Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 77). 489 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  284. Im Internet zugänglich unter: [https://www.prlib.ru/item/692556].

24. Vorlesung (26. März 1841)

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И давши же мечь сынови своему Изяславу в руку нагъ, и рече: „Яко внидетьти отець, рци, выступя“: „Отче, еда единъ мнишися ходя.“490 Und indem sie ihrem Sohn Izjaslav das Schwert in die Hand gab, sagte sie: „Wenn aber der Vater kommt, so zeige dich zur Hälfte und sprich“: „Vater willst du allein leben?’“

In dieser Fabel sind schätzbare Einzelheiten von den alten Gebräuchen der Rus’; der amtliche Stil der Chroniker ist ein ganz anderer, es scheint, als mangele es ihnen an Einbildung, an Kraft, zwei Zeilen zu schreiben, wenn sie dieselben nicht aus Zeitangaben und Fakten zusammenstoppeln können. Diese Fabel hat man später wunderbar umgeändert. Jeder hat sie nach eigenem Belieben gemodelt. Viele französische Schriftsteller, ähnlich verfahrend wie der witzige Erfinder einer Sammlung der nie bekannt gewesenen illyrischen Dichtung491, worüber wir schon gesprochen, haben im vorigen Jahrhundert sich auf das Zusammenleimen einer slavischen Geschichte gelegt. Die Herrn Levesque und Le Clerc492, von denen der erste lange in Rußland sich aufhielt, der zweite aber von sich aussagte, daß er die slavischen Sprachen beherrsche, haben auf einige Angaben der Chroniken sich stützend, und das übrige aus ihrem eignen Kopfe zufügend, unerhörte Dinge zusammengeschrieben. Wenn man ihre Werke liest ist es unmöglich zu erraten, was sie denn eigentlich darstellen; zuweilen scheint es ein Roman, zuweilen eine Idylle von Florian493, und dann wieder ein philosophisches System des vergangenen Jahrhunderts in slavische Form gekleidet. Louis Paris494, der letzte Übersetzer Nestors, welchen die Einförmigkeit dieses Chronikers langweilte, führt öfters, um den trockenen Text zu vermannigfaltigen und den Leser zu erheitern, an, was Levesque und Le Clerc in ihren Geschichten sagen. Es gibt in der Tat nichts, was lächerlicher ist, als diese Rhetorik der Akademiker und Philosophen. Nur ein Beispiel. 490 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  285, bezogen auf das Jahr 6636 (1128). 491 Anspielung auf P. Mérimée; vgl. 22. Vorlesung (Teil I). 492 Pierre-Charles Levesque (1736–1812) – Histoire de Russie.  5 Bde., Paris 1785; NicholasGabriel Le Clerc (1726–1789) – Histoire physique, morale, civile et politique de la Russie ancienne et moderne. 6 Bde., Paris 1783–1794. 493 Jean-Pierre Claris Florian (1755–1794) – Fables de M. de Florian: de l’académie françoise, de celles de Madrid, Florence, etc., Paris 1792; deutsche Ausgabe: Fabeln. Hrsg. Anna Nußbaum. Wien 1924. 494 Louis Paris (1802–1887) – Übersetzer die Nestor-Chronik ins Französische: La chronique de Nestor. Paris 1834–1835.

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Teil I

An der Stelle, welche vom Überfall der Rus’ durch die Normannen handelt, sprechen sich die slavischen Chroniker sehr karg aus, sie sagen nur, daß die Slaven nicht vermögend, selbst zur Ordnung zu kommen, die Waräger herbeigerufen hätten; der französische Autor aber, um diese Erzählung zu erweitern, bemühet sich, selbige zu idealisieren und zu verschönern, er sagt: Es gab unter den Slaven einen von seinen Landsleuten sehr geachteten Greis. Sein weißes Haar (dem Autor scheint der Mann bis auf die Haare bekannt gewesen zu sein), seine ausgedehnten Besitzungen, sein guter Wille, gaben mehr noch, als die anerkannte Einsicht, seinen Worten Gewicht. Dieser versammelte nun an einem Feiertage die Mitbürger um sich herum, und redete sie also an: „Meine Freunde, wir machen kein Volk aus, und indem wir alle Lasten des geselligen Lebens tragen, genießen wir doch keinen seiner Vorteile. Wir haben Könige gehabt; ihr wisset, wie unwürdig sie uns getäuscht, vielleicht auch darum, weil das Schicksal uns dieselben gegeben. Versuchen wir nun, uns selbst einen Monarchen zu wählen.“495

Weiterhin verbreitet sich der französische Geschichtschreiber mit Lobeserhebungen gegen den warägischen Fürsten Rjurik, welcher ihm zufolge, um durchaus etwas zu bedeuten und sich einen berühmten Namen zu machen, fortwährend besondere Emissaire ausgeschickt haben soll, um Parteigänger 495 Das Zitat ist nacherzählt; vollständig lautet es: »Un vieillard (de vieilles chroniques se sont domué la peine de nous transmettre son nom), Gostomy[s]l, jouissat de beauscoup de considération parmi les Russes ses compatriotes. Ses cheveux blancs, ses grands biens, et de bonnes intentions, plus ques es lumières, donnsient du poids à ses avis. Voyant avec peine ques on pays s’épuisait d’hommes et […] pour leur dire: „Mes amis, n’êtes-vous pas las, autant que moi, de la vie que nous menons? Nous ne formons pas meme un people, et nous en supportons toutes les charges, sans goûter les douceurs d’une nombreuse association. Nous avons eu des rois qui nous ont indignement trompés, peut-être parce que nous les avons reçus de la main du hazard ou de la force. Essayons d’un monarque de notre choix […].“« – Louis Paris: La Chronique de Nestor. Paris 1834–1835, Bd. 1, S. 25; Fußnote 10. Gostomysl (Гостомысл) war der legendäre Herrscher von Novgorod im 9. Jahrhundert. Zur Verbreitung der (umstrittenen) Gostomysl-Legende trug vor allem V.N. Tatiščev bei, der sich auf die von ihm publizierte Joachims-Chronik (Ioakimovskaja letopis’) beruft: „И въ то время [859–862] въ Новѣградѣ нѣкый бѣ старѣйшина именемъ Гостомыслъ, скончаваеть житіе, и созва владалца сущая съ нимъ Новаграда, и рече: »совѣтъ даю вамъ, да послете въ Прускую землю мудрыя мужи и призовете князя отъ тамо сущих родовъ.“« (In dieser Zeit lebte in Novgorod ein alter Greis namens Gostomysl, als er im Sterben lag, rief er die mit ihm lebenden Herrscher von Novgorod zu sich und sprach „Ich gebe euch den Rat, in das Land der Pruzzen kluge Männer zu schicken, um dort aus den bestehenden Geschlechtern einen Fürsten zu wählen.“) – Polnoe sobranie russkich letopisej. Tom VII: Letopis po Voskresenskomu spisku. Sanktpeterburg 1856, S. 268. Vgl. dazu S.N. Azbelev: Gostomysl. In: Varjago-russkij vopros v istoriografii. Hrsg. V.V. Fomin. Moskva 2010, S. 598–618.

24. Vorlesung (26. März 1841)

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unter den Slaven zu gewinnen.496 Die ganze Geschichte ist in dieser Weise geschrieben. Indessen wissen die polnischen Chroniker, wenn sie gleich in der damaligen Weise sich auszudrücken nicht aufhören, dennoch ehr treffend die Charaktere der handelnden Personen zu unterscheiden, und weisen sogar die Springfedern der politischen Bewegungen ihrer Zeit nach. Schon haben wir gesagt, daß hierin Wincenty Kadłubek für den ersten pragmatischen Geschichtschreiber in der Christenheit gelten kann. Er zeichnete den Charakter des Fürsten Władysław II., legte seine Politik dar und hat uns hauptsächlich ein klares Bild jenes Kampfes gegeben, der zwischen dem das Feudalwesen einzuführen trachtenden Herrscher oder der rein monarchischen Gewalt, und dem Adel und der Geistlichkeit stattfand, welche an der lebendigen Volksüberlieferung festhielten und für die Verteidigung der Freiheit ihre ganze Kraft einstellten. Was in dieser Geschichte besonders auffällt, das ist der Abglanz einer schon westlichen Kultur, die sichtbare Spur der Belesenheit in den Lateinern, deren Einfluß wir bald sogar in den politischen Begebenheiten wiederfinden werden. Später als die Chroniken zeigt sich die gesetzgebende Literatur; die Gesetze, die Statuten vorerst lateinisch, fing man bald an polnisch zu schreiben. Um diese Zeit, in der Mitte des 14. Jahrhunderts, erschien in Deutschland die berühmte Goldene Bulle497 als Grundlage des öffentlichen, deutschen Rechts. Die slavischen Schriftsteller vergleichen diese beiden Gesetzgebungen, und erkennen den polnischen Statuten den Vorrang zu. Und in der Tat, schon der Form nach sind sie mehr vollendet; ihr Stil nähert sich schon sogar sehr dem jetzigen; es weht bereits ein Geist der neueren Zeit in ihnen. Der Gesetzgeber fühlt hier immer lebhaft die Notwendigkeit des Gesetzes, welches er schreibt, und prägt dasselbe mit Ordnung und Klarheit vollständig aus. Man sieht deutlich, was er bezweckt. Es scheint, als wenn ihm nur noch ein Schritt zu tun übrig bliebe, um die Vollkommenheit des Stils der römischen Gesetze Justinians, oder sogar des heutigen Napoleonischen Kodex zu erreichen. Da hingegen die Bulle Karls IV., des deutschen Kaisers und tschechischen Königs, mit mystischen, religiösen und astronomischen Auseinandersetzungen anhebt, am Anfang von der hierarchischen Konstellation des kaiserlichen Himmels redet, den Kaiser zur Sonne, die Kurfürsten zu Planeten, die um ihn kreisen, macht. 496 Louis Paris, op. cit., S. 26. 497 Die Goldene Bulle von 1356 war das wichtigste Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches; es regelte die Modalitäten der Wahl und der Krönung der römischdeutschen Könige durch die Kurfürsten bis 1806; im Internet in lateinischer und deutscher Fassung unter [http://www.hs-augsburg.de]; vgl. auch: Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption. Hrsg. Ulrike Hohensee, Mathias Lawo, Michael Lindner u.a., 2 Bde., Berlin 2009.

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Teil I

Die ganze äußere Gestalt dieser Bulle ist ein hochtrabendes, aufgespreiztes Wesen, mit einem Wort, sie stimmt ganz und gar nicht zu der jetzt üblichen Form. Gestehen muß man jedoch, daß sich in der deutschen Gesetzgebung mehr inneres Leben und Triebkraft findet. Derselbe Unterschied, den wir zwischen der slavischen und der serbischen Poesie, und einigen Bruchstücken der Deutschen, dem Epos der „Nibelungen“ gesehen haben, waltet auch hier ob. Der germanische Dichter schwebt fortwährend in Wolken, ihn trägt ein unbegreiflicher Geist; da hingegen die serbischen Dichter sich immer klar ausdrücken, und alle Teile ihrer Form ausfüllen. Daher konnte auch das deutsche Epos ein bei weitem auffallenderes Ganzes bilden, als die Schöpfung der serbischen Dichter. Gerade in diesem geheimnisvollen, unerforschten Wesen liegt die Kraft der fortschreitenden Entfaltung der Gesetzgebung. Erinnern wir uns, daß die alten römischen Gesetze, die Gesetze der Republik, ebenso dunkel, symbolisch und einer sorgfältigen Auslegung bedürftig waren. Die Justinianische Gesetzgebung wurde klarer, endete aber auch das Fortschreiten der gesetzgebenden Zivilisation Roms. Diese Klarheit, so bewundert im Stil der polnischen Statuten, ist das Zeichen eines vorzeitigen Alters, sie zeigt, daß das Königreich Polen eine neue Kraft zur Erhebung brauchen wird. Der allgemeine Gedanke dieser Gesetze ist leicht zu erfassen; er entspringt aus wenigen Hauptpunkten. Sie sind: In erster Linie erkennt man die königliche Gewalt dem volkstümlichen Hause der Piasten zu; der Adel jedoch und die Geistlichkeit können unter den zahlreichen Mitgliedern dieses Hauses eine Wahl treffen. Der Ritter- und Adelstand hat von den Köni