Ost-westlicher Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur [1 ed.] 9783737014687, 9783847114680

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Ost-westlicher Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur [1 ed.]
 9783737014687, 9783847114680

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Oxane Leingang / Klaus Schenk (Hg.)

Ost-westlicher Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinderund Jugendliteratur

Mit 36 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Stepka-rastrepka (1849) (Ausschnitt), Illustrator Ludwig Bohnstedt. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1468-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Semantik und Pragmatik des Übersetzens Anne Hultsch (Wien) (Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“. Kinderbücher im westslavisch-deutschen Kontext als übersetzerische Herausforderung . . .

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Beate Sommerfeld (Poznan´) Kinderliteratur und ihre Transcreations – Agnieszka Taborskas surrealistische Bilderbücher in deutscher Übersetzung . . . . . . . . . . .

47

Tihomir Engler (Osijek) Die Ankunft von Robinson dem Jüngeren in Kroatien am Ende des 18. Jahrhunderts. Zu Aneignungs- und Transformationsprozessen bei der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

II. Vermittlung zwischen den Kulturen Iris Schäfer (Frankfurt am Main) / Oxane Leingang (Dortmund) Eine deutschsprachige Jugendnovelle mit russischer Seele: Lou Andreas-Salomés Wolga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Andrea Weinmann (Frankfurt am Main) Otfried Preußler als Übersetzer tschechischer Kinderbücher – ein Brückenbauer zwischen Ost und West? . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Monika Preuß (Dortmund) Von fremden Wesen und wo sie zu finden sind. Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren am Beispiel von Ricarda Terschaks Elmolin und Die Zauberin Uhle . . . . . . . . . . . . . 127

6

Inhalt

Tamara Bucˇková (Prag) Iva Procházková im transkulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 143

III. Literatur im Wandel der Generationen Daniela A. Frickel (Köln) Empathie als Programm – Erinnerung als transkulturelle Figuration in Lena Goreliks Jugendroman Mehr schwarz als lila . . . . . . . . . . . . . 161 Sofie Friederike Mevissen (Wuppertal) Kinderperspektiven im postsowjetischen deutschsprachigen Generationenroman bei Eleonora Hummel, Marina Frenk und Nino Haratischwili . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Klaus Schenk (Dortmund) „Blinder Regen. Kennen Sie den Ausdruck nicht?“ Erzählen über Adoleszenz als transkulturelle Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Lukas Sarvari (Mainz) Nachgezeichnete Geschichte. Über Nina Bunjevac’ Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada . . . . . . . . 223 Jonas Engelmann (Wiesbaden) Luftmenschen in Odessa: Joann Sfars Osteuropa

. . . . . . . . . . . . . . 237

IV. Illustrationskunst zwischen Tradition und Avantgarde Oxane Leingang (Dortmund) „Deutschlands erster Baumeister“ als Illustrator des russischen Struwwelpeters? Ludwig Bohnstedts Ausflug in die Kinderliteratur . . . . 257 Birgitte Beck Pristed (Aarhus) Russian Illustration in German Children’s Books of the 1980s–1990s . . . 277 Katja Wiebe (München) Berge, Bienen und furchtlose Bauernweiber – Kinderliteratur aus dem östlichen Europa auf dem deutschsprachigen Buchmarkt seit 2010 . . . . 295

Inhalt

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V. Diskursive und mediale Rezeption Carola Pohlmann (Berlin) „Es geht da zu, wie auf dem polnischen Reichstage.“ Die Darstellung Polens in Kindersachbüchern vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Michael Düring (Kiel) Was will der Gurkenkönig in der Sowjetunion? Zur spätsowjetischen Verfilmung von Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig ˇ NOGO KOROLJA, 1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 (DOLOJ OGUREC Anna Stemmann (Leipzig) Russia vs. Springfield? Darstellungen und Diskurse um ‚Osteuropa‘ in der Serie THE SIMPSONS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Peter Rinnerthaler (Wien) Die Straße, der slav squat und drei weiße Streifen. Die Web-Ikonographie eines (osteuropäischen) Internet-Memes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Vorwort

Die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur war lange Zeit stark an westlichen Traditionen orientiert. So wundert es nicht, dass die Anzahl an Translaten aus dem östlichen Europa verschwindend gering blieb. Bis heute gehören Übersetzungen aus Mittel-, Südost- und Osteuropa zu den schmalsten Randbereichen des deutschen Buchmarkts. Der vorliegende Band stellt diese kaum beachteten Wechselbeziehungen in der Kinder- und Jugendliteratur und ihren Medien in den Mittelpunkt. Umfasst werden dabei unterschiedliche Ebenen des Kulturtransfers von der logistischen Seite des Im- und Exports bis zur sprachlichen und diskursiven (Um-)Wandlung: Die grenzüberschreitenden Bücher kartieren die bereits entstandenen bzw. entstehenden transkulturellen Räume und lassen sich auch in ihrer qualitativ-ästhetischen Dimension erfassen. Darüber hinaus erlauben die Übersetzungsstatistiken Rückschlüsse auf die Spezifik bilateraler Literaturbeziehungen und die Rezeptionsbedingungen einzelner Werke. Bei den transkulturellen Aneignungsprozessen spielen Übersetzungen eine zentrale Rolle ebenso wie das Wirken von multilingualen Vermittlerinnen und Vermittler. Drei Untersuchungsebenen – Selektion, Mediation, Transformation – fungieren als Achsen, welche die Beiträge ordnen. Eine adressatenspezifische Anpassung der transferierten Werke, bei der es oft zu strukturellen und stilistischen Adaptionen kommt, ist in der Kinderliteratur durchaus gängig. Im ersten Kapitel zur Semantik und Pragmatik des Übersetzens werden daher nicht nur die unterschiedlichen Praktiken der Übersetzung, sondern auch der Bearbeitung diskutiert: Auf welche Weise wurde der kinderliterarische Import für die Aufnahmekultur modifiziert? Welche Kulturspezifika und sprachlichen Eigentümlichkeiten der Ausgangstexte wurden verändert oder gar getilgt? Anne Hultsch spannt in ihrem Beitrag einen weiten kulturhistorischen Bogen von den früheren 1920er-Jahren bis heute. Ihr besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf exemplarische Erstübersetzungen und weitere retranslations ins Deutsche. Im Umgang mit der Gesamtkonzeption von westslavischen kinderliterarischen Texten wurden jeweils andere Filter appliziert, die Hultsch in einer systematischen Annäherung darstellt. Beate Sommerfeld un-

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Vorwort

tersucht die karnevalesk-surrealistische Ästhetik im Werk der polnischen Erfolgsautorin Agnieszka Taborska, die sich durch ihre virtuosen Gedanken- und Sprachspiele sowie Realitätsverzerrungen in die Nachfolge Lewis Carrolls einordnen lässt. Bei der Analyse der deutschen Übertragung von Szalony Zegar (dt. Die ausgetickte Uhr) rücken Aspekte des jüngst ausgerufenen Transcreational Turn – das Transgressive, Transformative, Ludistisch-Kreative – in den Fokus. Tihomir Engler beschäftigt sich mit der Übersetzung von Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779/1780) ins Kajkavische, eine kroatische Mundart. Maßgeblich vom frankophonen Schweizer Jean-Jacques Rousseau beeinflusst, wurde diese Adaptation von Daniel Defoes Robinson Crusoe nicht nur europaweit zum kinderliterarischen Bestseller der Spätaufklärung, sondern auch zum Paradebeispiel für die transkulturelle Adaption und kinderliterarische Akkommodation. Als Vorlage, so die Ergebnisse monatelanger Recherche Englers, diente eine Raubkopie des Wiener Verlegers Johann Thomas Edler von Tratter, dem Maria Theresia den Druck sämtlicher Schul- und Lehrbücher in Österreich-Ungarn anvertraute. Angefertigt hat die Übersetzung der Pfarrer Antun Vranic´, der den protestantischen Text an den Geschmack des katholischen Publikums anpasste. Im zweiten Kapitel zur Vermittlung zwischen den Kulturen steht das Wirken von Mittlerpersönlichkeiten im Zentrum. Aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Mehrsprachigkeit und ihrer Situierung in transnationalen Netzwerken vermittel(te)n sie auf eine besonders intensive Weise zwischen Literaturen und Kulturen. Iris Schäfer und Oxane Leingang analysieren die autobiographisch fundierte Jugendnovelle Wolga (1902) von Lou Andreas-Salomé, jener Wegbereiterin der Moderne, die in St. Petersburg aufwuchs und zu einer bedeutsamen Botschafterin der russisch-slavophilen Kultur in Deutschland wurde. Mit stereotypen Requisiten nahezu überfrachtet, fokussiert ihre Novelle zwei genuin russische, nationalidentitäre Motive – der Fluss Wolga und der Nationalbaum „Birke“ – und schreibt sich im Subtext in die Tradition vorindustrieller Folklore ein. Andrea Weinmann zeichnet in ihrem Beitrag nach, wie Otfried Preußler, der als Otfried Syrowatka im nordböhmischen Liberec auf die Welt kam, in den 1960er-Jahren zu einem einflussreichen transkulturellen Vermittler aufstieg. Seine prämierte Übertragung von Josef Ladas Mikesˇ verhalf der tschechischen Kinder- und Jugendliteratur zu jahrzehntelang anhaltender Popularität in Deutschland. Als langjähriger Gutachter für kinderliterarische Verlage selektierte Preußler übersetzenswerte Neuerscheinungen vor und war auch für eine Nicht- bzw. eine asymmetrische Rezeption verantwortlich. Monika Preuß behandelt die bislang kaum erforschte rumäniendeutsche Minoritätenliteratur. Am Beispiel von phantastischen, autobiographisch gefärbten Werken der Kinderliteratin, Übersetzerin und Zeichnerin Ricarda Terschak beleuchtet sie die Inszenierung des Fremden sowie eine innovative, magisch-realistische Erzählweise,

Vorwort

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die unterschwellig eine Systemkritik mitführt. Preuß lenkt die Aufmerksamkeit auf die soziokulturellen Rezeptionsdispositive: So wurden Terschaks Kinderromane in den Paratexten der DDR-Verlage als exotisch-befremdlich rubriziert und auch wahrgenommen. Anhand von mehreren Interviews zeichnet Tamara Bucˇková das außergewöhnliche literarische Schaffen von Iva Procházková nach, einer der bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Tschechiens: Procházková, die im deutschen Exil ihre Schreibsprache wechselte, übersetzte später ihre eigenen Werke ins Tschechische. Als literarische Grenzgängerin avancierte auch sie zu einer wichtigen transkulturellen Mediatorin. Zur Literatur im Wandel der Generationen werden im dritten Kapitel des Bandes die transkulturellen Figurationen von Erinnerungen in aktuellen Romanen, Comic-Reihen und der Graphic Memoir diskutiert. Drei Beiträge beschäftigen sich mit Gegenwartsromanen, die im Spannungsfeld des East European Turn in deutscher Literatur entstanden sind. Untersucht werden postsowjetische Autorinnen, die der fünften Emigrationswelle angehören. Ihre Werke, jene Produkte eines nomadischen Schreibens, zeichnen sich durch (sprachlichen) Nonkonformismus, gedankliche Flexibilität und Souveränität aus. Daniela A. Frickel analysiert Lena Goreliks Roman Mehr schwarz als lila (2017). Durch das Sprechdenken, dem eine hohe erinnerungskonstruierende Relevanz zugewiesen wird, und strukturelle Analogien zwischen individuellem und kulturellem Gedächtnis re-konzeptualisiert Gorelik jugendliterarische Erinnerungsliteratur. Frickel untersucht, wie die programmatische Empathie – die Signatur der Werke Goreliks – in Mehr schwarz als lila als Humanisierungspotential realisiert wird und welche Rolle dabei der transkulturelle Hintergrund der Autorin spielt. Sofie Friederike Mevissen beleuchtet die provozierend unwissende kindliche Blick- und Erzählperspektive in den metafiktionalen Generationenromanen von Elena Hummel, Marina Frenk und Nino Haratischwili. Deren Werke bieten ein Panorama koexistierender Vergangenheitsdeutungen und problematisieren (Familien-)Gedächtnis, Gewalterfahrung sowie politische und gesellschaftliche Konflikte der (post-)sowjetischen Welt. Der Frage, wie Erzählen über Adoleszenz als spezifisches Genre, aber auch in autobiographischen Texten einen transkulturellen Verhandlungsraum bildet, geht Klaus Schenk nach. Am Beispiel der Romane Scherbenpark (2008) von Alina Bronsky sowie Spaltkopf (2008) und Dazwischen: Ich (2016) von Julya Rabinowich kann gezeigt werden, dass sich Erzählen über Problemlagen des Kulturkontaktes bzw. -kontrastes mit den differenten Wahrnehmungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen überlagert und wechselseitige Übersetzungsprozesse entfacht. Lukas Sarvari widmet sich der selbstreflexiven Graphic Postmemoir Vaterland der kanadisch-jugoslawischen Zeichnerin Nina Bunjevac. Bunjevac, die eigene und fremde Erinnerungen mit historiographischem Material und imaginierten Elementen vermischt, gewährt einen Einblick in die konstruktive Qualität von

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Vorwort

gezeichneten (Erinnerungs-)Narrationen. Jonas Engelmann untersucht Joann Sfars Comic-Reihen Klezmer und Chagall in Russland. In ihnen wird der untergegangenen, von Antisemitismus und Gewalt überschatteten Lebenswelt des osteuropäischen Judentums – dem Shtetl – Tribut gezollt. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg versinnbildlicht Shtetl auch jenes Territorium, für das der amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy D. Snyder den Begriff bloodlands prägen wird. Mit Bezug auf Ahasver, den zur Ruhelosigkeit verdammten ‚Ewigen Juden‘, sowie auf die Golem-Figur und auf das Motiv der exotisch-schönen Jüdin geht Engelmann der Frage nach, wie diese osteuropäischen Themen in westliche Kontexte überführt wurden. Das vierte Kapitel des Bandes zur Illustrationskunst zwischen Tradition und Avantgarde behandelt Bild-Text-Relationen, die den internationalen kinderliterarischen Buchmarkt durch ihren Malstil und ästhetischen Synkretismus bereichern. Oxane Leingang beschäftigt sich mit Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), einem weiteren kinderliterarischen Exportschlager aus Deutschland. Für dessen prompten kulturellen Transfer ins Russische waren deutschstämmige (Wahl-)Petersburger als Übersetzer, Zeichner, Verleger und Buchhändler verantwortlich. Maßgeblich von der Commedia dell’Arte und der russischen Folklore inspiriert, wurde der russische Struwwelpeter zu einem Kinderkünstlerbuch, das Hoffmann selbst für die revidierte Wiederauflage kopierte. Am Beispiel des traditionsreichen Esslinger J. F. Schreiber-Verlags beleuchtet Birgitte Beck Pristed die fruchtbarste Phase in der deutsch-russischen Kooperations- und Publikationsgeschichte nach dem Kalten Krieg. Nach sowjetischer Manier illustriert und mit westeuropäischen Elementen kombiniert, feierten die transkulturellen Kinder- und Märchenbücher des Verlags nicht nur im Nischensegment für Buchkunst und Bibliophilie, sondern auch weltweit große Erfolge. Somit waren (post-)sowjetische Künstler, die Beck Pristed für ihren englischsprachigen Beitrag mehrfach interviewte, zum Teil auch für die „Sowjetisierung“ des bundesrepublikanischen und globalen Kinderbuchmarkts in den 1980er- und 1990er-Jahren verantwortlich. Anhand von Übersetzungsstatistiken aus dem letzten Jahrzehnt analysiert Katja Wiebe die kinder- und jugendliterarische Buchproduktion und ihre Rezeptionslogiken. Auf der makrokulturellen Ebene arbeitet sie Quantität und Selektionsmodi von Translaten heraus. In einem weiteren Schritt fokussiert Wiebe ihre Überlegungen auf die innovative, vom Graphikdesign inspirierte Illustrationskunst von polnischen und tschechischen Künstlerinnen und Künstler, die neue ästhetische Maßstäbe auf dem deutschen Kinderbuchmarkt setzen. Das abschließende Kapitel untersucht die diskursive und mediale Rezeption sowie populärkulturelle Wirkungsweisen. Carola Pohlmann behandelt die Darstellung des Nachbarlandes Polen in deutschen kinder- und jugendliterarischen Sachbüchern, Reiseberichten und ethnographischen Studien von der Spätauf-

Vorwort

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klärung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter Bezugnahme auf historische Ereignisse – die Teilung Polens und die Unabhängigkeitskriege – betrachtet Pohlmann die ambivalenten Fremdwahrnehmungen, die zwischen Barbarisierung und Heroisierung, zwischen Sympathie mit einem leidenden, unterdrückten Volk und den Negativklischees des historischen Antislavismus oszillieren. Michael Düring widmet sich der spätsowjetischen Interpretation von Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972). Christine Nöstlingers Klassiker der kinderliterarischen Phantastik wurde bereits drei Jahre nach der Erstpublikation ins Russische übertragen und rasch zu einem erfolgreichen Bühnenstück adapˇ NOGO KOROLJA tiert. Am Beispiel des Kammerspielfilms DOLOJ OGUREC (dt. Wir pfeifen auf den Gurkenkönig) zeigt Düring Hybridisierungsprozesse auf: Die fremdkulturelle Handlung wurde in die sowjetische Alltagsrealität transponiert und das dem Publikum vertraute Interieur durch westliche Markenwaren exotisiert. Der Beitrag folgt der These, dass dieser leichtfüßige, in einer äsopischen Sprache codierte Fernsehfilm politische Diskurse der Sowjet-Ära präsentiert. Anna Stemmann analysiert in ihrem Beitrag die hochfrequente Animationsserie THE SIMPSONS, die mit mehr als 300 Episoden längst zum Archiv der Populärkultur sowie zum Medium der kulturellen Selbst- und Fremdreflexion avancierte. Vor der Folie der extratextuellen Gegenwart arbeitet Stemmann deviante, parodistische Russland- bzw. Ukraine-Bilder heraus, die den alten Barbaren-Topos reproduzieren. Ironisch kommentiert werden in der Serie auch russophobe, stark politisierte Stereotypisierungen, wie sie während des Kalten Kriegs perpetuiert wurden. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Peter Rinnerthaler. Er verfolgt die gegenwärtigen Internet-Phänomene und medienübergreifenden Kulturpraktiken, die unter dem jugend- bzw. subkulturellen Label „#slavsquat“ auf profanierend (anti-)konsumistische Weise die Selbstkonstruktion panslavischer Identität zelebrieren. Aufgezeigt werden ikonographische Inszenierungen und Diskursivierungen auf Social-Media-Plattformen und in Memes. Die vorliegenden Beiträge erkunden den kulturellen Transfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur sowie ihren Medien nach Mittel-, Südost- und Osteuropa. Sie diskutieren kulturelle Aneignungsprozesse sowie Asymmetrien und eröffnen neue Perspektiven auf die Spezifik bilateraler Literaturbeziehungen. Die Herausgeber

I. Semantik und Pragmatik des Übersetzens

Anne Hultsch (Wien)

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“. Kinderbücher im westslavisch-deutschen Kontext als übersetzerische Herausforderung

Kinderbücher, speziell Bilderbücher, bleiben oft das ganze Leben lang im Gedächtnis, weil es sich um die ersten – aufregenden – Erfahrungen mit dem Medium Buch handelt. Was haften bleibt, können einzelne Abbildungen, Neologismen, ganze Sätze, das Sujet, neue Erkenntnisse, eine konkrete Situation des Vorlesens oder des ersten eigenständigen Lesens usw. sein. Diese ersten Leseerlebnisse formen stark den eigenen Blick auf die Welt, denn der Fiktionspakt ist in diesem Alter noch nicht geschlossen, weshalb viel emotionaler auf die Bücher reagiert wird als im Erwachsenenalter. So wird Empathie entwickelt, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, deren Sichtweise anzunehmen, ohne sie als eigene übernehmen zu müssen. Des Weiteren können Bücher als Verständigungsgrundlage dienen, man kann sich auf ihrer Basis miteinander austauschen, ohne alles aussprechen zu müssen. Nicht zufällig wird hin und wieder das als ‚Heimat‘ bezeichnet, wo die Menschen mit den gleichen Büchern aufgewachsen sind. Die Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gewährt dazu noch einen interessanten quantitativen Einblick, denn beispielsweise in Deutschland liegt der Anteil der Übersetzungen bei den Kinder- und Jugendbuchnovitäten jährlich bei ca. 20 % (2019 = 1.632 Titel total) und bildet damit nach der Belletristik und der Sachgruppe Comics, Cartoons, Karikaturen das drittwichtigste Segment im gesamten deutschen Übersetzungsmarkt, wobei es 2019 gegenüber dem Vorjahr zu einem Rückgang um 6,4 % kam, wodurch der lang gehaltene zweite Platz verloren ging. Der Internationalisierungskurs wird laut Börsenverein durch das Abflauen der „Fantasy- und All-Age-Welle“ gestoppt.1 Im Ausland ist hinwiederum das Interesse an deutschen Kinder- und Jugendbüchern groß. 2019 lag deren Anteil an den ins Ausland verkauften Lizenzen bei 39,1 % vom gesamten Lizenzgeschäft (= 3.031 Titel), wobei etwas mehr als ein Drittel auf Bilderbücher entfiel (= 1.063 Titel). Die meisten Kinder- und 1 Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch- und Buchhandel in Zahlen 2020. Frankfurt am Main 2020, S. 99, S. 102.

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Anne Hultsch

Jugendbuchlizenzen wurden nach China (641), Russland (399), Ungarn (200), Rumänien (183), in die Türkei (151) und in die Tschechische Republik (128) verkauft.2 Beide Aspekte dürften hinlänglich deutlich machen, dass den gerade übersetzten Kinder- und Jugendbüchern für den Kulturtransfer oder den Kulturkontakt eine nicht zu unterschätzende Rolle zukommt. Zumindest aus dem Tschechischen und Polnischen übersetzte Bücher finden in letzter Zeit im deutschsprachigen Raum Beachtung, so wurden 2020 für den „Deutschen Jugendliteraturpreis“ ein polnisches Bilderbuch sowie je ein polnisches und ein tschechisches Sachbuch nominiert. Bei den heute übersetzten Büchern handelt es sich allerdings häufig um welche, die allgemeine Themen zum Gegenstand haben und nicht in einer Kultur oder nicht in der Kultur der Originalausgabe verortet werden können, wenn es in ihnen um die Antarktis, den Kopf, einen Galeriebesuch geht. In diesen Fällen fällt unter Umständen nur noch der Name auf der Titelseite als einer anderen Sprache entstammend auf, was aber beispielsweise bei dem tschechischen Autor David Böhm auch nicht der Fall ist.3 Wenn ich mich im Weiteren konkret dem Hinüber- und Herübertragen von Texten zwischen dem deutschsprachigen und dem westslavischen Raum widme, dann gehe ich zunächst jedoch zeitlich zurück, denn mich interessieren hier Texte, die zwischen 1923 und 2010 entstanden sind und deren Übersetzungen aus dem Zeitraum von 1934 bis 2015 stammen. Nach dem Blick auf den ersten Text, der in drei verschiedenen deutschen Übersetzungen (und zusätzlich Überarbeitungen dieser) vorliegt, wobei die verschiedenen Ausgaben einen unterschiedlichen Umgang mit der Gesamtkonzeption des Buches spiegeln („Übersetzung als Filter der Gesamtkonzeption“), wird der Schwerpunkt der Ausführungen auf der Zeit des Kommunismus liegen und wie sich der Umgang mit märchenhaften Elementen des Originals im Übersetzungsvorgang als Ideologie manifestiert („Übersetzung als Märchenfilter“). Im darauffolgenden Schritt werden zwei Bücher und ihre Übersetzungen unter dem Gesichtspunkt, wie witzige und wie poetische Elemente übertragen worden sind, betrachtet („Übersetzung als Spaßfilter“; „Übersetzung als Poesiefilter“), ehe sich der abschließende Blick kurz auf zwei transkulturell konzipierte Bücher richtet, denen in ihrer deutschen Originalversion bereits ein kultureller Transferprozess zugrunde liegt, der in einem Fall in die tschechische Übersetzung re-transferiert werden musste.

2 Ebd., S. 103f., S. 105, S. 114f. 3 Von ihm stammt z. B. das Buch: A jako Antarktida. Pohled z druhé strany | A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt (Praha 2019; aus dem Tschechischen von Lena Dorn, Düsseldorf 2019).

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

1.

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Übersetzung als Filter der Gesamtkonzeption eines Buches

Karel Cˇapek, Dásˇenka cˇili zˇivot sˇteˇneˇte Zwischen den beiden Weltkriegen war einer, wenn nicht der international erˇ apek, der sich sowohl als Prosaautor, folgreichste tschechische Autor Karel C Dramatiker, Feuilletonist als auch Kinderbuchautor einen nicht zu überhörenden Namen machte, so dass er von 1932 bis 1938 jährlich für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, der ihm allerdings nie zugesprochen worden ist.4 Hier soll es um das Kinderbuch Dásˇenka cˇili zˇivot ˇsteˇneˇte. Pro deˇti napsal, nakreslil, ˇ apek (wörtlich: Dásˇenka oder das Leben eines fotografoval a zakusil Karel C ˇ apek Welpen. Für Kinder schrieb, zeichnete, fotografierte und machte es Karel C durch) gehen. Das Buch erschien erstmals 1932 (datiert auf 1933), mit einem Umschlag und in der grafischen Ausstattung von Karel Teige, und erfuhr seitdem bis heute zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen. Im Deutschen liegen drei verschiedene Fassungen vor: Daschenka oder Das Leben eines jungen Hundes. Erzählt, gezeichnet, photographiert und erlebt von Karel Cˇapek (berechtigte Übersetzung von Otto Pick und Vincy Schwarz, Berlin 1934, Wien 1948, Zürich 1948, Köln 1950; überarbeitete Fassung dieser Übersetzung, Köln 19925); ebendiese Übersetzung offensichtlich geraubt, jedenfalls ohne Angabe der Übersetzer, unter dem Titel Daschenka. Das Leben eines jungen Hundes (Berlin/Ost/Leipzig 1947 und Berlin/Ost 1951); Daschenka oder Das Leben eines ˇ apek (übersetzt von Elisajungen Hundes. Erzählt und gezeichnet von Karel C beth Borchardt, Berlin/Ost 1975); Daschenka oder das Leben eines Hundekindes. Für Kinder aufgeschrieben, gezeichnet, fotografiert und zubereitet von ˇ apek (übersetzt von Karl-Heinz Jähn, Leipzig 1995).6 Karel C Das originale Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil umfasst vier Kapitel, in denen das Leben des Welpen beschrieben wird. Darauf folgt der zweite Teil, in dem dargestellt wird, wie man einen Welpen fotografiert. Darin inkludiert ˇ apek a Nobelova 4 Zu den jeweiligen Beurteilungen des Komitees siehe Klauberová, Olga: Karel C ˇ apku˚ 42/2008, S. 45–50. cena, in: Zpravodaj Spolecˇnosti bratrˇí C ˇ apek, Karel: Daschenka oder Das Leben eines jungen Hundes. Überarbeitete Übersetzung aus 5 C dem Tschechischen von Otto Pick und Vincy Schwarz. Köln 1992. Es fallen in dieser Ausgabe leider weder Namen, wer die Überarbeitung vorgenommen habe, noch ein Hinweis darauf, was nach welchen Kriterien überarbeitet worden sei. 6 Ins Polnische wurde das Buch 1950 von Jadwiga Bułakowska übersetzt: Daszen´ka czyli z˙ywot szczeniaka. Dla dzieci napisał, zilustrował, sfotografowal i na własnej skórze dos´wiadczył Karol Czapek. Diese Übersetzung wird bis heute immer wieder verlegt (zuletzt 1997). Erst von 1997 scheint die erste slowakische Ausgabe, Dásˇenka, alebo, Zˇivot sˇteniatka. Pre deti napísal, naˇ apek, in der Übersetzung von Mária Sˇtevková zu kreslil, vyfotografoval a prezˇil Karel C stammen. Allerdings war das Buch den ungarischsprachigen Kindern in der Slowakei bereits seit 1936 in der Übersetzung von Nádas József und Straka Anton zugänglich (Dásenka. Egy kis foxi élete. Elbeszéli, rajzolta, fényképezte és átélte), die in Bratislava erschien.

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Anne Hultsch

sind Märchen für Dásˇenka, die dieser erzählt werden, um sie zum ruhigen Sitzen zu veranlassen. Im letzten Teil werden knapp und witzig kommentierte Fotos des heranwachsenden Welpen bei seiner Entdeckung der Welt gezeigt. Dieses Kapitel gleicht also einem Fotoalbum, das mit Geburt eines Kindes angelegt worden ist, um dessen erste Lebensjahre zu dokumentieren. Alle drei Teile sind durch lustige Zeichnungen des Welpen miteinander verbunden. Diese Gliederung findet sich nur in der deutschen Ausgabe von 1934 wieder. Die Fotos werden dann zwar erstmalig wieder in die letzte deutschsprachige Ausgabe (1995) aufgenommen, allerdings sind sie da in den Text eingefügt, wodurch sie mit den Zeichnungen in Konkurrenz treten und zudem vom Text der Geschichte ablenken. Auch geht, wenn die Fotos bereits zuvor gezeigt werden, die innere Logik des Buches verloren, dass man die quirlige Dásˇenka erst durch die Märchen dazu bringen kann, sich fotografieren zu lassen, dass die Märchen also den gewünschten Erfolg bringen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die ˇ apeks im Untertitel durch Jähn „Zubereitung“, in die sich das eigene Erleben C ˇ apek bewandelt, sollte sich also richtig auf den Verlag7 und nicht mehr auf C ziehen. In der ostdeutschen Ausgabe (Borchardt) werden nach dem ersten Teil zuerst die Märchen erzählt, darauf folgt der Text über die Schwierigkeiten, einen Hund zu fotografieren (also geht auch hier die innere Logik verloren), den Abschluss des Buches bilden die drei letzten Absätze des ersten Teils, wie Dásˇenka aus dem Haus gegeben wird. Die Fotografien fehlen, wie gesagt. Der Name Dásˇenka ist die Diminutivform von Dásˇa – das machen allein Pick/ Schwarz in ihrer Übersetzung deutlich, wo es zur Namenswahl heißt: „KleinDascha oder Daschenka“8, was hinwiederum die Diminutivform von Dagmar ist. Das Buch endet mit der Fotobeschriftung „slecˇna Dásˇa“ (Fräulein Dásˇa), was deutlich macht, dass deren Kindheit mit dem Buch beendet ist, wenn nun nur noch eine einfache und keine doppelte Verkleinerung mehr gewählt wird. Während Borchardt den Titel von Pick/Schwarz übernimmt, sucht Jähn, sich davon abzusetzen, behält aber die Schreibweise „Daschenka“ bei, was insofern verständlich ist, weil nur so mehr oder weniger garantiert wird, dass der Name von nicht des Tschechischen Mächtigen halbwegs richtig ausgesprochen werden kann. Mit „[…] eines Hundekindes. Für Kinder […]“ zeigt Jähn gleich im Titel eine Nähe zwischen Tier und Mensch an, die sich weiter in der Beschreibung des Welpen zeigt. Ein Problem bei der Übersetzung sämtlicher Kinderbücher aus slavischen Sprachen stellen die darin gehäuft auftretenden Diminutivformen dar, deren 7 Der Leipziger Verlag LeiV hat diesen Eingriff in die Ursprungsgestalt des Buches vom Prager Verlag Albatros (1994) übernommen. ˇ apek, Karel: Daschenka oder Das Leben eines jungen Hundes. Erzählt, gezeichnet, photo8 C ˇ apek. Berechtigte Übersetzung aus dem Tschechischen von graphiert und erlebt von Karel C Otto Pick und Vincy Schwarz. Berlin 1934, S. 7.

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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konsequente Übernahme ins Deutsche einfach lächerlich wirken würde. Wie gerade an dem Namen zu sehen war, kann auch mehrfach verkleinert werden. Im Original fällt das gar nicht weiter auf, weil es einfach Ausdruck für einen vertrauten Umgang mit jemandem ist, wenn man sich dieser Formen bedient. Auch in diesem Buch wird viel verkleinert, vor allem die einzelnen Körperteile und Sinnesorgane des Welpen, wie gleich der Beginn zeigt: Kdyzˇ se to narodilo, bylo to jenom takové bílé nic, do hrsti se to vesˇlo; ale anzˇto to meˇlo pár cˇerny´ch usˇisek a vzadu ocásek, uznali jsme, zˇe to je psisko […]. (alle Hervorhebungen A. H.) Pick/Schwarz ALS es zur Welt kam war es nur so ein weißes Nichts, mit der hohlen Hand konnte man es umschließen: aber da es ein Paar schwarze Öhrchen hatte und hinten ein Schwänzchen, so erkannten wir es als Hündchen an […]. Borchardt

Pick/Schwarz überarbeitet Jähn

Es war nur ein weißes Nichts, das in eine hohle Hand gepaßt hätte, als es geboren wurde. Weil es jedoch ein Paar schwarze Öhrchen und hinten ein Schwänzchen hatte, ließen wir es als ein Hu¨ndchen gelten […]. Als es zur Welt kam, war es nur ein weißes Nichts, mit der hohlen Hand konnte man es umschließen. Aber da es ein Paar schwarze Ohren hatte und hinten einen winzigen Schwanz, erkannten wir es als Hündchen an […]. Als es geboren wurde, war es allenfalls ein weißes Nichts, nicht mehr als eine Handvoll; alldieweil es aber schwarze Öhrchen hatte und hintendran ein Schwänzchen, befanden wir, daß es ein Hündchen war […].9

ˇ apek Mit „usˇisek“ (kleine Ohren) und „ocásek“ ([kleiner] Schwanz) wählt C ‚normale‘ Verkleinerungen. Anders verhält es sich mit „psisko“, das zwar von ‚pes‘ (Hund) abgeleitet ist, jedoch nicht dessen Verkleinerung darstellt. Das ergäbe ‚psí(cˇe)k‘ oder ‚pejsek‘. „Psisko“ ist hingegen ein expressiver Pejorativausdruck für ‚Köter‘ oder ‚Hundevieh‘, so dass es auch riesige Tiere geben kann, die mit diesem Wort bedacht werden. Aber offensichtlich sind alle Übersetzer so in dem Verniedlichungsmodus gefangen, dass sie den Witz nicht bemerken, den ˇ apek hier eingebaut hat. Einzig die Überarbeitung von Pick/Schwarz nimmt C etwas Abstand von den Diminutiva, indem die Ohren ‚Ohren‘ bleiben und auch das Wort ‚Schwanz‘ nicht verändert, sondern mit dem Attribut ‚winzig‘ versehen wird, allein das ‚Hündchen‘ findet sich auch hier. Es ist aber offensichtlich, dass die Überarbeitung vor allem darauf abzielt, einen deutschen Text zu schaffen, der ˇ apek, Karel: Dásˇenka cˇili zˇivot sˇteˇneˇte. Pro deˇti napsal, nakreslil, fotografoval a zakusil Karel 9 C ˇ apek. Praha 1933, S. 7; C ˇ apek/Pick/Schwarz, Daschenka, S. 7; C ˇ apek/Borchardt, Daschenka, C ˇ apek/Pick/Schwarz Daschenka, S. 13; C ˇ apek, Karel: Daschenka oder das Leben eines S. 5; C Hundekindes. Für Kinder aufgeschrieben, gezeichnet, fotografiert und zubereitet von Karel ˇ apek. Übersetzt von Karl-Heinz Jähn. Leipzig 1995, S. 5. C

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nicht mehr als Übersetzung zu erkennen ist, und es lässt sich vermuten, dass sie von jemandem vorgenommen worden ist, der nicht das Tschechische mitgedacht hat. Einige der von Jähn gewählten Lösungen machen stutzig, wenn man einfach nur den deutschsprachigen Text liest: „Außerdem bedrohte sie die Mehrheit der öffentlich tätigen Personen […]“10 – Wie soll sie? Gehen alle öffentlich tätigen Personen dort ein und aus? Im Original steht nicht ‚veˇtsˇina‘, sondern „mnozˇství“ (eine Menge, viele).11 Oder: „Nun ja, das ist der Fortschritt“ für: „Inu, je to pokrok“ (Na, das ist ein Fortschritt),12 als sie mit zwei Augen sehen kann. Das löst die Frage aus, welchen Fortschritt Jähn meint. Manchmal greift er, der mehr als die anderen das Kindliche im Titel betont, zu nicht allgemein gebräuchlichen Worten wie „Zagelchen“ für ‚Schwänzchen‘; „wibbelt“ für ‚zittert‘ oder ‚wackelt‘; „Kobolzschießen“ – was zu den dann folgenden „Loopings“ anachronistisch wirkt – für ‚Purzelbaum‘ oder ‚Rolle‘; alle diese Stellen sind im Tschechischen unmarkiert („ocásek“, „trˇese“, „kotrmelec“).13 „Alldieweil“ (s. Zitat oben) gilt bereits als veraltet, was die Frage aufwirft, ob man ausgerechnet in einem Kinˇ apek für derbuch für dessen Weiterleben eintreten sollte. Andernorts verwendet C ‚stoßen‘ aus der Kindersprache „ducnout“, das Jähn mit dem Neologismus „buffen“ statt dem umgangssprachlichen ‚puffen‘ wiedergibt.14 ˇ apek mit Herausfordernd wird es natürlich für alle Übersetzer, wenn C Wortbildungen spielt: […] kojí veˇrneˇ tu malou surovkyni (surovecˇku, surovnici, surovcˇici, surovinku – safra, jak by se meˇlo rˇíkat holcˇicˇce od surovce?) […]. Pick/Schwarz […] sie säugt treulich diesen kleinen Rohling (diese Rohliese, dieses Rohmädel, diese Rohline – ja, wie soll man denn nun eigentlich so ein rohes Hundemädel titulieren?) […]. Borchardt Pick/Schwarz überarbeitet Jähn

10 11 12 13 14 15

Getreulich nährt sie diese kleine Bestie (sapperlot, wie soll man eigentlich einen weiblichen Rohling bezeichnen?) […]. Treulich säugt sie diese kleine Barbarin […]. […] getreulich säugt sie die kleine Barbarin (Barbarina, Barbarella, Barbara, Barbe – verflixt, wie soll man ein so ungestümes Mädchen sonst noch nennen?) […].15

ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 7. C ˇ apek, Dásˇenka, S. 9. C ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 9; C ˇ apek, Dásˇenka, S. 10. C ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 13, S. 14, S. 23f.; C ˇ apek, Dásˇenka, S. 13, S. 16, S. 21. C ˇ apek, Dásˇenka, S. 18; C ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 19. C ˇ apek, Dásˇenka, S. 15; C ˇ apek/Pick/Schwarz, Daschenka, S. 15; C ˇ apek/Borchardt, Daschenka, C ˇ apek/Pick/Schwarz üa., Daschenka, S. 21; C ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 14. S. 19; C

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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ˇ apek Ein „surovec“ ist ein ‚Rohling‘, ‚Scheusal‘, ‚Gewaltmensch‘. Nun sucht C nach einer weiblichen Form dieses männlichen Substantivs und spielt verschiedene Varianten durch, was insofern lustig ist, weil er dabei einerseits auch auf den Diminutiv von ‚Rohstoff‘ (surovina – surovinka) kommt und andererseits zum Schluss von ‚einem kleinen Mädchen von Rohling‘ schreibt, was natürlich einen Widerspruch in sich darstellt. Pick/Schwarz und Jähn versuchen mit mehr oder weniger Erfolg, das Spiel aufzugreifen. Jähn greift dabei mit Barbarin, Barbara, Barbe auf existierende Worte zurück (die alle irgendwie Barbie anklingen lassen), wobei man sich fragt, was nun an dem Fisch so ungehobelt sein soll. Borchardt lässt sich auf das Spiel gar nicht erst ein, wodurch der Klammereinschub unmotiviert wirkt, denn sie nutzt ja zuvor schon ein Wort, um das auszudrücken, was ausgedrückt werden soll. Wie einfallslos die Überarbeitung der Übersetzung von Pick/Schwarz an dieser Stelle ausfällt, ist auch ohne jeden Kommentar offensichtlich.16 ˇ apek für die von dem Welpen zerkauten Gegenstände Die Rechnung, die C aufmacht, ist mit den Worten unterschrieben „(Racˇte laskaveˇ prˇepocˇítat.)“, was der zeitgenössischen Amtssprache entspricht, wie es auch Pick/Schwarz aufgreifen: „(Bitte gefälligst nachzurechnen.)“; Borchardt bleibt ebenfalls förmlich, jedoch sprachlich moderner: „(Wollen Sie bitte nachrechnen?)“, die überarbeitete Fassung von Pick/Schwarz lässt die Bitte der Kontrolle ganz weg und Jähn übernimmt den Witz nicht, sondern wendet sich an die Kinder: „(Bitte, seid so lieb und rechnet nach.)“17 Nur bei Borchardt findet sich die – richtige – Summe ˇ apek; Pick/Schwarz rechnen in Mark um; und Abfolge der Gegenstände wie bei C Jähn ändert die Abfolge, lässt das Paar Sandalen weg, was zu einer falschen Summe führt, wie die Kinder nun herausfinden können. Allerdings sind sie mit dieser Erkenntnis dann alleingelassen, weil darüber nicht mehr kommuniziert wird, da der Fehler ja nicht in das Original eingebaut war.

2.

Übersetzung als Märchenfilter

Es wird zwar oft pauschal von „sozialistischer Kinderliteratur“ geschrieben, die es ermöglichte, „Exemplarisches […] vor allem aus politisch verbündeten Staaten Osteuropas“ zu übersetzen,18 dabei bleiben jedoch zwei Dinge unbeachtet. Erstens waren die Ideologie und die Treue gegenüber den sowjetischen Auffas16 Etwas verwunderlich ist, weshalb niemand auf die Idee gekommen ist, es mit den Begriffen ‚Grobian‘ oder ‚Brutalo‘ zu versuchen, die sich hier aus meiner Sicht hervorragend zu Wortneubildungen eignen würden. ˇ apek, Dásˇenka, S. 24; C ˇ apek/Pick/Schwarz, Daschenka, S. 24; C ˇ apek/Borchardt, Daschenka, 17 C ˇ apek/Pick/Schwarz üa., Daschenka, S. 29; C ˇ apek/Jähn, Daschenka, S. 26. S. 34; C 18 O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000, S. 167.

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sungen je nach Staat unterschiedlich intensiv ausgeprägt, so dass es zu den hier im Weiteren beschriebenen Verschiebungen während des Übersetzungsprozesses kam resp. kommen musste, um Bücher für Ostdeutschland ‚tauglich‘ zu machen. Zweitens dienten Kinderbücher der Generierung von Devisen, wenn sie auch für den westdeutschen Markt geeignet waren, d. h. zu vordergründig ‚sozialistische‘ Bücher aus dem westslavischen Raum wurden eher nicht übersetzt (etwas anders verhielt es sich mit sowjetischen), sieht man von den frühen 1950er-Jahren einmal ab, aus denen unten das erste Beispiel stammt. Während des Kommunismus war es gang und gäbe, dass polnische und tschechische (auch russische und ungarische) Verlage selbst Übersetzungen ins Deutsche anfertigen ließen und bei sich im Land für den Export nach Ost- und ggf. Westdeutschland verlegten.19 Das ist ein interessantes Phänomen, das jetzt von einigen tschechischen Autorinnen und Autoren von Erwachsenenliteratur insofern übernommen wird, als sie ihre Bücher in Tschechien zweisprachig herausgeben. Damit ist das, was aus diesen Ländern auf Deutsch vorliegt, nicht – oder nur zum Teil, wenn vorher Absprachen getroffen wurden – Abbild des Fremdinteresses, sondern Eigendarstellung und erfordert einen anderen Blick als wenn, wie sonst üblich, die Zielkultur bestimmt, was ihrer Meinung nach auf ihrem Markt zu finden sein sollte. Waldemar Klemm macht deutlich, dass es sich mithin um keinen „authentischen Kulturaustausch“ gehandelt habe, sieht dies aber gerade in Bezug auf Ostdeutschland auch als Vorteil, weil die polnische Kultur – zumindest in den 1970er-Jahren – freier war und damit ein klein wenig dieses freieren Geist ‚eingeschmuggelt‘ werden konnte.20 Allerdings trugen die Übersetzungen nicht selten dazu bei, dass von diesem freieren Geist dann doch weniger übrig blieb, als hätte vermutet werden können. Die Wahl der Ausgangskultur fällt meist auf Kinderbücher, die sich im Ursprungsland besonders großer Beliebtheit erfreuen und von denen man deshalb annimmt, dass sie ebenfalls anderswo auf Interesse stoßen würden. 19 Klemm führt für polnische Kinderbücher in Deutschland folgende Zahlen an: 1/5 wurde im Westen herausgegeben, 2/5 im Osten, 2/5 in Polen; Klemm, Waldemar: Von A [wie Andrzejewski] bis Z˙ [wie Z˙ukrowski]. Einige Bemerkungen über die Rezeption polnischer Kinderund Jugendliteratur in Deutschland, in: Almanach zur Polnischen Kinderkultur. Almanach polskiej kultury dziecie˛cej. Hamburg 1996, S. 18–22, hier S. 19. Wenn man das fertige Produkt kaufen konnte, standen die Endkosten fest, die niedriger waren, als wenn die Bücher in Deutschland übersetzt worden wären (auch in Ostdeutschland wurde für Übersetzungen mehr bezahlt als in den anderen Ländern des Ostblocks, zudem musste man sich dann z. B. nicht um die zu jener Zeit schwierige Papierbeschaffung kümmern). In der Tschechoslowakei wurde eigens zu diesem Zweck 1953 der Außenhandelsbetrieb Artia gegründet, zu dem auch der gleichnamige Verlag gehörte, der eigene Bücher für den Export sowie Bücher im Auftrag ausländischer, v. a. westdeutscher, Verlage produzierte. Besondere Popularität erlangten Bücher mit Märchen aus aller Welt, Tierenzyklopädien, Kunstbücher und eben Kinderbücher, wobei es sich nicht ausschließlich um im Original tschechische Bücher handelte. 20 Klemm, Von A bis Z˙, S. 19.

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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Pavel Kohout, O cˇerném a bílém Während des Stalinismus verfasste Pavel Kohout sein Kinderbuch O cˇerném a bílém (wörtlich: Vom Schwarzen und Weißen; 1950, illustriert von Theodor Rotrekl; 21951, illustriert von Vladimír Kovárˇík), das relativ schnell unter dem Titel Dreizehn rote Rosen in (ost-)deutscher Übersetzung erschien (1953, illustriert von Erich Gürtzig). Als Übersetzer figurierte Johann Plocar. Dieses Buch von „ideologischen Paraphrasen ehrbarer tschechischer Volksmärchen“ ließ deren „Erzeuger […] nach einigen wenigen Jahren […] ganz gewöhnlich erröten“, wie dieser in seiner Autobiographie schreibt,21 schließlich handelt es sich „o politicky zameˇrˇení pohádky, jakousi ideologickou sˇkolu pro deˇti nejmladsˇího sˇkolního veˇku“ (um politisch orientierte Märchen, gewissermaßen um eine ideologische Schule für jüngste Schulkinder).22 Die Rede von „Paraphrasen [von] Volksmärchen“ ist eine nachträgliche Verharmlosung, es sind eindeutig stalinistisch geprägte Kunstmärchen. Was in dem vorliegenden Kontext jetzt von Interesse ist, ist die Tatsache, dass Buch und Übersetzung spiegeln, wie unterschiedlich der Umgang mit der Gattung Märchen in der Tschechoslowakei und in Ostdeutschland in jenen Jahren war und welche Aufgabe dabei die Übersetzung neben dem Transfer des Textes von einer Sprache in die andere zusätzlich übernahm. Die Vorgeschichte dazu ist in der Sowjetunion der 1920er-Jahre zu sehen, als den Märchen, die für die pädagogische Arbeit keinen Nutzen bringen würden, der Kampf angesagt wurde.23 Allerdings wurde dieses Verdikt auf dem sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 wieder aufgehoben und sogar Humor als wichtiges Element für Kinderbücher akzeptiert.24 Während diese veränderte Richtlinie in der Tschechoslowakei nachweislich zur Kenntnis genommen worden ist,25 wenn auch nicht von allen,26 hielt man während der Stalinzeit in Ostdeutschland offensichtlich an der Absage an die Märchen fest, denn diesen von Kohout geschaffenen sechs stalinistischen Kunstmärchen wurde in ihrer ost21 Kohout, Pavel: To byl mu˚j zˇivot? (První díl) 1928–1979. Praha/Litomysˇl 2005, S. 84 vs. ders.: Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel. Erlebnisse – Erkenntnisse. Berlin 2010, S. 89 (dort fehlt ein längeres Zitat aus einem der Märchentexte, das zeigt, dass das Erröten durchaus berechtigt ist). 22 Kosatík, Pavel: Fenomén Kohout. Praha 22013, S. 71. 23 Vgl. Janovskaja, Esfir’: Skazka kak faktor klassovogo vospitanija. Char’kov 1923, S. 43. 24 Vgl. Marsˇak, Samuil: O bol’sˇoj literature dlja malen’kich [1934/1957], in: ders.: V nacˇale zˇizni (stranicy vospominanij). Stat’i. Vystuplenija. Zametki. Vospominanija. Proza raznych let. Sobranie socˇinenij v 8 tomach. Tom 6. Moskva 1971, S. 195–243, hier S. 204, S. 208. 25 Vgl. Neumann, Stanislav: Prˇijmeme a obohatíme deˇdictví nasˇich klasických pohádek, in: Sˇteˇpnice 2/1949/1950, S. 41–45; Kohout, Pavel: Mu˚j zˇivot s Hitlerem, Stalinem a Havlem. I. Z Deníku kontrarevolucionárˇe. Memoáromán. Kde je zakopán pes. Memoáromán. Praha 2011, S. 137 bzw. ders.: Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. München 1990, S. 147. 26 Vgl. F. V. Pavel Kohout: O cˇerném a bílém, in: Komenský 10/1951, S. 587f., hier S. 588.

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deutschen Übersetzung sehr konsequent alles Märchenhafte genommen: Es wurden alle direkten Bezugnahmen auf Märchen entfernt; im Original dargestellte irreale Erscheinungen wurden in Träume transferiert und damit als erklärbare Bestandteile einer möglichen Welt ausgegeben; die Natur tritt in der Übersetzung nicht mehr handelnd auf; allgemeine Angaben wurden konkretisiert und damit Handlungszeit und -ort fixiert; Übertreibungen und Groteskes wurden reduziert.27 Es sei hier nur ein Beispiel zu dem letzten Aspekt angeführt. In der Binnenerzählung eines der Märchen geht es um einen bösen Fabrikanten, der Angorakatzen hält und für diese sogar eigens einen Koch engagiert hat.28 Als es zu einem längeren Generalstreik gegen ihn kommt, kann er sein Haus nicht verlassen und erhält auch kein Essen mehr geliefert. Das führt zu folgender Situation: […] on, Kazimír Král, zabil devátého dne odpoledne nejtlustsˇí angorskou kocˇku, stáhl s ní ku˚zˇi, rozsˇtípal zˇidli a v jídelneˇ si pekl kocˇicˇí ˇrízky. Ostatní kocˇky vyskocˇily na lustr, kam za nimi nemohl, a tam vyjeveneˇ mnˇoukaly (wörtlich: Er, Kazimír Král, erschlug am Nachmittag des neunten Tages die fetteste Angorakatze, zog ihr das Fell ab, zerhackte einen Stuhl und briet im Speisezimmer Katzenschnitzel. Die anderen Katzen sprangen auf den Lüster, wohin er ihnen nicht folgen konnte, und miauten dort verstört.) Er […] erschlug am neunten Tage die fetteste seiner Angorakatzen, zog ihr das Fell ab, zerbrach einen Stuhl und bereitete sich im Kamin des Speisezimmers ein Schnitzel aus Katzenfleisch.29

Die miauend auf dem Lüster sitzenden Katzen wurden den ostdeutschen Kindern vorenthalten, weil es sich um eine groteske Situation handelt, die real so nicht möglich wäre. Die so bereinigten Märchen bringen jedoch das Problem mit sich, dass die ostdeutschen Kinder durch sie wahrscheinlich eher als ihre tschechischen Altersgenossen dazu geneigt waren anzunehmen, dass böse Fabrikanten, die ihre Arbeiter ausbeuten, tatsächlich aus ihren Katzen Schnitzel zubereiten, wenn Not am Mann ist, während die Gesamtsituation des Originaltextes diese Vorstellung eher ausschließt, weil dieses Vorgehen in einen insgesamt grotesken Zusammenhang eingebettet ist. Die interlinguale Übersetzung geht in diesem Falle mit einer Ideologie einher, die in Ostdeutschland offenkundig strenger gehandhabt wurde als in den benachbarten Ländern desselben politischen Blocks. Die kulturellen Spezifika, die die eigentliche Herausforderung darstellen, erweisen sich mithin als Politika.

27 Ausführlicher und mit den entsprechenden Textbelegen dazu vgl. Hultsch, Anne: Rote Märchen in Schwarz-Weiß, in: Zeitschrift für Slawistik 63/2018, S. 283–300, besonders S. 291– 298. 28 Kohout, Pavel: O cˇerném a bílém. Praha 1950, S. 86. 29 Kohout, O cˇerném, S. 90; Kohout, Pavel: Dreizehn rote Rosen. Berlin 1953, S. 125 [Alle Hervorhebungen A. H.].

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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Janusz Korczak, Król Macius´ Pierwszy Aus dem polnischen Sprachraum ist Król Macius´ Pierwszy (1923) von Janusz Korczak über einen polnischen Verlag nach Deutschland gelangt. Korczaks Buch wurde 1957 erstmals in deutscher Übersetzung von Katja Weintraub (und mit Illustrationen von Jerzy Srokowski) in Warschau herausgebracht als König Hänschen I.30 Diese Ausgabe trägt keinen Untertitel. Sie wurde 1970 von Vandenhoeck und Ruprecht als westdeutsche Lizenzausgabe übernommen und wird bis heute immer wieder verlegt. Etwas später (1978, 21980) erschien in Ostdeutschland eine neue deutsche Übersetzung von Monika Heinker, unter dem Titel König Macius´ der Erste. Ein Roman in zwei Teilen für Leser jeden Alters von Janusz Korczak. Diese Übersetzung – mit Hinweis darauf, dass die Rechte an der Übersetzung bei Gustav Kiepenheuer, Weimar und Leipzig, liegen – wurde 1994 wieder, jedoch unter geändertem Titel als Der kleine König Macius. Eine Geschichte in zwei Teilen für Kinder und Erwachsene im Herder-Verlag herausgegeben, so dass man annehmen kann, dass die Änderungen im Einvernehmen vorgenommen worden sind. Von 2002 schließlich stammt der Macius´-Band im Rahmen der KorczakWerkausgabe, die das Gütersloher Verlagshaus verantwortet: König Macius´ der Erste. König Macius´ auf der einsamen Insel, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, so wird es auf der Titelseite angegeben, auf deren Rückseite dann noch Agnes Motz als Bearbeiterin genannt und festgestellt wird, dass die deutsche Erstauflage der Macius´-Bände 1978 bei Gustav Kiepenheuer in der Übersetzung von Heinker erschienen seien. Es wird allerdings weder irgendwo gesagt, in welchem Verhältnis diese Übersetzung zu dem vorgelegten Buch steht, noch was Beiner, Ungermann, Motz „auf der Grundlage der polnischen Werkausgabe“ eigentlich „bearbeitet“ haben. Wieso wird nicht auf die Gestalt des vorgelegten deutschen Textes eingegangen und unmissverständlich offengelegt, auf wessen Übersetzung dieser basiert, so dass man, ehe man zum Vergleich schreitet, nur vermuten kann, dass es sich wohl um die genannte Übersetzung von Heinker handle. Nach welchen Kriterien wurde diese Übersetzung „bearbeitet“ usw.? Zudem deutet die Gestaltung der Titelseite an, dass einer wie auch immer gearteten Bearbeitung ein höherer Wert beigemessen wird als der Übersetzungsleistung an sich. Damit fällt, auch wenn es sich um einen deutschen Verlag handelt, der Text der Praxis zum Opfer, die v. a. für die erste Hälfte der 1990er-Jahre in Polen beklagt wird: „We very often find infor30 Die erste tschechische Ausgabe, Král Matýsek První, erschien 1987 in der Übersetzung von Richard Vyhlídal, die erste slowakische, Králˇ Matˇko Prvý, 1993 in der Übersetzung von Ján Sedlák. Aufgrund der sprachlichen Nähe zum Polnischen ist es beiden möglich, von dem Namen Mateˇj resp. Matej eine Diminutivform zu bilden.

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mation concerning who adapted or rewrote the translation but no name of the original translator or any information concerning previous publications of the given work.“31 Es handelt sich hier offensichtlich um einen ‚Unkulturtransfer‘.32 Sieht man sich die vier verschiedenen Titel an, kann man einen veränderten Zugang zum Umgang mit dem Ausgangstext erkennen. Bei dem Namen des Titelprotagonisten, Macius´, handelt es sich um eine Koseform von Maciej. Da sich dessen deutsche Entsprechung Matthias schlecht verkleinern lässt, wurde 1957 ein im Deutschen ähnlich häufig auftretender Name wie Maciej im Polnischen gesucht, von dem eine Diminutivform gebildet werden kann: Hans – Hänschen, wodurch der Gegensatz zwischen dem seriösen Königstitel und dem Kind im Deutschen bestehen bleibt. Die ostdeutsche Ausgabe von 1978 ‚mutet‘ den Rezipienten den polnischen Namen zu und schreibt diesen auch richtig, was in der westdeutschen Ausgabe von 1994 nicht mehr der Fall ist. 2002 wird dann wieder auf die richtige Schreibweise zurückgegriffen. Bei dem Titel Der kleine König Macius handelt es sich um eine doppelte Verkleinerung, die sicherstellt, dass vom Titel an klar ist, dass es um einen Kind-König geht, auch wenn man im Zweifelsfalle nicht weiß, dass es sich mit Macius´ um eine Diminutivform handelt. Dieses Faktum wird durch den Zusatz ‚klein‘ kompensiert.33 Der Untertitel von 1978, Ein Roman […] für Leser jeden Alters, spricht aus, dass es sich um einen All-Age-Text handle. Diese Aussage ist das Ergebnis einer bewussten Entscheidung und Absprache zwischen den Verlagen: Das Werk gilt zu Recht als Klassiker des polnischen Jugendbuchs. Zeitbedingte Darstellungen des Themas Krieg und der Afrikaner in der Rolle der von der Gesellschaft geschmähten „minderwertigen Klasse“ haben zu der Überlegung Anlaß gegeben, das Werk nicht speziell als Kinderbuch zu edieren. Deshalb erscheint in Absprache mit dem 31 Korzeniowska, Aniela: On the Morally Dubious Custom of Rewriting Canonical Translations of Children’s Literature, in: Dybiec-Gajer, Joanna/Oittinen, Riitta/Kodura, Małgorzata (Hg.): Negotiating Translation and Transcreation of Children’s Literature. From Alice to the Moomins. Singapore 2020, S. 73–88, hier S. 73. Korzeniowska fasst ihre diesbezüglichen Ausführungen wie folgt zusammen: „What, however, is unacceptable from the ethical and moral point of view is not acknowledging the author of the original translation, claiming that a work has been rewritten on the basis of somebody else’s work, but not saying what actually has taken place in the process of rewriting the translation, or not providing all the necessary information concerning the history of such works. […] From the point of view of transcreation, we might like to categorise the strategy not as the creative transformation of the source texts, which it definitely was not, but as a ‚creative‘ way of repackaging old products, in this case translations“ (ebd., S. 85). 32 Von einer ordentlichen Werkausgabe, die einen ansonsten anständigen Anmerkungsapparat hat, in dem die polnische Textgrundlage diskutiert wird, und die aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland finanziell unterstützt worden ist, hätte man ein saubereres Vorgehen erwarten dürfen. 33 Vgl. Fimiak-Chwiłkowska, Anna: Die Welt in Kinderworten. Zum Problem der Übersetzung der Kinderliteratur am Beispiel des Romans Król Macius´ I (1923) von Janusz Korczak in zwei deutschen Übersetzungen, in: Studia Germanica Gedanensia 27/2012, S. 196–210, hier S. 201.

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Kinderbuchverlag das zweiteilige Werk als pädagogischer Roman innerhalb der Bemühungen des Kiepenheuer Verlages um das polnische literarische Erbe. […] Die Herausgabe als Buch für Erwachsene ermöglicht es auch, die stilistischen Eigenheiten Korczaks (z. B. Tempuswechsel) deutlicher herauszuarbeiten als das im Kinderbuch möglich wäre.34

Insofern stimmt eigentlich nicht einmal mehr die Aussage, dass sich diese Übersetzung im Gegensatz zum Original an „Leser jeden Alters“ richte, denn der Argumentation des herausgebenden Verlages nach ist sie allein als Werk „für Erwachsene“ konzipiert, was sowohl inhaltlich als auch sprachlich begründet wird. Explizite Doppeltadressiertheit der Übersetzung ist schließlich 1994 zu finden: Eine Geschichte […] für Kinder und Erwachsene.35 Allerdings korrespondiert diese Aussage nicht so ganz mit dem Vorspann zum Text – der in diesen beiden Ausgaben (1978 und 1994) an dieser Stelle bezeichnenderweise fehlt –, in dem Korczak schreibt, dass Erwachsene den Text überhaupt nicht lesen sollten, weil darin einige Teile für sie ungeeignet und unverständlich seien und sie nur zum Lachen bringen würden, aber verbieten könne man Erwachsenen natürlich nichts.36 In den Ausgaben von 1957 und 1970 ist dieser Text abgedruckt und wird von Hartmut von Hentig in seiner viel zitierten Rezension bestätigt: „[…] ganz und gar ein Kinderbuch, ja, es setzt einen Maßstab für das, was ein gutes Kinderbuch leisten sollte“,37 was aus seiner Sicht impliziert, dass es auch Erwachsene interessieren können, erfreuen oder betroffen machen müsse. Die Ausgabe von 2002 verfügt zwar über ein „Nachwort für junge Leser“ von Igor Newerly, das jedoch nicht ursprünglich als solches verfasst worden ist,38 die Aufmachung und Ausstattung des Bandes, der jetzt wieder ohne Untertitel erscheint, richtet sich jedoch eindeutig an Erwachsene. Man kann in dem Falle dieser verschiedenen Ausgaben der Heinker-Übersetzung jedoch nicht von einem Wandel der impliziten Adressierung sprechen, denn die Übersetzung ist ja die gleiche. Es wird nur im Paratext der Adressatenkreis je nach kinderliterarischer Situation des Erscheinungsjahres und des Spektrums des Verlags so angepasst, dass das Buch 34 Berger, F[riedemann]: Stellungnahme des Verlages zum Objekt, in: Bundesarchiv DR 1/3702, S. 358 rev. 35 Das greift der Text auf der hinteren Klappe auf: „Wie der ‚Kleine Prinz‘: auch ein Weisheitsbuch für Erwachsene.“ 36 Korczak, Janusz: Król Macius´ Pierwszy. eBook Collection (EBSCOhost) 2016, S. 4. Diese Aussage des Vorspanns findet zumindest ihren Weg in das Nachwort der Ausgaben von 1978 und 1994. 37 Hentig, Hartmut von: Die Kinder an die Macht?, in: Der Spiegel 51/1970, S. 161f., hier S. 161. 38 Newerly, Igor: Nachwort für junge Leser, in: Korczak, Janusz: König Macius´ der Erste. König Macius´ auf der einsamen Insel. Gütersloh 2002, S. 433–455. Der Text erschien 1983 unter dem Titel „O chłopu z bardzo starej fotografii“ (Über den Jungen von der sehr alten Photographie), ebd., S. 455.

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Interesse weckt. Oder anders formuliert: Das Etikett wird gewechselt, der Inhalt, der in allen diesen Fällen ohne Illustrationen wiedergegeben wird – auch das kann als Hinweis auf ein gedachtes erwachsen(er)es Publikum gedeutet werden –, bleibt gleich. Der Wandel vom Roman zur Geschichte geht wohl mit der Vorstellung einher, dass Romane eher in den Bereich der Erwachsenenliteratur gehören, obgleich Korczak in dem gerade erwähnten Vorspann selbst auch das Wort „powies´c´“ (Roman) verwendet. Da er Kinder ernst nimmt, schreibt er bewusst einen Roman für sie, in dem er genau das zum Ausdruck bringt. Ungeachtet dieser der Übersetzung hinzugefügten Gattungsangaben lautet der erste Absatz jedoch in der deutschen Fassung von Heinker: „Es war einmal …“,39 wodurch der Text eindeutig in den Bereich des Märchens verschoben wird. Im Original steht: „A to tak było …“ (Und das war so …),40 was nicht mit dem typischen polnischen Märchenbeginn identisch ist,41 sondern, ganz im Gegenteil, als Realismussignal gilt. In der ersten deutschen Übersetzung wird der Eingang noch wörtlich wiedergegeben.42 In den 1950er-Jahren wäre es, wie oben am Beispiel von Kohout dargestellt, für die Verbreitung des Buches in Ostdeutschland auch eher hinderlich gewesen, ihm einen zu offensichtlich märchenhaften Charakter zu verleihen. Die Situation für den deutschsprachigen Macius´ dürfte sich in den 1970er-Jahren vor allem angesichts der Rezeption des Buches in Westdeutschland geändert haben. Dort wurde das „nichtautoritäre“ Buch nämlich als „Bibel der antiautoritären Bewegung“ aufgenommen, wie Sybil Gräfin Schönfeldt unter Verweis auf die Rezension von Hentigs schreibt.43 Dass in der DDR weder nichtnoch antiautoritäre Erziehung erwünscht war, versteht sich von selbst, so dass offensichtlich die Rettung darin bestand, den Text nun dem Bereich des Märchens einzuschreiben und damit eine größere Distanz zur Realität herzustellen. In der Ausgabe von 2002 wird dieser Märchenbeginn dadurch wieder abgeschwächt, dass es zu dem oben erwähnten und diesmal im Buch abgedruckten Vorspann eine lange Fußnote gibt, die den autobiographischen Charakter des gesamten Textes herausstellt44, und damit von Anfang an auf die Rezeptions39 Korczak, Janusz: Der kleine König Macius. Eine Geschichte in zwei Teilen für Kinder und Erwachsene. Aus dem Polnischen von Monika Heinker. Freiburg/Basel/Wien 21994, S. 7. 40 Vgl. Korczak, Król, S. 4. 41 Dieser lautet entweder ‚Było/Był/Była sobie raz‘ (‚Es/er/sie war einmal‘) oder ‚Dawno dawno temu‘ (‚Vor langer, langer Zeit‘ oder ‚Lang, lang ist’s her‘). 42 Korczak, Janusz: König Hänschen I. Deutsch von Katja Weintraub. Warschau 1957, S. 7. 43 Schönfeldt, Sybil Gräfin: Wie König Hänschen nach (West-)Deutschland kam, in: Almanach zur Polnischen Kinderkultur. Almanach polskiej kultury dziecie˛cej. Hamburg 1996, S. 48. Von Hentig selbst schreibt allerdings von „nichtautoritäre[r] Erziehung“ [Hervorhebung im Original]; von Hentig, Kinder an die Macht?, S. 161. 44 Korczak, Janusz: König Macius´ der Erste. König Macius´ auf der einsamen Insel. Gütersloh 2002, S. 9. Damit geht der eigentliche Sinn dieser einleitenden Passage und des Kinderfotos

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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haltung Einfluss nimmt und abermals deutlich macht, dass sich das Buch an Erwachsene richtet, die an der Person Korczak interessiert sind. Da es den 60 Seiten umfassenden Apparat gibt, wäre ansonsten unverständlich, warum die Information in der Fußnote aus Sicht der Herausgeber bereits an dieser Stelle unerlässlich zu sein scheint, zumal sich beispielsweise Aussprachehinweise, die tatsächlich während der Lektüre hilfreich sein könnten, erst ganz am Ende des Buches befinden.

Jan Brzechwa, Akademia pana Kleksa Hin und wieder mit der Person Korczak in Verbindung gebracht wird Akademia pana Kleksa (1946) von Jan Brzechwa (d. i. Jan Wiktor Lesman), denn diese fiktive Akademie gewährt Asyl, wie es das reale Waisenhaus Korczaks getan hat. Bei der von dem exzentrischen Gelehrten und Zauberer Ambroz˙y Kleks geleiteten Akademie handelt es sich um eine Art Gegenschule, in der die Schüler alles machen, was sie sonst verweigern (sich gerne waschen, sich jeden Tag voller Spannung auf die Schule freuen etc.). Um sich eine Vorstellung von dem Inhalt machen zu können, sei erwähnt, dass es Diskussionen gab, ob das Buch nicht durch Harry Potter plagiiert wurde.45 Dieses Buch gehört bis heute in den Kanon der polnischen Kinderliteratur.46

Korczaks, das diese begleitet, verloren, der laut Fimiak-Chwiłkowska darin besteht, sich „Raum für die Verständigung mit seinem kindlichen Lesepublikum“ zu verschaffen und „sofort Kontakt mit den Kindern“ aufzunehmen, vgl. Fimiak-Chwiłkowska, Welt in Kinderworten, S. 202f. 45 Die erste englische Übersetzung von Marek Kazmierski stammt jedoch erst von 2020 (Professor Inkblot’s Academy of Wonders. London 2020; https://d4df28ce-6c7c-4582-bd87-0ba 57d4eb02f.filesusr.com/ugd/a6647a_7bb0e4ca5e064821bf4b9ec5404d248d.pdf [17. 02. 2021]. Kazmierski hat das Pseudonym Brzechwa dabei in Anlehnung an J. R. R. Tolkien und J. K. Rowling durch J. W. Fletching ersetzt, „to help the book reach international audiences“, wozu er sich selbst die Lizenz erteilt: „As someone who has devoted his life to exploring, translating, publishing and promoting the Polish language in translation, I have a responsibility to do right by it, even if sometimes this means facing uncomfortable truths.“ Kazmierski, Marek: Poland’s Happy Potter. A Handy Guide to JW Fletching’s Professor Inkblot’s Academy of Wonders; zugänglich unter: https://d4df28ce-6c7c-4582-bd87-0ba57d4eb02f.filesusr.com/u gd/a6647a_49e2285a64e24674829fe0ec244251d0.pdf, S. 2 [17. 02. 2021]. Brzechwa soll für sein Werk durch James M. Barries Peter and Wendy (1911) inspiriert gewesen sein; vgl. Waksmund, Ryszard/Michułka, Dorota: Polish Literature for Children and Youth in a Comparative Perspective [Selective Problems], in: Interlitteraria 19/2014, S. 152–166, hier S. 156. 46 Vgl. Czernow, Anna Maria/Michułka, Dorota: Historical Twists and Turns in the Polish Canon of Children’s Literature, in: Kümmerling-Meibauer, Bettina/Müller, Anja (Hg.): Canon Constitution and Canon Change in Children’s Literature. London/New York 2016, S. 85–102, hier S. 96.

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Die deutsche Übersetzung von Curt Pradow (lt. Verlagsgutachten handelt es sich um Curt Poralla),47 Die Akademie des Meisters Klex, erschien mit Illustrationen von Jan Marcin Szancer 1957 im Ostberliner Kinderbuchverlag (1975 als Lizenzausgabe dann auch in Stuttgart).48 Was als Erstes auffällt, wenn man sich Original und Übersetzung ansieht, ist, dass das Präsens durch episches Präteritum abgelöst wird, was zu einer größeren Distanz beim Lesen gegenüber der beschriebenen Handlung führt. Und gleich die erste Kapitelüberschrift weist abermals darauf hin, dass es zu jener Zeit in Ostdeutschland ein Problem mit Märchen gab.49 Aus „Ta oraz inne bajki“ (Dies und andere Märchen) wurde: „Was es nicht alles gibt …“.50 In dem Text selbst ist sehr viel von Märchen die Rede, von deren Autoren resp. Sammlern, Märchengestalten, Handlungen etc.51 Wie es für Märchen typisch ist, lassen sich auch weder ein konkreter Handlungsort noch eine konkrete Handlungszeit des Textes festmachen. Das muss nicht verwundern, ist doch die Akademie des Herrn Kleks selbst ein Märchen neben diesen anderen. Das wird dem ostdeutschen Kind jedoch erst mit der letzten Kapitel47 Rodrian/Stillmann: Verlagsgutachten zu Jan Brzechwa, „Die Akademie des Meisters Klex“, in: Bundesarchiv DR 1/3954a, S. 649. Poralla war als Wissenschaftler am Osteuropa-Institut der Freien Universität in Westberlin tätig, in den 1950er-Jahren erschienen mehrere Kinderbücher in seiner Übersetzung unter dem Namen Pradow in Ostdeutschland resp. Polen. 48 Bereits 1949 erschien die erste slowakische Ausgabe: Akadémia pána Machulˇku (übersetzt von Ferdinand Gabaj), 1978 erneut als Akadémia pána Machulˇu (übersetzt von Olˇga Feldeková, Jozef Marusˇiak und nachgedichtet von Lˇubomír Feldek). 1960 erschien die erste tschechische Ausgabe: Akademie pana Kanˇky (übersetzt von Olga Neversˇilová, neu 1973 von Jirˇí Fiedler), in allen wurde der Name pan Kleks mit ‚Klecks‘ oder ‚Tintenfleck‘ übersetzt. 49 Interessanterweise liegt dieses Problem auf einer anderen Ebene denn der Zensurbehörde (damals dem Amt für Literatur und Verlagswesen bei der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik), denn in dem der Genehmigung zugrundeliegenden Verlagsgutachten wird ungeniert von einem Märchen gesprochen. Es ist u. a. zu lesen: „Meister Klex und seine Akademie werden zum Sinnbild einer köstlichen Märchenwelt, in der es nicht darauf ankommt, daß die unglaublichsten Dinge passieren, sondern die auch die Aufgabe erfüllt, die kindliche Phantasie zu beschäftigen und anzuregen“, Rodrian/Stillmann, Verlagsgutachten, S. 649. Das Gutachten basiert aber offenbar bereits auf der Übersetzung, mithin einem sehr abgeschwächten Märchen. 50 Brzechwa, Jan: Akademia pana Kleksa. Warszawa 41960, S. 5; ders., Die Akademie des Meisters Klex. Übersetzung aus dem Polnischen von Curt Pradow. Berlin 1957, S. 5. 51 Um welche Märchen es sich jeweils konkret handelt, wird im Deutschen an die dort am weitesten verbreiteten Märchen angepasst, damit das deutschsprachige Publikum etwas mit den Andeutungen verbinden kann. Andersen und die Brüder Grimm sind jedoch bereits im polnischen Text präsent. Das ist nicht verwunderlich, denn: „Andersens Märchen waren im vergangenen halben Jahrhundert das beliebteste Werk eines ausländischen Schriftstellers in Polen. Wie die Nationalbibliothek in Warschau ermittelt hat, wurden die Märchen in der Zeit von 1944 bis 1996 dreiundsechzigmal und in einer Gesamtauflage von 3,4 Millionen Exemplaren verlegt. Als beliebteste deutsche Werke folgen auf Platz 9 Grimms Märchen mit 1,6 Millionen Exemplaren […]“ (zit. nach: Polen liest Andersen. Die Bestseller der letzten Jahrzehnte, in: FAZ vom 01. 11. 1997, Nr. 254, S. 38). Brzechwa selbst lag bei der BelletristikGesamtwertung auf Platz 3 (ebd.).

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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überschrift, als das Buch schon so gut wie abgeschlossen ist, so vermittelt wie dem polnischen Kind bereits im Verlauf des gesamten Textes: „Poz˙egnanie z bajka˛“ (dt. „Abschied vom Märchen“).52 Bis dahin wird nämlich in der deutschsprachigen Fassung peinlich genau darauf geachtet, die phantastische Welt der Handlung klar von der Märchenwelt zu trennen. Heißt es beispielsweise im Original: „Wszystkie te furtki prowadza˛ do rozmaitych sa˛siednich bajek, z którymi pan Kleks jest w bardzo dobrych i zaz˙yłych stosunkach“ (Alle diese Pforten führen zu verschiedenen benachbarten Märchen, mit denen Herr Kleks in sehr guten und vertrauten Beziehungen steht),53 wird damit ja ausgesagt, dass Herr Kleks als ein Nachbar der Märchen selbst auch eines ist. In der deutschen Fassung handelt es sich jedoch um zwei getrennte Welten, von denen das „Märchenland“ die ‚andere Welt‘ darstellt: „Alle diese Pforten führten ins Märchenland, zu den verschiedenen Märchengestalten, mit denen Meister Kleks in gutem Einvernehmen stand.“54 Noch deutlicher, dass sich hinter dieser Verschiebung ein Prinzip verbirgt, wird es wenig später, als der Protagonist von Herrn Kleks zu Herrn Andersen geschickt wird, um vom Mädchen mit den Schwefelhölzern Streichhölzer zu holen. Er wundert sich, dass er dabei vom Sommer in den Winter gerät, worauf Herr Andersen sagt: „Ale przeciez˙ musisz, chłopcze, zrozumiec´, z˙e ty jestes´ z zupełnie innej bajki“ (Aber Junge, du musst doch verstehen, dass du aus einem ganz anderen Märchen bist; Hervorhebung A. H.).55 Im Deutschen ist jedoch zu lesen: „Du mußt verstehen, mein Junge, daß du hier im Märchenland bist“,56 also wiederum in einer anderen Welt als der seinen und nicht nur im Nachbargarten. Auch die Schilderung des Mitleids, das der Junge mit dem Mädchen hat, unterscheidet sich: „Nie lituj sie˛ nad ta˛ dziewczynka˛, jest ona biedna i zzie˛bnie˛ta, ale tylko na niby. Przeciez˙ to bajka. Wszystko tu jest zmys´lone i nieprawdziwe“ (Bemitleide dieses Mädchen nicht, sie ist arm und durchgefroren, aber nur zum Schein. Schließlich ein Märchen. Alles ist hier ausgedacht und unwahr).57 Der Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts des Jungen soll diese ‚Erdung‘ dienen, die die Andersen-Figur höchst selbst vornimmt und die sich implizit an die lesenden Kinder richtet. Innerhalb der gesamten phantastischen Geschichte ist das eine merkwürdige Rückkehr in die reale Welt, bei der allerdings ‚alles‘ („wszystko“) als ausgedacht und unwahr (Andersen und der Junge nicht ausgenommen) apostrophiert wird und sich nicht wie in der deutschen Fassung verkürzt nur auf das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern bezieht: „Dieses Mädchen brauchst du nicht zu 52 53 54 55 56 57

Brzechwa, Akademia, S. 107; ders., Akademie, S. 112. Brzechwa, Akademia, S. 7. Brzechwa, Akademie, S. 7. Brzechwa, Akademia, S. 7. Brzechwa, Akademie, S. 8. Brzechwa, Akademia, S. 8.

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bemitleiden, weil es arm ist und friert. Nimm das nicht so tragisch, es ist doch nur ein Märchen.“58 An anderer Stelle ruft der vergessliche Herr Kleks: „‚Zgubiłem wczorajszy dzien´! Jasiu! Małgosiu!‘“, was im Deutschen mit „ich verlor gestern meinen Tag“ wiedergegeben wird.59 Es werden von ihm also nicht mehr ‚Hänsel! Gretel!‘ zu Hilfe gerufen, weil er seinen ‚gestrigen Tag‘ verloren habe. Wenn ihm diese Märchengestalten helfen sollen, müssen sie sich in seiner Welt befinden oder zumindest Zugang zu dieser haben. Da – wie bereits an mehreren Beispielen gezeigt – in der deutschen Übersetzung jedoch eine Trennung der Märchen- von des Meisters Welt vorgenommen wird, kann er in dieser auch keine Märchengestalten um Hilfe bitten, wenngleich es sich an dieser Stelle im polnischen Original mit Hänsel und Gretel um im deutschen Sprachraum wohlbekannte Figuren handelt. Daraus wird ersichtlich, dass der Verzicht auf die Anrufung dieser beiden Figuren nicht durch potentielle Unverständlichkeit im deutschsprachigen Raum, um wen es sich handle, ausgelöst wird, sondern durch eine Gesamtkonzeption der Übersetzung bedingt ist, die die fiktive Welt des Meisters von Märchenelementen reinzuhalten beabsichtigt. Es ließen sich noch zahlreiche weitere ähnlich gerichtete Beispiele anführen. Da das Prinzip aber bereits deutlich geworden sein dürfte, seien hier nur noch zwei Textstellen erwähnt, von denen die eine die Absurdität abmildert, wenn Herr Kleks von einer benachbarten Prinzessin nicht mehr zu „motylki w czekoladzie“ (Schmetterlingen in Schokolade) eingeladen wird, sondern diese ihm im deutschen Text ausrichten lässt, dass er „wegen der Schmetterlinge einmal“ kommen solle.60 Diese Verschiebung erinnert an jene, die an Kohouts Text hinsichtlich der Angorakatzen vorgenommen worden ist. Die zweite Stelle, auf die noch hingewiesen werden soll, stellt den Tagesablauf dar, dessen Bestandteil im Polnischen ein „apel“ (Appell) ist, aus dem im Deutschen jedoch eine „Morgenandacht“ bzw. ein „Gebet“ wird.61 Einen Appell darf es in dieser phantastischen Welt nicht geben, er würde unter Umständen zu Vergleichen mit der Realität der ostdeutschen Kinder anregen. Da scheinen Morgenandacht und Gebet unverfänglicher, die nach offizieller Sicht nicht der eigenen Lebenswelt zuzuordnen sein sollten oder von einigen Wissenderen automatisch mit Polen assoziiert werden, jedenfalls abermals zu einer ‚anderen Welt‘ gehören.

58 59 60 61

Ebd. Brzechwa, Akademia, S. 23; Brzechwa, Akademie, S. 25. Brzechwa, Akademia, S. 10; Brzechwa, Akademie, S. 11. Brzechwa, Akademia, S. 35; Brzechwa, Akademie, S. 38.

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

4.

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Übersetzung als Spaßfilter

Vladimír Fuka/Jirˇí Kolárˇ, V sedmém nebi Eines der tschechischen Bilderbücher, die im Land selbst auf Deutsch verlegt worden sind, ist V sedmém nebi. Anekdoty, hádanky a hry pro malé, velké i veliké, mladé, starsˇí i starˇicˇké (wörtlich: Im Siebten Himmel. Anekdoten, Rätsel und Spiele für Kleine, Große und sogar Riesige, Junge, Ältere und sogar Alte)/Im siebenten Himmel. Lustige Anekdoten für Junge, Ältere und Alte. Für Groß und Klein, das in Prag sowohl auf Tschechisch (1964, 22013) als auch auf Deutsch (1965) erschien.62 Das Buch gewann 1965 auf der Kinderbuchmesse in Bologna die Goldmedaille. Die Illustrationen stammen von Vladimír Fuka, der Text von Jirˇí Kolárˇ, die Typographie von Oldrˇich Hlavsa; wer das Buch „Nach der tschechischen Originalausgabe“63 ins Deutsche gebracht hat, ist jedoch nicht angegeben. Beide Ausgaben unterscheiden sich erheblich. Die Konzeption dieses Buches ist so, dass nicht der Text bebildert, sondern die Bilder ‚betextet‘ worden sind. Fuka wendet sich einleitend in einem Brief an die „Milé deˇti, milí cˇtenárˇi“ (Lieben Kinder, lieben Leser) und teilt ihnen mit,64 dass es zuerst alle Bilder, die im Verlauf eines Jahres als Tagebuch gezeichnet worden sind, gab. Zu diesen entstanden erst im zweiten Schritt die Texte von Kolárˇ, die hauptsächlich witzige Einfälle darstellen, die diesem bei Betrachtung der Bilder gekommen sind. Dieser Brief ist in der deutschsprachigen Ausgabe nicht abgedruckt, in der englischsprachigen Ausgabe tritt an seine Stelle eine kurze Erklärung über die Entstehung der Bilder. Ebenso ist in die fremdsprachigen Ausgaben nicht das Märchen für alle Wasserliebhaber Moderní vodník (Moderner Wassermann) des fiktiven Autors Vodoslav Vodník (wörtlich: Wasserpreiser Wassermann) eingebunden65 und es fehlen auch weitere Seiten, allerdings gibt es auch zwei, drei Seiten, die noch nicht in der tschechischen Ausgabe enthalten waren. Zu nicht wenigen Bildern sind im Deutschen einfach neue, kürzere Texte geschrieben worden, die sich nur manchmal an den tschechischen Originaltexten orientieren. Aber auch die Illustrationen erfuhren Veränderungen, wie z. B. die Briefmarkensammlung 62 Außerdem erschien es in Prag noch auf Englisch als Seventh Heaven. Cartoons for everyone (ohne ausdrückliche Angabe eines Übersetzers) und in Mailand auf Italienisch als Al settimo cielo. Scherzi, giochi, indovinelli, fatterelli e raccontini per i grandi e per i piccini (als Übersetzer wird Gianni Rodari angegeben, der aber wahrscheinlich kein Tschechisch beherrschte, so dass vermutet werden muss, er habe nach einer der bereits existierenden anderssprachigen Ausgaben übersetzt), beide ebenfalls 1965. 63 Fuka, Vladimír: Im siebenten Himmel. Lustige Anekdoten für Junge, Ältere und Alte. Für Groß und Klein. Praha 1965, S. 140. 64 Fuka, Vladimír: V sedmém nebi. Anekdoty, hádanky a hry pro malé, velké i veliké, mladé, starsˇí i starˇicˇké. Praha 1964, S. 4f. 65 In Fuka, V sedmém nebi, in schmalerem Format zwischen S. 84 und S. 85.

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des „pan Helveta“ oder „Herrn Mauritius“. Die Sammlung des „pan Helveta“ besteht aus zeitgenössischen Schweizer Marken, während „Herrn Mauritius“’ Sammlung lauter Marken der Kaiserlich-Königlich Österreichischen Post enthält.66 Die Bilder haben hin und wieder eine andere Größe oder sind anders verteilt. Teile des tschechischen Buches sind zudem zum Vervollständigen durch die Kinder gedacht: ein Labyrinth, Suchbild, Bilderrätsel, Ergänzen tierischer Städte- oder von Märchennamen usw.67 Diese Aufgaben fehlen im Deutschen, was dem geänderten Untertitel des Buches entspricht. Aber beispielsweise sind die Bilder zu den Städte- und Märchennamen zwar enthalten, jedoch deren Namen bereits ausgeschrieben. Der interaktive Charakter, der sich speziell an ein kindliches Publikum richtet, geht also weitestgehend verloren, wie man auch bereits aufgrund des weggelassenen begrüßenden Briefes vermuten konnte, in dem abschließend von Fuka die Überzeugung geäußert wird, dass man ihm schreiben werde, wie es einem mit dem Buch ergangen sei.68 Unter dem Brief befindet sich die Zeichnung von vier Postboten, die mit dem Text versehen ist, dass man es ebenfalls in einem Zug versuchen solle (sie nachzuzeichnen). Dieses Bild ist in der deutschsprachigen Ausgabe ebenfalls zu finden, allerdings wird hier gesiezt: „Versuchen Sie’s in einem Zug“, was in sprachlicher Hinsicht nicht falsch ist, aber dennoch unpassend wirkt.69 Auch das deutschsprachige Buch ist lustig, um manchen Spaß wird man aber durch das Weglassen oder Ändern der Texte gebracht. Ein Kriterium, nach dem die Änderungen vorgenommen worden sind, kann nicht richtig erkannt werden, denn selbst für die letzte, auf Deutsch fehlende, Abteilung, in der Redensarten wörtlich genommen bildlich umgesetzt werden,70 hätten sich passende deutsche Entsprechungen finden lassen. Sprachlich tatsächlich unlösbar wäre die Darstellung eines Betrügers im Schwimmwettkampf gewesen, die im Deutschen komplett weggefallen ist. Es wird ein Schwimmer gezeigt, der sich von einem Fisch ziehen lässt, der Text dazu lautet: „Podvodník“,71 was das tschechische Wort für ‚Betrüger‘ oder ‚Schwindler‘ ist, wörtlich jedoch ‚Unterwassermann‘ (pod – unter, vodník – Wassermann) bedeutet. Allein den Wechsel der Briefmarken könnte man mit der speziellen historischen Situation deuten, als in der Tschechoslowakei gerade etwas Reisefreiheit eingeräumt worden war, während diese in Ostdeutschland mit dem Mauerbau 1961 definitiv ihr Ende gefunden hatte. Aber 66 67 68 69

Fuka, V sedmém nebi, S. 25; ders., Himmel, S. 27. Fuka, V sedmém nebi, S. 55, S. 58, S. 60f., S. 76–80, S. 102–111. Ebd., S. 5. Fuka, Himmel, S. 5. ‚Zkuste‘ im Tschechischen ist die Form des Imperativs Plural, wobei sich erst aus dem Kontext ergeben muss, ob es sich um Duzen (Versucht!) oder Siezen (Versuchen Sie!) handelt. 70 Fuka, V sedmém nebi, S. 145–150. 71 Ebd., S. 88.

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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an sich ist das Buch nicht politisch und auch nicht irgendwie didaktisch, wodurch es zu jener Zeit auf seine Weise natürlich doch politisch ist, wenn es keinem vordergründigen Erziehungsauftrag folgt. Es will ‚einfach‘ unterhalten, für absurde Situationen des Lebens und die Sprache sensibilisieren.72 Was sagen Begriffe und Wendungen wörtlich? Wie kann man nach den Abbildungen neue Worte bilden? Auf welche Weise lassen sich Situationen beschreiben? Insofern besteht ein noch größerer Gewinn in der parallelen Rezeption der verschiedensprachigen Varianten des Buches, weil sie gerade durch ihre großen Unterschiede dazu anregen, sich zu fragen, wie man selbst was in welcher Sprache ausdrücken würde oder wie man die Bilder mit Worten begleitet hätte. Die Hauptfrage, die sich aus all dem ergibt und hier leider nicht beantwortet werden kann, ist natürlich, wer hinter den deutschen Texten steht und wie es kommt, dass sich derartige Freiheiten im Umgang mit dem Original genommen werden konnten.73 Da der Umfang des Textes reduziert ist, wäre denkbar, dass Kolárˇ selbst oder jemand aus seinem Umfeld die neue deutschsprachige Variante des Textes besorgt hat. Die englischsprachige Ausgabe hat die identisch mit der deutschsprachigen Ausgabe angeordneten Bilder, jedoch noch weniger Text als diese vom Textumfang her bereits reduzierte Ausgabe. In diesem Falle findet sich jedoch die Angabe: „Text © 1965 Jirˇí Kolárˇ“, was als eindeutiger Hinweis darauf verstanden werden kann, dass Kolárˇ selbst für den englischen Text verantwortlich ist (sein Copyright für den tschechischen Text ist auf 1964 datiert),74 so dass er alle Freiheiten hatte, seinen ersten Text zu verändern, zu kürzen, oder eben auch zu übersetzen. Die vage Angabe in der deutschen Ausgabe „Nach der tschechischen Originalausgabe“ bezieht sich jedenfalls vor allem auf die im Zentrum stehenden Zeichnungen. Von einer ‚Übersetzung‘ kann man in diesem Fall in der Tat schwer sprechen, wenngleich die äußere Aufmachung und der Titel es nahelegen, dass es sich um eine solche handle, bekommen die deutsch- und englischsprachigen Kinder einen (nicht nur) ander(ssprachig)en Text zu lesen als die tschechischen Kinder, und auch untereinander.75 Der Transfer soll auf der visuellen Ebene stattfinden, was ihn nur scheinbar unproblematischer macht. Denn wenn man die Texte zu den Bildern als intersemiotische Übersetzungen versteht, müsste hier für die deutschsprachige Ausgabe eine doppelte Übersetzung stattfinden. Wenn tatsächlich Kolárˇ nicht nur den tschechischen und 72 Fuka schreibt in der englischen Ausgabe über das Ziel des Buches: „[…] I hope will amuse you and give you pleasure and perhaps a little puzzlement“. 73 Da später sowohl Fuka (ab 1967) als auch Kolárˇ (ab 1979) im Exil lebten, werden deren Namen und Bücher in keinen bis 1990 erscheinenden Publikationen über den Verlag mehr erwähnt. 74 Es stimmt dann allerdings nur noch bedingt die folgende Angabe „First published by Státní nakladatelství deˇtské knihy Prague“, denn dort war eben ein etwas anderes Buch erschienen. 75 Es wäre interessant, noch einen Blick in die italienische Ausgabe werfen zu können, die mir bisher nicht zugänglich war, um zu sehen, wie in diesem Fall verfahren worden ist.

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englischen, sondern auch den deutschen Text geschrieben hätte, bestünde das Änderungskriterium wohl in seinem Sprachvermögen, was auch den erwähnten Verzicht auf die Redensarten erklären würde, deren Übertragung eine sehr intime Sprachkenntnis voraussetzen würde.

5.

Übersetzung als Poesiefilter

Franz Fühmann, Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen Während polnische und tschechische Kinderbücher nach Ostdeutschland exportiert wurden, wurden Kinderbücher von dort in die slowakische Sprache eher importiert. Ein in der Tschechoslowakei beliebter ostdeutscher Autor war Franz Fühmann, der selbst Gedichte aus dem Tschechischen nachdichtete und auch für Artia ein Buch mit Kindergedichten von Frantisˇek Halas (Halas deˇtem [Halas für Kinder]) nachdichten sollte, was er aber dann doch nicht bis zur Veröffentlichungsreife tat.76 Kinderbücher von ihm sind allerdings nur ins Slowakische, nicht jedoch ins Tschechische übersetzt worden. Im Folgenden wird es um die slowakische Fassung von Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (1960) gehen, die 1964 in Bratislava als Honba za cˇarokrásnym vtácˇikom in der Übersetzung von Fedor Cádra erschien. Für diese Ausgabe wurden nicht die Illustrationen von Inge Friebel aus der deutschen Ausgabe übernommen, sondern neue von Jozef Cesnak angefertigt, die viel bewegter, leichter und auch weniger ‚sozialistisch‘ wirken. Es ist nicht nur die Zahl der abgebildeten Polizisten geringer, sondern es ist zum Beispiel auch interessant, dass die böse Gestalt des Zauberers in der deutschen Ausgabe fast nur von hinten oder von der Seite gezeigt wird, während man ihr in der slowakischen Ausgabe mehrfach von vorne ins Gesicht blicken kann. In der Originalausgabe wird die Spurensicherung durch die Polizisten abgebildet, in der slowakischen Fassung wird an etwa der gleichen Stelle im Buch hingegen der Fall bereits visuell gelöst, indem der im Mondschein mit dem Vögelchen fliehende Zauberer gezeigt wird.77 Polizeiuniformen und 76 Die Rohübersetzung fertigte Vilém Reichmann an, Ludvík Kundera steuerte Anmerkungen und Erläuterungen bei. Fühmann begann auch mit dem Nachdichten, es blieben jedoch die Traurigkeitsbekundungen des Chefredakteurs von Artia, Rudolf Vápeník, ob des nicht eingereichten Typoskripts unerhört (vgl. Fühmann an Kundera 22.06., 01. 11. 1957, Kundera an Fühmann 19. 12. 1957, 25.03., 16. 06. 1959, in: Akademie der Künste, Fühmann-Archiv, 1120; Arbeitsmaterialien, Entwürfe zu den Nachdichtungen, ebd., 217). Halas erschien dann 1960 unter dem Titel Kinderparadies. Gedichte für die Kleinen in der Übersetzung von Erich Bertleff. 77 Fühmann, Franz: Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen. Berlin 101977, S. 13; ders.: Honba za cˇarokrásnym vtácˇikom. Aus dem Deutschen von Fedor Cádra. Bratislava 1964, S. 14.

(Keine) „Schmetterlinge in Schokolade“

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Autos entsprechen dem Umfeld der jeweiligen Sprache. Darauf wird auch bei der sprachlichen Gestaltung geachtet, dass der Text für die slowakischen Kinder nicht als ursprünglich nichtslowakisch zu erkennen ist. Die im Deutschen vorgenommene Lokalisierung des fiktiven Handlungsortes „hinter der Hauptstadt Berlin“78 wird weggelassen, die Namen werden nah an der deutschen Semantik slowakisiert (Sonja – Sonˇa; Lutz – Lˇudo; Bärbel – Barborka; Frau Rasselbusch – pani Hrkálková [hrkálka = Rassel]; Wiesel – Lasica [Wiesel]; Löffelholz – Varecha [Kochlöffel]). Entgegengesetzt zu den Illustrationen, die in der deutschen Ausgabe weniger lebendig wirken, erscheint der deutsche Text jedoch lebendiger als der slowakische, denn dieser wird an den Stellen ‚neutralisiert‘, wo im deutschen Original kindliche Ausdrücke unter Umständen gegenüber der Polizei als harmlos despektierlich aufgefasst werden könnten. Aus „Warum malt er denn jetzt Männeken […]?“; „Wir müssen das erst ausknobeln.“; „Dieb […] geht türmen.“ werden im Slowakischen: „Precˇo kreslí bábky [Warum zeichnet er Puppen] […]?“; „Musíme to najprv zistitˇ [Wir müssen das erst ermitteln].“; „zlodej […] nám utecˇie [der Dieb entkommt uns]“79 – die slowakische Polizei malt keine „Männeken“, „knobelt“ keine Fälle aus und Diebe gehen ihr nicht „türmen“, sondern sie ermittelt seriös und setzt die Diebe fest, daran darf kein Zweifel bestehen. Zwei Kinder werden durch sich in bestimmten Situationen wiederholende Handlungen charakterisiert, wobei es sich bei dem Mädchen um das Nasebohren handelt. Das darf sie im Slowakischen nicht vollführen. Es wird zwar auch ihr „Fehler“ erwähnt,80 als es dann aber später unkommentiert im Original heißt: „Sonja legte schon den Finger an die Nase“, um ihre innere Aufregung und vielleicht auch Angst vor einer Strafe nach einem dummen Streich zum Ausdruck zu bringen, wird dies im Slowakischen wiedergegeben als „Sonˇa uzˇ mala slzy na krajícˇku“ (Sonja war den Tränen nahe).81 Das Kompositum, das Fühmann für den Titel neu gebildet hat („wunderbunt“) wird im Slowakischen mit ‚wunderschön‘ übersetzt, wodurch nicht mehr ganz so viele Wortassoziationen ausgelöst werden wie im Original (wunderbar, kunterbunt etc.). Der sehr poetische erste Satz des Textes, der im Deutschen mehr als eine Seite füllt und vom Großen (dem ganzen Land) zum Kleinsten (den Äuglein eines Vögleins) führt, wird in der Übersetzung in mehrere Sätze zerlegt.82 Die zunehmende Engführung wird im Deutschen acht Mal durch „mitten“, das auch das erste Wort des Buches darstellt, fortgesetzt. Es wird jeweils genau wiederholt, dass sich ‚mitten‘ von etwas etwas befindet, ‚mitten‘ dessen sich das nächst kleinere Element befindet, so dass alles zweimal identisch genannt wird. 78 79 80 81 82

Fühmann, Vögelchen, S. 5. Ebd., S. 12, 16, 37; ders., Honba, S. 10, S. 12, S. 26. Fühmann, Vögelchen, S. 23; ders., Honba, S. 17. Fühmann, Vögelchen, S. 44; ders., Honba, S. 30. Fühmann, Vögelchen, S. 5f.; ders., Honba, S. 5f.

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Im Slowakischen wird diese Kette nicht konsequent übernommen. Es wechseln sich „uprostred“ (mitten), „na (tom)“ (auf), „v prostriedku“ (in der Mitte) ab und auch die Elemente oder einzelne Attribute dieser werden nicht immer identisch wiederholt. Die Sogwirkung, die Fühmann dem deutschen Text verleiht, geht dabei verloren. Es wird augenscheinlich beim Übersetzen übersehen, dass es sich mit Fühmann nicht nur um einen Kinderbuchautor, sondern auch um einen Dichter handelt.

6.

Ausblick: Transkulturelle Kinderbücher

Je mehr Autorinnen und Autoren zwischen verschiedenen Kulturen unterwegs sind, desto mehr Kinderbücher werden auch erscheinen, in denen sich Transkulturalität niederschlägt. Als ein Beispiel sei hier Michael Stavaricˇ (geb. 1972 in Brno, Tschechoslowakei; seit 1979 in Österreich) mit zwei Bilderbüchern angeführt, die dies besonders deutlich machen: Gaggalagu (2006) und Die kleine Sensenfrau (2010).

Michael Stavaricˇ, Die kleine Sensenfrau Zunächst zu letztem, dessen Titel eine Rezensentin als „verstörend“ empfindet.83 Der Aspekt, um den es hier jetzt geht, besteht in folgender Frage, der Stavaricˇ in diesem Buch, ohne es darin explizit auszusprechen, nachgeht: „Was bewirkt das Genus eines Wortes? Macht es einen Unterschied, ob wir mit einem ‚der Tod‘ (rein grammatikalisch) sozialisiert werden, wie im Deutschen, bzw. mit einem ‚die Tod‘, wie etwa im Tschechischen oder Französischen?“84 Der Tod ist im Tschechischen die ‚smrt‘, die ‚smrtka‘ oder expressiver die ‚zubatá‘ (wörtlich: ‚eine mit großen Zähnen‘). Auch die tschechische ‚smrtka‘ hat als Attribut eine Sense.85 Dem im deutschen Sprachraum verbreiteten ‚Sensenmann‘ ist diesem Buch zufolge jedoch nur eine Tochter geboren worden, an die der Vater die Sense 83 Teutsch, Katharina: Wer nascht am Feuerwerk? [Rezension der Brenntage], in: FAZ vom 08. 06. 2011, Nr. 132, S. 26. Stavaricˇ, Michael/Schwab, Dorothee: Die kleine Sensenfrau. Wien 2010 (unpaginiert). Ausführlicher dazu vgl. Beck, Susanne: Von Sensenmannschwarz zu Sensenfraugelb: Die farbintensive Emanzipation einer Tochter – initiiert durch den Vater. Zu Michael Stavaricˇs und Dorothee Schwabs Die kleine Sensenfrau, in: Bartl, Andrea/BrendelPerpina, Ina (Hg.): Ästhetische Grenzüberschreitungen. Eine literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Erschließung des Werks von Michael Stavaricˇ. Würzburg 2018, S. 145– 160. 84 Stavaricˇ, Michael: Der Autor als Sprachwanderer. Stefan Zweig Poetikvorlesung. Wien 2016, S. 152. 85 Der ‚Sensenmann‘ wird entsprechend als die ‚smrtka s kosou‘ wiedergegeben.

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und damit sein Amt übergibt, so dass in dem Buch durchgespielt werden kann, wie vielleicht ein weiblicher (und junger) Tod agieren würde. Bei der deutschen Originalfassung des Buches handelt es sich mithin um den Transfer eines kulturellen Konzeptes, das weiter reichende Folgen hat als nur die Verschiebung innerhalb der Grammatik. In Stavaricˇs Roman Böse Spiele (2009) wird zuvor bereits die Vermutung geäußert, „dass es sich dann und wann leichter stirbt“, wenn der Tod weiblich ist.86 Und in der Tat hat die Darstellung der kleinen Sensenfrau nichts Bedrohliches, sie erscheint vielmehr als sehr hilfsbereit. Die kleine Sensenfrau ist 2015 in der tschechischen Übersetzung von Michaela Sˇkultéty als Deˇvcˇátko s kosou (wörtlich: Das kleine Mädchen mit einer Sense) erschienen.87 Die tragende Grundidee, die aus dem Tschechischen stammt, musste also rückübersetzt werden. Es ist nun eher verwunderlich, wieso die Sensenfrau einen ‚Herrn Tod‘ zum Vater hat. Hier ist es im Gegensatz zum Deutschen unerlässlich, dem Namen des Todes das ‚Herr‘ beizugeben („pan Smrtka“), damit es sich grammatisch um eine männliche Gestalt handelt. Die Bezeichnung des Mädchens wechselt zwischen „Smrtecˇka“ (das ist die Diminutivform von smrtka) und „deˇvcˇátko s kosou“ (kleines Mädchen mit einer Sense). ‚Deˇvcˇátko‘ ist jedoch in grammatischer Hinsicht ein Neutrum, so dass wir den Tod nun in allen drei Genera haben. Es ging sicherlich darum, nicht gleich im Titel ohne Wenn und Aber mit dem Tod zu konfrontieren, sondern eine gewisse Rätselhaftigkeit zu belassen, dafür hätte auch die grammatisch weibliche ‚holcˇicˇka‘ (kleines Mädchen) zur Verfügung gestanden. Es ist zu vermuten, dass es bei der Entscheidung gegen dieses Wort vor allem um den Klang beim Vorlesen ging: Das Ende von ‚deˇvcˇátko‘ nimmt klanglich den Beginn des Wortes ‚kosa‘ vorweg, so dass ein natürlicher Zusammenhang zwischen beiden suggeriert wird, auf den durch das lange ‚á‘ zuvor hingearbeitet wird. Das holcˇicˇka-Mädchen ließe vor dem inneren Auge zudem wohl eher ein in Rosa gekleidetes ‚süßes‘ Mädchen entstehen, das weniger der selbstbewussten kleinen Sensenfrau entsprechen würde,88 die nach der Initiation durch den Vater eigenständig ihren Weg in die Welt antritt. Allerdings schreibt Stavaricˇ im Deutschen bewusst nicht von einem ‚Mädchen‘ oder ‚Kind‘, die in grammatischer Hinsicht Neutra wären, sondern in Bezug auf den Sensenmann von der Sensenfrau, die nur zu Beginn eben noch jung und klein ist. Der Vater erinnerte sich an seinen Vater, der ihm gesagt hatte, dass es so üblich sei, sein „Hab und Gut“ zu „vererben“, woraus im Tschechischen „sveˇrˇit rˇemeslo“, das Handwerk/die Profession zu überlassen/anzuvertrauen wird, was im86 Stavaricˇ, Michael: Böse Spiele. München 2009, S. 96. 87 Stavaricˇ, Michael/Schwab, Dorothee: Deˇvcˇátko s kosou. Aus dem Deutschen von Michaela Sˇkultéty. Praha 2015 (unpaginiert). 88 Im Deutschen wird sie an einer Stelle unter positivem Vorzeichen als „freche Frau“ tituliert, woraus im Tschechischen ein ‚ungezogenes Fräulein‘ wird („nezbedná slecˇna“).

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plizieren würde, dass eine Einweisung erfolgt. Diese findet jedoch nicht statt, denn der gesamte Inhalt des Buches besteht ja gerade darin, dass das Mädchen erst nach und nach erkundet, zu was allem die Sense genutzt werden kann. Erst ganz am Schluss, als das Kind kein Kind mehr ist, kommt der Rabe, der an den mittlerweile wohl gestorbenen Vater erinnert,89 um sie auf ihrem Weg als erwachsene Sensenfrau zu begleiten. Innerhalb der Illustrationen von Dorothee Schwab90 werden zwei Stellen übersetzt: Der Malermeister, der seine Berufsbezeichnung auf dem Rücken seiner Arbeitsjacke stehen hat, bekommt eine tschechische Aufschrift und die unter Smog leidende Stadt „Trübstrü“ wird zu „Temnice“, was ein im Tschechischen existierendes Wort ist, das rückübersetzt ‚Dunkelzelle‘ heißt. Diese Wahl unterstreicht das Eingesperrtsein der Menschen aufgrund der Umweltverschmutzung, verkleinert jedoch massiv deren Ausmaß. Ansonsten bleibt der Zeitungstext der Collagen der deutsche, die im deutschen Original als Kinderhandschrift zu identifizierende Schrift der gesprochenen Repliken ist im Tschechischen gleichmäßiger und sieht nach einer betont ordentlichen Erwachsenenhandschrift aus, die weniger Emotionen transportiert als die Kinderhandschrift.

Michael Stavaricˇ, Gaggalagu Stavaricˇs erstes Kinderbuch Gaggalagu91 greift auf sehr witzige Art und Weise auf, dass in verschiedenen Sprachen Tierlaute unterschiedlich nachgebildet werden, denn Onomatopöie ist nicht international identisch – jeder hört je nach eigener Sprache einen anderen Laut, den ein Hund, Hahn, Frosch, Schaf usw. von sich gibt,92 was sich in der deutschen Kindersprache oft in dem das Tier be-

89 Schnitte man den großen Raben aus, ließe er sich so zusammenfalten, dass daraus der am Anfang gezeigte Vater entstünde, der aufgrund seiner Größe nur ohne Kopf dargestellt worden ist. Die ausgefransten Flügelenden des Raben ergäben die Finger der ineinandergreifenden Hände des Vaters. 90 Über sie wird auf der letzten Seite u. a. gesagt: „Sie füllt auch Badewannen mit bunten Farben und freut sich immer über umherhuschende Silberfischchen.“ Das ist die einzige Stelle in dem Buch, wo die Übersetzung ein regelrecht falsches Bild entstehen lässt: „I do vany si napousˇtí barevnou vodu a ráda se dívá, jak se v ní rychle míhají strˇíbrné rybicˇky“ (wörtlich: Selbst in die Wanne lässt sie buntes Wasser ein und schaut gerne zu, wie in ihr schnell silberne Fischchen umherhuschen). Aus den Insekten werden Fische (das ‚Silberfischchen‘ wäre auf Tschechisch ‚rybenka domácí‘), aus den Wannen voller bunter Farben wird eine mit buntem Wasser gefüllte Wanne, aus dem sie erfreuenden zufälligen Erblicken der Silberfischchen wird ein aktives Beobachten von Fischen in der Wanne. Damit geht doch einiges an Witz verloren. 91 Stavaricˇ, Michael/Habinger, Renate: gaggalagu. Idstein 22011. 92 Das gilt es bei Übersetzungen allgemein mit zu bedenken: Auch wenn es in einem Text nicht explizit um Tierlaute geht, kann deren Klang in andere Worte aufgenommen worden sein, so

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zeichnenden Substantiv wiederfindet. Aus dem niedlichen ‚Wauwau‘ im Deutschen wird allerdings im Tschechischen unter Umständen ein nicht mehr ganz so lieber ‚hafan‘ (von ‚haf‘ – ‚wau wau‘), was dem deutschen, abwertend-umgangssprachlichen ‚Köter‘ oder vielleicht ‚Kläffer‘ entspricht, dem der Niedlichkeitswert ohne jeden Zweifel abhandengekommen ist. In diesem Buch wird deutlich, dass es dem Autor allgemein um das Phänomen der Mehrsprachigkeit geht, denn er beschränkt sich nicht auf die Alterität zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen, ganz im Gegenteil. Auf den je zwei transparenten Vor- und Nachsatzblättern werden erstens die verschiedenen Laute, wie weltweit das Krähen von Hähnen wahrgenommen wird, genannt und zweitens die Zuordnung zu den einzelnen Ländern vorgenommen („gaggalagu“ machen Hähne auf Island). Darunter befindet sich jedoch kein tschechisches ‚kykyryký‘. Tschechisch kommt erst ins Spiel, als sich der Autor selbst mit einem Hund identifiziert, dessen Bellen ihm als „HAF HAF HAF!“ klingt, während die Illustratorin Renate Habinger mit einem Hund in Beziehung gesetzt wird, der in ihren Ohren „WAU WAU WAU“ macht.93 Stavaricˇ spielt in den Texten des Buches damit, dass der Klang, mit dem die Tierlaute in anderen Sprachen wiedergegeben werden, im Deutschen Homonyme haben – z. B. bellen italienische Hunde „bau bau“, baskische „zaun zaun“, was er aufgreift und weiter entfaltet.94 Besonders interessant erscheint die Ergänzung zu dem polnischen Frosch: Und andere Frösche? Nun, in Österreich quaak quaak, aber jeder, wie er mag. In Algerien gar gar, ich schwör’s euch, es ist wahr. Türkisch sogar vrak vrak vrak, was für ein Schabernack.95

Die Großzügigkeit gegenüber Österreich („aber jeder, wie er mag“) deutet auf eine Distanz des Autors hin, er erteilt sich hier nicht selbst die Lizenz. Der türkische „Schabernack“ wird zwar nicht ausgeführt, aber das deutsche ‚Wrack‘ ist im Tschechischen der ‚vrak‘ – dieser Frosch müsste auf dem Meeresgrund gesucht werden. Der Kulturtransfer durch Übersetzung findet im Fall dieses Buches also bereits in der deutschsprachigen Fassung statt. Stavaricˇ holt Laute der ganzen Welt in das Buch hinein, gerade ohne sie zu übersetzen, und sensibilisiert damit dafür, dass dem Klang selbst eine semantische Funktion übertragen wird (nicht nur im Sinne von phonischen Äquivalenzen zu weiteren Wörtern). 93 Stavaricˇ/Habinger, gaggalagu, S. 4f. Die Anspielungen auf das Tschechische sind insgesamt eher gering (siehe Hultsch, Anne: Stavaricˇ als Wanderer zwischen Sprachen und Kulturen. Spuren des Tschechischen in Michael Stavaricˇs deutschsprachigen Texten, in: Bartl/BrendelPerpina, Ästhetische Grenzüberschreitungen, S. 71–102, hier S. 78f., S. 100). 94 Stavaricˇ/Habinger, gaggalagu, S. 9. 95 Ebd., S. 35.

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Anne Hultsch

dass Missverständnisse zu neuem Verstehen führen können, dass der Klang von Worten – unabhängig von deren tatsächlicher Semantik – fruchtbare Assoziationen auslösen kann und somit letzten Endes Verständigung auch ohne die ‚richtigen‘ Worte erfolgen kann.96

7.

Zusammenfassung

Abschließend sei der Versuch einer Systematisierung unternommen. Welchen Herausforderungen mussten sich die Übersetzerinnen und Übersetzer stellen? Welche Veränderungen erfuhren die Bücher auf ihrem Weg vom westslavischen zum deutschen Publikum oder vice versa? Es konnten insgesamt fünf große Herausforderungen festgestellt werden: ˇ apek, Korczak, Stavaricˇ), bei dem auffällt, dass 1. der Umgang mit Diminutiva (C sie, je mehr sich die Übersetzungen der Gegenwart nähern, im Deutschen zunehmend reduziert werden; 2. die Vermittlung der richtigen Aussprache von Namen, was entweder durch ˇ apek), durch Aussprachehinweise (Korczak) oder eine andere Schreibweise (C die Wahl klanglich oder – bei sprechenden Namen – semantisch ähnlicher Namen (Korczak, Brzechwa, Fühmann) gelöst wird; ˇ apek, Fuka), der von deren Weglassen bis hin 3. der Umgang mit Wortspielen (C zu Nachbildungsversuchen reicht; 4. der Umgang mit Onomatopöien (Stavaricˇ), die in dem betrachteten Beispiel gerade nicht übersetzt wurden, um die sprachliche Vielfalt aufzuzeigen; 5. der Umgang mit der Semantik grammatischer Genera und mit kulturellen Konzepten, die sich aus dieser Semantik ergeben (Stavaricˇ). Die größten Veränderungen erfuhren die Bücher zwischen den Sprachräumen auf konzeptueller Ebene. Dies erfolgte: ˇ apek, Fuka); a) durch eine neue Anordnung der Texte und/oder Illustrationen (C b) durch die Verwendung neuer Illustrationen, einen Verzicht auf Illustratioˇ apek, Korczak, Fuka, Fühmann, Stavaricˇ); nen, einen Schriftwechsel (C c) durch einen Wechsel der Adressierung (Korczak, Fuka); d) durch einen Wechsel der Textsorte (Kohout, Korczak, Brzechwa, Fuka); e) durch einen Verzicht auf im Original vorhandene poetische Elemente (Fuka, Fühmann). 96 Zu Einsatzmöglichkeiten des Buches im Unterricht siehe Kliewer, Annette: Nicht nur die Tiere sterben aus – auch die Sprachen. Michael Stavaricˇs Gaggalagu als Herausforderung für den interkulturellen Literaturunterricht, in: Bartl/Brendel-Perpina, Ästhetische Grenzüberschreitungen, S. 289–300.

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Als im Original transkulturell können einerseits die Einbettung nicht-polnischer Märchen in die Akademia pana Kleksa angesehen werden und andererseits die beiden erwähnten Bücher von Stavaricˇ. Bei Brzechwa kommt es jedoch zu dem Phänomen, dass das Buch nach seiner Übersetzung dieser transkulturellen Komponente beraubt ist, weil die dänischen und deutschen Märchen natürlich nicht durch polnische ersetzt wurden, sondern auch an die Stelle der polnischen noch dänische oder deutsche Märchen traten. Die Durchlässigkeit der Tore zwischen den kulturell verschiedenen (Märchen-)Welten wurde für die deutsche Ausgabe mithin in doppelter Hinsicht reduziert. Bei der Übersetzung von Stavaricˇs Sensenfrau musste nun im Tschechischen eine Lösung für den Tod gefunden werden, d. h., die kulturelle Differenz musste nun an einer anderen Person festgemacht werden. Der Text bleibt dabei aber auch in der Übersetzung transkulturell. Wenn man Übersetzen an sich als trans- und interkulturelle Handlung betrachtet, weil es um kulturelle Spezifika geht, die zusammen mit der Sprache transferiert werden müssen, so scheint im vorliegenden Zusammenhang interessant, dass anhand der Übersetzungen beobachtet werden konnte, dass der sog. Ostblock ideologisch keineswegs homogen agierte, sondern Ostdeutschland doktrinärer war als Polen und die Tschechoslowakei, wie der Nichttransfer von Märchenmotiven in den 1950er-Jahren besonders deutlich zeigt. Die ostdeutschen Kinder mussten im Gegensatz zu den polnischen auf „Schmetterlinge in Schokolade“ verzichten.

Beate Sommerfeld (Poznan´)

Kinderliteratur und ihre Transcreations – Agnieszka Taborskas surrealistische Bilderbücher in deutscher Übersetzung

Die Autorin und Übersetzerin Agnieszka Taborska ist eine der wichtigsten Figuren auf dem polnischen Buchmarkt.1 Ihre Arbeit ist geprägt von ihrem starken Interesse am Surrealismus, mit dem sie sich in ihrer Studie Verschwörungen der Imagination. Der Surrealismus („Spiskowcy wyobraz´ni. Surrealizm“) auch theoretisch auseinandersetzte.2 Der literarische Durchbruch gelang ihr mit dem surrealistischen Roman Das Traumleben von Leonora de la Cruz („Senny z˙ywot Leonory de la Cruz“).3 Heute verfasst Taborska vor allem Bilderbücher, in denen sie ihre surrealen, imaginativen Spiele treibt. Ihre Texte folgen einer Ästhetik des Absurden und stellen das Moment des Überraschenden sowie unerwartete Kollisionen von Wirklichkeitselementen aus; auch das Verwischen der Grenzen zwischen dem Realen und Imaginären, die Verfremdung der alltäglichen Wahrnehmung sowie onirische Szenarien weisen surrealistische Anklänge auf. Taborskas ironisch gebrochene Vorstellungskraft, ihr nicht selten schwarzer Humor, Wortspiele und eine reiche klangliche Strukturierung vermögen sowohl die Phantasie des Kindes, als auch seine Sensibilität für Poesie zu wecken. Nicht nur die Permeabilität von realer und imaginierter Wirklichkeit, sondern auch der spielerische Umgang mit der Sprache erinnern an Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland, das Salvador Dalí zu eigenen Illustrationen inspirierte und von der Autorin als eines ihrer Lieblingsbücher bezeichnet wird. Zudem sind Taborskas Geschichten karnevaleske ‚re-writings‘ von Legenden und Märchen, deren Elemente und 1 Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Aufsatzes: Remixed Fairy Tales, Distorted Legends: Agnieszka Taborska’s Surrealistic Picturebook Szalony Zegar (The Crazy Clock) and its German Translation by Klaus Staemmler, in: Dybiec-Gajer, Joanna/ Oittinen, Riitta/Kodura, Małgorzata (Hg.): Negotiating Translation and Transcreation of Children’s Literature. From Alice to the Moomins. Singapore 2020, S. 57–69. 2 Taborska, Agnieszka: Spiskowcy wyobraz´ni. Surrealizm. Gdan´sk 2007. 3 Dies.: Senny z˙ywot Leonory de la Cruz. Gdan´sk 2004. Der Roman wurde ins Englische, Französische und Spanische übersetzt (The Dreaming Life of Leonora de la Cruz, von Danusia Stok. New York 2007; La vie songeuse de Leonora de la Cruz, von Véronique Patte. Paris 2007; La vida soñolienta de Leonora de la Cruz, von Xavier Farré. Ciudad de México 2014).

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Beate Sommerfeld

Konventionen in avantgardistischer Manier durcheinandergewirbelt und wieder neu zusammengefügt werden. Es handelt sich um literarisch anspruchsvolle, mehrfachadressierte Bilderbücher mit zahlreichen intertextuellen bzw. interpikturalen Bezügen. Mit ihrer in Text und Bild inszenierten Ästhetik bewegen sich Taborskas Bilderbücher über den Kulturkreis der polnischen Literatur hinaus und knüpfen an die europäische Tradition an. Die Absurdität der Bilder, zahlreiche Wortspiele und humoristische Verschreibungen lassen die Bücher einer kinderliterarischen Tradition zuordnen, in die Klassiker wie Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland gehören. Damit mag zusammenhängen, dass Taborskas Bilderbücher gerne übersetzt werden, denn die surrealistische Poetik der Wirklichkeitsverfremdung kann bei Leser:innen und Übersetzer:innen, die mit der literarischen Tradition Europas vertraut sind, als bekannt vorausgesetzt werden. Hinzu kommt die Thematik ihrer Bücher, die Mythen und Legenden aus dem europäischen Sagenschatz aufgreifen. Dagegen ist beispielsweise das Bilderbuch Licho i inni („Teufel und andere“), das aus dem Bild- und Vorstellungsarsenal polnischer Volksmärchen und Sagen schöpft, nicht in andere Sprachen übersetzt worden.4 Taborskas Bücher wurden in mehrere europäische, aber auch asiatische Sprachen übersetzt: Englisch, Französisch, Spanisch, Japanisch sowie Koreanisch. Bisher sind drei von Taborskas Bilderbüchern auf Deutsch erschienen: Die ausgetickte Uhr („Szalony zegar“)5 und Mondgeister („Ksie˛z˙ycowe duchy“)6 – an ihnen versuchte sich der verdiente Literaturübersetzer aus dem Polnischen Klaus Staemmler – sowie Der Fischer auf dem Meeresgrund („Rybak na dnie morza“) 7, eine burleske Adaption des Märchens vom Fischerkönig, das von Maiken Nielsen ins Deutsche gebracht und von Józef Wilkon´ illustriert wurde. Bemerkenswert ist, dass die Bilderbücher Taborskas erst lange Zeit nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzungen ihren polnischen Verleger fanden. Erklären lässt sich dies durch die Situation auf dem kinderliterarischen Buchmarkt der 1990erJahre, also der Nach-Wende-Zeit in Polen, in der sich der Umbruch von der Volksrepublik zur liberalen Marktgesellschaft vollzog. Dies führte dazu, dass anspruchsvolle, vor allem auch einheimische Kinderbücher neben der den polnischen Markt überflutenden Massenproduktion kaum eine Chance erhielten. Taborska ist damit ein Beispiel dafür, dass polnische Autor:innen lange auf ihre 4 Taborska, Agnieszka: Licho i inni. Olszanica 2014. 5 Dies.: Szalony Zegar. Ilustracje Antoni Boratyn´ski. Warszawa 2008 (o. P.); dies.: Die ausgetickte Uhr, aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler. Düsseldorf 1994 (o. P.). 6 Dies.: Ksie˛z˙ycowe duchy. Ilustracje Franciszek Mas´luczak, Warszawa 2008; dies.: Mondgeister, aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler. Düsseldorf 1996. 7 Dies.: Rybak na dnie morza. Ilustracje Józef Wilkon´. Warszawa 2015; dies.: Der Fischer auf dem Meeresgrund, aus dem Polnischen übersetzt von Maiken Nielsen. Düsseldorf 1997.

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Entdeckung durch einheimische Verlage und Leser:innen warten mussten.8 Erst mit der Ausdifferenzierung des Verlagswesens, in dem zunehmend auch Nischenverlage repräsentiert sind, wächst inzwischen das Interesse an einer über den Mainstream hinausweisenden und künstlerisch ambitionierten Kinderliteratur, so dass derzeit mit großer zeitlicher Verzögerung zahlreiche bereits in den 1990er-Jahren entstandene Kinderbücher verlegt werden.

1.

Die verrückte Uhr

Die in Taborskas Kinderbüchern zum Tragen kommende Ästhetik soll nun am Beispiel des Bilderbuches Szalony Zegar (wörtlich: Die verrückte Uhr) dargelegt werden. Anschließend soll nach einer kurzen Erörterung der relevanten Translationsaspekte die deutsche Übersetzung von Staemmler einer Analyse unterzogen werden. Taborskas Bilderbuch entführt seine Leser:innen gleich mit dem ersten Satz des kindlichen Ich-Erzählers in eine fantastische Traumwelt: „Als ich sieben Jahre alt war, fand ich meinen Weg in die Welt der Märchen.“ („Kiedy miałem siedem lat, znalazłem droge˛ do krainy bajki.“) Im Verlauf der Handlung erscheinen Figuren und Motive aus diversen Märchen und Legenden: Hexen und Zauberer, Könige, Königinnen und Prinzessinnen, der königliche Hof von Dornröschen, Teufel und Dämonen – und ein Spiegel, der an ein zentrales Motiv aus dem Märchen Schneewittchen oder an Alice in Wonderland erinnert. Ebenso wie in Carrolls Buch lässt uns der Spiegel bei Taborska in eine imaginäre Welt eintreten. In Taborskas karnevalesker Version ist er in tausend Stücke zersprungen, und seine Splitter lassen sich nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen fügen, das den Gesetzen der Logik gehorcht, sondern bilden ein fluktuierendes Kaleidoskop bizarrer Figuren und Motive. Szalony Zegar ist damit paradigmatisch für Taborskas Strategie, Märchen und Legenden auf verblüffende, surreale Weise miteinander zu mischen und Elemente zu montieren, von denen jedes „so aussah, als käme es aus einem anderen Märchen“ („wygla˛dała jak wyje˛ta z innej bajki“) – es erscheint ebenso der Hofstaat aus Dornröschen wie die böse Stiefmutter aus Schneewittchen. Der Text ist damit intertextuell organisiert, es entspinnt sich ein karnevalesker Dialog mit zahlreichen Prätexten, die beständig durcheinandergewirbelt werden. Mit jedem Aufblitzen des Spiegels begegnen wir neuen fantastischen Figuren, die fort8 Ein weiteres Beispiel ist die polnische Kinderbuchautorin und Illustratorin Iwona Chmielewska, deren Bilderbücher zunächst in englischer Sprache in Südkorea verlegt wurden. Nach dem literarischen Durchbruch der Autorin mussten die Rechte an Bildern und Texten für beträchtliche Summen von den koreanischen Verlagen erworben werden.

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währenden Metamorphosen unterliegen – je länger die Geschichte andauert, desto absurder werden ihre Protagonisten und desto mehr verliert die Handlung an Kohärenz. Der zerbrochene Spiegel kann daher als poetologische Metapher für Taborskas surrealistische Schreibstrategie gelten, welche Ereignisse nicht logisch miteinander verbindet, sondern traumähnlichen Assoziationen folgt. Im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass die unaufhörlichen Transformationen der Wirklichkeit von einer Uhr angetrieben werden, die ‚verrückt‘ geworden ist. Sie wurde von einem berühmten Uhrmacher entworfen, im Auftrag eines Königs, der von dem Wunsch besessen ist, den Lauf der Zeit zu kontrollieren. Entstehen sollte ein perfekter Mechanismus, der sich jedoch als ein lebendes Wesen erweist, das zu Gefühlen fähig ist. Taborskas Text bezieht damit Stellung gegen den Despotismus der Perfektion und das Bestreben, die Realität zu kontrollieren. Die Absurdität der Figuren und Ereignisse, die der Lauf der Uhr hervorbringt, ist Element der surrealistischen Ästhetik der Autorin, kann aber auch als Metakommentar zum künstlerischen Schaffen selbst gelesen werden, das sich der Kontrolle durch die planende Vernunft entzieht. Taborskas Bilderbuch besitzt damit eine Meta-Ebene: Es ist eine Geschichte über das Erzählen von Geschichten. Zu den selbstreflexiven Erzählstrategien gehören die Einwürfe des Erzählers, die den Prozess des Geschichtenerzählens kommentieren. Einerseits kommt ein kindlicher Ich-Erzähler zu Wort, der in eine fantastische Welt eingetaucht ist, welche traumanalogen Gesetzen gehorcht, andererseits werden von einer auktorialen Erzählinstanz ironische Kommentare zum Handlungsverlauf eingestreut (es wird danach gefragt, aus welchen Märchen die Figuren stammen könnten, an andere Geschichten und Legenden erinnert, welche die Mutter dem Kind vorgelesen hat). Die metaleptischen Umsprünge von Erzähl- und Reflexionsebene offenbaren den postmodernen Impuls von Taborskas Bilderbuch, mit ihnen konstruiert der Text einen impliziten Leser, der aktiv an der Bedeutungsproduktion beteiligt ist. Auch selbstreflexive visuelle Bilder wie der Spiegel sind eine gängige metafiktive Strategie in postmodernen Bilderbüchern.9 Nicht zuletzt kommt dem intertextuellen Spiel eine metafiktionale Dimension zu, denn die Fülle der Zitate und Anspielungen unterminiert nicht nur die Kohärenz des Textes, sondern verweist den Leser auch auf die Artifizialität des Textes als literarisches Werk.10 Taborskas Buch macht somit selbstreflexiv auf seinen Status als Text und als Fiktion aufmerksam. Eine solch metafiktionale Schreibpraxis mit proliferierender und ostentativ ausgestellter

9 Vgl. Mc Callum, Robyn: Very Advanced Texts: Metafictions and Experimental Work, in: Hunt, Peter (Hg.): Understanding Children’s Literature. Key Essays from the International Companion Encyclopedia of Children’s Literature. London/New York 1999, S. 138–151, hier S. 146.

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Intertextualität ist typisch für Bilderbücher der Postmoderne.11 Auch mit seiner narrativen Fragmentierung und Diskontinuität, den Störungen der kausal-logischen Beziehung zwischen Ereignissen und Figuren, sowie der Codemischung und Absurdität weist Taborskas Kinderbuch Merkmale postmoderner Ästhetik auf.12 Die von Antoni Boratyn´ski angefertigten Illustrationen führen die Ästhetik des Verbaltextes mit visuellen Mitteln fort. Taborskas Text ist von surreal anmutenden Bildbeigaben begleitet, gespickt mit postmoderner Ironie und subtilen Referenzen, die auch erwachsenen Leser:innen ein Bedeutungsangebot machen. Zu Beginn evozieren sie die Atmosphäre eines Märchens mit seinen Königen, Königinnen und Prinzessinnen, mit dem Fortschreiten der Handlung zeigen die Bilder ein zunehmendes Chaos an Ereignissen. Die multiplen Reflexe des zerbrochenen Spiegels werden durch montagehafte Schnitte visualisiert, und die Heterogenität der Elemente, die nicht zusammenpassen wollen, wird durch unterschiedliche Stile und Techniken sowie verzerrte Größenverhältnisse wiedergegeben. Zudem passen die Bildelemente nicht in den Rahmen, wodurch die – vom Verbaltext behauptete – grenzüberschreitende Vorstellungskraft des Kindes ins Bild gesetzt wird.

2.

Übersetzung/re-writing/Transcreation

Übersetzung darf sich im Falle von Taborskas Bilderbüchern demnach nicht auf reinen Bedeutungstransfer beschränken – was im Zieltext zu bewahren ist, ist vielmehr die Gesamtheit einer ästhetischen Strategie, die in eine literarische und bildkünstlerische Tradition eingebettet ist. So gilt es, auf der Makroebene der narrativen Fragmentierung und den Störungen der Logik und Linearität der Erzählhandlung Rechnung zu tragen. Angesichts der besonderen Stilmerkmale des Originaltextes auf der mikrostrukturellen Ebene, der Wortspiele, der ausgeprägten Klangtextur und der rhythmischen Redundanzen ist es offensichtlich, dass die Übersetzung hier nicht auf die semantische und lexikalische Ebene eingegrenzt werden kann, sondern auch die auditive Seite des Bilderbuches zu fokussieren hat. In der Forschung wurde mehrfach auf die Bedeutung der klanglichen Dimensionen der Originaltexte für die Übersetzung verwiesen: So 10 Vgl. Wilkie, Christine: Relating Texts: Intertextuality, in: Hunt, Understanding Children’s Literature, S. 130–137, hier S. 136. 11 Vgl. Moss, Geoff: Metafiction and the Poetics of Children’s Literature, in: Children’s Literature Association Quarterly 15 (2)/1990, S. 50–52; zur Intertextualität postmoderner Bilderbücher vgl. O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000, S. 278f. 12 Vgl. Salisbury, Martin/Styles, Morag: Children’s Picturebooks. The Art of Visual Storytelling. London 2012, S. 75.

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plädiert Douglas Robinson dafür, in der Übersetzung die gesamte „limbische“ Seite des Sprachgebrauchs zu berücksichtigen, die Klangstruktur, Rhythmus, Wortspiele sowie Kinderreime umfasst.13 Kathleen Shields schlägt den Begriff „auditory imagery“ vor, der den performativen Aspekt der Übersetzung betont: „[…] the idea of the musical and kinaesthetic aspects of language use as they work to create meaning in the performance that is the translation.“14 Vor allem Alliterationen, Assonanzen sowie Bedeutungs- und Klangmuster sprechen die musikalische Intelligenz des Hörers an, die Textrhythmik mit ihren Auswirkungen auf Syntax und Atmung bringt wiederum die kinästhetische Intelligenz ins Spiel. Diese lautlichen Aspekte sind nicht auf semantische Inhalte rückführbar, Klänge gehen vielmehr dem Sinn voraus und stellen einen Kontakt zu den Emotionen des Hörers her, sie rufen damit die irrationalen, emotionalen und ludischen Dimensionen der sprachlichen Performanz auf den Plan. Klang und Bedeutung müssen daher in der Übersetzung ständig gegeneinander abgeglichen werden.15 Die auditiven Aspekte des Sprachgebrauchs sind besonders zentral für die Übersetzung von Bilderbüchern, die dem kindlichen Rezipienten vorgelesen werden. Mary Snell-Hornby prägte den Begriff der „Sprechbarkeit“, der auf das Vorlesen von Bilderbüchern applizierbar ist: Rhythmus, Intonation und Interpunktion müssen großgeschrieben werden, damit der Text ‚fließen‘ kann.16 Vorlesequalitäten sind damit beim Übersetzen für Kinder von eminenter Bedeutung17, und die Wiedergabe klanglicher Eigenschaften – in Schlafliedern, Kinder- und Nonsens-Reimen – ist eine Aufgabe, die Übersetzer:innen ein hohes Maß an Kreativität abverlangt.18 Auch Riitta Oittinen geht den performativen Dimensionen des Übersetzens für Kinder nach und begreift sie als Theatralisierung der Texte, die in der paradigmatischen Situation des Vorlesens für den kindlichen Rezipienten quasi ‚aufgeführt‘ sowie im Hier und Jetzt emotional erlebbar werden: „[W]hen an adult is reading aloud, she/he is performing, acting the story to the child.“19 Diese performativen Aspekte der Kinderliteratur sind für 13 Vgl. Robinson, Douglas: The Translator’s Turn. Baltimore/London 1991, S. X. 14 Shields, Kathleen: Auditory Images as Sites of Emotion: Translating Gerard Manley Hopkins into French, in: dies./Clarke, Michael (Hg.): Translating Emotion. Studies in Transformation and Renewal between Languages. Oxford/Bern/Berlin et al. 2011, S. 87–105, hier S. 88. 15 Ebd., S. 96. 16 Vgl. Snell-Hornby, Mary: Translation Studies. An Integrated Approach. Amsterdam 1988, S. 35. 17 Vgl. Dollerup, Cay: „Translation for Reading Aloud“, in: Meta 48 (1–2)/2003, S. 81–103. 18 Vgl. Lathey, Gilian: The Role of Translators in Children’s Literature. Invisible Storytellers. New York/London 2010, S. 8. 19 Oittinen, Riitta: Translating for Children. New York 2000, S. 36; vgl. ebenfalls dies., in: Ketola, Anne/Garavini, Melissa: Translating Picturebooks. Revoicing the Verbal, the Visual, and the Aural for a Child Audience. New York/Oxon 2018.

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die Übersetzung von Relevanz. Der Text ist zunächst so zu übersetzen, dass er dem erwachsenen Vorleser/Performer leicht von den Lippen geht.20 Performativität kommt in der Kinderliteratur aber auch in ihrer karnevalesken Dimension zum Tragen: Wenn kinderliterarische Texte mit der Sprache spielen – in Nonsens-Reimereien, Wortspielereien und kreativen Neuschöpfungen –, so hat dies immer auch eine subversive Stoßkraft, die die Ordnungen der Erwachsenenwelt infrage stellt. Übersetzer:innen begeben sich hier in die Rolle von Schauspieler:innen, die das Original auf ihre eigene, kreative Weise ‚aufführen‘ und dabei die Übersetzungen zum Schauplatz performativer Um-Inszenierungen machen.21 Der performative Blick auf die ‚re-writings‘ von kinderliterarischen Texten betont somit die transformativen, transgressiven und kreativen Aspekte der Übersetzung von Kinderliteratur. In jüngeren Ansätzen wird daher das Konzept der Transcreation ins Spiel gebracht, das vor allem zur Umschreibung der ‚cultural context adaptation‘ in der Übersetzung entwickelt wurde, mit dem aber inzwischen durchaus der Anspruch eines ‚transcreational turn‘ in der Translationsforschung verbunden wird.22 Auch in der Übersetzung von KJL scheint das Konzept einen Paradigmenwechsel einzuleiten und fokussiert den kreativen ‚Mehrwert, der beim Transfer von kinderliterarischen Werken in einen neuen sprachlichen und kulturellen Kontext entsteht‘.23 Dieser kann verschiedene Formen annehmen, die von einem spielerischen Umgang mit dem Sprachmaterial wie in Wortspielen über Nonsens-Verse bis hin zu surrealen Realitätsverzerrungen oder absurder Sinnhintertreibung reichen. Neben den ludischen Elementen werden die sensorischen Qualitäten der Sprache aufgewertet, die eine kreative Herangehensweise erfordern, welche weit über die Vorstellung von Translation als Wiedergabe von Bedeutungen hinausgeht: „[…] creative wordplay and techniques such as assonance or alliteration require more than a straightforward translation, they need to be transcreated to ensure this impact is retained.“24 Das Konzept der Transcreation exponiert dementsprechend eher die emotionale als die semantische oder pragmatische Seite der Textrezeption – es geht nicht um reibungslose 20 Vgl. Oittinen, Translating for Children, S. 32. 21 Vgl. Sommerfeld, Beate: Zwischen Ideologie und Transcreation – Schreiben und Übersetzen für Kinder – Problemaufriss, in: dies. (Hg.): Zwischen Ideologie und Transcreation – Schreiben und Übersetzen für Kinder, Poznan´ 2020, S. 7–17, hier S. 15. 22 Vgl. Katan, Dawid: Translation at the Crossroads: Time for the Transcreational Turn?, in: Perspectives: Studies in Translation Theory and Practice 24 (3)/2016, S. 365–381. 23 Vgl. Dybiec-Gajer, Joanna/Oittinen, Riitta: Introduction: Travelling Beyond Translation – Transcreating for Young Audiences, in: Dybiec-Gajer/Oittinen/Kodura (Hg.): Negotiating Translation and Transcreation of Children’s Literature, S. 1–9, hier S. 2. 24 Pedersen, Daniel: Exploring the Concept of Transcreation – Transcreation as More Than Translation? Transcreation and the Professions, in: Cultus: The Journal of Intercultural Mediation and Communication 7/2014, S. 57–71, hier S. 59.

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und effektive Kommunikation, sondern eine ‚affektive Interaktion‘25 mit den Leser:innen. Bei den kreativen ‚re-writings‘ von Bilderbüchern ist zudem die intermediale Bedeutungsbildung zwischen Bild und Verbaltext zu berücksichtigen.26 Bereits Perry Nodelman und Margaret Meek argumentieren in ihrer Studie Words about Pictures, dass es der einzigartige Rhythmus von Bildern und Wörtern ist, welcher das Bilderbuch von allen anderen Formen der visuellen und verbalen Kunst unterscheidet.27 Auch Oittinen verweist auf die Relevanz des Zusammenspiels von Wörtern und Bildern in Bilderbüchern für die übersetzerische Performanz.28 Illustrierte Bücher für Kinder zu übersetzen, bedeutet also, sowohl das Verbale als auch das Visuelle zu interpretieren29 und in ihrem Zusammenwirken zu reinszenieren.

3.

Die Übersetzung Klaus Staemmlers

Die übersetzerischen Schwierigkeiten, die Taborskas Bilderbücher bereithalten, sind somit die Wiedergabe der karnevalesk-surrealistischen Ästhetik des Ausgangstextes sowie die zwischen Bild und Text angelegte intermediale bzw. interpikturale Bedeutungsbildung. Inwieweit die deutsche Übersetzung dem Original gerecht wird, soll nun im Folgenden untersucht werden. Angefertigt wurde sie von Klaus Staemmler, einem der erfahrensten und verdienstvollsten deutschen Übersetzer aus dem Polnischen, der an fantastischer Literatur wie etwa den Romanen Stanisław Lems geschult ist. Auf der semantischen Ebene zeigt sich Staemmler durchaus empfänglich für die karnevaleske Dimension des Originals. Dies wird bereits in der Übersetzung des Titels deutlich. In seiner Version wird die ‚Verrücktheit‘ der Uhr durch das Attribut „ausgetickt“ wiedergegeben, das mehrere Bedeutungsebenen miteinander kombiniert. Es ist an die deutsche Phrase ‚nicht richtig ticken‘ angelehnt, die in ihrer wörtlichen Bedeutung auf das Nicht-Funktionieren der Uhr verweist, zugleich ist „austicken“ der umgangssprachliche Ausdruck für Verrückt-Spielen. Mit solch kreativen Wortspielereien wird eine Nonsens-Ästhetik entfaltet, die so 25 Dybiec-Gajer/Oittinen, Introduction, S. 2. 26 Vgl. Lathey, Invisible Storytellers, S. 8; zu einem Forschungsüberblick vgl. Salisbury/Styles: Children’s Picturebooks, S. 90f.; vgl. ebenfalls Sommerfeld, Beate: Übersetzungskritik. Modelle, Perspektiven, Didaktik. Poznan´ 2016, S. 92–96. 27 Vgl. Nodelman, Perry/Meek, Margaret: Words about Pictures: The Narrative Art of Children’s Picture Books. Athens 1988, S. 7ff. 28 Vgl. Oittinen/Ketola/Garavini: Revoicing the Verbal, the Visual, and the Aural, S. 15–22. 29 Vgl. Oittinen, Translating for Children, S. 113; vgl. ebenfalls Nodelman, Perry: Decoding the Images: Illustrations and Picturebooks, in: Hunt, Understanding Children’s Literature, S. 69– 80.

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viel wie möglich von der subversiven Energie der Vorlage bewahrt. Zugleich wird ein onomatopoetisches Element eingeführt, dem eine kinästhetische Wirkung zukommt. Staemmler reagiert mit großer Sensibilität auf solche Effekte, das Tick-Tack der verrückten Uhr erscheint in seiner Übersetzung weit häufiger als im Original und hält über den gesamten Text hinweg die auditive Ebene der Sprache virulent. Der Klang der Uhr ist im deutschen Text auch an Stellen spürbar, an denen das Original von Stille getragen ist. Während in der polnischen Originalfassung diese Stille „plötzlich durch die Stimme der Uhr unterbrochen wurde“ („Nagle cisze˛ przerwał głos zegara“), ist es in Staemmlers Übersetzung das Ticken der Uhr, das den Text grundiert und durch ihre Stimme unterbrochen wird: „Plötzlich unterbrach eine tief aus dem mechanischen Organismus kommende Stimme das Ticken der Uhr.“ Damit exponiert Staemmler zugleich den schillernden, zwischen Mechanismus und Lebewesen oszillierenden Status der titelgebenden Uhr und somit die surrealistische Realitätsverschiebung des Originals. Was die ‚limbische‘ Seite der Übersetzung anbetrifft, gibt es viel Positives über Staemmlers Version zu sagen. Der Übersetzer reagiert einfühlsam auf die Rhythmik des Originaltextes und lässt sie in den deutschen Satzstrukturen resonieren. In Anbetracht der Systemunterschiede zwischen dem Polnischen und dem Deutschen – gerade im Bereich der Syntax – ist dies als beträchtliche Leistung zu werten. Staemmler phrasiert seinen Text wie eine musikalische Komposition, die die musische Intelligenz des Hörers zu adressieren vermag. Er kreiert einen natürlichen Fluss, bewältigt die langen Adverbialphrasen, die im Deutschen nicht leicht wiederzugeben sind, und lässt sie im Translat natürlich klingen. Satzlänge und Interpunktion lassen den Text ‚fließen‘. Zuweilen verkürzt Staemmler die Sätze, um den Text lesbar und ‚atembar‘ zu machen. Seine Übersetzung weist damit Vorlesequalitäten auf, die ihre ‚Aufführbarkeit‘ gewährleisten. Um die Performanz des Vorlesens zu gewährleisten, muss in Bilderbüchern die Positionierung von Informationen mit dem jeweiligen Moment des Umblätterns einhergehen. Dies wird von Staemmler nicht immer respektiert. So lesen wir beispielsweise vor dem lange erwarteten Erscheinen der Uhr, der Quelle allen Übels: „Als wir nach einem langen Aufstieg das Ziel erreichten, sahen wir die Uhr.“ („Gdy po długiej wspinaczce znalez´lis´my sie˛ u celu, ujrzelis´my zegar.“) Der polnische Satz exponiert den Augenblick, in dem die Uhr endlich in Erscheinung tritt. Dies korrespondiert mit dem Umschlagen der Seiten, wonach auf der neuen Seite eine Abbildung der Uhr zu sehen ist. Die semantische Ebene („sahen wir“) entspricht der piktoralen Ebene – was die kindlichen Rezipienten beim Vorlesen zu hören bekommen, stimmt mit dem überein, was zu sehen ist. Das Ineinanderspielen von Verbaltext und Bildbeigaben betont die dramatische Wendung der Handlung auf der Makroebene. Bei Staemmler ist zu lesen: „Nach

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einem langen Aufstieg haben wir unser Ziel erreicht und standen vor der Uhr.“ Der Übersetzer ändert nicht nur die syntaktische Struktur, indem er eine Adverbialphrase wählt, die weniger kompakt ist und dem Augenblick seine Dramatik nimmt, er eliminiert zudem die Semantik des Sehens und unterbricht so das Zusammenspiel des Verbalen und Visuellen. Die sorgfältig arrangierte intermediale Bedeutungsbildung des Originals wird von Staemmler wiederholt modifiziert. In Taborskas Fassung wird eine Seite umgeblättert, nachdem die Uhr ihre Geschichte beendet hat. Die Abbildung auf der darauffolgenden Seite zeigt die Kinder vor der Uhr, was dem Verbaltext entspricht, der sich auf die Kinder fokussiert. In der Übersetzung sehen wir dagegen weiterhin die Uhr, während der Text sich bereits den Kindern zuwendet – ein grober Eingriff in die performative Ebene des Originals, der die emotionale Erlebbarkeit des Bilderbuches hintertreibt. Obwohl sich der Übersetzer der auditiven Eigenschaften des Ausgangstextes bewusst zu sein scheint, wird der spielerische Umgang mit der Sprache, der das polnische Original kennzeichnet, im Zieltext nicht immer re-inszeniert. Wenn der Originaltext von einer Ära „vor der Erfindung der Touristen“ („przed wynalezieniem turystów“) spricht, setzt der Übersetzer dies um als eine Zeit „vor der Erfindung des Tourismus“ und nimmt damit ein Stück weit den Sprachwitz aus dem Text. Während im Original davon die Rede ist, dass eine alte Hexe die Treppe zur Uhr „hinaufkriecht“ („gramoli sie˛“), wählt Staemmler das neutrale Verb „hinaufsteigen“, das komischer Konnotate entbehrt und die Vorstellungskraft des Kindes unberührt lässt. Staemmler verfährt an solchen Stellen konsequent nach dem Gebot des Bedeutungstransfers und lässt dabei die ludischen und sensorischen Aspekte der Sprache außer Acht. Die Wortspielereien und Neuschöpfungen des Originals werden dabei oftmals zugunsten einer besseren Verständlichkeit des Translats aufgelöst. Der Rhythmus, der bei Taborska durch Anaphern und Alliterationen erzeugt wird, kann in der Übersetzung aus offensichtlichen Gründen nicht rekonstruiert werden: Infolgedessen wird die „Hexenretterin“ („Wiedz´ma Wybawicielka“) zu einer simplen Hexe und das „Erscheinen von Figuren vom Anfang der Geschichte“ („pojawienie sie˛ postaci z pocza˛tku bajki“) verliert seine rhythmischen Werte. Diese redundanten Strukturen befördern im Originaltext das Entstehen einer auditiven Vorstellungswelt, die das karnevaleske Durcheinanderwirbeln von Figuren und Ereignissen betont, welches in puren Nonsens abgleitet, während das Übersehen der im Original enthaltenen akustischen Informationen die Dominanz der logisch vermittelten und abstrakten Bedeutung im Zieltext mit sich bringt. Wenn man mit Peter Newmark davon ausgeht, dass in solchen Nonsens-Texten der „sound-effect“ weit wichtiger ist als der Sinn30, muss die 30 Newmark, Peter: A Textbook of Translation. New York/London 1988, S. 39–44, hier S. 42.

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stärkere Gewichtung semantischer Inhalte gegenüber klanglichen Eigenschaften, Alliterationen und Lautmustern fragwürdig erscheinen. Hier wäre eine kreative Re-Inszenierung gefordert, welche über eine Übersetzung hinausgeht, die sich als Wiedergabe von Bedeutungen begreift – sind es doch gerade die Zersetzung von fixen Sinnordnungen und das Freisetzen der irrationalen und emotionalen Dimensionen der Sprache, denen sich Taborskas Nonsens-Ästhetik verschrieben hat. Auch der sich kontinuierlich steigernde Mangel an Kohärenz, der die Handlung im Original kennzeichnet, ist für den Übersetzer offenbar inakzeptabel. Wiederholt führt Staemmler Sätze ein, die logische Verknüpfungen zwischen den Ereignissen herstellen, nachvollziehbare Beziehungen zwischen den Figuren etablieren und zeitliche Abfolgen festlegen, wo das Original Diskontinuität bestehen lässt und die kausale, logische oder lineare Beziehung zwischen Ereignissen und Figuren gestört wird.31 Während in Taborskas surrealistischer Ästhetik die Dinge den gleitenden Mechanismen des Traums und den Gesetzen der kindlichen Fantasie folgen, erklärt der Übersetzer Zusammenhänge und zwingt die Handlung in eine logische Struktur. Infolgedessen ist die deutsche Version nicht nur um Einiges länger als die Vorlage, sie verliert auch unweigerlich an Dynamik und Performativität. Ein solches explikatives Vorgehen ist in der Übersetzung von Kinderliteratur eine gängige Strategie.32 Die Neigung, Inhalte auszubuchstabieren, die im Original implizit bleiben, wird von Juliane House insbesondere deutschen Übersetzer:innen zugeschrieben.33 Während kinderliterarische Texte Raum zur Interpretation lassen, werde in der Übersetzung den kindlichen Leser:innen oftmals eine bestimmte Bedeutung nahegelegt. Übersetzungen werden damit rezeptionssteuernd wirksam; es bleibt nicht länger den Rezipienten überlassen, Bedeutungen selbst zu konstruieren oder zu verhandeln.34 Der Preis, der für die Explizitheit der Übersetzungen zu zahlen ist, ist eine Verringerung des dem Original innewohnenden Bedeutungspotentials. Gerade im Falle der surrealistischen Ästhetik von Taborskas Texten, in denen Dinge und Ereignisse unvermittelt aufeinandertreffen und nicht logisch miteinander verknüpft werden, erweist sich diese Neigung zum explikativen Übersetzen als fatal. Während Taborskas Text von einer Ästhetik des Suggestiven und 31 Neu in den Text eingeführt werden etwa die folgenden Sätze und Satzelemente: „[B]eim Anblick der Hexe, die sie erst jetzt bemerkte“, „Mit einem Freudenschrei lief die kleine Zauberin auf die Prinzessin zu“, „Die Prinzessin und Marysia sprangen auseinander.“ 32 Vgl. Klingberg, Göte: Children’s Fiction in the Hand of the Translators. Gleerup 1986; Reiß, Katharina: Zur Übersetzung von Kinder- und Jugendbüchern, in: Lebende Sprachen 1/1982, S. 7–13. 33 House, Juliane: Linguistic Aspects of the Translation of Children’s Books, in: Kittel, Harald et al. (Hg.): Übersetzung, Translation, Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Bd. 1. Berlin/New York 2004, S. 683–697, hier S. 692. 34 Ebd., S. 692.

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Impliziten bestimmt ist, exponiert Staemmlers Übersetzung einen zu übermittelnden Inhalt und ebnet dabei die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Originals ein. Infolgedessen büßt sie die Merkmale kreativer Texte ein, die Leerstellen enthalten, welche die Leser:innen mittels ihrer Einbildungskraft ausfüllen können. So legt Reinbert Tabbert dar, dass „die Wirkung einer Erzählung auf den Leser nicht nur von Elementen der dargestellten Welt ausgeht, sondern auch von den Leerstellen und Unbestimmtheiten, die sich bei der Darstellung ergeben; sie sind es, die der Phantasie Spielraum lassen“.35 Wo das polnische Original eine Apologie der Vorstellungskraft entfaltet, die sich der Kontrolle durch die planende Vernunft entzieht, unterwirft der Übersetzer den Text einer ‚vernünftigen‘ Ordnung. Auch die Perspektive der Erzählinstanz wird von Staemmler verändert. Im Originaltext fühlt sich der kindliche Erzähler verloren, er ist sich über die Bedeutung der Ereignisse nicht sicher und es fällt ihm schwer, die Identität der Erzählfiguren zu erkennen. Wenn er feststellt: „Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht das Schwein war, das sich in einen Teufel verwandelt hat“ („Nie dałbym jednak głowy, czy to nie prosiak zamienił sie˛ w diabła“), wird im Zieltext aus Zweifel Sicherheit: „Doch hätte ich meinen Kopf darauf verwetten können, daß sich das Ferkel in einen Teufel verwandelt hatte.“ Die surreale Traumwelt der Vorlage, über die nichts mit Bestimmtheit gesagt werden kann, gewinnt bei Staemmler an Zuverlässigkeit und Konsistenz. Infolgedessen kommt es zu einer zunehmenden Divergenz zwischen dem Verbalen und dem Visuellen: Je mehr der Text in eine nachvollziehbare Ordnung gebracht wird, desto weniger konvergiert er mit dem, was auf den Bildern zu sehen ist. Die Tendenz, Mehrdeutigkeit aufzuheben und eine konsistentere und weniger surreale Welt zu schaffen, ist auch in der Beschreibung des Protagonisten zu beobachten. In Taborskas Bilderbuch ist die Uhr ein Gegenstand, aber auch ein lebendiges Wesen. Diese Ambiguität ist gekennzeichnet durch plötzliche Perspektivwechsel, in denen der Mechanismus zu sprechen beginnt und das Fantastische mit dem Realen kollidiert. Wenn die Uhr sagt: „Ich habe die Ordnung des Palastes gestört und böse Mächte befreit“ („Zakłóciłem porza˛dek pałacu, wyzwalaja˛c złe moce“) und damit als lebender Akteur in Szene gesetzt wird, verwendet Staemmler das Passiv und nimmt damit den Subjektstatus der Uhr zurück: „Die Ordnung des Palastes wurde gestört, böse Mächte wurden befreit.“ Bei Taborska wird die Unbestimmtheit der Uhr, die sowohl Mechanismus als auch Lebewesen ist, durch Polysemie vermittelt. Wenn die Uhr über ihre Fähigkeit spricht, den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen, heißt es: „Ich werde euch 35 Vgl. Tabbert, Reinbert: Was macht erfolgreiche Kinderbücher erfolgreich? Vorläufige Ergebnisse einer Untersuchung, in: Ewers, Hans-Heino/O’Sullivan, Emer (Hg.): Kinderliteratur im interkulturellen Prozess. Stuttgart/Weimar 1994, S. 45–62, hier S. 49.

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absorbieren.“ („Wchłone˛ was.“) In der Übersetzung ist dagegen zu lesen: „Ich werde dich verschlingen.“ Während „absorbieren“ der abstraktere Ausdruck ist und sich für gewöhnlich auf Unbelebtes bezieht, evoziert „verschlingen“ ein erschreckendes Ungeheuer. Infolgedessen wird hier die Ambiguität der Uhr (menschlich – nicht-menschlich) aufgelöst – was bleibt, ist ein Uhr-Monster, das weit beängstigender ist als die Hauptfigur von Taborskas Kinderbuch. Während die Uhr im Original in einem eher sanften Ton mit den Kindern spricht, sind ihre Worte in Staemmlers Version furchterregend. Die durch den Verbaltext evozierten mentalen Vorstellungsbilder konvergieren daher nicht mit den Illustrationen, die ein wohlwollendes und gutmütiges Wesen darstellen. Das Zusammenspiel von Text und Bild wird gestört – was in der Übersetzung zu ‚hören‘ ist, entspricht nicht den piktoralen Elementen. Da die Ambiguität von Taborskas Hauptfigur in Staemmlers Übersetzung weitgehend aufgelöst wird, kann auch das Leiden der Uhr nur schwer nachvollzogen werden, die sich als eine Kreatur mit Gefühlen erlebt und kein perfekter Mechanismus sein will. Das Verstehen des Schmerzes der Uhr ist jedoch von grundlegender Bedeutung und leitet zur ‚Moral‘ von Taborskas Geschichte über, die ein Statement gegen die katastrophalen Folgen des Strebens nach Vollkommenheit beinhaltet. Der König, der eine fehlerlose Apparatur schaffen wollte, hatte nämlich eines nicht vorausgesehen: „dass das perfekte Werk ihnen entgleitet, weil darin eine Seele geboren wird“ („z˙e doskonałe dzieło wymknie im sie˛ z ra˛k, bo zrodzi sie˛ w nim dusza.“) Was im Originaltext als leidenschaftliche Warnung vor dem Wunsch nach Kontrolle erklingt, wird in Staemmlers Übersetzung in den Bereich abstrakter Erwägungen und Eventualitäten verwiesen und verliert damit seine subversive Stoßkraft: „daß das vortreffliche Werk ihren Händen entgleiten könnte, wenn in ihm eine eigene Seele geboren würde.“

4.

Abschließende Bemerkungen

Wie die Analyse der deutschen Übersetzung von Agnieszka Taborskas Szalony Zegar zeigen konnte, ist diese weit weniger karnevalesk, magisch und ambig als der polnische Originaltext. Zugleich verliert die deutsche Fassung jedoch gegenüber der Vorlage beträchtlich an Klarheit. Taborskas Bilderbuch mit seinem surrealistisch ‚ver-rückten‘ Kaleidoskop von Figuren und Ereignissen mag zwar chaotisch erscheinen, vermittelt jedoch eine unmissverständliche Botschaft: Es ist ein Manifest gegen die Tyrannei der Perfektion und das Streben nach Kontrolle und stellt damit nicht zuletzt eine Apologie der kindlichen wie auch der künstlerischen Vorstellungskraft dar. In Staemmlers Übersetzung bleibt diese Quintessenz des Originals vage und die surrealistische Imagination des Ausgangstextes wird an vielen Stellen ausgebremst.

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Der Übersetzer konnte anscheinend der Versuchung einer ‚Nachbesserung‘ des Originals nicht widerstehen. Er brachte Logik und narrative Stringenz in den Text, wohingegen die Vorlage von den Mechanismen des Traums und der Einbildungskraft geleitet ist. Staemmler scheint es Kindern nicht zuzutrauen, mit den Mehrdeutigkeiten, surrealen Realitätsverzerrungen und Sinndiffusionen des Originaltextes umzugehen – eine Fähigkeit, die Kinderbuchautoren wie Maurice Sendak ihren kindlichen Leser:innen durchaus zusprechen: „Children […] will tolerate ambiguities, peculiarities, and things illogical; will take them into their unconscious and deal with them as best they can.“36 Dabei impliziert die von Staemmler angewandte Strategie eine bestimmte Wertehierarchie: Die irrationale Seite von Taborskas Bilderbuch wird als defizitär betrachtet, das Original ist durch einen Mangel (an Kohärenz und Logik) gekennzeichnet, der vom Übersetzer kompensiert werden muss. Indem dieser sich das Recht zugesteht, in den Text einzugreifen, agiert er als erwachsene Instanz, welche die Vorstellungswelt des Kindes zurechtrückt, die als etwas Minderwertiges behandelt wird, das angepasst und ‚erzogen‘ werden muss. In diesem Sinne schreibt Oittinen von einer paternalisierenden Tendenz in der Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur: „We adults often lose our ability to fantasize and make decisions for our children on a logical, adult level.“37 In der deutschen Übersetzung von Szalony Zegar tritt uns der „implizite Übersetzer“38 als jemand entgegen, der kritisch und vernünftig mit Märchen umgeht und damit aus der Perspektive des Erwachsenen handelt. Sicherlich gewährleistet Staemmlers Übersetzung eine störungsfreie Kommunikation auf der kognitiven Ebene – was dabei auf der Strecke bleibt, ist die affektive Interaktion mit den Rezipienten. Taborskas spielerischer Umgang mit dem Sprachmaterial, die Nonsens-Ästhetik und absurde Sinnhintertreibung ihrer Texte halten Verbindung mit den Emotionen der kindlichen Leser:innen, sie befriedigen die subversive Lust an der Demontage der Sprach- und Sinnordnungen der Erwachsenenwelt. Dieses Potential ist nur in einer Transcreation der Vorlage zu erhalten.

36 Sendak, Maurice: Caldecott & Co: Notes on Books and Pictures. London 1989, S. 192. 37 Oittinen, Translating for Children, S. 164. 38 O’Sullivan, Kinderliterarische Komparatistik, S. 241–257.

Tihomir Engler (Osijek)

Die Ankunft von Robinson dem Jüngeren in Kroatien am Ende des 18. Jahrhunderts. Zu Aneignungs- und Transformationsprozessen bei der Übersetzung

1.

Anfänge der kroatischen Kinder- und Jugendliteratur

Möchte man die Entwicklung der kroatischen Kinder- und Jugendliteratur skizzieren, dann ist zunächst deren verhältnismäßig spätes Entstehen anzumerken. Bis zum 20. Jahrhundert ist Kroatien ein armes Land mit nur wenigen Druckereien und Verlagen; ein Land, in dem die Standardisierung der Landessprache unter Germanisierungs- und Ungarisierungszwängen nur langsam voranschreitet. Als Konsequenz greift die ohnehin schon sehr dünne Leserschicht lieber zu fremdsprachlichen Büchern. In einem solchen sozialen und kulturellen Kontext bildet die Publikation von neuen kinderliterarischen Titeln eher die Ausnahme als die Regel. So wird in manchen Darstellungen Zˇivot sv. Giosafata (1708) (Leben des hl. Giosafata), eine in Venedig erschienene Übersetzung aus dem Italienischen von Petar Macukat, als das erste kroatische Kinderbuch angeführt. Andere Historiker sehen wiederum in der Übersetzung von Joachim Heinrich Campes1 Erziehungsroman Robinson dem Jüngeren, gedruckt in Zagreb im Jahre 1796, das Fanal der kroatischen Kinderliteratur(-geschichte). Das nächste kinderliterarische Werk kommt erst zehn Jahre später auf den Markt: 1804 veröffentlicht Matija Antun Relkovic´ Ezopove fabule za slavonsku u skulu hodec´u dicu (wört. Äsops Fabeln für slawonische, die Schule besuchende Kinder). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wächst die Zahl von kinder- und jugendliterarischen Schriften in kroatischer Sprache dank der Bemühungen von Verlegern, die zum Kolo mladih rodoljuba (Kreis der jungen Patrioten) gehörten. Unter den Publikationen überwiegen die Übersetzungen, so etwa Christoph von Schmids Genoveva (1821). Die ersten originären kinder- und jugendliterarischen Texte auf Kroatisch erscheinen in den Kinderzeitschriften Bosiljak und Smilje erst im 1 Zu Campe siehe auch Berghahn, Cord-Friedrich/Lang-Groth, Imke (Hg.): Joachim Heinrich Campe: Dichtung, Sprache, Pädagogik und Politik zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration. Heidelberg 2021.

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Tihomir Engler

letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Eine merkliche Beschleunigung kinderliterarischer Buchproduktion in kroatischer Sprache setzt dann im 20. Jahrhundert ˇ udnovate zgode ˇsegrta ein, mit dem ersten kroatischen Kinderbuchklassiker C Hlapic´a (1913) (Die wundersamen Erlebnisse des Lehrlings Hlapitsch) von Ivana Brlic´-Mazˇuranic´ (1874–1938). Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Übersetzung von Campes Roman in Kroatien keine Nachahmungen im Sinne der europäischen Tradition der Robinsonade2 erfährt. Ganz im Gegenteil: Noch in den 1840er-Jahren besitzt der Robinson-Verleger die Remittenden und versucht, diese als Neuauflage zu vermarkten.3 Robinson der Jüngere, in zwei Teilen 1779/1780 in Hamburg publiziert, beschreibt die Abenteuer eines Jungen, der von zuhause wegläuft, sich einschifft und nach der Havarie seines Schiffes auf einer einsamen Insel strandet. Dort erinnert er sich an die Ratschläge seines Vaters zur Produktion von Lebensmitteln, was ihm letztendlich sein Überleben ermöglicht. Die kroatische Übersetzung des Romans Mlajssi Robinzon (Abb. 1) erscheint 16 Jahre nach der deutschen Erstausgabe beim Zagreber Verleger Antun Novosel. Zu dessen Sortiment gehören Werke auf Latein, Deutsch und Kroatisch, die anfangs hauptsächlich für den Bedarf des Bistums Zagreb gedruckt wurden.4 Wie bereits erwähnt, steht die Robinson-Übersetzung am Anfang der einheimischen Kinderund Jugendliteratur, die zu dieser Zeit ausschließlich aus Übersetzungen bzw. Umarbeitungen westeuropäischer Werke besteht.5 Campes Robinson wird ins Kajkavische übertragen, eine der drei Grundmundarten, die im Nordwesten Kroatiens um die Hauptstadt Zagreb gesprochen wird. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass am Ende des 18. Jahrhunderts der erste Roman für Kinder und Jugendliche in Kroatien ausgerechnet in dieser Mundart veröffentlicht wird: Bis 2 Zu kinderliterarischen Robinsonaden siehe ausführlicher Glasenapp, Gabriele von/Kagelmann, Andre (Hg.): Robinsonaden, in: Deutschunterricht 1/2020. 3 Vgl. Majhut, Berislav/Lovric´, Sanja: Aporije hrvatske bibliografije djecˇjih knjiga, in: Bezˇen, Ante/Pavlicˇevic´-Franic´, Dunja/Pozˇgaj-Hadzˇi, Vesna (Hg.): Prvi specijalizirani znanstveni skup: Rano ucˇenje hrvatskoga jezika. Zagreb 2007, S. 69–80, hier S. 70. 4 Die Firmengeschichte des Verlags ist vertrackt: Im Jahre 1794 kauft der Zagreber Bischof Maximilian Vrhovac dem Wiener Großverleger und Buchdrucker Johann Thomas von Trattner seine Typographie ab, nachdem dessen Privileg für die Herausgabe von Schul- und Lehrbüchern in Kroatien abgelaufen war. Da es aber dem Kaiser Franz II. missfällt, Druckereien im Besitz von Klerikern zu wissen, wird dem Zagreber Bischof nahegelegt, sich ihrer so schnell wie möglich zu entledigen. Dies tut er auch im Jahre 1795; allerdings tritt er die Druckerei an seinen Schwager Antun Novosel ab. Nach dessen Tod wird die Firma zunächst von seiner Witwe verwaltet, bis der Bischof sie samt dem dazugehörigen Buchladen 1825 an Josip Rossi verkauft. In den dreißig Jahren des Verlagsbestehens kommen über 300 Bücher und Schriften auf den Markt. Gedruckt wird mit eigenen Lettern, der Novoseler Schriftart. Vgl. Dezˇelic´, Velimir: Biskupska a zatim Novoselska tiskara u Zagrebu 1794–1825, in: Narodna starina 4/1925, S. 96–126, hier S. 101, S. 109f. 5 Vgl. Crnkovic´, Milan/Tezˇak, Dubravka: Povijest hrvatske djecˇje knjizˇevnosti: od pocˇetaka do 1955. godine. Zagreb 2002, S. 126–129.

Die Ankunft von Robinson dem Jüngeren in Kroatien am Ende des 18. Jahrhunderts

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in die 1830er-Jahre, als im Rahmen der Nationalbewegung das Sˇtokavische zur kroatischen Standardsprache aufsteigt, bleibt das Kajkavische eine der offiziellen Schriftsprachen. Über den Übersetzer des Robinson weiß man recht wenig:6 Antun Vranic´ kommt in Karlovac, einer Kleinstadt in der Nähe von Zagreb, auf die Welt, wo er 1820 auch stirbt. Sein Geburts- bzw. Taufdatum ist nicht überliefert. Als Pfarrer ist er zunächst in mehreren Ortschaften in der Umgebung von ˇ ucˇerje, Stupnik und Sˇipak. Karlovac und Zagreb tätig, etwa in den Dörfern C Später wird er zum Erzdiakon des Landkreises Karlovac ernannt.

Abb. 1

Im Folgenden soll untersucht werden, ob es sich bei dem Translat von Vranic´ um eine textadäquate Übersetzung oder um eine krud lektorierte Adaptation handelt, die man an die kulturellen Gepflogenheiten und spezifischen Interessen des anvisierten Lesepublikums anpasste. Dazu gilt es zunächst, Abweichungen in der Grundstruktur sowie stilistische Unterschiede zwischen dem Ausgangs- und

6 Zu den wenigen Angaben zu Vranic´s Leben vgl. Znameniti i zasluzˇni Hrvati. Zagreb 1925, S. 281; Crnkovic´/Tezˇak, Povijest, S. 126; sowie Sirovec, Stjepan: Sveti Krizˇ Zacˇretje. Zagreb 2005, S. 56.

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Tihomir Engler

dem Zieltext zu analysieren. In einem weiteren Schritt werden die vorgenommenen Änderungen zur Programmatik Campes in Beziehung gesetzt. Bereits die Identifizierung des Ausgangstextes gestaltet sich als schwierig. Zwischen 1788 und 1799 bringt Campes Schulbuchhandlung in Braunschweig eine halbe Million Bücher, Broschüren und Periodika auf den Markt, darunter auch fünf Reprints des Robinson-Romans (1779, 1780, 1786, 1789 und 1794). „Campes eigene Werke“, schreibt der Historiker Hans-Jürgen Perrey, „erreichten dabei Auflagenhöhen, die noch heute das Herz so manchen Autors würden höher schlagen lassen.“7 Zeitgleich drucken auch andere Verlage Raubkopien des Robinson, so etwa der Münchener Strobel-Verlag im Jahre 1780.8 Vergleicht man unterschiedliche deutsche Ausgaben mit der kroatischen Fassung, sprechen mehrere Gründe dafür, dass Vranic´ als Übersetzungsvorlage die Wiener „Neue Auflage“ (Abb. 2) verwendete, d. h. die Raubkopie der dritten von Campe autorisierten Ausgabe aus dem Jahre 1786.9 Als Erstes fällt auf, dass die Illustrationen in der kroatischen Version nur in der Wiener „Neuen Auflage“ bzw. in der dritten autorisierten Campe-Auflage vorkommen. Den zweiten Beweis liefert die spezifische Aufgliederung des kroatischen Textes. Sowohl in der zweibändigen deutschen Erstausgabe als auch in der dritten von Campe autorisierten Wiederauflage endet der erste Band mit dem elften Kapitel, das die vermeintlich tödliche Erkrankung Robinsons zum Thema hat. Um zu erfahren, was danach mit Robinson passiert, müssen die Leser zur Fortsetzung greifen. Eine solche verkaufsstrategische Texteinteilung befolgt Vranic´ nicht, sondern schließt den ersten Band mit dem weniger dramatischen zwölften Kapitel, in dem Robinson ein Boot bauen möchte.10

7 Perrey, Hans-Jürgen: Joachim Heinrich Campe. Bremen 2010, S. 160. 8 Eine ganze Reihe unautorisierter Wiederauflagen erscheint mit Druckorten in Frankfurt am Main und Leipzig (1780, 1781, 1785, 1789 und 1792). Auch in Wien druckt Johann von Trattner den Robinson-Roman (1784, 1789, 1794) nach. Eine anonyme „Neue Auflage“ kommt „auf Kosten des Herausgebers der Bibliothek für Kinder und Kinderfreunde“ (1789) in Wien heraus. 9 Für detaillierte Angaben zu den Unterschieden zwischen einzelnen Ausgaben und zu den Gründen, warum andere Ausgaben als Übersetzungsvorlage nicht in Frage kommen, vgl. Engler, Tihomir: Vranic´ev ‚Mlajsˇi Robinzon‘. O podrijetlu i ideologemskom postavu prvog djecˇjeg romana na hrvatskom jeziku, in: Croatica 27/2013, S. 173–212, hier S. 175–182. 10 Diese Abweichung ist durch die Unkenntnis der ursprünglichen Romanaufteilung in zwei Bände zu erklären, bzw. dadurch, dass Vranic´ nur das einbändige Exemplar zur Verfügung hatte und selbst entscheiden musste, wie die Abenteuer Robinsons ausgehen.

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Abb. 2

2.

Makrostrukturelle Unterschiede zwischen der Übersetzung und der Romanvorlage

Abgesehen von der integralen Einheit des Originals, die in der Übersetzung missachtet wurde, besteht der wesentliche Unterschied darin, dass Campes Vorbericht durch Vranic´s Vorwort ersetzt wird. Der weitere Aufbau des Buches ist dann identisch: Auf die zwei unbetitelten Einleitungsseiten, auf denen die Hamburger Familie vorgestellt wird, folgt der in dreißig Kapitel aufgeteilte Romantext der deutschen Vorlage. Die Handlungsverläufe und Ereignisse einzelner Kapitel werden im kroatischen Text mit Ausnahme zweier längerer Auslassungen bzw. einer Reihe von kleineren Kürzungen und Erweiterungen überwiegend originalgetreu wiedergegeben. Auch das Romanpersonal bleibt bis auf einen unterschiedlichen Namensgebrauch identisch. Im deutschen Text wird der titelgebende Protagonist als „Krusoe“11 eingeführt, danach verschwindet der Fa11 Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unter-

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milienname ganz. Der kindliche Protagonist wird entweder als ‚Robinson‘ oder als ‚junger Robinson‘ angesprochen. In der kroatischen Übersetzung taucht ‚Krusoe‘ erst gar nicht auf, der Held hat den titelgebenden Namen ‚Robinzon‘ bzw. ‚junger Robinzon‘. Demgegenüber erhalten die Vornamen aller anderen Figuren eine kroatische Entsprechung: Aus Lotte wird Julika, aus Johannes Misˇkec und aus Gottlieb Petrica, während Nikolas, Fritzchen und Diderich abwechselnd zu Misˇkec, Jozˇek und Toncˇek werden.12 Eine solche Kroatisierung der Figuren steht im Gegensatz zum Chronotopos des Romans. Bei Defoe ist dessen Ausgangspunkt die englische Stadt York. Bei Campe handelt es sich hingegen um Abenteuer eines deutschen Jungen, der von seinem deutschen Heimathafen aus in die Welt zieht. Mit der Kroatisierung der Kindernamen muss Vranic´ zwangsläufig auch landesspezifische Realien und topographische Details des Ausgangstextes kaschieren. Das gelingt beispielsweise an jener Stelle, in der Robinson Freitag „in der deutschen Sprache“13 unterrichtet. Vranic´ verallgemeinert dies zu „in seiner Sprache“14. Schwieriger wird es, wenn Städte wie Wandsbek oder Hamburg Erwähnung finden. Die entstandenen Textinkonsistenzen hätte Vranic´ nur mit der Verlegung des Handlungsauftaktes in einen Hafen an der Adria, wie Senj, Crikvenica oder Rijeka, vermeiden können, was aber eine Umarbeitung bzw. eine ungenaue Übersetzung des Ausgangstextes dargestellt hätte. Die Struktur des deutschen Ausgangstextes ist ferner durch eingeschaltete Fußnoten, Rahmendialoge des Vaters mit den Kindern sowie autoreferentielle Bezüge und Gedichte bestimmt. Auch hier weicht Vranic´ teilweise von der Vorlage ab. So verzichtet er auf alle neun Fußnoten von Campe und fügt stattdessen 55 eigene, mehr oder weniger ausführliche Anmerkungen ein, mit denen er erwähnte Orte oder Begriffe erklärt. Der Ausgangstext wird damit zwar erweitert, jedoch nicht verändert, denn Campe greift selbst in geringerem Umfang auf Fußnoten zurück. Auch diese bestehen ausschließlich aus geographischlexikalischen Erläuterungen. Die von Campe in den Text eingebetteten Dialoge des Vaters mit den Kindern dienen vor allem zu Belehrungszwecken. Dabei geht Vranic´ behutsam vor und tilgt lediglich redundante Stellen, wie z. B.: haltung für Kinder. Neue Auflage auf Kosten des Herausgebers der Bibliothek für Kinder und Kinderfreunde. Wien 1789, S. 4–7. 12 Vranic´ scheint sich für die adressatenspezifische Akkommodation des Textes entschieden zu haben, um auf diese Weise eine höhere Identifikation der Leserschaft mit den Protagonisten zu erreichen. 13 Campe, Robinson der Jüngere, S. 256. 14 Campe, Joachim Heinrich: Mlajssi Robinzon: iliti jedna kruto povoljna, hasnovita Pripovest za Decu. Iz nemskoga na horvatski Jezik prenessena po Antonu Vranichu. Zagreb 1796, 2. Teil, S. 93.

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Sie steuerten nicht weit von der Insel Teneriffa vorbei, auf der sie den hohen Spitzberg liegen sahen. Lotte. Ich meine, der hiesse der Piko von Teneriffa? Johannes. I, das ist ja einerlei! Piko heißt ja Spitzberg. – O nun weiter!15

Na putu pako szvojem brodiliszu mimo Medymorja Teneriffe zvanoga, gde jako previszoku Goru kojasze Pik (h) imenuje, videli jeszu.16

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Auf ihrem Wege steuerten sie neben der Insel namens Teneriffa vorbei, auf der sie den hohen, überhohen Berg sahen, der Piko (h) heißt. (Rückübersetzung)

Im angeführten Beispiel wird die Frage ausgelassen und werden landeskundliche Angaben zum Berg in der Fußnote (h) wiedergegeben. Dennoch behält Vranic´ an vielen Stellen solche Dialoge bei, womit er den didaktischen Charakter des Textes auch in der Übersetzung aufrechterhält. Demgegenüber kommt es in der Übersetzung zur Auslassung von allen autoreferentiellen und metafiktionalen Passagen. So wird eine metafiktionale Erklärung (des Erzählers) an die Kinder als fiktionale Leser:innen ausgespart, laut der ihre Briefe an Robinson aufgrund des 200 Jahre zurückliegenden Todes des Adressaten nicht zugestellt werden können. In der deutschen Version meint der Vater: „Aber in der Geschichte, die ich jetzt von ihm schreibe, will ich eure Briefe mit abdrucken lassen.“17 Hier spielt der Erzähler bewusst mit der Fiktionalität seines Werkes. Vranic´ bereinigt hingegen den Text an allen Stellen, die explizit darauf verweisen, dass es sich hier um eine artifizielle Collage von Beschreibungen erfundener Erlebnisse handelt. Infolgedessen verschwindet das desillusionierende Potential aus der Romanübersetzung. In diesem Zusammenhang ist auch Vranic´s Übersetzung der im Roman enthaltenen Gedichte erwähnenswert. Selbst wenn Vranic´ die Verse nicht wörtlich übersetzt, behält er das Grundthema der Gedichte, den Lobgesang an Gott, bei. Mit den kroatischen Ausdrücken kann er nicht nur den Inhalt, sondern auch den Rhythmus der Gedichte wiedergeben. Im folgenden Beispiel wird das Leben ohne Gottvertrauen mit der Metapher des Hausbaus auf Wasser sogar noch plastischer dargestellt als im Ausgangstext: Wer nur dem Allerhöchsten Po Putu ki njegvom hodi traut, Zna da zidal ni na Vodi!19 Der hat auf keinen Sand gebaut.18

15 16 17 18 19

Campe, Robinson der Jüngere, S. 30f. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 48. Campe, Robinson der Jüngere, S. 118. Ebd., S. 48. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 73.

Wer auf seinem Wege waltet, Weiß, nicht auf Wasser gemauert (zu haben)! (Rückübersetzung)

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3.

Unterschiede in der Mikro-Struktur zwischen der Übersetzung und der Romanvorlage

Im Folgenden werden Unterschiede zwischen der kroatischen Übersetzung und der deutschen Vorlage anhand ausgewählter Beispiele demonstriert. Zuerst ist festzuhalten, dass Vranic´ einige grammatische Muster des Deutschen kopiert, die fürs Kroatische untypisch sind bzw. sich in dessen sprachgeschichtlicher Entwicklung nicht etabliert haben. Somit legt Vranic´ eine imitatorische Übersetzung vor, welche die sprachlichen und ästhetischen Eigentümlichkeiten des Ausgangstextes wiedergibt. In seiner Übertragung werden beispielsweise alle Substantive großgeschrieben oder der im Kroatischen nicht vorkommende unbestimmte Artikel unangemessen als Zahlwort übernommen.20 Ferner werden in Anlehnung an die deutsche Vorlage viele Passivkonstruktionen verwendet, die im Kroatischen allgemein gemieden werden. Der Grund für die häufig vorkommenden Sprachanleihen liegt in der Übernahme von Wortfolgen aus dem Deutschen. So wird der Satz „Ein gleiches zu thun, war auch Donnerstag bereit“21 folgendermaßen übersetzt: „To izsto vchiniti bil je, y Chetertek pripraven.“22 Als Resultat wird der deutsche Satzbau in die kroatische Übersetzung extrapoliert. Bei Vranic´ lassen sich auch offensichtliche Übersetzungsfehler finden, die jedoch nicht so schwerwiegend sind, dass man den Text missverstehen oder sogar falsch verstehen würde. Die entsprechenden Stellen widersprechen nicht der textspezifischen Logik und werden daher von den Adressaten nicht als Textdefekte erkannt.23 Als typische Fehlerbeispiele können die zwei nachfolgend angeführten Zitate gelten. Nach der Ankündigung, das Erzählen sei für den heutigen Abend beendet, bedauern die Kinder lautstark: „O schon wieder aus!“24 Vranic´ übersetzt dies mit: „O i pak je van!“,25 was eigentlich „Oh, und wieder ist (man) draußen!“ bedeutet. Verwirrend wirkt ferner die Übersetzung der äußerst dramatischen Szene, in der Freitag seinen Vater vorm Ertrinken rettet und „den Erblaßten völlig ans Land trug“26. Vranic´ übersetzt sie wie folgt: „ovak mertvogo

20 So steht z. B. in der kroatischen Übersetzung, dass der gerettete Spanier „szam vu jednomu Chunu tamo pojti hoche“, d. h. er ‚alleine in einem Bot dorthin gehen will‘, als ob er als Einzelner gleichzeitig in zwei Booten mitfahren könnte. Vgl. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 260. Die Vergleiche und die sprachlichen bzw. stilistischen Umformulierungen des Textes in der Übersetzung werden vom Beitragsautor wie hier kursiv hervorgehoben. 21 Campe, Robinson der Jüngere, S. 376. 22 Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 260. 23 Vgl. dazu Hönig, Hans G.: Humanübersetzung (therapeutisch vs. diagnostisch), in: SnellHornby, Mary et al. (Hg.): Handbuch Translation. Tübingen 22015, S. 378–381. 24 Campe, Robinson der Jüngere, S. 359. 25 Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 238. 26 Campe, Robinson der Jüngere, S. 334.

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iznesel ga je van na Zemlju“,27 d. h., ‚so toten trug er ihn ans Land‘. Für die kroatische Leserschaft erklärt sich der Umstand aus der Verwendung des Begriffs „tot“ im Sinne von ‚bewusstlos‘. Neben solchen Stellen gibt es auch jene, die infolge einer mehr oder weniger bewussten redaktionellen Abweichung stilistisch bzw. sprachlich eleganter als im Ausgangstext formuliert sind. Als Beispiel kann die Beschreibung des Augenblicks angeführt werden, in dem Robinson in die Höhle hineingehen möchte, aus der gerade der zu Tode erschrockene Freitag herausstürmt. Robinson „nahm die brennende Laterne in die linke, eine scharf geladene Pistole in die rechte Hand, und ging dem Abendtheuer beherzt entgegen“.28 Bei der Übersetzung dieses Satzes ist interessant, dass Vranic´ das „Abendtheuer“ mit „y ovak issel je tomu Ztrassilu naproti“ wiedergibt.29 Vranic´ verwechselt hier absichtlich die Worte oder spielt mit der lautlichen Ähnlichkeit der deutschen Substantive ‚Abenteuer‘ und ‚Ungeheuer‘ und übersetzt diese Szene so, dass der Protagonist nicht einem ‚Abenteuer‘, sondern einem ‚Ungeheuer‘ entgegen schreitet. Diese Abweichung vom Ausgangstext, die sich zwischen Paraphrase und Adaption bewegt, demonstriert eine Vorgehensweise, die an vielen Stellen Verwendung findet. Sie zeigt ferner, wie akribisch und behutsam Vranic´ arbeitete. Diese Annahme bestätigen auch die Auslassungen, die Vranic´ vornimmt. Als Beispiel dient die Stelle, an der die Wilden ihre Gefangenen aus den Booten holen und Robinson „nicht zweifelte, daß sie zur Schlachtbank geführt werden sollten, und in demselben Augenblick wurde diese seine Vermuthung auf die schrecklichste Weise bestätigt“.30 Der obige Satz wird aus der Übersetzung getilgt, weil er schlechthin überflüssig ist, schließlich beschreibt der darauffolgende Satz sofort das Erschlagen der Opfer. Ähnlich verfährt Vranic´ auch bei Hinzufügungen: Robinsons Verwunderung über die Selbstentflammung des Heuhaufens wird in der kroatischen Version mit folgenden Worten vervollständigt: „ne anda Chudo, ako je kakti Czepecz ztal“,31 d. h. dass ‚es kein Wunder ist, wenn er dort wie ein Dummkopf stand‘. Aus stilistischen Gründen scheint Vranic´ auch einen Satz ergänzen zu müssen, mit dem der Vater den Kindern das Vorgehen von „Taschenspielern und Gauklern“ erläutert: „[…] die z. B. dem Scheine nach, einen Vogel in eine Maus verwandeln, einen geköpften Vogel wieder lebendig machen können u. s. w.“32 Die für literarische Texte untypische Abkürzung „u. s. w.“ ergänzt Vranic´ um weiterführende Beispiele, was die Stelle noch zusätzlich modifiziert: „kak iz Kokossi Muhu, iz Muhe Karvana, iz Karvana Gerliczu, y ovem 27 28 29 30 31 32

Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 202. Campe, Robinson der Jüngere, S. 382. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 268. Campe, Robinson der Jüngere, S. 220f. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 227. Campe, Robinson der Jüngere, S. 244.

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zpodobna vkratkom Chaszu vechkrat preztvori“,33 d. h. die ‚aus einem Huhn eine Mücke, aus einer Mücke einen Raben, aus einem Raben eine Turteltaube und Ähnliches im Nu mehrmals zu verwandeln‘ können. Eine Konzession an das anvisierte Lesepublikum könnte auch Vranic´s Eingreifen in die Angaben über die schlechten Trinkgewohnheiten sein. In der deutschen Textfassung führt der Vater als schädliche Getränke „Kaffee und Thee, Bier und Wein“ an,34 während in der kroatischen Fassung Tee durch das landestypische hochprozentige Destillat „Szlivovicza“35, einen Pflaumenschnaps, ersetzt wird. Jener Schnaps war wie Alkoholismus per se bis in das späte 20. Jahrhundert auf dem Balkan ein großes Problem.36 Die vorgenommenen stilistischen Änderungen gelingen Vranic´ an einigen Stellen hervorragend, wie folgende Beispiele belegen: In einer der Gewitternächte am Anfang seines Inseldaseins verspürte Robinson „Todesangst“,37 was in der kroatischen Textversion in folgender Weise umschrieben wird: „y chakal, jeli zkoro dojde Vura Szmerti nyegove?“,38 d. h. „und wartete ab, ob bald seine Todesstunde käme“. Als der Vater die Kinder darauf aufmerksam macht, dass sie in ihrem Leben „auf ein sehr liebes Vergnügen Verzicht zu thun, und zuweilen etwas sehr Unangenehmes zu erdulden“ haben werden,39 konkretisiert Vranic´ dieses ‚Unangenehme‘ mit einem prägnanten Beispiel aus der kindlichen Erfahrungswelt. Er lässt den Vater sagen, dass die Kinder im Leben auch „vechkrat mnoge suhke Kaline pregutati primorani“,40 d. h. „auch mehrmals trockene Liguster runterschlucken werden“ müssen. Während Campe die Menschen gegenüber Gottes Vorsehung als „schwache Erdenwürmer“ charakterisiert,41 sind sie bei Vranic´ nicht ‚schwache‘, sondern „gingave“ (d. h. ‚taumelnde‘) Wesen. Die Übersetzung erhält an mehreren Stellen sogar eine poetische Färbung, etwa als Robinson, nachdem er das Schiff in der Bucht erblickt hat, „zurück nach seiner Burg [rant’]“.42 Im Ausgangstext eilt er „atemlos“, während er in der kroatischen Übersetzung „kakti Serna“43, d. h. ‚wie ein Reh‘, rennt. Als eine ge-

33 34 35 36

37 38 39 40 41 42 43

Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 77. Campe, Robinson der Jüngere, S. 252. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 87. Mit der Diskreditierung von Spirituosen schreibt sich Vranic´ in den Kontext der Abstinenzund Mäßigungsbewegung ein, die auch in der kroatischen Literatur sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene zu finden ist. Dazu gehört beispielsweise noch der Kinderroman Staatsfeind Nr. 1 von Mato Lovrak aus dem Jahre 1938. Campe, Robinson der Jüngere, S. 86. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 133. Campe, Robinson der Jüngere, S. 263. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 103. Campe, Robinson der Jüngere, S. 282. Ebd., S. 302. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 155.

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lungene stilistische Verfeinerung des Ausgangstextes kann auch die folgende Stelle hervorgehoben werden: […] und endlich ging das Geschäft so gut von statten, als wenn Robinson und Freitag ausgelernte Landleute, und die Lama’s Ochsen oder Esel wären.44

[…] y Oranye tak odhajalo je vitesko, kak da bi Robinzon i z-Petkom najzvuchenessi Orachi, Lamaze pako vre k-tomu privucheni Oszli, ali Voli bili.45

In Anlehnung an die deutsche Fassung, in der Robinson und Freitag als ‚ausgelernte Landleute‘ bezeichnet werden, beschreibt Vranic´ auch die Lamas mit einem Adjektiv, sie seien ‚privucˇeni‘, d. h. ‚abgerichtete‘ Ochsen und Stiere. Im Resultat wird hier und an anderen Stellen im Text ein Gleichgewicht in der Adjektivbildung bzw. -verwendung hergestellt. An einigen Stellen wird in der Übersetzung sogar der Inhalt des Textes korrigiert. Als Beispiel dient jene Passage, in der Robinson dem Kapitän „seine Meinung [dazu] eröffnet hatte“,46 das Schiff zu kapern, wobei es sich hier korrekterweise um Robinsons ‚Vorhaben‘ handelt. Dies wird dann folgerichtig in der kroatischen Übersetzung als ‚Nakanjenje‘ wiedergegeben. Ebenfalls erwähnenswert ist die Darstellung einzelner Situationen, die Vranic´ sprachlich präzisiert: Als der Vater beschreibt, wie Robinson und Freitag „tausend Schritte vom Strande entfernt […] das Schif gezimmert hatten“,47 stellt sich die Frage, wie man das Boot ins Wasser bekommt. Auf dieses Problem reagiert der Vater mit dem Satz: „Hier stand der Karren einem wieder am Berge!“48 Auch wenn der Vater diesen Ausdruck im übertragenen Sinne verwendet haben mag, klingt er stilistisch ungeschickt. Schließlich ist der Karren vom Gipfel des Berges leicht hinunterzuschieben, Vranic´ übersetzt diese Stelle wie folgt: „Ovdje i pak Kola su fgreznula“,49 d. h.: ‚Hier ist der Karren wieder einmal (im Schlamm) stecken geblieben‘. Äußerst gelungen ist die stilistische Verfeinerung jener Passage, in der Robinson erkennt, wie viel Glück er eigentlich hatte, auf der nördlichen und nicht auf der südlichen Inselseite zu stranden. Die südliche Seite werde häufig von den Eingeborenen aufgesucht und er wäre sofort „ein Raub der Wilden […] gewesen“.50 Diese Stelle überträgt Vranic´ so, dass Robinson zum „postal Pechenka Poserlyvozti divjachke“51, d. h. ‚zum Bratenhappen der Wilden Gefräßigkeit geworden wäre‘. 44 45 46 47 48 49 50 51

Campe, Robinson der Jüngere, S. 345. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 218. Campe, Robinson der Jüngere, S. 393. Ebd., S. 272. Ebd. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 112. Campe, Robinson der Jüngere, S. 290. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 138.

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In seiner Übersetzung greift Vranic´ auch volkstümliche Entsprechungen auf. So verwendet er für die Wilden die Bezeichnung „Pesoglavci“,52 d. h. ‚Hundsköpfe‘, die für kannibalische Geschöpfe aus dem südslavischen Märchengut stehen.53 Darüber hinaus kommen in der Übersetzung eine Reihe von Neologismen vor, die von Vranic´s Bemühung zeugen, eine kreative und um Originaltreue bemühte Fassung vorzulegen. Beispielsweise übersetzt er den „Gedankenwinkel“54 mit „Mislokut“,55 was wörtlich ‚Ecke, in der man denkt‘ heißt, „Aberglaube“56 mit „Baboverstvo“57 (d. h. ‚Weiberglaube‘) und „Physik“58 mit „Teloznanost“59 (d. h. ‚Körperwissenschaft‘). Diese Ausdrücke sind erfunden, kommen also in der kroatischen Sprache bzw. in ihrem kajkavischen Dialekt später nicht mehr vor. Die angeführten Beispiele zeigen, dass es sich bei Vranic´s Übersetzung nicht um eine Umarbeitung der Vorlage handelt, sondern um eine mehr oder weniger textnahe Übertragung des Romans. Der tektonische Aufbau von Campes Text und dessen Handlungsablauf wird bei Vranic´ eingehalten, die Änderungen finden nur in Form einzelner sprachlicher bzw. stilistischer Abweichungen statt. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass seine Eingriffe den Ausgangstext stellenweise sogar stilistisch und inhaltlich bereichern. So ist die Behauptung durchaus legitim, dass Vranic´s Fassung – obwohl es eine Übersetzung ist – als Musterbeispiel eines gut strukturierten Erzähltextes in der kroatischen Kinder- und Jugendliteratur hätte fungieren können. Mit seiner texttreuen Übertragung des deutschsprachigen Ausgangstextes bemühte er sich außerordentlich um dessen Erfolg bei der jungen kroatischen Leserschaft. Zu diesem Zweck ging Vranic´ nicht nur bei der Übertragung der Makrostruktur des Ausgangstextes und seiner sprachlichen Ausformulierung behutsam vor, sondern versuchte auch, die im deutschen Text enthaltenen inhaltlichen Inkonsistenzen zu korrigieren sowie den Ausgangstext in seiner Übersetzung stilistisch zu verfeinern, ohne daraus letztendlich eine Adaptation zu machen. Trotz einiger Kroatisierungen – wie die Namen der Kinderfiguren – bleibt der kulturelle Rahmen des Ausgangstextes erhalten, der einen faszinierenden Einblick in eine fremde Welt gewährt.

52 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., S. 20. Vgl. dazu Bosˇkovic´-Stulli, Maja (Hg.): Kroatische Volksmärchen. München 1975, S. 272–299. Campe, Robinson der Jüngere, S. 163. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 237. Campe, Robinson der Jüngere, S. 243. Campe, Mlajssi Robinzon, 2. Teil, S. 74. Campe, Robinson der Jüngere, S. 155. Campe, Mlajssi Robinzon, 1. Teil, S. 228.

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4.

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Die Assimilierung des ideologischen Überbaus von Campes Roman

Mit Vranic´s Übersetzung wird in die kroatische Kinderliteratur eine bestimmte Erzählform mit ihren sprachlich-stilistischen Besonderheiten eingeführt. Campes Roman präsentierte den jungen Lesern darüber hinaus auch ein neues Weltbild. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß Vranic´ die im Ausgangstext enthaltene Ideologeme aufgreift oder diese gar dekonstruiert. Das Weltbild, das Campe im Roman entwirft, ist auf drei zentralen Werten aufgebaut: auf Gottes Vorsehung, auf Vernunftgebrauch und auf freiem Handeln des Menschen. Dabei sind in Campes Erzählwelt sowohl das Individuum als auch die Menschheit per se der Vorsehung Gottes unterstellt, die als omnipotente Kraft waltet.60 Obwohl der Mensch grundsätzlich als vernunftbegabtes Wesen gilt, „verfügt er über sie [Vernunft] je nach dem Stand seiner Erziehung und Bildung […] Um sie in vollem Umfang einsetzen zu können, muß der Mensch erzogen werden.“.61 In einer solchen Erziehung liegt auch die Grundfunktion des Romans, die in der Vergegenständlichung der philanthropischen Ideen gipfelt, der „vom Protestantismus geprägten aufklärerischen pädagogischen Reformbewegung“62. Den entscheidenden Impuls für die Entwicklung des Philanthropismus lieferte unter anderem Jean-Jacques Rousseau mit seinem 1762 erschienenen Erziehungsroman Emil. Ziele des Philanthropismus sind die Nützlichkeit, die rationale Vervollkommnung und die Glückseligkeit des Menschen, die allesamt auf einem Reformweg zu erzielen sind.63 Gerade bei der Vermittlung jenes philanthropisch-aufklärerischen Menschen- und Weltbildes kommt es in Vranic´s Übersetzung zu den größten Auslassungen. Die erste besteht darin, dass er, wie bereits erwähnt, den mehr als 13 Seiten umfassenden Vorbericht verwirft, in dem Campe seine pädagogischen Ideen präsentiert. Schließlich setzt sich Campe darin intensiv mit Rousseaus Gedankengut auseinander, den er nicht nur als die Galionsfigur des aufgeklärten Philanthropismus, sondern der gesamten Epoche ansieht. Durch den Verzicht auf den Vorbericht wird in der Übersetzung auch der Hinweis auf den breiteren kulturhistorischen bzw. westeuropäischen Kontext getilgt, aus dem der Roman entstand. Dass Rousseaus Gedankengut im geistigen und kulturellen Leben Kroatiens konsequent vermieden wurde, zeigt 60 Vgl. dazu Campe, Robinson der Jüngere, S. 35–38. 61 Orgeldinger, Sibylle: Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe. Berlin/ New York 1999, S. 2 [Hervorhebung durch T. E.]. 62 Ebd. 63 Vgl. dazu Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung: Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Aufklärung. Weinheim 1992, S. 154f.

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die Tatsache einer ausbleibenden Übersetzung ins Kroatische bis Ende der 1880er-Jahre. Über die Entscheidung, die erste Übersetzung von Emil herauszugeben, „diskutierte man […] monatelang, sogar in Parlamentsausschüssen, wobei die Diskussion damit endete, dass der Herausgeber sich öffentlich von seiner eigenen Publikation distanzierte und diese aus dem Vertrieb nahm“.64 So ist es durchaus verständlich, dass Vranic´ beinahe hundert Jahre zuvor den Vorbericht von Campe, der hauptsächlich Rousseau gewidmet war, in einer Art Selbstzensur auslässt. Bekräftigt wird diese Vermutung durch den Umstand, dass Vranic´ als katholischer Priester die Veröffentlichung säkularer Argumentationen in Campes Vorbericht vermeiden wollte, da er eine Übertragung auf die zeitgenössische gesellschaftliche Situation in Kroatien befürchtete. Darüber hinaus lässt sich Campe im Vorbericht auch auf die Frage nach den Kriterien zur Entstehung von zeitgenössischer Kinderliteratur ein. In diesem Zusammenhang verlangt er, dass man „das leidige Empfindsamkeitsfieber“65 aufgebe, das in Form einer „moralischen Seuche“66 alle Kräfte „unserer gesammten körperlichen und geistigen Natur“67 zersetze und somit den Leser „nervenlos, eben so unzufrieden mit sich selbst, mit der Welt, und mit dem Himmel zu machen suche“.68 „Das wirksamste litterarische Gegengift“69 gegen eine sentimentale Literatur sieht Campe in derlei literarischer Produktion, „welche […] die Kinderseelen aus der phantastischen Schäferwelt, welche nirgends ist, […] in diejenige wirkliche Welt, in der wir uns dermalen selbst befinden“70, zurückführt, wodurch man dem verhängnisvollen Zustand der „unthätigen Beschauungen, […] müssigen Rührungen“71 entkomme und den Zustand „der Selbsttätigkeit“72 erreiche. Indem Vranic´ den erwachsenen Mitlesern Campes Vorbericht vorenthält, verwehrt er ihnen auch ein Plädoyer für eine originäre Kinderliteratur, die den lebensweltlichen Erfahrungen der Kinder zu entsprechen hat und sich von den Modeerscheinungen der Allgemeinliteratur absondern muss. Dieses Verfahren der Akkommodation, der formalen und inhaltlichen Anpassung an Rezeptionskompetenz und Leseinteressen, welche die Philanthropisten als Novum propagierten, ist seitdem in der kinder- und ju-

64 Hamersˇak, Marijana: Emil ili ob uzgoju, knjigama i cenzuri, in: Hrvatsko filozofsko drusˇtvo (Hg.): Priroda, drusˇtvo, politika. Zbirka sazˇetaka s godisˇnjeg simpozija Hrvatskog filozofskog drusˇtva. Zagreb 2012, S. 31ff., hier S. 31. 65 Campe, Robinson der Jüngere, Vorbericht, unpaginiert. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd.

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gendliterarischen Kommunikation präsent.73 Bedauerlicherweise konnte dieser Impuls in der kroatischen Kinder- und Jugendliteratur zunächst keine nachhaltige Wirkung entfalten. Neben der bereits genannten Tilgung des Vorworts kommen noch zwei weitere größere Auslassungen im Romantext vor. Im elften Kapitel, in dem die Anschaffung von neuer, vor Mücken schützender Kleidung besprochen wird, fragt sich Diderich: „Wozu mag doch Gott auch wohl die fatalen Insekten geschaffen haben, da sie einem nur zur Last sind?“74 Daraufhin folgt eine zweieinhalbseitige Antwort des Vaters,75 der erklärt, dass alle Lebewesen, selbst die Mücken, das Recht auf die Verwirklichung ihres ‚Lebensglückes‘ hätten bzw. dass alle Lebewesen in Bezug auf ihre Existenzberechtigung gleich seien. Aus den Ausführungen des Vaters geht hervor, dass Gott niemanden bevorzugt, denn er habe die Beziehungen zwischen den Lebewesen so „eingerichtet, dass Eins von dem Andern leben muß“,76 „damit eine Art von Geschöpfen nicht zum Untergang einer andern Art sich gar zu stark vermehrte“77. „So labt sich die Mücke“, erklärt der Vater, „erst an unserm Blute […] und [wird] dann von der Schwalbe gefangen oder von der Fliegenklappe zerschmettert“.78 Alle diese Überlegungen werden aus der kroatischen Übersetzung getilgt, was keineswegs an Übersetzungsschwierigkeiten lag. Es geht vielmehr darum, aus ideologischen Gründen die Erklärung des eben angeführten eudämonistischen Postulats zu entfernen, wonach jedes Lebewesen den Anspruch auf die Verwirklichung des eigenen Weges zur Glückseligkeit bzw. das (demokratische) Recht auf Glück hat. Außerdem wirkt die hier entworfene Rollenumkehrung noch effektvoller und provokativer: Indem der Vater im Dialog die Rolle der Mücke übernimmt, wird er zum Sprachrohr jedes einzelnen Lebewesens, und zwar ungeachtet der Position, die es auf der Stufenleiter der Natur einnimmt. Durch eine egalisierende biozentrische Darstellung verliert der Mensch seine ihm vermeintlich zustehende zentrale Position in der Welt. Damit wird er nicht nur zu einem von vielen Lebewesen erklärt, sondern sogar zu jenem, das Schäden an der Natur hinterlässt. Auf die Frage des Sohnes, warum Gott in der Welt nicht nur ‚gute‘ Wesen geschaffen habe, antwortet der Vater, dass es dann den Menschen überhaupt nicht geben würde, weil es sich bei ihm um die „verheerendeste […] unter allen Thierarten“79 handle. 73 Zur Akkommodation vgl. Ewers, Hans-Heino: Fundamental Concepts of Children’s Literature Research. Literary and Sociological Approaches. New York 2009, S. 147–162. 74 Campe, Robinson der Jüngere, S. 169. 75 Vgl. ebd., S. 170ff. 76 Ebd., S. 171. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 172. 79 Ebd., S. 170.

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Hier entwirft Campe ein Welt- und Menschenbild, das zum einen auf der eudämonistischen Deutung der Existenz beruht, zum anderen den Menschen nicht in der Obhut Gottes, sondern ‚proto-darwinistisch‘ im Lebenskampf der Tierarten sieht. Schließlich wird die Menschheit als jene Gattung kritisiert, die sich bis jetzt unter den Lebewesen als die schlimmste erwiesen habe. Der Roman transportiert folglich ein materialistisches Weltverständnis, das dem Menschen seine anthropozentrische Position abspricht. Konsequent weitergedacht kann dieser Gedanke auch dazu führen, selbst Gott in Frage zu stellen und ihn als Schöpfer zu entmachten. Aus ebendiesem Grund sind die angeführten Textpassagen für Vranic´ so brisant gewesen, dass er sich entschied, sie nicht zu übersetzen.80 Die dritte große Textauslassung kommt im 27. Kapitel vor, in dem Robinson darüber nachdenkt, wie die Verhältnisse zwischen den Inselbewohnern, ihre Religionszugehörigkeit und die sich daraus ergebende religiöse Praxis zu regeln wären. So sind Robinson und Freitag Protestanten, der Spanier ein Katholik und Donnerstag ein Heide.81 Robinson stellt sich die Frage, ob er aufgrund des erworbenen Eigentumsrechts an der Insel nicht auch das Recht hat, seine ‚Untertanen‘ zu zwingen, jene Konfession anzunehmen, die er für die beste hält. Die Kinder erwidern diesbezüglich dem Vater, „daß einer, [der dazu] gezwungen wird, etwas zu glauben, [damit] nicht klüger und nicht besser wird“.82 Im Gegenteil, der Mensch als ein geschaffenes und deshalb unvollkommenes Wesen könne irren, weshalb Robinson zur Schlussfolgerung kommt: Verwünscht sey der vernünftige Eifer, jemanden mit Gewalt zu seinem Glauben bekehrrn zu wollen! Verwünscht die blinde Wuth, seinen Bruder zu verfolgen und zu quälen, blos weil er so unglücklich ist, zu irren, und so tugendhaft, nichts mit dem Munde bekennen zu wollen, wovon er in seinem Herzen noch nicht überzeugt ist!83

Plädiert wird hier für Religionstoleranz und Humanität. Dass man den eigenen Glauben lebt und die anderen in ihrem Glauben leben lässt, ist der leitende Grundsatz, aus dem heraus das moderne u. a. auch demokratische Gedankengut entsteht, obwohl es vielerorts durch die damals noch vorherrschenden Machtverhältnisse außer Kraft gesetzt wird. Ein freies und handlungsautonomes Individuum wie der junge Robinson war kein adäquates Erziehungsvorbild in einer ideologisch rigiden Gesellschaft, wie es die kroatische zu Vranic´s Zeit ist. Aus

80 Zu dieser Zeit wird sogar der eingangs erwähnte Zagreber Bischof Maksimilijan Vrhovac (1752–1827) beim Wiener Hof wegen seiner „Freidenkerei“ angezeigt, sodass Vranic´ bei allzu treuer Übersetzung mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen hätte. Vgl. dazu Dezˇelic´, Biskupska tiskara, S. 107–108. 81 Vgl. dazu Campe, Robinson der Jüngere, S. 363f. 82 Ebd., S. 364. 83 Ebd., S. 365.

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diesem Grund ist erklärbar, warum Vranic´ jene Textstellen in seiner Übersetzung ausklammerte, in denen religiöse Toleranz, Gleichwertigkeit aller Lebewesen und Autonomie des Menschen propagiert wird.84 Abschließend ist bezüglich der Auslassungen zu vermerken, dass Vranic´ wesentlich in die ideologische Programmatik des Romans eingriff. Durch Auslassung des Vorberichts wird den Lesern der Einblick in den breiteren kulturhistorischen und produktionsliterarischen Horizont verwehrt. Der ideelle Schwerpunkt des Romans verlagert sich durch die Kürzungen gerade dieser Textpassagen vom verantwortlichen Handeln des freien Individuums auf andere Aspekte, die im deutschen Original nicht im Vordergrund stehen. Anders als im Ausgangstext rückt die Vorstellung von der bedingungslosen Unterordnung des Menschen unter die Vorsehung Gottes ins Zentrum, sodass die kroatische Fassung reaktionärer wirkt als das deutsche Original und der kritische Impuls des Romans in der Übersetzung abgeschwächt wird. Als Fazit ist festzuhalten, dass Vranic´ mit Mlajssi Robinzon einen Initialtext vorlegte, der sicherlich als Fanal in der kroatischen Kinderliteratur fungieren könnte, hätte er eine größere Rezeption erfahren, die ihm aber trotz sorgfältiger Übersetzung nicht beschieden war. Vor allem aus Gründen der historischen Entwicklung des Kroatischen blieb er unbeachtet. Vranic´ übertrug den Text in das Kajkavische in der sogenannten Vorillyrischen Zeit,85 d. h. vor der Standardisierung des Kroatischen durch die sˇtokavische Mundart. Seine dialektale Übersetzung, die einem immer kleiner werdenden Rezeptionskreis vorbehalten war, konnte auch im ˇstokavischen Umfeld keine Nachahmung(en) mehr initiieren.

84 Wie in anderen Erbländern, die im 18. und 19. Jahrhundert unter der Herrschaft der Habsburger standen, galten auch in Kroatien die Zensurvorschriften des Wiener Hofes, die sich vor allem auf Theater, Schulwesen und Glauben bezogen. Zur theresianischen und josephinischen Zensur vgl. Wolf, Norbert Christian: Von „eingeschränkt und erzbigott“ bis „ziemlich inquisitionsmäßig“: Die Rolle der Zensur im Wiener literarischen Feld, in: Haefs, Wilhelm/ Mix, York-Gothart (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007, S. 305–330. So „blieben in Wien während der gesamten theresianischen Epoche nicht nur die radikal-aufklärerischen oder materialistischen Schriften der Zeit verboten, sondern ebenso die meisten Werke jener Autoren der französischsprachigen und deutschen Aufklärung (Voltaire, Diderot, Rousseau, Lessing, Wieland), die heute als kanonisch für die Literatur ihrer Zeit gelten. Auch Goethes Werther gelangte bald nach dem Erscheinen 1774 auf den Index (wo er bis 1786 blieb)“. Ebd., S. 316. 85 Die kulturelle, ethnische und politische Nationalbewegung der Kroaten, die als Illyrische Bewegung bezeichnet wird, findet in der Zeit zwischen 1830 und 1848 statt, als es zur kroatischen Nationsbildung im Umfeld panslawistischer Ideen kommt, die unter den im Habsburgerreich lebenden Südslawen verbreitet werden. In der Bewegung publizierte man zunächst im kajkavischen Dialekt, um sich dann der verbreiterten ijekawischen Variante der sˇtokawischen Sprachform zu bedienen. Vgl. dazu Sˇidak, Jaroslav/Grabovac, Julija/Karaman, Igor et al. (Hg.): Hrvatski narodni preporod – ilirski pokret. Zagreb 1988.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Titelseite, aus: Campe, Joachim Heinrich: Mlajssi Robinzon: iliti jedna kruto povoljna, hasnovita Pripovest za Decu. Iz nemskoga na horvatski Jezik prenessena po Antonu Vranichu. Zagreb 1796. Abb. 2: Titelseite, aus: Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Neue Auflage auf Kosten des Herausgebers der Bibliothek für Kinder und Kinderfreunde. Wien 1789.

II. Vermittlung zwischen den Kulturen

Iris Schäfer (Frankfurt am Main) / Oxane Leingang (Dortmund)

Eine deutschsprachige Jugendnovelle mit russischer Seele: Lou Andreas-Salomés Wolga

1.

Einleitung

Vom 7. Mai bis 22. August 1900 reist Lou Andreas-Salomé (1861–1937), eine der „schillerndsten Frauen der Jahrhundertwende“1, die zur ersten Psychoanalytikerin Deutschlands aufsteigen wird, mit ihrem Geliebten, Rainer Maria Rilke2, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres durch Russland. Sie fahren auf der Wolga, treffen sich mit Lev Tolstoj auf dessen Landsitz Jasnaja Poljana, erörtern soziale Fragen, besuchen Kirchen, Museen, Galerien und widmen sich ihren lyrischen Interessen. Dem in Moskau begonnenen Reisetagebuch ist zu entnehmen, welche immense Bedeutung diese aktive Wiederentdeckung ihres Heimatlandes für Andreas-Salomé – und, so ließe sich ergänzen – für ihr literarisches Werk hat.3 Auch in ihrem Lebensrückblick bilanziert sie die Reise als ein „unvergleichbares Heimatglück“, als den „Rausch des Wiedersehens mit der russischen Wirklichkeit in ihrem vollen Umfang: dicht um mich herum stellte sich dieses Volkes Land in seiner Weite, dieser Menschheit Elend, Ergebung und Erwartung; es umfing mich so überwältigend wirklich, daß ich nie wieder […] 1 Romanova, Julia: Rossija v zˇizni i trovercˇestve Lu Andreas-Salome, in: Izvestija Saratovskogo universiteta. Ser. Filologija, Zˇurnalistika 13(3)/2013, S. 75–78, hier S. 75. Russische Wörter werden grundsätzlich in der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben. Ausnahmen bilden bereits eingedeutschte Wörter, wie „Wolga“, „Trojka“, „Samowar“, und die Eigennamen. Sofern nicht explizit anders angegeben, wurden Zitate aus den russischen Quellen von Oxane Leingang übersetzt. Auf den parallelen Abdruck russischer Originalzitate wurde aus Platzgründen verzichtet. 2 Zum Sehnsuchtsort „Russland“ und dessen immenser Bedeutung für Rilke in persönlicher, künstlerischer und spiritueller Hinsicht vgl. ausführlicher Schmidt, Thomas (Hg.), unter Mitarbeit von Julia Maas: Meine geheimnisvolle Heimat. Rilke und Russland. Berlin 2020. 3 Gisela Brinker-Gabler resümiert die Intension ihrer Russlandreise treffend wie folgt: „Traveling through Russia in 1900, Andreas-Salomé looks at many icons in churches, cloisters, museums, and in peasants’ huts, immersing herself in the simplicity and directness of their expressive force, call her project […] b(u)ilding Russia with the icon.“ Brinker-Gabler, Gisela: Image in Outline. Reading Lou Andreas-Salomé. New York/London 2012, S. 83f. [Hervorhebung im Original].

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etwas von ähnlicher Stärke der Eindrücke erfuhr“.4 Das Zitat scheint auch jene „Saugkraft des [russischen] Raums“5 zu bestätigen, welcher die Reisenden und die Einheimischen gleichermaßen in den Bann zieht und, wie Andreas-Salomé und Rilke, nachhaltig beeinflusst. Die unmittelbar vor und nach diesen bedeutsamen Reisen geschriebenen jugendliterarischen Novellenzyklen Menschenkinder (1899) und Im Zwischenland (1902) zeugen von einem Kulturtransfer, der erst in jüngster Zeit im literaturwissenschaftlichen Diskurs Beachtung findet.6 Bereits Menschenkinder steht ganz im Zeichen des Aufbruchs; die Novellen spielen in Transiträumen, handeln vom Hadern mit der Identität von jugendlichen Figuren und der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts.7 Der Zyklus Im Zwischenland ist geprägt von einer nostalgisch verklärten Rückschau in die Kinderzeit und vermittelt eindrücklich die Sehnsucht nach ihrer neu entdeckten Heimat. Ungeachtet dieser intensiven Auseinandersetzung mit Russland, russischorthodoxer Kultur und Weltanschauung, erscheinen beide Novellenzyklen bislang nur auf Deutsch, Englisch und Italienisch.8 Das Œuvre der gebürtigen St. Petersburgerin9 Lou Andreas-Salomé war bis vor Kurzem in ihrer russischen Heimat nur einem kleinen Expert:innenkreis bekannt, was vor allem daran lag, dass – abgesehen von ihren Erinnerungen, der Novelle Rodinka, einem Buchkapitel und einem Aufsatz – nichts ins Russische übertragen wurde. Die wenigen vorliegenden Translate, wie etwa ihr bereits erwähnter, postum publizierter 4 Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main 1969, S. 69. 5 Neander, zit. nach Hoge-Bentler, Boris: Schreiben über Russland. Die Konstruktion von Raum, Geschichte und kultureller Identität in deutschen Erzähltexten seit 1989. Heidelberg 2012, S. 71. 6 Beispielsweise in dem von Britta Benert und Romana Weiershausen herausgegebenen transdisziplinären Sammelband: Lou Andreas-Salomé: Zwischenwege in der Moderne/Sur les chemins de traverse de la modernité. Taching am See 2019. 7 Siehe auch Schäfer, Iris: „Menschenkinder – Eine transdisziplinäre und multiperspektivische Analyse der modernen Menschenseele“, in: Lou Andreas-Salomés Menschenkinder, kommentierte Neuauflage des gleichnamigen Novellenzyklus aus dem Jahr 1899, in Zusammenarbeit mit dem Lou-Andreas-Salomé-Archiv in Göttingen. Taching am See 2017, S. 354–377. 8 Beide Novellenzyklen sind in deutscher Sprache in Stuttgart und Berlin (J.B. Gotta’schen Buchhandlung Nachfolger) erschienen. 9 Die in der Neva-Metropole geborene und bzw. oder dort erzogene St. Petersburgerinnen unterschieden sich von den Bewohnerinnen anderer Regionen durch ihre ausgeprägte Selbstachtung, Würde und Selbstgenügsamkeit sowie jene Gelassenheit, die für das Baltikum vermeintlich charakteristisch ist. Der Frauentypus der St. Petersburgerin entwickelte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts. Als Gründe gelten soziokulturelle Phänomene, wie etwa der notorisch hohe Ausländeranteil, aber vor allem der massive Männerüberschuss, der seit der Stadtgründung in 1703 bis zum heutigen Tag anhält. Dazu ausführlicher Zˇerichina, Elena: Peterburzˇenka. St. Peterburg 2017.

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Lebensrückblick (1951), kommen erst nach einer Latenzzeit von über einem halben Jahrhundert auf den Markt. In der vergangenen Dekade ist aber eine kleine Renaissance zu verzeichnen: In der Serie „Mein Lieblingsgenie“ des Moskauer Verlags Algoritm werden in einer relativ kleinen Auflage ihre Erinnerungen an Freud und Nietzsche (2016) sowie ebenfalls in einem Moskauer Kleinverlag ihre Aufzeichnungen über Rilke (2015) publiziert, was – wie so oft moniert – die Autorin ausschließlich als „Nietzsche-Interpretin, Rilke-Freundin“10 im Schatten der berühmten männlichen Zeitgenossen positioniert. Interessanterweise startet ein kleiner Provinzverlag im udmurtischen Izˇevsk 2011 die Serie „Die Werke von Lou Andreas-Salomé“, mit den Rubriken Psychoanalyse, Philosophie und Erinnerungen. „Die psychoanalytischen Texte“, so heißt es auf der Homepage des Verlags, „sind philosophisch, […] stilistisch schwierig, doch oft glänzend aphoristisch. Sie verlangen ein langsames, aufmerksames Lesen, was wir auch unseren Lesern nahelegen.“11 Bereits ein Jahrhundert zuvor plädierte Frieda von Bülow, Lou Andreas-Salomés Vertraute, für eine intensive Lektüre ihrer Werke, die „wieder und wieder“ gelesen werden müssen, um deren „ganze Fülle […] zu erfassen“.12 Diesem Prinzip folgend, wird nach einer kurzen Vorstellung der beiden Novellenzyklen im Folgenden exemplarisch die Novelle Wolga analysiert, die mit russischen Requisiten geradezu überfrachtet zu sein scheint. Es soll veranschaulicht werden, welche Motive und Symbole den russisch-deutschen Kulturtransfer in diesen jugendliterarischen Texten prägen. Insbesondere anhand der Symbolik der Birke und der Wolga, der sie auch ein Gedicht widmete,13 lässt sich konstatieren, dass Andreas-Salomé als eine der wichtigsten Mediatorinnen der russischen Kultur im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann.

10 Pechota, Lou Andreas-Salomé, S. 65. 11 Lu Andreas-Salome, sobranie trudov; http://www.ergo-izhevsk.ru/dir-h/andreas-salome_col lected-works.html [10. 06. 2021]. 12 Von Bülow zit. Pechota, Lou Andreas-Salomé, S. 51. 13 Wolga Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an, Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann. Wie meine Landschaft liegst Du um mein Leben. Hätte ich an Deinen Ufern nie geruht: Mir ist, als wüßt ich doch um Deine Weiten, Als landete mich jede Traumesflut An Deinen ungeheuren Einsamkeiten. (Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 74)

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Iris Schäfer / Oxane Leingang

2.

Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ihrer Novellen sowie deren thematische Dominanten

Der vor ihrer Russlandreise publizierte Novellenzyklus Menschenkinder14 kreist keineswegs um Kinder, wie es der Titel vermuten lassen könnte, sondern um überwiegend russischstämmige Jugendliche. Die Fokussierung auf die weibliche Adoleszenz und deren altersspezifische Problematiken – Liebe, Individuation, Identität – war im Fin de Siècle, so Cornelia Pechota, „ein Novum“.15 Erstaunlich ist auch, dass obwohl keine der zehn Novellen in Russland spielt, die russische Mentalität dennoch eine zentrale Rolle einnimmt. Besonders interessant erscheint in diesem Zyklus auch das Aufeinandertreffen von (mutmaßlich „typisch“) russischen Frauen mit geradezu klischeehaft anmutenden deutschen Männerfiguren. Die Idealisierung der russischen Frau kommt ferner in der Kontrastierung mit deutschen Frauenfiguren zum Ausdruck. So wird etwa in der finalen Novelle Zurück ans All eine vermeintlich typisch deutsche Frauenrechtlerin geradezu verhöhnt: Korpulent und resolut, mit Fahrrad, modischen Pumphosen und einer Kurzhaarfrisur ausgestattet, steht sie den grazilen russischen Frauenfiguren diametral entgegen, wie beispielsweise der studierten Medizinerin Marfa Matwejewna aus Ein Wiedersehen oder der überaus femininen Journalistin Anjuta Ssapogina aus Inkognito, die in den Vereinen deutscher Frauenrechtlerinnen Reden hält, „die meist u¨ ber das hinausschossen, was die deutsche Frauenemanzipation sich gestattet“16, und feststellen muss, dass „man gerade den deutschen Frauen am ehesten jede kleinste ihrer Emanzipationen in ihrem äußeren Gebaren ansah.“17 Während die Novellen aus dem drei Jahre später erschienenen Zyklus Im Zwischenland die kindliche bzw. jugendliche Orientierungssuche und erste Anpassungsversuche an die erwachsene Gesellschaft thematisieren, geht es in Menschenkinder um Ideale und (Ent-)Täuschungen in Liebesangelegenheiten. 14 Zur Entstehungsgeschichte: Die beiden in Göttingen vorhandenen handschriftlichen Manuskripte von Abteilung: Innere Männer und Vor dem Erwachen sind auf das Jahr 1895 datiert. Ihren bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass AndreasSalomé am 14. August 1897 mit der Novelle Ein Wiedersehen und am 20. August desselben Jahres mit Inkognito begonnen hat (beendet wurde diese Novelle am 26. Dezember 1897). Insbesondere der Jahreswechsel 1897/1898 schien der Arbeit an den Novellen gewidmet. Am 28. und 29. Dezember befasste sich Andreas-Salomé mit der Novelle Ein Todesfall, am 1. Januar des Jahres 1898 nahm sie die Arbeit an Ein Wiedersehen wieder auf. Am 7. Januar 1898 lautet der Eintrag: „Zuru¨ck ans All u¨ berlegt“. So ist lediglich der Entstehungszeitraum der Novellen Mädchenreigen, Unterwegs und Das Paradies ungewiss. Vgl. Schäfer, Menschenkinder, S. 357; sowie Wernz, Birgit: Sub-Versionen. Weiblichkeitsentwürfe in den Erzähltexten Lou Andreas-Salomés. Pfaffenweiler 1997, S. 97. 15 Pechota, Lou Andreas-Salomé, S. 53. 16 Schäfer, Lou Andreas-Salomés Menschenkinder, S. 203. 17 Ebd.

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Die russischen Frauenfiguren zeichnen sich in dieser Hinsicht dadurch aus, dass sie zwar kurzlebige romantische Sehnsüchte entwickeln (wie etwa Anjuta), aber schlussendlich ihrer beruflichen Pflicht nachgehen und die Ratio demnach stärker gewichten als die Libido. Im zeithistorischen Kontext betrachtet, bedeutet dies keineswegs, dass sie ausschließlich selbstlos handeln, hatten doch junge Frauen um 1900 lediglich die Wahl zwischen der Selbstverwirklichung (Emanzipation) oder der Abhängigkeit. Die russischen Frauenfiguren aus Menschenkinder tauschen die Aussicht auf Ehe und Mutterschaft überwiegend gegen ein unabhängiges, wenn auch einsames Leben ein. So ist es in der Novelle Mädchenreigen nicht zufällig eine deutsche Protagonistin, die zunächst ausgesprochen emanzipiert wirkt, ihr Ziel, Jura zu studieren, um die Rechte von Frauen zu vertreten, jedoch bei erster Gelegenheit aufgibt. Auch in Das Paradies ist es eine junge, deutsch-französische Frauenfigur, die in der Hochzeitsnacht zurück zu ihrer Mutter flieht, aber schließlich von ihrem Cousin ‚verführt‘ wird und sich schlussendlich weder emanzipiert noch als eigenständig erweist. Ihren russischen Frauenfiguren mutet Lou Andreas-Salomé derartig abrupte Sinneswandel nicht zu – zumindest nicht in diesem ersten Novellenzyklus. Sie erweisen sich als scharfsinniger als die Frauenfiguren anderer Nationen, da sie die eigensinnige Motivation potentieller Liebespartner durchschauen. Sowohl im Aufeinandertreffen der emanzipierten Journalistin Anjuta mit dem deutschen Erwin in Inkognito als auch in der Auseinandersetzung zwischen der Medizinerin Marfa und Saitzew in Ein Wiedersehen wird dies deutlich. Als Aktivist hatte Saitzew durch seine Reden die junge Russin vor geraumer Zeit zur Aufnahme eines Medizinstudiums veranlasst, um in der ostrussischen Steppe wohltätige Arbeit zu leisten. Nachdem sie jahrelang zum Wohle des russischen Volkes harte Arbeit verrichtete, treffen sie in einem Wiener Hotel aufeinander. Der ehemalige Aktivist erscheint jetzt als bequemer Lebemann, der sich in seinem Erfolg sonnt, und nun, da seine Tochter verheiratet und seine Frau verstorben ist, die günstige Gelegenheit nutzen möchte, Marfa für sich zu gewinnen. Diese gerät jedoch nur kurz aus der Fassung und lässt ihn schließlich alleine zurück, um ihren beruflichen Pflichten nachzukommen. Saitzews finale Reflexionen veranschaulichen die Ambivalenz dieses Pflichtgefühls und die unüberwindbare Kluft zwischen den Geschlechtern: „Wie dumm, wie lächerlich ist im Grunde das alles! Ihr Dasein, ihr ganzes Dasein führte sie doch nur auf meine Suggestion hin, weil ich es so wollte. Weil wir uns nicht angehören konnten. Und nun steht mir nichts im Wege als meine eigne Suggestion.“18 Die männlichen Figuren dieses Novellenzyklus verbinden – ungeachtet ihrer Herkunft – häufig Bequemlichkeit, antiquierte Ansichten und Selbstsucht, während sich die russischen Protagonistinnen von den Frauenfiguren anderer Nationen durch ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, Ehr18 Ebd., S. 156.

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geiz, Scharfsinn sowie die Tugenden des Frauentypus der St. Petersburgerin19 unterscheiden, nämlich Selbstachtung, Würde und Selbstgenügsamkeit. Das prompt nach ihrer zweiten Russlandreise im Jahr 1902 erschienene Werk (Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen) hat Lou Andreas-Salomé im dezidiert nostalgischen Gestus – „zur Erinnerung an unsere Kindheit“ – ihrer Freundin „Frau Konsul Emma Flörke, geb. Wilm“ zugeeignet. Sämtliche der hier versammelten fünf Novellen spielen in Russland; die kindlichen Figuren sind mit russischen Namen versehen. Wie die Widmung bereits vermuten lässt, sind diese Erzählungen autobiographisch fundiert und in ihrem Geburtsland verortet. Russische Traditionen und die russische Gesinnung, die ebenfalls eine signifikante Rolle spielen, wirken mitunter geradezu idealisiert. Die Erzählungen problematisieren – wie im Untertitel bereits programmatisch ausgeführt – das Seelenleben der kindlichen und jugendlichen Figuren. Deren Alter steigt chronologisch: So ist Musja, die Heldin der Auftaktgeschichte, zehn Jahre alt, während Ljubow, mit deren Wolga-Reise der Band schließt, bereits 16 Jahre alt ist. Die etwa 13-jährigen Protagonistinnen der mittleren Novellen – Ria, Lisa und das Geschwisterduo Mascha und Dascha – erleben Desillusionierungen in der Beziehung zu ihren Familienmitgliedern und insbesondere hinsichtlich der kindlich-romantisch verklärten Vorstellung von der Ehe. Mit Ausnahme der finalen Novelle lassen sie sich allesamt als eindringliche Warngeschichten lesen, die jungen Mädchen die Augen öffnen sollen.20 Auch in der Novelle Wolga, die im Folgenden im Fokus steht, wird das eigentliche Thema bereits mit dem sprechenden Vornamen der Protagonistin – Ljubow (dt. Liebe) – intoniert.21 Wie die anderen Kardinaltugenden Vera (dt. Glaube) und Nadezˇda (dt. Hoffnung) zählte Ljubow zu den beliebtesten russischen Frauenvornamen. Die Relevanz der Liebesmotivik lässt sich unter anderem auch an der Tatsache ablesen, dass ihr Vorname im Textverlauf seine Dignität behält und nicht – wie im Russischen sonst üblich – zum jargonaljovialen Diminutiv Ljuba infantilisiert wird. Im Gegensatz zu der Protagonistin 19 Vgl. Zˇerichina, Peterburzˇenka, 2017. 20 Auch in dieser Hinsicht böten sich Bezüge zur Biographie der Autorin an, womit jedoch der Rahmen und Fokus des vorliegenden Beitrags überstrapaziert werden würde. Verwiesen sei daher beispielhaft auf Ursula Welschs und Dorothee Pfeiffers: Lou Andreas-Salomé. Eine Bildbiographie. Leipzig 2006. 21 Wie Karin Schütz ausführt, ist hierin auch eine Verbindung zur Novelle Vaters Kind aus Im Zwischenland zu sehen, in welcher der Hund der Protagonistin „Love“ getauft und – bezeichnenderweise – vom Vater der Protagonistin vor ihren Augen getötet wird. Die Abhängigkeit weiblicher Liebe von männlichen Autoritätsfiguren, die sich durch gewaltsames Handeln auszeichnen, bildet demnach eine thematische Konstante innerhalb dieses Novellenzyklus. Vgl. Schütz, Katrin: Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou AndreasSalomé unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtertheorie. Würzburg 2008, S. 119.

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werden ihre gleichaltrigen Pensionatsfreundinnen, die in einer Traumsequenz auftauchen, in Koseformen Lisotschka (von Elizaveta), Dascha (von Daria) oder Mascha (von Maria) angesprochen, was eine Art Demarkationslinie zwischen der unbeschwerten Kindheit und dem Erwachsensein bildet. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die 16-jährige Ljubow stets mit einem in der russischen Kultur üblichen rituellen Höflichkeitsidiom, dem respektsgebietenden Patronymikon Wassiljewna, angesprochen wird. Ljubow unternimmt einen Ausflug22 zu Wasser auf der mittleren Wolga zum Kaspischen Meer und passiert auf ihrem Weg von Nizˇnij Novgorod nach Astrachan’ die Stationen Kazan’, Simbirsk und Samara. Im Salon der ersten Klasse trifft sie den dicklichen jungen Aristokraten Alescha Murawiew, „ein[en] Junker, Zögling eines Petersburger Adelsinstituts23“, der ihr Avancen macht. Unterwegs steigt der Arzt Valdevenen zu, der zum Initiator ihres sexuellen Erwachens wird.24 Dr. Valdevenen spricht „deutsch und russisch und schwedisch und finnisch und tatarisch – ein Arzt und man sollte denken: ein Sprachgelehrter“.25 Dass es sich bei dem Arzt ausgerechnet um einen offensichtlich deutschstämmigen Ausländer handelt, wohl einen Deutschfinnen, ist nicht zufällig, gehörte doch das russische Gesundheitswesen seit dem 17. Jahrhundert zu den deutschen Domänen.26 Deutsche reüssierten als Hof- bzw. Leibärzte und waren maßgeblich am Aufbau von Krankenhäusern, Hospitälern und medizinischen Schulen im Zarenreich beteiligt.27 Mit Valdevenen rekurriert Andreas-

22 Ljubow ist mit einem touristischen Reiseführer ausgestattet, aus dem sie gern zitiert: „Nischni Nowgorod, auch Nischerogod genannt, an der Mündung der Oka und der Wolga gelegen, Festung und Kreml einige dreißig Fuß über den Strömen. Einwohner 44.200, berühmte Messen im Juli und August“, vgl. Andreas-Salomé, Wolga, S. 279. Seit 1862 gaben die drei Schiff-Fahrtsgesellschaften Reiseführer im „Tonfall objektiver Wahrnehmung“ heraus, die in komprimierter Form zahlreiche hydrographische Informationen enthielten. Darüber hinaus beschrieben sie die am Ufer lebenden Völker sowie wichtige historische Ereignisse und boten Städteportraits an. Vgl. Hausmann, Guido: Mütterchen Wolga: Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2009, S. 368f. 23 Andreas-Salomé, Wolga, S. 306. 24 Vgl. Schütz, Geschlechterentwürfe, S. 119f. 25 Andreas-Salomé, Wolga, S. 286. 26 Mit den petrinischen Reformen kristallisierten sich aus administrativen, diplomatischen und sozioökonomischen Gründen insgesamt elf bilinguale Sphären in Russland heraus, welche die Europäisierung indizieren: die russische Armee, in der Deutsch aufgrund der Omnipräsenz deutscher bzw. deutsch-baltischer Offiziere die Kommandosprache wurde, der Bergbau, der mithilfe des Technologietransfers aus Deutschland neu konstituiert werden sollte sowie das Gesundheitswesen, in dem bereits seit dem 16. Jahrhundert deutsche Ärzte tonangebend waren. Vgl. dazu die herausragende Studie von Koch, Kristine: Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Fremdsprachenlernens in Europa und zu den deutsch-russischen Beziehungen. Berlin/New York 2002. 27 Ebd., S. 64f.

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Salomé auf die literarische Galerie der deutschsprachigen Ärzte, die auch die Werke von Gogol’ und Dostoevskij bevölkern.28 Dass die bilinguale Protagonistin, eine mutterlose „Deutschrussin“29, ausgerechnet aus der Zarenmetropole St. Petersburg kommt, ist auch nicht zufällig, machte doch die dortige deutsche Kolonie die größte des Zarenreichs (7 % der Stadtbevölkerung) aus.30 Durch das Patronymikon Wassiljewna, von dem urrussischen, nach Iwan (Ivan) zweithäufigsten Vornamen Wassilij (Vasilij) abgeleitet, wird nicht nur ihre vollständige Assimilierung markiert, sondern subtextuell auch das Imagem von den radebrechenden Deutschen in der russischen Literatur und Kultur demontiert. Ljubow fühlt sich mehreren Nationen zugehörig und ist sich der eigenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit durchaus bewusst. So wird ihre depressive Stimmung nach dem Weggang von Valdevenen wie folgt erklärt: „Weil sie mit keinem mehr deutsch reden kann!“31

3.

Wolga

Aufgrund ihrer zentralen Lage ist die Wolga, mit über 3.500 Kilometern der längste Fluss Europas, seit jeher die Verkehrsader und der Handelsweg Russlands. Mehr noch: Sie ist ein emotionalisierter, „symbolisch-metaphorischer Bezugspunkt patriotischer Empfindungen“.32 Vom Urslavischen Vьlga (Vologa) abgeleitet, so die communis opinio, steht der Name für „Nässe, Feuchte, Flüssigkeit.“33 Die Bedeutung dieses weiblich gedachten Flusses wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umcodiert.34 Manifestiert wurde die Wichtigkeit Wolgas 28 In Revisor von Nikolaj Gogol tritt der kauzige, schweigsame deutsche Arzt Christian Gibner auf, dessen sprechender Name etymologisch im russischen Verbum gibnut’ für „verunglücken, absterben, eingehen“ steckt. Auch die Ärzte in Dostoevskijs Werken – so etwa Rutenspitz (Rutensˇpitz) aus Der Doppelgänger (Dvojnik) (1849/1861–64) und Herzensstube (Gerzensˇtube) aus Die Brüder Karamasov (Brat’ja Karamasovy) (1879/80) – lassen sich als Postfigurationen Gibners lesen. Siehe auch Potthoff, Wilfried: Deutsche und Deutschland in der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Dahlmann, Dittmar/Potthoff, Wilfried (Hg.): Deutschland und Rußland. Aspekte kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2004, S. 143–168. 29 Andreas-Salomé, Wolga, S. 295. 30 Zernack zit. nach Jahn, Hubertus F.: Das Fenster nach Rußland, in: Dahlmann/Potthoff (Hg.), Deutschland und Rußland, S. 13–28, hier S. 14. 31 Andreas-Salomé, Wolga, S. 338. 32 Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 607. 33 Toporov, V. N.: Esˇcˇe raz o nazvanii Volga, in: Studia Slavica, k 80-letiju Samuila Borisovicˇa Bernsˇtejna. Moskva 1991, S. 47–62, hier S. 47. 34 Um die Gemeinschaft der Rechtgläubigen zu konsolidieren, sakralisierte die russisch-orthodoxe Kirche die Wolga als Jordan. Während der Aufklärung avancierte sie als die ideologisierte „Arterie Russlands“ zum nationalen Identifikationssymbol; die Wolga-Fahrten der

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vor allem in der Folklore um den Kosakenführer Stepan Razin, hier insbesondere aufgrund der volkstümlichen Vorstellung von der Weite des Flusses als Wahrzeichen für Freiheit,35 sowie in den Liedern der Wolga-Treidler, in denen bereits seit dem 18. Jahrhundert die liebevolle Bezeichnung „Mütterchen Wolga“ überliefert ist und in denen der Fluss selbst als Schutzgeist Russlands fungiert.36 Auch im sowjetischen Liedgut wurde die Wolga mit Mutter assoziiert. „Die Volksschönheit, so wasserreich wie ein Meer, wie die Heimat – frei, weit, tief und stark“, lautet der Refrain eines populären Liedes aus dem Spielfilmklassiker WOLGA-WOLGA der späten 1930er-Jahre.37 Die touristischen Fahrten auf „kleine[n], elegante[n] Nußschalen, Passagierdampferchen“38, wie es bei Andreas-Salomé heißt, galten vor dem Ersten Weltkrieg als ein sozial exklusiver Zeitvertreib. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich drei große Aktiengesellschaften, die, ausgestattet mit modernen Schiffen, den Fracht- und Passagierverkehr auf der Wolga unter sich aufteilten.39 Bei der im Werk erwähnten „Kawkas und Merkuri“ (Kavkaz i Merkurij) handelt es sich um eine 1849 gegründete und auf der Wolga sowie ihren rechten und linken Nebenflüssen, Oka und Kama, operierende Schiff-Fahrtsgesellschaft, die 1858 mit einer Gesellschaft vom Kaspischen Meer fusionierte.40 Die Flotte von „Kawkas und Merkuri“, schreibt der russische Historiker Gleb Aleksjusˇin, wurde von komfortliebenden, wohlhabenden Passagieren – von den Gutsbesitzern, Offizieren im Ruhestand und Kaufleuten – frequentiert. „Die großweltlichen Damen wählten die Schiffe aufgrund der illustren Gesellschaft, der luxuriösen Ausstattung und der vielfältigen Innovationen“,41 die Verpflegung sei exzellent gewesen und auch die Pünktlichkeit des Fahrplans wurde strikt eingehalten. Die antike Kosmogonie bzw. die biblische Genesis (1. Mose, 6–7) zitierend, wird die Wolga bei Andreas-Salomé als Ort der Entgrenzung, der Auflösung, des Einklangs mit der sie umgebenden Natur inszeniert:

35 36 37 38 39 40

41

Zaren sollten die imperialen Machtansprüche des Reiches dokumentieren. Vgl. Hausmann, Mütterchen Wolga, S. 110–162. Ebd., S. 318–349. Dazu ausführlicher ebd., S. 242–317. ˇ eljabinsk 2003, S. 19. Zit. nach Kljueva, Natal’ja (Hg.): Pesni sovetskogo kino. C Andreas-Salomé, Lou: „Wolga“, in: Benert, Britta (Hg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen. Taching am See 2013, S. 276–341, hier S. 276. Hausmann, Mütterchen Wolga, S. 360. Ebd., S. 356. Als erste Gesellschaft führte „Kawkas und Merkuri“ (Kavkaz i Merkurij) 1871 die neuen Dampfschiffe amerikanischen Typus ein. Dank ihrer Schnellverbindung zwischen Nizˇnij Novgorod und Astrachan’ monopolisierte sie den Verkehr der unteren Wolga. Ebd., S. 361. Aleksjusˇin, Gleb: „Parochodstvo ‚Kavkaz i Merkurij‘. 2 krupnejsˇee po Volge“; http://www.ria samara.ru/rus/samara/about/31451/article31992.shtml [10. 06. 2021].

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Eine Welt uranfänglicher Schöpfung, – riesiger, weniger und einfacher Formen. Der Himmel und die Erde und die Wasser stehen da, wie eben erst gelöst aus ihrer Umarmung, wie umrissen von einer einzigen, ihnen allen gemeinsamen Grundlinie und hingestellt, nackt und noch unbelebt, vor das Angesicht Gottes, unfähig, von etwas anderem Zeugnis abzulegen als von unermeßlicher Größe.42

Immer wieder rückt Andreas-Salomé die stereotype, unermesslich-unmessbare russische Raumweite, eine „Hauptkomponente des westlichen und russländischen Russland-Mythos“43 in den Blick. Die Wolga-Fahrt per se avanciert nicht nur zu einer ästhetischen Erfahrung, die in den Beschreibungen des imposanten Flusses und magisch-malerischer Landschaften gespiegelt wird, sondern auch zu einer sozialdistinktiven, ethnographischen Milieustudie und einem reflexiven Erlebnis. Der Zugfahrt nicht unähnlich, eröffnet die Flussfahrt der adoleszenten Protagonistin die Möglichkeiten der Geselligkeit sowie des Rückzugs und der Selbstbesinnung. Die insulare Abgeschlossenheit des kleinen Dampfers bietet dabei einen starken Kontrast zu der vorhergehenden und der darauffolgenden Existenz an Land. Als Schutzbefohlene des Kapitäns von „Zcar [sic!] Saltan“ erhält Ljubow auch Zugang in die zweite und dritte Klasse, was zwar rein äußerlich die Permeabilität der Räume suggeriert, gleichzeitig aber auch das Schiff als eine hierarchische Gesellschaft en miniature bestätigt. Die dem Reisemotiv inhärente Parallelisierung des zurückgelegten Weges mit der Entwicklung vom Mädchen zur Frau ist hier besonders interessant. Die psychischen Herausforderungen dieser Adoleszenz-Reise veranschaulichen die Träume Ljubows. Kontrastiert wird der romantisierende Blick der adoleszenten Protagonistin durch die pessimistischen und rationalen Ansichten des Arztes, der von ihr fasziniert ist, sodass die Opposition von einer als märchenhaft erscheinenden Kinderwelt zum erwachsenen Logos, aber auch von weiblichem Liebesobjekt und männlicher Begierde fokussiert werden. Die rationale, kühle Welt der Erwachsenen erscheint hier keineswegs als statisch. Valdevenen ist sich unsicher darüber, ob er Ljubow als Kind oder als Frau begegnen soll. Zunächst möchte er ihre jugendliche Frische konservieren und betrachtet sie als Kind, bittet sogar darum, dass sie dem zustimmt, denn: „…Sie [sollten] mich nicht auch noch bitten, zu Ihnen zu sprechen wie zu einer Erwachsenen, Gereiften, – im Gegenteil sollten Sie mir sagen: geh du deiner Wege und reiß mich nicht aus dem Kinderschlaf. Tu mir nichts an, – nein, laß mich träumen und schlummern.“44 Mit seinen Schilderungen von einem Dasein, von dem Ljubow bisher nichts wusste, befördert er sie in eine Art Halbschlaf, was durch Reflexionen wie: „War sie

42 Andreas-Salomé, Wolga, S. 276. 43 Zˇdanova zit. nach Hoge-Bentler, Schreiben über Russland, S. 69. 44 Andreas-Salomé, Wolga, S. 327.

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vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“45 oder „Geschlafen hatte sie wohl nicht, aber auch nicht gewacht…“46 deutlich wird. Dem Dornröschen-Prinzip entsprechend, überführt sie jedoch erst der Kuss Valdevenens in die Erlebniswelt der Erwachsenen. Während sie sich küssen, umschließt sie Nebel, womit auf den Brunnentraum Ljubows bzw. ein Märchen aus ihren Kindheitstagen rekurriert wird, in welchem sich die verzauberte Prinzessin im Nichts auflöst. Im Zuge dessen büßt Ljubow ihre kindliche, traumgleiche Phantasie ein, und „die Welt entstand […], und es war, als entstehe sie zum allerersten Male.“47 Ljubow sieht die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, vielmehr verliert sie völlig das Interesse an der Landschaft und ist nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich.48 Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen auch, auf sich selbst fixiert. Sie wird jedoch ihrerseits von der Natur betrachtet.49 Der Fokus verändert sich: „Aus großen, ruhigen Augen schaute die Landschaft dem Menschenkinde auf dem Schiffchen zu, … während der Strom weiterströmte, stetig und unaufhaltsam weiter – zum Meer – und Stunde um Stunde weiter zu ihrem Meer – zur Ewigkeit.“50 Präsent ist hier der Salomé’sche Narzissmus, den Chantal Gahlinger in ihrer Analyse von Wolga diagnostiziert.51 Auf der narratologischen Ebene wird der Narzissmus dadurch veranschaulicht, dass sich der Blick auf die Figur entfernt. War es zum Beginn der Novelle Ljubows Blick, durch den die Lesenden die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, ist es am Ende die Landschaft selbst, welche die Figur betrachtet. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang vom „Blickpunkt Gottes“52 bzw. einer Fokusverlagerung, die an filmische Erzählverfahren erinnert. Als Schauraum der Provinz und Projektionsfläche des Slavophilen inszeniert Andreas-Salomé die Wolga im scharfen Kontrast zur Grandeur der mondänen, westlich konnotierten Zarenmetropole St. Petersburg und der repräsentativen, 45 46 47 48 49

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Ebd., S. 319. Ebd., S. 336. Ebd., S. 337. Dabei gilt diese Strecke, an der der Fluss die Hügel aus hartem Kalkstein in einem großen Bogen umgeht und durch zerklüftete Berge, Schluchten und fruchtbare Täler mäandert, als die schönste der Wolga-Fahrten. Vgl. Hausmann, Mütterchen Wolga, S. 388. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Ljubow ihre Individualität verliere. Vgl. Gahlinger, Chantal: Der Weg zur weiblichen Autonomie. Zur Psychologie der Selbstwerdung im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé. Frankfurt am Main/Bern 2001, S. 170. Andreas-Salomé, Wolga, S. 339f. Vgl. Gahlinger, Der Weg zur weiblichen Autonomie, S. 165. Ebd., S. 171.

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mehrfach erwähnten Sommerresidenz Peterhof, jenen architektonischen Wahrzeichen der radikalen Reformen von Peter dem Großen, die das Land modernisieren bzw. europäisieren sollten. Durch die ethnographischen Darstellungen von verschiedenen Nationalitäten, die das ethnische Spektrum der Novelle verdeutlichen – von „Zigeunerfamilie[n]“53 oder Tataren als pittoreskfarbige Erscheinungen, wird die Wolga aus einer explizit europäischen Sicht auch als ein nicht russischer Raum entworfen, in dem man oft nur gebrochen oder gar kein Russisch spricht. Zusammen mit Dr. Valdevenen besucht Ljubow eine Moschee im tatarischen Kazan, dem geistigen Zentrum des modernen, westlich orientierten Islams.54 Sie fühlt sich in die Märchenkulissen von „Tausend und eine Nacht“55 versetzt und lässt sich nach dem „ungewohnten und ausgiebigen Genuß gegorener Stutenmilch“56, eines säuerlichen, leicht alkoholischen Nationalgetränks der Hirtennomaden, medizinisch versorgen, was die latente Gefahr des Mongolischen banalisiert. Weitere turksprachige Ethnien des Wolga-Bassins – Tschuwaschen, Kirgisen, Baschkiren – und sogar ein „Kameltreiber mit Kamel“57 tauchen auf den Postkarten auf, die Ljubow an ihre Pensionatsfreundinnen schreibt. Die topologische Dichotomie „Russland – Westen“, „Okzident – Orient“, bis dahin subtil mitgeführt, wird so auf einen abstrakten Nenner gebracht und die Wolga als Symbol des Kulturzusammenpralls bestätigt. Auf diese Weise wird zum einen der multiethnischen Beschaffung des Zarenreichs Rechnung getragen. Zum anderen stellt der Subtext die orientalische58 Komponente des historischen Antislavismus in Frage, wonach Russland für Westeuropa im schlimmsten Fall ein „skythisch-tatarische[s] Irgendwo“, im besten Fall eine „Tabula rasa“ war.59 Das Asiatentum der Russen, das dem russischen Selbstver53 Andreas-Salomé, Wolga, S. 281. 54 Die Kasan-Tataren profitieren immens von der russischen, sowohl kommerziellen als auch militärischen Expansion ins südliche Uralgebirge, ins westliche Sibirien und in die semiariden Steppen Kasachstans. Dank der Kollaboration mit dem Zarenreich konnten sie sich als geistige Führer der russischen Muslime etablieren. Siehe dazu ausführlicher Ross, Danielle: Tatar Impire. Kazan’s Muslims and the Making of Imperial Russia. Bloomington 2020. Komprimiert zur Annexion der Khanate Astrachan’ und Kazan’ siehe Kappeler, Andreas: Rußland als Vielvölkerstaat. Entstehung – Geschichte – Zerfall. Frankfurt am Main 1992, S. 42–45. 55 Andreas-Salomé, Wolga, S. 302. 56 Ebd., S. 299. 57 Ebd., S. 319. 58 „Oft fragten wir uns unterwegs“, erinnerte sich Lou Andreas-Salomé im Lebensrückblick, „ob eine weiterreichende Reise ins Asiatische uns erst recht dies ‚Russische in Reinkultur‘ erschlossen haben würde.“ Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 70. 59 Lehmann-Carli, Gabriela: Tabuzonen – Kulturkonzepte – „politisch Korrektes“. Historische und aktuelle Problemfelder im Umgang des Westens mit Russland, in: Mäder, Marie-Therese/ Metzger, Chantal/Neubert, Stefanie et al. (Hg.): Brücken bauen. Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive. Festschrift für Dorothee Röseberg zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2016, S. 293–305, hier S. 299. Siehe dazu auch Klug, Ekkehard: Das

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ständnis geradezu entgegensteht und das auch Andreas-Salomé implizit problematisiert, wurde im Ersten Weltkrieg und während der NS-Zeit als Bedrohungspropagem aktualisiert und tauchte jüngst in Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010) auf, dessen Titelheld ein „Russe mit Mongolenaugen“ ist.60 Auch der Name des Dampfschiffes „Zcar Saltan“ ist nicht zufällig gewählt. Er rekurriert auf das maritime Märchenpoem vom Zaren Saltan von Aleksandr Pusˇkin aus dem Jahre 1832. Basiles La Penta mano-mozza (Penta ohne Hände) und zahlreichen weiteren westeuropäischen Quellen61 nicht unähnlich, spielt sich die Handlung fast gänzlich auf dem Meer ab.62 Interessant in diesem Kontext ist auch die Bezeichnung „Saltan“, eine Variation des Wortes „Sultan“. „Zar Saltan“, die offiziell diplomatische, altrussische Anrede für das Oberhaupt eines islamischen Reiches, betont im Falle von Andreas-Salomés Wolga den orientalischen Subtext der Erzählung. Über die konsequente Falschschreibung der Titelbezeichnung „Zcar“, eines der ersten Russizismen63 der deutschen Sprache überhaupt, lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise handelt es sich dabei um die – wiederum falsch geschriebene – Bezeichnung „Czar“, wie sie in der britischen Orthographie des 18. und 19. Jahrhunderts üblich war.

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„asiatische“ Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: Historische Zeitschrift 245/1987, S. 265–289. Der „Scheißmongole“ (S. 55) hat „extrem hohe Wangenknochen und statt Augen Schlitze“ (S. 47) und sieht aus „wie ein Mongole, und man wusste nie, wo er damit hingucke“ (ebd.). Herrndorf, Wolfgang: Tschick. Roman. Illustriert von Laura Olschok. Frankfurt am Main 2016. Dazu stellvertretend Hoge-Benteler, Boris: Metakonstruktionen. Zu Möglichkeiten des Umgangs mit problematischen Russland-/Russendarstellungen in der jüngsten deutschen Erzählliteratur am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Tschick, in: kjl&m 2/2015, S. 33–42. Als Prätexte, deren Sujets und Motive Pusˇkin kombinierte, gelten unter anderem Madame d’Aulnoys La Princess Belle-Etoile et le Prince Chéri, Le Dauphin, Belle-Belle, ou le Chevalier Fortuné sowie orientalische, von M. Galland übersetzte Märchen aus seiner mehrbändigen Bibliothéque universelle des romans (1775–1789). Dazu stellvertretend Vlasov, Sergej: Nekotorye francuzkie i ital’janskie paralleli k „Skazke o Care Saltane“ A. S. Pusˇkina vo „Vseobsˇcˇej biblioteke romanov“ (1785–1789), in: Mir russkogo slova 3/2013, S. 67–74. Auf Betreiben ihrer intriganten Schwestern wird die junge Zarin mit dem neugeborenen Gvidon in einem Fass der Willkür der Wellen ausgesetzt. Binnen Kurzem zu einem Recken herangewachsen und auf einer einsamen Insel gestrandet, befreit Gvidon die verwunschene Schwanenprinzessin und wird zum Insulanerfürsten erhoben. Kaufleute fahren auf ihren Handelsschiffen hin und her und übermitteln die Nachrichten an den Zaren Saltan von seinem unbekannten Sohn. Zu den einigen wenigen Russizismen im Deutschen, wie etwa Rubel, Samowar oder Troika siehe ausführlicher Ostmann, Irina: Russizismen in der deutschen Sprache. Frankfurt am Main 2014.

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4.

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Die Birke

„[R]iesige Birken, Urwaldbirken, heben ihre weißlichen Stämme in leuchtender Nacktheit aus dem Bade im Strom“64: Immer wieder geraten filigrane Birken (russ. bereza) oder lichtdurchflutete Birkenhaine am Wolga-Ufer ins Blickfeld der Protagonistin Ljubow. Diese exzessive Fokussierung ist nicht zufällig, gilt doch die Birke als ein „poetisches Symbol Russlands“ und sein „Liederbaum“.65 Mehr noch: Sie steht sinnbildlich für „das Zuhause, die Familie, die Frau ( junge Frau, Braut), die jungfräuliche Reinheit, die Treue.“66 Relevant für die nationale Symbolbildung ist vor allem die Tatsache, dass die Birke zu einer der häufigsten Baumarten Russlands gehört, was sich auch in zahlreichen Toponymen, Hydronymen und Familiennamen spiegelt. Insbesondere im heidnischen Baumkult der altrussischen Kultur spielt die Birke als Pflanzensymbol eine prominente Rolle. „Die Birke behütete das ganze Leben des russischen Menschen“, heißt es im einschlägigen historisch-etymologischen Wörterbuch. „Sie erhellte mit den Spänen seine Behausung, wärmte ihn mit den Holzscheiten, wusch ihn mit den Birkenzweigen im Dampfbad, heilte ihn mit dem Birkensaft, der seit je als Delikatesse und Heilgetränk geschätzt wurde.“67 Aus der geschmeidigen, lederartigen Rinde junger Birken stellte man im alten Russland Geschirr, Körbe und Schuhe her. Als häufig einziges Schreibmaterial diente sie als „russischer Papyrus“.68 Das stark riechende, rauchig-harzige Birkenteeröl, traditionell zur Lederbehandlung verwendet, avancierte auch zu der vermeintlich russischen, die derbe Ledernote imitierende Ingredienz der Duftfamilie Russian Leather bzw. Creed Cuir de Russie.69 Die biegsamen, blätterlosen Birkenruten waren als Züchtigungsinstrument äußerst beliebt: „Gott erschuf den Dummen, Gott erschuf auch die Birke“ lautet ein bekanntes Sprichwort.70 Eine herausragende Rolle spielt die Birke auch in der (alt-)russischen Folklore mit ihren zahlreichen Bauernregeln und Sitten sowie in der (naturmagischen) Lyrik, im Volkslied und Märchen. So verwundert es nicht, dass Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der die Birken liebt

64 Andreas-Salomé, Wolga, S. 278. 65 Sergeeva, Ol’ga: Koncept „bereza“ v russkoj jazykovoj kartine mira, in: Vestnik Omskogo universiteta 2/2012, S. 442–450, hier S. 450. 66 Ebd. 67 Birich, Aleksandr: Russkaja frazeologija. Istoriko-etimologicˇeskij slovar: okolo 600 frazeologismov. Tekst. Aleksandr Birich, Valerij Mokienko, Ludmila Stepanova, pod. red. Valerija Mokienko. Moskva 32005, S. 49. 68 Sergeeva, Koncept „bereza“, S. 446. 69 So etwa das Unisexparfüm Birch Tar and Russian Leather (2020) von Matthew Meleg. 70 Sergeeva, Koncept „bereza“, S. 446.

Eine deutschsprachige Jugendnovelle mit russischer Seele

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(2012) 71 diese affektive Verbundenheit – zumindest im Titel – als ein genuin russisches Autostereotyp bestätigt, um die evozierte nationale Romantik zugunsten der Vorstellung einer global orientierten, transnational denkenden Generation aufzugeben. Das Birkenlaub wird in einem Atemzug mit dem zarten, frisch wachsenden Grün des Frühlings genannt. Bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts hieß sogar der April, der erste Monat des neuen Vegetationszyklus, ‚berezozol‘, was sich mit „birkengrün“ übersetzen lässt und Vitalität bzw. Frische suggeriert.72 Aufgrund ihres schlanken Wuchses, ihrer Grazie und der grün-weißen Farbsymbolik wurden die Birken in ihrer Emblematik metonymisch mit „jungen, unverheirateten Frauen, Schülerinnen, Bräuten“73 gleichgesetzt, wobei die Veranschaulichung eines Menschen als Baum eine kulturelle Universalie darstellt. „In der Birke“, schreibt der sowjetisch-amerikanische Philosoph und Philologe Michail E˙psˇtejn, „verbinden sich auf harmonische Weise jene Eigenschaften der weiblichen Natur wie Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit, Schüchternheit und Offenheit, jungfräuliche Reinheit und Pracht.“74 Von diesem nationalen Idealbild scheinen auch Ljubows Selbstbild und Ideal beeinflusst, wenn sie sich wünscht: „Wär’ ich ein Baum und hätte einen Wipfel und viele hängende, wiegende, blühende Zweige.“75 Gerade weil das Weiß (der Rinde) seit jeher ikonographisch für Jungfräulichkeit und Keuschheit steht, wundert es nicht, dass die Birke als „Schutzpatronin von Jungfrauen“76 fungiert, was viele Fruchtbarkeits- und Glücksrituale dokumentieren.77 Bei Andreas-Salomé wird dieses Bedeutungselement der

71 Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman. Hamburg 2012; siehe auch Boose, Irene: Die neuen Russen. Deutsche Gegenwartsliteratur postsowjetischer Autorinnen und Autoren, in: kjl&m 2/2015, S. 15–26, hier S. 19–22; Krauss, Hannes: Wie deutsch ist deutsche Gegenwartsliteratur? in: Imo, Wolfgang/Kornilova, Ljudmila/Kulpina, Larisa et al. (Hg.): Brückenschläge: Deutsch-russische Germanistiken im Dialog. Heidelberg 2020, S. 33– 46, hier S. 39f. 72 Sergeeva, Koncept „bereza“, S. 446. Bis heute bezeichnen brˇezen im Tschechischen und brezen’ im Ukrainischen den Frühlingsmonat März. 73 Trafimenkova, Tat’jana: O nacional’no-kulturnom osnovanii dendronyma „bereza“ v ˇ tenija. Materialy Vserossijskoj fol’klornom i avtorskom tekste, in: Vtorye Sˇcˇeulinskie C naucˇnoj konferencii, posvjasˇcˇennye 90-letiju so dnja rozˇdenija doktora fililigicˇsekich nauk professora Vasilija Vasil’evicˇa Sˇcˇeulina. Lipeck 2018, S. 111–115, hier S. 113. 74 E˙psˇtejn, Michail N.: „Priroda, mir, tajnik Vselennoj“. Sistema pejzazˇnych obrazov v russkoj poe˙zii. Moskva 1990, S. 85. 75 Andreas-Salomé, Wolga, S. 292. 76 Sergeeva, Koncept „bereza“, S. 445. 77 Ebd., S. 446. Der Birkenzweig, der an die Mutter des Brautwerbers überreicht wurde, galt als Zustimmung; mit einem Tannen- oder Eichenzweig signalisierte die Heiratskandidatin dagegen ihre Ablehnung. Wenn der Zopf einer jungfräulichen Fragestellerin, in den sie vor dem Schlafengehen Birkenzweige eingeflochten hatte, während der Nacht seine Form verlor,

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Baumsymbolik mehrfach aufgegriffen, insbesondere im Zusammenhang mit der Begegnung mit dem Arzt: „Jetzt schob der Uferrand mit den Birken sich etwas seitwärts, jetzt ragten sie gerade hinter Valdevenens vorgeneigter Gestalt hervor, zu Einem Bilde mit ihm verschmelzend, und jetzt schwand er aus dem Bilde.“78 Chantal Gahlinger konstatiert in diesem Zusammenhang: „Darauf betritt Valdevenen den Salon und Ljubow erlebt schmerzlich das dialektische Wiederkehren des principium individuationis“: Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermesslich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – –.79

5.

Fazit

In Wolga werden neben dem folkloristisch konnotierten, exotisierenden Requisitar nahezu alle erdenklichen Stereotype Russlands aufgegriffen und dadurch das ferne Land erneut als Faszinosum des Westens bestätigt: der „Kaviar“ am „Samowar“; das aus Ziegenwinterhaar gesponnene „graue Orenburger Tuch“80 und die „roten Bauernhemden“81 der Ruderer als Farbtupfer; eine einsame Troika mit silbrig klingenden Glöckchen, die ihren Weg durch phantasmagorisch „grenzenlose Steppenwiesen“82 und Wälder, durch die „schweigsamen Mysterien der Einsamkeit und Wildnis“83 bannt; traditionelle EinfacheLeute-Häuser, deren Fenster mit Holzziselierungen geschmückt sind; vergoldete Kuppeln der Kirchen, die matt in der „weißen Nacht des östlichen Juni“84 schimmern; ein heidnischer Kurgan als „ein Heldengrab aus der Vorzeit“85; die „herzliche Einfachheit des Russen.“86 „Ein anderer Klang, tief, ehern, Gebet und Befehl zugleich, hallt über die Fernen“87 lässt an Vecˇernij zvon (1828) denken, jenes berühmte Lied in Moll, das in Deutschland unter dem Titel Die Abend-

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

wurde dies als ein sicheres Zeichen für eine baldige Hochzeit interpretiert; dazu Trafimenkova, „bereza“, S. 113. Andreas-Salomé, Wolga, S. 331. Ebd.; vgl. auch Gahlinger, Der Weg zur weiblichen Autonomie, S. 166. Andreas-Salomé, Wolga, S. 333. Ebd., S. 287. Ebd., S. 276. Ebd., S. 279. Ebd., S. 289. Ebd., S. 278. Ebd., S. 301. Ebd., S. 278.

Eine deutschsprachige Jugendnovelle mit russischer Seele

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glocke bekannt ist und wie kein anderes die vermeintlich melancholische „russische Seele“ widerspiegelt. Auch die geradezu exzessiv verwendete Symbolik der Birke und der Wolga zeugen von Lou Andreas-Salomés inszenierter Russland- bzw. Heimatidealisierung. Dass beide Symbole weiblich konnotiert sind, verwundert vor diesem Hintergrund kaum. Russland wurde nach den monatelangen Reisen in den Jahren 1899 und 1900 zur „Quelle seelischer Ganzheit, lebendiger Religiosität, Schönheit“88 und avancierte zu der thematischen Dominante ihres literarischen und wissenschaftlichen Œuvres. Ihre (theosophische) Affinität zu Russland umfasst eine elegisch anmutende, idyllisierende Hinwendung zu biographischer Heimat sowie eigener Kindheit und Jugend, wie sie im Zyklus Im Zwischenland lesbar wird. Darüber hinaus wird eine implizite, nicht zuletzt missionarisch motivierte Kritik an westeuropäischer Zivilisation89 laut, die Andreas-Salomé auch in ihre jugendliterarischen Novellen einschreibt, spielen doch die durch die orthodoxe Kultur geprägten, nationalidentitären Werte wie Gemeinschaftlichkeit (russ. sobornost’), Solidarität (obsˇcˇinost’) und Einfühlungsgabe (sopricˇastnost’) – die Grundpfeiler des slavophilen Programms – in ihren Werken eine prominente Rolle. In Wolga und anderen Novellen re-konzeptualisiert Andreas-Salomé das spirituelle Mysterium der „russischen Seele“, indem sie die russische Religionsphilosophie für die westliche Intelligenz umreißt und eine Galerie vermeintlich prototypisch-russischer Menschen auftreten lässt.90 Die in zeitlicher Nähe zu ihrer Russlandreise entstandenen Texte zeugen von einer höchst persönlichen Positionsbestimmung und von einer virtuosen Inszenierung bzw. Idealisierung russischer Spiritualität und Religion. Vor diesem Hintergrund erscheint eine transdisziplinär orientierte Relektüre ihrer Jugendnovellen besonders vielversprechend.

88 Romanova, Rossija, S. 78. 89 Ebd., S. 77. 90 Ebd., S. 78.

Andrea Weinmann (Frankfurt am Main)

Otfried Preußler als Übersetzer tschechischer Kinderbücher – ein Brückenbauer zwischen Ost und West?

1.

Einführung in die Fragestellung

Aus Anlass von Otfried Preußlers 70. Geburtstag erschien 1993 unter dem Titel Geschichten für Menschenkinder eine Festschrift, die von seiner Tochter Regine Stigloher und seinem Freund Heinrich Pleticha (1924–2010) herausgegeben wurde.1 Pleticha bescheinigte dem Jubilar in seinem einleitenden Beitrag, ein „ungemein tüchtiger […] Brückenbauer“ zu sein und mit seinem kinder- und jugendliterarischen Werk einen Beitrag zur „Völkerverständigung“ zu leisten.2 Seine Einschätzung stützte er vor allem auf die weltweite Verbreitung von Preußlers Kinder- und Jugendbüchern, die bis 1993 bereits in 45 Sprachen übersetzt worden waren3, u. a. ins Tschechische4 und Englische. Der großen Zahl von Übersetzungen in andere Sprachen steht eine sehr viel kleinere Zahl von Übersetzungen aus anderen Sprachen gegenüber, die Preußler zwischen 1962 und 1987 – bezogen auf die Erscheinungsjahre – anfertigte.5 Dieses Korpus umfasst insgesamt sechs Werke, die er ganz oder teilweise ins Deutsche über1 In der Festschrift, deren Schwerpunkt auf der internationalen Rezeption von Preußlers Kinder- und Jugendbüchern liegt, kommen überwiegend Übersetzer:innen aus aller Welt zu Wort. Daneben enthält sie einen Beitrag über kinderliterarisches Übersetzen von Sybil Gräfin Schönfeldt (So genau wie nötig und so frei wie möglich. Grundsätzliches zum Übersetzen von Kinderbüchern) und einen Beitrag von Preußler (Schusters Mikesch aus Holleschitz. Der Autor als Übersetzer – ein Werkstattbericht). 2 Pleticha, Heinrich: Ein Brückenbauer wird siebzig, in: Stigloher, Regine/Pleticha, Heinrich (Hg.): Geschichten für Menschenkinder. Otfried Preußler zum 70. Geburtstag. [Stuttgart/ Wien/Bern] 1993, S. 11–13, hier S. 13. 3 Das ist einer Tabelle, Stand Januar 1993, zu entnehmen, die in der Festschrift abgedruckt wurde, siehe Stigloher/Pleticha, Geschichten für Menschenkinder, S. 60f. 4 Bis 1993 waren Der kleine Wassermann, Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst und Krabat ins Tschechische übersetzt worden; vgl. die Tabelle, in: Stigloher/Pleticha, Geschichten für Menschenkinder, S. 60f. Die Rezeption von Preußlers Kinder- und Jugendbüchern in der Tschechoslowakei ist nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags. 5 Inwiefern es sich im Einzelnen um Übersetzungen, Bearbeitungen oder Nacherzählungen handelt, ist in diesem Zusammenhang irrelevant.

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setzte, drei davon aus dem (amerikanischen) Englischen.6 Aus dem Tschechischen übersetzte er Kater Mikesch. Geschichten vom Kater, der sprechen konnte (dt. 1962) von Josef Lada (1887–1957) (siehe Abb. 1) 7 und Kater Schnurr mit den blauen Augen(dt. 1969) von Josef Kolárˇ (1905–1983). Auch Das Geheimnis der orangenfarbenen Katze (dt. 1968) kann noch zu seinen Übersetzungen gezählt werden, obwohl er bei der Übertragung ins Deutsche größtenteils auf Übersetzungen anderer Übersetzer:innen zurückgreifen konnte.8 Bis heute hält sich das Bild von Preußler als einem Brückenbauer zwischen Ost und West, an dessen Verbreitung und Etablierung neben Pleticha vor allem Günter Lange maßgeblich mitwirkte. In einem Lexikonartikel von 2008 ist folgende Einschätzung zu lesen: Noch ein besonderes Verdienst muss hier wenigstens genannt werden. Otfried Preußler gilt seit der Publikation des von ihm ins Deutsche übertragenen Buches Kater Mikesch des tschechischen Autors Josef Lada, für das er 1963 den Deutschen Jugendbuchpreis erhielt, als Brückenbauer oder – wie Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek in München, es ausgedrückt hat – als ‚Kinderbuch-Brücken-Bauer‘ von Deutschland nach Tschechien. Eine Tat, die in ihrer Wirkung für das deutschtschechische Verhältnis nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.9

Von tschechischer Seite griff 2009 Jan Kvapil das Bild wieder auf: Otfried Preußler wird aufgrund seiner Übertragungen aus dem Tschechischen (Kater Mikesch von Josef Lada, 1962, und Kater Schnurr mit blauen Augen [sic!] von Josef Kolárˇ, 1969) und des Romans Die Flucht nach Ägypten (1978) als ein außerordentlich bedeutender Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien oder als Befürworter der deutsch-tschechischen Versöhnung (wohlverdient) gewürdigt.10 6 Neben den ersten beiden Bänden des Prydain-Zyklus’ von Lloyd Alexander (Taran und das Zauberschwein, dt. 1969, und Taran und der Zauberkessel, dt. 1970) übersetzte Preußler auch Howard Blakes Der Schneemann. Ein Bilderbuch mit Musik. Kassel/Basel 1987. Dieser Text fehlt in der Überblicksdarstellung von Günter Lange: Otfried Preußlers Übersetzung und Bearbeitung fremdsprachlicher Kinderbücher, in: Volkacher Bote 88/2008, S. 24–33. Preußlers Übersetzungen aus dem Englischen sind nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags. 7 Die Originalausgabe erschien ursprünglich zwischen 1934 und 1936 in vier Teilen in der Kinderzeitschrift des tschechischen Roten Kreuzes. Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Josef Lada, in: Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Stuttgart/Weimar 1999, S. 586f., hier S. 586. 1973 erschien Kater Mikesch auf der Kirchweih, eine mit Fotos aus der Verfilmung der Augsburger Puppenkiste versehene gekürzte Fassung von Kater Mikesch. Dieser Titel wird im Folgenden nicht zu den Übersetzungen gezählt. 8 Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 4. 9 Lange, Günter: Otfried Preußler, in: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen 2008, S. 6. Günter Langes Formulierung ist insofern missverständlich, als sich Lepmans Rede von der Kinderbuchbrücke nicht auf Preußler bezog. 10 Kvapil, Jan: Nur böhmisch? Zur Instrumentalisierung des Tschechischen im Werk von Otfried Preußler, in: Kvapil, Jan/Neubauer, Rahel Rosa/Seibert, Ernst (Hg.): Hotzenplotz aus Osob-

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Abb. 1

Seit 2010 findet sich die Rede vom Brückenbauer in Bezug auf Preußler auch im Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Dort schrieb Caroline Roeder: „Durch seine literarisch ambitionierten Übersetzungen u[nd] Bearbeitungen wirkte er als Brückenbauer zwischen Ost u[nd] West u[nd] machte […] v. a. tschech[ische] Kinderliteratur in Deutschland bekannt […].“11

laha. Die böhmische Thematik im Werk Otfried Preußlers (Libri liberorum, Sonderheft 2009). Wien 2009, S. 49–52, hier S. 49f. In seinem Beitrag geht Kvapil nicht auf Preußlers Übersetzungen aus dem Tschechischen ein, sondern auf diejenigen Werke, deren Handlung in Böhmen angesiedelt ist. Mit Blick auf diese moniert er: „Das Bild seiner [Preußlers] Einstellung gegenüber den Tschechen und dem Tschechischen muss jedoch etwas differenzierter betrachtet werden, als es die bisherige Forschung vermittelt hat“; Kvapil, böhmisch, S. 50 [Hervorhebung durch A. W.]. 11 Roeder, Caroline: Otfried Preußler, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 9. Hg. Wilhelm Kühlmann. Berlin/Boston 22010, S. 333f., hier S. 333.

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Dass Preußler als Übersetzer einen wichtigen Anteil am deutsch-tschechischen Literatur- und Kulturtransfer hatte, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Allerdings verstellt die Metapher vom Brückenbauer einen differenzierteren Blick darauf, wie er seine interkulturelle Vermittlerrolle ausfüllte. Inwiefern er durch seine Übersetzungen auch einen Beitrag zur internationalen bzw. interkulturellen Verständigung oder gar zur deutsch-tschechischen Versöhnung leistete, lässt sich kaum beantworten. Emer O’Sullivan, die sich mit dem internationalistischen Ansatz der Kinderliteratur der Nachkriegszeit beschäftigt hat, merkt kritisch an: Die internationale Verständigung wird meist beschworen, ohne daß man sich fragt, was damit eigentlich gemeint ist und was Kinderliteratur in dieser Beziehung überhaupt leisten kann. […] Ob die Kinderliteratur überhaupt fähig ist, die vielbeschworene internationale Verständigung herbeizuführen oder wenigstens zu ihr beizutragen, bleibt eine ungelöste Frage. […] Außerdem wird die übersetzte Literatur anderer Nationen […] oft so nach den Anforderungen der sog. Kindgemäßheit adaptiert, daß gerade ‚fremde‘ Elemente, deren Nachvollzug zur Völkerverständigung beitragen sollte getilgt oder stark verändert werden.12

Eine Analyse von Preußlers Übersetzungen kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht geleistet werden, hier ist die Komparatistik gefragt.13 Methodisch nähert er sich seinem Gegenstand aus der Perspektive der Kulturtransferforschung, die „das Gewicht auf die Vermittlung zwischen den Kulturräumen legt […], wobei bes[onders] die Gruppe der Vermittler interessiert.“14 Neben einzelnen Vermittlergruppen, zu denen neben Übersetzer:innen auch Verleger:innen, Wissenschaftler:innen, Lehrer:innen, Bibliothekar:innen, Buchhändler:innen, Eltern und Kinder zählen,15 und Vermittlerinstitutionen16, nimmt die Kulturtransferforschung auch Vermittlerfiguren17 bzw. „transferierende Men-

12 O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000, S. 34f. 13 Aus einer erinnerungskulturellen Perspektive hat sich die Slavistin Elisabeth Maeder zuletzt 2013 mit Preußlers Übersetzungen aus dem Tschechischen befasst. Maeder, Elisabeth: Kolportierte kollektive Erinnerung in Otfried Preußlers Werken, in: Seibert, Ernst/Kovacˇková, Katerˇina (Hg.): Otfried Preußler. Von einer Poetik des Kleinen zum multimedialen Großprojekt. Frankfurt am Main 2013, S. 129–148. 14 Steigerwald, Jörn: Kulturtransfer [Lemma], in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 52013, S. 426f., hier S. 426. 15 Vgl. Pleticha, Brückenbauer, S. 11. 16 Neben der bereits erwähnten Internationalen Jugendbibliothek (München) wären IBBY (International Board on Books for Young People, gegründet 1953), Inter Nationes und die tschechische Literaturagentur Dilia als wichtige Vermittlerinstitutionen der Nachkriegszeit in Westdeutschland zu nennen. 17 Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar 32012, S. 145–190, hier S. 146.

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schen“18 mit ihren biographischen Kontexten19 in den Blick: „Transfers setzen Personen mit interkulturellen Lebensläufen voraus, die an der Schnittstelle von Kulturen (Kontexten) stehen und mit dem Transfervorgang Textelemente verzahnen können.“20 In Übersetzungen sind Kulturtransferprozesse ganz unmittelbar erkenn- und fassbar, und zwar „sowohl in quantitativer Hinsicht (was wird übersetzt oder übermittelt, wie wird selektiert?) als auch in qualitativer Perspektive (wie wurde im Hinblick auf ein anderes Zielpublikum übersetzt und kommentiert?).“21 Dabei sind Prozesse des Transfers ebenso wichtig wie „Phänomene der Verweigerung, der mentalen und kulturellen Resistenz, der NichtRezeption oder stark verzögerten Aufnahme.“22 Mit ihnen rücken auch die hinter den Transfers liegenden, sie mehr oder weniger unsichtbar steuernden „Antriebskräfte oder ,Generatoren‘“ in den Blick.23 Lüsebrink nennt neben ökonomischen Interessen sowie politischen und ideologischen Zielsetzungen auch emotionale bzw. affektive Faktoren, etwa emotional geprägte Einstellungsmuster zu anderen Kulturen und andere subjektive und stark persönlich geprägte Motivationsfaktoren24; diese spielen eine zum Teil nur schwer fassbare, aber kaum zu unterschätzende Rolle. Emotionale Dispositive wie Faszination, Identifikation, Hass und Ressentiment oder aber die Suche nach Gegenmodellen zur eigenen, als unbefriedigend empfundenen Situation und Lebenswelt erweisen sich für viele Kulturtransferphänomene als ebenso wirkungsvoll wie rationale oder kognitive Faktoren.25

Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht der quantitative Aspekt von Preußlers Beitrag zum Austausch zwischen dem westlichen deutschen26 und dem tschechischen Sprach- und Kulturraum. Da Preußler als Sudetendeutscher eine Person mit einem interkulturellen Lebenslauf war, soll zunächst sein biographischer Hintergrund sowie sein Verhältnis zur tschechischen Bevölkerung und zur tschechischen Sprache beleuchtet werden. 18 Keller, Thomas: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 22011, S. 106– 119, hier S. 117. 19 Ebd., S. 107. 20 Ebd., S. 117. 21 Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation, S. 145f. [Hervorhebungen durch A. W.]. Der qualitative Aspekt kann im Rahmen dieses Beitrags nicht berücksichtigt werden. In seinem bereits erwähnten Beitrag zur Festschrift von 1993 hat sich Preußler zu dieser Frage geäußert, siehe Preußler, Otfried: Schusters Mikesch aus Holleschitz. Der Autor als Übersetzer – ein Werkstattbericht, in: Stigloher/Pleticha, Geschichten für Menschenkinder, S. 55–58. 22 Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation, S. 156. 23 Ebd., S. 157. 24 Ebd., S. 157f. 25 Ebd., S. 157. 26 Der westliche deutschsprachige Raum umfasst Westdeutschland, Österreich und die Schweiz.

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2.

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Kindheit und Jugend in der Tschechoslowakei (1923–1938)

Otfried Preußler wurde 1923 als Otfried Syrowatka in Reichenberg/Liberec in Nordböhmen geboren. Er stammte aus einer deutschen Familie27 mit tschechischen Wurzeln.28 Seine Großeltern väterlicherseits, Josef (sen.) und Dorothea Syrowatka, stammten noch aus einem „rein tschechischsprachigen Umfeld“.29 Um 1890 ließen sie sich in Reichenberg nieder, einer Stadt mit mehrheitlich deutscher bzw. deutschsprachiger Bevölkerung. Hier wurde 1891 Otfrieds Vater Josef Syrowatka (1891–1967) geboren. Der Zerfall der Habsburgermonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs und die Gründung der Tschechoslowakei im Jahre 1918 markierten einen tiefen historischen Einschnitt, nicht nur für die tschechische, sondern auch für die deutsche Bevölkerung, die nun gewissermaßen über Nacht zu tschechischen Staatsbürgern erklärt wurde.30 Damit zerschlug sich ihre im Vorfeld der Staatsgründung geschürte Hoffnung auf nationale Selbstbestimmung und leitete den „Wandel des Gruppenbewusstseins von Deutschböhmen zu Sudetendeutschen“ ein.31 Intensiv wurde in den zwanzig Jahren von 1918 bis zum sogenannten Anschluss des Sudetenlands an das Deutsche Reich im Jahr 1938 die Wahrung der deutschen Sprache und Kultur als Ausdruck des Deutschtums und der eigenen kulturellen Identität betrieben.32 Preußlers Vater engagierte sich in vielfältiger Weise für dieses Ziel und prägte dadurch die Kindheit seines Sohnes, der von Anfang an in ein vom sogenannten Volkstumskampf und von wachsenden Nationalitätenkonflikten geprägtes Klima hineinwuchs. Schon als Heranwachsender bekam er zu spüren, wie belastet das 27 Preußler, Otfried: Wir sind Deutsche aus Böhmen, in: Sudetenland 2/1994, S. 147–161, hier S. 151. 28 Zur Genealogie der Familie Syrowatka/Preußler vgl. Paleczek, Raimund: Vom Isergebirge bis in den Böhmerwald: Anmerkungen zur böhmischen Herkunft von Otfried Preußler (1923– 2013), in: Seibert/Kovacˇková, Otfried Preußler, S. 87–106. Auch unter den Vorfahren von Preußlers Mutter finden sich laut Paleczek viele aus einem tschechischsprachigen Umfeld, vgl. Paleczek, Isergebirge, S. 89. 29 Vgl. Paleczek, Isergebirge, hier S. 88. Von Preußlers Großmutter Dora weiß man, dass sie Zeit ihres Lebens nur gebrochen Deutsch sprach. Vgl. Engelmann, Isa: Verschwiegener Nationalitätenwahn. Zu der Rezension von Otfried Preußler: „Ich bin ein Geschichtenerzähler“; http://www.librikon.de/Einspruch.htm [08. 08. 2021]. 30 Zu den Deutschen, die gegen ihren Willen zu tschechischen Staatsbürgern gemacht wurden, gehörten auch Preußlers Eltern, vgl. Preußler, Wir sind Deutsche, S. 151. 31 Höhne, Steffen: Zur Geschichte der Böhmischen Länder, in: Becher, Peter/Höhne, Steffen/ Krappmann, Jörg et al. (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart 2017, S. 52–65, hier S. 62. 32 Zu Preußlers Kindheitserinnerungen gehört auch, dass seine Mutter ihm spielerisch die „herrlichen und überraschenden Möglichkeiten“ der deutschen Sprache nahebrachte. Vgl. Preußler, Otfried: Tinte, Feder, Tafelschwamm, in: Preußler, Otfried: Gustav Leutelt habe ich noch gekannt. Heimatliche Texte von Otfried Preußler. Schwäbisch Gmünd 2002, S. 19–33, hier S. 25.

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Zusammenleben von Deutschen und Tschechen auch in Reichenberg war. „Die deutsche Bevölkerung“, so äußerte er einmal, „fühlte sich auf Schritt und Tritt provoziert, gedemütigt und in ihrem Bestand gefährdet.“33 Vor allem zwei Aspekte seiner Kindheit und Jugend wurden für seine spätere Rolle als interkulturelle Vermittlerfigur relevant. Der erste betrifft Preußlers Verhältnis zu den Tschechen. Als Tschechisierung und Bedrohung ihrer nationalen Existenz empfanden Teile der deutschen Bevölkerung die Ansiedlung tschechischer Staatsbeamter und ihrer Familien in den mehrheitlich von Deutschen bewohnten Regionen wie dem Sudetengebiet. Auch in Reichenberg wurde der Anstieg des tschechischen Bevölkerungsanteils aufmerksam beobachtet. Die „nationale Polarisierung“, die Tschechen und Deutsche gleichermaßen erfasste, trieb den „Ausbau einer doppelten Infrastruktur aller kulturellen Bereiche“ weiter voran.34 In den Schulen35 und in der Freizeit36 blieben deutsche und tschechische Kinder unter sich. Die fortschreitende Trennung von Deutschen und Tschechen im Alltag hatte Konsequenzen für Otfrieds Kindheit: „Wir Reichenberger Kinder hatten keine tschechischen Freunde, auch keine tschechischen Feinde. Mit den tschechischen Kindern verkehrten wir nicht, und natürlich gab es mit ihnen auch keinen Streit.“37 Mit der Separierung wuchs die Entfremdung. Im Rückblick auf seine Kindheit und Jugend fragte sich Preußler später: „Was haben wir vormals eigentlich voneinander gewußt? Wir böhmischen Deutschen von ihnen, den tschechischen Böhmen – und sie von uns?“38 Immer wieder betonte er, er sei „in der Vorstellung aufgewachsen, die Tschechen seien ganz anders als wir deutschen Böhmen.“39 33 Preußler, Deutsche aus Böhmen, S. 152. 34 Höhne, Geschichte, S. 61f. 35 Sehr zum Ärger vieler Deutscher wurden für die tschechischen Kinder, die in Reichenberg in der Minderheit waren, eigene Schulen – sog. Minderheitenschulen – eingerichtet. Vom Stellenabbau in der deutschen Lehrerschaft war auch Otfrieds Mutter betroffen, die seit 1915 Lehrerin an einer Reichenberger Schule war, bevor sie 1926 in den Ruhestand versetzt wurde. Für Otfried war es selbstverständlich, dass er von der Einschulung 1929 bis zum Abitur im Jahre 1942 „ausschließlich deutsche Schulen“ besuchte, siehe Preußler, Wir sind Deutsche, S. 149. 36 Sowohl bei den Tschechen als auch bei den Deutschen bildeten die Turnvereine „einen wichtigen außerschulischen Erziehungsfaktor“, Preußler, Deutsche aus Böhmen, S. 151. Neben dem Deutschen Turnverein und dem tschechischen Sokol gab es in Reichenberg auch den jüdischen Turn- und Sportverein Makabi und den Arbeiter-Turn- und Sportverband (ATUS). Preußler gehörte der Jungturnerschaft an, für die das Bekenntnis zum Deutschtum maßgeblich war. Vgl. Preußler, Deutsche aus Böhmen, S. 151. 37 Humanität – dem Dürstenden ein Glas Wasser reichen. Zwei Interviews von Otfried Preußler in der tschechischen Presse. Berichtet von Brunhilde Steitz-Bruscha, in: Sudetenland 1/2000, S. 78–84, hier S. 78. 38 Preußler, Otfried: In Bethlehem grünen die Wälder noch. Das Weihnachtsfest ohne Krippe wäre kein Weihnachtsfest, in: Preußler, Gustav Leutelt, S. 76–82, hier S. 78. 39 Steitz-Bruscha, Humanität, S. 79f.

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Sie, ‚die Tschechen‘, und wir, ‚die Deutschen‘. Das schienen zwei Völker zu sein, die sich nach Art und Sitte, nach Sprache und Volkscharakter so grundlegend voneinander unterschieden, wie zwei Völker sich voneinander nur unterscheiden können.40

Unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen im ‚Dritten Reich‘ und dem Erstarken separatistischer Bestrebungen im Sudetengebiet unter Konrad Henlein wuchs seit Anfang der 1930er-Jahre zwischen deutschen und tschechischen Jungen „eine spürbare Neigung zu nationalen Wettkämpfen“.41 Auch der junge Otfried geriet immer wieder in Situationen, in denen er sich entweder „als Deutscher herausgefordert“ fühlte42 oder in denen er die gegnerische Seite provozierte: Wir Jungen pflegten damals […] unser Deutschtum mit weißen Kniestrümpfen zu bekunden, sehr zum Verdruß der tschechischen Gendarmen und Polizisten; nicht selten kam es vor, daß sie uns zwangen, die Kniestrümpfe mitten auf der Straße auszuziehen, manchmal setzte es Prügel.43

In dieser Situation empfanden viele Deutsche den sogenannten Anschluss des Sudetenlands an das Deutsche Reich Anfang Oktober 1938 als „Befreiung von tschechischer Vorherrschaft“; auch im Freundeskreis der Eltern war man froh, „die Tschechen“ endlich los zu sein.44 In Erinnerung an den Einmarsch der Wehrmacht in Reichenberg schrieb Preußler: „Wir haben gejubelt, wir waren begeistert, gerade wir jungen Burschen.“45 Ende 1941 legte die Familie auf Antrag des Vaters ihren tschechisch klingenden Namen Syrowatka ab, um ihn durch einen deutschen zu ersetzen.46 Das vorerst letzte Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte in den ehemals Böhmischen Ländern erlebte Preußler, der von 1944 bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, nicht selbst mit. Die damaligen Ereignisse – die Verhaftung und anschließende Verurteilung des Vaters zu sieben Jahren Haft mit Zwangsarbeit47 und die Vertreibung seiner Mutter und Großmutter aus Rei40 Preußler, Otfried: Nicht so sehr eine Frage der Geodäsie. Gedanken über die wahre, die wirkliche Mitte Europas, in: Becher, Peter/Ettl, Hubert (Hg.): Böhmen. Blick über die Grenze. Viechtach 1991, S. 136–144, hier S. 141. 41 Preußler, Otfried: Die Kácˇa, der Kelch und Wallensteins Epitaph, in: Preußler, Gustav Leutelt, S. 34–41, hier S. 35. 42 Preußler, Kácˇa, S. 35. 43 Ebd., S. 34. Mit weißen Kniestrümpfen gaben sich die Anhänger von Konrad Henlein öffentlich zu erkennen. 44 Preußler, Wir sind Deutsche, S. 152, S. 154. 45 Ebd., S. 153. 46 Die Namensänderung, die am 16. 12. 1941 in Kraft trat, erfolgte im Kontext der nach 1939 im Reichsgau Sudetenland sowie im Protektorat Böhmen und Mähren einsetzenden Germanisierungspolitik. Vgl. Lange, Günter: Fragen zu Otfried Preußlers Biographie und Werke, in: Volkacher Bote 99/2013, S. 30–35; und Paleczek, Vom Isergebirge, S. 88f., S. 92. 47 Der Vater wurde 1950 vorzeitig aus der Haft entlassen und ausgewiesen.

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chenberg –, die er nur aus den Erzählungen der persönlich Betroffenen kannte, haben sich tief ins Familiengedächtnis eingeprägt. Mit den Ereignissen rund um die Vertreibung seiner Familie erreichte sein Verhältnis zu den Tschechen einen vorläufigen Tiefpunkt. Der zweite Aspekt, der für Preußlers Rolle als Übersetzer ausschlaggebend wurde, betraf sein Verhältnis zur tschechischen Sprache, die seit der Gründung der Tschechoslowakei Staatssprache war. Auch in Gebieten mit deutschsprachiger Mehrheit wie Reichenberg wurde das Prinzip der Zweisprachigkeit eingeführt. Der junge Otfried kannte es nicht anders, als dass alle Beschilderungen im öffentlichen Raum in deutscher und tschechischer Sprache waren.48 Bereits in der Volksschule erhielten deutsche Kinder „obligatorischen Unterricht in der ersten Fremdsprache, nämlich in tschechisch.“49 In der zunehmend aufgeheizten Situation der 1930er-Jahre war das Tschechische für die meisten von uns deutschen Kindern mit der schweren Hypothek belastet, daß wir es zwangsweise lernen mußten, da es ja seit dem Zerfall der Monarchie auch für die Sudetendeutschen zur Staatssprache erklärt worden und mit allen nur erdenklichen negativen Reminiszenzen belastet war.50

Dabei wusste er von seiner Tschechischlehrerin zu berichten, dass sie „sich viel Mühe mit uns gegeben [hat], indem sie versucht hat, dem Unterricht eine spielerische Komponente zu geben, etwa unter Verwendung tschechischer Kinderlieder und Abzählreime.“51 Der Tschechischunterricht begleitete Otfried bis zum Ende seiner Schulzeit im Jahr 1942: „Ich gehöre dem letzten Jahrgang an, der noch im Dritten Reich, also bereits während des Krieges, im Fach Tschechisch maturieren mußte. Wir haben das zähneknirschend hinter uns gebracht, weil wir dachten, diese Sprache würden wir niemals mehr brauchen.“52 Vor dem Hintergrund seiner in Kindheit und Jugend erworbenen und durch die Vertreibung wohl noch verstärkten Ressentiments gegenüber allem Tschechischen erscheint Preußlers Rolle als interkulturelle Vermittlerfigur, in der er ab Ende der 1950er-Jahre hervortrat, in einem gänzlich neuen Licht.

48 Vgl. Preußler, Wir sind Deutsche, S. 151. Vor diesem Hintergrund sind auch die intensiven Bemühungen von Otfrieds Mutter zu sehen, ihrem Sohn die deutsche Sprache nahezubringen. Vgl. Preußler, Tinte, S. 25. 49 Preußler, Wir sind Deutsche, S. 26. 50 Preußler, Tinte, S. 26. 51 Ebd. 52 Preußler, Wir sind Deutsche, S. 149.

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3.

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Annäherung in der Nachkriegszeit (1958–1969)

Dass Preußler angesichts seiner Vorgeschichte Ende der 1950er-Jahre überhaupt begann, aus dem Tschechischen zu übersetzen, muss wohl als das Verdienst von Walter Scherf (1920–2010) angesehen werden. Scherf, ein „besessener Internationaler“53, der für seine Verdienste um die grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit in Europa mehrfach ausgezeichnet wurde, verstand es, andere für seine Ideale – Internationalität, Verständigung und Zusammenarbeit54 – zu gewinnen. Scherf und Preußler lernten sich 1957 kennen. In diesem Jahr begann Scherfs Aufstieg zu einer der wichtigsten interkulturellen Vermittlerfiguren der Nachkriegszeit auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur. Im Mai 1957 trat er die Nachfolge von Jella Lepman als Direktor der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in München an. Unter seiner Leitung öffnete sich die IJB nach Osten, vor allem nach Polen, Ungarn, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei und baute damit ihre Rolle als eine der wichtigsten kinder- und jugendliterarischen Vermittlungsinstitutionen der Nachkriegszeit weiter aus. Außerdem übernahm Scherf mit Heft 5 von 1957 den Posten des Chefredakteurs der Zeitschrift Jugendliteratur. Monatshefte für Jugendschrifttum und war nebenher auch selbst als Übersetzer tätig.55 Um den Austausch mit den tschechischen Kolleg:innen anzuregen, ließ er noch im selben Jahr die ersten Nummern des laufenden Jahrgangs an die Redaktion der tschechischen Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur Zlatý Máj in Prag schicken, die im Gegenzug ab Januar 1958 ihre Hefte nach München lieferte. Als Scherf in einem Gespräch erwähnte, dass niemand die tschechische Zeitschrift lesen und verstehen kann, erbot sich Preußler, sie durchzusehen.56 Daraus entstanden zwei Beiträge, die 1958 und 1959 in der Jugendliteratur publiziert wurden und die den deutschtschechischen Dialog über Kinder- und Jugendliteratur eröffneten.57 1958 traf auch die erste größere Bücherlieferung des tschechischen Staatsverlags für Kinderliteratur (Státní nakladatelství deˇtské knihy [SNDK], seit 1969

53 „Ich bin ein besessener Internationaler“ [Walter Scherf im Interview mit Roswitha BuddeusBudde], in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 6 vom 20. 01. 1995, S. 26–28. 54 Ebd., S. 26. 55 1957 erschien unter dem Titel Kleiner Hobbit und der große Zauberer seine Übersetzung von J. R. R. Tolkiens The Hobbit or There and back again (engl. 1937). 56 Vgl. Hauser, Hannes: Erste Schritte zu guter Nachbarschaft, in: Volkacher Bote 28/1988, S. 1– 3, hier S. 1f. 57 Preußler, Otfried: Von drüben betrachtet, in: Jugendliteratur 9/1958, S. 432f.; und Preußler, Otfried: Abenteuerlektüre. Wie man sich in der Tschechoslowakei dazu äußert, in: Jugendliteratur 3/1959, S. 136–139.

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Albatros) in der IJB ein.58 Sie enthielt u. a. drei Werke von Josef Lada: den ersten und zweiten Band von Mikesˇ59 sowie Nezbedné pohádky, eine Sammlung von Märchen.60 Wieder bot Preußler an, die eingegangenen Bücher zu sichten. Eine Auswahl von elf Titeln, darunter der erste Band von Mikesˇ und Nezbedné pohádky, stellte er im Juni 1959 im ersten Teil einer Sammelrezension in der Jugendliteratur vor.61 Zu diesem Zeitpunkt dachte er wohl noch nicht daran, selbst als Übersetzer tätig zu werden, denn er beendete seine Rezension von Mikesˇ mit der folgenden Empfehlung: „Kurz und gut: ein Werk, das man übersetzen sollte.“62 Auch an Nezbedné pohádky fand Preußler Gefallen, ohne dass er allerdings eine Übersetzungsempfehlung aussprach: „Es ist eine reine Freude, diese drolligen Geschichten zu lesen und sich von Lada kreuz und quer durch sein böhmisch-bäuerisches Märchenland führen zu lassen.“63 Am Beispiel dieser beiden Rezensionen zeigt sich sehr deutlich, dass sich Preußler, noch bevor er selbst als Übersetzer hervortrat, als Literaturvermittler betätigte, indem er Übersetzungsempfehlungen aussprach. Tatsächlich fand sein Überblick, der als erster umfangreicherer Bericht über die tschechische Kinder- und Jugendliteratur in einem in der Bundesrepublik erscheinenden Periodikum gilt64, bald Beachtung. Noch im selben Jahr fragte Franz Caspar (1916–1977), der 1958 die Jugendbuchabtei58 Insgesamt enthielt die erste Lieferung des SNDK, sofern es sich rekonstruieren ließ, 66 Bücher. An dieser Stelle möchte ich mich bei der Bibliothekarin der IJB, Nadine Zimmermann, für ihre tatkräftige Unterstützung bei meinen Recherchen bedanken. 59 Unter dem Titel Mikesˇ – und nicht, wie häufig zu lesen ist, unter dem Titel Kcour Mikesˇ oder Kokour Mikesˇ – erschien 1958 eine zweibändige Buchausgabe im SNDK. Der erste Band (Díl První) umfasste die ersten beiden, der zweite Band (Díl Druhý) die letzten beiden Folgen der ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte publizierten Abenteuer des sprechenden Katers. Den tschechischen Titel gab Preußler mit Der Kater Mikesch an. 60 Preußler übersetzte den tschechischen Titel als Drollige Märchen. Diese Sammlung erschien zuerst 1946. Die zweite Auflage von 1958 war zugleich die erste im SNDK. 61 Preußler, Otfried: Tschechische Kinderbücher [1], in: Jugendliteratur 6/1959, S. 282–284. Der zweite Teil der Sammelrezension, der 18 Werke, hauptsächlich Bilderbücher, umfasste, erschien Anfang 1960. Preußler, Otfried: Tschechische Kinderbücher [2], in: Jugendliteratur 1/ 1960, S. 43–46. 62 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284. Preußler bemerkte, dass Lada in Mikesˇ „die typischen Gestalten und Vorkommnisse des tschechischen [!] Dorflebens auf liebenswürdige Weise verulkt“, ebd. [Hervorhebungen durch A. W.]. Diese freundlich-ironische Distanz dürfte Preußler die Annäherung an die ihm aus der Kindheit von Verwandtenbesuchen bekannte tschechische dörfliche Welt erleichtert haben. Später stilisierte er die Begegnung mit Mikesˇ zu einem regelrechten „Schlüsselerlebnis“: „Nun merkte ich plötzlich, merkte an dieser tschechischen Kindergeschichte, an dieser böhmischen [!] Dorfgeschichte, wie nah und vertraut mir dies alles war.“ Preußler, Geodäsie S. 141 [Hervorhebungen durch A. W.]. 63 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284. Tatsächlich wurde Nezbedné pohádky erst 1997 ins Deutsche übersetzt. 64 Vgl. Hauser, Schritte, S. 2. Bereits 1958 war in Jugendliteratur ein ausführlicher Bericht über eine Ausstellung erschienen, die in Hamburg und Bremen gezeigt wurde und bei der 174 tschechische Kinder- und Jugendbücher zu sehen waren. Vgl. Kettler, Harro: Tschechische Kinderbücher, in: Jugendliteratur 7/1958, S. 335f.

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lung des Sauerländer Verlags (Frankfurt am Main und Aarau) übernommen hatte65, bei ihm an, ob er nicht Lust habe, Mikesˇ zu übersetzen.66 Preußler sagte „ohne Zögern“ zu67, aber die Übersetzung gestaltete sich schwieriger als erwartet68, so dass der erste Band von Kater Mikesch erst 1962 erscheinen konnte. In die Zeit der Arbeit an Mikesˇ fielen Anfang der 1960er-Jahre Preußlers erste persönliche Kontakte zu Kinderbuchfachleuten aus der Tschechoslowakei (ab ˇ SSR]). Ein Ort internatio1960 Tschechoslowakische Sozialistische Republik [C naler Begegnungen war zwischen 1955 und 1967 das Internationale Institut Schloss Mainau.69 Die dort alljährlich stattfindenden Internationalen Jugendbuchtagungen wurden nicht zuletzt wegen ihrer aufgeschlossenen Atmosphäre geschätzt, in der Fachleute aus zahlreichen Ländern von diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs persönliche Kontakte knüpften. Unter den Kollegen aus der ˇ SSR fand Preußler eigenen Angaben zu Folge seine ersten tschechischen und C ˇ ervenka (1925–1991) 71, Hochschulslowakischen Freunde70, allen voran Jan C lehrer an der Karls-Universität (Prag), Zdeneˇk Karel Slabý (1930–2020), Kritiker und Publizist, Václav Stejskal (1922–1986), Cheflektor des SNDK mit Sitz in Prag, und Rudo Moric (1921–1985), Direktor des slowakischen Kinderbuchverlags Mladé letá in Bratislava/Preßburg. Später verband ihn auch eine Freundschaft ˇ aromit dem Filmproduzenten Karel Zeman (1910–1989), der 1977 Krabat (C deˇju˚v ucˇenˇ) verfilmte, und mit dem Illustrator und Zeichenfilmregisseur Zdeneˇk Smetana (1925–2016). Smetana illustrierte 1981 Preußlers Bilderbuch Pumphutt und die Bettelkinder und verfilmte 1984 Die kleine Hexe (Malá cˇarodeˇjnice), außerdem erschienen 1993 und 1997 tschechische Neuausgaben von Der kleine Wassermann und Die kleine Hexe mit seinen Illustrationen. Die beruflichen und

65 Caspar leitete die Jugendbuchabteilung des Sauerländer Verlags von 1958 bis 1966. Vgl. Raab, Rudolf: Franz Caspar, in: Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1. Weinheim/Basel 1975, S. 245f., hier S. 245. 66 Die Anfrage dürfte sich zunächst nur auf den ersten Teil bezogen haben. Nach dem Erfolg von Kater Mikesch beim Publikum und bei der Kritik hatte der Verlag großes Interesse an einer Übersetzung auch des zweiten Bandes. Preußler war dafür aber nicht zu gewinnen. 67 Preußler, Schusters Mikesch, S. 56. 68 Vgl. ebd. 69 Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die VI. Mainau Jugendbuchtagung von 1960 zum Thema „Jugendbücher bauen Brücken“. Auf Nachfrage teilte die Abteilung „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit/ Social Media“ der Mainau GmbH am 09. 12. 2020 mit, dass die Dokumentenlage des Mainau-Archivs vor 1970 nur fragmentarisch ist. Aus ˇ SSR an anderen Quellen ergibt sich, dass nachweislich 1961 zum ersten Mal Vertreter aus der C einer Internationalen Jugendbuchtagung teilnahmen. 70 Vgl. Preußler, Deutsche aus Böhmen, S. 159. 71 Vgl. Preußler, Otfried: Damals in Slivenec, unter den Apfelbäumen. Nachruf auf meinen ˇ ervenka, in: Jugendbuchmagazin 1/1992, S. 2–4. tschechischen Freund Jan C

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freundschaftlichen Beziehungen ermöglichten Preußler ab 1965 zahlreiche Reiˇ SSR.72 sen in die C Preußler, dessen Karriere als Kinderbuchautor gerade erst begonnen hatte, ˇ SSR gehabt haben. dürfte auch ökonomische Interessen an Kontakten in die C Davon jedenfalls berichtete sein Verleger bei Thienemann, Hansjörg Weitbrecht: Ein wichtiger Beitrag für erfolgreiche Lizenzarbeit geht nicht vom Verlag aus, sondern von den Autoren selbst. Internationale Organisationen (IBBY) und Tagungen fördern die Bekanntschaft und den Kontakt zwischen Autoren aus verschiedenen Ländern. Auf diese Weise werden ein Autor und damit auch seine Bücher international bekannt und über die Autorenbekanntschaften oft Übersetzungen vorgeschlagen.73

ˇ SSR ab Mitte der 1960er-Jahre in Für Preußler zahlten sich die Kontakte in die C Form von Übersetzungen aus. 1964 erschien Die kleine Hexe (dt. 1957) auf Tschechisch im SNDK74, es folgte Der kleine Wassermann (dt. 1956), der 1969 auf Slowakisch im Verlag Mladé letá und 1971 auf Tschechisch im Verlag Albatros (vormals SNDK) erschien.75 Aus der Freundschaft mit Slabý resultierte ferner die Einladung, an einem internationalen Schreibprojekt mitzuarbeiten, aus dem 1968 Das Geheimnis der orangenfarbenen Katze hervorging.76 Die phantastische Detektivgeschichte Tajemství oranzˇové Kocˇky entstand 1964/1965 als länderübergreifende Kettengeschichte, an der zehn Autoren aus zehn Ländern mitwirkten. Jeder von ihnen verfasste ein Kapitel in seiner Sprache, von Preußler stammte das neunte Kapitel. Die Koordination dieses Projekts erfolgte in der Redaktion von Zlatý Máj. Dort wurden alle eingesandten Beiträge zunächst ins Tschechische übertragen, bevor sie von „eine[r] ganze[n] Reihe von Übersetzern“ aus dem Tschechischen weiter in die Sprachen der noch folgenden Beiträger übersetzt wurden.77 Tajemství oranzˇové Kocˇky wurde schließlich 1966 als Fortsetzungsgeschichte in Zlatý Máj abgedruckt. Zeitgleich erschienen 1968 sowohl die von Slabý herausgegebene tschechische als auch die von Preußler besorgte 72 Auf seinen Reisen nach Böhmen und Mähren fand Preußler auch unter „einfachen Leuten“ Freunde. Vgl. Preußler, Deutsche aus Böhmen, S. 159. 73 Weitbrecht, Hansjörg: Preußler-Bücher in aller Welt, in: Pleticha, Heinrich (Hg.): Otfried Preußler. Werk und Wirkung. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Otfried Preußler. Stuttgart 1983, S. 24–32, hier S. 26. 74 Bis zu diesem Zeitpunkt war Die kleine Hexe bereits in fünf Sprachen übersetzt worden. 75 Bis 1969 war Der kleine Wassermann in acht Sprachen übersetzt worden. 76 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Bergmann, Eva: Kann eine orangenfarbene Katze international sein?, in: Zeitschrift für Jugendliteratur 4/1968, S. 246–248, und Steinhauser, Mirijam: Von hässlichen Windsbräuten und orangenfarbenen Katzen. Interkulturalität durch multiple Autorschaft in der Kinderliteratur der 60er und 70er-Jahre, in: Ballis, Anja/Schlachter, Birgit (Hg.): Schätze der Kinder- und Jugendliteratur wiederentdeckt. Frühe Lektüreerfahrung und Kanonbildung im akademischen Kontext. Frankfurt am Main 2016, S. 269–284. 77 Bergmann, orangenfarbene Katze, S. 248. Laut Bergmann handelte es sich dabei um „grobe Arbeitszwischenübersetzungen“.

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deutsche Buchausgabe.78 Während er noch an der orangenfarbenen Katze arbeitete, begann er mit der dritten und letzten Übersetzung aus dem Tschechischen, Josef Kolárˇs Z deníku kocoura Modroocˇka. Das Buch, das 1965 im SNDK erschienen war, sollte ursprünglich wahrscheinlich bei Sauerländer publiziert werden. Nachdem Caspar den Verlag aber 1966 verlassen hatte, erschien es 1969 unter dem Titel Kater Schnurr mit den blauen Augen im Thienemann Verlag. Das Erscheinen der deutschen Übersetzung markierte zugleich das Ende von Preußlers etwa zehn Jahre umfassender Tätigkeit als Übersetzer aus dem Tschechischen. In den folgenden beiden Abschnitten wird der quantitative Aspekt von Preußlers Übersetzer- und Vermittlertätigkeit im zeitgenössischen Kontext betrachtet.

4.

Preußler als Türöffner …

Als Charakteristikum des westdeutschen Kinder- und Jugendbuchmarkts der Nachkriegszeit gilt dessen Öffnung für die internationale Kinderliteratur. In diesen Jahren stieg die Zahl übersetzter Titel stark an79, was ohne Übersetzer:innen nicht machbar gewesen wäre. Während in Westdeutschland zunächst vor allem aus dem Englischen und Französischen übersetzt wurde, also aus den Sprachen der westlichen Besatzungsmächte, wurde in der DDR bevorzugt aus dem Russischen und aus anderen slawischen Sprachen, darunter Tschechisch, übersetzt.80 Nicht nur ideologische Gründe, sondern auch ein bis weit in die 1960er-Jahre bestehender Mangel an Übersetzer:innen aus dem Tschechischen81 78 Im Impressum von Das Geheimnis der orangenfarbenen Katze wird Preußler als Bearbeiter und Übersetzer genannt. Bei der deutschen Fassung handelte es sich nicht um eine Übersetzung der tschechischen Buchausgabe, vielmehr konnte Preußler auf die im Entstehungsprozess von Tajemství oranzˇové Kocˇky angefertigten deutschen Zwischenübersetzungen der ersten acht Kapitel zurückgreifen, die er mehr oder weniger nur noch redaktionell überarbeiten musste. Das neunte Kapitel stammte von ihm selbst, so dass allenfalls nur noch das zehnte Kapitel ins Deutsche zu übertragen war. 79 Eckhard Breitinger gibt an, dass ca. ein Drittel der jährlich in der Bundesrepublik Deutschland erscheinenden Kinder- und Jugendbücher Übersetzungen sind. Breitinger, Eckhard: Übersetzungen in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3. Weinheim/Basel 1979, S. 603–607, hier S. 603. 80 Zur Rezeption tschechischer Kinder- und Jugendliteratur im gesamtdeutschen Kulturraum vgl. die Studie von Martina Seifert: Tschechische Kinder- und Jugendliteratur in deutscher Übersetzung, in: Seifert, Martina/Weinkauff, Gina: Kulturtransfer. Studien zur Repräsentanz einzelner Herkunftsliteraturen. Ent-Fernungen. Fremdwahrnehmung und Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945, Bd. 2. München 2006, S. 844– 896. 81 Vgl. Scherf, W[alter]: Übersetzerbörse, in: Zeitschrift für Jugendliteratur 1/1968, S. 63.

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führten dazu, dass in der Zeit des Kalten Kriegs im Westen deutlich weniger aus dem Tschechischen übersetzt wurde als in der DDR. So erschienen laut einer Studie von Wolfgang Preuß zwischen 1946 und 1961, dem Ende seines Untersuchungszeitraums, die meisten aus dem Tschechischen übersetzten Kinderˇ SSR (50), weit abgeschlagen folgten und Jugendbücher in der DDR (57) und der C Österreich (15), die BRD (10) und die Schweiz (5).82 Die für den vorliegenden Beitrag erhobenen Zahlen83 belegen, dass in den 1950er-Jahren in westdeutschen Verlagen84 elf tschechische Kinder- und Jugendbücher erschienen, in den 1960erJahren, in denen Preußler als Übersetzer hervortrat, waren es bereits 5585 und in den 1970er-Jahren sogar 83.86 Bezogen auf die absolute Zahl von drei Übersetzungen aus dem Tschechischen, war sein Anteil am Aufschwung der tschechischen Kinderliteratur in den 1960er-Jahren im westlichen deutschen Sprachraum – und damit am Kulturtransfer – vergleichsweise gering. Nicht anders sieht es mit seinem Beitrag zur Internationalisierung des westlichen Kinder- und Jugendbuchmarkts im Allgemeinen aus, wie der Vergleich mit drei anderen Kinder- und Jugendbuchautoren zeigt, die wie er in diesen Jahren als Übersetzer tätig waren. Während Preußler insgesamt sechs Werke ins Deutsche übertrug, übersetzte Hans Baumann (1914–1988) zwischen Anfang der 1950er- und Mitte der 1980erJahre knapp 40 Bilder-, Kinder- und Jugendbücher allein aus dem Russischen. Übersetzungen spielten auch im Werk von Hans-Georg Noack (1926–2005) eine wichtige Rolle. Er übersetzte zwischen 1956 und 2005 237 Kinder- und Jugend82 Vgl. Preuß, Wolfgang: Die tschechische Belletristik, Jugend- und Kinderliteratur in deutscher Übersetzung (1946–1962), Dissertation. Leipzig 1964, S. 49. Eigene Recherchen kommen jedoch zu anderen Zahlen. 83 Die Zahlen, die diesem Beitrag zugrunde liegen, wurden den Studien von Preuß und Seifert sowie den Bibliographien von Seifert/Weinkauff und Künzel (vgl. Künzel, Franz Peter: Übersetzungen aus dem Tschechischen und dem Slowakischen ins Deutsche nach 1945 bei Verlagen der Bundesrepublik Deutschland, der Bundesrepublik Österreich, der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, Bd. 1, München 1969) entnommen und um eigene Recherchen in den Katalogen der Deutschen Nationalbibliothek, der Internationalen Jugendbibliothek, der Bibliothek für Jugendbuchforschung sowie der Datenbank des Deutschen Jugendliteraturpreises auf der Seite des Arbeitskreises für Jugendliteratur ergänzt. 84 Die folgenden Angaben beziehen sich auf Kinder- und Jugendbücher, die in westdeutschen Verlagshäusern erschienen. Das umfasst auch Verlage, die ihren Firmensitz sowohl in der BRD als auch in der Schweiz oder Österreich hatten. Übersetzungen, die im Prager ArtiaVerlag erschienen, wurden nur berücksichtigt, wenn sie parallel auch in einem westdeutschen Verlag erschienen. Dadurch ergeben sich Differenzen zu anderen Bibliographien. 85 Eigene Recherchen ergaben folgende Zahlen: 1960 – sechs Übersetzungen, 1961 – fünf, 1962 – eine, 1963 – drei, 1964 – fünf, 1965 – drei, 1966 – sieben, 1967 – fünf, 1968 – neun, 1969 – elf. 86 Während Seifert, bezogen auf den gesamtdeutschen Sprachraum inklusive der DDR, bereits in den 1960er-Jahren eine Übersetzungswelle konstatierte, belegen die von mir erhobenen Zahlen, dass die Übersetzungswelle in Westdeutschland in den 1960er-Jahren anrollte, ihren Höhepunkt aber erst in den 1970er-Jahren erreichte, vgl. Seifert, Tschechische Kinder- und Jugendliteratur, S. 851.

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bücher aus dem Amerikanischen, Englischen, Französischen und Niederländischen. Mindestens 60 Bilder-, Kinder- und Jugendbücher aus zwölf Sprachen, darunter Tschechisch, übersetzte James Krüss (1926–1997) zwischen 1958 und 1994. Auch ist bei Preußler der Anteil an Übersetzungen in Relation zu seinem eigenen Werk geringer als bei den genannten Autoren: Während von Preußler zwischen 1956 und 1969 acht Bücher erschienen87, waren es im Vergleichszeitraum 14 von Noack, 36 von Baumann und 77 von Krüss.

Abb. 2

Nicht selten spezialisieren sich Übersetzer:innen auf bestimmte Genres oder Autor:innen.88 Bei Preußler lässt sich von einer Spezialisierung nur im Fall von Lloyd Alexander sprechen, nicht aber im Fall von Josef Lada. Einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Verbreitung von Ladas Kinderbüchern im deutschspra87 Vier davon in den 1950er- und vier in den 1960er-Jahren. 88 Baumann etwa machte das Werk von Jurij Korinetz (1923–1989) und Noack das Werk von Susan E. Hinton (u. a. Die Outsider, dt. zuerst 1969) sowie Morton Rhue (Die Welle, dt. 1984) im deutschen Sprachraum bekannt.

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Abb. 3

chigen Raum, sondern generell zum deutsch-tschechischen Kulturtransfer durch Kinder- und Jugendliteratur leistete Martin Schuster.89 Zwischen 1971 und 1977 übersetzte er nachweislich 20 tschechische Kinder- und Jugendbücher hauptsächlich für den Sauerländer Verlag, darunter viele zeitgenössische tschechische Mädchenbücher, aber auch zwei Werke von Lada, und damit eines mehr als Preußler: Kater Mikesch. Neue Geschichten vom Kater, der sprechen konnte (dt. 1974) (siehe Abb. 2) und Popanz und Immergrün und andere verrückte Märchen (dt. 1977) (siehe Abb. 3).90 Eine länger andauernde Wirkung und größere internationale Reichweite erzielte allerdings nur der erste Teil von Kater 89 Schuster, der hauptsächlich für Sauerländer arbeitete, und Inge Zpeˇvácˇková, die für den Prager Artia-Verlag übersetzte, waren die einzigen Übersetzer:innen, die mehr als ein Werk von Lada ins Deutsche übertrugen. 90 Popanz und Immergrün und andere verrückte Märchen erschien zuerst 1938 unter dem Titel Bubáci a hastrmani (dt. Vogelscheuchen und Wassermänner). Unter dem Titel Bubáci a hastrmani a jiné pohádky erschien 1946 eine um „verrückte Märchen“ erweiterte Ausgabe, die Schusters Übersetzung zugrunde lag.

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Mikesch, der sich bis heute auf dem deutschsprachigen Buchmarkt hält91, während der zweite Teil, der bis 1990 vier Auflagen erlebte92, inzwischen ebenso vergriffen ist wie Popanz und Immergrün und andere verrückte Märchen. Man darf annehmen, dass die Lada-Rezeption im deutschen Sprachraum anders verlaufen wäre, wenn weitere Titel im Fahrwasser des ersten Teils von Kater Mikesch auf den Markt gekommen wären. So gelungen Preußlers Übersetzung von Kater Mikesch unbestreitbar ist,93 stellte doch erst die Verleihung des Deutschen Jugendbuchpreises (DJBP; seit 1981 Deutscher Jugendliteraturpreis) im Jahr 1963 die Weichen für die Öffnung des westdeutschen Kinder- und Jugendbuchmarkts für die tschechische Kinderund Jugendliteratur. Da der DJBP kein nationaler Literaturpreis ist, sondern von Anfang an international ausgerichtet war, ist seine Rolle für den Literatur- und Kulturtransfer kaum zu überschätzen. So weist Reinbert Tabbert darauf hin, […] daß der Deutsche Jugendbuchpreis nicht nur beim Import von Kinder- und Jugendbüchern wirksam wird, sondern auch beim Export. Denn vielfach orientiert man sich im Ausland bei der Suche nach übersetzenswerten deutschen Büchern an der Auszeichnung durch diesen Preis.94

Mit der Auszeichnung von Kater Mikesch setzte sich die Jury des DJBP über den „Erlaß des Bundesministers für Familien- und Jugendfragen über den Deutschen Jugendbuchpreis 1963“ hinweg, der dem mit der Durchführung beauftragten Arbeitskreis für Jugendschrifttum (AKJ; heute Arbeitskreis für Jugendliteratur) unter seinem damaligen Präsidenten, Preußlers Freund Heinrich Pleticha95, bzw. der Hauptjury des DJBP (Vorsitzender Wolfgang Grözinger [1902–1965]) ausdrücklich vorschrieb, dass nur Bücher lebender Autoren nominiert werden durften96, was aber auf Lada, der 1957 verstorben war, nicht zutraf.97 Das legt die 91 Zuletzt bei Fischer/Sauerländer 2018. Zur Verbreitung trug auch die Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste (TV-Premiere 1964) bei, die bis heute auf DVD erhältlich ist. 92 Vgl. zu diesen Angaben den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek. 93 Als „literarisch ambitioniert“ bezeichnete Roeder Preußlers Übersetzungen; Roeder, Otfried Preußler, S. 333; von „kongenial“ ist die Rede bei Knechtel, Anna/Krappmann, Jörg: Nachklang, in: Becher/Höhne/Krappmann (Hg.), Handbuch, S. 255–259, hier S. 258. 94 Tabbert, Reinbert: „Swimmy“, „The BFG“ und „Janne min vän“: Prämierte Bücher aus fremden Sprachen, in: Peetz, Heide/Liesenhoff, Dorothea (Hg.): 40 Jahre Deutscher Jugendliteraturpreis. München 1996, S. 49–67, hier S. 53f. 95 Wie Preußler stammte Pleticha, geboren 1924 in Warnsdorf/Varnsdorf, aus dem Sudetenland. 96 „Die Preise können nur an lebende Autoren vergeben werden“; Erlaß des Bundesministers für Familien- und Jugendfragen über den Deutschen Jugendbuchpreis 1963, in: Jugendliteratur 10/1962, S. 478f., hier S. 478. 97 Dieses Vorgehen scheint seinerzeit allerdings nicht unüblich gewesen zu sein: „Alle Satzungen […] werden unbekümmert mißachtet und außer Kraft gesetzt, wenn es irgendwem gerade paßt“; Metzger, Juliane: Deutscher Jugendbuchpreis, in: Jugendliteratur 11/1963, S. 525–527, hier S. 525.

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Annahme nahe, dass die Verantwortlichen ganz bewusst ein tschechisches Kinderbuch auszeichnen wollten.98 Das Politische der Juryentscheidung wurde aufmerksam registriert: Nachdem mir erst kürzlich von einem Filmbeauftragten erklärt wurde, daß er in Bonn [dem damaligen Sitz der Bundesregierung] Schwierigkeiten bekomme, wenn er aus dem Osten stammende Kinderfilme empfehle, blieb mir über dem selbstmörderischen Mut der Jury, ein tschechisches Buch zu prämieren, vor Staunen der Mund offen stehen.99

Zwar blieb der erwartete Eklat angesichts der Juryentscheidung aus, aber die Tatsache, dass 1963 zum ersten Mal seit der Gründung des Preises im Jahr 1956 ein tschechisches Kinderbuch mit dem einzigen deutschen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde, hatte weitreichende Folgen. So öffnete die Auszeichnung dem tschechischen Kinderbuchklassiker den Weg in andere Sprach- und Kulturräume. Ab 1966 wurde Kater Mikesch auf der Grundlage der deutschen Fassung ins Englische, Dänische, Schwedische, Spanische sowie Japanische übersetzt und erschien 1968 leicht gekürzt auch in der DDR.100 Außerdem fiel mit der Auszeichnung von Kater Mikesch auch die Hürde, tschechische Kinder- und Jugendbücher im Rahmen des DJBP zu nominieren und auszuzeichnen101, was, wie gezeigt, ab Ende der 1960er-Jahre in Westdeutschland zu einem deutlich messbaren Anstieg an Übersetzungen aus dem Tschechischen führte. Dass in den 1950er- und -60er-Jahren unter den Übersetzer:innen aus dem Tschechischen „überaus oft Vertriebene, Ausgewiesene und Emigranten“102 waren, ist sicher kein Zufall, dürften doch viele von ihnen wie Preußler zweisprachig aufgewachsen sein. Franz Peter Künzel, geboren 1925 in Königgrätz/ 98 Ob das auch als Zeichen der deutsch-tschechischen Versöhnung intendiert war, lässt sich nicht nachweisen. 99 Metzger, Deutscher Jugendbuchpreis, S. 525 [Hervorhebung durch A. W.]. 100 Denselben Effekt hatte die Nominierung von Das Geheimnis der orangenfarbenen Katze für den DJBP 1969. Das Buch wurde 1970/71 ins Bulgarische, Dänische, Japanische und Spanische übersetzt. Kater Schnurr mit den blauen Augen dagegen wurde nicht nominiert und auch nicht in andere Sprachen übersetzt. Vgl. Pleticha, Heinrich (Hg.): Otfried Preußler. Werk und Wirkung. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Otfried Preußler. Stuttgart 1983, S. 142f. 101 1969 wurde ein tschechisches Sachbuch nominiert und ein Jugendbuch ausgezeichnet (Es lebe die Republik von Jan Procházka). In den 1970er-Jahren wurden 15 tschechische Titel für den DJBP nominiert und eines ausgezeichnet. Vgl. das Archiv des Deutschen Jugendliteraturpreises unter https://www.jugendliteratur.org/suche-im-archiv/c-108 [04. 08. 2021]. 102 Künzel, Übersetzungen, S. 9. Über die Herkunft der Übersetzer:innen, die in den 1960er- und -70er-Jahren zur Verbreitung der tschechischen Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum beitrugen (Erich von Bertleff, Erika Honolka, Adolf Langer, Peter Vilimek u. v. a.), ließ sich zu wenig herausfinden, um Künzels Aussage auf den kinder- und jugendliterarischen Bereich übertragen zu können.

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Hradec Králové, der u. a. auch zehn Kinder- und Jugendbücher aus dem Tschechischen und Slowakischen übersetzte, war jedenfalls davon überzeugt, dass die sudetendeutschen Übersetzer:innen […] unabhängig von persönlichen Erfahrungen und Anfeindungen als objektive Mittler tschechischer und slowakischer Literatur […] tätig waren und sind; die meisten beteiligten sich auch vor und nach dem Erscheinen der von ihnen selbst oder von ihren Kollegen übersetzten Titel an deren Propagierung […].103

Ob man auch Preußler als einen objektiven Vermittler bezeichnen kann, soll mit Hilfe der Kulturtransferforschung beantwortet werden.

5.

… und als Gatekeeper

Wie bereits gezeigt wurde, agierte Preußler zunächst als Literaturvermittler, bevor er auch als Übersetzer in Erscheinung trat.104 Im kinderliterarischen Bereich verfügen Vermittler:innen über eine starke Machtposition.105 Einerseits haben sie einen Überblick über das literarische Angebot, aus dem sie eine Vorauswahl treffen und sind andererseits mit den literarischen Vorlieben und Interessen der Leser:innen vertraut, für die sie nach passenden Angeboten suchen.106 Ihre Entscheidungen treffen sie auf der Basis ihrer Vorstellung davon, welche Lektüre für einen bestimmten, ihnen vertrauten Leserkreis geeignet ist. Indem sie nur literarische Angebote weiterleiten, die ihren Vorstellungen entsprechen, sind sie weder objektiv oder unvoreingenommen noch neutral, sondern betätigen sich als eingreifende Vermittler oder Gatekeeper.107

103 Künzel, Übersetzungen, S. 9 [Hervorhebung durch A. W.]. Künzel ist, soweit bekannt, der einzige Übersetzer aus dem Tschechischen, der sich aus Gründen der „geistigen Wiedergutmachung“ bewusst dafür entschied, aus dem Tschechischen zu übersetzen; Jähnichen, Manfred: Franz Peter Künzel – Überwinder der Grenzen und Wegbereiter der Verständigung, in: ders. (Hg.): Franz Peter Künzel. Dreifach Diener der Literatur als Übersetzer, Lektor und Redakteur. Nürnberg 2009, S. 10–25, hier S. 11. Preußler und Künzel, der seit 1938 in Reichenberg lebte, waren befreundet; vgl. Preußler, Otfried: Franz Peter Künzel zum Siebzigsten, in: Jähnichen/ Künzel, S. 116–118, hier S. 118. 104 In den 1960er-Jahren, nach dem Erfolg von Kater Mikesch, war Preußler dann auch als Gutachter für den Sauerländer Verlag tätig und konnte so die Entscheidung, was übersetzt wird und was nicht, mitbeeinflussen. Vgl. Maeder, Erinnerung, S. 147f. 105 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Paderborn 22012, S. 39. 106 Vgl. ebd., S. 34f. 107 Laut Ewers unterscheiden sich eingreifende von neutralen Vermittler:innen dadurch, dass sie ihre eigene Literaturauffassung und ihre Vorstellung von geeigneter Kinder- und Jugendlektüre einbringen und nur die literarischen Botschaften weiterleiten, die ihnen zusagen. Vgl. Ewers, Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 38.

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Der Erfolg von Kater Mikesch bei der Kritik und beim Publikum bestätigt Preußlers gelungene Auswahl.108 Mit Blick auf den deutschsprachigen Buchmarkt der Jahre 1945 bis 1968 stellte Martina Seifert fest, dass […] neben den Märchensammlungen insbesondere die Klassiker und die prominenten Autoren der Zwischenkriegszeit von Interesse [waren]. […] Die Selektionsstrategien lassen eindeutig die Präferenz von märchenhaften Genres, von Nonsense und Phantastik im Kinderbuchbereich erkennen.109

Kater Mikesch lag demnach nicht nur im Trend der Zeit, sondern prägte ihn zugleich auch mit. Umso mehr fällt auf, dass Preußler in einer Zeit der stetig wachsenden Nachfrage nach tschechischen Kinder- und Jugendbüchern den Trend zu märchenhaften Genres nicht nutzte, um weitere Werke von Lada, wie etwa die von ihm ausdrücklich gelobte Sammlung ‚drolliger Märchen‘ Nezbedné pohádky oder die Sammlung ‚verrückter Märchen‘ Bubáci a hastrmani a jiné pohádky, entweder selbst zu übersetzen oder deren Übersetzung durch andere anzuregen. Das lenkt den Blick auf seine Selektionskriterien. Wie einleitend bemerkt wurde, betrachtet die Kulturtransferforschung nicht nur Prozesse des Transfers, sondern ebenso „Phänomene der Verweigerung, der mentalen und kulturellen Resistenz, der Nicht-Rezeption oder stark verzögerten Aufnahme.“110 Bei Entscheidungen von Übersetzer:innen für oder gegen eine Übersetzung dürften sich mentale, auf Vorstellungen von geeigneter Kinderlektüre basierende Ansichten mit emotionalen Einstellungsmustern zu anderen Kulturen überlagern und gegenseitig verstärken. Schwer fassbar sind diese Überlagerungen, weil nicht nur kulturelle Einstellungsmuster, sondern auch Kindheitsauffassungen und Vorstellungen von geeigneter Kinderlektüre in der Kindheit und Jugend erworben werden und durch sie geprägt sind.111 Wie stark Preußlers kulturelles Einstellungsmuster und seine Literaturauffassung biographisch geprägt sind, legt der Beitrag Mein Partner und ich offen, in dem er den kinderliterarischen Schreibprozess als enge Kooperation des Schriftstellers

108 Bereits 1963, im Jahr der Preisverleihung, stieg die Auflage auf 20.000 Exemplare und erreichte 1969 80.000 Exemplare. 1964 wurde die Geschichte vom sprechenden Kater von der Augsburger Puppenkiste für das Fernsehen verfilmt. Die erste Schallplatte von Kater Mikesch kam 1966 auf den Markt. Außerdem liegt seit 1964 eine gekürzte Fassung in der Hirschgraben-Lesereihe vor, so dass Kater Mikesch auch in den Deutschunterricht hineinwirkte. 109 Seifert, Tschechische Kinder- und Jugendliteratur, S. 866. 110 Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation, S. 156 [Hervorhebung durch A. W.]. 111 „Eine jede Kindheits- und Jugendauffassung dürfte aber in nicht unwesentlichem Maße auch durch die eigene Kindheit und Jugend geprägt sein“; Ewers, Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 170.

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mit seinem ‚Partner‘, dem Kind, das er einmal war, beschreibt.112 In seinem Fall handelt es sich bei dem Kind, das ihm nicht nur beim Schreiben, sondern – unausgesprochen – auch beim Auswählen und Übersetzen über die Schulter blickte, um den „kleinen [deutschen] Jungen aus Reichenberg in Böhmen, der ich gestern gewesen bin.“113 Dieser kleine Junge fand im ersten Band von Mikesˇ „die typischen Gestalten und Vorkommnisse des tschechischen Dorflebens“114, das er selbst von zahlreichen Besuchen bei seinen tschechischen Verwandten aus seiner Kindheit kannte.115 Dabei registrierte Preußler, dass Lada das tschechische Dorfleben „auf liebenswürdige Weise verulkt“116 bzw. auf „treuherzig-augenzwinkernde Art“ darstellte.117 Diese mild-ironische Distanz des Originals zur dargestellten Welt dürfte Preußler den Zugang zu dem tschechischen Kinderklassiker erleichtert haben. Einen vergleichbaren Wiedererkennungseffekt hatte er beim zweiten Band, der hauptsächlich von Mikeschs Abenteuern im Zirkus Klutzky handelt, nicht. Wie das Zusammenwirken von kultureller und mentaler Resistenz Übersetzungen verhindert, lässt sich am Beispiel von Nezbedné pohádky zeigen. Obwohl Preußler in seiner Rezension von 1959 Ladas ‚drollige Märchen‘ ausdrücklich lobte, erschienen sie ihm nicht als geeignete Lektüre für deutsche bzw. deutschsprachige Kinder. Seine Vorbehalte entzündeten sich an ihrem Verhältnis zur volksliterarischen Tradition, das sich von seinem fundamental unterschied. Schon in seiner Rezension von 1959 wird deutlich, dass es sich bei Ladas drolligen Märchen um Märchenparodien handelt, die von der Märchentradition, wie Preußler sie in seiner Kindheit kennenlernte, abweichen: Josef Lada erzählt in Wort und Bild sechs ‚Märchen‘ von Drachen, Feen, Teufeln, Prinzessinnen, Räubern und allerlei Leuten. Aber obgleich er viele wohlbekannte Motive verwendet, sind sie ihm unter der Hand zu etwas ganz Neuem geraten. Mitunter verkehrt er die überlieferten Vorlagen in das genaue Gegenteil – so etwa im ‚Aschenpuster‘, einem männlichen Gegenstück zu unserem [deutschen] Aschenbrödel, oder in

112 Der Beitrag erschien zuerst 1971, und zwar zeitgleich auf Deutsch und Tschechisch. Preußler, Otfried: Gespenster sind wichtig, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 62 vom 13./14. 03. 1971, und Preußler, Otfried: Mu˚j partner a já, in: Zlatý Máj 4/1971, S. 268–270. 113 Preußler, Otfried: Mein Partner und ich. Das Prinzip unserer Arbeitsteilung ist denkbar einfach, in: Pleticha, Heinrich (Hg.): Sagen Sie mal, Herr Preußler … Festschrift für Otfried Preußler zum 75. Geburtstag. Stuttgart/ Wien/Bern 1998, S. 96–99, hier S. 99 [Hervorhebung durch A. W.]. 114 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284. Vgl. auch Preußler, Schusters Mikesch, S. 56. 115 Vgl. Preußler, Kácˇa, 2003. 116 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284. 117 Preußler, Schusters Mikesch, S. 56.

Otfried Preußler als Übersetzer tschechischer Kinderbücher

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der ‚Standhaften Prinzessin‘, wo ausnahmsweise einmal die schöne Königstochter den armen Bauernjungen erlöst und nicht umgekehrt […].118

Das intertextuelle Spiel mit bekannten volksliterarischen Vorlagen sprach Preußler als Erwachsenen durchaus an: „Es ist eine reine Freude, diese drolligen Geschichten zu lesen […].“119 Als kinderliterarischer Vermittler aber hatte er grundlegende Vorbehalte gegenüber Märchenparodien, die seiner Vorstellung von geeigneter Lektüre für deutsche Kinder widersprachen.120 Zu seinen Vorbehalten äußerte sich Preußler ausführlich in einem Beitrag, der 1966 zuerst auf Tschechisch erschien.121 Da Preußler in den 1960er-Jahren als Gutachter für den Sauerländer Verlag zahlreiche tschechische Kinderbücher aus der Zeit der Ersten Republik lektorierte122, resultierten seine Ansichten unmittelbar aus seiner Auseinandersetzung mit Märchenparodien von Lada und anderen tschechischen Autor:innen. Der Beitrag liest sich wie eine Abrechnung mit modernen Märchen und Märchenparodien als Kinderlektüre.123 Preußler, der selbst mit Märchen aus aller Welt groß geworden war, war überzeugt davon, dass Kinder Märchen brauchen, aber „richtige Märchen“ und keine „parodistischen Märchen“.124 Als Erwachsenenlektüre ließ er sie gelten125, aber als Kinderlektüre hielt er sie für „ein ausgezeichnetes Mittel, um Kindern den Zugang zur Märchenwelt zu verschütten.“126 Viele moderne Märchen hielt er schlichtweg für „mißraten“127 und lehnte 118 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284 [Hervorhebungen durch A. W.]. Die deutsche Ausgabe, die 1997 erschien, umfasste die folgenden fünf ‚Märchen‘: Die tapfere Prinzessin, Das Märchen vom Aschenbrödler, Der Wunderapfel, Das Märchen vom faulen Hans und Das Märchen vom klitzekleinen Königreich. 119 Preußler, Tschechische Kinderbücher (1), S. 284. 120 Obwohl Preußler gerne davon sprach, dass „Kinder bis zu einem gewissen Alter […] eine quasi internationale Nation“ bilden (Preußler, Otfried: Ich erzähle Geschichten. Ein Blick in die Werkstatt, ein Blick auf das Publikum, in: Pleticha, Sagen Sie mal, S. 86–95, hier S. 87), wirken in seinen Auswahlentscheidungen ganz verdeckt noch seine in der Kindheit erworbenen Ansichten vom Unterschied zwischen deutschen und tschechischen Kindern fort. Anders ist es kaum zu erklären, dass Preußler die Märchenparodien von Lada und anderen, die in Tschechien bis heute als geeignete Kinderlektüre gelten, für deutsche Kinder ablehnte. 121 Preußler, Otfried: Návsˇteˇva u psacího stolu, in: Zlatý Máj 9/1966, S. 491–494. Die deutsche Fassung wurde erst 1970 veröffentlicht: Preußler, Otfried: Besuch am Schreibtisch, in: Jugend und Buch 1/1970, S. 11–14. 122 Vgl. Maeder, Erinnerung, S. 147f. 123 Der Beitrag handelt vom Besuch eines kleinen grauen Männleins bei einem ‚Mann am Schreibtisch‘, der im Begriff ist, ein Märchen zu schreiben. Das graue Männlein und der Mann am Schreibtisch tauschen sich über ihre Ansichten über Märchen und Märchenparodien aus. 124 Preußler, Besuch, S. 12. 125 Vgl. 126 Ebd. 127 Ebd., S. 13. Die erste deutsche Ausgabe von Nezbedné pohádky erschien unter dem Titel Leicht mißratene Märchen, daher könnte es sich hier unausgesprochen um eine Anspielung auf Nezbedné pohádky handeln.

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sie für junge deutsche Leser:innen nachdrücklich ab. Dieses Verdikt dürfte außer Nezbedné pohádky auch Bubáci a hastrmani a jiné pohádky getroffen haben.128 Neben einer mentalen Dimension hatte Preußlers Resistenz gegen Märchenparodien als Lektüre für deutsche Kinder auch eine kulturelle, weil moderne Märchen und Märchenparodien nicht nur als eine „vorwiegend tschechische“129, sondern geradezu als eine „typisch tschechische literarische Erscheinung“ galten.130 Die tschechische Kinder- und Jugendliteraturforscherin Miroslava Gencˇiová (1923–2012), die sich mit diesem Genre beschäftigt und dafür den Begriff ˇ apek „Antimärchen“ geprägt hat131, machte als dessen geistigen Vater Karel C (1890–1938) und seine Neunerlei Märchen (Devatero pohádek, 1932) aus, der u. a. in Lada einen Nachfolger fand: Die Märchen von Lada stellen auf scherzhafte Weise das traditionelle Märchen auf den Kopf. Der Popanz, die Wassermänner und die Gespenster sind solchermaßen zivilisiert, daß sie dem Gemeindeamt ein Gesuch um Spukerlaubnis einreichen müssen. Die Kinder des Wassermanns spielen zusammen mit den übrigen Dorfkindern und gehen mit ihnen in die Schule […]. Alles ist dem Spiel untergeordnet, dem fröhlichen Abenteuer, an dem sich die Kinder beteiligen. Das Ergebnis ist eine vollständige Zerstörung des Mythos der überirdischen Kräfte.132

In den 1960er-Jahren stand Preußler mit seiner Ablehnung von Märchenparodien als Kinderlektüre durchaus nicht alleine da. Mit Franz Caspar vom Sauerländer Verlag, der ihn nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Gutachter für tschechische Kinder- und Jugendliteratur gewinnen konnte, verband ihn die „Überzeugung, die Märchenwelt des Kindes dürfe durch Parodien ‚nicht vergiftet‘ oder zumindest nicht ‚entwertet‘ werden.“133 Für die Rezeption tschechischer Kinder- und Jugendliteratur im westlichen deutschen Sprach- und Kulturraum hatte die Übereinstimmung von Preußler und Caspar weitreichende Konsequenzen: Abgesehen von Ladas Mikesˇ ging aus der Kooperation zwischen 128 Neben den Geschichten vom Wassermann Immergrün und seinem Freund, dem Gespenst Popanz, umfasst diese Ausgabe auch weitere „verrückte Märchen“ bzw. Märchenparodien, nämlich Rotkäppchen und der Wolf Drehbein, Die ungehorsamen Zicklein, Sieben Schneider und eine Fliege sowie Der Knusperalte. 129 Gencˇiová, Miroslava: Das Märchen in der Kinderlektüre. Eine genrevergleichende Studie, in: dies. (Hg.): Kindfigur und Märchenbild. Aufsätze zur tschechischen und slowakischen Literatur für Kinder. Berlin 1981, S. 47–63, hier S. 58. 130 Ebd., S. 91. 131 Gencˇiová verwendet den Begriff anders als André Jolles: „Die Antimärchen setzen die Kenntnis der Volksmärchen voraus, aber durch Umfunktionierung und Anreicherung des Sujets mit Material aus der Gegenwart und mittels phantastisch-humoristischer oder iroˇ tvrtek und nischer Überhöhung entsteht ein neues Literaturmodell, wie es uns bei Lada, C vielen anderen entgegentritt.“ Ebd., S. 91. 132 Ebd., S. 56. 133 Maeder, Erinnerung, S. 148. Maeder zitiert aus einem Brief von Franz Caspar an Preußler, in dem – mutmaßlich – aus einem Brief Preußlers zitiert wird.

Otfried Preußler als Übersetzer tschechischer Kinderbücher

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Preußler und Caspar, die von etwa 1959 bis zu Caspars Ausscheiden aus dem Verlag im Jahr 1966 währte, kein einziges tschechisches Kinder- oder Jugendbuch bei Sauerländer hervor.134 Erst nachdem Caspar den Verlag verlassen hatte und unter der neuen Leitung auch Preußlers Tätigkeit als Gutachter für Sauerländer endete, begann sich das zu ändern. Nicht nur erschien ab 1969 bei Sauerländer alljährlich mindestens ein neues tschechisches Kinder- oder Jugendbuch,135 sondern auch die Lada-Rezeption nahm nun wieder Fahrt auf.136 1974, zwölf Jahre nach dem ersten Teilband, erschien Kater Mikesch. Die neuen Geschichten vom sprechenden Kater, 1977 folgte Ladas Popanz und Immergrün und andere verrückte Märchen, beide in der Übersetzung von Martin Schuster. Nezbedné pohádky erschien erst 1997, also fünfzig Jahre nach der tschechischen Erstausgabe, unter dem Titel Leicht verrückte Märchen in einer um ein Kapitel gekürzten Fassung in der Übersetzung von Jürgen Ostmeyer im Prager Albatros Verlag. Mit ihrer Entscheidung, von Kolárˇs Katzengeschichte abgesehen keine weiteren tschechischen Kinder- und Jugendbücher zu übersetzen, agierten Caspar und Preußler als eingreifende Vermittler oder Gatekeeper. Die Frage nach der Bedeutung Preußlers als Brückenbauer zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei würde aber zu kurz greifen, wenn man nur auf seine Rolle als Übersetzer schauen würde, denn Preußler betätigte sich auch auf andere Weise als Vermittler. Dieser Aspekt soll abschließend gewürdigt werden.

6.

Preußler als interkulturelle Vermittlerfigur in weiteren Rollen

Preußlers Vermittlerrolle galt überwiegend der tschechischen Kinderliteratur. Nur einmal vermittelte er dem deutschen Publikum auch einen Einblick in die slowakische Kinder- und Jugendliteratur. 1968, mit einem Jahr Verspätung, erschien sein Bericht über eine Ausstellung slowakischer Kinderbücher, die im März 1967 in der IJB eröffnet worden war. Darin stellte er die Bedeutung von Rudo Moric für den Verlag Mladé letá und die Entwicklung der slowakischen Kinder- und Jugendliteratur besonders heraus und gab, wie schon in seinen

134 Die Übersetzung von Kolarˇs Z deníku kocoura Modroocˇka wurde mutmaßlich noch während Caspars Zeit bei Sauerländer begonnen. Kater Schnurr mit den blauen Augen erschien dann aber erst 1969 im Thienemann Verlag. 135 Eine Recherche in der Deutschen Nationalbibliothek ergab folgende Zahlen: 1969 und 1970 erschien jeweils eine Übersetzung aus dem Tschechischen, 1971 waren es drei, 1972 zwei, 1973 eine, 1974 vier, 1975 drei, 1976 vier, 1977 fünf, 1978 zwei, 1979 keine und 1980 zwei. 136 In den Jahren 1957 bis 1997, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 1970er-Jahren, erschienen insgesamt neun Werke von Lada in deutscher Sprache: in den 1950er- und -60erJahren jeweils eines, in den 1970er-Jahren vier, in den 1980ern eines und in den 1990erJahren zwei.

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Rezensionen tschechischer Kinderbücher, Hinweise auf übersetzenswerte Bücher und interessante Buchreihen.137 Noch in den 1960er-Jahren ebnete er dem ersten Mädchenroman der tscheˇ ervenková den Zugang zum westdeutschen Buchmarkt. chischen Autorin Jana C Dabei handelte es sich, soweit bekannt, um eine Ausnahme und wohl um einen ˇ ervenková war die Ehefrau seines Freundes Jan Freundschaftsdienst, denn Jana C ˇ Cervenka. Preußler begleitete die Entstehung des Romans Dana (Ctyrlistek pro steti, 1969) von der ersten Manuskriptfassung an über mehrere Jahre138 bis zu seinem Erscheinen. Die Übersetzung stammte nicht von ihm, sondern von Peter Vilimek, aber Preußler verfasste ein Nachwort, das dem Roman zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen sollte.139 Inwiefern er dem Roman auch einen Verlag vermittelte, ist nicht bekannt.140 Preußlers Zusammenarbeit mit tschechischen Kulturschaffenden erstreckte sich, wie bereits erwähnt, auch auf tschechische Filmregisseure (Zeman, Smetana) und Illustratoren (Smetana). 1992 verfilmte der seit 1987 in München lebende tschechische Regisseur Juraj Herz (1934–2018) Preußlers Bilderbuch Die dumme Augustine. Der Film wurde mit dem Bayerischen Filmpreis 1992 ausgezeichnet, die Laudatio auf den Preisträger hielt Preußler.141 Aus der Zusammenarbeit mit dem aus Korˇenov/Bad Wurzelsdorf stammenden Illustrator Werner Schinko (1929–2016) ging 2001 das Bilderbuch Wasserschratz und Tatzenkatze hervor.

7.

Zusammenfassung und Schluss

Preußler entwickelte sich in den 1960er-Jahren zu einer einflussreichen interkulturellen Vermittlerfigur. Vor allem in seiner Rolle als Übersetzer tschechischer Kinderbücher erwarb er sich den Ruf eines Brückenbauers zwischen Ost und West. Tatsächlich konnte seine Übersetzung des ersten Bandes von Josef Ladas Mikesˇ aufgrund seiner Auszeichnung als bestes Kinderbuch des Jahres 1963 der tschechischen Kinder- und Jugendliteratur die Tür in den westlichen 137 Preußler, Otfried: Kinderbücher aus der Slowakei. Eine Ausstellung in der Internationalen Jugendbibliothek, in: Zeitschrift für Jugendliteratur 4/1968, S. 249–255. ˇ ervenková, in: C ˇ ervenková, Jana: Dana. 138 Vgl. Preußler, Otfried: Über Dana, Beate und Jana C Mit einem Nachwort von Otfried Preußler. Baden-Baden 1970, S. 179–181, hier S. 179. 139 Dana wurde 1971 für den DJBP nominiert. 1973 erschien eine Taschenbuchausgabe im Arena-Verlag, Würzburg. 140 Für den 1959 gegründeten Signal-Verlag, Baden-Baden, war Dana die erste Übersetzung aus dem Tschechischen, der in unregelmäßigen Abständen weitere folgten. Im Signal-Verlag ˇ ervenková (Ein neuer Tag, ein erschien 1978 auch der zweite Mädchenroman von Jana C neues Leben, zuerst 1978 Krok pres práh) in der Übersetzung von Franz Peter Künzel. 141 Vgl. Jugendbuchmagazin 1/1993, S. 34.

Otfried Preußler als Übersetzer tschechischer Kinderbücher

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deutschen Sprach- und Kulturraum und darüber hinaus öffnen und ihr so auf längere Sicht zum Durchbruch verhelfen. Aber auch in der Rolle des Gutachters nahm Preußler Einfluss auf die Rezeption der tschechischen Kinder- und Jugendliteratur. Von wenigen Fällen abgesehen, in denen er in dieser Rolle auch öffentlich hervortrat,142 agierte er dabei im Hintergrund. So nutzte er während seiner Zeit als Gutachter für den Sauerländer Verlag seinen Einfluss, um Werken, die seinen Vorstellungen von geeigneter Kinderlektüre nicht entsprachen, eine Empfehlung zu versagen. Als Ursache dafür wurde eine tiefsitzende kulturelle und mentale Resistenz ausgemacht, die er noch aus seiner Kindheit und Jugend mitgebracht hatte. Besonders davon betroffen waren die typisch tschechischen modernen Märchenparodien. Das führte im Fall von Josef Ladas Kinderbüchern dazu, dass einige von ihnen im deutschen Sprach- und Kulturraum erst mit großer zeitlicher Verzögerung rezipiert wurden, während andere gar nicht erst übersetzt wurden.143 Insofern ist das Bild von Preußler als einem Brückenbauer um das von Preußler als einem eingreifenden Vermittler und Gatekeeper zu ergänzen.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Lada, Josef: Cover, aus: Lada, Josef: Kater Mikesch. Geschichten vom Kater, der sprechen konnte. Deutsch nacherzählt von Otfried Preußler. Aarau/Frankfurt am Main 1962. © 1958, Josef Lada – heir, Published by arrangement with Albatros, Prague, Czech Republic. © 2013, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main. Erstmals erschienen 2003 bei der Patmos Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf. Abb. 2: Lada, Josef: Cover, aus: Lada, Josef: Kater Mikesch. Neue Geschichten vom Kater, der sprechen konnte. Deutsch nacherzählt von Martin Schuster. Aarau/Frankfurt am Main 1974. © 1958, 1960 der tschechischen Originalausgabe (Mikesˇ, Alena Ladová) by Josef Lada. © 1974 Text, Illustrationen und Ausstattung der deutschen Ausgabe by Verlag Sauerländer, Aarau und Frankfurt am Main. © 2013, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main. Erstmals erschienen 1974 bei Sauerländer, Aarau/Switzerland and Frankfurt am Main/Germany. Abb. 3: Lada, Josef: Cover, aus: Lada, Josef: Popanz und Immergrün und andere verrückte Märchen. Deutsch von Martin Schuster. Aarau/Frankfurt am Main 1977. © der Originalausgabe 1939–1969 by Alena Ladová. © Illustrationen und Übersetzung 1977 by Verlag Sauerländer, Aarau/Switzerland and Frankfurt am Main/Germany. 142 Durch seine Sammelrezensionen tschechischer Kinder- und Jugendbücher 1959/60 und als Verfasser eines Nachworts. 143 Das betraf etwa die Abenteuer des schlauen Gevatters Fuchs (O chytré kmotrˇe lisˇce, 1946), die bis heute in Tschechien erhältlich sind. Zusammen mit Bubáci a hastrmani und Nezbedné pohádky erschienen sie 1971 in der Sammlung Ladovy pohádky.

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© 2013, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D60596 Frankfurt am Main. Erstmals erschienen 1977 bei Sauerländer, Switzerland and Frankfurt am Main/Germany.

Monika Preuß (Dortmund)

Von fremden Wesen und wo sie zu finden sind. Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren am Beispiel von Ricarda Terschaks Elmolin und Die Zauberin Uhle

1.

Einleitung

Während die rumäniendeutsche Literatur1 für Erwachsene 2009 durch die Vergabe des Literaturnobelpreises an Herta Müller in den Blickwinkel der Öffentlichkeit und der Literaturwissenschaft rückte, ist die rumäniendeutsche Kinderund Jugendliteratur insgesamt nur wenig erforscht.2 Dabei gibt es vielfältige Bedingungsgefüge und Beziehungen zwischen Rumänien und Deutschland. Die rumäniendeutschen Autor:innen nahmen als Übersetzer:innen rumänischer Literatur ins Deutsche auch eine Vermittlungstätigkeit ein. Das rumäniendeutsche Verlagswesen spielte auch für die Verfügbarkeit von Literatur für Bürger:innen der DDR eine Rolle.3 In Rumänien bewegte sich der Diskurs um Kinder- und Jugendliteratur zwischen Subversion, politischer Erziehung, ästhetischem Diskurs und normativer Orientierung an „kindgerechter Literatur“. Anhand von Elmolin und Die Zauberin Uhle von Ricarda Terschak werden zwei Fälle der spezifischen „Übersetzungs-“ und Diskurssituation der rumäniendeutschen Kinder- und Jugendliteratur analysiert. Elmolin wurde 1985 in Bukarest und 1990 in Leipzig veröffentlicht. Das Puppentheaterstück Das Schlangenmädchen, das auf der Erzählung Die Zauberin Uhle basiert, wurde sowohl auf Deutsch als auch Rumänisch im Puppentheater in Sibiu/Hermannstadt aufgeführt.

1 Zur Diskussion dieses Begriffs vgl. z. B. Weber, Annemarie: Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944–1971). Köln/Weimar/Wien 2010, S. 1ff. 2 Vgl. Weber, Annemarie: Deutsche Kinder- und Jugendliteratur in Rumänien 1945–1989. Bericht zum Forschungsprojekt an der Bielefelder Universität. Germanistische Beiträge Sibiu/ Hermannstadt 11/2004, S. 135–143, hier S. 135f. 3 So waren die Werke Karl Mays in Rumänien länger erhältlich als in der DDR und somit eine Attraktion für Tourist:innen. Vgl. Oschlies, Wolf: Deutsche Buchkultur in Rumänien 1950– 1990. Ein aktuelles Gespräch mit Hedi Hauser vom „Kriterion“-Verlag in Bukarest. Köln 1990, S. 2.

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2.

Monika Preuß

Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren zwischen kinderliterarischer Orientierung und Subversion

Rumäniendeutsche Kinderliteratur zeichnet sich durch das Zusammenspiel mehrerer Bezugslinien aus. Einerseits bezieht sie sich auf die Literatur aus Deutschland,4 andererseits auf Märchen und Sagen aus den verschiedenen Gebieten Rumäniens, in denen die rumäniendeutsche Minderheit lebt(e),5 sowie auf viele weitere, nicht zuletzt auch autobiographische Einflüsse. Manche Romane thematisieren explizit die Gemeinschaft verschiedener ethnischer Gruppen6 oder erzählen von der Situation der Rumäniendeutschen während des Zweiten Weltkriegs. Karin Gündisch, die 1984 ausgereist7 ist, thematisiert auch die Erlebnisse rumäniendeutscher Kinder in der Bundesrepublik.8 Einen grundlegenden Überblick über die rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur bietet die 2004 erschienene Bibliographie,9 die in einem Projekt an der Universität Bielefeld entstanden ist. In dieser sind exemplarisch (Privat-) Bibliotheken in Rumänien im Hinblick auf den Bestand an deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur erfasst.10 Während die Richtung der Veröffentlichungen nach der Ausreise vom Westen in den Osten war, verlief die Rezeption bei rumäniendeutschen Kinder- und Jugendbuchautor:innen, die in Rumänien geblieben sind, teilweise genau umgekehrt vom Osten in den Westen. Bei den 4 So gab Karin Gündisch 1979 in Rumänien eine kommentierte und mit Übersetzungshilfen versehene Ausgabe von Emil und die Detektive heraus. In Anthologien sind Texte unter anderem von Wilhelm Busch, James Krüss, Johannes R. Becher, aber auch Gedichte von Goethe und Hoffmann von Fallersleben enthalten. Vgl. z. B.: Hauser, Hedi (Hg.): Der Wunschring. Ein Lese- und Spielbuch für Kinder, zusammengestellt von Hedi Hauser. Bukarest 1977. Diese Sammlung erreichte vier Auflagen (1977, 1980, 1983 und 1989). 5 Besonders viel Literatur ist in Siebenbürgen (rum. Transsylvanien) und im Banat entstanden. 6 Vgl. z. B. Gündisch, Karin: Cosmin. Von einem, der auszog, das Leben zu lernen. München/ Wien 2005; Gündisch, Karin: Lilli findet einen Zwilling. Düsseldorf 2007. 7 In den 1980er-Jahren sind viele Rumäniendeutsche ‚ausgereist‘. Viele wurden von der Bundesrepublik „freigekauft“. Vgl. Hüsch, Heinz-Günther/Baier, Hannelore/Meinhardt, Ernst: Kauf von Freiheit. Heinz-Günther Hüsch im Interview mit Hannelore Baier und Ernst Meinhardt. Hermannstadt 2013. 8 Vgl. Gündisch, Karin: Im Land der Schokolade und Bananen. Zwei Kinder kommen in ein fremdes Land. Weinheim/Basel 1987. 9 Weber, Annemarie/Josting, Petra/Hopster, Norbert (Hg.): Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur 1944–1989. Eine Bibliographie. Köln/Weimar/Wien 2004. 10 Vgl. auch Weber, Annemarie: Die Kinderabteilung der ASTRA-Bibliothek in Sibiu/Hermannstadt: Eine historische Bibliographie ihres deutschsprachigen Bestandes. Cluj-Napoca 2006. Beispielanalysen von rumäniendeutscher Kinder- und Jugendliteratur mit dem Blick auf die Repräsentation des Anderen von 1918 bis 1989 finden sich in: Erzse-Boitor, Kinga: Das Bild des Anderen in der rumäniendeutschen Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt am Main 2009.

Von fremden Wesen und wo sie zu finden sind

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rumäniendeutschen Kinderbüchern, die in der DDR publiziert oder verkauft wurden, handelt es sich zudem – bezogen auf die politischen Systeme und aus dem Blick der BRD bzw. wiedervereinigten Bundesrepublik – um einen Ost-OstTransfer, der nicht nur geographisch und ökonomisch, sondern auch als OstWest-Bewegung verstanden werden kann. Hervorzuheben ist eine von Angi Petrescu-Tipa˘rescu illustrierte Ausgabe der Märchen der Brüder Grimm, die 1977 sowohl in Bukarest im Kriterion-Verlag als auch in Wiesbaden bei Vollmer erschien und somit ein seltenes Beispiel für Kinder- und Jugendliteratur aus Rumänien in der BRD vor 1990 darstellt.11 Die (deutschsprachige) Kinder- und Jugendliteraturproduktion in Rumänien war in den 1980er-Jahren von verschiedenen Dynamiken geprägt. So können für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur rumäniendeutscher Schriftsteller:innen zwei Gruppen ausgemacht werden. Jene Autoren, die bereits als Lyriker und Prosaschriftsteller für Erwachsene erfolgreich waren, beriefen sich auf ebenfalls sowohl im Erwachsenen- als auch im Kinderbuchsegment erfolgreiche Literaten der DDR (z. B. Peter Hacks und Rainer Kunze). Auch Joachim Ringelnatz und Bertolt Brecht galten als Vorbilder für die eigene Kinderliteratur.12 Franz Hodjak, Rolf Bossert und Richard Wagner wurden dabei von Werner Söllner unterstützt, einem bekannten rumäniendeutschen Lyriker, der in den Jahren 1976 bis 1982 in der deutschsprachigen Abteilung des Kinderbuchverlags Ion Creanga˘ tätig war. Obwohl die Anzahl der Kinderbücher – gemessen an dem jeweiligen Gesamtwerk der Autoren – gering blieb, waren diese insbesondere durch die gegenseitigen Rezensionen wirkmächtig in der Diskussion über die Funktion von Kinder- und Jugendliteratur. Dabei vertraten sie die Position, dass Veröffentlichungen aus der Kinder- und Jugendliteratur weniger als Vehikel sozialistischer Erziehung, sondern vielmehr als anspruchsvolle ästhetische Werke rezipiert werden sollten.13 Zu Beginn der 1980er-Jahre wurden Kinderbücher zudem als Möglichkeit zur subversiven Kritik an den politischen und ökonomischen Zuständen in Rumänien genutzt.14 Dies gelang, obwohl seit den 1970er-Jahren Vertreter der Kommunistischen Partei direkt in den Verlagen die

11 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: König Drosselbart und andere Märchen. Bukarest/Wiesbaden 1977. 12 Vgl. Weber, Annemarie: Kinder- und Jugendliteratur. Vom low brow- zum high brow-Segment der rumäniendeutschen Literatur, in: Bourguignon, Anne/Harrer, Konrad/HinterederEmde, Franz (Hg.): Hohe und niedere Literatur. Tendenzen zur Ausgrenzung, Vereinnahmung und Mischung im deutschsprachigen Raum. Berlin 2015, S. 291–302, hier S. 294f. und S. 301. 13 Vgl. ebd., S. 301. 14 Vgl. ebd., S. 298.

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Zensur ausübten.15 Diese Entwicklung stagnierte in den 1980er-Jahren durch die restriktivere Politik Nicolae Ceaus,escus16 und die Ausreise bzw. Flucht vieler Rumäniendeutscher.17 Die andere Gruppe bildeten Autorinnen, die sich gegenüber den Männern kulturpolitisch in einer schwierigeren Position befanden. So profitierten sie weniger von der Praxis des gegenseitigen Rezensierens und waren als Lehrerinnen nicht im Literaturbetrieb situiert.18 Zu ihnen gehörten z. B. Karin Gündisch in ihrer Anfangszeit in Rumänien19 und Ricarda Terschak. Eine Ausnahme bildete hier Hedi Hauser, die sogar im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Rumäniens sowie Abgeordnete im Parlament war. Ab 1969 arbeitete sie im neu gegründeten „Kriterion-Verlag für die mitwohnenden Nationalitäten“20 als Lektorin und betreute die Veröffentlichung deutschsprachiger Kinderbücher.21 Zensur und Einwände von Vertreter:innen der Regierung erschwerten die Veröffentlichung von Büchern der deutschen Minderheit.22 Rumäniendeutsche Schriftsteller:innen waren immer wieder massiv von Verfolgung durch die Securitate betroffen. Dies zeigen der „Kronstädter Schriftstellerprozess“ von 195923 und die, auch literarisch verarbeiteten Erfahrungen, von Verhören sowie die Angst vor der Securitate, selbst in Deutschland.24 Die rumäniendeutsche Literatur war jedoch auch durch eigene Verlage oder Verlagsabteilungen institutionell verankert.25 Dabei spielte aber auch der Wunsch eine Rolle, rumänische Literatur den Minderheiten zugänglich zu machen und diese so stärker an der rumänischen Tradition zu orientieren.26 Allerdings lasen deutsche Intellektuelle häufig die sie interessierende Literatur bereits bei Erscheinen auf Rumänisch. 15 Vgl. Weber, Annemarie: Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur 1944–1989, in: Weber, Annemarie/Josting, Petra/Hopster, Norbert (Hg.): Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur 1944–1989. Eine Bibliographie. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–48, hier S. 13. 16 Vgl. Spiridon-S¸erbu, Claudia: Zensur in der rumäniendeutschen Literatur der 1970er und 1980er Jahre. Wien/Zürich 2018, S. 62ff. 17 Vgl. Weber, Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur 1944–1989, S. 201. Beziehungen zur bundesdeutschen Literatur wurden ab Ende der 1970er-Jahre politisch immer schwieriger. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Hedi Hauser 1990 das erste Mal seit 12 Jahren wieder zur Frankfurter Buchmesse fahren konnte. Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 1. 18 Vgl. Weber, Vom low brow- zum high brow-Segment, S. 297, S. 299. 19 Vgl. ebd., S. 299. 20 Aus dem deutschen Kulturgeschehen in der Heimat, in: Zeidner Gruss. Heimatbrief der Zeidner Nachbarschaft 17/1970 (Advent 1970), S. 4. 21 Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 1. 22 Vgl. ebd., S. 3ff. 23 Vgl. Spiridon-S¸erbu, Zensur in der rumäniendeutschen Literatur, S. 48ff. 24 Vgl. z. B.: Banciu, Carmen-Francesca: Vaterflucht. Berlin 1998; Müller, Herta: Reisende auf einem Bein. Berlin 1992. 25 Vgl. Spiridon-S¸erbu, Zensur in der rumäniendeutschen Literatur, S. 53ff. 26 Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 4.

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Die Verlage versuchten daher, die deutschen Übersetzungen zu exportieren.27 Auch spielten Exporte Devisen ein, sodass manche Werke kaum in Rumänien selbst vorhanden waren.28 Ein Beispiel hierfür ist die Übertragung des kapitalismuskritischen rumänischen Kinderbuchklassikers der Nachkriegszeit29 Pove¸sti cu Tâlc von Alexandru Mitru. Wörtlich übersetzt bedeutet dies „Märchen mit Bedeutung“ und erzählt von der Tyrannei eines bösartigen Königs und seiner Töchter. Die deutsche Fassung Die verwöhnten Prinzessinnen30, übersetzt von Hedi Hauser31, kam im Berliner Kinderbuchverlag in der DDR heraus. Während in Deutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren rumänische Kinder- und Jugendliteratur in Übersetzungen erschien, ist dies aktuell kaum der Fall.32 Die Produktion günstiger Bücher war Teil der Kulturpolitik. Literatur sollte auch unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen möglichst erschwinglich bleiben.33 Illustrationen waren häufig nur Märchenausgaben oder der Kinderund Jugendliteratur vorbehalten. Zu Beginn der 1980er-Jahre zeichnete sich ab, dass aufgrund von Ressourcenmangel vermehrt nur auf dünnem Papier gedruckt und – wenn überhaupt – mit schwarz-weißen Illustrationen gearbeitet werden konnte.34 Manche Romane für Kinder von männlichen Autoren, wie z. B. Mi und Mo und Balthasar von Rolf Bossert35, richteten sich in ihren kulturellen und sys27 Vgl. ebd., S. 9. 28 Vgl. ebd., S. 15. 29 Vgl. Bode, Andreas: Die verwöhnten Prinzessinnen, in: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/ Kramer, Thomas (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart 2006, Sp. 1285. 30 Mitru, Alexandru: Die verwöhnten Prinzessinnen. Berlin 1983. 31 Hedi Hauser hat neben ihrer eigenen Autorinnen- und Verlagstätigkeit auch viel übersetzt; so beispielsweise 1971 sechs Bilderbücher des bekannten rumänischen Autors Tudor Arghezi mit Illustrationen von Silvia Cambir für den Bukarester Jugendverlag, darunter Arghezi, Tudor: Eine Lokomotive und ein Bahnhof. Bukarest 1971 (O locomotivă s¸i gară . Bucures¸ti 1968). Zu Tudor Arghezi siehe Köhler, Hartmut: Arghezi, Tudor, in: Bernath, Mathias/ Schroeder, Felix von: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 1. München 1974, S. 93–94. 32 Auf der Leipziger Buchmesse 2018 war das Gastland Rumänien kaum mit Kinder- und Jugendliteratur vertreten. Ausnahmen bildeten wenige Märchenlesungen und die in Deutschland lebenden und auf Deutsch schreibenden Autorinnen Adriana Popescu und Yvonne Hergane, die sich in ihrem Werk (bis jetzt) nicht auf Rumänien beziehen. Vgl. Deutschlandfunk Kultur: Auf der Suche nach dem Gastland. Wo bleiben die rumänischen Kinderbücher in Deutschland? Mihai Mitricâ, Adriana Popescu, Yvonne Hergane im Gespräch mit Tanya Lieske; https://www.deutschlandfunk.de/auf-der-suche-nach-dem-gastland-wo-bleiben-die-rumae nischen.1202.de.html?dram:article_id=413309 [09. 09. 2021]. 33 Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 14. 34 Wittstock-Reich, Rohtraut: Ergänzungen zu einer Randbemerkung. Die bildkünstlerische Gestaltung bei unserer deutschen Buchproduktion, in: Neuer Weg. Organ der Volksräte der Sozialistischen Republik Rumäniens 34/1982 (15. 05. 1982), S. 3–4, hier S. 3f. 35 Bossert, Rolf: Mi, Mo und Balthasar. Bukarest 1980.

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temkritischen Anspielungen deutlich (auch) an Erwachsene und wurden daher von den Rezensent:innen mehr als „‚verkapptes‘ Kinderbuch“36 wahrgenommen. Die Werke der Autorinnen, die sich deutlicher an Themen im Umfeld von Kindern orientierten, wurden seltener als „doppeltadressiert“37 besprochen. Dabei nutzten auch sie intertextuelle Verfahren und systemkritische Komponenten.38 Weiterhin finden sich in diesen Romanen auch gesellschaftskritische und zeitgeschichtliche Bezüge,39 sodass von dieser diskursiven Aushandlungspraxis nicht auf eine grundsätzliche Eindimensionalität der literarischen Mittel geschlossen werden kann. Spannungslinien zwischen erzieherischer Funktion im politischen Sinne40 und ästhetischem Eigenwert treten in der Buchproduktion immer wieder zu Tage und sind dabei nicht auf Rumänien beschränkt. Auch in der DDR wurden diese Diskussionen geführt.41 In den 1970er- und -80er-Jahren zeigte sich auch dort ein Paradigmenwechsel zur komplexen phantastischen Kinder- und Jugendliteratur.42 Trotz dieser Ähnlichkeiten sind aufgrund der verschiedenen ökonomischen und politischen Voraussetzungen und insbesondere durch die personell begrenzte Situation der Minderheit keine grundsätzlichen Vergleiche möglich. Die rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteraturproduktion ist infolge der erneuten Abwanderung seit den 1990er-Jahren deutlich zurückgegangen.43

3.

Ricarda Terschak

Ricarda Terschak wurde am 18. 12. 1929 in Hermannstadt/Sibiu in Siebenbürgen/ Transsilvanien geboren, wo sie auch 2012 starb. Mit 19 Jahren trat sie ins Benediktinerinnenkloster von der heiligen Lioba in Temeswar ein. Das Kloster wurde bereits 1949 durch die Kommunisten geschlossen. Obwohl ihr katholischer Glaube in der Öffentlichkeit verdeckt bleiben musste, konnte Terschak publizieren und erhielt auch Literaturpreise. Außerdem arbeitete sie unter anderem 36 37 38 39 40 41 42 43

Weber, Vom low brow- zum high brow-Segment, S. 298. Ebd. Ebd., S. 298f. Vgl. z. B. Terschak, Ricarda: Die brennende Schwalbe. Bukarest 1985. Hier wird von Jugendlichen und ihrem Leben nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Vgl. auch Erzse-Boitor, Das Bild des Anderen, S. 89ff. Vgl. z. B.: Pfeifer, Elisabeth: Hier bin ich geboren. Patriotische Dichtung für Schüler. Bukarest 1977. Becker, Maria: Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR, in: Kurwinkel, Tobias/ Schmerheim, Philipp (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 2020, S. 61–67, hier S. 62. Ebd., S. 63f. Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 9f.

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als Hilfslehrerin und Zeichnerin. Nach der Wende studierte sie Theologie und übersetzte Werke von Edith Stein ins Rumänische.44 Terschaks Kinderbücher, die oft autobiographische Bezüge erhalten, verhandeln zeithistorische Themen. So verarbeitet sie in Brennende Schwalbe ihre Jugenderlebnisse als Hilfsschwester im Zweiten Weltkrieg und im Versteck vor der Deportation der deutschen Minderheiten in die Sowjetunion.45 In den 2000er-Jahren veröffentlichte sie zudem zwei weitere Romane im Hora Verlag in Hermannstadt.46 In Elmolin und Die Zauberin Uhle steht das Spiel mit den Märchenkonventionen47 und dem Fremden im Vordergrund, denn phantastische Elemente werden häufig als fremd wahrgenommen, das Fremde als phantastisch.48 Diese literarische Inszenierung des Fremden ermöglicht auch eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen.49 Der Gnom Elmorck in Elmolin bleibt den Kindern in der Geschichte fremd und bedrohlich, die titelgebende Protagonistin in Die Zauberin Uhle wird als Fremde aus der städtischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Begriffsbestimmungen zur Phantastik sind vielfältig, aber eine Verunsicherung zieht sich sowohl durch die Deutungsangebote von Figuren als auch durch die Erzählinstanz und/oder Erzählkomposition.50 Allgemein könnten magisch-realistische Erzählweisen als solche verstanden werden, in denen die phantastischen Elemente nicht verunsichern.51 In der Kinder- und Jugendliteratur sind diese Grenzen häufig fließend.52 Das trifft auch auf die beiden be-

44 Vgl. Seidner, Walther Gottfried: Ricarda Maria Benedicta Terschak zum Gedenken, in: Siebenbürgische Zeitung 62/2012 (15. 11. 2012), S. 9. 45 Terschak, Ricarda: Brennende Schwalben. Bukarest 1985. 46 Terschak, Ricarda: Die bunte Omi. Hermannstadt 2000; Terschak, Ricarda: Bootzi, ein Junge von elf Jahren. Ein Roman für Kinder und sicher auch für Eltern. Hermannstadt 2004. 47 Spielerische Elemente sind aber auch Märchen bereits inhärent. Vgl. Renger, Almut-Barbara: Zwischen Märchen und Mythos. Die Abenteuer des Odysseus und andere Geschichten von Homer bis Walter Benjamin. Eine gattungstheoretische Studie. Stuttgart/Weimar 2006, S. 129ff. 48 Vgl. Schenk, Klaus/Zeisberger, Ingold: Vorwort, in: dies. (Hg.): Fremde Räume. Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen. Würzburg 2017, S. 7–9, hier S. 7. 49 Vgl. Gutjahr, Ortrud: Fremde als literarische Inszenierung, in: dies. (Hg.): Fremde. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 21. Würzburg 2002, S. 47–67, hier S. 47f. 50 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Phantastische Literatur. Eine Herausforderung für die Literaturtheorie, in: Schenk, Klaus/Zeisberger, Ingold (Hg.): Fremde Räume. Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen. Würzburg 2017, S. 13–30. 51 Vgl. Faris, Wendy B.: Ordinary Enchantments. Magical Realism and the Remystification of Narrative. Nashville 2004, S. 1. 52 Vgl. für die Perspektive ausgehend von der Phantastik siehe Stichnothe, Hadassah: Phantastisches Erzählen, in: Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp (Hg.): Handbuch Kinderund Jugendliteratur. Berlin 2020, S. 116–125, hier S. 117f.; vgl. in Bezug auf das magischrealistische Erzählen: San Martin Saldias, Nalda: Deutsche und südamerikanische Phantastik für Kinder. Ein Vergleich der grundlegenden Erzählmodelle. Frankfurt am Main 2007, S. 83ff.

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sprochenen Werke zu. Rezeptionspsychologisch sorgt diese „Genrehybridität“53 auch für die Attraktivität von Kinder- und Jugendliteratur bei verschiedenen Altersgruppen.54 Kelp und Maurer ordnen in ihrem 1980 erschienenen literaturdidaktischen Lehrbuch für die Ausbildung von deutschsprachigen Lehrer:innen und Erzieher:innen in Rumänien die Altersgruppe vom fünften bis zum achten Lebensjahr einer „[m]agisch-realistische[n] Lesephase“55 zu. Der Magische Realismus56 erscheint, womöglich durch die rumänische literarische Umgebung und die Einflüsse des Surrealismus,57 geläufiger als in Deutschland, wo man verhaltener mit diesem Begriff umgeht.58

3.1

Elmolin – Die Nähe des phantastisch Fremden

Elmolin wurde 1985 im Ion-Creanga˘-Verlag in Bukarest und 1990 im St. Benno Verlag in Leipzig veröffentlicht.59 Der impulsive Gnom Elmorck und der blinde Fridolin leben, umgeben von Schlammvulkanen, in einer Hütte in einer Kraterlandschaft. Während Elmorck zumeist in den Schlammvulkanen rührt, spielt der Schöngeist Fridolin Drehorgel auf dem Marktplatz, singt, malt, formt kleine Statuen aus dem Schlamm und kümmert sich um Elmorck. Dieser ist als „das Fremde“ als phantastische Figur und als phantastische Figur zunächst in seiner Topographie verankert.60 Elmorck überschreitet aber seine Grenzen indirekt. Er vermisst Fridolin, als in der Stadt dessen künstlerisches Talent entdeckt wird und dieser daher nicht nach Hause zurückkehrt. Elmorcks Tränen erstarren zu Ku53 Vgl. Hoffmann, Lena: Crossover. Mehrfachadressierung als Sprache intermedialer Popularität, in: Dettmar, Ute/Glasenapp, Gabriele von/O’Sullivan, Emer et al. (Hg.): Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 2018, S. 137–150, hier S. 138; http://www.gkjf.de/wp-content/uploads/2018/12/Jahrbuch_GKJF_2018_137-150_Hoffma nn_dt.pdf [27. 04. 2022]. 54 Vgl. ebd. 55 Kelp, Erna/Maurer, Ute: Kinder- und Jugendliteratur. Lehrbuch für die XII. Klasse des pädagogischen Lyzeums. Bukarest 1980, S. 8. 56 Hier wird „Magischer Realismus“ im Sinne einer Epochen- oder Genrezuschreibung verwendet und magisch-realistisch als Charakterisierung einer Erzählweise. Vgl. Roland, Hubert: Magischer Realismus und Geschichtsbewusstsein in der deutschsprachigen Literatur. Würzburg 2021, S. 20. 57 Vgl. Rossi, Christina: Sinn und Struktur. Zugänge zu den Collagen Herta Müllers. Würzburg 2019, S. 230ff. 58 Der Begriff „Magischer Realismus“ wird vorwiegend auf eine relativ kurze Zeitspanne zwischen 1920 und 1960 bezogen sowie eher distanziert als Bezeichnung internationaler Strömungen verwendet. Allerdings werden in den letzten zwanzig Jahren Beeinflussungen durch die deutschsprachige Literatur festgestellt. Vgl. Roland, Magischer Realismus, S. 17ff. 59 Terschak, Ricarda: Elmolin. Bukarest 1985/Leipzig 1990. Es wird aus der Leipziger Ausgabe zitiert. 60 Vgl. Schenk/Zeisberger, Vorwort, S. 7.

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geln, die den Fluss bis in die Stadt herunterrollen.61 In der nicht näher benannten Stadt leben die drei Kinder Gauni, Geini und Sibylle sowie ihre Eltern. Die Grenzen dieser Welten werden durch das Zusammentreffen von Sibylle und Fridolin aufgelöst. Aber auch Sibylle hat magische Kräfte. Der Weg zu ihrer Wohnung im zweiten Stock ist durch die Hunde der Familie Geinis versperrt. Aus der Sehnsucht nach ihrem Zuhause und ihren Eltern entwickelt sich ihre Fähigkeit zu fliegen. Auf ihren Erkundungstouren entdeckt sie auch Elmorck. Dieser verfolgt sie und nimmt sie gefangen. Er droht, die Stadt mit dem Schlamm aus den Vulkanen zu überfluten und Sibylle erst dann wieder freizugeben, wenn Fridolin zu ihm zurückkehrt. Fridolin erläutert daraufhin Sibylle Folgendes: „‚Man darf sich der Macht nicht beugen, wenn sie im Unrecht ist‘, […].“62 Fridolin bannt die Gefahr, indem er aus dem Schlamm Statuen nach Elmorcks Abbild anfertigt. Dies zeigt, dass auch Ricarda Terschak das Medium der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, dem die Zensur nicht so viel Aufmerksamkeit widmete, dafür nutzt, um im Subtext Kritik an der politischen Situation des Landes zu üben. Hier schützt auch die Doppeltadressiertheit von Kinder- und Jugendliteratur, die mehrere Lesarten ermöglicht.63 Beispielsweise kann Elmolin als eine phantastische Geschichte oder in Bezug auf die außerliterarische Umwelt als eine Allegorie gedeutet werden. Elmorck und Fridolin werden als diametral gegensätzliches Paar konzipiert, das aber in einer grundsätzlichen Art und Weise zusammengehört: Wieder erkannte Fridolin, was sie beide unterschied: Elmorck haßte, er selbst liebte. Elmorck wollte den Tod, er das Leben. Elmorck wühlte im Schlamm, Fridolin formte daraus herrliche Bildwerke, trotz seiner blinden Augen, mit Hilfe seiner tastenden Finger. Dennoch, dies erkannte Fridolin ebenfalls, dennoch gehörten sie beide zusammen. Eins waren sie und reichten durch Elmorck bis in die Tiefen der Unterwelt und durch Fridolin bis über die Sterne.64

Diese zunächst dualistische Figurenkonzeption basiert auf einem mythischen Ganzheitsgedanken.65 Mythisches Erzählen in seinen diversen Formen ist eine Basis für die Auseinandersetzung mit dem Fremden und den verschiedenen

61 Vgl. Terschak, Elmolin, S. 95. 62 Ebd., S. 148. 63 Zur subversiven Darstellung in der Kinder- und Jugendliteratur in Bezug auf die SBZ/DDR: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/Kramer, Thomas: Einleitung. Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ/DDR, in: dies. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart 2006, S. 5–19, hier S. 16. 64 Terschak, Elmolin, S. 153. 65 Vgl. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Mythos, in: Cancik, Hubert (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4. Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 179–200, hier S. 194f.

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Deutungsmöglichkeiten der Welt.66 Am Ende des Romans ziehen die in der Stadt lebenden Roma weiter. Eine von ihnen, Pipa Rupa, die Großmutter von Geini, sieht eine Gestalt, die sie als Elmolin, als Amalgam von Fridolin und Elmorck, identifiziert.67 Diese Verbindung ist hier lesbar als Allegorie auf das Böse im Guten und das Gute im Bösen. Denn auch Elmorck wird nicht nur als böse gekennzeichnet. Negative Stereotype, hier ins Positive umcodiert,68 werden für Kapitalismusund Herrschaftskritik im Allgemeinen genutzt: Für diese Leute konnte ein Wald dasselbe bedeuten, wie für unsereins das schönste Haus, die Sternenpracht einer linden Sommernacht war ihnen ebensoviel wert wie anderen ein herrlicher Prunksaal, und einen wolkenverhangenen, regnerischen Tag nahmen sie als Gelegenheit, wieder einmal mühelos sauber zu werden. Im Laufe der Jahre entstehen Völker, verändern sich, entwickeln sich im Guten oder im Schlimmen, sie führen Kriege oder schaffen Bauten oder Kunstwerke, verschwinden dann langsam wieder. Das Volk, dem Geini angehörte, war anders. Mitten hindurch floß die Zeit und änderte es nicht. Jahrtausendelang blieb es, was es von Beginn an war.69

Auch die Figur der weisen Pipa Rupa wird eingesetzt, um Gesellschaftskritik zu üben. Sie kritisiert nicht nur den raffgierigen Konsum von Gauni und seinen Eltern70, sondern propagiert auch ein Leben in Freundschaft und Aufrichtigkeit.71 Insofern sind die Mitglieder von Geinis Familie hier „[f]unktionalisierte Grenzfiguren“,72 die einen (extremen) Gegenentwurf zum Kapitalismus verkörpern. So wird Geinis Großmutter als weise Lebensdeuterin inszeniert.73 In Elmolin werden sowohl Stereotype reproduziert als auch Zuschreibungen hinterfragt, indem ethnische Gruppen keine Bezeichnung erhalten.

66 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Zur Einleitung. Theoretische und literarische Arbeiten am Mythos, in: dies./ Lindemann, Uwe (Hg.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004, S. 9–35, hier S. 15f. 67 Vgl. Terschak, Elmolin, S. 182. 68 Vgl. Erzse-Boitor, Das Bild des Anderen, S. 95ff. 69 Terschak, Elmolin, S. 15. 70 Vgl. ebd., S. 134f. 71 Sibylle lernt von Pipa Rupa, ihre Flugfähigkeit besser zu verstehen. Nachdem sie sich darauf eingelassen hat, mit Gauni auf dem Markt zu stehlen, verliert sie diese Fähigkeit. Sie erhält sie zurück, indem sie sich gedanklich von der Familie Gaunis distanziert. Dabei verdeutlicht die mehrfach wiederholte Weisheit von Geinis Großmutter: „Immer kommt alles von innen“ (ebd., S. 134f.), dass das Wichtigste die eigenen Werte und Normen sowie ein damit einhergehendes kohärentes Handeln sind. 72 Patrut, Iulia-Karin: Funktionalisierte Grenzfiguren? Schlaglichter auf die „Zigeuner“-Darstellung, in: Josting, Petra/Reuter, Frank/Roeder, Caroline et al. (Hg.): „Denn sie rauben sehr geschwind jedes böse Gassenkind“. Zigeuner-Bilder in Kinder- und Jugendmedien. Göttingen 2017, S. 35–55, hier S. 35. 73 Vgl. Terschak, Elmolin, S. 134ff.

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Elmolin changiert zwischen komplexen, reflexiven Strukturen und einer erzieherisch geprägten Orientierung am Kind. Ute Rill merkt dazu in ihrer Rezension in der deutschsprachigen Tageszeitung Neuer Weg an, dass der Bruch zwischen einer spannenden Geschichte und belehrenden Aussagen deutlich zu merken sei.74 Dabei führt sie insbesondere die Stelle an, als sich die sonst wenig mit eigenen Kommentaren präsente Erzählerfigur zu Wort meldet und die Verbindung zwischen dem Namen von Gaunis Eltern „Fanglinger“ und „Langfinger“ aufdeckt.75 Im Kontext der Diskussionen um das Verständnis der Kinderund Jugendliteratur kann dies auch als Gratwanderung zwischen Anforderungen pädagogischer Vermittlung und ästhetischen Gestaltungsprinzipien eingeordnet werden. Auch in Die Zauberin Uhle wird eine Erzählerfigur unvermittelt eingesetzt.76 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Leipziger Ausgabe von dem renommierten Maler, Graphiker und Buchillustrator Hans Ticha (*1940) neugestaltet wurde. Insgesamt 18 Bilder steuerte er bei. Ticha hat neben seinen preisgekrönten Buchillustrationen77 für viele DDR-Verlage auch staatskritische Bilder mit gesichtslosen, fahnenschwenkenden Figuren gezeichnet, die er teilweise unter Verschluss halten musste. In letzter Zeit werden sie immer mehr gewürdigt.78 Die unterschiedliche Auswahl und Umsetzung der Motive verändern den erzählerischen Gesamteindruck und die Rezeptionserwartungen. Das Cover der Erstausgabe zeigt Fridolin, wie er Drehorgel spielt. In der Leipziger Ausgabe schmückt dagegen Elmorck das Titelbild und wird auch im Buch häufiger abgebildet. Somit rücken die phantastisch-fremden Elemente mehr in den Vordergrund. Im Nachwort zur Leipziger Ausgabe 1990 wird zudem die Geschichte als fremdartig und sogar auch als Indiz für die Fremdheit des ganzen Landes Rumänien gerahmt: Eine traumhaft schöne Geschichte in leuchtenden Farben aus einem recht fremden Land hat uns berührt. Sie kommt aus einer Welt, die von uns in ihrer Andersartigkeit sowohl befreiend als auch bedrängend erlebt werden kann. Wer Rumänien nicht nur

74 Rill, Ute: Über belehrende und ordentliche Geschichten. Einige Bemerkungen zu deutschsprachigen Kinderbüchern des Jahres 1985, in: Neuer Weg. Organ der Volksräte der Sozialistischen Republik Rumäniens 38/1986 (15. 02. 1986), S. 4. 75 Vgl. ebd., S. 4. 76 Terschak, Ricarda: Die Zauberin Uhle. Bukarest 1980, S. 52. 77 Vgl. Blume, Julia: Hans Tichas Bücherbilder, in: Deutsches Buch- und Schriftmuseum (Hg.): Hans Ticha – Buch und Grafik 1970–2006. Leipzig/Frankfurt am Main/Berlin 2007, S. 14–18, hier S. 14f. 78 Vgl. Feist, Günter: Hans Ticha und die Staatssatire, in: Deutsches Buch- und Schriftmuseum, S. 12–14, hier S. 12ff.

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Abb. 1

Abb. 2

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bereist, sondern auch lieben gelernt hat, weiß, daß er unser Maß dort nicht anlegen kann. Anders als bei uns sind Licht und Schatten verteilt.79

Diese Lesart exotisiert80 die phantastischen Elemente der Erzählung und ignoriert das Subversive im Subtext. Das Fremde wird in einem weit entfernten Raum verortet und zum Eigenen in Relation gesetzt;81 eine kritisch-reflektierende Auseinandersetzung mit dem Eigenen bleibt jedoch aus.

3.2

Die Zauberin Uhle – transtextuelles Spiel

Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur wurde, soweit nachvollziehbar, nur höchst selten ins Rumänische übersetzt. Eine Ausnahme ist beispielsweise die Übersetzung des Puppenspiels Das Schlangenmädchen auf der Basis von Die Zauberin Uhle von Ricarda Terschak ins Rumänische. Im allgemeinliterarischen Segment wurden Übersetzungen angefertigt, so beispielsweise die ersten beiden Schriften von Herta Müller, die auch im Kriterion-Verlag erschienen sind. Nach ihrer Ausreise durften die Übersetzungen nicht mehr veröffentlicht werden.82 Die rumänischen Verlage waren allerdings mitunter in einer schlechten Verhandlungslage und auf Kooperation angewiesen, da es in Rumänien kein Copyright für Verlage und kein Lizenzrecht gab. So wurden auch Raubdrucke in den 1990er-Jahren zu einem wachsenden Problem.83 Die Zauberin Uhle ist episodisch strukturiert. Die Basiserzählung handelt von Uhle, die als Kind an einen Zirkus verkauft wurde und dort als Schlangenmädchen auftreten musste. Sie flieht und führt, da sie von der städtischen Gemeinschaft nicht akzeptiert wird, schließlich in einem nahe gelegenen Wald ein Leben als hilfsbereite Zauberin. Die Geschichte verbindet Märchenkonventionen mit Versatzstücken von Mythen. Diese können als „Herkunftserzählungen“84 der einzelnen Figuren verstanden werden. Die Geschichte basiert außerdem auf Kindheitserinnerungen Terschaks an eine als „Hexe“ bezeichnete Albina in Le-

79 Starohorsky, Gabriel: Nachwort, in: Terschak, Ricarda: Elmolin. Leipzig 1990, S. 183–186, hier S. 183. 80 Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. Oxford 2009, S. 3ff. 81 Vgl. Gutjahr, Fremde als literarische Inszenierung, S. 47f. 82 Vgl. Oschlies, Deutsche Buchkultur in Rumänien, S. 16f. 83 Vgl. ebd., S. 17. 84 In Anlehnung an: Bohnenkamp, Björn/Manning, Till/Silies, Eva-Maria: Argument, Mythos, Auftrag und Konstrukt. Generationelle Erzählungen in interdisziplinärer Perspektive, in: dies. (Hg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster. Göttingen 2009, S. 9–31, hier S. 22.; vgl. bzgl. Ursprungsmythen z. B. auch: Assmann/Assmann, Mythos, S. 185f.

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schkirch, dem Geburtsort ihrer Mutter.85 Bei Ricarda Terschak ist der ArachneMythos Grundlage für die Geschichte der Spinne,86 die zur Begleiterin und Beschützerin von Uhle wird. Anders als im griechischen Mythos ist es aber nicht Arachne, die Pallas Athene zum Webduell herausfordert, vielmehr verhält es sich genau andersherum.87 Der Hochmut bezieht sich somit auf die Obrigkeit. Hier wird die Variationsfähigkeit literarischer Mythen88 sichtbar, die intertextuelle Spannung89 erzeugen kann. In diesem Fall wird dadurch ein subversives Potential aufgebaut, das eine regimekritische Lesart erlaubt. Uhle wird nach ihrer Flucht aus dem Zirkus vom Turmhüter Zackepall aufgenommen, doch die Bewohner:innen der Stadt feinden sie bald an. Sie zieht sich in eine Höhle und später in eine alte Mühle im Wald zurück. Dort findet sie in dem Männchen „Wart-ein-bißchen“, dem Sandmann, der Spinne Arachne und weiteren Tieren mit besonderen Fähigkeiten Begleiter, Beschützer und Freunde. So schickt der Sandmann Uhle einen Hund, der einen schweren Karren mühelos, sozusagen schwebend durch den Wald ziehen kann.90 Die sie begleitende Eule leuchtet ihr den Weg.91 Während sich für Uhle und die Kinder des Turmhüters die Ereignisse unzweifelhaft in ihr Erleben einfügen, bleibt der erwachsene Turmhüter Zackepall skeptisch.92 Die Geschichte wird mit der märchentypischen Formel eingeleitet: „Es war einmal eine kleine, kleine Stadt.“93 Im zweiten Teil, als Uhle mittlerweile eine alte Frau ist und immer noch in der alten Mühle wohnt, schaltet sich eine Ich- und teilweise auch Wir-Erzählperspektive ein: Ob in der Mühle ein Drache haust, das weiß ich natürlich nicht. Aber daß eine einsame, alte Frau dort wohnt, die niemals einen Besuch bekommt, das weiß ich sicher. Kommt, Christian und Adriana, wir gehen zu ihr hin. Habt keine Angst. Kommt. Und dann war das so: Als der Rabe uns kommen hörte, krächzte er laut. Uhle stand am Gartenzaun und wartete auf uns. Aus dem Schornstein heraus hörte man Flügelschläge und Schnaufen. Die Eule war sehr aufgeregt und froh, daß Uhle Besuch bekam. Neben dem Türstock ragten zwei lange, spinnendürre Kraken heraus, und dort … im Mühlteich 85 Vgl. Klein, Konrad: „Arbeit ist Sauerstoff“. Der Kinderbuchautorin, Zeichnerin und Übersetzerin Ricarda Terschak zum Achtzigsten, in: Siebenbürgische Zeitung 60/2010 (05. 03. 2010), S. 6. 86 Vgl. Terschak, Die Zauberin Uhle, S. 67. 87 Vgl. ebd., S. 66. 88 Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen, in: ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt am Main 1978, S. 226–254, hier S. 238f. 89 Vgl. Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 52–58, hier S. 56ff. 90 Vgl. Terschak, Die Zauberin Uhle, S. 48f. 91 Vgl. ebd., S. 47, S. 49. 92 Vgl. ebd., S. 48f. 93 Ebd., S. 5.

Von fremden Wesen und wo sie zu finden sind

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wirbelte dort nicht das Wasser schäumend hoch, und stieg nicht ein geschwänzter Drache heraus?94

Die Erzählinstanz wirbt also deutlich dafür, sich auf das Fremdartige einzulassen. Dies wird auch durch die Geschichte verstärkt, in der Uhle ein Mädchen vor dem Ertrinken rettet.95 Der Roman wurde als Puppenspiel Das Schlangenmädchen im Puppentheater in Hermannstadt/Sibiu96 am 05. 02. 1982 in der deutschsprachigen Sektion uraufgeführt. Zehn Tage später folgte, übersetzt von Livia Mariana Nicolescu, im rumänischen Programm die erste Aufführung unter dem Titel Fetit,a de la circ.97 Auch diese Umsetzung wird für ihre Verbindung von „Legende, Zirkuswelt, Geschichte und Fantasie“98 gelobt. Die Besprechung zur rumänischen Fassung stellt die „siebenbürgischen Geschöpfe aus dem Hause Ricarda Terschaks“99 heraus.

4.

Schlussbetrachtung

Fremde Wesen spielen also in Elmolin von Ricarda Terschak eine mehrfache Rolle. So sind sie Figuren märchenhafter Erzählungen. Doch die fremden Wesen sind eng an realistische Perspektiven geknüpft und ermöglichen im Subtext Gesellschaftskritik im Sinne sozialistischer Ideale. Darüber hinaus werden aber auch Lesarten subversiver Systemkritik möglich. Wie das Nachwort der Leipziger Ausgabe von Elmolin zeigt, werden diese Erzählweisen gleichzeitig in Deutschland als exotisierend und befremdlich wahrgenommen. Die Diskussionen über Form und Funktion der Kinder- und Jugendliteratur in der rumäniendeutschen (Kinder-)Literaturwelt dienen auch als Erklärung für die manchmal unvermittelt wirkende Brechung zwischen einem heterodiegetischen, märchen- und kind94 Ebd., S. 52. 95 Vgl. ebd., S. 79ff. 96 Vgl. Rodean, Nicolae: Teatrul GONG Sibiu-România 1949–1999. Sibiu 1999, S. 72. Großer Dank für die hilfreiche Bereitstellung geht an Alina Greavu vom Teatrul pentru Copii s¸i Tineret GONG Sibiu (Theater für Kinder und junge Leute GONG Sibiu). 97 Dies kann man als „Das Zirkusmädchen“ oder „Das Mädchen vom Zirkus“ übersetzen. Vgl. Rodean, Teatrul GONG, S. 72. 98 Rezension zur Vorführung in DIE WOCHE, 1982 von Martin Ohnweiler, übersetzt durch M. P. nach dem Abdruck in Rodean, Teatrul GONG, S. 72. Original: „Legenda˘, lume a circului, istorie s¸i fantezie sunt deopotriva˘ reunite într-o act¸iune înca˘rcata˘ de conflict s¸i oferite într-o forma˘ scenica˘ de efect s¸i funct¸ionalitate.“ 99 Freie Übersetzung der Rezension von Octavian Rusu in Tribuna Sibiului vom 17. 02. 1982 durch M. P. Original: „O facem cu s¸i mai mare bucurie când este vorba de montarea unei opere dramatice apart,inând creatorilor sibieni, în cazul de fat¸a˘ Ricarda Terschak.“ Abdruck in Rodean, Teatrul GONG, S. 72.

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orientierten Erzählen sowie dem Spiel mit Konventionen und Bedeutungsebenen. Es lässt sich aber auch feststellen, dass in der insgesamt noch wenig erforschten rumäniendeutschen Kinder- und Jugendliteratur nicht nur allgemeinliterarisch etablierte Autoren komplexe Kinderbücher in Rumänien schrieben, in denen es vielfältige Bedingungsgefüge zwischen Ost und West, Ästhetik und Erziehung, Freiraum und Zensur gab.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Fabini, Helmut: Illustration, aus: Terschak, Ricarda: Elmolin. Bukarest 1985, S. 9. Abb. 2: Ticha, Hans: Illustration, aus: Terschak, Ricarda: Elmolin. Leipzig 1990, S. 9.

Tamara Bucˇková (Prag)

Iva Procházková im transkulturellen Kontext

„So viele Menschen, so viele Welten“,1 mit diesen Worten beginnt Iva Procházková2 (*1953), eine der bedeutendsten tschechischen Gegenwartsautorinnen, ihren Erfolgsroman Orangentage3 (dt. 2012, cz. Uzly a pomenrancˇe, 2012). Der Gedanke des 13-jährigen Protagonisten über die vielfältigen, für die Werke von Procházková charakteristischen Figuren soll zum Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen werden. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche international prämierte Kinder- und Jugendbücher, Romane für Erwachsene sowie Theaterstücke und Drehbücher für unterschiedliche Filmgenres. Procházkovás Biographie und literarisches Schaffen sind mit der deutschen Sprache und Kultur eng verbunden: Ihre Werke, die sie auf Deutsch oder Tschechisch verfasst, wurden inzwischen in 18 Sprachen übersetzt, unter anderem ins Japanische, Koreanische und Türkische. Im Folgenden stehen ihre kinder- und jugendliterarischen Romane im Mittelpunkt, die das Gros ihrer Werke ausmachen. Filmische Nacherzählungen ihrer Kinder- und Jugendbücher, die im deutschsprachigen Raum eine gewisse Bekanntheit erreichten, werden nur kurz erwähnt; auch das Wirken der Autorin auf dem Gebiet des Theaters steht hier nicht im Fokus. Unter dem transkulturellen Kontext werden Begegnungen verstanden, die im Sinne der interkulturellen Literatursemiotik4 universal gültige Themen und deren wiederkehrende Motive präsentieren. Eingegangen wird auch auf die ‚literarische Botschaft‘ aus Sicht der

1 Procházková, Iva: Orangentage. Mannheim 2012, S. 5. 2 Zu Procházková siehe auch Wiebe, Katja: Überblicksstudie über die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur in Polen, Russland, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn. München 2011, S. 69. 3 Der Roman erschien in der Selbstübersetzung der Autorin und wurde 2019 verfilmt. Das Drehbuch verfasste Iva Procházková, der Film entstand unter der Regie von Procházkovás Mann, Ivan Pokorný. In beiden Sprachen trägt der Film den ursprünglichen Romantitel UZLY ˇ E/ORANGENTAGE. A POMERANC 4 Vgl. Leskovec, Andrea: Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt 2011, S. 40–44.

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Produktions- und Rezeptionsästhetik, die das Lesepublikum als transkulturell5 akzeptiert. Dabei sollen die Zusammenhänge zwischen Erzählpoetik und interkultureller Verankerung ebenso ins Blickfeld rücken wie die Darstellung einer kompakten literarischen Welt, die bei Iva Procházková auf der Vernetzung von Kinder-6 und Erwachsenenwelten beruht. Die Kindheit markiert in den meisten Kinderbüchern eine zwar geschützte, aber zugleich tief in der Realität verankerte Phase, der viel Verständnis entgegengebracht wird. Die Tendenz, das Konflikthafte zu betonen, statt zu vermeiden, verstärkt sich mit jedem neuen Jugendbuch der Autorin und insbesondere in den Romanen seit 2000. Trotz aller Unterschiede in der Erzählweise kann jeweils von komplexen Narrationen gesprochen werden, die auf eine mehrfache Adressierung7 setzen. Darüber hinaus rücken hier verbindende Elemente von Procházkovás Kinder- und Jugendbüchern in den Mittelpunkt. Damit sind erstens erwachsene Figuren gemeint, die den Protagonist:innen Halt geben und in schwierigen Situationen als wichtige Stützen agieren, zweitens polare Figurencharakteristiken und -konstellationen. Dies lässt sich am Beispiel des Jugendromans Wir treffen uns, wenn alle weg sind (cz. Tanec trosecˇníku˚, 2006/2020, dt. 2007)8 zeigen, in dem das Motiv der Visionen eine wichtige Rolle spielt. Jene Visionen, die in einer an junge Erwachsene adressierten Dystopie eingebettet sind, können als Warnung vor einem übertechnisierten und allzu pragmatischen Lebensstil gelesen werden.

5 Vgl. Bucˇková, Tamara: Interkulturní didaktika cizojazycˇné literatury. Kontexty a perspektivy. Se zameˇrˇením na neˇmecky psanou literatury pro deˇti a mládezˇ a zrˇetelem k tématu 2. sveˇtové války. Praha 2020, S. 65–69. 6 Unter dem Begriff der Kinderwelten werden in Anlehnung an unterschiedliche Forschungsstudien aus der Psychologie und Soziologie verschiedene Milieus verstanden, die für den Weg eines Individuums von der Kindheit zum Erwachsensein kennzeichnend sowie für seinen Charakter und die Entfaltung des Potentials bestimmend sind. Dazu Bronfenbrenner, Urie: Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main 21993; Helius, Zdeneˇk: Sociální psychologie pro pedagogy. Praha 22015. Zu Genealogie und Lesepräferenz siehe auch Bucˇková, Interkulturní didaktika, S. 162–171. 7 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Theorie der kinder- und jugendliterarischen Kommunikation. Eine Grundlegung. Berlin 2021, S. 20. 8 Der Roman Wir treffen uns, wenn alle weg sind wurde im Jahre 2008 mit dem FriedrichGerstäcker-Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später gewann er den Evangelischen Buchpreis in der Kategorie Jugendbuch.

Iva Procházková im transkulturellen Kontext

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Biographie, Erzählpoetik und interkulturelle Zusammenhänge „Wenn man jemandem einen Wunsch erfüllen kann, dann soll man es tun. Ob man nun ein Mensch oder ein Stern ist.“9

Iva Procházková ist die Tochter des Schriftstellers Jan Procházka10 (1929–1971), einer der bekanntesten Persönlichkeiten des Prager Frühlings. Procházková wuchs somit umgeben von Büchern auf. Hinter der geschlossenen Tür von Vaters Arbeitszimmer, so erinnert sie sich später, klapperte ununterbrochen die Tastatur seiner alten Schreibmaschine. Diese raumfüllende, oft unangenehme Geräuschkulisse sorgte bei ihr für das Gefühl von tiefer Geborgenheit.11 Die Probleme begannen im August 1968 mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes, der in einer jahrzehntelangen Okkupation resultierte.12 Diejenigen, die dem System ihre Loyalität verweigerten, unter ihnen auch Jan Procházka, gerieten zunehmend ins Visier der Behörden;13 Erpressungsversuche und Verhöre standen an der Tagesordnung. Im Februar 1971 erlag Jan Procházka im Alter von 41 Jahren seinem Krebsleiden. Doch selbst der frühzeitige Tod des Vaters konnte seine vermeintliche Schuld gegenüber dem Regime nicht tilgen. Nach dem Abschluss des Gymnasiums verwehrte man Iva Procházková das Studium. Mehrere Aufnahmeprüfungen an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität und an der Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste blieben erfolglos. Notgedrungen hielt sie sich mit Gelegenheitsjobs als Köchin und Putzfrau über Wasser. Glücklicherweise konnte sie dadurch später aus einem Fundus an kuriosen Geschichten und Begebenheiten aus jener Zeit schöpfen.14 In ihren Anfängen als freie Schriftstellerin durfte Procházková nur sporadisch publizieren;15 auch eigene Theaterstücke konnten zunächst nicht aufgeführt werden.16 9 Procházková, Iva: Wir treffen uns, wenn alle weg sind. Frankfurt am Main 2009, S. 135. 10 Dazu Oschlies, Wolf: Der Mensch – Visitenkarte seines Systems. Zum Tode des tschechischen Schriftstellers Jan Procházka. Köln 1971. 11 Aus dem am 17. 10. 2017 von T. B. geführten Interview bei der Autorenlesung, die im Rahmen der Kinderuniversität Labyrint veˇd(eˇní) (dt. Labyrinth und sein(e) Wissen(schaften) – im Verlag Albatros veranstaltet wurde. Aus dem Tschechischen ins Deutsche von T. B. übersetzt. 12 Dazu Karner, Stefan (Hg.): Prager Frühling: das internationale Krisenjahr 1968 [Prazskaja Vesnja i mezdunaroyj krizis 1968 goda], Bd. 1, Beiträge. Köln 2008. 13 Dazu auch Spiritova, Marketa: Hexenjagd in der Tschechoslowakei: Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus. Köln 2010. 14 Aus dem am 17. 10. 2017 von T. B. geführten Interview. 15 https://www.czechlit.cz/cz/autor/iva-prochazkova-cz/ [21. 11. 2020]. 16 Iva Procházková ist Autorin von fünf Theaterstücken für erwachsenes Publikum, die noch vor ihrem Exil entstanden: Venusˇin vrch (dt. Venusberg) (1975), Postavení mimo hru (dt. Im Offside) (1976), Poslední zˇivot (dt. Das letzte Leben) (1982), Vdova po básníkovi (dt. Witwe nach dem Dichter) (1983), Erasmovy velké arkány (dt. Meister Erasmus und seine Arkanen) (1985). Das sechste Theaterstück Kde zu˚stal tvu˚j klobouk (dt. Wo blieb dein Hut?) (1992)

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Trotz aller Schwierigkeiten gab es auch skurrile Zufälle, die ihrem Leben immer wieder eine neue Wendung gaben. Während einer Autorenlesung erinnerte sich Procházková beispielsweise daran, wie sie Ende der 1970er-Jahre in der Küche ihrer kleinen Wohnung auf der Prager Kleinseite zum Schreiben von Kinderbüchern kam: Das Angebot kam von einem Familienfreund aus dem renommierten Kinderund Jugendliteraturverlag Albatros17, der zu uns zu Besuch kam.18 Wir saßen in der Küche, tranken Kaffee. Schweren Herzens erzählte der Freund über neue Verhältnisse im Verlag: „Ich komme politisch nicht durch19 und bald bin ich aus dem Spiel raus, aber noch bin ich für Autorenverträge verantwortlich. Hast du schon irgendwann an Kinderbücher gedacht?“ „Spinnst du?“ Keine Antwort. „Wer spinnt denn da? Nicht schlecht. So ein schöner Titel kommt gut an.“ Das Gespräch geriet längst in Vergessenheit, als eine neue Redakteurin mit der Frage anrief, wann mit dem Manuskript zu rechnen sei. „In sechs Wochen?“, fragte ich als die Kinderbuchautorin, die bis zu dieser Zeit keine einzige Zeile fertig hatte. „Gut. Wir freuen uns …“ Ich setzte mich an die Arbeit und binnen sechs Wochen lag das Manuskript bereits beim Verlag vor. Alles lief, sozusagen glatt, auf die Kinder- und Jugendliteratur wurde seitens des Staates nämlich nicht so sehr geachtet und außerdem ist Procházka/Procházková ein in Tschechien geläufiger Name. Doch als der familiäre Hintergrund ans Licht kam, wurde alles anders.20

Das kinderliterarische Debüt Komu chybí kolecˇko (cz. 1981, dt. Wer spinnt denn da, 1991) konnte allerdings erst sechs Jahre später erscheinen. Nach weiteren sechs Jahren, in denen das Manuskript des zweiten Kinderromans fertiggestellt wurde, beschlossen Iva Procházková und ihr Mann, der Regisseur Ivan Pokorný, ein neues Zuhause im Ausland zu suchen. Neben politischen Umständen waren es vor allem die Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder21, die sie zu der Entschei-

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wurde von Procházková im Exil verfasst; https://ivaprochazkova.com/divadlo [09. 03. 2022]. Vgl. auch Urbanová, Svatava: Dialogy Ivy Procházkové. Ostrava 2012, S. 144. Bis zu dieser Zeit waren die Texte von Iva Procházková ausschließlich an das Erwachsenenpublikum adressiert. Generell unterlagen kinder- und jugendliterarische Werke einer weniger strengen Zensur. Dies galt nicht nur für Kinder- und Jugendbücher, sondern auch für Kinderfilme und -sendungen im tschechoslowakischen Rundfunk. Dazu siehe Bárta, Milan: Zur Zensur in der Tschechoslowakei von 1948 bis 1989, in: Zˇácˇek, Pavel/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression. Leipzig 2008, S. 67–82. Um gegen die Überprüfungen der politischen Loyalität zu protestieren, riefen der Philosoph Jan Patocˇka und der Dramatiker Václav Havel die Petition Charta 77 ins Leben, welche die Verletzung der Menschenrechte durch das politische System und allgemein die Regierung der Tschechoslowakei kritisierte. Dazu auch Bolton, Jonathan: Worlds of Dissident. Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism. Cambridge 2012. Aus dem am 17. 10. 2017 von T. B. geführten Interview. Die Tochter Anna war damals neun, der Sohn Vojteˇch fünf Jahre alt.

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dung bewogen hatten, ins Exil zu gehen.22 Die Ausreise verlief auf einem ungewöhnlichen Weg: Im Skiurlaub in den Bergen des damaligen Jugoslawiens durchbrach ihr Auto an Silvester 1983 die Schranken am Grenzübergang zwischen Slowenien und Österreich. Ursprünglich hatte das Ehepaar vor, weiter nach Frankreich zu reisen, wo Milan Kundera23, ein Freund ihres Vaters, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte. Kundera war auch derjenige, der sie ermutigte, aufgrund der kulturellen Nähe das politische Asyl in deutschsprachigen Ländern zu beantragen. Sie blieben zunächst in Österreich und siedelten schließlich nach Deutschland über. „Im Nachhinein“, erinnerte sich Procházková in einem Interview, „war diese Empfehlung richtig und man kann ihm dafür nur dankbar sein.“24 Iva Procházková verbrachte insgesamt elf Jahre im Ausland, in denen sie nicht nur die deutsche Sprache erlernte, sondern auch begann, auf Deutsch zu publizieren.25 Interessanterweise war es vor allem ihre dritte Schwangerschaft, die sie zum Spracherwerb motivierte: „Ich wollte kommunizieren, ich musste kommunizieren. Ich wollte kein trauriges Kind auf die Welt bringen.“26 Im Exil widmete sie sich wieder dem Theater.27 Ihre in Deutschland gemachten Erfahrungen finden sich in einigen Werken wieder, wie z. B. in dem in Bremen spielenden Eulengesang (1995, cz. Soví zpeˇv, 1999/2007)28 oder im Roman Die Nackten (dt. 2012, cz. Nazí, 2011)29, der die Leser:innen vom nordböhmischen Leitmeritz nach Berlin mitnimmt. 22 Dazu allgemein Pernes, Jirˇí: Das tschechoslowakische Exil nach 1968. Exulanten, Emigranten, Landsleute: Diskussionen über Begriffe, in: Dahlmann, Dittmar (Hg.): Unfreiwilliger Aufbruch: Migration und Revolution von der Französischen Revolution bis zum Prager Frühling. Essen 2007, S. 187–196. 23 Zu Milan Kundera siehe Frank, Søren: Migration and Literature: Günther Grass, Milan Kundera, Salman Rushdie, and Jan Kjæstad. New York 2008, S. 79–128. 24 Aus dem am 20. 11. 2020 von T. B. geführten Interview. Aus dem Tschechischen ins Deutsche von T. B. übersetzt. 25 Siehe auch Cornejo, Renata: Heimat im Wort. Zum Sprachwechsel der deutsch schreibenden tschechischen Autorinnen und Autoren nach 1968. Eine Bestandsaufnahme. Wien 2010, insbes. Kapitel 5 „Grenzgänger – unterwegs zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen“, S. 305–372; online einsehbar unter https://is.muni.cz/do/rect/habilitace/1421/cornejo/habilit ace/Cornejo_Heimat_im_Wort.pdf [12.03.2022]. 26 Das dritte Kind, Tochter Lena, kam 1985 in Wien auf die Welt. Aus dem am 06. 11. 2020 von T. B. geführten Interview. Aus dem Tschechischen ins Deutsche von T. B. übersetzt. 27 An Kinder und Jugendliche adressiert waren Theaterstücke wie Im Schatten der Rabenflügel (1986), Palo, der Fiedler (1987), Däumelinchen (1989), Die Reise zur Sonneninsel (1990) und Clownerie Engel, Bengel (1988); https://ivaprochazkova.com/divadlo [09. 03. 2022]. 28 Ins Tschechische wurde der Roman von der Autorin selbst übersetzt. Im Jahre 2000 wurde der Roman Eulengesang auf Vorschlag der Tschechischen Nationalen IBBY-Sektion in die Iinternationale IBBY-Ehrenliste eingetragen. 29 Procházková, Iva: Die Nackten. Mannheim 2008. Der Roman wurde 2009 für den Deutschen Jugendbuchpreis (Sparte Jugendbuch) nominiert und gewann den Preis der Jugendjury. 2010 wurde Procházková der renommierte tschechische Magnesia Litera-Preis (Kategorie Kinder-

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Literarisches Schaffen Wenn man mit dem Bücherschreiben anfängt, ist es sehr schwierig, damit aufzuhören. Wenn man dazu einen Vater hat, der Schriftsteller ist, ist es fast unmöglich, einen anderen Weg zu gehen. Denn Bücherschreiben ist ansteckend.30

„Immer, wenn ich schreibe, bin ich wie in einem Rausch oder in einem hohen Fieber und dieser Zustand dauert, bis das Buch fertig ist“,31 so Procházková im Jahre 2017. Sie schickte das Manuskript des zweiten Kinderbuches Der Sommer hat Eselsohren32 (dt. 1985, cz. 1995), ins Deutsche übertragen von Tereza Sedmidubská, noch vor ihrer Flucht aus der Heimat an den Verlag Beltz & Gelberg. Dieser Umstand trug maßgeblich zu ihrem erfolgreichen literarischen Start in Deutschland bei. Die autobiographisch fundierte Sommerferiengeschichte, die sich bei jungen Leser:innen und Literaturkritiker:innen großer Beliebtheit erfreute, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Im Mittelpunkt steht nicht nur der vom Urgroßvater geerbte, titelgebende Esel, sondern auch die Sehnsucht des kleinen Protagonisten Dusˇan Pochop nach einer intakten Familie. „Das Schreiben ist auch ein gutes Sprachtraining und man soll mit dem Einfachen beginnen“, so Procházková, wenn man für Kinder schreibt, ist die Sprache einfach. Das erste Kinderbuch, das ich auf Deutsch selbst verfasste, war Fünf Minuten vor dem Abendessen33 (dt. 1991, cz. Peˇt minut prˇed vecˇerˇí, 1995). In diesem Buch sind viele Bilder und nicht so viel Text. Mein erstes ‚wirklich‘ auf Deutsch geschriebenes Buch ist Marco und das Zauberpferd (dt. 1984, cz. Hlavní výhra, 1996).34

Dieser Kinderroman, in dem Procházková das Realistische mit dem MagischPhantastischen verwebt, stellt eine Zäsur in ihrem kinderliterarischen Schaffen dar. Während die ersten, stark autobiographisch gefärbten Werke ihre eigene

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und Jugendliteratur) verliehen. Seit 2001 prämiert der Magnesia Litera-Preis alljährlich neue Publikationen, und zwar in den folgenden Kategorien: Prosa, Poesie, Kinder- und Jugendliteratur, Übersetzungen, eine Sonderleistung im Bereich des Verlagswesens. 2012 trug man den Roman Die Nackten als Repräsentant der Tschechischen Republik in die IBBY-Ehrenliste ein. Dazu auch Frickel, Daniela A./Mayerhofer, Thomas: „Wo ist der Sinn?“ – Postmodernes postmodern erzählt im jugendliterarischen Adoleszenzroman Die Nackten von Iva Procházková, in: Praxis Deutsch 224/2010, S. 52–58. Aus dem am 17. 10. 2017 von T. B. geführten Interview. https://ivaprochazkova.com/de/o-autorce [18. 11. 2020]. Siehe dazu Mattenklott, Gundel: Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945. Stuttgart 1989, hier insbes. den Exkurs über den Esel, S. 196–205. Das Kinderbuch Fünf Minuten vor dem Abendessen erschien in Deutschland im Jahre 1991, auf Tschechisch unter dem Titel Peˇt minut prˇed vecˇerˇí erst vier Jahre später. Im Vordergrund stehen kurze Begegnungen vor dem Abendessen, die zu einem erzählgenerierenden Familienritual avancieren. Das Buch erschien in der Selbstübersetzung von Iva Procházková.

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Kindheit zum Thema haben, schildern die späteren Werke den problematischen, konfliktreichen Alltag. 1989 erhielt Procházková für ihren weiblichen Initiationsroman Die Zeit der ˇ as tajných prˇání, 1992) den Deutschen Jugeheimen Wünsche35 (dt. 1988, cz. C gendliteraturpreis. Im Zentrum der Erzählung steht die Prager Altstadt, wohin die zwölfjährige Protagonistin Kapka mit ihrer Familie umzieht. Kapka entdeckt den geheimnisvollen Zauber der Prager Kleinseite, eines Stadtteils am westlichen Moldauufer. Die Autorin verbindet die Welt der Kinder mit jener der Erwachsenen, die durch politische Bedrohungen gekennzeichnet ist, ohne dadurch den leichten Grundton der Erzählung zu verlieren. Im Roman lassen sich immer wieder autobiographische Momente und Motive (Freundschaft, erste Liebe, Theaterkarriere) finden, die später im Roman Carolina. Ein knapper Lebenslauf weiter ausgebreitet werden. In der Jurybegründung bei der Prämierung von 198936 spielten vor allem die sprachlichen Komponenten eine wichtige Rolle: Die Sprache der Erzählung ist der Weltauffassung der Kinder wunderbar angemessen, sie lebt von der Assoziation und vom Vergleich […]. Dass die Mitschüler an Kapka, „Der Neuen“, vorbeigehen „wie an einem frischgestrichenen Geländer“, dass Jajin mit seiner gekrümmten Figur „an einen Kleiderbügel“ erinnert, daß Radeks Schneidezähne viel zu groß sind, „als ob er sie sich aus einem anderen Gesicht ausgeliehen hätte“– dies und vieles andere macht die Lektüre zu einem ästhetischen Vergnügen auch und gerade für Kinder.37

In den 1990er-Jahren beschlossen Iva Procházková und ihr Mann, nach Prag zurückzukehren, während die Kinder im Ausland blieben. „Wir haben aus unseren Kindern Europäer gemacht“, so Procházková in einem Interview: Ihre Entscheidung, im Ausland zu bleiben, haben wir verstanden. Zu Tschechien hatten sie eine andere Beziehung. Oft werden wir gefragt, wie wir es damals geschafft haben, nach Tschechien zurückzukommen. Einige wollten es auch tun, aber sie lebten meistens

35 Das Werk kam in der Übersetzung von Gabrielle Osenberg auf den Markt. Vgl. dazu die Ausführungen von Stichnothe, Hadassah: Der Initiationsroman in der deutsch- und englischsprachigen Kinderliteratur. Heidelberg 2017, S. 227–231, S. 261. 36 1989 wurde der Roman auf die Liste der besten Kinder- und Jugendbücher in den USA eingetragen. Im Jahre 1992, in dem das Buch auf Tschechisch erschien, bekam es den tschechischen Preis Zlatá Stuha; https://www.databazeknih.cz/knihy/cas-tajnych-prani-857 86 [10. 03. 2022]. Dieser ist ein kinder- und jugendliterarischer Preis mit einer mehr als 25jährigen Tradition. Er wird in den folgenden Kategorien vergeben: literarischer Teil (Kinderliteratur, Jugendliteratur), Sachliteratur für Kinder und Jugendliche, künstlerische Ausführung des Buches mit dem Schwerpunkt Illustrationen – Bücher für Kleinkinder, Bücher für ältere Kinder, Bücher für Jugendliche, herausragende Leistung im Bereich des Verlagswesens; Übersetzungen – Kinderbücher, Jugendbücher, Sachliteratur für Kinder und Jugendliche, Comic. 37 Die Jurybegründung, für Die Zeit der geheimen Wünsche, Deutscher Jugendliteraturpreis; https://www.jugendliteratur.org/buch/die-zeit-der-geheimen-wuensche-1307 [10. 07. 2021].

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länger im Ausland und waren älter als wir. Als wir zurückkamen, waren wir um die vierzig, wir hatten noch Kraft.38

Obwohl Procházková immer noch ihre Werke parallel auf Deutsch und Tschechisch verfasst, liegt es auf der Hand, dass sie in ihrer Heimat ihre Erstsprache favorisiert. Im Jahr 1999 konnte sie nicht nur zwei Erzählungen ihres Vaters Mikulásˇ jde meˇstem (dt. Sankt Nikolaus geht durch die Stadt, 1998) und David a vánocˇní kapr (dt. David und der Weihnachtskarpfen, 1997), sondern auch eigene, international erfolgreiche Kinderbücher auf den tschechischen Markt bringen, die sie zuvor selbst übersetzte. Der Roman Entführung nach Hause (dt. 1996, cz. Únos domu˚, 1998)39 thematisiert die Suche nach dem eigenen Zuhause und nach der eigenen Identität. Als der zwölfjährige Libor verschleppt wird, wissen die Entführer noch nicht, dass er nach dem Tod seiner Eltern von reichen, aber desinteressierten Verwandten adoptiert wurde. Nach der Flucht und mehreren Verwicklungen gelingt es ihm schließlich, ein neues Zuhause in einer armen, kinderreichen, aber liebevollen Familie zu finden. Ein Jahr später wird die erste tschechische Auflage der Anti-Utopie bzw. des Sci-Fi-Jugendromans40 Eulengesang publiziert, die zuvor bereits auf Deutsch erschienen war und Ereignisse im Jahr 2046 nach einer apokalyptischen Sintflut in Bremen schildert. Bemerkenswert ist in dieser Geschichte die Funktion des „personalen Computerberaters“ in einer hochtechnisierten Zukunftsgesellschaft. Das Gerät nimmt im Alltag der jugendlichen Protagonist:innen, die auf der Schwelle zum Erwachsensein stehen, die Rolle eines Begleiters, Beraters und Kommunikationspartners ein. Die Erwachsenen leben dabei meistens in einer von Kindern getrennten Welt. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen drei Protagonist:innen: der 17-jährige Armin, seine kleine neunjährige Schwester Gesa und Rebecca, Armins Mitschülerin. In der Figurenkonstellation bilden sie ein Dreieck; ihr Überleben verkörpert den Versuch einer Revitalisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Nachdem Procházková im Folgejahr, unter anderem für diesen Roman, von der nationalen tschechischen IBBY-Sektion für den renommierten Hans Christian Andersen-Preis nominiert wurde, kam im Jahr 1999 der Mädchenroman Carolina. Ein knapper Lebenslauf 41 simultan auf Deutsch und Tschechisch heraus. Aus der Sicht der 16-jährigen Ich-Erzählerin Carolina werden genretypisch Lebens- und Liebesträume thematisiert sowie retrospektiv repressive Er38 Aus dem am 20. 11. 2020 von T. B. geführten Interview. 39 Der gleichnamige Film entstand nach dem Drehbuch von Iva Procházková und unter der Regie von Ivan Pokorný im Jahre 2002. Der Kinderfilm wurde im Dezember 2003 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Die zweite tschechische Buchauflage folgte 2006. 40 Siehe dazu auch Haller, Karin: Science Fiction, in: Lange, Günther (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Hohengehren 52021, S. 349–363. 41 Procházková, Iva: Carolina: Ein knapper Lebenslauf. Frankfurt am Main 1999.

Iva Procházková im transkulturellen Kontext

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fahrungen von mehreren Generationen ausgeleuchtet. Im Zentrum steht die schwere Knieverletzung, die Carolinas vielversprechende Karriere als Ballerina zerstörte. Trost findet sie bei ihrer Großmutter, einer ehemaligen Schauspielerin, die aus politischen Gründen gezwungen war, auf das Engagement am Nationaltheater42 zu verzichten, und trotzdem eine positive Lebenseinstellung beibehielt. Auch Carolina findet in der Folge ihre Berufung – das Theater und die Schauspielerei. Die in diesem Zusammenhang gewonnenen Lebenserfahrungen helfen ihr dabei, Werte wie Freundschaft und Liebe, besonders zu schätzen. Charakteristisch für das Werk Procházkovás ist zudem wie hier die Verflechtung der Alltagsproblematik mit gesellschaftlichen und politischen Kontexten wie dem Prager Frühling. Auch vor diesem Hintergrund interpretiert die Literaturwissenschaftlerin Svatava Urbanová Carolina als Comeback des Genres Mädchenbuch in Tschechien.43 Procházkovás folgende Veröffentlichungen markieren bereits einen langsamen Wechsel hin zur Erwachsenenliteratur. Neben dem bereits erwähnten Roman Wir treffen uns, wenn alle weg sind nimmt insbesondere der Roman Die Nackten im Kontext der interkulturellen Literatur eine Sonderstellung als Crossover-Text ein. Die Protagonistin Sylvia, eine begabte Gymnasiastin und passionierte Nacktschwimmerin, fühlt sich in der nordböhmischen Naturidylle, der Heimat ihres Vaters, genauso zuhause wie im urbanen Berlin, wo ihre Mutter lebt. Procházková, die Sylvias Leben mit den Geschichten der peer group vernetzt, behandelt in diesem Roman altersspezifische Probleme – Außenseitertum, die Dichotomie von Freundschaft und Liebe, Sexualität und Drogenkonsum. „Die Pubertät ist ein eigenartiger Zustand“, entschlüsselt die Autorin die titelgebende Nacktheit in einem Interview. „Nicht wiederholbar. In der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich. […] Erst wenn du älter wirst, beginnst du dich anzuziehen.“44„Bleiben Sie lange nackt!“ lautet Procházkovás metaphorischer Appell. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die vorgestellten Kinderund Jugendbücher von Iva Procházková nach ihrem auf Tschechisch publizierten Erstling überwiegend auf Deutsch erschienen. Dabei kam das erste Kinderbuch Komu chybí kolecˇko (1981) knapp zehn Jahre später, d. h. 1990, mit dem Titel Wer spinnt denn da auf den deutschen Markt. Die Abstände zwischen den Auflagen in 42 Zum Thema des Zweiten Weltkrieges und Holocaust in der tschechischen Literatur siehe ˇ enˇková, Jana (Hg.): Válecˇné deˇtství a mládí (1939–1945) v literaturˇe a publiausführlicher C cistice. Prag 2016; Urbanová, Svatava: S holokaustem za zády. Téma holokaustu v cˇeské a prˇekladové literaturˇe po roce 1989. Ostrava 2018; und Bucˇková, Interkulturní didaktika. 43 Urbanová, Dialogy Ivy Procházkové, S. 77–88. 44 Pechácˇková, Ivana: Zu˚stanˇte dlouho nazí, vzkazuje spisovatelka Iva Procházková. 2016; https://www.citarny.cz/knihy-lide/o-knihach-a-lidech/spisovatele-knihy/iva-prochazkovarozhovor [21. 11. 2020].

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der jeweiligen Sprache wurden immer kürzer, sodass sich dank des Übersetzungstempos zunehmend Sprachsymmetrie konstatieren lässt. Wie bereits erwähnt, folgte eine Reihe von Romanen, die zunächst auf Deutsch und dann auf Tschechisch publiziert wurden.45 Drei Werke kamen zeitgleich auf Deutsch und Tschechisch heraus.46 Der Jugendroman bzw. der Roman für junge Erwachsene Die Nackten (dt. 2008, cz. Nazí, 2009) ist das einzige Werk, das zuerst auf Deutsch und erst danach auf Tschechisch erschien. Zwei Werke – der Jugendroman Wir treffen uns, wenn alle weg sind (dt. 2007, cz. Tanec trosecˇníku˚, 2006/2020) sowie das Kinderbuch Auch die Mäuse kommen in den Himmel (dt. 2011, cz. Mysˇi patrˇí do nebe … ale jenom na skok47, 2006/2021) – kamen zuerst auf Tschechisch und dann auf Deutsch auf den Markt. Es wird ersichtlich, dass sich Procházkovás Veröffentlichungsfokus von den Kinderbüchern auf die Jugendbücher und letztendlich auf Romane für junge Erwachsene verlagerte, die an der Grenze zur allgemeinen Literatur stehen.

3.

Wir treffen uns, wenn alle weg sind

Im Gegensatz zu der ersten Anti-Utopie Eulengesang wird der katastrophischdystopische dreiteilige Roman Wir treffen uns, wenn alle weg sind aus der virtuellen Zukunft in die Gegenwart projiziert. Das tschechische Original Tanec trosecˇníku˚ (dt. Der Tanz der Schiffbrüchigen) kam ein Jahr zuvor auf den Markt. Procházková nahm die Arbeit an diesem Roman nach dem Abflauen der Vogelgrippe im Jahre 2005 auf, als die eindringlichen Warnungen der WHO vor den nächsten Epidemien noch nicht verhallt waren. Die Handlung kreist um eine ˇ ervenec má oslí usˇi, 1995), Die 45 Die Kinderbücher Der Sommer hat Eselsohren (dt. 1990, cz. C ˇ as tajných prˇání, 1992), Mittwoch schmeckt gut Zeit der geheimen Wünsche (dt. 1988, cz. C (dt. 1991, cz. Strˇeda nám chutná, 1994), 2 x 9 = Hamster (dt. 1994, cz. Krysˇtofe neblbni a slez dolu˚, 2004); Marko hat das Zauberpferd (dt. 1994, cz. Hlavní výhra, 1996) sowie die Jugendromane Eulengesang (dt. 1995, cz. Soví zpeˇv, 1999) und Entführung nach Hause (dt. 1996, cz. Únos domu˚, 1998). Der Roman Krysˇtofe neblbni a slez dolu˚ gewann 2005 den tschechischen literarischen Preis Zlatá stuha (Kategorie Kinderliteratur). 46 Der Jugendroman Carolina. Ein knapper Lebenslauf (cz. Karolina. Strucˇný zˇivotopis ˇsestnáctileté, 1999), die Kinderbücher Vinzenz fährt nach Afrika (cz. Jozˇin jede do Afriky, 2000) und Elias und die Oma aus dem Ei (cz. Eliásˇ a babicˇka z vajícˇka, 2003). 47 Es handelt sich um kleine Prosa, in der die Autorin Anthropomorphismus als literarisches Mittel für die Schilderung des Jenseits nutzt. Diese Erzählung über das Leben nach dem Tod gewann 2007 den Preis Magnesia Litera (Kategorie Kinder- und Jugendliteratur). Die begonnenen Dreharbeiten wurden aufgrund der Covid-Pandemie im Frühling 2020 vorübergehend gestoppt. Die Premiere des Zeichentrickfilms unter der Regie von Denisa Grimmová und Jan Bubenícˇek fand erst im Herbst 2020 statt; https://www.csfd.cz/film/734198-mysi-pa tri-do-nebe/prehled/ [08. 03. 2022]; https://ivaprochazkova.com/de/774/auch-maeuse-komm en-in-den-himmel-2 [08. 03. 2022]; http://www.micebelonginheaven.com/ [08. 03. 2022].

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Pandemie, verursacht durch den EBS-Virus (Erosion of Basic Substance). Nach der Infektion mit diesem Virus wird der Körper porös, als ob sich die Moleküle voneinander entfernen würden. Schließlich endet die sukzessive Auflösung des Organismus mit dem Tod. Die inhaltliche Segmentierung des Romans – Verkennung und Leugnung der Gefahr, zorniges Hadern und Widerstand – folgt dabei einem Krankheitsbewältigungsnarrativ. Im Mittelpunkt des Textes, der zwar realistisch beginnt, aber schnell in eine Anti-Utopie umschlägt, steht der 18-jährige Ich-Erzähler Mojmir Demeter, ein im Waisenhaus aufgewachsener Rom.48 Die Gefahr verkennend, verbringt er den Sommer im alten Haus von Omi Kalomi, die in den Ferien die Waisenhauskinder aufnimmt. Bis zu ihrem Tod kümmert er sich um die schwerkranke Frau, die für ihn – auch postum – zu einer wichtigen Bezugs- und Trostfigur avanciert: „Weine nicht Mojmile, ich bleib noch ein Weilchen.“ Das war keine Einbildung, keine Halluzination, es war wirklich die Stimme von Omi Kalomi. „[…] Keine Angst, ich werde dich doch nicht alleine lassen.“ „Wie wirst du nicht?“, widersprach ich. „Du bist gestorben! Ich hab dich gerad begraben!“ „Schön hast du es gemacht!“, lobte sie mich. „Aber so viel bedeutet es wieder nicht.“ […] „Werde ich dich immer hören können?“, fragte ich. „Bis du dich in das Mädchen verknallst.“ „In welches Mädchen? Wann denn?“ „Wenn es kommt, dann kommt’s“, antwortete sie. Danach schwiegen wir. Der Wind blies die Kerze aus, ich zündete sie wieder an, aber er blies sie wieder aus und ich ließ es so. Ich schnalzte Carmen [Mojmirs Hündin – Anm. von T. B.] zu und wir gingen. Omi Kalomi kam mit uns.49

Die Infektionszahlen schnellen im Verlauf der Handlung rasant nach oben, sodass seine in Prag gebliebenen Freunde der Krankheit nicht mehr entkommen können. Die übereilt verlassenen Dörfer und Städte sind wie ausgestorben. Diejenigen, die geblieben sind, werden aus Angst vor der Ansteckungsgefahr terrorisiert. Bald wohnen zwei weitere Personen im alten Haus im Isergebirge: Jessica, die von einer Bühnenkarriere träumt und in die sich Mojmir verliebt, und Vasˇek, ein frecher, mutiger, achtjähriger Waisenjunge mit vietnamesischen Wurzeln. Das Gefühl der Machtlosigkeit und der Wunsch, etwas in Bewegung zu setzen, treiben die Freunde schließlich zurück nach Prag, wo Vasˇek auf der Straße einen Streit provoziert und erschossen wird. Sein sinnloser Tod, den Jessica und Mojmir nicht verhindern konnten, stürzt die beiden in Verzweiflung. Auch die post-pandemische Zukunft bleibt ungewiss. Im Roman überwiegt der filmische Erzählstil; deskriptive Passagen werden mithilfe des neutralen Camera-eye-Verfahrens realisiert oder szenisch-synchron 48 Josting, Petra/Roeder, Caroline/Reuter, Frank et al. (Hg.): „Denn sie rauben sehr geschwind jedes böse Gassenkind“: Zigeuner-Bilder in Kinder- und Jugendmedien. Göttingen 2017; Briel, Petra-Gabriele: Lumpenkind und Traumprinzessin: zur Sozialgestalt der Zigeuner in der Kinder- und Jugendliteratur seit dem 19. Jahrhundert. Gießen 1989. 49 Procházková, Wir treffen uns, S. 156.

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erzählt. Auch lebendige Dialoge erinnern an die Repliken aus einem Drehbuch. In rascher Folge wechseln sich die scheinbar basalen Aussagen mit komplexen Beobachtungen des homodiegetischen Erzählers ab:50 Das Heimatgefühl ist für mich eine körperliche Angelegenheit. […] mir reicht, wenn ich meine Sinne einschalte. […] Ich weiß ganz einfach, dass ich hierhergehöre. […] Als würde ich in die Umgebung hineinwachsen. Als wäre ich ein verlorenes Teilchen aus einem Puzzle, das wiedergefunden und ins Bild gesetzt wird. Daheim fühlt man meistens gut. Und man merkt gleich, wenn etwas nicht stimmt. So wie ich, als Omi Kalomi im Morgenmantel aus der Tür trat, um mich willkommen zu heißen. „Ahoj Omi“, sagte ich […].51

Auch wenn Wir treffen uns, wenn alle weg sind in Tschechien spielt, ist seine Botschaft universal. Der Roman warnt nicht nur vor den unterschätzten Gefahren eines um sich greifenden Virus, sondern auch vor den Auswirkungen einer Massenpsychose auf das soziale Miteinander. Der EBS-Virus ist hier auch eine Chiffre für die Ignoranz der modernen Gesellschaft. Mit diesem Roman gelingt es Procházková, eine eindrückliche Mahnung vor der kapitalistischen Profitgier und der Macht der Medien zu formulieren. Die tschechische Wiederauflage erschien mit dem präzisierenden Untertitel Láska, smrt a pandemie (dt. Liebe, Tod, Pandemie) im Herbst 2020 – auf dem ersten Höhepunkt der weltweiten Covid-19-Pandemie.

4.

Schlussbemerkungen „Es gibt Dinge, die man sich merken muss. Dicht auf den Fersen war ihm das zweitwichtigste: Bestimmte Sachen sollte man schnellstens vergessen.“52

Die Analyse der kinder- und jugendliterarischen Erzählungen und Romane von Iva Procházková hat folgende inhaltliche Schwerpunkte ergeben: Eine besondere Relevanz haben kinderliterarische Themen wie Freundschaft, Familie und Kindheit. Vor allem in ihrem autobiographisch fundierten Frühwerk verarbeitete Procházková zahlreiche Erinnerungen an die eigene Kindheit, die sie trotz aller politischen Ereignisse bis zur Erkrankung ihres Vaters für idyllisch hielt.53 Prominent vertreten ist die Figur der weisen, liebevoll-strengen Großmutter (z. B. in 50 Ebd., „Mein bester Freund hieß Egon Weiß und er war auch weiß“ (S. 8); „Von der Zeitung bekam ich Depressionen“ (S. 40); „Es ist nicht leicht[,] an etwas zu denken, das einem im Kopf herumspukt“ (S. 44); „Niemand kann sich den Tod vorher vorstellen“ (S. 112); „Der Fernseher ist ein Kasten, in dem das Gleiche passiert, wie ringsherum, nur dichter“ (S. 118); „Wenn man jemandem einen Wunsch erfüllen kann, dann sollte man es tun“ (S. 135). 51 Procházková, Wir treffen uns, wenn alle weg sind, S. 23. 52 Procházková, Orangentage, S. 5. 53 Aus dem am 17. 10. 2017 von T. B. geführten Interview.

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den Romanen Carolina. Ein knapper Lebenslauf und Wir treffen uns, wenn alle weg sind54 sowie in der phantastischen Erzählung Elias und die Oma aus dem Ei). Oft tauchen Motive aus dem Künstlerleben bzw. aus kreativen oder akademischen Berufen auf, wie etwa die Sehnsucht, auf der Bühne zu stehen (vgl. Carolina. Ein knapper Lebenslauf und Wir treffen uns, wenn alle weg sind). Bedeutsam ist auch die Balance zwischen technokratisch geprägtem Alltag und der Notwendigkeit, im Einklang mit der Natur zu leben (wie etwa in den Romanen Eulengesang, Die Nackten). In den Kinderbüchern, vor allem in ihrem Frühwerk, überwiegt das Realistische (vgl. Fünf Minuten vor dem Abendessen), das oft mit phantastischen Elementen vermischt wird, wie in Marco und das Zauberpferd oder in Elias und die Oma aus dem Ei55. Eine besondere Stellung im kinderliterarischen Œuvre von Procházková nimmt die anthropomorphisierte Erzählung Auch Mäuse kommen in den Himmel56 ein, welche das Urthema – die Konfrontation mit dem Tod57 – verhandelt, das auch in ihren Jugendromanen, z. B. in Orangentage, aktualisiert wird. In den Jugendbüchern und in den Romanen für junge Erwachsene stehen genre- und adressatenspezifisch das konfliktreiche Miteinander und die Persönlichkeitsstudien im Fokus. Das zeitdeckende Erzählen, das Procházková bislang in ihren Romanen für das Erwachsenenpublikum verwendete, um die Psychogramme der einzelnen Figuren detaillierter auszuleuchten, lassen sich etwa im Jugendroman Die Nackten ebenso wie im Roman Wir treffen uns, wenn alle weg sind finden, der an der Grenze zwischen Jugendliteratur und allgemeiner Literatur steht.58 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Protagonist:innen mit unterschiedlichen ethnischen und sprachlichen Wurzeln Tandems bilden oder ein Liebespaar werden (wie z. B. in den Romanen Die Nackten und Wir treffen uns, wenn alle weg sind). Unabhängig von dem anvisierten Lesealter basiert ihre Erzählpoetik auf der eingangs angesprochenen Vernetzung der Lebenshorizonte von Kindheit und Erwachsenendasein. Erreicht wird sie durch die Ausgestaltung konventioneller und tabuisierter Themen: durch die Vermischung des Alltägli54 Iva Procházková lebte die ersten drei Jahre ihrer Kindheit in der Obhut ihrer Großmutter und ihrer tschechisch-deutschsprachigen Urgroßmutter in Olmütz. Ihre Eltern arbeiteten zwar in Prag, hatten aber dort keine dauerhafte Bleibe. 55 Die Wiederauflage kam im Februar 2021 im Wiener Jungbrunnenverlag heraus. 56 Procházková, Iva: Auch Mäuse kommen in den Himmel. Mannheim 2011. 57 Zum Thema Tod in der Kinder- und Jugendliteratur vgl. Ruzicka Kenfel, Velija/House, Juliane (Hg.): Death in Children’s Literature and Cinema, and it’s Translation. Berlin 2020; Clement, Lesley D./Jamali, Leyli (Hg.): Global Perspective on Death in Children’s Literature. London 2018; Sˇubrtová, Milena: Téma smrti v cˇeské a sveˇtové próze pro deˇti a mládezˇ. Brno 2007. 58 Von Iva Procházková wird der Roman auf ihren persönlichen Webseiten in die Belletristik für Erwachsene eingereiht; https://ivaprochazkova.com/de/702/wir-treffen-uns-wenn-alle-wegsind [08. 03. 2022]. Dazu auch Urbanová, Dialogy Ivy Procházkové, S. 77–88.

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chen mit Poetischem, des Emotionalen mit Pragmatischem, des Harmonischen mit Drastischem. Mit der inhaltlichen Dichte geht eine komplexe narrative Struktur (multiperspektivisches, kinematographisches und neutrales Erzählen) einher. Viele Autor:innen, die als Kinder ihre Heimat verließen, fanden im Ausland nicht nur ihr neues Zuhause, sondern auch die Zweitsprache, in der sie ihre literarischen Werke verfassten. Aber nur wenige Erwachsene, die sich mit rudimentären Sprachkenntnissen des Ziellandes für das Exil entschieden hatten, konnten wie Iva Procházková im kinder- und jugendliterarischen Bereich reüssieren. Auf die Frage, wen sie als ihre Leser:innen sieht und ob sie für die gleichen Kinder schreibe wie am Anfang ihrer Karriere, antwortete sie: Als ich mein letztes Kinderbuch schrieb, war es schon ein anderes Publikum. Leider muss ich gestehen, dass ich diesem Publikum heute nicht mehr so nah bin, wie ich es früher war. Meine Kinder sind erwachsen, ich habe zwar Enkelkinder, aber die leben nicht hier und sind auch schon groß. Auch deswegen richte ich jetzt meine Aufmerksamkeit auf die Bücher für Erwachsene, ich setzte meine Kräfte auch auf dem Gebiet des Films ein und bin sehr froh, dass ich mit meinem Mann zusammenarbeiten kann. Es freut mich, dass die Verfilmung des Romans Die Orangentage so gut angekommen ist,59 und ich freue mich darauf, wenn es uns gelingt, auch den Roman Die Nackten zu verfilmen. Aber was mein Kinderbuchschreiben angeht, dieses Kapitel halte ich für abgeschlossen.60

Die sich hier andeutende Doppeladressierung drückt sich innerhalb ihrer Werke in der stets vorhandenen Ambivalenz aus. Ihre Texte sind feinsinnig und realistisch, durchkomponiert, aber nie vereinfachend. Sie machen auf Unangenehmes aufmerksam, verlieren dabei aber nie ihren scharfen, doch ermutigenden Blick auf die Welt. Man kann vermuten, dass der Weg von den Kinder- zu den Jugendbüchern eine Parallele zum persönlichen Leben der Autorin darstellt. Stets bemühte sich Iva Procházková um ein möglichst authentisches, obwohl phantasievolles Erzählen in ihren Kinder- und Jugendbüchern. Sie ließ sich beim Schreiben nicht nur durch ihre eigene Kindheit, sondern auch vom Alltag der kleinen und dann jungen Leser:innen inspirieren, die ihr nah standen oder immer noch stehen. Procházková, die ihr kinder- und jugendliterarisches Schaffen für ein bereits abgeschlossenes Kapitel hält, widmet sich zurzeit dem Schreiben für Erwachsene.61 Ihre Wahl begründet sie damit, dass sie sich mit jedem Tag von ihrer 59 Der gleichnamige Film entstand als eine deutsch-tschechisch-slowakische Koproduktion unter der Regie von Ivan Pokorný. Die Uraufführung in den deutschen Kinos fand am 30. 05. 2019 statt, in den tschechischen am 11. 07. 2019. 60 Aus dem am 20. 11. 2020 von T. B. geführten Interview. 61 Unter ihren aktuellen allgemeinliterarischen Werken überwiegen Detektivromane, wie z. B. Der Mann am Grund (dt. 2018; cz. Vrazˇdy v kruhu, 2014; als TV-Serie unter dem Titel Zodiac

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kindlichen und jugendlichen Leserschaft entferne, die sie vor allem bei den Autorenlesungen und bei den Diskussionen über Verfilmungen ihrer Werke treffe, wofür sie oft auch die Drehbücher beisteuerte. Diese spannenden, anregenden und bereichernden Begegnungen seien ihr besonders wichtig, denn ohne sie, ohne deren Offenheit und Phantasie, könne sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen.62

Murders bekannt) sowie der Thriller Die Residentur (dt. 2020, cz. Nekompromisneˇ, 2019) mit gesellschaftlichem Engagement; beide ins Deutsche übersetzt von Mirko Kraetsch. 62 Aus dem am 20. 11. 2020 von T. B. geführten Interview.

III. Literatur im Wandel der Generationen

Daniela A. Frickel (Köln)

Empathie als Programm – Erinnerung als transkulturelle Figuration in Lena Goreliks Jugendroman Mehr schwarz als lila

Soziale Zuschreibungen wie das Geschlecht, die Ethnie, die Religionszugehörigkeit, die sexuelle Orientierung, das Alter, die psychische oder physische Gesundheit usw., bilden mitunter starke Markierungen im Figurenensemble von Lena Goreliks Werk wie beispielsweise in Hochzeit in Jerusalem1, in Lieber Micha … Du bist ein Jude2, in Die Listensammlerin3 oder in Null bis unendlich4. Aufgrund ihres exklusiven Profils referieren sowohl Haupt- als auch einige Nebenfiguren mehr oder weniger auf alle Standards der Inklusion, d. h. eröffnen Denkräume für die Reflexion sozialer Kategorien.5 Diese Kategorien kennzeichnen Zustände oder Ereignisse, die die Existenz der Figuren bedingen; zugleich werden sie hier aber auch als soziale Zuschreibungen erkennbar, die die Figurenbiographien präformieren und beeinflussen; beispielsweise „das Migrantenkind“ Sanela in Null bis unendlich, das sich in Deutschland – mit ihrer Migrationsgeschichte im Gepäck – zu einer Frau entwickelt, die an Krebs erkrankt und in ihrer Rolle als Mutter einen Vater für ihr als autistisch beschriebenes Kind Niels-Tito sucht. Migrantin, Jüdin, Frau, Mutter, chronisch Kranke, aber auch der homosexuelle Onkel Grischa in Die Listensammlerin bilden hier Typen, deren Leben sich im Zusammenhang mit sozialen Etikettierungen entwickelt, die je nach Gesellschaft ein Exklusionsrisiko für sie bedeuten. Damit können diese Werke als Denkschulungen im Hinblick auf Antidiskriminierung und als Indienstnahme von Literatur für die Modellierung von gesellschaftlichen Formen von In/Exklusion betrachtet werden.6 Dass dies explizit 1 2 3 4 5

Gorelik, Lena: Hochzeit in Jerusalem. München 2007. Gorelik, Lena: Lieber Micha … Du bist ein Jude. München 2011. Gorelik, Lena: Die Listensammlerin. Berlin 2013. Gorelik, Lena: Null bis unendlich. Berlin 2015. Vgl. Reich, Kersten: Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Standards und Regeln zur Umsetzung einer inklusiven Schule. Weinheim 2014, S. 31–36. 6 „In Bezug auf Inklusion/Exklusion ist dabei von Belang, dass sich Kunstwerke um die Repräsentation der Einheit der Differenz insbesondere ‚durch ein ästhetisches Wiedereinbringen des Ausgeschlossenen in den Inklusionsbereich‘ (Luhmann 1995: 476f.) bemühen können. Darin liegt die Chance einer literatur- bzw. kunstspezifischen Re-flektion [sic!] von Gesell-

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Programm der Autorin ist, wird in ihrem Beitrag in Die Zeit, in dem sie auf unreflektierten bzw. offenbar wieder salonfähigen Alltagsantisemitismus bzw. „ausgrenzende Denkmuster“ hinweist, schon im Titel deutlich: „Wir erzählen Geschichten, um Empathie zu wecken“.7 Die Förderung von Empathie ist demnach ein zentraler Programmpunkt der publizistischen und literarischen Schriften der deutsch-russischen Autorin Lena Gorelik, die 1981 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geboren wurde, im Jahr 1992 als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kam und dann in Baden-Württemberg aufwuchs. In ihrem Werk spielen im Zusammenhang damit die Sujets Judentum, Holocaust und Antisemitismus eine besondere Rolle. Allen Schmähungen autororientierter Lesarten zum Trotz erscheint vor diesem Hintergrund die Frage nach der Bedeutung der Biographie der Autorin für ihr Werk relevant. Erörtern lässt sich dies im Kontext inter- und transkultureller literaturwissenschaftlicher Studien8, insbesondere aber in der Perspektive eines Konzepts vom „Nomadischen Schreiben“9: „Die Einordnung als nomadisch berücksichtigt Migrationserfahrungen von Autorinnen und Autoren, ohne ihre Werke darauf zu reduzieren. Es geht um die Mobilität des Denkens, um Unabhängigkeit und Nonkonformität.“10 Diese „Mobilität des Denkens“ kann in der besonderen Art und Weise, in der Gorelik Empathie als Programm in dem 2017 erschienenen und im Jahr 2018 vom Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Jugendbuch nominierten Roman Mehr schwarz als lila11 umsetzt, wahrgenommen werden. Obwohl sich Mehr schwarz als lila in das Korpus einer den Holocaust themati-

7 8

9 10 11

schaft, deren Inklusions-/Exklusionsmechanismen Literatur kenntlich machen.“ Patrut, Iulia-Karin: Inklusion/Exklusion und Literatur, in: Promotionskolleg Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft (Hg.): Literatur – Macht – Gesellschaft. Neue Beiträge zur theoretischen Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Heidelberg 2015, S. 121–139, hier S. 131. Gorelik, Lena: „Wir erzählen Geschichten, um Empathie zu wecken. Ich frage mich, wann ist sie verloren gegangen, die Empathie, und warum?“, in: Die Zeit vom 20. 02. 2020, Nr. 9, S. 64. Vgl. hierzu die Beiträge von Beisbart, Ortwin: Was heißt gelingende Integration? Lena Goreliks literarische Wege der Selbstbestimmung, in: Honsza, Norbert/Sznurkowski, Przemysław (Hg.): Identitätsdiskurs im deutsch-jüdischen Dialog (Polnische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik; 7), Frankfurt am Main 2017, S. 77–95; Isterheld, Nora: „In der Zugluft Europas“. Zur deutschsprachigen Literatur russischstämmiger AutorInnen. Bamberg 2017; sowie Mechtenberg, Theo: Deutsch-jüdische Identität im Spiegel unterschiedlicher sozialer Kontexte: Jean Améry, Elazar Benyoëtz, Chaim Noll, Yascha Mounk und Lena Gorelik, in: Honsza, Norbert/Sznurkowski, Przemysław (Hg.): Identitätsdiskurs im deutsch-jüdischen Dialog (Polnische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik; 7). Frankfurt am Main 2017, S. 27–46. Hitzke, Diana: Nomadisches Schreiben nach dem Zerfall Jugoslawiens. David Albahari, Bora ´ osic´ und Dubravka Ugresˇic´. Frankfurt am Main 2014. C Pörzgen, Yvonne: Nomadisches Schreiben: Lena Gorelik und Ilija Trojanow, in: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 18/2017, S. 45–55. Gorelik, Lena: Mehr schwarz als lila. Berlin 2017.

Empathie als Programm

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sierenden Kinder- und Jugendliteratur eingeschrieben hat12, hat Gorelik jüngst eine aufgrund ihrer eigenen Biographie verordnete Verantwortlichkeit für dieses Sujet vehement abgelehnt: „Ich möchte als Jüdin nicht ‚zuständig‘ sein für das Thema Antisemitismus. Ich will, dass wir alle zuständig sind. Ich will von den Ausgrenzungen reden, die mich nicht persönlich betreffen.“13 Dementsprechend entdeckt man in ihrem Werk neben der Markierung von Figuren mit sozialen Kategorien auch die Tendenz, die Figuren weniger als Alter Ego denn als komplexe Denkfiguren zu entwickeln, die über die individuellen biographischen Prägungen hinausweisen, indem sie ihren Standort und ihre Perspektive als bedingt erkennen oder dieses zumindest lesbar machen und dabei auf übergreifende anthropologische Grundfragen hindeuten. Ähnlich wie in den anderen Werken, ist das anvisierte Ziel von Empathie hier nicht etwas, das sich einfach, z. B. über die Identifikation mit einer Hauptfigur im Kontext eines Werks erreichen lassen soll. Goreliks Werke fordern aufgrund ihrer Ästhetik zu einer aktiven Reflexion der Bedingungen und Ursachen des Da- und Soseins der Figuren heraus, die am Ende ggf. auf eine grundsätzliche empathische Grundhaltung für den Menschen zielt, d. h. unverkennbar über die jeweilige Figur hinausweisen. Besonders deutlich wird das in dem Jugendroman Mehr schwarz als lila. Die Hauptfigur Alex hat keine Migrationsgeschichte. Ihre Prägung verdeutlicht, dass sie eine Deutsche ist. Diese Figur besitzt keine soziale Zuschreibung, die für sie ein Exklusionsrisiko bedeutet, außer vielleicht ihr biologisches Geschlecht als Mädchen, mit dem sie sich in ihrem Entwicklungsprozess auseinandersetzt und noch nicht vollständig identifiziert hat. Dabei widersetzt sich ihre sexuelle Orientierung nicht – wie die ihrer Freundin Ratte – der heteronormativen Norm, sie scheint entsprechend sozialer Normen nicht körperlich, sondern höchstens seelisch beeinträchtigt – aber nicht in dem Sinne ‚geistig behindert‘ wie der verschwiegene Bruder ihres besten Freundes Paul. Damit ist sie schlicht eine adoleszente Figur, verliebt in ihren Lehrer, was Folgen hat. Was sie dennoch mit anderen, stärker stigmatisierten Figuren in Goreliks Werk verbindet: Sie hat eine Geschichte – und daraus wird eine Geschichte, die sie in eine Verbindung mit dem Holocaust setzt. Dies wirft die Frage nach Verantwortung auf – für das eigene Handeln und damit auch für den Umgang mit Erinnerung. Dieser Beitrag untersucht, auf welche Weise Gorelik hier engagierte, ggf. sogar transkulturelle Jugendliteratur entwirft, ohne – und damit entgegen traditioneller Konzepte – Figuren zu konzipieren, die unmittelbar Opferfiguren dar12 Frickel, Daniela A.: Yolocaust ‚reloaded‘ – Mahnmalethik und -ästhetik in Lena Goreliks Adoleszenzroman Mehr schwarz als lila, in: Glasenapp, Gabriele von/Kagelmann, Andre/ Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Erinnerung reloaded? (Re-)Inszenierung des kulturellen Gedächtnisses in Kinder- und Jugendmedien. Stuttgart 2021, S. 141–156. 13 Gorelik, Wir erzählen Geschichten, S. 64.

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stellen oder in denen gar die Autorin selbst eine persönliche Opfererzählung realisiert. Die Untersuchung orientiert sich dabei an der Frage, wie Empathie als Programmpunkt in diesem Text anvisiert wird und welche Rolle dabei die transkulturelle Prägung14 der Autorin spielt, die mit Mehr schwarz als lila eine innovative Konzeption von Erinnerungsliteratur für die Kinder- und Jugendliteraturliteratur vorgelegt hat. Zunächst werden literaturwissenschaftliche Perspektiven zum Begriff der Empathie angeführt, um anschließend den Roman in einem close reading dahingehend zu untersuchen.

1.

Empathie als Programm – literaturwissenschaftliche Perspektiven Wir machen sie sichtbar, die Geschichten unserer Familien, unserer Freuden, unserer Leiden. Wir stellen sie in den Raum des Erzählten, Selbstermächtigung könnte man das nennen. Sie müssen laut erzählt werden, damit sie gehört werden, damit sie sich in den Köpfen einnisten, damit sie zu einer Erzählung werden, die vielen, nicht einzelnen gehört. Wir stellen sie zwischen die anderen und stellen sie damit dennoch aus: Geschichten, die eben auch Opfergeschichten sind. Wir tun es, um Empathie zu wecken, sagt man. Ich frage mich, wann sie verloren gegangen ist, die Empathie, und warum?15

In dem hier zitierten Artikel macht Gorelik ihr Programm zu einer engagierten Literatur deutlich. Auch in ihrem Nachwort zu Ralph Giordanos Monographie Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein unterstreicht sie, wie bedeutsam ihr diese Agitation, insbesondere mit Blick auf den Umgang der Deutschen mit dem Holocaust ist: „Das Fehlen jeglicher Empathie, ein Umstand, der heute wie damals schaurig erscheint.“16 – Was aber bezeichnet Empathie konkret, in welchem Verhältnis steht diese zur Literatur? Empathie bezeichnet aus psychologischer Perspektive die „Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen teilhaftig zu werden und sie somit zu begreifen“.17 Die Forschung geht davon aus, dass nicht nur Reize wie der Ausdruck, die Bewegung, die Handlung oder die Situation eines Menschen in der Realität, sondern auch solches simulierende Settings in literarischen Texten 14 Vgl. Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld 2010, S. 39–66, hier zit. nach http://www.f hchp.de/wp-content/uploads/2017/01/Welsch-Was-ist-eigentlich-Transkulturalitaet.pdf [15. 06. 2021]. 15 Gorelik, Wir erzählen Geschichten, S. 64. 16 Gorelik, Lena: Nachwort, in: Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein. Köln 2020, S. 477–499, hier S. 489f. 17 o. A.: Empathie [Lemma], in: Lexikon der Neurowissenschaften in vier Bänden. Mit einem Vorwort von Wolf Singer. Heidelberg 2000, S. 397.

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Empathie auslösen können, wenn grundsätzlich die Fähigkeit hierzu bei den Wahrnehmenden gegeben ist. Beansprucht wird dafür die Bereitschaft „des Mitratens, Mitüberlegens, Mitreagierens und Auskundschaftens der möglichen und unmöglichen Möglichkeiten“18 von Personen bzw. Figuren, die z. B. in Entscheidungssituationen geraten.19 Die Entdeckung der Spiegelneuronen hat dabei die Vorstellung von Projektion abgesetzt, d. h., der Spiegelmechanismus evoziert ein Mitempfinden dadurch, dass wir den beobachteten Reizen Gefühle zuordnen können, die sich in uns selbst hervorrufen lassen. In Folge der Theory of Mind spielt dabei unser „Wissen über […] die Auffassungen und Intentionen“20 anderer eine wichtige Rolle. Der Diskurs um Literatur und Empathie scheint dabei so alt wie die Literatur selbst und Empathie wird hier mitunter als „Privileg literarischen Lesens“21 akzentuiert. Immer wieder angeführt wird die Poetik des Aristoteles, die z. B. Thomas Anz in eine Poetik der Emotionalisierung übersetzt hat22, bei der Strategien der Sympathielenkung eine Rolle spielen, die wiederum mit Empathie für die Figuren im Zusammenhang stehen können. Gotthold Ephraim Lessing hat im 18. Jahrhundert durch die Übersetzung des Begriffs ‚eleos‘ als ‚Mitleid‘ die Transformation der Aristotelischen Poetik in eine „Mitleidspoetik“23 geleistet und sein Programm scheint durchaus Bezüge zum Humanisierungsanspruch von Gorelik aufzuweisen: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch […] Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter […].“24 Aber bei Empathie geht es eigentlich nicht um Mitleid für Figuren, sondern vielmehr um das Mitleiden im Sinne davon, dass der Rezipierende „mitfühlt, was die literarische Figur fühlt“ und damit sind im Sinne von Sympathie mehr Gefühle des Miterlebens denkbar, also auch Freude usw.25 Darüber hinaus ist aber auch denkbar, dass dieses miterlebende Fühlen die Funktion erfüllt, sich dabei 18 Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie. Frankfurt am Main 2009, S. 77f. 19 Vgl. Bredella, Lothar: Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen 2012, S. 42. 20 Ebd., S. 45. 21 Olsen, Ralph: Privileg literarischen Lesens: Empathie, in: Der Deutschunterricht 3/2017, S. 48– 59. 22 Anz, Thomas: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung, in: Eibl, Karl/Mellmann, Katja/ Zymner, Rüdiger (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 207–240. 23 Spinner, Kaspar H.: Literatur und Empathie, in: Butzer, Günter/Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Tübingen/Basel 2013, S. 63–76. 24 Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften, Bd. 12. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1840, S. 50, hier zit. nach Spinner, Literatur und Empathie, S. 65. 25 Spinner, Kaspar H.: Empathie beim literarischen Lesen und ihre Bedeutung für einen bildungsorientierten Literaturunterricht, in: Brüggemann, Jörn/Dehrmann, Mark-Georg/ Standke, Jan (Hg.): Literarizität. Herausforderungen für Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft. Baltmannsweiler 2016, S. 187–200.

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über sich selbst klarer zu werden und dementsprechend angemessene Handlungsentscheidungen für die eigene Lebenswelt treffen zu können. Hierfür sprechen die Überlegungen Christian Friedrich von Blanckenburgs, der in seinem Versuch über den Roman (1774) schreibt: „Wenn der Dichter nicht das Verdienst hat, dass er das Innre des Menschen aufklart, und ihn sich selbst kennen lehrt: so hat er gerade – gar keins. […] nur dieses Verdienst kann er haben; dies ist es, was er vorzüglich tun kann.“26 Aufgrund dieses Charakteristikums von Literatur – im Zusammenhang mit der Empathie die Wahrnehmung von sich selbst in der Ähnlichkeit des Erlebten und Erlebens, aber auch der „Nicht-Ähnlichkeit“27 zu ermöglichen und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – wird ihr in literaturdidaktischer Perspektive eine besondere Bedeutung für das Selbst- und Fremdverstehen sowie interkulturelles Verstehen28 zugesprochen und der Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur gerade in schulischen Kontexten hierfür propagiert. Wie aber muss ein Text beschaffen sein, um Empathie bei seinen Leser:innen zu erzeugen? Empathie wird aus literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht sowie der Perspektive der Leserpsychologie häufig im Zusammenhang mit der Möglichkeit zur Identifikation angeführt und als zentrale Komponente für dahingehendes Evokationspotential eines Textes angesehen. Gemeinsam ist allen Konzeptionen, daß sie den Aspekt der Rollen- bzw. Perspektivübernahme, der Einfühlung in andere Personen bzw. literarische Figuren oder die Übernahme von Figurenemotionen beinhalten. Damit kann aus emotions-psychologischer Sicht das Konzept der Empathie als ein zentraler Aspekt von Identifikation angenommen werden. […] Unter Identifikation als empathischer Rezeptionshaltung ist also eine Haltung der Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und zur Einfühlung in fiktive Figuren zu verstehen.29

Diese Schwerpunktsetzung verdunkelt allerdings, dass Empathie nicht nur als leser:innenseitige Empathie für Figuren in Texten untersucht werden kann, sondern auch oder sogar im Zusammenhang damit Darstellungen von der Empathiefähigkeit von Figuren – ein latentes Thema in Goreliks Roman Null bis unendlich. Darüber hinaus sind auch literarische Darstellungen denkbar, die Empathie mit Figuren strategisch abwehren und darüber empathische Fähigkeiten fördern, indem sie ein Bewusstsein für dahingehende Bedarfe schaffen. 26 Blanckenburg, Christian Friedrich von: Versuch über den Roman. Leipzig 1774, S. 91, hier zit. nach Spinner, Literatur und Empathie, S. 66. 27 Breithaupt, Kulturen, S. 64. Siehe auch Spinner, Literatur und Empathie, S. 198f. 28 Vgl. u. a. Bredella, Narratives und interkulturelles Verstehen, S. 40–47. 29 Van Holt, Nadine/Groeben, Norbert: Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle textsowie leseseitiger Faktoren, in: Klein, Uta/Mellmann, Katja/Metzger, Stefanie (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 111–131, hier S. 122.

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Vielleicht bildet ein gewisses Maß an Empathie hier aber eine Voraussetzung, wenn man Georg Büchner folgt: „Man muß die Menschlichkeit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzelnen einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich seyn, erst dann kann man sie verstehen […].“30 Kaspar H. Spinner hat in einem diachronen Gang durch Beispiele der Literaturgeschichte unterschiedliche literarische Techniken aufgezeigt, die ein „Empathieangebot“ leisten, insofern sie auf eine „Aktivierung des Emotionszentrums“ hinzielen.31 Die neurowissenschaftliche Perspektive deutet zunächst auf die Relevanz erzählter Ereignisse bzw. der Handlung hin, natürlich im Zusammenhang damit auf die Figuren als Aktanten. An anderen Beispielen zeigt Spinner die Bedeutung von Stimme und Modus bzw. der erzählerischen Vermittlung auf. So könne beispielsweise ein Ich-Erzähler ein großes Identifikationsangebot unterbreiten, selbst wenn es sich um eine psychisch kranke oder im moralischen Sinne um eine Täterfigur handle, deren Geschichte, Bedingungen und Motive durch die Erzählung aber nachvollziehbar würden. Aber auch heterodiegetisches Erzählen mit interner Fokalisierung und Distanzabbau durch erlebte Rede könne eine für den Aufbau von Empathie wirksame „Verbindung von Distanz und Nähe“32 evozieren, während ein objektiver bzw. neutraler Erzählstil zwar auf eine kognitive Tätigkeit der Figurenanalyse und damit ggf. auch auf Perspektivübernahme, aber nicht auf emotionale Einfühlung abziele. „Distanzsignale“33 können dabei für ein Wechselspiel zwischen „nachempfindend-identifikatorischer und distanzierend-reflektierender Lektüre“ sorgen.34 In Bezug auf den Briefroman Die Leiden des jungen Werthers erklärt Spinner, was im Folgenden in noch stärkerer Weise in dem Roman Mehr schwarz als lila (der allerdings kein Briefroman ist) als Textstrategie sichtbar wird: „Auch ermöglicht die Briefform einerseits den direkten Gefühlsausdruck des Schreibers während des Aufschreibens, andererseits aber auch den Rückblick auf Erlebtes und damit Verarbeitung durch Reflexion.“35 Die folgende Analyse möchte dahingehende Besonderheiten von Goreliks Roman, insbesondere aber dessen Textstrategie als ein komplexes Wechselspiel von Identifikation und Beobachtung – erzeugt durch das Verhältnis von Erzählsituation, Figur und Handlung als

30 Büchner, Georg: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1. Hg. von Werner R. Lehmann. Hamburg 1967, S. 451, hier zit. nach Spinner, Literatur und Empathie, S. 70. 31 Ebd., S. 65. 32 Ebd., S. 71. 33 Ebd., S. 69. 34 Ebd., vgl. hierzu auch van Holt/Groeben, Emotionales Erleben, S. 125. 35 Spinner, Literatur und Empathie, S. 69.

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relevant für das backgrounding einerseits und Elemente, die das sogenannte foregrounding bedingen können andererseits36 – herausstellen.

2.

Erinnerung als Figuration: Zwischen Identifikation und Distanz

Eine eingehende Rekonstruktion der Handlung und ein Aufriss der Figurenkonzeption erscheinen hier auch deshalb angebracht, da die Erzählerin ihre Geschichte, die von zahlreichen Reflexionen unterbrochen wird, als „verwirrend und vertrackt“37 einführt und darbietet. Das close reading widmet sich daher zunächst diesen strukturbildenden Elementen der Erzählung (1), was einen Zugang zu tieferliegenden Strukturen wie der Konzeption des Erinnerungsprozesses als Sprechdenken (2) sowie der Analogiebildung von individuellem und kulturellen Gedächtnis als Strukturprinzip (3) ermöglicht.

(1)

Erzählerische Vermittlung, Figurenkonzeption und Handlung

Die fast 18-jährige Ich-Erzählerin Alex erzählt ihre Geschichte – auf die klassische Dramentechnik anspielend – in fünf Kapiteln. In der Exposition sucht sie, sich erinnernd – hier liegt damit autodiegetisches, gleichzeitiges Erzählen vor –, zunächst den Ausgangspunkt der Geschichte, die sie erzählen will und die die Ursache für ihre derzeitige Situation bildet: Ihr Freund Paul ist von der Klassenfahrt nach Polen nicht mit ihr und den anderen zurückgekehrt, sondern gilt als verschwunden. Mittels einer Analepse werden die Ereignisse, die zu Pauls Verschwinden und zur Situation der Ich-Erzählerin führten, von ihr über die Kapitel 2, 3 und 4 hinweg aufgerollt, während das letzte Kapitel dann wieder in die Erzählgegenwart mündet. Von der nachdenklichen, ambivalenten Ich-Erzählerin erhält man folgendes Profil: „In dem blauen Notizbuch sammle ich Oxymora, das heißt, ich sammle Widersprüche, und ich glaube, später will ich selbst ein Widerspruch sein. Jemand, der in keine Schublade passt.“38 Ihre Mutter ist kurz vor ihrem achten Geburtstag unerwartet an einem Hirnschlag gestorben, weshalb Alex einmal in 36 Vgl. auch Frickel, Daniela A.: Literatur erleben – zwischen Identifikation und Beobachtung. Didaktische Analyse von Emotionspotentialen literarischer Gegenstände und der Antizipation der Ästhetischen Distanz, in: Magirius, Marco/Führer, Carolin//Meier, Christel et al. (Hg.): Evaluative ästhetische Rezeption (im Klassenzimmer). Theorie – Empirie – Vermittlung. München: kopaed [im Erscheinen]. 37 Gorelik, Mehr schwarz, S. 18. 38 Ebd., S. 12.

Empathie als Programm

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einer therapeutischen Behandlung war. „Mein Name ist Alex. Das ist die Abkürzung von Alexandra. Die Geschichte meines Namens geht so: Meine Mutter mochte den Namen und sie starb. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, aber Letzteres macht Ersteres interessanter.“39 Als Halbwaise lebt Alex mit ihrem Vater und dem Papagei Astrid zusammen. Der nach der Verfasserin von Pippi Langstrumpf benannte Vogel soll den Verlust der Mutter kompensieren, bildet aber zugleich eine Analogie zwischen Ich-Erzählerin und Pippi Langstrumpf. Damit wird indirekt die Frage aufgeworfen, ob Alex den Verlust eines Elternteils ebenso gut meistern kann wie Lindgrens Protagonistin. Wie Pippi Langstrumpf hat sie zwei Freunde: Paul und Nina, genannt Ratte. Diese sind ihr wichtige Bezugspersonen. Die drei Figuren sind in ihren Charakteren sehr unterschiedlich, gemeinsam sind ihnen jedoch prekäre Familienverhältnisse: Ratte hat einen alkoholabhängigen Vater, Paul einen behinderten Bruder und einen dementen Großvater. In der Phase der Adoleszenz manifestieren sich bei ihnen Mangelgefühle an Geborgen- und Sicherheit. Ihre Freundschaft gibt den drei Jugendlichen Halt, bis ein Lehrer (das von der Erzählerin angesprochene imaginäre Du) in diese Konstellation einbricht und sie dynamisiert. Sein Auftreten setzt die Erzählerin als Anfangspunkt für die Geschichte, die sie – sich erinnernd – erzählen will. Der als Vertretungslehrer eingesetzte Referendar Daniel Spitzing übernimmt den Deutsch- und Geschichtsunterricht und wird von den Jugendlichen als unkonventioneller Charakter wahrgenommen: „Wir wissen noch nicht, wer oder wie du bist, also kannst du noch das sein, was wir sehen: ein junger Typ, hübsch. Schwarz gekleidet. Lässig irgendwie. Einer, der den Raum einnimmt, anstatt reinzukommen.“40 Dabei bedient er zugleich ein Stereotyp, denn auch Ratte fühlt sich an das amerikanische Filmdrama DEAD POETS SOCIETY41 erinnert. Daniel Spitzing wird dementsprechend als eine charismatische Führerfigur wahrgenommen: Ich weiß nicht, ab wann das anders wurde, wann sich das Leben genau verschob, um fünf Zentimeter Richtung Hoffnung. Dass unsere Herzen lauter klopften und in einem gemeinsamen Rhythmus, und der Gang durch die Schulflure plötzlich ein festerer war, einer mit ins Linoleum gestampften Spuren, einer mit durchgedrücktem Rücken. Ich weiß nicht, wann sich die Dinge verschoben, das Leben Richtung Hoffnung, Geschichte und Deutsch ineinander, weil du keinen Unterschied zwischen den Dingen machtest, und wir sagten nicht mehr, wir haben Geschichte, wir sagten, wir haben dich.42

39 40 41 42

Ebd., S. 69. Ebd., S. 23. Ebd., S. 31. Ebd., S. 37.

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Er schenkt dem an Kunst und Geschichte interessierten Paul viel Aufmerksamkeit und verabredet sich mit ihm, um eine Ausstellung zu besuchen. An den Wochenenden folgen gemeinsame Unternehmungen der drei Freund:innen mit ihrem Lehrer, den sie fortan Jonny nennen. Unterdessen verliebt sich Alex in Jonny, Ratte in eine Mitschülerin und Pauls tiefere Gefühle für Alex werden offenbar. Während das Beziehungsgefüge aufgrund des unterschiedlich gerichteten Begehrens zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, erhalten die Schüler:innen – und das bildet, dramenanalytisch betrachtet, in Kapitel 3 den Höhepunkt – in Spitzings Unterricht eine Einstimmung auf ihre Klassenfahrt: am Montag den Schreibimpuls Auschwitz43 und am Dienstag das Gedicht Todesfuge als Lehrervortrag.44 Am Mittwoch gibt es Informationen zur Studienfahrt, die diesmal nicht in die Toskana geht: „Wir fahren nach Polen, teilt uns Herr Drehmann mit. Krakau, Katowice. Er setzt ein Komma zwischen Krakau und Katowice. Hinter Katowice setzt er einen Punkt. Dann sagt er das: Auschwitz.“45 Am Donnerstag erfahren die Schüler:innen, dass Spitzing sie nicht weiter auf die Fahrt vorbereiten wird. „Ich werde euch nicht zwingen, Anne Franks Tagebuch zu lesen. Oder ‚Andorra‘. Oder ‚Nathan der Weise‘. Oder ‚Mein Leben‘ von Reich-Ranicki. Wir schauen uns auch keine Bilder von Konzentrationslagern an. Wir fahren einfach hin.“ „Und dann?“ „Dann fühlt ihr. Und dann sehen wir weiter.“46

Nach dieser Schulwoche besuchen die drei Freunde zusammen mit Jonny das Grab von Alex’ Mutter. Die Analogiebildung, die der Roman zwischen Alex’ persönlicher Geschichte um die Trauer und den Verlust der Mutter und der Shoa als Teil der deutschen Geschichte ermöglicht, wird u. a. an dieser Stelle offenkundig: Ein Grab ist kein Ort, kein Ding und kein Dazwischen. Ein Grab ist auch kein Schmerz, nur eine Erinnerung daran. Ein Grab ist, wo man sich schuldig fühlt, weil das Leben dann doch weitergeht. […] „Ich mag Friedhöfe“, sagst du später. „Warum?“ „Sie sind ehrlich.“ […] „Alles, was Geschichte nicht mehr erzählen kann. Deshalb will ich mit euch nach Polen.“47

43 44 45 46 47

Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114–117.

Empathie als Programm

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Als Ratte preisgibt, eine Beziehung mit S. zu haben, begibt sich Alex, darüber aufgebracht, erstmals alleine in die Wohnung des Lehrers, in der Hoffnung auf Trost. Spitzing hört ihr zu, bemerkt aber das Prekäre der Situation und weicht ihr aus. Von der sechstägigen Studienfahrt nach Polen wird in Kapitel 4 erzählt. In den ersten beiden Tagen erkunden sie die Umgebung und das Freundschafts- bzw. Liebeskarussell dreht sich weiter. Aber auch in Polen erhält Alex nicht das ersehnte Liebesbekenntnis ihres Lehrers. Als er nicht, wie von ihr erhofft, an einem Treffpunkt am See erscheint, betrinkt sie sich. Wir trinken, auf dich und auf mich und auf all die Dinge, die niemals gewesen sein werden. Besonders auf dich, der du nicht mitgetrunken haben wirst, und darauf, dass ich nur hier trinke. Trinken wir auf mich und wie ich falsch denke und unsinnig fühle. Trinken wir auf ein Fühlen ohne Sinn. Und trinken wir auf meine Freunde, die gerade nicht trinken. Und trinken wir auf meine Freunde, die ich unabsichtlich vergesse und in Absicht verliere.48

Alex, die hier leitmotivisch das Verb „trinken“ aus Celans Gedicht aufgreift und sich damit in gewisser Weise die Verzweiflung des lyrischen Ichs aneignet, wird unterkühlt am Seeufer von Paul und Ratte gefunden. Inwiefern Alex „in Absicht“ ihre Freunde verliert, wird am vierten Tag deutlich: Die drei Freund:innen verbringen den Vorabend des Besuchs der Gedenkstätte gemeinsam mit Jonny. Sie spielen das Partyspiel „Wahrheit oder Pflicht“49 und fordern ihn zum Mitspielen auf. Das Spiel entfaltet die erwartbare problematische Dynamik durch die gewollte Provokation, in die Gefühle von Macht und Ohnmacht, aber auch Alex’ Hang zum Nihilismus hineinspielen. Die Grenze wird hier überschritten, als über Kuss-Aufforderungen Beziehungen thematisiert werden: Als Alex erklären soll, ob sich Pauls oder Jonnys Kuss besser angefühlt habe, reagiert Alex mit der Aufforderung an Ratte, Paul zu küssen, während ihre neue Freundin S. ihr dabei zusehen solle. Hier vertieft sich der Riss in ihrem Freundschaftsbund bzw. wird offenkundig. Erst am nächsten, also am fünften Tag, findet der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz statt. In kleinen Gruppen laufen die Schüler:innen über das Gelände und entdecken im Gespräch über den Holocaust eine Analogie zu ihren ‚Spielen ohne Grenzen‘: „Eins Komma drei Millionen Menschen“, sagt Paul. „Wahrscheinlich noch mehr“, sagt Ratte. „Ja“, sage ich, weil ich ja auch etwas sagen muss.

48 Ebd., S. 168. 49 Ebd., S. 182.

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„Die hatten Spaß daran“, sagt Ratte, „am Töten. Die haben Spiele gespielt, wie viele töte ich auf einmal, und ich kann mehr als du.“50

Dennoch initiiert diese Reflexion erneut die Idee zu einem Spiel. Die Phrase „Stell dir vor …“ leitet hier dazu an, die eigene Rolle im Nationalsozialismus zu antizipieren. Durch die an Alex gerichtete Frage „Stell dir vor, Alex, du bist im Widerstand. Und du kannst Paul retten. Aber um ihn zu retten, musst du ihn heiraten. […] Stell dir vor, du müsstest mit Paul drei Minuten lang knutschen, um ihn zu retten“51, kommt es zu dem alles entscheidenden Kuss am Galgen von Auschwitz, der das Motiv von Pauls Verschwinden (er schämt sich dafür) bildet: „Paul und ich, wir stehen jetzt direkt neben dem Galgen, aber ich schwöre, das war keine Absicht.“52 Kurze Zeit später kehrt Alex mit ihren Mitschüler:innen nach Hause zurück. Paul nicht. Hier mündet die Rekapitulation der Ereignisse im fünften Kapitel in der Erzählgegenwart und setzt sich mit den Reaktionen der Öffentlichkeit über den angemessenen Umgang mit Mahnmalen auseinander – ein Foto des Kusses wurde unter dem Hashtag „#auschwitzkuss“53 medial verbreitet. Nach einer intensiven Phase der inneren Aufarbeitung über vier Kapitel hinweg initiiert Alex eine Phase aktiven Handelns, nachdem ein Brief von Paul sie erreicht hat. Der Brief enthält ein Liebesgeständnis und eine Anklage. Paul schreibt: „Ich sehe dieses Foto immer wieder an. Ich sehe es mir an, weil ich nicht fassen kann, was wir getan haben […]. Aber das mit dem Ort, das geht nicht. Alex, das geht nicht. Stell dir mal vor, das geht nicht. Wir haben eine Grenze überschritten.“54 Alex setzt dazu an, Verantwortung zu übernehmen, indem sie Ratte auffordert, mit ihr nach Auschwitz zurückzukehren, um Paul dort zu treffen. Bei den Vorbereitungen zur Reise entdeckt sie, dass ihr Papagei Astrid weggeflogen ist, und kommentiert dieses Ereignis selbst als symbolisch: „Mein Vogel ist weg. Ein bisschen wie im Film, und im Film wäre das ein symbolischer Moment, als hätten sie mir meine Mutter noch einmal genommen, obwohl ich natürlich weiß, dass ein Papagei keine Mutter ist.“55 Ihrem Vater hinterlässt Alex einen Brief, ebenfalls mit dem Eingeständnis ihrer Schuld, diesmal an Pauls Verschwinden, für das sie bis dahin den Lehrer, das imaginäre Du, anzuklagen versucht hat. Du hast mich nie gefragt, warum ich das getan habe, und ich weiß nicht, warum du das nicht getan hast, ob du mich nicht drängen wolltest, oder ob du es nicht wissen wolltest,

50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 197f. Ebd., S. 200. Ebd., S. 202. Ebd., S. 207. Ebd., S. 246. Ebd., S. 232.

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aber das glaube ich nicht. Ich will dir jetzt trotzdem antworten, und die Antwort ist mir peinlich: Ich habe nicht nachgedacht.56

Die Zukunft der Freund:innen, die sich in Polen wiederbegegnen, bleibt im Unklaren, aber sie schaffen am Galgen von Auschwitz einen neuen Gedenkort, indem sie ihre Gedanken über die Schuld und Vergebung auf Zetteln notieren und hier vergraben: Alex ihr Schuldeingeständnis und die Einsicht in die Unmöglichkeit der Wiedergutmachung, Paul seine Zweifel an der Möglichkeit der Wiedergutmachung und Ratte ihre Hoffnung auf die Liebe.57 Alex stellt sich den Leser:innen als komplexe, handelnde, erlebende sowie sich erinnernde Figur vor, der aufgrund ihrer Verlusterfahrung, ihrer Sehnsucht nach Liebe, vielleicht aber auch wegen ihrer falschen Entscheidung und weil sie diese schließlich bereut, Empathie entgegengebracht werden kann. Dass die Textstrategie aber nicht auf eine einfache Identifikation mit der Ich-Erzählerin abhebt, sondern quasi zugleich ästhetische Distanz aufbaut, um den Leser:innen eine Reflexion der reflektierenden Alex zu ermöglichen, verdeutlicht eine Analyse der Darstellungsweise, die nicht nur Erinnerungsprozesse ästhetisch als ‚Sprechdenken‘ konzipiert, sondern dabei auch individuelles und kollektives Erinnern auf besondere Weise verschränkt.

(2)

Erinnerungsprozesse als Sprechdenken

Das Erzählen konstituiert sich in diesem Roman von Beginn an als individuelles Erinnern, als Aufarbeitungsprozess, der sich als eine Art Zwiegespräch dadurch entwickelt, dass ein imaginiertes Du – mit dem mutmaßlich der Lehrer angesprochen wird – adressiert wird; dennoch bleibt die Erzählung ein innerer Monolog einer nur bedingt zuverlässigen Erzählerin mit Tendenz zum Bewusstseinsstrom. Die eigentümliche Erzählweise lässt sich als ein künstlerischer Versuch deuten, Erinnerungsprozesse durch rhetorische Strategien nachzubilden. Insbesondere die Exposition kennzeichnet sich durch zahlreiche gedankliche und zeitliche Sprünge, erscheint teilweise assoziativ und sucht nach einer Möglichkeit, sich selbst das Geschehene so zu erzählen, dass sich daraus Erkenntnisse über die Ursachen und Motive erklären lassen. Verglichen wird der Vorgang des Erinnerns mit der Bedienung eines Recorders: „Ich spule zurück, ich suche den Anfang.“58 Und nach dieser ersten Sondierung heißt es wenig später: „Hier beginnt die Geschichte. Jetzt.“59, als ob 56 57 58 59

Ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 250. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23.

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jemand auf den Play- oder Aufnahmeknopf drückt, was an Formen mediatisierter Erinnerung bzw. Maßnahmen zur Sicherung von Oral History denken lässt. Aber auch der Film wird als Beispiel für den Prozess des Erinnerns hinzugezogen: „In meinem Leben sind sechs Tage wie ein Film. Von diesem Film gibt es am Ende ein Foto.“60 Dass das Erinnern, insbesondere wenn es um Schuld geht, tückisch ist und seine ganz eigene Technik hat, spiegelt sich in der gesamten Darstellungsstrategie, die sich durch anachronisches und repetitives Erzählen, zahlreiche geheimnisvolle Prolepsen sowie fragmentarische und multiperspektivische Elemente kennzeichnet. Eine besondere Bedeutung kommt bei der hier versuchten sprachlichen Rekonstruktion von Erinnerungsprozessen den rhetorischen Mitteln zu. Diese fungieren im Akt epistemischen Schreibens mal eher aufdeckend, mal eher verrätselnd. Auf der Inhaltsebene explizit thematisierte rhetorische Mittel werden dabei auf der Darstellungsebene umgesetzt, um spannungssteigernde Leerstellen zu erzeugen, aber auch um Alex zu charakterisieren, die in der Sprache nach Erkenntnis tastend und dabei poetisch experimentell die Wahrheit hinter Schwarz-Weiß-Kategorien, hinter den Begriffen Liebe und Freundschaft, Schuld und Verantwortung auslotet. So zum Beispiel die Ellipse, die von der Erzählerin folgendermaßen erklärt wird: „Je mehr, desto stärker ist eine Ellipse. Das heißt, man lässt etwas weg. Manchmal lässt man das Wichtigste weg, um es zu betonen. Paul ist meine Ellipse.“61 Insofern nicht nur im Akt des Erinnerns, sondern auch des Erzählens häufig das Wichtige weggelassen, also mit Aposiopesen, gearbeitet wird, werden damit auch die Schwierigkeiten beim Erinnern auf der Ebene der Darstellung abgebildet, die gleichermaßen von den Rezipient:innen im Akt der Kohärenzbildung bewältigt werden müssen. Die Funktion der Aufarbeitung des Geschehenen im Akt des Sprechdenkens wird bereits auf der ersten Seite deutlich – es geht Alex darum, die Situation aufzuarbeiten, zu verstehen und sich gleichzeitig mit dem Gefühl von Schuld an den Ereignissen auseinanderzusetzen. Dabei werden immer wieder Strategien der Verdrängung, insbesondere das Externalisieren, deutlich: „Sechs Tage sind es jetzt, und ich merke, ich beginne, dich dafür zu hassen. Das hilft, damit ich mich selbst nicht hassen muss.“62 Am Ende dieses Aufarbeitungsprozesses, welcher den Schluss des Romans bildet, steht Alex’ Anerkennung ihrer Schuld und Übernahme von Verantwortung, sowohl in Bezug auf die zerrüttete Freundschaft, als auch mit Blick auf den Verlust des Vogels: „Astrid ist weg. Sie ist weggeflogen. Ich hatte das Fenster offen gelassen. Das war mir in zehn Jahren

60 Ebd., S. 146. 61 Ebd., S. 12. 62 Ebd., S. 9.

Empathie als Programm

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nicht passiert. Ich will meinem Vater die Schuld dafür geben, dann dir, ich will sie dem Leben geben, obwohl sie bei mir liegt.“63 Indirekt übernimmt diese Aufarbeitung aber auch die Funktion der Trauerbewältigung durch die Anerkennung des Verlustes der Mutter und der Gefühle von „Einsamkeit“, die die Erzählerin mehrmals von sich abweist.64 Damit ließe sich auch der Titel erklären – Alex’ Verhalten ist mehr ein Ausdruck von Trauer (schwarz) als von Bosheit (lila), der entflohene Papagei, der das Cover illustriert, ein mehrfach codiertes Symbol für Alex’ Achtlosigkeit einerseits und die Befreiung (von) ihrer Trauer andererseits.

(3)

Individuelles und kulturelles Gedächtnis – Analogiebildung als Strukturprinzip

„Diese Geschichte ist lang, und sie ist kurz, sie ist verwirrend und vertrackt, verworren ist sie auch, und manch einer würde vielleicht sagen, sie ist verrückt, aber ich nicht.“65 Dass das so ist, hat damit zu tun, dass hier an „selbst-erlebte und nicht selbst-erlebte Geschichte“66 erinnert wird. Durch den für die Erzählerin wie für die Leser:innen möglichen Prozess der Analogiebildung von individuellem und kulturellem Gedächtnis kann eine Aneignung bzw. Auswertung des kollektiven Gedächtnisses erfolgen, verbunden mit Einsichten für das eigene Leben. Um diese ungewöhnliche Konstruktion des Romans zu fassen, bietet es sich an, auf Reinhart Kosellecks Systematik zurückzugreifen, die auf drei Fragen aufbaut: Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? Wie ist zu erinnern?67 – von Aleida Assmann erweitert um die Frage, die in diesem Schema den Ausgangspunkt bildet: Wer erinnert sich?68 Es erinnert sich die Ich-Erzählerin Alex. Sie erinnert dem Anschein nach zunächst nur Ereignisse, die zum Verschwinden von Paul führten, wobei der sogenannte „Auschwitzkuss“ den Höhepunkt der Ereigniskette bildet. Dabei erinnert sie sich aber auch an das länger zurückliegende, prägende Ereignis vom Tod ihrer Mutter. Und sie wird durch den Besuch des Vernichtungslagers 63 64 65 66

Ebd., S. 232. Vgl. u. a. ebd., S. 228. Ebd., S. 18. Erll, Astrid: „The social life of texts“: Erinnerungsliteratur als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 36 (1)/2011, S. 227–231, hier S. 228. 67 Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des deutschen Gedächtnisses, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 21–32, hier S. 26. 68 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 32018, S. 63.

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Auschwitz an den Holocaust erinnert. Zu erinnern sind demnach der Tod der Mutter als (individuelle) existentielle Verlusterfahrung sowie der Tod von Millionen von Menschen, die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen wurden. Die Frage, wie zu erinnern ist, thematisiert der Roman explizit durch die Rekonstruktion des didaktischen Ansatzes des Lehrers Spitzing, der seine Klasse nicht mit Faktenwissen vorbereiten, sondern durch das Aufleben von „Erinnerungsfiguren“69 im Schreibanlass „Auschwitz“, durch den Vortrag des Gedichtes Todesfuge von Paul Celan, vor allem aber durch das Einleben und Erleben in Auschwitz emotional stimulieren will. Der Erinnerungsprozess der Erzählerin stellt sich demgegenüber aber als kognitiver Vorgang dar, der Situationen und Erlebnisse auszuwerten sucht. Alex’ temporäre Unfähigkeit zu trauern, wird in diesem Prozess offenkundig und kann somit als für ihre Grenzüberschreitungen mitverantwortlich gelesen werden. Weitere Aspekte, die zur Verschränkung von individuellem und kollektivem Gedächtnis beitragen, sind intertextuelle Elemente wie Song- bzw. Gedichtzitate, Anspielungen auf literarische Werke wie Janne Tellers Nichts. Was im Leben wichtig ist70 sowie Heinrich von Kleists Drama Penthesilea71, aber auch Dokumente anderer Figuren (Produkte kreativen Schreibens, Briefe, Zeitungsberichte, Tweets). Das Gedicht Todesfuge von Paul Celan bildet ein Leitmotiv innerhalb des Romans. Es wird von Alex als „kollektiver Text“72 quasi erforscht, z. B. indem sie einzelnen Versen und Worten des Textes – insbesondere dem Verb „trinken“ – nachspürt. Damit sind auch schon einige Beispiele gegeben, wie hier über intertextuelle Verweise das kollektive Gedächtnis eingespielt wird. Häufig scheinbar belanglos wird auf Vorwissensbestände, vor allem aber mediale Repräsentationen von Geschichte als Reliquien einer Geschichtspolitik referiert, allerdings ohne diese historiographisch zu erläutern oder zu erklären. Indirektere Anspielungen auf den Nationalsozialismus sind z. B. das Panorama einer Jugendbewegung mit Führerkult, die in der Emphase über die „neue Zeitrechnung“73 anklingt, welche mit dem Vertretungslehrer im Leben der Jugendlichen eingeläutet wird. Aber auch Merkmale von Figuren lassen das Panorama, das der Nationalsozialismus geschaffen hat, aufleben: Rattes Homosexualität und die Behinderung von Pauls Bruder. Beide Figuren können aufgrund 69 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölsch, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9–19. 70 Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Übersetzt von Sigrid C. Engeler. München 2010. 71 Kleist, Heinrich von: Penthesilea, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden, Bd. 1. Hg. Helmut Sembdner. München 21994, S. 321–428. 72 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2011, S. 188f. 73 Gorelik, Mehr schwarz, S. 53.

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ihrer persönlichen Erfahrung als sensibel für Prozeduren der Ausschließung angenommen werden, wie sie die Rassenhygiene-Politik der Nationalsozialisten im Programm hatte. Damit wird auf Vorwissensbestände angespielt, die in einer Erziehung nach Auschwitz in didaktischen Kontexten häufig über Medien transportiert wurden. Manche Anspielungen erscheinen je nach Vorwissen direkter, auch weil sie noch stärker mit Bildmaterial verknüpft sind, wie etwa der Schriftzug über dem Eingangstor von Auschwitz: Jetzt ist uns diese Geschichte passiert, und jetzt liege ich hier. Und ich warte darauf, dass das Telefon klingelt. […] Diese Geschichte hat auch einen Ort, und der Ort trägt einen Namen. Er trägt diesen Namen laut. Ein Ort, über dem dieser Spruch steht, zu dem jedem was einfällt. Dieser Satz. Schauder über den Rücken, und alles andere auch.74

Auch das im Roman immer wiederkehrende rhetorische Spiel mit dem Begriff Geschichte wird hier deutlich: Mal heißt es „diese Geschichte“, dann „meine Geschichte“ oder „unsere Geschichte“, eine, die „uns passiert“ ist. Die zum Denken in Dienst genommene Sprache repräsentiert auf diese Weise auch die Verdrängungsstrategien, die im Akt des Erinnerns immer wieder aufscheinen: aufrechnen, externalisieren, ausblenden, (ver)schweigen.75

Fazit: Erinnerung als transkulturelle Figuration Aber ich weiß noch, obwohl ich mich nicht an genaue Worte erinnere, wie ein Gefühl meine Kindheit durchdrang: Es geht im Leben nicht nur um mich. Ach, stimmt nicht, ich erinnere mich an einen Satz. Er lässt sich nicht gut übersetzen, weil das russische „Ich“ ein einziger Buchstabe ist, „я“ nämlich, und zufällig ist es der letzte im Alphabet. So hieß es dann, wenn ich auf etwas bestand, wenn ich wollte und nicht aufhörte zu wollen. „‚Ich‘ ist der letzte Buchstabe im Alphabet.“76

Es scheint, als hätte die Figur Alex in diesem Roman gerade diese Lektion gelernt und potentiell mit ihr die Leserschaft dieser Geschichte. Gorelik erzählt von Figuren, die wie in diesem, aber auch anderen Romanen von ihr in doppelter Weise als transkulturelle Erinnerungsfiguren bezeichnet werden können: Sie erinnern sich an Erlebtes, Menschliches und erinnern die Leser:innen damit ggf. an Menschlichkeit, insofern sie darauf verweisen, dass jeder seine Geschichte hat, mehr oder weniger eingefasst in oder bestimmt durch soziale Etikettierungen,

74 Ebd., S. 18. 75 Vgl. Assmann, Der lange Schatten, S. 169–182. 76 Gorelik, Lena: Als Migrantenkind habe ich vieles entbehrt. Aber mir kam nie der Gedanke, dass unerfüllte Wünsche eine Bedrohung sein könnten, in: Die Zeit vom 27. 12. 2019, S. 64.

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damit verbundenen Erfahrungen, was auch die Herausforderung eines jeden im Prozess der Subjektwerdung bzw. der Enkulturation „nachdenkbar“ macht. Im Appell an die Auseinandersetzung mit seiner Geschichte und die Übernahme von Verantwortung liegt das Empathieangebot des Textes nicht in einer einfachen Identifikation mit der Hauptfigur, die die Textstrategie trotz des autodiegetischen Erzählens eher abweist, auch insofern Alex Opfer ihrer Geschichte und Täter zugleich ist, sondern in einem Wechselspiel aus Identifikation und Distanz, das grundsätzlich die Einsicht und damit auch Empathie für den Menschen in seiner Disposition als einerseits erfahrungsbedingtes und emotionsgeleitetes sowie andererseits als zur Rationalität und Humanität durch die Übernahme von Verantwortung fähiges Wesen ermöglicht. Dabei machen die Handlung und Komplikation dieser Geschichte sicher auch die Grenzen von Empathie77 diskutierbar und belegen damit den Diskurs um die Erinnerungskultur. Bemerkenswert ist dabei das Konzept, das Gorelik für die Wiederaufnahme dieses in der Kinder- und Jugendliteratur vielfältig bearbeiteten78, von der Forschung kontrovers diskutierten Themas79 entwickelt. Obwohl maßgeblich deutsche Geschichte und Erinnerungskultur fokussiert werden, kann dies als Produkt nomadischen Schreibens angesehen werden, insofern die Textorganisation eine Außenperspektive zu erkennen gibt, die im Besonderen das Allgemeine sichtbar macht und eine transkulturelle Botschaft beinhaltet: Damit die Welt anders wird, müssen alle lernen, ihre Stimmen zu erheben, wenn es um andere geht. Ich möchte als Jüdin nicht „zuständig sein“ für das Thema Antirassismus. Ich will, dass wir alle zuständig sind. Ich will von den Ausgrenzungen reden, die mich nicht persönlich betreffen.80

Dadurch, dass die vordergründige Handlung, also Alex’ Geschichte, subtil in ein Verhältnis mit der deutschen Geschichte um Schuld und Verantwortung für den Holocaust gesetzt wird, scheinen dahinter grundsätzlichere anthropologische

77 Vgl. dazu auch Spinner, Literatur und Empathie, S. 74. 78 Vgl. Glasenapp, Gabriele von: Annäherungen: Die Darstellung der Shoah in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, in: Lühe, Irmela von der/Z˙urek, Slawomir J. (Hg.): Das Gedächtnis an die Shoah = Pamie˛c´ o zagładzie (Pracownia Literatury Polsko-Z˙ydowskiej KUL/Z´ródła i monografie; 478). Lublin 2019, S. 249–264; Glasenapp, Gabriele von/MichaelisKönig, Andree: Perspektiven: Holocaustliteratur für Kinder und Jugendliche nach der Jahrtausendwende, in: Lühe, Irmela von der/Z˙urek, Slawomir J. (Hg.): Das Gedächtnis an die Shoah = Pamie˛c´ o zagładzie (Pracownia Literatury Polsko-Z˙ydowskiej KUL/Z´ródła i monografie; 478). Lublin 2019, S. 301–316. 79 Vgl. Kammler, Clemens: Strategien des Erinnerns. Zur „Erziehung nach Auschwitz“ im gegenwärtigen Literaturunterricht, in: ders. (Hg.): Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis. Positionen und Modelle. Baltmannsweiler 2000, S. 96–108. 80 Gorelik, Wir erzählen, S. 64.

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Fragen, insbesondere der Diskurs um Moral bzw. Tugendethik, um Vernunft vs. Emotionen als Triebfedern menschlichen Handelns auf. Besondere Bedeutung kommt hier Akten des Erinnerns sowie Versuchen des Vergessens zu, da diese Voraussetzungen für die Aufarbeitung des persönlichen Dramas bieten, das auf der Folie des Holocaust und dessen „symbolträchtige[n] kulturelle[n] Objektivationen“81 als Teil der deutschen Geschichte von der IchErzählerin quasi re-inszeniert wird. Dabei weist der Roman deutliche Kennzeichen von Erinnerungsliteratur auf: die Integration von selbst erlebter und nicht selbst erlebter Geschichte im Akt des Sprechdenkens, wobei Alex’ Erinnerungsprozess zahlreiche Analogien zum kollektiven Erinnern offenbart, u. a. die erwähnten Verdrängungsstrategien. Das kollektive Gedächtnis ist in diesem Roman in medial erzeugten mentalen Modellen repräsentiert, auf die angespielt wird; es stellt mit „normativer Kraft“82 den „sozialen Gedächtnisrahmen“83 dar, der als Folie für die Aufarbeitung der Biographie einer Jugendlichen genutzt wird. Die Konstruktion des Romans entspricht damit auch der Forderung Assmanns, die „entkörperten und zeitlich entfristeten Inhalte des kulturellen Gedächtnisses […] immer wieder neu mit lebendigen Gedächtnissen [zu] verkoppel[n] und von diesen angeeignet [zu] werden.“84 In jedem Fall ist der Roman damit ein Beispiel für Empathie als Programm, wobei die Konzeption sich als Engagement in Richtung Transkulturalität deuten lässt vor allem mit seiner Figuration von Alex als Sinnbild für eine Figur, die eine russische Lektion lernt, die sich sicher auch in Sprichwörtern und Akzentuierungen anderer Kulturen finden lässt: „‚Ich‘ ist der letzte Buchstabe im Alphabet.“85

81 82 83 84 85

Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 30. Assmann, Der lange Schatten, S. 153. Ebd. Ebd., S. 34. Gorelik, Als Migrantenkind, S. 64.

Sofie Friederike Mevissen (Wuppertal)

Kinderperspektiven im postsowjetischen deutschsprachigen Generationenroman bei Eleonora Hummel, Marina Frenk und Nino Haratischwili

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen reflektieren Generationenromane von Autorinnen osteuropäischer Herkunft die diversen Nachwirkungen der sowjetischen ‚Gewaltgeschichte‘. Vor dem Hintergrund eines transkulturellen und multidirektionalen Gedächtnisdiskurses referieren diese erinnerungskulturellen Texte dabei auf Diktaturerfahrungen, Zwangsumsiedlungen und Migrationsbewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die politische Gegenwart. In erinnerungskultureller Prosa1 sind Kinderfiguren und Kinderperspektiven Bestandteil der inszenierten Rückschau auf vergangene Lebens- und Zeitgeschichte. Sowohl in autobiographischen Darstellungen von Kindheitserinnerungen als auch in (auto-)fiktionalen Erzähltexten repräsentiert die Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenenperspektive einen Kontrast zwischen vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungsräumen. Michael Basseler und Dorothee Birke bezeichnen diese Form der Alternation von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit als „gleichzeitige[s] Nebeneinander der Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustände einer Figur“2. In diesem Zusammenhang weist Sebastian Griese darauf hin, dass die literarische Inszenierung der Kinderperspektive stets Teil einer erwachsenen Erinnerung ist. Diese vermittelt also eine „Schein-Naivität, die sich daraus ergibt, dass ein erwachsener Autor sich dieses Blickwinkels bedient, um Vorgänge zu schildern, die die kindlichen Ver-

1 Grundlegende literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zur erinnerungskulturellen Literatur finden sich in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005. Siehe auch bei Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: dies.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 32017, S. 143–166. 2 Basseler, Michael/Birke, Dorothee: Mimesis des Erinnerns. Formen der Inszenierung von Erinnerungsprozessen, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, S. 123–148, hier S. 137.

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Sofie Friederike Mevissen

ständnismöglichkeiten oftmals übersteigen.“3 Mechthild Barth differenziert in ihrer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zur Funktion der Kinderperspektive in Erzähltexten vier traditionelle narrative Grundverfahren: die autobiographische Sicht, die Literarisierung psychologischer Erklärungsmodelle kindlicher Wahrnehmung, die Inszenierung von Naivität sowie eine Überhöhung des kindlichen Wesens.4 Im zeitgenössischen deutschsprachigen Generationenroman5 fungiert das Erzählen aus der Sicht des Kindes darüber hinaus als ein metafiktionales Verfahren der Inszenierung einer generationalen Verstehensgrenze.6 Kinderperspektiven markieren oftmals Abweichungen von etablierten Narrativen und Deutungsmustern. Die dem Kinderblick inhärente Unbefangenheit als „noch unbeteiligter Beobachter“7 von Zeitgeschichte, Historie und Erinnerungskultur ermöglicht daher oftmals einen kritischen Blick auf die Erwachsenenwelt.8 So vermögen literarisch inszenierte Kinderperspektiven „historisch gesättigte […] Wissensbestände von einem neuen Blickwinkel aus zu beleuchten“9. Insofern im Generationenroman das Kind die Nachkommenschaft einer von der Historie betroffenen Zeitzeugengeneration repräsentiert, verkörpert es in dieser Hinsicht eine alternative Wahrnehmung und die Möglichkeit einer Neubewertung tradierter erinnerungskultureller Narrative. Eine wesentliche er3 Griese, Sebastian: Inszenierte Privatheit. Möglichkeiten und Grenzen literarischer Erinnerung. Marburg 2009, S. 175. 4 Barth, Mechthild: Mit den Augen des Kindes. Narrative Inszenierungen des kindlichen Blicks im 20. Jahrhundert. Heidelberg 2009. 5 Zum Gattungsbegriff des Generationenromans siehe Galli, Matteo/Costagli, Simone: Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman, in: dies. (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien im internationalen Kontext. Paderborn 2010. Einschlägige literaturwissenschaftliche Beiträge zum Generationenroman als Medium zur Kontextualisierung deutscher Historie sind die Arbeiten von Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005; sowie von Assmann, Aleida: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wien 2006. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gattungsbegriff des Generationenromans und seiner Anwendung in der Literaturwissenschaft findet sich bei Reidy, Julian: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des ‚Generationenromans‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2013. Zu Form und Funktion des Generationenromans siehe auch Mevissen, Sofie Friederike: Gewaltgeschichte im Familiengedächtnis. Narrative Identität in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt und im Generationenroman der Gegenwart. Würzburg 2021. 6 Eine Erläuterung zu der im Generationen-Modell des Soziologen Karl Mannheim angelegte „Grenze des Verstehens“ zwischen den Generationen findet sich in Giesen, Bernhard: Ungleichzeitigkeit, Erfahrung und der Begriff der Generation, in: Kraft, Andreas/Weißhaupt, Mark (Hg.): Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009. 7 Hetzer, Tanja: Kinderblick auf die Shoah. Formen der Erinnerung bei Ilse Aichinger, Hubert Fichte und Danilo Kisˇ. Würzburg 1999, S. 10. 8 Griese, Inszenierte Privatheit, S. 177. 9 Barth, Mit den Augen des Kindes, S. 16.

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innerungspoetologische Funktion der Kinderperspektive im Generationenroman ist somit die Inszenierung eines distanzierteren Verhältnisses zu traumatischen und/oder schuldbesetzten historischen Erfahrungen. Zahlreiche Generationenromane der Gegenwart verhandeln historische Kontexte und Erfahrungsräume der ehemaligen Sowjetunion und illustrieren, auf welche Weise Kollektiverfahrungen im Familiengedächtnis tradiert und erinnert werden.10 So zeigt sich mit Blick auf die Veröffentlichungen seit der Jahrtausendwende eine signifikante Zunahme an deutschsprachigen Texten von Autorinnen, die in den 1990er-Jahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind. Zu den prominenten Stimmen der deutsch-jüdischen postsowjetischen Literatur zählen beispielsweise Wladimir Kaminer, Katja Petrowskaja, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa und Sasha Mariana Salzmann.11Auch der Blick auf die Vergabe renommierter Literaturpreise in den vergangenen Jahren, wie des Deutschen Buchpreises im Jahr 2019 an Sasˇa Stanisˇic´ oder des Ingeborg-Bachmann-Preises im Jahr 2018 an Tanja Maljartschuk belegt, dass postsowjetische Themen zum festen Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählen.12 Der sogenannte ‚Eastern-European-Turn‘13 im deutschsprachigen Generationenroman bedingt somit eine Pluralisierung historischer Erfahrungskontexte und Erinnerungsorte, über die insbesondere gesellschaftliche Transformationsprozesse, politische Konflikte und Migrationsbewegungen als Folge des Zerfalls der sowjetischen Lebenswelt zur Anschauung kommen. Neben der Bezugnahme auf Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsjahrzehnte nehmen vor allem Erzählperspektiven einer dritten Erfahrungsgeneration spezifische Erfahrungen postsowjetischer Historie in den 10 Zum sowjetischen Erfahrungsraum im erinnerungskulturellen Diskurs siehe Blacker, Uilleam/Etkind, Alexander: Introduction, in: Blacker, Uilleam/Etkind, Alexander/Fedor, Julie (Hg.): Memory and Theory in Eastern Europe. New York 2013, S. 1–22. 11 Siehe auch Terpitz, Olaf: Begegnungen in Europa und der Welt. Deutschsprachige Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren aus der (ehemaligen) Sowjetunion, in: Osmikon. Das Forschungsportal zu Ost-, Mittel- und Südosteuropa, 2020; https://www.osmikon.de/themen dossiers/shared-histories/begegnungen-in-europa-und-der-welt-deutschsprachige-literatu r-juedischer-autorinnen-und-autoren-aus-der-ehemaligen-sowjetunion [08. 07. 2021]. 12 Einen Überblick über Literaturgeschichte und Veröffentlichungen osteuropäischer Autorinnen bieten auch die beiden Beiträge von Ackermann, Irmgard: Die Osterweiterung in der deutschsprachigen Migrantenliteratur und bio-bibliographischer Anhang: Autoren aus Ostund Su¨ dosteuropa in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte … Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien 2008. Eine Sammlung exemplarischer Einzelanalysen bietet der Sammelband von Lovric, Goran/Jelec, Goran/Jelec, Marijana (Hg.): Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur. Frankfurt am Main 2016. 13 Vgl. Haines, Brigid: Introduction. The Eastern-European Turn in Contemporary GermanLanguage Literature, in: German Life and Letters 68(2)/2015, S. 145–153.

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Blick. Thematische und motivische Schwerpunkte sind dabei insbesondere die Rekapitulation familienbiographischer Migrationsgeschichte seit den 1980erJahren und eine Auseinandersetzung mit Narrativen der „sowjetischen Erbschaft“14 als identitätsstiftendes Potential einer postsowjetischen nachgeborenen Generation. Die folgende Zusammenschau skizziert exemplarisch Formen und Funktionen des Kinderblicks in drei ausgewählten postsowjetischen Generationenromanen. In ihrer metafiktionalen Art reflektieren alle drei Texte historische Zusammenhänge des 20. Jahrhunderts. Den Biographien der Autorinnen ist gemeinsam, dass sie selbst aus der ehemaligen Sowjetunion in den deutschsprachigen Raum migriert sind und dass die eigene Familiengeschichte und diverse Erfahrungen von Interkulturalität im Zentrum ihres (auto-)fiktionalen Schreibens stehen.15 In den Romanen Die Fische von Berlin (2005) von Eleonora Hummel, Das achte Leben (Für Brilka) (2014) von Nino Haratischwili und ewig her und gar nicht wahr (2020) von Marina Frenk stellt das Erzählen aus der Kinderperspektive einen Schlüssel zum Verstehen prägender zeitgeschichtlicher und erinnerungskultureller Transformationen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts dar. Der Fokus auf russlanddeutsche, georgische und moldawische Geschichtserfahrungen verweist auf diverse historische Kontexte und Konflikte, denen im zeitgenössischen Diskurs oftmals eine marginalisierte Stellung zukommt. Darüber hinaus illustriert die zugrunde liegende Textauswahl ein exemplarisches Themenspektrum im postsowjetischen Generationenroman, in dessen Rahmen der Kinderperspektive jeweils unterschiedliche Funktionen zukommen.

1.

Russlanddeutsche Kollektivgeschichte: Eleonora Hummels Die Fische von Berlin (2005) „Ich fragte mich, was ich überhaupt von Großvater wußte. Ich kannte ihn mein ganzes Leben lang, aber das war ja nur ein Bruchteil seines Lebens. […] Ich wußte nicht einmal, wie er Großmutter kennengelernt hatte. Sie sprach niemals darüber.“16

Dies sind die Gedanken der zwölfjährigen Alina Schmidt bei einem gemeinsamen Angelausflug mit ihrem Großvater Eduard Bachmaier. Der Ausflug bildet 14 Schlögel, Karl: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. München 2017, S. 55. 15 Vgl. Luschina, Nadja: Russisches Fräuleinwunder auf Deutsch. Deutschsprachige Erzählliteratur von Autorinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zwischen 2005 und 2012. Berlin 2018, S. 8. 16 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen 2005, S. 53.

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den Auftakt zu einer Reihe weiterer Gespräche, in denen der Großvater seiner Enkelin seine Lebensgeschichte enthüllt. In Eleonora Hummels Debütroman Die Fische von Berlin spiegelt die Perspektive der Ich-Erzählerin Alina die zeitgeschichtliche Differenz zwischen Zeitzeugen- und Nachgeborenengeneration und beleuchtet traumatische sowie schuldbesetzte Erfahrungen russlanddeutscher Kollektivgeschichte. Die Fische von Berlin referiert zusammen mit dem Folgeroman Die Venus im Fenster (2009) in hohem Maße auf biographische Elemente der 1970 in der Kasachischen SSR geborenen Autorin, wie das Aufwachsen in der Sowjetunion sowie die Erfahrung der Umsiedlung der Familie in die DDR. Weitere Roman-Veröffentlichungen von Eleonora Hummel sind In guten Händen, in einem schönen Land (2013) und Die Wandelbaren (2019), von denen vor allem letztgenannter Text über eine Gruppe deutschstämmiger Schauspieler und das deutsche Theater in Temirtau erneut explizit die Perspektive Russlanddeutscher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reflektiert. In der in den 1990er-Jahren angesiedelten Rahmenhandlung erinnert die mittlerweile erwachsene Alina ihre Kindheit in Kasachstan in den frühen 1980er-Jahren. Im Mittelpunkt der Romanhandlung stehen die sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Gespräche zwischen ihr und ihrem Großvater, Eduard Bachmaier, über dessen Erfahrungen und Erinnerungen im Umfeld des Zweiten Weltkriegs und über seine Jahre im sibirischen Arbeitslager. Die Anordnung der erinnerten Gespräche sowie die Inhalte sind aus Alinas Nachgeborenenperspektive erzählt, die einerseits Teil des Gesprächs ist und andererseits aus der IchPerspektive ihre eigene Lebensgeschichte erzählt. Die narrative Form der Verschränkung der eigenen Lebensgeschichte mit der des Großvaters ermöglicht Alina, Fragen bezüglich der eigenen Identität und des Familienerbes der russlanddeutschen Geschichtserfahrung stellen zu können.17 Angestoßen durch den Zufallsfund eines Messers und einer rätselhaften Photographie, versucht Alina herauszufinden, was ihren Großvater von den „Kriegsveteranengroßvätern“18 ihrer Freundinnen unterscheidet. Sukzessive enthüllt das Gespräch zwischen ihr und Eduard die Differenzerfahrung als einen wesentlichen Teil russlanddeutscher Identität im 20. Jahrhundert. Exemplarisch 17 Zur Erzählstruktur in Hummels Roman siehe Brylla, Wolfgang: Eleonora Hummels Roman ‚Die Fische von Berlin‘ im Blickpunkt narratologischer Erinnerungsinszenierung, in: Germanica Wratislaviensia 136/2012, S. 9–23. Zur Inszenierung transgenerationaler Weitergabe russlanddeutscher Erfahrungen siehe Ratajczak, Marta: Der Staffellauf der Generationen. Zur Inszenierung von Erinnerung und Identität in den Romanen von Eleonora Hummel ‚Die Fische von Berlin‘ und ‚Die Venus im Fenster‘, in: Bialek, Edward/Wolting, Monika (Hg.): Kontinuitäten, Brüche, Kontroversen. Deutsche Literatur nach dem Mauerfall. Dresden 2012, S. 299–324; und Mevissen, Sofie Friederike: Narrative Identität und Postmemory in Eleonora Hummels Roman ‚Die Fische von Berlin‘ (2005) und Katja Petrowskajas Erzählung ‚Vielleicht Esther‘ (2013), in: Ullrich, Carmen (Hg.): (Un-)Gleichzeitigkeiten. München 2018, S. 167–183. 18 Hummel, Fische, S. 39.

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veranschaulicht Eduard Bachmaiers Lebensgeschichte die ambivalente Position der Russlanddeutschen im Zweiten Weltkrieg, die Erfahrungen von Deportation und Zwangsarbeit während des Großen Terrors19 sowie die Repräsentation russlanddeutscher Kollektiverfahrungen in der sowjetischen Erinnerungskultur.20 „Niemand wollte etwas wissen“21, resümiert Großvater Eduard und zielt dabei zum einen auf das staatlich aufoktroyierte Tabu, über die Gefangenschaft im sibirischen Gulag zu sprechen, zum anderen auf die Schwierigkeit, die traumatischen Dimensionen seiner Lebensgeschichte innerhalb der Familie zu kommunizieren.22 Die scheinbar stabilisierende Funktion23 seines Schweigens für Staat und Familie wird im Roman gebrochen durch die Kinderperspektive Alinas. Die unbefangene Nachfrage der Enkelin setzt den Erzählprozess in Gang, der im Rahmen des Dialogs stets zwischen den Narrativen des Erwachsenen und der Weltsicht des Kindes vermittelt. Insofern Alina, dem Kind, die Gesprächsführung übertragen wird, offenbart sich ein Rollentausch in Bezug auf die strukturell Erwachsenen vorbehaltene Bewertung der Vergangenheit. Der Perspektive des zwölfjährigen Kindes ist es dabei möglich, einen unvoreingenommenen Umgang mit der Lebensgeschichte des Großvaters zu entwickeln und historische Kollektiverfahrung jenseits von Schuld und Trauma erzählen zu können. Während der Elterngeneration im Roman eine solche Auseinandersetzung mit der Historie unmöglich scheint, verkörpert die Figur Alinas die Möglichkeit, die „Erbstück[e]“24 der russlanddeutschen Kollektivvergangenheit als einen Bestandteil 19 Dies betraf auch andere Oppositionelle und Kritiker, die als Volksfeinde verfolgt wurden. Zum gesamtsowjetischen Kontext des Großen Terrors siehe auch Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008; sowie Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013. 20 Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Russlanddeutschen in der Sowjetunion finden sich unter anderem bei Ingenhorst, Heinz: Die Russlanddeutschen. Aussiedler zwischen Tradition und Moderne. Frankfurt am Main 1997; und Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen. Bonn 2015. 21 Hummel, Fische, S. 215. 22 Zur Funktionsweise des Familiengedächtnisses siehe die einschlägigen Forschungsarbeiten Harald Welzers, z. B.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 42017 [2005]; oder ders./Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Frankfurt am Main 92015 [2002]. Zur Tradierung russlanddeutscher Kollektivgeschichte im Familiengedächtnis siehe Rosenthal, Gabriele/Stephan, Viola/ Radenbach, Niklas: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von Russlanddeutschen ihre Geschichte erzählen. Frankfurt am Main 2011. 23 Im Anschluss an die Theorie des Soziologen Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis konstatiert Harald Welzer die harmonisierende Funktion von Vergangenheitsnarrativen im Familienkollektiv. Vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 155. Siehe dazu auch Assmann, Aleida: Formen des Schweigens, in: Assmann, Jan/dies. (Hg.): Schweigen: Archäologie der literarischen Kommunikation. Paderborn 2013, S. 51–67. 24 Hummel, Fische, S. 214.

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der eigenen Identität neu zu definieren. Die Erfahrungen des Großvaters werden im Text kontrastiert mit den Diskriminierungen in Alinas Kindheit, insofern auch sie ihre kulturelle Zugehörigkeit als brüchig erfährt. Über die Darstellung ihres Schulalltags fokussiert der Text Alinas kindliche Lebenswelt, in der die Konfrontation mit dem Anders-Sein Teil ihres Alltags ist. Wenngleich Alina beispielsweise die Frage ihrer russischen Klassenkameradin, ob sie infolge ihres Nachnamens Deutsche sei, verneint und entgegnet, „Schmidt ist ein ganz gewöhnlicher Name, auch du könntest so heißen“25, zeigt sich im vertrauten Gespräch mit ihrer älteren Schwester Irma eine Sehnsucht danach, dort zu leben, „wo andere sind wie ich“26. Dabei zeigt sich ein „defizitäres Grundgefühl“27, das die interkulturellen Identitätskonflikte der Romanfiguren auszeichnet. In diesem Sinne ist die rückblickende Kinderperspektive bei Hummel ein Verfahren zur narrativen Konstruktion russlanddeutscher Identität, die sowohl marginalisierte Aspekte der ‚Gewaltgeschichte‘ des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegshistorie beinhaltet, als auch auf interkulturelle Problematiken in der sowjetischen und postsowjetischen Lebenswelt verweist.

2.

Zäsur der sowjetischen Zeitgeschichte: Nino Haratischwilis Das achte Leben (Für Brilka) (2014) „Du bist das Zauberkind. Du bist es. Durchbrich den Himmel und das Chaos, durchbrich uns alle, durchbrich diese Zeilen, durchbrich die Gespensterwelt und die wirkliche Welt […]. Durchbrich diese Geschichte und lass sie hinter dir.“28

Diesen Appell richtet hier die Ich-Erzählerin Niza Jaschi an ihre 14-jährige Nichte Brilka im Roman Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili. Das vielfach ausgezeichnete Werk der 1983 in der Georgischen SSR geborenen Autorin Haratischwili umfasst Prosa und dramatische Texte. Neben Das achte Leben (Für Brilka) bilden vor allem in ihrem Roman Die Katze und der General (2018) Begebenheiten der georgischen und deutschen Historie den Handlungshintergrund. „Diese Geschichte“ meint zum einen die von Krieg und Gewalt durchdrungene Kollektivgeschichte Georgiens im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, zum anderen die unglückselige Familiengeschichte. Das ‚Zauberkind‘ Brilka symbolisiert dabei eine Zäsur im Familiengedächtnis, wo individuelle Traumata ver25 Ebd., S. 117. 26 Ebd., S. 64. 27 Isterheld, Nora: ‚In der Zugluft Europas‘. Zur deutschsprachigen Literatur russischstämmiger AutorInnen. Bamberg 2017. 28 Haratischwili, Nino: Das achte Leben (Für Brilka). Frankfurt am Main 2014, S. 16f.

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schränkt sind mit sowjetischer und postsowjetischer Historie. Den Rahmen der Erzählung bildet die von Niza im Jahr 2005 verfasste Chronik als Versuch, die Geschichte ihrer Familie „anders und neu zu schreiben“29. Sie kommt damit der Bitte Brilkas entgegen, die die Familiengeschichte als Grundlage für eine Choreographie zu den Kompositionen ihrer Urgroßtante Kitty verwenden möchte. Niza beginnt mit dem einsetzenden 20. Jahrhundert und der Lebensgeschichte von Stasia, ihrer Urgroßmutter. Der Genealogie ihrer Familie folgend und entlang der Zeitgeschichte des ‚roten Jahrhunderts‘30 rekapituliert Nizas Text in sieben mit den Namen ihrer jeweiligen Protagonisten betitelten Kapiteln die Geschichte und das Gedächtnis der Familie. Der Roman endet mit dem noch ungeschriebenen achten Buch, das den Namen Brilka trägt. In ihrer doppelten Rolle als Chronistin und Figur innerhalb der Familiengenealogie31 verbindet Nizas Perspektive einzelne Innensichten der anderen Familienmitglieder mit erinnerungspoetologischen Kommentaren und direkten Ansprachen an Brilka. Dabei stellt sie sich als Erzählerin immer wieder selbst in Frage: So beginne ich hier, mich selbst ein wenig tröstend, wie ein Kind, das Angst hat und dabei sein geliebtes Spielzeug fest an sich drückt. Denn ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob ich mir gerecht werden kann mit dem, was ich versuchen will, dir zu erzählen, ob ich dir gerecht werden kann, Brilka.32

Im Zusammenspiel der beiden Figuren Niza und Brilka veranschaulicht der Roman zwei Kinderperspektiven. Zum einen erinnert Niza, Jahrgang 1973, ihre Kindheit im sowjetischen Tbilissi, zum anderen repräsentiert Brilka, Jahrgang 1993, eine postsowjetische Kindheit und Jugend. Der Text inszeniert beide Kinderfiguren als Trägerinnen des Familiengedächtnisses: Niza, insofern die Urgroßmutter Stasia ihr als Schulkind die „Geschichte des Teppichs“33 und das Geheimrezept der angeblich verfluchten heißen Schokolade „als einer der Hauptfiguren unserer Geschichte“34 anvertraut und Brilka, die sich der Biographie und dem Werk ihrer im Exil in London verstorbenen Urgroßtante annimmt. In ihrer Rolle als Kinder spiegeln beide Perspektiven einen metareflexiven Blick 29 Ebd., S. 15. 30 Vgl., ebd., S. 1271. 31 Vgl. Lempp, Felix: ‚Teppiche sind aus Geschichten gewoben‘. Problematisierungen generationalen Erzählens in Nino Haratischwilis Das achte Leben (Für Brilka) und Jette Steckels Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2020, S. 91–107, hier S. 95. Zur Anlage der Erzählsituation siehe auch Halfmann, Roman: Die neue Nostalgie in der Gegenwartskultur. Zur Transformation personaler Authentizität in Werken von Ian McEwan, Karl Ove Knausgård, Nino Haratischwili und Tom McCarthy, in: Weimarer Beiträge 63(1)/2017, S. 5–26. 32 Haratischwili, „Das achte Leben“, S. 31. 33 Ebd., S. 29. 34 Ebd., S. 48.

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auf den Komplex von Historie, Familiengeschichte und Gedächtnis. Beide Kinderfiguren zeichnen sich dabei paradoxerweise mit einem Mehr an Wissen über die Vergangenheit aus und verkörpern somit das Potential, Familien- und Kollektivgeschichte erzählen zu können. Zwar tritt Brilka an keiner Stelle als Erzählerin auf, dennoch ist ihre Perspektive der Fixpunkt der Erzählung. Zum einen, insofern das Erscheinen von Brilka in Nizas Leben die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen und der Familiengeschichte initiiert. Dabei fungiert das Kind als movens, vergessene oder verdrängte Historie zur Anschauung zu bringen. Niza, die ihre Familie und ihre Heimat nach dem Tod ihrer Schwester im Jahr 1995 verlassen hat, lebt zum Zeitpunkt des Wiedersehens mit Brilka in unsteten Verhältnissen in Berlin. Ihrem performativen Bruch mit der Familie und ihrer Geschichte stehen Brilkas Interesse am Schicksal ihrer Urgroßtante sowie ihr Wunsch nach verwandtschaftlicher Nähe diametral entgegen. Der Verbindung zwischen beiden ist der Verlust der Schwester bzw. Mutter eingeschrieben, der in der Logik eines unheilbehafteten mündlich tradierten Schokoladenrezepts als Folge eines die Familiengeschichte durchziehenden Fluchs gedeutet wird. Zum anderen verkörpert Brilka als symbolische Zäsur das Potential des Neuanfangs. So wird ihre ins Jahr 1993 verlagerte Geburt im Text parallelisiert mit dem Jahr des Bürgerkriegs zwischen Georgien und Abchasien, dessen Ausgangspunkt die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region Abchasien vom restlichen Teil Georgiens waren. Im Kontrast zur erwachsenen Niza, deren Lebensgeschichte fest in die traumatische Textur der Familiengeschichte eingewoben ist, erscheint Brilka „[a]ls sei sie ohne Nabelschnur auf die Welt gekommen“35: Unvoreingenommen und unversehrt von der sowjetischen Gewaltgeschichte repräsentiert die Kinderfigur somit die erste wirkliche Möglichkeit, die Familiengeschichte in einer anderen Form, nämlich der des Tanzes, ausdrücken zu können.36 Das ungeschriebene achte Leben steht damit am Beginn der postsowjetischen Zeitrechnung Georgiens, verbunden mit der Hoffnung auf ein Ende der politischen Gewalt und der privaten Verlusterfahrungen.

35 Ebd., S. 1237. 36 Vgl. Lempp, ‚Teppiche sind aus Geschichten gewoben‘, S. 101.

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3.

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Unbetroffenheit des Kindes: Marina Frenks ewig her und gar nicht wahr (2020) Ich bin sechs Jahre alt und sitze auf der Rückbank unseres Lada. […] Mama und Papa haben beschlossen, in Europa zu leben. Also, unser Land liegt, glaube ich, auch in Europa, aber es gibt wohl noch ein besseres Europa, und da wollen sie hin. Ich verstehe nicht genau warum, aber es hat irgendwas mit den Nachrichten zu tun.37

Marina Frenks Roman ewig her und gar nicht wahr schildert an dieser Stelle die Gedanken der sechsjährigen Kira zur bevorstehenden Ausreise mit den Eltern aus ihrem Geburtsland Moldawien. Der Debütroman der 1986 in der Moldauischen SSR geborenen Autorin und Schauspielerin Frenk greift in Teilen autobiographische Kontexte der eigenen Migrationserfahrung auf. Die Beweggründe der elterlichen Ambitionen und die Gravität des Ereignisses bleiben der IchErzählerin verborgen, hingegen veranschaulicht ihre Kinderperspektive einen Moment der unvoreingenommenen Beobachtung postsowjetisch-jüdischer Zeitgeschichte. In dem multiperspektivischen Roman alternieren Erzählperspektiven und -zeiten. Den Hauptstrang der 34, jeweils mit Orten und Zeitangaben übertitelten Kapitel bildet die Erzählung der 1986-geborenen Hauptfigur Kira, die darin aus der Ich-Perspektive das Familienleben mit ihrem Partner Marc und ihrem Sohn Karl in der Gegenwart des Jahres 2018 schildert. Einzelne Kapitel illustrieren zudem prägende Erinnerungen aus Kiras Biographie: die Ausreise mit ihren Eltern aus Moldawien im Jahr 1993, ihre Anfänge als Malerin in Köln im Jahr 2005 sowie Reisen zu ihren Verwandten nach Israel, 2008, und in die USA, 2012. Daneben verhandelt der Text ausgewählte Begebenheiten aus den Lebensgeschichten vier ihrer Vorfahren. Zum einen die Erfahrungen ihrer Großeltern: ihres jüdischen Großvaters Aaron, der 1941 mit seinen Eltern vor den deutschen und rumänischen Truppen aus dem ehemaligen Bessarabien flüchtet, ihrer Großmutter Sarah, die 1948 den nach Moldawien zurückgekehrten Aaron in Chis¸ina˘u kennenlernt und die ihres Großvaters Jurij, der 1944 im Krieg bei Budapest schwer verwundet wird. Zum anderen werden die Erfahrungen ihrer Mutter Lena geschildert, die 1968 als 13-Jährige geheim gehaltene Briefe ihres Vaters findet. In all diesen Fragmenten der Familiengeschichte kondensiert die Erfahrung des Verloren-Gehens als Problemkonstante. Kira erinnert sich im Prolog an die Szene eines Strandbesuchs in ihrer Kindheit: „Ich ahnte, dass ich verloren gegangen war. Ich versuchte das zu verdrängen, mit allem Bewußtsein, zu dem ein fünfjähriges Kind fähig ist […].“38 Was sich in dieser spezifischen Erinnerung lediglich als ein kurzes Getrennt-Sein von den Eltern herausstellt, 37 Frenk, Marina: ewig her und gar nicht wahr. Berlin 2020, S. 20. 38 Ebd., S. 5.

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wird im Hinblick auf die Verlusterfahrungen in der Familie zum Leitmotiv. Doch an die Stelle des Eingenommen-Seins vom kollektiven Trauma rückt in der Kinderperspektive ein distanziert-nüchterner Umgang mit tradierter Angst und die Möglichkeit zur Transformation: „Verloren gehen fühlt sich einsam an, aber auch interessant. […] Ich akzeptierte, dass ich verloren gegangen war, und versuchte mich zu verwandeln.“39 Das Motiv der Unbetroffenheit zeigt sich im Roman zunächst in der Perspektive der sechsjährigen Kira und ihrer „Schein-Naivität“ im Hinblick auf den historischen Hintergrund des Transnistrien-Konflikts, dessen Basis die Unabhängigkeitskämpfe zwischen der Region Transnistrien und der Republik Moldau nach dem Zerfall der Sowjetunion bilden. Im Rahmen der Auswirkungen beschließen Kiras Eltern 1991, die Republik Moldau zu verlassen.40 Die Wahrnehmung der Ausreise nach Deutschland aus Kiras Kinderperspektive unterstreicht ihr Nicht-Wissen um die Tragweite der Situation, wie z. B. der Abschied von ihrer Großmutter Nastja zeigt: „Ich klopfe an die Scheibe und muss auch weinen, obwohl mir nicht ganz klar ist, wieso alle weinen.“41 Ein weiteres Beispiel zeigt die Szene eines Überfalls an der rumänisch-ungarischen Grenze, währenddessen sie das Verhalten der Erwachsenen imitiert: „Ich sitze auf der Rückbank des Lada und klammere mich an meinen beiden Affen fest. Streichele ihnen über den Kopf und rede ihnen gut zu, sie sollen keine Angst haben.“42 Sie erkennt, „Mama und Papa brauchen die ganze Zeit für ihre Angst“43, und sie füllt diese Leerstelle der beschützenden Instanz, indem sie für ihre Stofftiere die Rolle der Erwachsenen annimmt. Als ein Verfahren zur narrativen Inszenierung von Verlusterfahrungen finden sich Kinderperspektiven im gesamten Roman. In paralleler Anlage zur Darstellung der Auswanderung aus Kiras Perspektive schildert ein anderes Kapitel die Deportation der jüdischen Vorfahren im Jahr 1941, fokalisiert aus der Perspektive des zehnjährigen Aaron, Kiras Großvaters: „Aaron denkt an Schmulik und an Oma Bina. Er fragt sich, ob ihr Trick funktioniert und sie sich erfolgreich totgestellt hat, damit sie nicht erschossen wird, oder ob die Rumänen ihr auf die Schliche gekommen sind und sie noch einmal umgebracht haben.“44 Aarons Wahrnehmung des Abschieds von seinem Hund und seiner Großmutter illus39 Ebd., S. 6. 40 Zum historischen Hintergrund der Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik und die DDR siehe Belkin, Dmitrij/Gross, Raphael (Hg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Begleitpublikation zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt. Berlin 2010. 41 Frenk, ewig her, S. 51. 42 Ebd., S. 108. 43 Ebd., S. 110. 44 Ebd., S. 60.

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triert ein kindliches Erklärungsmodell für den Genozid und die gewaltsame Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus ihrer Heimat. Die Inszenierung der Unkenntnis der gesellschaftspolitischen Hintergründe im Kinderblick fungiert als ein Verfahren zur Darstellung des Bruchs – sowohl mit dem erinnerungskulturellen Status quo45 als auch mit dem Topos der Unsagbarkeit des Holocaust.46 Eine weitere zentrale Kinderfigur des Textes ist Kiras Sohn Karl, der in der Erzählgegenwart des Jahres 2018 vier Jahre alt ist. In immer wiederkehrenden Gesprächen konfrontiert Karl seine Mutter mit den typischen Warum-Fragen eines Kleinkindes – warum er, seine Mutter und sein Vater am Leben sind47 oder warum sein Großvater gestorben ist.48 Seine Fragen offenbaren einerseits Leerstellen, über Verlusterfahrungen sprechen zu können und initiieren andererseits Kiras – teils unbewusste – Auseinandersetzung mit unbearbeiteten Aspekten ihrer Vergangenheit. In der „[i]n einem Frachtwaggon, irgendwo, irgendwann“49 situierten Traum-Sequenz symbolisiert die Kinderfigur Karl den Fortgang der Genealogie und der transgenerationalen Weitergabe sowjetisch-jüdischer Familiengeschichte. Die erträumte Zusammenkunft der Vorfahren anlässlich der Geburt von Karl verschränkt die in der Realität verstrichenen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Historie des Zweiten Weltkriegs mit dem Hinweis auf die Frage nach dem Familiengedächtnis zukünftiger Generationen. So resümiert Kira: „Ein Waggon voller Familie fährt in seine unbekannte Bestimmung und nicht einmal der kleine Säugling auf meinem Arm kann dem entkommen.“50 In Frenks Roman eröffnet die Kinderperspektive zum einen die Möglichkeit, ausgewählte Aspekte sowjetischer und postsowjetischer Historie in einer unmittelbaren und zugleich unbetroffenen Weise zur Anschauung zu bringen. Zum anderen verweist sie motivisch auf die genealogische Struktur im Generationenroman. Allerdings wird hier vornehmlich nicht der postmemoriale Erinnerungsraum der ‚dritten Generation‘ nach dem Holocaust adressiert, sondern mit dem Fokus auf die Perspektive der Hauptfigur Kira Erfahrungen und Erinnerungen im Rahmen der Kriegs- und Krisenschauplätze der 1990er-Jahre veranschaulicht. 45 Als metafiktionales Medium reflektiert der Generationenroman häufig Aspekte und Diskurse des zeitgenössischen Gedächtnisdiskurses. Vgl. Blasberg, Cornelia: Erinnern? Tradieren? Erfinden? Zur Konstruktion von Vergangenheit in der aktuellen Literatur über die dritte Generation, in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 165–186, hier S. 166. 46 Vgl. hierzu Buchenhorst, Ralph: Das Element des Nachlebens. Zur Frage der Darstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst. Paderborn 2011. 47 Frenk, ewig her, S. 7. 48 Ebd., S. 135. 49 Ebd., S. 207. 50 Ebd., S. 213.

Kinderperspektiven im postsowjetischen deutschsprachigen Generationenroman

4.

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Fazit

In den hier vorgestellten Beispieltexten postsowjetischer Generationenromane fungieren die Kinderperspektiven als Form der Differenzierung generationengebundener Erfahrungen. Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel thematisiert russlanddeutsche Geschichtserfahrungen im Erinnerungsgespräch zwischen Enkelin und Großvater. Der Text enthüllt aus der Perspektive der zwölfjährigen Alina die verschwiegenen Erinnerungen ihres Großvaters sowie die Anlage konfliktreicher Identitätserfahrungen Russlanddeutscher. Marina Frenks multiperspektivischer Roman ewig her und gar nicht wahr verhandelt Aspekte kindlicher Betroffenheit der moldawisch-jüdischen Historie. Den Generationen ihrer Familie seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart folgend, illustriert der Roman in den Kinderperspektiven Erfahrungen des Kriegs, der Verfolgung und der postsowjetischen Historie. Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili inszeniert am Beispiel Georgiens die Kriegshistorie des 20. Jahrhunderts und die zeitgeschichtliche Zäsur des Zerfalls der Sowjetunion. Über die Kinderfigur reflektiert der Text dabei Modi des Erzählens und des Erinnerns der postsowjetischen Generation. Eine wesentliche Funktion aller hier vorgestellten Kinderperspektiven ist die Inszenierung einer von historischem Wissen und Erinnerungsdiskurs unvoreingenommenen Position. Diese Form scheinbarer Naivität reduziert zum einen die Komplexität der traumatisch belasteten (Familien-)Historie und schafft dabei einen möglichst neutralen Blick auf die jeweils kulturell oder familienintern vermittelten Gewalterfahrungen. Zum anderen veranschaulichen die Perspektiven trotz ihrer ‚Schein-Naivität‘ ein hohes Reflexionsniveau. Die unterschiedlichen Themen der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die diese Romane aufgreifen – das kollektive Trauma Russlanddeutscher, die Migrationserfahrungen moldawisch-jüdischer Kontingentflüchtlinge sowie die bis in die heutige Gegenwart nachwirkende Konfliktlage Georgiens –, sind in den Texten auf subtile Weise Teil der kindlichen Lebenswelt. Darüber hinaus spiegeln die Kinderfiguren ein Bewusstsein über ihre eigene Zeitgenossenschaft, insofern die Kindheitserfahrungen in den 1980er- und -90er-Jahren situiert sind. Damit sind sie gleichermaßen Nachgeborene der sowjetischen Historie und Zeitzeugen postsowjetischer Transformationsprozesse. Somit bietet die Kinderperspektive im postsowjetischen Generationenroman Einblicke in das Nachwirken und Erinnern von Krisen- und Konfliktschauplätzen der jüngeren Vergangenheit, die den Lebensgeschichten der zeitgenössischen Generation eingeschrieben sind.

Klaus Schenk (Dortmund)

„Blinder Regen. Kennen Sie den Ausdruck nicht?“ Erzählen über Adoleszenz als transkulturelle Verhandlung

In der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart nehmen transkulturelle Erzählweisen über Adoleszenz einen prominenten Stellenwert ein. Vor allem im Bereich der deutsch-türkischen Literatur, aber auch im literarischen Transfer mit Mittel-, Südost- und Osteuropa finden sich zahlreiche Romane, die sich der Lebensgeschichte von Jugendlichen widmen. Dies hat einerseits damit zu tun, dass sich die Werke mit dem Wechsel in einen anderen kulturellen und sprachlichen Kontext auseinandersetzen, andererseits bieten sich besonders in diesem Genre auch Möglichkeiten, kulturelle Felder narrativ zu verhandeln. Allerdings kann das Erzählen über Adoleszenz nicht auf jugendliterarische Genres begrenzt werden, vielmehr eröffnen sich vielfältige Übergänge zwischen fiktionalen, autobiographischen und autofiktionalen Erzählweisen, die sich dieser Problematik nähern. Verhandelt werden dabei Kulturkontakte bzw. -kontraste, Fragen der Identität, Prozesse der Sozialisation, Momente der Initiation sowie differente Wahrnehmungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen und vor allem Emotionen bis hin zu traumatischen Situationen. Am Beispiel der Romane Scherbenpark (2008) von Alina Bronsky sowie Spaltkopf (2008) und Dazwischen: Ich (2016) von Julya Rabinowich soll untersucht werden, wie sie über Adoleszenz als transkulturelle Verhandlung erzählen.

1.

Erzählen als transkulturelle Verhandlung

In seinem Band Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (2012)1 eröffnet Albrecht Koschorke einen weiteren Theorierahmen, als es die narratologische Systematik bieten kann.2 Erzählen wird von Koschorke 1 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012. 2 Die folgenden Überlegungen gehen zurück auf meinen Beitrag: Schenk, Klaus: Transformationen interkulturellen Erzählens. Perspektiven eines narrative turn, in: Sturm-Trigonakis,

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als „gesellschaftliche Praxis“ untersucht, wobei die „Funktionalität des scheinbar Dysfunktionalen, des Unscharfen, nicht Systematisierbaren, der losen Enden und Ränder, des Formlosen und Unformellen besondere Berücksichtigung“3 findet. Auf diesem Weg können einerseits „elementare Operationen“4 der Erzähltheorie diskutiert werden und andererseits kulturelle, institutionelle und epistemische Perspektiven entworfen werden. Die Erzähltheorie von Koschorke erlaubt es in dieser Hinsicht, textanalytische Methoden der Erzähltheorie mit Fragen nach Diskursen, Praktiken und Institutionen zu verbinden, die vor allem für Kulturkontakte relevant sein können. Zudem ist sein Ansatz eng mit der Problemlage einer transkulturellen Literatur verbunden. Zwischen Zentrum und Peripherie bildet sich nach Koschorke eine semiotische Interdependenz, die ihre Codierungen von außen her fragmentiert und vervielfältigt. Die Grenze bildet im Sinne Lotmans keine „unüberschreitbare Trennlinie“, wie Koschorke formuliert, sondern stellt vielmehr „eine Kontaktzone dar, in der sich die Zeichenprozesse verdichten.“5 Lotman nennt „die semiotische Grenze eine Summe von zweisprachigen Übersetzer-‚Filtern‘“,6 weshalb es sich bei den kommunikativen Prozessen dieser Interdependenzen immer um Translationen handelt. Eine wohl überraschende und diskutierbare These in Koschorkes Theorie ist der Aspekt, dass Erzählen auch als kulturelles Verhandeln zu verstehen sei: „Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Repräsentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg.“7 Erzählen ist somit als Medium zu verstehen, das neben und zwischen den etablierten Wissensformen und Kulturdomänen Freiraum für den Abgleich seiner Geltungsansprüche bietet. Die Praxis des Erzählens versteht Koschorke als „demokratische Kunst“8, die auch in ihrer literarischen Ausprägung ein Medium der Verbindung bildet. Gerade aber im Hinblick auf die Transferforschung ist dieser Aspekt besonders relevant, gehen doch ihre methodischen Basisoperatoren der Selektion, Rezeption und Transformation von einem permeablen Kulturkonzept aus.9 In einem weiteren Sinn ist Erzählen als Verhandeln auch in kulturelle Übersetzungspro-

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Elke/Laskaridou, Olga/Petropoulou, Evi/Karakassi, Katerina (Hg.): Turns und kein Ende? Aktuelle Tendenzen in Germanistik und Komparatistik. Frankfurt am Main u. a. 2017, S. 83–94. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 120. Lotman, Jurij: Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12(4)/1990, übers. von Wolfgang Eismann und Roland Posner, S. 287–305, hier S. 290. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 19. Ebd., S. 38. Vgl. Bischoff, Doerte/Komfort-Hein, Susanne (Hg.): Handbuch Literatur und Transnationalität. Berlin 2019, S. 27–39.

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zesse eingebettet und kann an theoretische Perspektiven des translational turn10 angebunden werden. Von der postkolonialen Theoriebildung aus gesehen, führt ein deutlicher Weg zu transkulturellen Erzählweisen und ihren Übersetzungsprozessen. Auch Doris Bachmann-Medick versteht: […] die dezentrierenden Literaturen der Welt [als] ein wichtiges Medium der Differenzierung und Differenz. Sie sprengen festgefügte Vorstellungen von einer vorgängigen, d. h. (westlich) vordefinierten gemeinsamen Sprache einer universalen Kultur und Literatur. Vielmehr verlangen sie ständige wechselseitige Übersetzungsprozesse im Weg der Auseinandersetzung über kulturelle Unterschiede, wie sie in den Literaturen selbst ausgetragen und von ihnen provoziert werden.11

Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich bemerken, dass auch die Kinderund Jugendliteratur zwischen Ost und West „wechselseitige Übersetzungsprozesse“12 in Gang setzt. So kann das Erzählen über Adoleszenz als Austausch über Grenzen verstanden werden,13 die nicht allein entwicklungspsychologisch, sondern ebenso literarisch und kulturell codiert sind. Transkulturelle Erzählweisen über Adoleszenz stellen somit Zeichensysteme dar, in denen sich Übersetzerzonen und Übersetzerfilter bilden, für deren Dynamik das Verhandeln von Grenzen eine wesentliche Rolle spielt. In den folgenden Textanalysen soll diese Problematik im Spannungsfeld zwischen Ost und West umrissen werden. Ausgegangen werden soll dabei zunächst von einem Blick auf die Genreproblematik und ihre transkulturellen Perspektiven.

2.

Transkulturelles Erzählen über Adoleszenz

Längst sind Erzählweisen über Adoleszenz zu einem beliebten Genre geworden, so dass sich Autor:innen der Gegenwartsliteratur an diesem Muster orientieren können. Das Genre entfaltet sich über architextuelle Relationen, wobei Texte aus anderen Texten und ihren Erzählmustern hervorgehen.14 10 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006. 11 Bachmann-Medick, Doris: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68(4)/1994, S. 585–612, hier S. 612. 12 Ebd., S. 612. 13 King, Vera: Grenzen und Überschreitungen. Literarische Bilder der Entstehung des Neuen im Kontext von Migration und Adoleszenz junger Frauen, in: Ekelund, Lena/Boog-Kaminski, Julia/Emeis, Kathrin (Hg.): Aufbruch der Töchter. Weibliche Adoleszenz und Migration in Literatur, Theorie und Film. Würzburg 2020, S. 27–42. 14 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993, S. 13.

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Wenn z. B. sich Wolfgang Herrndorf mit Tschick (2010) auf dem Buchmarkt als besonders erfolgreich erwies, mag das einerseits daran liegen, dass er sich an Erzählweisen des Jugendromans orientierte,15 andererseits aber auch daran, dass er mit der titelgebenden Figur eine grenzüberschreitende Dynamik entwickeln konnte. Jedoch gelang es dabei nicht, transkulturelle Perspektiven tatsächlich einzulösen, da die Charakteristik der Figur über ein stereotypes Russenbild nicht hinauskommt. Literarische Muster des Erzählens über Adoleszenz haben sich derart etabliert, dass im Folgenden ein kurzer Blick auf die Genre-Diskussion geworfen werden soll. Mit der Aufwertung der Kinder- und Jugendliteratur in den Forschungsinteressen der Literaturwissenschaften hat auch eine neue Wahrnehmung von Erzählweisen stattgefunden, die sich der Jugendphase widmen.16 Unterschiedliche Konzepte wie Jugendbuch, Jugendroman oder Adoleszenzroman17 wurden diskutiert, um das Feld einerseits gegenüber dem Bildungs- und Entwicklungsparadigma18 abzugrenzen und andererseits ein Genre zu bestimmen, das eng an entwicklungspsychologische Kategorien angelegt ist.19 Nur bedingt war es dabei förderlich, die Erzählweisen in dem Genrebegriff des Adoleszenzromans zusammenzufassen und dessen literaturhistorische Ahnenkette bis in einen sogenannten klassischen bzw. traditionellen Adoleszenzroman hinein zu verlängern.20 Der vorgeschlagene Katalog an Merkmalen war zunächst deskriptiv angelegt, hat sich aber inzwischen ebenso als modellhaft erwiesen: der jugendliche 15 Interview von Kathrin Passig mit Wolfgang Herrndorf: Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ?, in: FAZ vom 31. 01. 2011; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren /im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschick-gemacht-herr-herrndorf-1576165p3.html [27. 04. 2022]; vgl. auch Hoffmann, Lena: „Dass es höchstwahrscheinlich ein Klassiker werden wird, hat sich ja herumgesprochen.“ Erfolgsstrategien von Herrndorfs Tschick, in: Christensen, Anke/Koch, Olaf (Hg.): Neue Lesarten ausgesuchter Texte der Kinder- und Jugendliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts. Literaturwissenschaftliche Erkundungen von der Biene Maja bis hin zu Tschick. Frankfurt am Main 2021, S. 209–229. 16 Vgl. den Forschungsüberblick von Gansel, Carsten: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung, in: Zeitschrift für Germanistik 1/2004, S. 130–149. 17 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman. Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 2/1989, S. 4–23; Ewers, Hans-Heino: Der Adoleszenzroman als jugendliterarisches Erzählmuster, in: Deutschunterricht 45(6)/1992, S. 291–298; Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman: zwischen Moderne und Postmoderne, in: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder und Jugendliteratur, Bd. 1. Baltmannsweiler 2000, S. 359–399; Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, in: Wild, Reiner (Hg.): Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008, S. 359–379. 18 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman, S. 133. 19 Vgl. z. B. das Standardwerk von Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Opladen 32003. 20 Vgl. z. B. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin 1999, S. 117.

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Held bzw. Erzähler, zunehmend aber auch weibliche Protagonistinnen, die Erschütterung der familiären Verhältnisse, die Identitätsproblematik von der Pubertät bis zur Postadoleszenz, die individuelle Ausgestaltung des Protagonisten mit einer Innenschau und die Krise mit ihren existentiellen Verunsicherungen.21 Erzählt wird zumeist mit einem offenen Ende, das Prozesse der Identitätsfindung weiterführt. Zunehmend können auch Genderperspektiven auf weibliche Adoleszenz22 und ebenso auf Männlichkeitsdiskurse entwickelt werden.23 Schon dieses Bündel an Merkmalen macht deutlich, dass die Genrediskussion in interdisziplinäre Diskurse eingebettet ist und sich weniger von der Literarizität der Texte her bestimmt. Mit den Forschungsperspektiven eines Coming of Age lassen sich offenere Zugänge finden, die den Blick auf das Genre erweitern und Inszenierungen in sehr unterschiedlichen Medien umfassen.24 Eine Anbindung an die Allgemeinliteratur verfolgen Konzepte der All-Age-Literatur.25 Denn Erzählungen über Adoleszenz sind nicht deckungsgleich mit dem Profil von jugendliterarischen Texten. Nicht immer spielt die Rezeption eine Rolle für die Entstehung und Gestaltung der Texte. Es war ohnehin eine zu eng gefasste Genredefinition, die versuchte, das Erzählen über Adoleszenz an eine Rezeptionssituation zu koppeln. Zahlreiche Texte sind nicht primär für jugendliche Rezipienten gedacht, sondern zumindest doppelt adressiert26 oder eignen sich auch nicht für den schulischen Unterricht. Anscheinend aber bleibt es ein Desiderat, dass die Forschung zur Adoleszenzliteratur zwar die Grenzen und Relationen zu anderen Genres, wie z. B. dem 21 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman, S. 141, weiter benennt Gansel folgende Handlungsmuster des Adoleszenzromans: „a) die Ablösung von den Eltern; b) die Ausbildung eigener Wertvorstellungen (Ethik, Politik, Kultur usw.); c) das Erleben erster sexueller Kontakte; d) das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen; e) das Hineinwachsen oder das Ablehnen einer eigenen sozialen Rolle“ (ebd.). 22 Lehnert, Gertrud (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Opladen 1996. 23 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman, S. 143. 24 Vgl. z. B. Lötscher, Christine: Melodram, Paranoia, Coming of Age. Genretheoretische Überlegungen zu Kinder- und Jugendmedien am Beispiel der Netflix-Serie 13 Reasons Why, in: Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, S. 101–118. 25 Bertling, Maria: All-Age-Literatur: Die Entdeckung einer neuen Zielgruppe und ihrer Rezeptionsmodalitäten. Berlin 2016; Hoffmann, Lena: Crossover. Mehrfachadressierung als Sprache intermedialer Popularität, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 2018, S. 137–150; http://www.gkjf.de/wp-content/uploads/2018/12/Jahrbu ch_GKJF_2018_137-150_Hoffmann_dt.pdf [27. 04. 2022]; vgl. auch Zeisberger, Ingold: Der außerzeitliche Raum – Erwachsenwerden im Nirgendwo. Rolf Lapperts Pampa Blues, in: Decker, Jan-Oliver/Gräf, Dennis/Großmann, Stephanie/Nies, Martin (Hg.): Mediale Strukturen – strukturierte Medialität. Konzeptionen, Semantiken und Funktionen medialer Weltentwürfe in Literatur, Film und anderen Künsten. Kiel 2021, S. 285–298. 26 Ewers, Hans-Heino: Das doppelsinnige Kinderbuch, in: Grenz, Dagmar/Ewers, Hans-Heino (Hg.): Kinderliteratur. Literatur auch für Erwachsene? München 1990, S. 15–24.

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Entwicklungsroman, dem Picaro-Roman und dem Initiationsroman, diskutieren konnte,27 die Interferenzen mit dem autobiographischen bzw. autofiktionalen Erzählen aber weitgehend vernachlässigte, obwohl dies Bezugnahmen auf Texte wie Anton Reiser von Karl Philipp Moritz durchaus nahegelegen hätte.28 Kindheit und Jugend sind wesentliche Konstituenten des autobiographischen Diskurses, was es in kulturhistorischer und literaturtheoretischer Hinsicht zu berücksichtigen gilt. Daher kann Erzählen über Adoleszenz auch als narratives Feld aufgefasst werden, dessen Konflikte und Krisen in unterschiedlichen Genres verhandelt werden. Vor allem für die Auseinandersetzung mit transkulturellen Erzählweisen der Gegenwartsliteratur wird diese Zusammenschau relevant. Wie die allgemeine deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat auch die Kinder- und Jugendliteratur von einem transcultural turn29 deutliche Impulse erhalten. Das Erzählen über Adoleszenz als transkulturelle Verhandlung spielt in dieser Hinsicht eine wesentliche Rolle. Während in der Kinder- und Jugendliteratur der 1970er-Jahre noch eine Außenperspektive auf Problemlagen des Kulturkontaktes dominierte, erzählt wurde über die Thematik der Multikulturalität,30 zeichnet sich seit Ende der 1980er-Jahre auch eine Innenperspektive in Selbstfindungsgeschichten, wie den Romanen über sogenannte „Kopftuchmädchen“ ab.31 Wegweisend war hier auch Rafik Schamis Roman Eine Hand voller Sterne (1987), der in Form eines Tagebuches die Geschichte eines syrischen Bäckerjungens aus Damaskus erzählt und Eingang in die Schullektüre fand. Zunehmend kommen Ende der 1990er-Jahre Autor:innen mit transkulturellen Perspektiven auch in Lesebüchern zu Wort, „wo das Fremde von sich selbst zu erzählen beginnt“,32 wie Swantje Ehlers formuliert. In den 1990er-Jahren entfalten sich Konfliktnarrative, die sich besonders im Bereich der deutsch-türkischen Literatur zeigen. Eine ganze Reihe von Texten behandelt die prekäre Situation einer dritten Generation von Jugendlichen im deutsch-türkischen 27 Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman, S. 133. 28 Ebd. 29 Bond, Lucy/Rapson, Jessica: The Transcultural Turn. Interrogating Memory Between and Beyond Borders. Bielefeld 2014. 30 Beispielhaft sind hier Texte wie Hans Georg Noacks Benvenuto heißt willkommen (1973) oder Ülkü, das fremde Mädchen (1973) der Autorin Renate Welsh; vgl. Weinkauff, Gina: Multikulturalität als Thema der Kinder- und Jugendliteratur (KJL), in: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 2. Baltmannsweiler 2000, S. 766–782, hier S. 769f. 31 Vgl. ebd., S. 772ff., S. 773: „Gemeint ist stereotypisierte Figur eines türkischen Mädchens der zweiten Generation auf der Suche nach ihrer Identität zwischen den vom ‚Kopftuch‘ symbolisierten überlieferten Werten ihrer Herkunftskultur und den progressivemanzipatorischen Rollenangeboten des Einwanderungslandes.“ 32 Ehlers, Swantje: Das Lesebuch im Kontext von Zwei- und Mehrsprachigkeit, in: dies. (Hg.): Das Lesebuch. Zur Theorie und Praxis des Lesebuchs. Baltmannsweiler 2003, S. 181–202, hier S. 200.

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Milieu.33 Immer wieder erweist sich das Erzählen dabei als Verhandlungsraum, der mit einem Abgleich an Perspektiven einhergeht, zunächst als Kontrast zwischen den Sichtweisen der Erwachsenen und Jugendlichen, dann aber auch als transkulturelle Konflikte. Mit den historischen Umbrüchen nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Warschauer Paktes werden immer stärker auch Perspektiven aus Mittel-, Südost- und Osteuropa im Feld der Gegenwartsliteratur sichtbar. Darunter finden sich zahlreiche Erzählungen über Adoleszenz, zumeist von Autorinnen,34 die Perspektiven von jungen Frauen entwickeln und den Kulturkontakt, aber auch den Kulturkontrast zwischen Ost und West spürbar werden lassen. Zum Teil ist diese Auseinandersetzung über kulturelle Grenzlagen von jugendliterarischen Genres geprägt, zum Teil handelt es sich aber auch um autofiktionale Lebensgeschichten, die das transkulturelle Wissen als Rahmen nutzen, ohne allerdings Adoleszenzromane im engeren Sinne zu sein. Im Folgenden soll zunächst auf den Roman Scherbenpark von Alina Bronsky eingegangen werden, der tatsächlich auch für jugendliche Leser:innen geeignet ist, um dann in einem weiteren Schritt mit Spaltkopf von Julya Rabinowich einen Roman zu untersuchen, der dieser Rezeptionssituation kaum noch entspricht, sondern sich dem autofiktionalen Erzählen zuordnen lässt. Dieser Kontrast wird umso produktiver, wenn man berücksichtigt, wie die Autorin die Genremuster des Adoleszenzromans in Dazwischen: Ich und neuerdings in Dazwischen: Wir zu nutzen weiß.

3.

Jugend im Solitär – Alina Bronsky: Scherbenpark

Bei einer breiten Leserschaft hat der Roman Scherbenpark (2008)35 von Alina Bronsky einen Rezeptionserfolg erzielt, zunächst als Buchpublikation mit zahlreichen Auflagen, dann auch durch die gleichnamige Verfilmung von Bettina Blümner (2013) und schließlich als Schullektüre mit den entsprechenden Kanonisierungen.36 Umso mehr kann dies überraschen, als das unter einem Pseudonym veröffentlichte Debüt aus einem „unverlangt eingesandten Manu33 Siege, Nasrin: Shirin. Weinheim 1996; Zaptcioglu, Dilek: Der Mond isst die Sterne auf. Stuttgart 1998; Kara, Yadé: Selam Berlin. Zürich 2003; Kara, Yadé: Cafe Cyprus. Zürich 2008. 34 Vgl. Luschina, Nadja: Russisches Fräuleinwunder auf Deutsch. Deutschsprachige Erzählliteratur von Autorinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zwischen 2005 und 2012. Berlin 2018. 35 Bronsky, Alina: Scherbenpark. Köln 142017 [2008]. 36 Ein deutliches Zeichen für die schulische Rezeption bietet die Aufnahme in die Reihe Königs Erläuterungen mit Lühe, Marion: Textanalyse und Interpretation zu Alina Bronsky Scherbenpark. Hollfeld 2017.

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skript“37 hervorgegangen ist, wie auf dem Klappentext des Buches angegeben wird. Sicherlich finden in dem Roman beliebte Rezeptions- und Erzählmuster zusammen, wohl zuerst das nachhaltige Interesse am Thema Adoleszenz, aber auch die soziale Milieuschilderung und die Nähe zur Trauma-Literatur38 sowie nicht zuletzt die kulturelle Spannung zwischen ost- und westlichen Perspektiven, ist die Autorin doch in Jekaterinburg geboren und hat ihre Jugend in Marburg und Darmstadt verbracht. Auch in der Forschung zur Jugendliteratur hat der Roman inzwischen eine beachtliche Resonanz gefunden, die es erlaubt, seine kulturellen Transfer- und Verhandlungsleistungen zu überdenken. Der Roman kann freilich kaum als beispielhaft für Literatur der Migration angeführt werden, wie zeitnahe Rezensionen dies nahegelegt hatten,39 auch wenn Anspielungen auf das russische Herkunftsland bemerkbar sind.40 Dennoch ist der Text von kulturellen Verhandlungen und Übersetzungen geprägt, auch zu ihrem Pseudonym hat Alina Bronsky bemerkt: „Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“41

37 Bronsky, Scherbenpark, Klappentext. 38 Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen 2004; Müller, Alexandra: Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten. Heidelberg 2017; Vieth, Annette: Poetiken des Traumas. Mit Analysen zu Ingeborg Bachmanns Malina, Monika Marons Stille Zeile Sechs und Terézia Moras Alle Tage. Würzburg 2018. 39 Vgl. Willms, Weertje: Die ‚Newcomerin‘ Alina Bronsky im Kontext der russisch-deutschen Gegenwartsliteratur und ihre Rezeption im deutschen Feuilleton, in: Studien zur Deutschen Sprache und Literatur, hg. von Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi 1/2013, S. 65–84, hier S. 75ff. Insofern ist Willms, Weertje: Zum Zusammenhang von Identität und literarischer Form in Texten russisch-deutscher Autorinnen der Gegenwart am Beispiel von Julya Rabinowich und Lena Gorelik, in: Klinkert, Thomas (Hg.): Migration et identité. Freiburg im Breisgau u. a. 2014, S. 169–194, hier S. 172f., zuzustimmen, wenn sie bemerkt: „In Bronskys erstem Roman, dem erzählerisch eher konventionellen Scherbenpark, wird zwar durchaus eine problematische Identitätsentwicklung beschrieben, doch dabei steht nicht der Aspekt der Migration und der interkulturellen Auseinandersetzung im Zentrum.“ 40 Vgl. El-Ghandour, Reem: Die Identitätskrise in den Adoleszenzromanen „Der Mond isst die Steren auf“ von Dilek Zaptcioglu und „Scherbenpark“ von Alina Bronsky vor dem Hintergrund von Hybridität und Transkulturalität, in: Kairoer Germanistische Studien 2015/2016, S. 113–136, S. 132: „Obwohl Sascha keinen Bezug mehr zum Herkunftsland hat und mit dem Tod der Mutter jegliche Beziehung zur Heimat verloren hat, fühlt sie sich zu Russland zugehörig und grenzt sich von anderen Kulturen – vor allem der deutschen – ab.“ 41 Schmidt, Sabine: Interview mit Alina Bronsky: Erfahrungen mit einem anderen Land, in: buchjournal 4/2010, S. 12–15, S. 15. Zur Diskussion vgl. Steinberg, Ruth: „Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“ Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld der Gegenwart, in: Dunker, Axel/Gerstner, Jan/Osthues, Julian (Hg.): „Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund“. Deutschsprachige Literatur osteuropäischer Herkunft. Leiden/Boston 2021, S. 108–123.

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Schon im Eingangsdialog zwischen Sascha und Anna werden Wunschträume der sozial ausgegrenzten Jugendlichen verhandelt. Während sich in der markanten Formulierung „Ich will Vadim töten“42 Saschas Rachephantasien an ihrem Stiefvater für den Mord an ihrer Mutter kondensieren,43 träumt Anna von einem sozialen Aufstieg auf dem Weg in die Welt der Erwachsenen: „Annas Traum zum Beispiel ist, reich zu heiraten. Er soll Richter sein und Mitte dreißig und, wenn es geht, nicht ganz so hässlich.“44 Anna wünscht sich einen wohlhabenden Ehemann, den sie durch einen herbeigeführten Zufall kennenlernen möchte, was sich nicht realisieren wird, wie sich hier bereits andeutet. Über die Benennung des Hochhauses als „Solitär“ wird Anna von Sascha in der ersten Dialogpassage folgendermaßen aufgeklärt: „Weißt du denn, was Solitär eigentlich heißt, du dumme Kuh?“[,] frage ich. „Das ist ein besonders edler Diamant, der einzeln in der Krone sitzt. Das muss dir doch gefallen. Du wirst nie wieder in einem Solitär wohnen, wenn du hier ausziehst.“ „Das hast du dir gerade ausgedacht. Sie hätten nie im Leben diesen Betonklotz nach einem Diamanten benannt“, sagt Anna. „Und überhaupt, wenn man zu viel weiß, wird man schnell alt und runzlig.“ Das ist ein russisches Sprichwort.45

Wie Sascha sachgemäß erklärt, kann in der mineralogischen Fachsprache des Schmucks unter „Solitär“ ein einzeln angebrachter Diamant verstanden werden.46 In der architektonischen Gebäudetypologie bezeichnet der Terminus „Solitär“ allerdings ein freistehendes Gebäude.47 Tatsächlich findet sich in Darmstadts nordwestlichem Stadtteil Kranichstein48 ein vergleichbarer, von Ernst May geplanter Solitär, der inzwischen in „Buntes Haus“ umbenannt wurde.49 Es mag dieses oder ein ähnliches soziales Brennpunktviertel gewesen sein, das sich die Autorin zur Vorlage nahm.50 Das Gebäude lässt sich jedenfalls in die erzählte Topographie eingliedern, da der Schulort Saschas tatsächlich der Lage der Alfred-Delp-Schule im Nordwesten Darmstadts entspricht – allerdings 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Bronsky, Scherbenpark, S. 9. Vgl. die Mordphantasien Saschas ebd., S. 19, S. 47 und S. 204. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Schweizer, Volker: Wörterbuch der Geologie. Deutsch – Englisch/English – German. Berlin/ Heidelberg 2012, S. 248. Reicher, Christa: Städtebauliches Entwerfen. Wiesbaden 32014, S. 70ff. https://www.darmstadt-stadtlexikon.de/k/kranichstein.html [27. 04. 2022]. Ludwig, Astrid: 40 Jahre Kranichstein. Bäume statt Hochhäuser, in: Frankfurter Rundschau vom 08. 09. 2008; https://www.fr.de/rhein-main/darmstadt/baeume-statt-hochhaeuser-1159 3946.html [27. 04. 2022]. Der bei der Ankündigung des Buches im SWR3 aufgestellten Behauptung, „der Mord in Scherbenpark beruht auf einer wahren Geschichte, die in der Nähe von Darmstadt passierte, als Alina Bronsky dort gelebt hat“, wurde von der Autorin widersprochen, von einem vergleichbaren Mord hätte sie erst später erfahren. Vgl. dazu https://www.swr3.de/aktuell/bucht ipps/scherbenpark-100.html [27. 04. 2022].

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nicht als „privates katholisches Gymnasium“,51 sondern als Kooperative Gesamtschule in der Trägerschaft des Bistums Trier.52 In der Vokabel „Solitär“ entlarvt Sascha einen Wunschtraum, indem sie ein Gebäude der sozialen Ausgrenzung euphemistisch mit einem „Diamanten“ gleichsetzt. Verhandelt werden auf diese Weise eine soziale Außenseiterposition, ebenso aber auch die Traumvorstellungen der Figur Anna, die den Widerspruch in der Übertreibung zu ahnen scheint. Darüber hinaus klingt in der Vokabel aber auch eine Isolation und Einsamkeit an. Der „Solitär“ bildet in dieser Hinsicht einen Chrono- wie auch einen Soziotopos, der die prekäre Lebensphase ambivalent semantisiert. Damit steht aber auch der Kontrast zwischen der sozialen Wahrnehmung der Jugendlichen und den Strategien der erwachsenen Raumplanung zur Disposition, die nach Michel de Certeau „Orte schaffen wollen, die mit abstrakten Modellen übereinstimmen“.53 Auch die titelgebende Vokabel „Scherbenpark“ lässt sich mehrdeutig einerseits auf Saschas Attacke auf die Glasfassade und die Fenster des Solitärs beziehen54 und andererseits auf das scherbenübersäte Gelände,55 auf dem sich die Gang um die Figur „Peter der Große“56 auf bedrohliche Weise zusammenfindet – anders als der Erholungswert eines Parks es verspricht oder das raumplanerische Modewort „Park“ es suggeriert.57 Mit diesen semantischen Ambivalenzen werden Taktiken aufgebaut, die die Räume der sozialen Ausgrenzung „gebrauchen, manipulieren und umfunktionieren können“,58 wie de Certeau formuliert. Im Duktus des Ich-Erzählens der Protagonistin formiert sich eine Gegenposition, die sich bis zur Hate Speech steigern kann. Dabei kann „Saschas betont forsches Auftreten“, wie Corina Löwe bemerkt, auch „als eine Form der Selbstnarration interpretiert werden, die zu ihrem Aushandlungsprozess gehört, mit dem sie beständig die äußeren Einflüsse mit ihrem inneren Erleben auszugleichen versucht.“59 Wie beiläufig wird so auch immer wieder auf 51 Bronsky, Scherbenpark, S. 13. 52 Vgl. dazu http://alfred-delp-schule.de/ [27. 04. 2022]. 53 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 78. Zur strategischen Stadtplanung in Kranichstein vgl. etwa https://www.srl.de/dateien/dokumente/de/exkursionsbericht_kranich stein.pdf [27. 04. 2022]. Bronsky, Scherbenpark, S. 270. 54 Ebd. 55 Zum Teil wird in der Rezeption das Wort „Scherbenpark“ mit dem Gebäudekomplex gleichgesetzt. Vgl. „Der ‚Scherbenpark‘ ist ein fiktives Hochhausviertel“, vgl. dazu https:// www.p-stadtkultur.de/pdf-download/P_Ausgabe_67.pdf [27. 04. 2022]. 56 Bronsky, Scherbenpark, S. 11. 57 Vgl. Buchschwenter, Robert: Puzzlespielen im Scherbenpark, in: Kriegleder, Wynfrid/Lexe, Heidi/Loidl, Sonja et al. (Hg.): Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur. Wien 2016, S. 105–119. 58 De Certeau, Kunst des Handelns, S. 78. 59 Vgl. Löwe, Corina: Wenn Emotionen überschäumen. Identitätskonstruktionen in Alina Bronskys Scherbenpark, in: Grub, Frank Thomas/Stoeva-Holm, Dessislava (Hg.): Emotionen.

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den kulturellen Code der russischen Sprache Bezug genommen, über den im Eingangsdialog zwischen Sascha und Anna beide verfügen. Zitiert wird ein russisches Sprichwort, das beide zu kennen scheinen, dem Leser aber von der Erzählerin erklärt wird: „wenn man zu viel weiß, wird man schnell alt und runzlig.“60 Mit dem Sprichwort wird ein Konsens herbeigeführt, der an das Verhaltensmuster des Fatalismus erinnert und sich vor einem angeblichen Übermaß an Wissen schützt. Der Bezug kann zudem als Praxis verstanden werden, sich vom Wissen und von den Planungen der Erwachsenen zu distanzieren – ebenso wie von ihren kulturellen Vereinnahmungen. Bereits in diesem kurzen Dialog werden adoleszente mit sozialen und transkulturellen Perspektiven eng geführt. Nicht zuletzt ist auch der Name der Protagonistin selbst durch eine kulturelle Ambivalenz gekennzeichnet, kann sich „Sascha“ doch im Russischen sowohl auf eine feminine wie auch auf eine maskuline Person beziehen: Ich heiße Sascha Naimann. Ich bin kein Kerl, auch wenn das hierzulande jeder denkt, der meinen Namen hört. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich das den Leuten schon erklärt habe. Sascha ist eine Kurzform von Alexander UND von Alexandra. Ich bin Alexandra. Mein Rufname ist Sascha, so hat mich meine Mutter immer genannt, und so will ich auch heißen. Wenn ich mit Alexandra angesprochen werde, reagiere ich nicht. Das kam früher öfter vor, als ich in der Schule neu war. Jetzt passiert es eigentlich nur noch, wenn ein neuer Lehrer kommt.61

Auch in anderen Dialogen des Romans finden sich semantisch vielschichtige Verhandlungsperspektiven, wie z. B. im Gespräch Saschas mit der ErwachsenenFigur Volker während einer Autofahrt: Ich schließe die Augen und versuche, nicht zu lächeln. Dann zucke ich zusammen, weil mich ein schrilles kratziges Geräusch erschreckt. „Die Scheibenwischer“, sagt er, als ich mich gerade setze. „Es regnet.“ „Aber die Sonne scheint doch.“ „Und es regnet.“ Die Scheibenwischer verschmieren die staubigen Tropfen auf der Windschutzscheibe. Zwischen den grauen Wolken sind grelle aufgerissene Löcher, durch die der unwahrscheinlich blaue Himmel strahlt. „Meinst du, es gibt einen Regenbogen?“[,] fragt er. „Nein“, sage ich. „Das wäre jetzt zu kitschig.“ „Das ganze Leben ist kitschig“, sagt er. „Nichts als Kitsch und Klischees und Wiederholungen und geschmacklose Geschichten und Dialoge, die man aus jedem guten Drehbuch rauswerfen würde. Ein Regenbogen über der Frankfurter Skyline, wie wär das?“ „Das ist einfach ein blinder Regen“, sage ich. „Wie?“ „Blinder Regen. Kennen Sie den Ausdruck nicht?“ „Nein.“ „Das sagt man, wenn

Beiträge zur 12. Arbeitstagung schwedischer Germanistinnen und Germanisten Text im Kontext in Visby am 15./16. April 2016. Berlin 2016, S. 161–180, hier S. 168. 60 Bronsky, Scherbenpark, S. 10. Gebräuchlich ist das Sprichwort als „Wenn man viel weiß, wird man schnell alt“ (russ. „Esli budesˇ’ mnogo znat’, skoro sostarisˇ’sja“), vgl.: Val’ter, Charri/ Mokienko, Valerij: Antiposlovicy russkogo naroda. Sankt-Peterburg 2002, S. 192. Für die russischen Zitate und Belege danke ich Oxane Leingang. 61 Bronsky, Scherbenpark, S. 11.

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es regnet und gleichzeitig die Sonne scheint.“ „Wo sagt man das?“ „Bei uns. Kennen Sie das wirklich nicht?“ „Nein. Nie gehört. Bei uns sagt man so was nicht.“62

Während der Erwachsene Volker Trebur das Stichwort „Regenbogen“ zum Anlass nimmt, um kultur- und medienkritisch über „Kitsch und Klischees“ zu reflektieren, löst Sascha den Zwiespalt in einem idiomatischen Ausdruck auf, die dem Deutschen unbekannt ist: „Blinder Regen“63. Einerseits signalisiert Sascha damit, dass sie über kulturelles Wissen verfügt, das dem erwachsenen Mann nicht zugänglich ist, andererseits kann sie über ihre kulturelle Praktik Gegensätze miteinander vereinen. Volker Trebur, Ressortleiter einer Zeitung, aus der Perspektive der IchErzählerin lediglich als „der Mann“ bezeichnet, übernimmt die Funktion des institutionell und kulturell Erwachsenen, besonders wenn er die rechtlich-ethischen Kategorien von Verantwortung und Betroffenheit anführt, um dem Einspruch Saschas gegen den verharmlosenden Bericht über den als Mörder ihrer Mutter inhaftierten Stiefvater Vadim zu begegnen. Erzählerisch in SlapstickManier vorgeführt, wird die Erwachsenenrede aus der Perspektive der IchErzählerin durch die Utensilien des Kaffeetrinkens konterkariert. So verfolgt die Zuhörerin die „Drehbewegungen des angebissenen Kekses“64 und nimmt während der professionellen Entschuldigung wahr, dass „seine linke Wange ausgebeult ist.“65 Zu den Möglichkeiten der Ich-Erzählweise zählen Verfahren, das Erzählte durch die wahrnehmende Instanz hintergründig zu perspektivieren: „Es tut mir so leid“, sagt er plötzlich mit vollem Mund. „Ich habe die Berichterstattung vor zwei Jahren verfolgt. Nicht nur von Berufs wegen. Diese Tat hat in mir eine Art von Bestürzung und Betroffenheit ausgelöst, die vieles übertroffen hat, was ich bislang in meiner Arbeit erlebt habe. Es tut mir wirklich leid.“66 Ich nicke.

Im weiteren Verlauf blendet die Wahrnehmung ein, dass der Ressortleiter schließlich „den Keks zwischen den Zähnen zermalmt und runterschluckt“,67 dabei „schenkt er sich Kaffee ein und hantiert mit der Sahne.“68 In weiteren Situationen wird seine fragwürdige Erwachsenenhaltung vollends desavouiert. 62 Ebd., S. 97. 63 Ebd., S. 97. Gebräuchlich ist die Redewendung „slepoj dozˇd’“ (dt. „blinder Regen“), siehe Gruncˇenko, Oksana/Kuleva, Anna/Krysin, Leonid/Necˇaeva, Ija (Hg.): Akademicˇeskij tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Tom 2, VINA-GJAUR. Moskva 2017, S. 84. Vgl. auch Vinogradova, Ludmila: Pocˇemu dozˇd’ pri solnce nazyvaetsja „slepoj dozˇd’“?, in: Zˇivaja starina 4/2015, S. 22–26. 64 Bronsky, Scherbenpark, S. 77. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 77f. 67 Ebd., S. 78. 68 Ebd.

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Zum Themenfeld von Romanen, die die Lebensphase der Adoleszenz behandeln, gehören auch Initiationsszenen im Bereich der Sexualität – die häufig von prekären Vorkommnissen geprägt sind.69 Während die sexuelle Initiation von Felix durch Sascha wie eine unromantische Provokation abläuft, ist die Szene zwischen Volker und ihr von verfänglichen Missverständnissen geprägt, die an eine Vergewaltigung grenzen.70 So weiß die Jugendliche ihr Unbehagen nicht zu kommunizieren, als ihr die Annäherungsversuche Volkers unangenehm werden: Und dann hört es auf, mir zu gefallen. Seine Küsse sind zu schnell und zu gierig. Ich mag es nicht, dass seine Armbanduhr unter meinem Pullover an meiner Haut kratzt und dass die andere Hand an meinem Haar zerrt. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass er mich mit jemandem verwechselt. In so einer blöden Situation war ich schon lange nicht mehr.71

In einem emotionalen Double-Bind zwischen Gegenwehr und Zuneigung befangen, kann sie keinen Ausweg aus dieser Situation finden, die sie beenden möchte: „Ich bringe es aber nicht übers Herz, ihn wegzustoßen oder ihm gar das Knie zwischen die Beine zu rammen. Dafür mag ich ihn noch zu sehr, auch wenn sein Zauber gerade in großen Stücken von ihm abbröckelt.“72 Schließlich lässt der Erwachsene Volker von ihr ab und beginnt mit Entschuldigungen, die an seine vormaligen Beschwichtigungsversuche erinnern, aber seine Position weiter untergraben. Gerade sein emotionaler Code entlarvt ihn umso mehr: Als ich mir überrascht über die Schulter sehe, sitzt er da und reibt sich das Gesicht. „Es tut mir leid“, sagt er heiser. „Es tut mir so furchtbar leid. Bitte verzeih. Habe ich dich erschreckt?“ Ich löse mich vom Kopfteil und setze mich vorsichtig hin. „Wieso erschreckt?“[,] sage ich. „Ich bin nicht so schreckhaft.“ „Bitte verzeih“, sagt er. „Ich hätte es nicht tun sollen. Was für eine Nacht.“ Er klingt ganz entsetzt. Er hört gar nicht auf, sein Gesicht zu reiben und seinen Kopf mit den Händen zusammenzudrücken. „Ist doch nichts passiert“, sage ich. „Ist doch alles okay.“ „Bitte verzeih“, wiederholt er, und langsam habe ich von seinen Entschuldigungen die Nase voll. „Meine Güte“, sage ich. „Ist doch alles okay. Ich hab doch angefangen.“ „Ich hätte dich beinah …“[,] sagt er und schaudert. „Hättest du nicht“, sage ich ruhig. „Ich weiß, wie ich mich wehren kann.“ „Das weißt du?“[,] fragt er und dreht mir sein weißes Gesicht zu. „Woher?“ „Volker“, sage ich müde. „Das willst du doch alles gar nicht wissen, oder?“ Er antwortet nicht.73

So wie der adoleszenten Perspektive die Sicht der Erwachsenen nicht immer einsichtig ist, wird auch die erwachsene Figur Volker nicht in die Erfahrungen der Protagonistin eingeweiht. Die Verhandlung bleibt ohne Ergebnis, was Volker 69 Stichnothe, Hadassah: Der Initiationsroman in der deutsch- und englischsprachigen Kinderliteratur. Heidelberg 2017, S. 17–63, zum Roman Scherbenpark vgl. S. 122ff. 70 Vgl. ebd., S. 130. 71 Bronsky, Scherbenpark, S. 158. 72 Ebd., S. 158f. 73 Ebd., S. 159f.

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schweigend quittiert. Mit der prekären Situation gehen Ausdrücke der emotionalen Befindlichkeit einher, wie „erschreckt“, „schreckhaft“, „entsetzt“, „schaudert“,74 die die Perspektive und den Zustand Volkers charakterisieren. Erzählweisen über Adoleszenz verhandeln häufig ein Spektrum von Emotionen und Gefühlen, die eine hohe Intensität aufweisen, die aber auch auf kulturelle Zwischenlagen und posttraumatische Belastungen reagieren. Erst in den vergangenen Jahren aber hat sich die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung noch einmal neu positioniert.75 Vor allem das Zusammenspiel von Kognitionswissenschaften und Literatur- bzw. Kulturwissenschaft kann hier als impulsgebend gelten. Mit einer großen Bandbreite hat sich die Forschungsrichtung etabliert76 und längst auch zu transkulturellen Perspektiven einschlägige Arbeiten hervorgebracht.77 Ein literarischer Schauplatz von Gefühlslagen und emotionsgeladenen Themen findet sich besonders im Erzählen über Adoleszenz; und vor allem in deutsch-russischen Romanen werden kulturelle Stereotype von Gefühlen und Emotionen von Jugendlichen kontrastiert und verhandelt. War doch der Kulturkontakt zwischen Ost und West schon immer von unterschiedlichen emotionalen Zuschreibungen und ihren Temperierungen geprägt, wie es besonders die Praxis des Übersetzens in deutsch-russische Kontrasten als Fehleinschätzungen von Emotionen zeigt.78 So beginnt Sascha in der Entschuldigungsszene ein Gefühl zu verspüren, das sie nicht dulden möchte: „Irgendetwas nistet sich in mir ein und beginnt zu nagen und zu ziehen. Ein Gefühl, das ich kenne und hasse wie die Pest. Das Gefühl heißt Mitleid.“79 Auf der Seite Volkers bleibt lediglich ein Aspekt seiner vermeintlichen Verantwortung als Fürsorge zurück, den Vorfall aber will er sich nicht mehr vergegenwärtigen.80 Es sind nicht die moderaten Gefühle der bürgerlichen Ethik, wie sie seit der Aufklärung propagiert wurden, sondern polare Reaktionen, die der Roman thematisiert. Die dominanten Emotionen im Roman bilden Wut81 und Hass, wie Sascha es der Figur Volker gegenüber äußert: 74 Ebd., S. 159. 75 Winko, Simone: Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung, in: Kappelhoff, Hermann/ Bakels, Jan-Hendrik/Lehmann, Hauke/Schmitt, Christina (Hg.): Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin 2019, S. 397–402. 76 Schiewer, Gesine Leonore: Studienbuch Emotionsforschung. Theorien – Anwendungsfelder – Perspektiven. Darmstadt 2012. 77 Acker, Marion/Fleig, Anne/Lüthjohann, Matthias (Hg.): Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2019. 78 Ouden, Barbara den: Translation und Emotion. Untersuchung einer besonderen Komponente des Dolmetschens. Berlin 2017, S. 55. 79 Bronsky, Scherbenpark, S. 161. 80 Ebd., S. 197. 81 Vgl. Freytag, Julia: Weibliche Wut. Großstadt-Prinzessinnen und Ghetto-Girls in Alina Bronskys Scherbenpark (2008) und Bettina Blümners Prinzessinnenbad (2007), in: Ekelund/ Boog-Kaminski/Emeis (Hg.), Aufbruch der Töchter, S. 107–134.

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Ich hasse den Solitär. Ich hasse diese Leute. Ich kann nichts dafür, und sie können noch weniger dafür. Alles arme Schweine. Und sie werden immer ärmer. Ich provoziere sie, und sie lassen sich das gefallen und hassen mich insgeheim. Ich hasse diesen Gestank hier und die Wäsche auf den Balkonen und die Satellitenschüsseln …82

Wie Löwe im Anschluss an die Terminologie der Emotionsforschung darlegt, gehören „das Bewusstmachen (‚enhancement of awareness‘) und das Hervorheben (‚foregrounding‘)“ zu den Techniken, um „Emotionen in Texten herauszuarbeiten“,83 wobei Übertreibungen, Anreicherungen und Wiederholungen als Verfahren des Bewusstmachens gewertet werden können. Diese Merkmale finden sich allerdings nicht nur in der Leidensgeschichte Saschas, sondern auch in der Tätergeschichte ihres Stiefvaters Vadim. Der Roman ist durchzogen von einer Auseinandersetzung mit massiver Gewalt.84 Vor allem der in der sowjetrussischen Armee sozialisierte Vadim zeigt sich extrem gewaltbereit bis hin zu Missbrauch und Mord. Auf Hass und Verachtung basiert auch sein Weltbild: Du bleibst ungerührt, wenn er seine Hasstiraden ausspuckt – auf die Scheiß-Deutschen, die ihr Land nicht im Griff haben, auf die Scheiß-Amerikaner, die alles unterwandern wie die größte Sekte der Welt, auf die Scheiß-Italiener, die immer so schnell reden. Auf die kriminellen Russen, die ihr Land verlassen, und auf die schwachsinnigen Russen, die es nicht tun. Auf das Scheiß-Arbeitsamt, das nicht in der Lage ist, für einen WeltklasseProfi wie Vadim endlich eine geeignete Stelle zu finden, und auf den strunzdummen Scheiß-Chef, der sich eine doofe Bemerkung erlaubt, zu doof für Vadim, um bei ihm bleiben zu können, und der deswegen auch der einzige und sehr kurzzeitige Arbeitgeber bleibt. Und, vor allem und immer wieder: auf die Scheiß-Frauen.85

Seine menschenverachtende Haltung führt zu extremen Gewaltszenen gegenüber seinem Sohn, die diesen als seelisches Wrack zurücklassen. Dagegen wird die Figur Mari als fürsorgliche Verwandte des Mörders Vadim eingeführt; und an ihrem Beispiel werden die Ankunftsprobleme durchgespielt, die dem Stereotyp der russischen Ausländerin anhaften. Der Kulturkontrast wird allerdings nicht nur auf der Ebene der Figuren gezeigt, sondern ebenso in hoch- wie populärkulturellen Anspielungen, literarischen Verweisen sowie intertextuellen und intermedialen Relationen, wenn Sa-

82 Bronsky, Scherbenpark, S. 199. 83 Löwe, Wenn Emotionen überschäumen, S. 175. Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Emotional Connection: Representation of Emotions in Young Adult Literatur, in: Hilton, Mary/ Nikolajeva, Maria (Hg.): Contemporary Adolescent Literature and Culture. The Emergent Adult. London 2016, S. 127–138, hier S. 131. 84 Shchyhlevska, Natalia: Gender, Geschichte und Gewalt in der österreichischen Literatur russischer Migrantinnen, in: Aussiger Beiträge 8/2014, S. 85–101. 85 Bronsky, Scherbenpark, S. 51.

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scha z. B. den amerikanischen Rapper Eminem86 verehrt oder die russische Rockgruppe Nautilus Pompilius mit Songtexten zitiert wird,87 während sie die Familie Peters besucht.88 So entlarvt Sascha eine deutschsprachige Parodie auf ein Gedicht des russischen Lyrikers Ossip Mandelstam,89 zitiert das Kindergedicht Privivka (dt. Die Impfung, 1958) von Sergej Michalkov,90 nennt Tolstojs Krieg und Frieden,91 erkennt ein „Shakespeare-Sonett“92 und kokettiert mit deutschen Autorennamen wie Goethe.93 Allerdings ergibt sich auf diese Weise ein Mix, der sich aus populären und hochliterarischen Bezügen zusammensetzt und ebenso östliche wie westliche Literatur- und Kulturfragmente verhandelt. Es gehört zum Erzählen über Adoleszenz, dass auch Erinnerungen an die Literatur der Kindheit zur Werte-Orientierung genutzt werden. Häufig sind dies in den Text integrierte Märchenerzählungen aus Kindertagen. In dieser Hinsicht birgt die Märchenerzählung eine reflexive Funktion für die Jugendgeschichte und verhandelt ebenso den Übergang zwischen Kindheit und Adoleszenz. Auch in Scherbenpark sind solche Märchenerzählungen eingebaut. So wird z. B. Hans Christian Andersens in Ost und West gleichermaßen beliebtes Märchen Die Schneekönigin94 als Erinnerung an die Mutter und die Kindheitstage eingeführt: Das Märchen von der Schneekönigin hatte meine Mutter uns oft vorgelesen, sie liebte Andersen, sie liebte überhaupt alles. Wenn sich jemand fies benahm, sagte meine Mutter, wahrscheinlich habe er gerade ein Stück von dem Spiegel im Auge oder im Herzen, von jenem Spiegel, den ja bekanntlich der böse Troll zerschlagen hat. So war sie eben.95

Die Mutter Saschas kann die Bedrohung, die im Märchen für ihr eigenes Schicksal angelegt ist, nicht erkennen. Im Modus des Märchens erzählt Sascha 86 87 88 89

90 91 92 93 94 95

Ebd., S. 201ff. Vgl. Luschina, Russisches Fräuleinwunder, S. 223. Bronsky, Scherbenpark, S. 184ff. Ebd., S. 169. Vgl. das Gedicht „In der Küche“ (1931), in: Mandelstam, Ossip: Mitternacht in Moskau. Die Moskauer Hefte. Gedichte 1930–1934, aus dem Russischen übertr. und hg. von Ralph Dutli. Zürich 1986, S. 48f. Diesen Literaturbeleg verdanke ich Anne Hultsch. Vgl. Luschina, Russisches Fräuleinwunder, S. 223; vgl. auch Kulpina, Larisa: Russlandbilder und ihre literarische Versprachlichung in transkulturellen Gegenwartsromanen, in: Imo, Wolfgang/Kornilova, Ljudmila/Kulpina, Larisa/Wesche, Jörg (Hg.): Brückenschläge: Deutschrussische Germanistiken im Dialog. Heidelberg 2020, S. 47–71, hier S. 56f. Bronsky, Scherbenpark, S. 40. Vgl. Michalkov, Sergej: Sobranie socˇinenij v 4-ch tomach. Tom 1. Stichi i skazki dlja detej. Moskva 1963, S. 427. Bronsky, Scherbenpark, S. 28. Ebd., S. 169. Ebd., S. 129. Vgl. Andersen, Hans Christian: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden, aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg, hg. und mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Erling Nielsen, Bd. 1. Darmstadt 1983, S. 313–350. Bronsky, Scherbenpark, S. 20f.

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auch Felix den traumatisierenden Mord ihres Stiefvaters Vadim an ihrer Mutter.96 Der intertextuelle Bezug zum Märchen leistet in dieser Hinsicht einen vielfältigen Transfer zwischen den Lebensphasen, aber auch zwischen den kulturellen Kontexten. Auf diese Weise bilden Intertexte und kulturelle Bezugnahmen ein Netz, in dem sich Lebensgeschichte und kulturelle Perspektiven miteinander in Beziehung setzen. Umso mehr erweist sich Erzählen über Adoleszenz als polyvalenter Verhandlungsraum, in dem Kontraste und Konflikte, Phasen und Übergänge, Ereignisse und Traumata miteinander konfrontiert werden.

4.

Baba Yaga des Dazwischen – Julya Rabinowich: Spaltkopf und Dazwischen: Ich

In ihrem Roman Spaltkopf (2008)97 erzählt die in Leningrad (heute St. Petersburg) geborene russisch-jüdisch-österreichische und vor allem Wiener Autorin Julya Rabinowich in einer zerklüfteten Textur von problematischen Übergängen aus der Kindheit in die Jugendphase am Beispiel der autofiktionalen Figur Mischa. Auch diesen Roman grundiert ein verdecktes Trauma im Hintergrund des Geschehens, das die Irritationen in der Kindheits- und Jugendphase maßgeblich bestimmt und bei der Lektüre erst langsam erschlossen werden kann.98 Wieder spielt die Problematik der Migration in das Erzählen hinein, ohne dieses zu dominieren. Die Deplatzierung im mehrfachen Sinn bildet dennoch die Voraussetzung und das Medium für Erinnerungsprozesse in der Familiengeschichte,99 die für die in St. Petersburg zurückgebliebenen Verwandten so nicht 96 Ebd., S. 137–140. 97 Rabinowich, Julya: Spaltkopf. Wien 2011. 98 Vgl. dazu Rossi, Christina: Der Transfer von Traumata im kollektiven Gedächtnis. Julya Rabinowichs Roman „Spaltkopf“ und die Ästhetisierung von Verdrängung und Vergegenwärtigung, in: Bánffi-Benedek, Andrea/Boszák, Gizella/János, Szabolcs et al. (Hg.): Netzwerke und Transferprozesse – Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der VII. Internationalen Germanistentagung an der Christlichen Universität Partium Großwardein/ Nagyvárad/Oradea, 08.–09. September 2016. Wien 2018, S. 227–235. 99 Vgl. Weertje Willms: „Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett“. Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren, in: Holdenried, Michaela/Willms, Weertje (Hg.): Die interkulturelle Familie. Bielefeld 2012, S. 121–141; vgl. auch Freudenberg, Ricarda: Wenn alles auseinanderbricht, entsteht Raum für Erzählenswertes. Welcher Reiz für die literarische Inszenierung in porösen Familienstrukturen liegt, in: Roeder, Caroline/Ritter, Michael (Hg.): Familienaufstellungen in Kinderund Jugendliteratur und Medien, in: kjl&m 17.extra. München 2017, S. 89–101; vgl. auch Rybalskaya, Yanetta: Die matrilineare Familienstruktur in Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf oder: Wer ist eigentlich Baba Yaga Girl?, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7/ 2016, S. 97–114. Vgl. auch Sos´nicka, Dorota: Die Fremde, die man in sich trägt: Zum Erzähl-

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möglich sind und weiter abgelehnt werden.100 Der Text bildet ein komplexes Netz von Erinnerungen, die sich von ihren Brüchen herschreiben. Wie viel anders hierbei als in jugendliterarischen Romanen erzählt wird, lässt sich bereits an der fragmentarischen Struktur absehen, zu der Weertje Willms bemerkt: Der gezeigte Zeitraum wird nun nicht gleichmäßig und chronologisch präsentiert, sondern anhand von verschiedenen Erinnerungsbildern. Es handelt sich um einzelne Spots, um Fragmente der Erinnerung, die langsam, szenisch erzählt werden, dazwischen sind unbestimmte Ellipsen und reflexive Pausen eingebaut. Wir haben keinen kontinuierlichen Text vorliegen, der größere Zeitabschnitte zusammenhängend schildert, sondern der ganze Roman besteht aus einzelnen, erzählerischen Fragmenten.101

Der Roman zeigt eine ‚gespaltene‘ Textur, in der die Ich-Narration Mischas über ihre Kinder-, Jugend- und Familiengeschichte aus intern fokalisierter Sicht mit dem Spaltkopf als einer magischen Ich-Instanz verknüpft wird, deren Einschübe durch Kursivsetzung auch einen auktorialen Fokus eröffnen und dabei zugleich das Innenleben jeder Figur offenlegen. Dass diese Instanz verdrängte Traumata aktualisiert, ermöglicht psychoanalytische oder gedächtnistheoretische Lesarten,102 allerdings hat sie sich längst aus der Latenz des Unheimlichen zu einer narrativen Präsenz des Alltäglichen vergegenwärtigt. In seiner metaphorischen Dimension verkörpert der „Spaltkopf“ den Geist der Familie und zugleich jedes einzelnen: „Der Spaltkopf, der sich von den Gedanken und Gefühlen anderer ernährt, ein teilnahmsloser Vampir, aufmerksam, unsichtbar, bedrohlich, hat jedoch etwas unangenehm Persönliches, ein privates Ungeheuer, auf meine Familie angesetzt, maßgeschneidert.“103 Im Handlungsgeschehen stellt der „Spaltkopf“ ebenso eine an E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann erinnernde unheimliche Figuration dar, vor der die Mutter die jüngere Tochter aus Erziehungsgründen warnt, was aber von der Ich-Erzählerin bereits nicht mehr ernst genommen werden kann: „‚Wenn du dich nicht benimmst, kommt der Spaltkopf! Ich glaube, ich kann ihn schon riechen.‘ Ich verdrehe die Augen. Ich

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103

verfahren im Roman Spaltkopf von Julya Rabinowich, in: Drynda, Joanna/Wimmer, Marta (Hg.): Neue Stimmen aus Österreich. 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende. Frankfurt am Main u. a. 2013, S. 78–91. Dafür ist die Episode des Besuchs der Protagonistin in ihrer Herkunftsstadt und ehemaligen Kindheitswohnung aussagekräftig, vgl. Rabinowich, Spaltkopf, S. 197ff. Willms, Zum Zusammenhang von Identität und literarischer Form, S. 181. Vgl. Rossi, Der Transfer von Traumata im kollektiven Gedächtnis, S. 230. Vgl. auch Rutka, Anna: „Der Dritte Raum“ als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. Zu Migrationsromanen von Julya Rabinowich „Spaltkopf“ und Lena Gorelik „Die Listensammlerin“, in: Colloquia Germanica Stetinensia 27/2018, S. 53–66, hier S. 61; https://www.ceeol.com/se arch/article-detail?id=724139 [27. 04. 2022]. Rabinowich, Spaltkopf, S. 25f.

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glaube nicht mehr an den Spaltkopf.“104 Die Reaktion der Ich-Erzählerin zeigt eine Entwicklung an, die sie von der Angstdrohung einer schwarzen Pädagogik bereits befreit, dennoch fragt sie, ob man etwas gegen den Spaltkopf tun könne: „‚Doch, Mischka, doch!‘, sagt meine Mutter. ‚Du musst ihn sehen. Wenn du ihn sehen kannst, hat er keine Macht mehr über dich.‘“105 Für die behinderte kleinere Schwester bleibt die Drohung jedoch in ihrem übertragenen Sinn unverständlich, da sie den Spaltkopf tatsächlich sehen kann: „Sie sieht sich um. Lächelt, deutet hinauf zur Decke. Beginnt dann schallend zu lachen. ‚Ist da‘, hebt sie in eigenartigem Singsang an.“ So wie sich die kleinere Schwester nicht vom magischen Bann befreien kann, wird ihr auch der Eintritt in die fremde Sprache missglücken: „Endlich versucht meine Schwester, sich zaghaft in Russisch auszudrücken. Meine Eltern sind begeistert. Nur kann sie außer uns leider niemand verstehen. Der Sprung in die Kommunikation ist in die falsche Richtung gesetzt.“106 Während die kleinere Schwester nicht in der von den Eltern und der Großmutter erwarteten Kindheit ankommt, verschiebt sich auch für die Ich-Erzählerin der Übertritt in die Jugendphase. Im Unterschied zu ihren Kameradinnen kann sie sich in die Initiation und ihre Passagen nicht einfinden: Meine Klassenkolleginnen gehen schwimmen, ich sitze mit feuchtem Höschen bei Sonnenschein im abgedunkelten Raum und tippe meine Leidenschaft auf endlose Bögen Thermopapier. So wie mich zuvor das Heimat- und das Immigrationsland zum Balanceakt zwangen, begehe ich nun eine Gratwanderung zwischen den Welten der Erwachsenen und der Jugend. Der Duft erwachender Sexualität weht schwach in meine Gefilde. Diese zweite Immigration trete ich lieber gar nicht erst an. Ich wage den Absprung nicht, ich kralle mich am Rand der Kindheit fest, während kleine Steinchen in den Abgrund bröseln, und warte auf die helfende Hand, die nicht kommt. Also komme ich auch nicht. Ich darf nicht kommen. Die Ekstase würde mich weit von den Meinen fortspülen, das wissen wir: ich und die anderen. Mit vereinten Kräften drücken wir den Deckel auf den brodelnden Behälter und hören dem Grollen innen zu.107

So wie die Migration einen Bruch im Leben der Protagonistin und ihrer Familie erzeugte,108 stellt auch der Eintritt in die Sexualität der Erwachsenen eine Hürde für sie dar, die sie lieber nicht übertreten möchte. Während sie noch in einer selbstbezüglichen Körperlichkeit verweilt, bildet ihre Schwangerschaft mit dem ersten Freund und vorübergehenden Ehemann einen plötzlichen Sprung, der einen erneuten Bruch hervorruft. Zwar kann die Familie noch die Dynamik ihres Verfalls 104 105 106 107 108

Ebd., S. 113. Ebd., S. 22. Ebd., S. 113. Ebd., S. 83f. Vgl. Schulte, Sanna: „Entwurzelt & umgetopft“. Das literarische Potential der Mehrsprachigkeit bei Julya Rabinowich, in: Studia Germanica Posnaniensia 40/2019, S. 149–161, hier S. 155; https://pressto.amu.edu.pl/index.php/sgp/article/view/22750 [29. 04. 2022].

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bremsen und dämpfen, die Risse, die die Bindungen durchziehen, lassen sich aber nicht mehr rückgängig machen. Mit dem Tod des Vaters zerbricht nicht nur ihre Familie endgültig, sondern auch für ihren Partner wird sie durch den Verlust seiner Identifikationsfigur uninteressant. Der gebrochenen Kindheits-, Jugend- und Familiengeschichte entspricht ein zerklüftetes Erzählen, das Traumata der Judenverfolgung und einen Mord umkreist.109 Eine Namensänderung hat es der Großmutter schließlich ermöglicht, die Verfolgung zu überleben, woran die Instanz des Spaltkopfes ständig zu erinnern weiß: „Sie ändert den Namen ihres Vaters, der sie verraten hätte, von Israil in Igor. Sie nennt sich Ada. Nicht Rahel. Sie hängt sich ein Kreuz um. Sie ist blauäugig und blond, sie ist unauffällig. Ada Igorowna. Die zukünftige Professorin.“110 Der Spaltkopf gibt sich als Chronist eines Bündels von Schicksalen, die sich in der kollektiven Geschichte der Familie zusammenfinden: „Das ist die Tinte, mit der ich, ihr Chronist, ihre Leben festhalte. Sie will vergessen und nicht verzeihen. Ich vergesse nichts und verzeihe nichts.“111 Der Text entwirft seine eigene Mythologie, in der weitere magische Figuren auftreten. Mit der Hexe Baba Yaga führt die Erzählerin ein Alter Ego ein, das treffend ihre widerspenstigen und ambivalenten Verhaltensweisen während der Jugendzeit als Baba Jaga Girl112 doubelt, wie es das gleichnamige Kapitel erzählt. Sich selbst bezeichnet die Erzählerin als Hexenwesen, wenn es um ihre mangelnde Integrierbarkeit in die Welt und die Normen der Erwachsenen geht.113 Auch andere Märchentraditionen spielen in diese phantastische Perspektive hinein, wie etwa der Hinweis auf Wilhelm Hauffs Das kalte Herz114 oder Anspielungen auf die Brüder Grimm zeigen.115 Eng verbunden ist die Baba-Yaga-Figuration mit dem Krankheitsbild der Bulimie und den Initiationen der Sexualität, wie z. B. an folgender Stelle deutlich wird: Später gelingt es mir, diesen Hunger zu kultivieren. Es macht Freude, die Gier in sich zu töten. Wenn schon Bedürftigkeit, so will immer noch ich entscheiden, wann ich mir gestatte, Befriedigung zu erfahren. Ich werfe alles durcheinander und in einen bodenlosen Topf: Sexualität, Trieb, Angst, alles köchelt vor sich hin, während ich als Baba Yaga in meinem Kessel rühre. Ich bin mir selbst eine Hütte auf Hühnerbeinen, die sich dreht und wendet, wenn man sie ruft. 109 110 111 112 113

Rabinowich, Spaltkopf, S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 23. Ebd., S. 128–203, S. 137. Vgl. Schwaiger, Silke: Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf: Märchenhafte, mythische und fantastische Elemente als literarische Stilmittel in Julya Rabinowich Roman Spaltkopf, in: Studien zur deutschen Sprache und Literatur 2/2013, S. 147–163. 114 Rabinowich, Spaltkopf, S. 51, S. 171. Vgl. Hauff, Wilhelm: Das kalte Herz, in: ders.: Das kalte Herz und andere Märchen. Stuttgart 2000, S. 3–53. 115 Vgl. Rabinowich, Spaltkopf, S. 133.

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Die Tage bis zum Einschlag der Nachricht vergehen unauffällig-beliebig. Ich nütze die Abwesenheit und habe erstmals Sex in meinem Zimmer. Seltsam unberührt hinterlässt er mich.116

Anders als das Erzählmuster des Adoleszenzromans erlaubt autofiktionales Erzählen eine nachträgliche Reflexion, in der man die Grundthemen benennen kann und die als reflexive Perspektive erkennbar wird: „Sexualität, Trieb, Angst.“117 Der Name „Baba Yaga“ steht so für den Rückblick auf eine Ambivalenz zwischen guten und bösen Verhaltensweisen118 und wird zur Anredeform in der Beziehung der Protagonistin sowie zum Charakteristikum für die Spannungen der Adoleszenzphase. In mehrfacher Hinsicht bleibt die Protagonistin deplatziert – sie kann den Übergang zur Adoleszenz im fremden Kontext nicht vollziehen. Willms bemerkt daher zu Recht: Mischka dagegen befindet sich in einer Zerreißprobe zwischen ihren Eltern und der neuen Gesellschaft und entwickelt als Reaktion darauf während der Pubertätsphase autoaggressive Verhaltensweisen wie Bulimie. Die alterstypische Problematik der Ablösung von den Eltern ist durch die Migrationssituation derart verschärft, dass Mischka sogar versucht, ihre Pubertät zu unterdrücken.119

Darüber hinaus verortet sie sich aber ebenso in der Sprache und in der Literatur, wie es die Teleologie einer werdenden Autorin andeutet. In ihrer Zwischenlage versteht sich die Erzählerin als Mittlerin, was ihr aber in Beziehungen misslingt:120 „Wir sprechen die gleiche Sprache und begreifen kein Wort. Ich bin eine Meisterin der Übersetzung und versage im Ansatz. Ein weiter Fluss liegt vor mir, voll träger Wasser, gallig gelb, kaum zu durchmessen. Ich setze über, ich habe keine Angst mehr.“121 Dabei erkennt sie auch die Verfahren der Adaption und Transformation, wie sie die Kinder- und Jugendliteratur bei dem Systemwechsel von West nach Ost während der sowjetischen Zeit durchläuft: Das weckt durchaus ambivalente Gefühle in mir. Die russische Literatur ist angewiesen, von positiver Berichterstattung über Prinzen und Königstöchter aller Art Abstand zu nehmen. Meist werden sie als Langeweiler und Bösewichter beschrieben, sind farblos, ein trauriges Ergebnis schamloser Inzucht, moralisch instabil und kränklich. So wie politisch missliebige Exregierungsmitglieder einfach von Fotos retuschiert werden, verschwinden auch gewisse Figuren der klassischen Kinderliteratur und wer-

116 117 118 119 120 121

Ebd. Ebd. Rossi, Der Transfer von Traumata im kollektiven Gedächtnis, S. 228. Willms, Zum Zusammenhang von Identität und literarischer Form, S. 180. Rabinowich, Spaltkopf, S. 155f. Ebd., S. 157.

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den durch neue ersetzt. Die Bremer Stadtmusikanten sind eine umherstreunende Kommune musizierender Tiere, deren menschlicher Anführer die ortsansässige höhere Tochter dazu überreden kann, mit seiner Agitproptruppe in die Wälder abzuhauen. Der gestiefelte Kater ist sehr beliebt und in hoher Auflage verlegt, weil er es erstens fertigbringt, die herrschende Klasse auszutricksen, und obendrein den einzigen Intellektuellen der Geschichte ausschaltet.122

In ihrer Reflexion über die kulturellen Transferprozesse der Kinder- und Jugendliteratur zwischen Ost und West kann die Erzählerin einerseits an ihre eigene misslungene Mittlerfunktion anknüpfen, andererseits aber auch die ideologischen Transformationen beschreiben, mit denen die Texte in die Ideologie des sowjetisch-sozialistischen Wertesystems eingepasst wurden. Die ideologisch kulturelle Deformation geht einher mit einer Ambivalenz der Gefühle, die sich als Abgründe zwischen den Lebensphasen und -kontexten auftun. Damit wird aber auch der Verhandlungsausgang des Romans selbst ambivalent, wenn die Erzählerin am Ende den „Spaltkopf“ im Spiegelbild des Fensterglases erkennt und durch ihn hindurchblickt.123 Zwar hat sie mit ihrer Stimme den Spaltkopf scheinbar bezwungen und braucht sich vor ihm nicht mehr zu fürchten, jedoch wurde er mit ihrer Narration aber auch allererst hervorgebracht. Offen bleibt daher die Frage, inwiefern der Roman selbst einen Literatur- und Kulturtransfer als Deplatzierung darstellt, die den Bruch zwischen Kindheit und Jugend nicht mehr überbrücken kann, sondern sich am Ende mit der Perspektive der Spaltkopf-Figuration überblendet. Dass sie auch das Erzählen über Adoleszenz in entsprechenden Genre-Mustern beherrscht,124 konnte Julya Rabinowich mit ihrem Roman Dazwischen: Ich (2016)125 zeigen, der mittlerweile von Dazwischen: Wir (2022)126 gefolgt wurde. Mit beiden Titeln eröffnet die Autorin Perspektiven, die sich in den Romanen als Übergänge und Passagen auszeichnen. Mit Dazwischen: Ich knüpft Rabinowich an eine Reihe von Fluchtgeschichten an, die in der Folge der Syrienkriege entstanden sind. Ihre Erfahrungen als Simultandolmetscherin bei der Arbeit mit Flüchtlingen sind zweifellos in die traumatisierte Jugendgeschichte der Protagonistin Madina eingegangen.127 Viel teilt die kulturelle Zwischenlage syrischer Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Deutschland mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, wie sie es Eingang in den autofiktionalen Roman Spaltkopf fand. Bei 122 Ebd., S. 119. 123 Ebd., S. 155f. 124 Schwaiger, Silke: Narrationen des Dazwischen. Julya Rabinowichs Jugendroman Dazwischen: Ich als Erzählung der Selbstermächtigung, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 50(1)/2018, S. 247–257. 125 Rabinowich, Julya: Dazwischen: Ich. München 2018. 126 Rabinowich, Julya: Dazwischen: Wir. München 2022. 127 Vgl. Schwaiger, Narrationen des Dazwischen, S. 248.

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beiden Romanen handelt es sich um Jugend-, Familien- und Generationengeschichten sowie um Geschichten von transnationalen Heldinnen.128 Der Roman Dazwischen: Ich setzt mit der Ankunft der syrischen Familie in der sogenannten „Pension“129 ein, die bis zum Bescheid über ihren Flüchtlingsstatus als Übergangsheim dient. Dass der Text stellvertretend für das Schicksal vieler steht, wird in parataktischer und elliptischer Gedankenrede in einem Einleitungspassus deutlich gemacht: Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.130

Bereits die Sprachgebung und die Aufmachung des Buches131 weisen sich als jugendliterarisches Erzählen aus, das am Einzelschicksal die Problematik einer Flüchtlingsgeneration aufrollt. Auch die Widmung des Bandes „Für alle Kinder und Jugendlichen, die mir begegnet sind und Heimat suchten. Und für Naima.“132 bestätigt dies. „Für Naïma“133 lautete übrigens schon die Widmung des Romans Spaltkopf. Zu Beginn stellt sich die Protagonistin mit einer Aufzählung von Dingen vor, die sie mag und die sie charakterisieren, womit eine adoleszente Perspektive der Ich-Erzählerin eingeführt wird: Ich habe langes Haar. Bis zur Hüfte. Ich habe früher viel gelacht. Ich habe einen kleinen Bruder und keine Angst vor wilden Hunden. Und ich habe schon Menschen sterben sehen. So. Wer das weiß, weiß mehr von mir als die meisten hier. Ich fange einfach damit an, was ich mag. Was ich nicht mag, kann ich immer noch später aufzählen. Also was ich mag: Ich mag es, wenn ich Laura umarme und sie vertraut riecht. Ich mag es, wenn ich Dinge schaffe, die ich mir vorgenommen habe. Und wenn mir jemand blöd kommt, dass ich dem übers Maul fahren kann. Weil ich die Sprache endlich beherrsche. Wer dann nämlich schweigt, hat schon verloren. So schnell geht das. Ich mag es, wenn die Sonne scheint. Der Himmel ist dann von einem strahlenden Blau, und wenn man die Geräusche der Autobahn wegdenkt, kann man die Vögel singen hören.134

128 Ekelund, Lena: Nomadinnen in Österreich. Transnationale Heidinnen in Julya Rabinowichs Romanen „Spaltkopf“ und „Die Erdfresserin“, in: Korte, Hermann (Hg.): Österreichische Gegenwartsliteratur. München 2015, S. 198–207; vgl. auch Hausbacher, Eva: ‚Die Welt ist rund‘. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen Migrationsliteratur (Marija Rybakova, Julya Rabinowich), in: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien. Kulturen und Literaturen zwischen Ost und West 21(1–2)/2010, S. 26–42. 129 Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 9. 130 Ebd., S. 7. 131 Vgl. z. B. die als Koffer mit Wolken gestalteten Vignetten der einzelnen Kapitel. 132 Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 5. 133 Rabinowich, Spaltkopf, S. 5. 134 Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 7f.

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Schon zu Anfang des Textes wird die Erzählweise auf die Perspektive Madinas zentriert, die sich als Ich-Imago der Wahrnehmungen und Vorlieben positioniert. In ihr Tagebuch, das ihr die Mutter ihrer besten Freundin Laura schenkte, notiert die Ich-Erzählerin ihre Eindrücke und Erlebnisse. Der Roman folgt der Tradition von Adoleszenzromanen in Tagebuchform, wie sie sich bereits in Rafik Schamis Eine Hand voller Sterne findet. Neben Erfahrungen in der Schule dominiert vor allem das Leben in der sogenannten Pension, dem Flüchtlingsheim der Familie bis zum Erhalt der ersehnten Bewilligung des Asylantrags. Initiations-Narrative der Adoleszenz sind in diesem Kontext allerdings kaum vertreten. Bedrohlich stehen vielmehr die voyeuristischen Nachstellungen, die „der Depp aus dem zweiten Stock“135 unternimmt, über der Wahrnehmung von Geschlechterdifferenz während der Ankunftssituation. Auch den Initiationen ihrer Freundinnen gegenüber verhält sich Madina als Beobachterin, wenn sie etwa den Umgang Lauras mit ihren Freunden kritisch sieht.136 Wie auch in anderen Erzählungen über das Schicksal muslimischer Mädchen thematisiert, wird Madina der heranwachsende jüngere Bruder vom Vater als Aufpasser verordnet. Allerdings wird eine Initiation angedeutet, als sie sich am Ende des Romans in Gedanken an den bisher abgewehrten Markus kurz vor der Rückkehr ihres Vaters ins Kriegsgebiet die Haare abschneidet,137 die sie zu Anfang noch zu ihrem Erkennungsmerkmal machte. Auch in Dazwischen: Ich werden Emotionen verstärkt zum Thema, die allerdings weniger aus der individuellen Befindlichkeit als vielmehr aus der Kriegsund der Fluchterfahrung resultieren. Die dominante Emotion im Roman ist eine allgegenwärtige Angst, die aus den traumatischen Erfahrungen nachwirkt. Madinas Halt in der Familie zerbricht schließlich am Wutanfall des Vaters, der in ihrer Schule einen Skandal verursacht, so dass die Polizei eingreifen muss und der Familie eine psychologische Betreuung zugewiesen wird.138 Als Mediatorin in der Verhandlung zwischen den Kulturen, aber auch zwischen den Generationen tritt die Schulpsychologin Frau Wischmann auf. Während Lehrerfiguren wie „die King“139 oder „der Bast“140 bemüht wirken, ist die Vermittlerin lösungsorientiert. Von ihr übernimmt Madina eine Verhandlungspraxis, mit der sie ihrem Vater gegenübertritt: „Die Schule will, dass wir uns alle zu einem Gespräch zusammensetzen“, sage ich. „So, wollen sie das? Wollen sie auch die Polizei noch einmal rufen und mich wie einen Schwerverbrecher abführen lassen?“ „Du bist dort ausgerastet. Was hätten sie tun 135 136 137 138 139 140

Ebd., S. 105. Ebd., S. 231. Ebd., S. 301f. Ebd., S. 174ff. Ebd., S. 73. Ebd., S. 49.

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sollen?“ „DU hättest dich benehmen sollen!“ Darauf reagiere ich nicht, so, wie es mir Frau Wischmann vorgeschlagen hat. „Wir müssen mit ihnen sprechen, Papa.“ „Ich habe es dir ja gesagt. Wenn wir jetzt abgelehnt werden …“ „Papa, die Schule will uns helfen. Die haben eine Frau geschickt, die bei uns vermitteln soll. Damit wir eben keinen Ärger bekommen. Wir müssen nur mitmachen. Bitte.“141

Auch in weiteren Situationen versucht Madina mit ihrem Vater zu verhandeln, was sich zunehmend als schwieriger erweist.142 Madina entwickelt sich im Roman zur Vermittlerin143 zwischen der Familie und ihrer deutschen Umgebung, zwischen den Werten des Herkunftskontextes und ihrer Hoffnung auf ein „Ankommen“,144 was bereits im Titel angelegt ist.145 Der Roman ist nicht nur von Verhandlungen innerhalb der Familie geprägt, sondern auch die Funktion einer sprachlichen und kulturellen Übersetzerin nach außen wird von Madina übernommen. Am Ende nähert sich die Perspektive der Protagonistin Madina an die der autofiktionalen Erzählerin Mischka aus Spaltkopf an. So beginnt der Roman Spaltkopf mit dem in vier vertauschten Lektionen untergliederten Kapitel „Abgebissen, nicht abgerissen“,146 wo es in der „Lektion 3/ Sprung. Satz. Schnitt.“ heißt: „Abgebissen wirkt der Küstenstreifen, man kann die Schichten seines Fleisches gut erkennen. Abgebissen fühle ich mich auch, denn das Land, aus dem ich kam, hängt nicht an mir, und ich nicht an ihm. Keine Fasern verbinden mich mehr damit.“147 Das Partizip „abgebissen“ kehrt in Dazwischen: Ich wieder, wenn Madina ihre Stimmung bei der Abreise ihres Vaters in ihrem Märchenwald folgendermaßen phantasiert: Abgebissen wirkt das Land, abgebissen fühlte ich mich damals auch, als wir aufbrachen, als hätte jemand die Zähne in mich geschlagen und ein Stück aus mir herausgerissen. Ich fühlte dieses Herausgerissene noch sehr lange. So was heilt nur langsam, und an den Rändern der Wunde bilden sich Narben. Irgendwann, haben sie mir gesagt, kann man dann darüberstreichen, ohne dass es wehtut. Ohne dass es Angst macht.148

In dieser Hinsicht kann „abgebissen“ als Metapher einer schmerzhaften Fremdheit und Migration verstanden werden, über die die beiden Romane miteinander korrespondieren und nach einer Bewältigung ihrer Verletzungen suchen. Ge141 142 143 144 145

Ebd., S. 191. Ebd., S. 259. Vgl. Schwaiger, Narrationen des Dazwischen, S. 251. Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 234f. Vgl. Sˇlibar, Neva: Rabinowich, Julya: Dazwischen: Ich, in: Zielsprache Deutsch 44(3)/2017, S. 67–70. 146 Rabinowich, Spaltkopf, S. 7–12. 147 Ebd., S. 9. 148 Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 295.

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genläufig zur Welt der „Pension“ ist der Tagebuchtext mit kursiv gesetzten Märchenpassagen durchsetzt, was ebenso an die fragmentarische Struktur des Romans Spaltkopf erinnert. In Madinas Erzählungen von ihrem Märchenwald fließen traumatische Erinnerungen und Märchenmotive zusammen. Der Märchenwald Madinas stellt eine Phantasie- und Transitzone dar, die sie durchschreiten muss wie auf ihrer Flucht und Ankunft in Deutschland, was aber auch als Übergang zwischen Lebensphasen verstanden werden kann.149 In dieser Hinsicht bilden Märchenerzählungen für Adoleszenzromane Inter- und Intratexte des Transitorischen, die Übergänge und Passagen inszenieren. Auffälligerweise kann Rabinowich allerdings anders als in ihrem Roman Spaltkopf nur wenig an literarische Traditionen der Herkunft Madinas anknüpfen;150 im Unterschied auch zu deutsch-arabischen Autor:innen, die sich das Erzählen von Adoleszenz zum Thema machen. Offensichtlich sind die narrativen Verhandlungen von Adoleszenz derart stark von kulturellen Perspektiven grundiert, dass Übergänge zwischen den unterschiedlichen literarischen Traditionen mit zum Raum des Dazwischen gehören. Mit ihrem Folgeroman Dazwischen: Wir gelingt es Rabinowich, erneut eine Steigerung adoleszenten Erzählens vor allem im Hinblick auf das Handlungsgeschehen zu erreichen, das nun an Drastik gewinnt. Der Verhandlungsraum einer Neuorientierung der Teenagerin bei der Ankunft in Deutschland findet sich allerdings hauptsächlich im ersten Roman, der in enger Korrespondenz mit dem autofiktionalen Erzählen in Spaltkopf steht.

5.

Fazit und Ausblick

An ausgewählten Romanen, die sich die Jugendzeit bzw. Adoleszenz ihrer Protagonistinnen zum Thema machen, konnte eine narrative Praxis von transkulturellen Verhandlungen und Übersetzungen aufgezeigt werden. Literarisch innovativ wird im autofiktionalen Modus erzählt, etwas näher an der populären Kultur der jugendlichen Leserschaft, ihrer Sprache und ihren Interessen bewegt sich das Genre des sogenannten Adoleszenzromans. Als intensive narrative Verhandlungsräume erweisen sich beide Erzählweisen, die zum Teil sehr ähnliche Verfahren und intertextuelle bzw. intermediale Relationen nutzen. In der Spannung ihrer altersspezifischen, aber auch transkulturellen Perspektiven inszenieren die Romane Kontraste und Übergänge, Fragen der Identität, Prozesse 149 Schwaiger, Narrationen des Dazwischen, S. 254, bezeichnet den „Märchenwald als Ort der Bewährung“. 150 Wenn z. B. Madinas Tante Amina als „stille Königin der Nacht“ in Anspielung an Mozarts Zauberflöte charakterisiert wird, trifft dies wohl kaum den kulturellen Kontext der Ankunftsperspektiven, vgl. Rabinowich, Dazwischen: Ich, S. 120.

„Blinder Regen. Kennen Sie den Ausdruck nicht?“

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der Sozialisation, Momente der Initiation sowie differente Wahrnehmungen und Emotionen als Dynamik eines vielschichtigen Transfers. Eine stärkere Verbindung von autobiographischen bzw. autofiktionalen und jugendliterarischen Forschungsperspektiven könnte bei der Untersuchung dieses literarischen Feldes den Blick auf die Problemlage erweitern.

Lukas Sarvari (Mainz)

Nachgezeichnete Geschichte. Über Nina Bunjevac’ Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada „I think I understand where he comes from. I do not agree [with] his actions. I do not agree with his ideology. But I do understand.“ – Nina Bunjevac1

Im Jahr 2012 in Toronto: Die jugoslawisch-kanadische Comic-Autorin Nina Bunjevac empfängt ihre Mutter Sally zum Kaffee und legt ihr das Foto eines in der Vorstadt gelegenen Einfamilienhauses vor. Es ist das Geburtshaus der Autorin, doch in der Mutter scheint es zunächst auch auf Nachfrage keine Erinnerung zu wecken. So beginnt der erste Teil von Bunjevac’ Comic-Roman Vaterland,2 in dem die Künstlerin ihre Familiengeschichte buchstäblich nachzeichnet. Die Handlung springt ins Jahr 1975: In ebenjenem Haus in Welland, Ontario, wird die damals zweijährige Nina von ihrer Mutter Sally zu Bett gebracht. Wie jeden Abend verrammelt sie sodann die Fenster des Kinderzimmers, aus Angst vor unbekannten Angreifern. Den Grund für diese Vorsichtsmaßnahme enthüllt die Erzählung später: Der Vater Peter Bunjevac ist Mitglied einer serbisch-nationalistischen Geheimorganisation, die im kanadischen Exil terroristische Anschläge auf die diplomatischen Außenposten des sozialistischen Jugoslawiens verübt, und lebt in permanenter Furcht vor einem Vergeltungsschlag durch Titos Geheimpolizei. Ein erster Versuch Sallys, ihren Mann mit den gemeinsamen drei Kindern zu verlassen, scheitert an dessen reumütigen Überredungskünsten. Wenig später gelingt es ihr jedoch, unter dem Vorwand einer Urlaubsreise zusammen mit den zwei Töchtern zu den Großeltern nach Jugoslawien zu entkommen, von wo sie einst nach Kanada emigriert war. Den Sohn, das älteste der drei Kinder, muss sie schweren Herzens beim Vater zurücklassen. Zwei Jahre darauf, im Oktober 1977, erreicht sie die Nachricht vom Tod ihres Ehemannes: Beim Bau einer Bombe ist er offenbar durch eine Fehlzündung ums Leben gekommen. Wieder im Jahr 2012 in Toronto: Der Kaffee ist ausgetrunken. Bunjevac’ Mutter erinnert sich: an die verborgene Trauer nach dem Tod des Familienvaters, an die schmerzhafte Trennung von ihrem in Kanada verbliebenen Sohn, an 1 o. A.: In ‚Fatherland,‘ A Daughter Outlines Her Dad’s Radicalization. 2015; https://www.np r.org/2015/01/25/378657704/in-fatherland-a-daughter-outlines-her-dads-radicalization [24. 05. 2021]. 2 Bunjevac, Nina: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin 2015.

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weitere drei, zumeist freudlose Jahre in Jugoslawien. Als sie die Wohnung ihrer Tochter verlässt, tut sie das nicht, ohne sich zu versichern, dass die Türe sicher verriegelt ist. Die Angst lastet noch auf ihr. Im zweiten Teil der Erzählung rekonstruiert Bunjevac die Familien- und Lebensgeschichte ihres Vaters Peter bis zu dessen Tod. Geboren wurde er 1936 als Angehöriger der serbischen Minderheit im kroatischen Landesteil des damaligen jugoslawischen Königreichs. 1941 erlebte er den Einmarsch der Achsenmächte und die darauffolgende Zerschlagung des Vielvölkerreichs in ethnisch segregierte Satellitenstaaten. Das kroatische Gebiet fiel in die Hände der faschistischen Ustascha-Miliz. Peters Vater, Sohn serbischer Remigranten aus den USA, war in die jugoslawische Armee eingezogen worden und wurde während des Kampfs gegen die Deutschen und ihre Verbündeten nach Jasenovac deportiert und dort umgebracht. Dieses KZ der kroatischen Ustascha war das einzige nicht von Deutschen betriebene Vernichtungslager des Holocausts. Außer Juden, Kommunisten und Roma wurden hier auch Serben auf bestialische Weise ermordet. Kurz nach dem Krieg verlor Peter auch seine Mutter, die der Tuberkulose erlag. Der nunmehr verwaiste und vom Schrecken des Kriegs gezeichnete Knabe wurde auf eine Militärschule der unter Josip Broz Tito neu gegründeten Föderativen Volksrepublik Jugoslawien geschickt. Dort wurde Peter zum Anhänger von Milovan Djilas, der ein Anführer der kommunistischen Partisanen und Minister in Titos Republik gewesen war, in den 1950er-Jahren jedoch zum verfemten Kritiker der Staatspartei wurde, die die Herrschaft einer „Neuen Klasse“ begründet habe.3 Als Djilas-Unterstützer enttarnt, wurde Peter der Spionage angeklagt und zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Weil er als Dissident keine Zukunft in Jugoslawien hatte, wanderte er anschließend nach Kanada aus, wohin bereits seine Tante Mara übergesiedelt war. Dort begann er 1961 eine Brieffreundschaft mit Nina Bunjevac’ späterer Mutter, die noch in Jugoslawien lebte und für die Hochzeit mit Peter schließlich ebenfalls nach Kanada ausgewandert ist. Peter hatte sich inzwischen auf die Seite der Exil-Royalisten geschlagen, die den ehemaligen Tschetnik-Führer Draza Mihailovic verehrten, der sowohl gegen die Achsenmächte als auch Titos Partisanen gekämpft hatte (und dafür zeitweilig Zweckbündnisse mit beiden Seiten eingegangen war). Bunjevac’ Mutter, die aus einer Partisanenfamilie stammt, beginnt misstrauisch zu werden, nachdem sich Peter dem Exil-Terrornetzwerk „Freiheit für das serbische Vaterland“ angeschlossen hat. Sie verlässt ihn mit den zwei Töchtern, woraufhin Peter in die Verzweiflung stürzt: Er will sich wieder mit seiner Familie vereinen, aber den Austritt aus der Geheimorganisation würde er als Verräter mit dem Leben bezahlen müssen; eine Flucht zurück nach Jugoslawien würde abermalige Haft als Deserteur bedeuten. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch erhält er den 3 Djilas, Milovan: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems. München 1957.

Nachgezeichnete Geschichte

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Auftrag, einen Bombenanschlag auf das jugoslawische Konsulat in Toronto zu verüben. Beim Bau der Bombe kommt er schließlich ums Leben.

1.

Erinnerung

Bunjevac’ schwarz-weiß gehaltener Comic-Roman stellt eine düstere, beinahe kalte Atmosphäre her. Die erzählte Handlung entfaltet sich in einer statisch komponierten Seitenarchitektur. Zumeist stumme Bildfolgen addieren sich darin nicht zu rasanten Handlungsabläufen, sondern bilden häufig eher Reihen von Einzelbildern, Momentaufnahmen gleich, die von einem Erzählertext begleitet und synthetisiert werden. Sie zeigen in einer teils stilisierten Umgebung stark konturierte Figuren, deren Antlitze jedoch detailreich und naturalistisch ausgestaltet sind. Feine, freihändig gesetzte Schraffuren verleihen den zwar starren Zeichnungen eine gleichwohl vibrierende Ausdruckskraft. Anstelle eines illusionistischen Sogs stellt der Comic somit eine distanzierte Perspektive her und stärkt dennoch den Eindruck einer zutiefst persönlichen Offenbarung. Dieser Doppeldeutigkeit der graphischen Elemente entspricht in der erzählten Handlung das Ineinander von objektivem Tatsachenbericht und subjektiver Erinnerung. Vaterland ist eine autobiographische Erzählung und ist es zugleich nicht. Erzählt wird zuvorderst die Lebensgeschichte des Vaters, an den die Autorin und Erzählerin selbst jedoch keine bewusste Erinnerung hat: Zum Zeitpunkt der Trennung der Eltern war sie kaum zwei Jahre alt. Im engeren Sinne autobiographisch sind dagegen die nacherzählten Dialoge zwischen der erwachsenen Autorin und ihrer Mutter, die Erinnerungen an ihre frühe Kindheit in Jugoslawien, an belauschte Gespräche zwischen den Erwachsenen sowie die Geschichte ihrer Recherche über den Vater, dessen Biographie sie im zweiten Teil des Comics rekonstruiert. Im ersten Teil stellt hingegen das Gespräch mit der Mutter die Rahmenhandlung dar, innerhalb derer die Familiengeschichte, wie sie aus ihrer Erinnerung überliefert ist, nacherzählt wird. Verwandt ist Vaterland darin Art Spiegelmans Comic MAUS, in dem der Erzähler sowohl die Erinnerungen seines Vaters an den Holocaust wiedergibt als auch die Gespräche, in denen er dessen Leidenszeugnis aufgezeichnet hat.4 In Bunjevac’ Bildgeschichte wird allerdings der Lebensbericht der Mutter zwar als authentische Erinnerung ans Familienschicksal anerkannt, aber ebenso als notwendig begrenzte Erfahrung aufgefasst, von deren subjektivem Gesichtspunkt aus sich die Motive des Vaters nicht erfassen lassen. Im zweiten Teil des Werks, der sich der Biographie des unbekannten Vaters widmet, die sich der lebendigen Erinnerung entzieht, führt Bunjevac daher ein Kompendium weiterer 4 Spiegelman, Art: Die vollständige Maus. Frankfurt 2008.

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Quellen wie Photographien, Briefe und historische Dokumente an, aus denen sie das Puzzle zusammensetzt, als das sich ihr der Werdegang ihres Vaters zum Terroristen darstellt. Hierin wiederum ähnelt Vaterland jenen Szenen aus Alison Bechdels Comic Fun Home, in denen die Autorin den schriftlichen und photographischen Nachlass ihres Vaters exploriert, der insgeheim homosexuell war und sich mutmaßlich das Leben genommen hat.5 MAUS und Fun Home wurden häufig als exemplarische Fälle autobiographischer Comics angeführt,6 wobei in vielen Analysen auf die gattungstypischen Besonderheiten der Selbstrepräsentation im graphischen Erzählen abgehoben wird: Der „autobiographische Pakt“,7 wonach Autor, Erzähler und Protagonist in schrifttextlichen Autobiographien als Einheit anerkannt werden, die sich in der Ich-Form der Erzählung Geltung verschaffe, lasse sich auf den Comic nicht umstandslos übertragen. Die Suggestion einer Identität von Autor, Erzähler und gezeichneter Ich-Figur sei dort unmöglich, weil die Abbildung der Letzteren immer schon eine erzählerische Außenperspektive voraussetze, die die Möglichkeit, in Bildform „Ich“ zu sagen, hintertreibe. Diese Außenperspektive zeige stattdessen „unverstellt die Distanz, die ein Subjekt sich selbst gegenüber einnehmen muss, um sich als solches zu repräsentieren.“8 Die Verbildlichung einer solchen Selbstdistanzierung bedeutet jedoch keinen Mangel an erzählerischer Authentizität, der erst durch „Authentizitätsmarker“9 wie inkorporierte Dokumente, Photographien und Briefe kompensiert werden müsste, denn, so Jonas Engelmann, bereits „[d]as Arrangement der Bilder auf der Seite, die Tatsache, dass diese von Hand gezeichnet sind und dass der Text von Hand gelettert ist, zeugt von einer aktiven Rekonstruktion von Erinnerung; der Prozess des Erinnerns wird in der Ästhetik des Comics mit repräsentiert.“10

2.

Archiv

Im Falle von Bunjevac’ Vaterland umgreift dieser Prozess des Erinnerns ebenso den Akt der Recherche – über die Familien- und Lebensgeschichte des Vaters und über die politische Geschichte Jugoslawiens. Während sowohl autobiographische 5 Bechdel, Alison: Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten. Köln 2008. 6 Vgl. z. B. Dollhäubl, Carmen: Ich – eine Comicfigur. Analyseansätze und Lektüreanregungen zum autobiographischen Comic, in: kjl&m 09(3)/2009, S. 53–60; Schröer, Marie: Graphic Memoirs – Autobiografische Comics, in: Abel, Julia/Klein, Christian (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, S. 263–275. 7 Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994. 8 Dollhäubl, Ich – eine Comicfigur, S. 55f. 9 Schröer, Graphic Memoirs – Autobiografische Comics, S. 271. 10 Engelmann, Jonas: Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic. Mainz 2013, S. 117.

Nachgezeichnete Geschichte

227

Comic-Erzählungen, die eine individuelle lebensgeschichtliche Entwicklung schildern, als auch Comic-Zeugnisse zeitgeschichtlicher Ereignisse seit einigen Jahren unter dem Genre-Label „Graphic Memoir“ rubriziert werden, spricht Mihaela Precup von Vaterland als einem „graphic postmemoir“,11 in dem eigene und angeeignete Erinnerungen sich mit historiographischen und imaginativen Elementen verbinden. Augenfällig ist hierin die Vielzahl zeichnerischer Reproduktionen von Photographien, die jedoch gerade nicht einen höheren Realitätsanspruch erheben als die erinnerten oder fantasierten Sequenzen, da sie allesamt im selben quasi-fotorealistischen Stil wiedergegeben sind12 – anders als in Bechdels Fun Home, wo detailreich abgezeichnete Photographien aus dem Familienarchiv einen Kontrast zum eher cartoonesken Stil der Haupthandlung bilden. In Vaterland sind Photographien kein Beweismaterial, das sich als solches optisch von der erzählten Geschichte abhebt, sondern sie bilden vielmehr in ihrer Ästhetik der Distanz und Statik das Modell für die graphische Umsetzung auch von Erinnertem und Imaginiertem. Der Dokumentenfundus, aus dem Bunjevac für ihre Erzählung schöpft, geht gleichwohl über die Photographien der Familienmitglieder hinaus: Gezeigt werden die Postkarten und Briefe, in denen Bunjevac’ Eltern sich kennengelernt haben, bevor Sally zur Hochzeit nach Kanada ausgewandert ist, sowie die Briefe, die Sally an Peter geschickt hat, nachdem sie mit den zwei Kindern zurück nach Jugoslawien gezogen ist. In den Sequenzen, die die Familien- und Kindheitsgeschichte des Vaters mit der politischen Geschichte Jugoslawiens überblenden, finden sich Reproduktionen ikonischer Bildnisse politischer Führer: von Prinz Peter II., der nach dem Einmarsch der Achsenmächte durch einen Militärputsch an die Macht kam; von Ante Pavelic, der den faschistischen unabhängigen Staat Kroatien begründete; von Milan Nedic, der in Serbien eine Kollaborationsregierung bildete; vom königstreuen Tschetnik-General Draza Mihailovic, der die Achsenmächte wie die Kommunisten bekämpfte; von Josip Broz Tito, dem Anführer des Partisanen-Widerstands. Über Strecken nimmt der Comic in Seitenaufbau und Bild-Text-Verhältnis dabei den Gestaltungsstil von illustrierten Geschichtsbüchern auf. Die Deportation von Juden und Serben wird ebenso

11 „Postmemory is the cornerstone of the (auto)biographical construction of absent people, because the nucleus of these narratives is, in fact, not made up of the narrator’s memories but of the narrator’s memories of other people’s stories, usually supported by photography […].“ – Precup, Mihaela: „To Dream of Birds“. Autobiography, Photography, and Memory in Nina Bunjevac’s „August, 1977“ and Fatherland, in: Grace, Dominick/Hoffman, Eric (Hg.): The Canadian Alternative. Cartoonists, Comics, and Graphic Novels. Jackson 2018, S. 207– 223, hier S. 210. 12 „Photorealistic representation gives the same status to witnessed and unwitnessed events, thus legitimizing both the mother’s story and the daughter’s imagination“ – ebd., S. 220.

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schlaglichtartig dargestellt wie die brutalen Mordmethoden der Ustascha-Miliz im kroatischen Vernichtungslager Jasenovac (Abb. 1).

Abb. 1

Der endemische Hass auf die Serben wird von der Autorin weit zurückverfolgt, seine Ursprünge verlieren sich jedoch im Unbestimmten: In historisierenden Abbildungen wird von der Frühgeschichte der serbischen und kroatischen

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Volksgruppen erzählt bis hin zum mythischen Vielgötterglauben, den die beiden Gruppen einst geteilt hatten. Die Spaltung von römisch-katholischer und christlich-orthodoxer Kirche sowie einfallende Eroberer von Westen wie von Osten haben eine Kluft zwischen Kroaten und Serben entstehen lassen. Dennoch sind die Nationalitätenkonflikte in Jugoslawien keine jahrhundertealte Erblast, sondern Erscheinungen der Moderne. „Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht, den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen“, so die Erzählerin, „aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl belegter Konflikte zwischen den beiden, [sic!] fast identischen Gruppen zu sein.“13 Bunjevac bietet keine greifbare Erklärung an, schildert aber in kühler Prägnanz, wie die alltägliche häusliche und außeralltägliche kriegerische Gewalt ihrem Vater im Kindesalter zugesetzt hat und aus welchen Quellen sich später sein serbisch-nationalistischer Hochmut speiste, nachdem sein Vater von kroatischen Faschisten getötet und er selbst von den Kommunisten enttäuscht und als Dissident verurteilt worden war. Der Lebensweg des Vaters, den es von dem Dorf Gornji Bogic´evci in die Militärschule nach Split und nach seinem Gefängnisaufenthalt ins kanadische Thompson verschlagen hat, von wo aus er nach Rouyn-Noranda in Quebec gezogen ist, wird hierbei immer wieder in geographischen Karten verbildlicht. Ebenso in Karten dargestellt werden die Migrationsrouten der anderen Familienmitglieder, aber auch die Fluchtrouten vertriebener Volksgruppen, die Einmarschrouten von Kriegsparteien, die Grenzziehungen des immer wieder zerteilten Jugoslawiens oder auch die Anschlagsziele der Terrororganisation „Freiheit für das serbische Vaterland“, deren Mitglied Peter war. Auch hier handelt es sich um Visualisierungen historischer Prozesse, wie sie aus geschichtsdidaktischen Medien bekannt sind, aber auch aus Reiseerzählungen in Film- oder Buchform. Zum einen fordern sie einen distanzierten Blick auf die Geschehnisse ein, zum anderen entfalten sie eine Topographie sowohl der väterlichen Lebens- und Familiengeschichte als auch der Geschichte seiner Heimatnation und werden darin dem Doppelsinn des Buchtitels gerecht: Das Vaterland, das Bunjevac graphisch und erzählerisch ausbreitet, ist nicht nur Jugoslawien, sondern umfasst den gesamten geschichtlichen und geographischen Raum, in dem das Leben ihres Vaters situiert ist. In Kartenform tritt das Land folgerichtig stets nur als zerstückeltes in Erscheinung, als von Bewegungspfeilen durchgekreuztes oder als von Grenzlinien zerklüftetes dunkles Mosaik – ganz ähnlich dem Puzzle, als das der Schattenriss des unbekannten Vaters zu Beginn des zweiten Teils gezeigt wird (Abb. 2) und als das sich die aus disparaten Erinnerungen, Dokumenten und Imaginationen montierte Erzählung im Ganzen ausnimmt. 13 Bunjevac, Vaterland, S. 87.

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Abb. 2

Diese Montage von politischer und privater Geschichte bringt nicht alle Beweggründe des terroristischen Vaters ans Licht, aber weist die Entscheidung für den Terrorismus als Endpunkt einer Verkettung von traumatischen Gewalt-, Krankheits- und Verlusterfahrungen aus, die untrennbar von der Historie Jugoslawiens sind. Bunjevac zeichnet damit kein psychologisches Profil, sondern

Nachgezeichnete Geschichte

231

breitet eher eine Indiziensammlung aus, die der ruhig rhythmisierten Schilderung des väterlichen Schicksals einen zuweilen sachlichen Ton verleiht. Für Mihaela Precup ist die Darstellung des Vaters gar gänzlich „unsentimental“.14 Diesen Eindruck verstärkt die Art und Weise, in der der Tod des Vaters im ersten Teil – in der Erinnerung der Mutter – erzählt wird. Diese erhält ein Telegramm mit der Nachricht über den Tod ihres Ehemanns. Eine schwarz hinterlegte Doppelseite zeigt links den Briefumschlag sowie einen Zeitungsausschnitt mit der Pressemeldung, wonach Peter Bunjevac und zwei weitere Männer bei einer Garagenexplosion ums Leben gekommen seien; rechts ist das Porträt des Vaters mit seinen Lebensdaten zu sehen. Wieder sind es Dokumente, die die verbildlichte Erinnerung ablösen und ergänzen.

3.

Traum

Der Tod des Vaters wird jedoch auch in diesem ersten Teil des Comics nicht nur in dieser versachlichenden Darstellungsform erzählt. Neben der nachgezeichneten Erinnerung von Bunjevac’ Mutter und den reproduzierten Archivalien werden in mehreren ganzseitigen Bildern zwei Träume der Großmutter visualisiert, die gemäß einer tradierten Symbolbedeutung auf Peters Tod vorausweisen: In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet von Vögeln zu träumen, dass der Träumende Nachrichten erhalten wird. Von rohem Fleisch zu träumen wird oft als Vorzeichen des Todes angesehen. In der Nacht vom 27. auf den 28. August hatte meine Großmutter zwei Träume. Im ersten Traum sah sie das Töten von Krähen auf einer Stromleitung. Im zweiten Traum sah sie einen Mann ein Schwein schlachten. Obwohl sie das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, ahnte sie, dass es das meines Vaters war.15

Die Vogelsymbolik durchzieht das gesamte Werk, jedoch ohne dass diese traumdeuterische Interpretation auf alle diese Bilder übertragbar wäre: Die letzte Seite der Erzählung zeigt eine Vogelsilhouette an einem Fenster, die jedoch eher an eine friedvolle Taube erinnert. Am Anfang der Erzählung wiederum sieht man auf einer Ganzseite drei Eier in einem Nest – ein Bild, das später wiederholt wird und Nina Bunjevac und ihre zwei Geschwister repräsentieren könnte. Diese Symbolbilder werden zwar nicht entschlüsselt, aber durch ihre exponierte Stellung als bedeutungsvoll gekennzeichnet. Die erste Doppelseite des Werks (Abb. 3) führt modellartig die verschiedenen Bildtypen ein, aus denen die weitere Erzählung zusammengesetzt ist, und stellt eine Beziehung zwischen ihnen her: Links zu sehen ist das Symbolbild der drei 14 Precup, „To Dream of Birds“, S. 216. 15 Bunjevac, Vaterland, S. 50.

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Eier im Nest. Auf der rechten Seite sind vier Panels abgebildet: Das erste zeigt den Hausflur von Bunjevac’ Wohnung – ein narratives Bild, das die erzählte Welt abbildet. Im zweiten Panel ist ein (reproduziertes) dokumentarisches Bild zu sehen. Im dritten Panel wird das dokumentarische Bild zu einem diegetischen Bild, das seinerseits der erzählten Welt angehört (so wie im weiteren Verlauf Photographien, Briefe und Zeitungstexte als Teil des erzählten Erinnerungs- und Recherchevorgangs ausgewiesen werden). Im vierten Panel schließlich ist aus einer Point-of-View-Perspektive der Zeichenprozess der Autorin dargestellt, was zum einen die Unmöglichkeit eines Unmittelbarkeitsanspruchs im (graphischen) Erzählen herausstellt, zum anderen eine momenthafte interne Fokalisierung bedeutet, die immer dann wiederzukehren scheint, wenn vor dem Leser die dokumentarischen Bilder ausgebreitet werden, wie sie der Zeichner-Autorin selbst in ihrem Rechercheprozess vor Augen getreten sind.16

Abb. 3

Diese Mitsicht-Perspektive wird erstmals wieder eingenommen, als Bunjevac ihre Kindheitsfotos aus Jugoslawien betrachtet, wohin die Mutter mit ihr und der Schwester vor dem Vater geflüchtet war. Das erste Bild der Sequenz zeigt die Hände der Autorin, wie sie eine Photographie des jungen Geschwisterpaars aus einem Briefumschlag nimmt. Darauf folgt – einem Fotoalbum gleich – eine Reihe ganzseitiger, jeweils umrahmter und datierter Fotoreproduktionen. Nach dem 16 Insofern gibt es an vielen Stellen tatsächlich eine interne Fokalisierung, ein „Ich-Sagen“ ohne „Ich-Figur“.

Nachgezeichnete Geschichte

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Bild, das eine Aufnahme aus dem Frühling 1977 zeigt, ist plötzlich in der rechten Hälfte der Doppelseite zu sehen, wie Bunjevac’ Hand eine Seite umblättert und sich dahinter ein neues gerahmtes und datiertes Bild auftut, das die Raben auf der Stromleitung zeigt, den Traum der Großmutter (Abb. 4). Hier kollabieren die Bildtypen: Die blätternde Hand der Autorin ist ein narratives Bild aus der erzählten Welt; auf der aufgeblätterten Seite ist scheinbar ein weiteres dokumentarisches Bild zu sehen; tatsächlich ist es jedoch ein Symbolbild, das die Nachricht vom Tod des Vaters anzeigt. Der Schrecken des Alptraumbilds wird auf den folgenden Seiten symbolisch gelindert durch die Wiederholung des Vogelbilds in einer Kinderzeichnung, die die kleine Nina zusammen mit ihrem Großvater am Küchentisch anfertigt.17

Abb. 4

4.

Wiederholung

Die gezeichnete Wiederholung als Durcharbeitung des Familientraumas ist mithin für das ganze Werk charakteristisch. Fast sämtliche Bilder wiederholen Gedächtnisinhalte, historische Geschehnisse und archivarische Dokumente. Besonders augenfällig wird die Technik der Wiederholung allerdings im zweiten 17 Bunjevac, Vaterland, S. 52.

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Teil, der die Lebensgeschichte des Vaters rekonstruiert. Zum Ende der Geschichte hin holt die Nacherzählung die Erinnerungen der Mutter aus dem ersten Teil ein: Die erste gescheiterte Trennung, das Misstrauen der Mutter, ihre Angst vor einem Bombenanschlag, das Verrammeln der Kinderzimmer, schließlich die endgültige Trennung vom Vater und die Abreise zurück nach Jugoslawien, all dies wird in den exakt selben Bildern erzählt wie im ersten Teil.18 Waren die Bilder im ersten Teil noch Ausdrucksmittel der mütterlichen Perspektive, sind sie im zweiten Teil in ein historisches Davor und Danach eingebettet und werden zu Verbildlichungen der väterlichen Biographie. Dies ist eine Anerkennung der mütterlichen Erinnerungen, die gleichberechtigt in die quellengestützte, historisch recherchierte Geschichte eingepflegt werden. Doch zugleich werden die Bildfolgen hierdurch in ihrem Sinn verändert, weil der Vater – anders als zu Anfang – in der Wiederholung und den darauffolgenden Sequenzen nicht mehr als stummer, aus unbekannten Gründen gefährlicher Dritter erscheint, sondern als nuancierte, handelnde Person mit eigener Geschichte, als verzweifelter Mann, der die Trennung von der Familie nicht leicht verschmerzt. Trotz der graphischen Übereinstimmung sind die Sequenzen daher nicht identisch: Zwar weisen sie das Zusammenleben und die anschließende Trennung als gemeinsame Geschichte von Mutter und Vater aus, betonen aber gerade durch den Kontext der Wiederholung, dass dasselbe Ereignis – einmal von der Mutter erinnert, das andere Mal von der Tochter Nina in einem historischen und biographischen Zusammenhang rekonstruiert – neu verstanden werden kann.19 Nachdem Frau und Töchter ihn verlassen haben, verfällt Peter der Trunksucht und schreibt verzweifelte Briefe an seine Familie, die er zur Rückkehr bewegen will: „Ich würde alles tun, was Du willst, aber ich stecke zu tief in dieser Scheiße und kann da nicht mehr heraus.“20 Die Erzählerstimme erklärt: „Ein Verlassen der Organisation hätte tödliche Konsequenzen – er hat schon zu viel angestellt, und er weiß zu viel … Die andere Möglichkeit wäre die Rückkehr nach Jugoslawien, aber das würde für ihn Gefängnis wegen Desertion bedeuten, und das will er nicht noch einmal durchmachen müssen.“21 In dieser scheinbar ausweg18 Die Seiten 17 und 135, 16 und 136 sowie 22 und 137 sind bis auf den (leicht) veränderten Erzählertext jeweils identisch. 19 Der Deutung von Deborah James, die die Erinnerung der Mutter ins Zentrum stellt, kann ich mich nicht anschließen. Sie behauptet, der Comic exploriere „the role of the female witness and testimony“ und verwende einen „personal narrative for questioning official memory“. Um ihre Behauptung zu stützen, muss sie die Rolle der historischen und biographischen Recherche über den Vater vernachlässigen, die das Zeugnis der Mutter zwar keineswegs revidiert, aber ergänzt und einer neuen Interpretation öffnet. Dazu James, Deborah: Drawn out of the Gutters: Nina Bunjevac’s Fatherland, a Collaborative Memory, in: Feminist Media Studies 15/2015, S. 527–532, hier S. 531. 20 Bunjevac, Vaterland, S. 138. 21 Ebd.

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losen Lage schneidet er sich die Pulsadern auf und schreibt mit dem Blut die Namen seiner Kinder an die Wand. Der Selbstmordversuch scheitert jedoch und er begibt sich auf die letzte Mission seiner Terrorzelle: Geplant ist ein Vergeltungsschlag für die Ermordung des serbischen Exil-Journalisten Dragisˇa Kasˇikovic´ durch Titos Geheimpolizei. Die vorzeitige, tödliche Explosion bei der Vorbereitung des Anschlags ist nur von außen zu sehen: Die drei Mitglieder der Einheit betreten die Garage, ein weiteres Panel zeigt die verschlossene Garage von außen, das dritte zeigt die geräuschlos berstende Tür und dahinter einen verglühenden Leib inmitten der Explosionswolke. „The father vanishes quietly, perhaps because he was never really there to begin with“, kommentiert Mihaela Precup diese Sequenz, die sie für einen weiteren Ausdruck des charakteristischen „lack of affect“ gegenüber der Vaterfigur hält.22 Gerade die distanzierte Darstellung – der Außenblick auf die Garage, der die Geschehnisse im Inneren verbirgt – eröffnet jedoch auch die Möglichkeit einer intimen und empathischen Deutung des Vorgangs. Indem Bunjevac gerade nicht verbildlicht, wie es zu dem mutmaßlichen Unfall kommt oder wer genau den fatalen Handgriff getätigt hat, der zur Detonation führte, lässt sie die Deutung zu, dass ihr Vater möglicherweise absichtsvoll die Explosion herbeigeführt hat. Gerade die enge Abfolge, in der die innerliche Lossagung von der Terrorgruppe, der er nur noch aus Angst angehört, sowie sein Selbstmordversuch und schließlich sein Bombentod erzählt werden, lässt es möglich erscheinen, dass Peter Bunjevac – zu diesem Zeitpunkt ein „nervliches Wrack“23– seine Selbstmordabsicht doch noch in die Tat umgesetzt hat und vielleicht sogar aus Überzeugung seine zwei Terrorkomplizen mit in den Tod gerissen hat, sodass der geplante Anschlag auf das jugoslawische Konsulat in Jugoslawien niemals stattfinden konnte und die Leben Unschuldiger gerettet wurden.24 Bunjevac legt es dennoch nicht auf Versöhnung an und gewährt weniger dem Vater eine Entlastung als dem Leser einen Einblick in die jugoslawische Geschichte und die Umstände, unter denen ein gewöhnlicher Mann zum Terroristen wurde. Ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Leben und Tod ihres Vaters begann sie nach der Erfahrung der neuerlichen Kriege im ehemaligen Jugoslawien und einer Reise nach Serbien in den 2000er-Jahren, wo sie Zeugin neofaschistischer Umtriebe wurde. Die antikommunistischen und ethnonationalistischen Ideologien, die im abermals zerschlagenen Jugoslawien Auf22 Precup, „To Dream of Birds“, S. 216. 23 Bunjevac, Vaterland, S. 140. 24 Auch Mihaela Precup zieht diese Möglichkeit in Betracht, neigt jedoch eher dazu, das Charakteristikum der Darstellung des Vaters in der evidenzbasierten, unsentimentalen Betrachtung zu sehen. Dazu Precup, „To Dream of Birds“, S. 215f. In einem früheren Comic von Bunjevac, der eine Art Vorstudie zu Vaterland bildet, ist diese Deutungsmöglichkeit noch ausgeschlossen worden. Vgl. Bunjevac, Nina: Heartless. Wolfville 2012.

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trieb erhielten, waren ihr ein Anlass, den ursprünglich für ein jugoslawisches Publikum gedachten Comic zu produzieren.25 Indem sie in „Detektivarbeit“26 die Puzzleteile der väterlichen und der jugoslawischen Geschichte zusammensetzt und so ein „unsentimentales“, aber vielschichtiges Porträt des Terroristen Peter Bunjevac zeichnet, gewinnt ihr Werk gleichwohl eine über den nationalen Kontext hinaus vernehmbare universale Qualität. Anstatt Verständnis für ihren Vater zu heischen, dient Bunjevac mit ihrem Comic dem Verstehen.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Bunjevac, Nina: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin 2015, S. 86. © Nina Bunjevac 2014, first published as FATHERLAND by Jonathan Cape. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2015. Abb. 2: Bunjevac, Nina: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin 2015, S. 75. © Nina Bunjevac 2014, first published as FATHERLAND by Jonathan Cape. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2015. Abb. 3: Bunjevac, Nina: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin 2015, S. 6f. © Nina Bunjevac 2014, first published as FATHERLAND by Jonathan Cape. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2015. Abb. 4: Bunjevac, Nina: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin 2015, S. 46f. © Nina Bunjevac 2014, first published as FATHERLAND by Jonathan Cape. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2015.

25 Vgl. Johnston, Aidan: We Spoke With the Artist Who Made a Graphic Novel Memoir About Her Father’s Violent Past As a Serbian Nationalist. 2015; https://www.vice.com/en/article /7bmmwg/we-spoke-with-the-artist-who-made-a-graphic-novel-memoir-about-her-fathersviolent-past-as-a-serbian-nationalist [24. 05. 2021]; Gravett, Paul: Nina Bunjevac: Making Comics & Making Peace. 2013. http://paulgravett.com/articles/article/nina_bunjevac [24. 05. 2021]. 26 o. A.: In ‚Fatherland,‘ A Daughter Outlines Her Dad’s Radicalization.

Jonas Engelmann (Wiesbaden)

Luftmenschen in Odessa: Joann Sfars Osteuropa

„Ihr könnt nichts dafür“, erklärt der Vampir Jonas russischen Bauern, die gerade eine jüdische Familie ermordet haben, „es ist der gesellschaftliche Hintergrund. Und vor allem ist es wieder mal meine Schuld.“1 Seit der jüdische Anarchist Jonas im Ersten Weltkrieg von deutschen Soldaten in der Nähe von Odessa massakriert wurde, muss er als komplexbeladener Vampir durch das postrevolutionäre Russland wandern. Er wird zum Rächer antisemitischer Pogrome, doch die Scham, gleichzeitig ein mordender Vampir zu sein, bleibt bestehen. Im New York der Gegenwart will er sich daher von der Psychoanalytikerin Rebecca Streisand therapieren lassen. Joann Sfar spielt in seinem Roman-Debüt Der Ewige mit historischen Bezügen und phantastischen Welten, bevölkert von Geistern und Vampiren, die sich jedoch mit den gleichen Problemen herumzuschlagen haben wie die Juden in der realen Welt, mit Antisemitismus, Ausgrenzung und Hass. Die Protagonisten in Der Ewige, angefüllt mit Komplexen und Problemen, Ängsten und Hoffnungen, suchen Freundschaft und Geborgenheit in einer düsteren Welt, und finden doch nur kleine Fluchten aus der Absurdität des Lebens. Solche Charaktere voller Selbstzweifel und Ängsten zeichnen auch die Comics des französischen Zeichners aus. Und noch eine weitere Gemeinsamkeit haben die Protagonisten der Comics – wie auch die Comics selbst – mit dem depressiven Vampir Jonas: Sie bewegen sich zwischen den Kulturen, transportieren kulturelles Wissen aus Osteuropa in den Westen des Kontinents, nach Nordafrika und nach Israel. Migrationsbewegungen sind der rote Faden aller Werke Joann Sfars, wie auch die mit diesen Bewegungen verbundenen individuellen wie gesellschaftlichen Probleme: Die Angst der Mehrheitsgesellschaft vor dem Fremden sowie Alltagsrassismus und Antisemitismus gehören für die Figuren zu ihrem Alltag. Vor diesem Hintergrund soll dieser Artikel zweierlei behandeln: einerseits die Darstellung des jüdischen Osteuropas für ein westeuropäisches Publikum in den Werken Sfars und andererseits die Überführung osteuropäischer Themen und 1 Sfar, Joann: Der Ewige. Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Köln 2015, S. 191.

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Motive in westliche Kontexte. In beiden Fällen ist es die Intention des Zeichners, mit seinen Arbeiten auch einen Beitrag gegen antisemitische Stereotype zu leisten und die Leser für die jüdische Kultur zu sensibilisieren. Im Nachwort zum ersten Band seiner Klezmer-Reihe schreibt er: „Wenn ich heute Klezmer zeichne, dann zweifellos aus dem Grund, dass ich nach Auschwitz geboren wurde, und dass ich mit dieser beunruhigenden Vorstellung aufgewachsen bin: die humanistischen Ideale und die republikanischen Utopien sind jederzeit widerrufbar.“2

1.

Joann Sfars Judentum

„Die Juden ließen sich derart lange beißen, verfolgen und anbellen, dass sie letztendlich die Katzen den Hunden vorzogen“, weiß die Katze des Rabbiners im gleichnamigen Comic.3 Nicht nur in diesem Werk zeigt sich Joann Sfars jüdischer Background, ebenso hat er Künstler wie Jules Pascin oder Marc Chagall porträtiert; Golems, Dibbuks und andere Figuren der jüdischen Kulturgeschichte bevölkern seine Comic-Welten. Seine Utopie sei es, dass jüdische Stimmen in der Kunst sprechen, die nicht nur von Juden verstanden werden, hat er einmal erklärt4, und mit jedem seiner Werke arbeitet er an der Verwirklichung dieser Utopie. Die jüdisch-algerische Lebenswelt seiner wohl bekanntesten Comic-Reihe Die Katze des Rabbiners ist geprägt von philosophischen Gesprächen über das Wort Gottes und die Erschaffung der Welt, über Wissenschaft und Religion, Rassismus und Zionismus. Während Algerien Juden im frühen 20. Jahrhundert ein Umfeld für philosophische Zerstreuung bot, dominierte in Osteuropa der Aspekt der Ausgrenzung. Als brutales Spiegelbild der Katze des Rabbiners hat Sfar die im Zarenreich angesiedelte Reihe Klezmer geschaffen – der Titel Klezmer bezieht sich dabei einerseits auf die aus dem aschkenasischen Judentum stammende Volksmusiktradition und spielt andererseits mit einem kulturellen Klischee – ein Aspekt, der in der Analyse noch eine wichtige Rolle spielen wird. Die beiden Reihen Die Katze des Rabbiners und Klezmer bilden auch die Erfahrungswelt des Künstlers selbst ab, dessen Familie einerseits aus Nordafrika und andererseits aus der heutigen Ukraine stammt. Joann Sfar ist weniger interessiert an der realistischen Darstellung jüdischer Lebenswelten der Gegenwart als vielmehr an der Frage, wie die Geschichte des europäischen Judentums Fragen der Gegenwart zu beantworten hilft: Fragen 2 Sfar, Joann: Klezmer I. Die Eroberung des Ostens. Aus dem Französischen von Jana Lottenburger. Berlin 2007, S. IX. 3 Sfar, Joann: Die Katze des Rabbiners. Sammelband 1. Aus dem Französischen von David Permantier. Berlin 2014, S. 5. 4 Sfar, Klezmer I, S. XII.

Luftmenschen in Odessa: Joann Sfars Osteuropa

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nach den Ursachen für Antisemitismus, Ausgrenzung und Hass. Auch in seinen historischen Comics wird weniger ein realistisches Bild jüdischen Lebens aufgerufen, dennoch gelingt es Sfar, die Realitäten jüdischer Lebenswelten treffend zu umreißen. So sind etwa die Schtetl5 – jüdische Siedlungen und Kleinstädte Osteuropas – sowie die osteuropäischen jüdischen Zentren wie Odessa bei Sfar bevölkert von „Luftmenschen“ – schwebenden Juden, die in ihrem Schweben zweierlei zum Ausdruck bringen: einerseits die antisemitische Realität, die Juden förmlich den Boden unter den Füßen wegzog, andererseits der Versuch, in der Kunst das Schweben und das Nicht-Verwurzelte als positiven Gegenentwurf zu einem solchen Denken zu setzen.

2.

Osteuropa in den Comics von Sfar

„Ich kann euch alle retten, wenn ihr mir Vertrauen schenkt! Ihr müsst einer nach dem anderen in mein Buch eingehen, um vor den Bösewichten in Sicherheit zu sein“, warnt Marc Chagall die anderen Schtetl-Bewohner. „Ohne mein Buch werden sie euch auslöschen. Kommt alle: die Kupplerin, der Rabbi, seine Schüler, Geflügel, Mädchen, Mütter und Väter! Violinisten, Klarinettisten, Beschneider, Klatschweiber und Luftmenschen: Hinein mit euch!“6 Sie alle verschwinden im Skizzenbuch Chagalls. Als nur noch er alleine einem antisemitischen Mob gegenübersteht, der das Schtetl niederbrennen will, schwingt Chagall sich mit dem Buch unter dem Arm in den Himmel auf und schwebt nach Paris. Mit dieser Utopie endet Joann Sfars Graphic Novel Chagall in Russland über jüdisches Leben und Überleben in Osteuropa im frühen 20. Jahrhundert. Doch weniger Chagall, an dessen Biografie der Comic nur lose angelehnt ist, sondern vielmehr der 1971 in Nizza geborene jüdische Comic-Zeichner Sfar selbst scheint diese Utopie mit jedem Baustein seines Werkes wieder und wieder umsetzen zu wollen: die Errettung der vom deutschen Nationalsozialismus zerstörten europäischjüdischen Lebenswelt durch ihre Überführung in den Comic. Es mag zunächst wie ein Widerspruch erscheinen, dass Sfar in seinen Comics zur Errettung jüdischer Geschichte in der Kunst jüdische Stereotype einsetzt. Paula Wojcik hat für die Literaturgeschichte Strategien der Demontage des Antisemitismus herausgearbeitet, in denen das Spiel mit Stereotypen im Mittelpunkt steht. So sieht sie etwa in der Groteske eine Strategie, Brüche zu erzeugen, die ein Hinterfragen von Stereotypen ermöglichen: 5 Hoffman, Eva: Shtetl: History of a Small Town and an Extinguished World. London 2009 [1998]; Petrovsky-Shtern, Yohanan: The Golden Age Shtetl: A New History of Jewish Life in East Europe. Princeton 2014. 6 Sfar, Joann: Chagall in Russland. Aus dem Französischen von Lorenz Hatt. Berlin 2012, S. 117.

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Phantasmen jüdischer Andersartigkeit oder jüdischer Macht, die bis heute in philooder antisemitischer Besetzung durch Presse, Literatur oder Politik kursieren, werden in den Romanen mit grotesken Zügen versehen und ihrerseits der Lächerlichkeit preisgegeben, einem Lachen, das jedoch mit dem Wissen um die Tragweite der Thematik unbehaglich bleiben muss.7

Auch Joann Sfar spielt mit der grotesken Überzeichnung seiner Figuren, so ist in seiner Reihe Klezmer jeder seiner Protagonisten mit einem kulturgeschichtlichen antisemitischen Stereotyp belegt: Es gibt die „schöne Jüdin“, den „dämonischen Juden“, den „schlauen Juden“ und den „effeminierten“ Juden. Diese Stereotype werden bei Sfar sowohl über Äußerlichkeiten aufgerufen, die aus der Geschichte antisemitischer Karikaturen bekannt sind, als auch über aus der Literaturgeschichte bekannte vorgebliche Charaktereigenschaften. Sfar ruft diese Stereotype auf, um sie als Projektionen vorzuführen: Die Protagonisten beginnen über diese Projektionen zu reflektieren und zu versuchen, sie abzuschütteln; der Zeichner erzeugt Brüche in den Stereotypen, wovon ausgehend sie dekonstruiert werden können bzw. textimmanent dekonstruiert werden. Am Beispiel zweier solcher Stereotype soll die Strategie von Joann Sfar verdeutlicht werden: am Stereotyp der „schönen Jüdin“ sowie am Bild des „dämonischen Juden“, des „Blutsaugers“. In Klezmer treffen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, dem damaligen Zarenreich unter Nikolaus II., der jüdische Klarinettist Noe Davidovitsch, dessen Orchester von einer konkurrierenden Klezmerband umgebracht wurde, und die Sängerin Chava, die vor der Enge ihres Heimatdorfes flieht, aufeinander und schlagen sich gemeinsam nach Odessa durch. Gleichzeitig wird der junge Jaacov aus seiner Jeschiwa geworfen, weil er dem Rabbi den Mantel gestohlen hat und trifft auf seiner Wanderschaft, während der er sich von Gott lossagt, auf den strenggläubigen Juden Vincenzo. Gemeinsam retten sie dem Rom Tchokola das Leben, der von Bauern an einem Baum aufgeknüpft wurde, und landen ebenfalls in Odessa. Beide Gruppen sind auf ihrem Weg permanent bedroht durch den Argwohn der bäuerlichen Landbevölkerung, deren Antisemitismus sich oft in tätlichen Angriffen äußert. In Odessa treffen die beiden Personengruppen aufeinander, musizieren gemeinsam und werden für die Geburtstagsfeier der alten jüdischen Dame Scylla gebucht. Im zweiten Band wird im Wesentlichen diese eine Nacht der Feier beschrieben, während im dritten Band der Reihe die Musiker im Haus der nach Palästina ausgewanderten Scylla schließlich eine „autonome Künstlerrepublik“ gründen und mit dem organisierten Verbrechen von Odessa Bekanntschaft machen. Im Verlaufe der Alben kann man eine zunehmende Virtuosität Sfars im Umgang mit den Aquarellfarben erkennen – eine zunehmende Leichtigkeit nicht 7 Wojcik, Paula: Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2013, S. 216f.

Luftmenschen in Odessa: Joann Sfars Osteuropa

241

nur der Inhalte, sondern auch der Ästhetik, die begleitet wird von der Entwicklung der Protagonisten, die sich mehr und mehr von den gesellschaftlichen Zwängen lösen, von den auf sie als Juden projizierten Bildern und Stereotypen. Mit dem vierten Band hat Sfar ein weiteres Level der Loslösung der Zwänge erprobt und bricht völlig mit den Erwartungen an die Narration im Comic, indem er kaum mehr Comic-Panels zeichnet, sondern das Album vielmehr an einem Skizzenbuch orientiert, das aber dennoch die Geschichte der fünf Musiker weitererzählt. Diese Auflösung der Comic-Form – und auch die in diesem vierten Band vollzogene Wendung von Aquarellfarben hin zu Buntstiften – ist nur die konsequente Weiterführung der in Klezmer verhandelten Versuche der Protagonisten, Fluchtwege aus den auf sie projizierten Klischees zu finden. Im abschließenden fünften Band kehrt Sfar zum klassischen Erzählen zurück – wie auch in eine klassischere Comic-Form. Allerdings verlagert sich der Handlungsort: Die fünf Musiker brechen in Richtung Kischinew – heute Hauptstadt der Republik Moldau – auf, wo ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung stattgefunden hat. Sie sind nicht als Musiker unterwegs, sondern um Waffen dorthin zu transportieren. Der Comic endet mit ihrer Ankunft in Kischinew. In Klezmer erzählt Sfar vom alltäglichen Antisemitismus in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die spätere Vernichtung mit vorbereitet hat, von der Entstehung des Zionismus im zaristischen Russland, von Verfolgung und Unterdrückung der Juden und Roma, der Bedeutung von Musik damals wie heute und der zentralen Stellung der Stadt Odessa für die Geschichte des europäischen Judentums. In Odessa lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 140.000 Juden, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Damit war die Stadt am Schwarzen Meer nach Warschau die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Zarenreich.8 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war Odessa Schauplatz zahlreicher antijüdischer Pogrome – ein seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch im deutschen Sprachraum gebräuchliches russisches Wort, das so viel wie „Verwüstung“, „Zerstörung“ oder „Krawall“ bedeutet. Bei dem verheerendsten Pogrom dieser Jahre kamen 1905 allein 300 Juden ums Leben.9 Daher ist es wenig verwunderlich, dass die Stadt nicht nur das osteuropäische Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung, sondern auch ein wichtiger Ort des politischen Zionismus wurde, Jahre bevor Theodor Herzl seine ersten Schriften verfasste. In dieser Vielschichtigkeit wird die Hafenund Handelsstadt Odessa, die auch die am stärksten von der westlichen Kultur beeinflusste Stadt des Zarenreichs war, für die Protagonisten in Klezmer zu 8 Vgl. Brenner, Michael: Geschichte des Zionismus. München 22005, S. 44. 9 Vgl. Dohrn, Verena: In Erwartung eines literarischen Messias – der russisch-jüdische Schriftsteller Isaak Babel (1894–1940), in: Kosta, Peter/Meyer, Holt/Drubek-Meyer, Natascha (Hg.): Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche. Wiesbaden 1999, S. 184f.

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einem nahezu utopischen Ort, auch wenn Sfar sich angesichts der Geschichte die Frage stellen muss: „Kann man eine Heimat besingen, die nicht mehr existiert?“ Er gibt sich selbst die Antwort, wenn er schreibt: „Wenn man sich bewusst macht, dass diese Welt nicht mehr existiert, kann man den Klezmerliedern zweifellos einen Wert geben, der über Folklore hinausgeht.“10

3.

Stereotype

Zygmunt Bauman beschreibt die Vertreter des Diaspora-Judentums als „universale Fremde“, da es kein Land gab, das sie als ihres hätten beanspruchen können: „Die Juden waren die ‚verkörperte Fremdheit‘, die ewigen Wanderer, der Inbegriff der Nicht-Territorialität, das Wesen der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit […].“11 Der vermeintlich heimatlose Jude, der „ewige Jude“, stellt nach Bauman eine Bedrohung der sich formierenden Nationalstaaten dar: „Auf dem Kontinent der Nationen und Nationalismen erinnerten nur noch die Juden an die Relativität der Nationalität und der äußeren Grenzen des Nationalismus […].“12 Das Bild des Juden als „Fremdkörper“ innerhalb der Mehrheitsgesellschaft prägt auch den christlichen Antijudaismus: Juden, die aus dem Ghetto heraus die Gesellschaft bedrohen, sei es durch Ritualmorde, als Brunnenvergifter oder aber als Überträger der Pest.13 Sprichwort, Märchen, politische Karikatur, literarische Verarbeitung, politische Ausgrenzung und Ghettoisierung bedingen sich gegenseitig und führten etwa Theodor Herzl 1896 schließlich in seiner Auseinandersetzung mit dem osteuropäischen Antisemitismus zur Formulierung eines politischen Zionismus in seinem Werk Der Judenstaat: „Wer sich davon Rechenschaft geben will, braucht nur dahin zu horchen, wo das Volk sich aufrichtig und einfach äußert: Das Märchen und das Sprichwort sind antisemitisch.“14 Die literarischen „Judenbilder“ boten den Autoren, die sie in abwertender Absicht benutzten, eine arbeitsökonomische Erleichterung, wie Martin Gubser schreibt: „Aufgrund des beim Rezipienten voraussetzbaren Vorverständnisses müssen sie nicht mehr bis ins charakterliche Detail beschrieben werden – eine Nennung des Stereotyps reicht meist schon aus, um die entsprechenden Kon10 Sfar, Klezmer I, S. V. 11 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Hamburg 2005, S. 140. 12 Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 140. 13 Vgl. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 16ff., S. 194ff., S. 200f. 14 Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Zürich 2010, S. 16.

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notationen hervorzurufen.“15 Genau diese arbeitsökonomische Erleichterung nutzt auch Sfar für sich aus: Er belegt seine Figuren mit stereotypen Zuschreibungen, die ein Assoziationsfeld für den Leser erst scheinbar öffnen, um es dann regelmäßig zum Einsturz zu bringen.

3.1

Die „schöne Jüdin“

In seinem Text Jud Süß schreibt Wilhelm Hauff: „Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunkeln Augen, beschattet von langen, seidenen Wimpern, diese kühn gewölbten, glänzendschwarzen Brauen und die dunkeln Locken […].“16 Liest man eine solche Beschreibung und gleicht sie mit der zeichnerischen Umsetzung von Joann Sfars Figur Chava ab, so entdeckt man in dieser Figur eine Vielzahl jener der „schönen Jüdin“ zugeschriebenen optischen Attribute (siehe Abb. 1). Sie verkörpert die begehrenswerte körperliche Schönheit wie auch die exotische Fremdheit, die Elvira Grözinger als charakteristisch für die „schöne Jüdin“ herausgearbeitet hat.17 In ihrer Fremdheit ist die „schöne Jüdin“ mal Heldin, mal Opfer, mal Verführerin. Heldin, so Florian Krobb, könne die „schöne Jüdin“ jedoch nur werden, wenn sie ihr Jüdischsein hinter sich lasse – beharre sie auf ihrer Religion, so sei sie zum Scheitern verurteilt.18 Auch sind die „schönen Jüdinnen“ „kaum je eigenständige, mit entsprechend individuellen Zügen ausgestattete Figuren, sondern stets mehr oder weniger ausgeschmückte Zitationen des als bekannt voraussetzbaren Klischees“.19 Die antisemitische Funktionalisierung des Klischees in der Reduktion einer Figur auf ihr Jüdischsein wird noch verstärkt durch die oftmals an diesen Motivkomplex geknüpfte Intelligenz der „schönen Jüdin“.20 Diese Figur stellt somit in mehrfacher Hinsicht eine Bedrohung der männlichen Position in der Gesellschaft dar: Sie ist die intelligente Verführerin, die die Macht ihrer Schönheit einzusetzen weiß.21

15 Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998, S. 103. 16 Hauff, Wilhelm: Jud Süß, in: ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2. Märchen, Novellen. Nach den Originaldrucken und Handschriften. München 1970, S. 485. 17 Vgl. Grözinger, Elvira: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin/Wien 2003, S. 7. 18 Vgl. Krobb, Florian: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993, S. 250. 19 Gubser, Literarischer Antisemitismus, S. 119. 20 Krobb, Die schöne Jüdin, S. 257. 21 Vgl. Grözinger, Die schöne Jüdin, S. 8.

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Abb. 1

Joann Sfar übernimmt das antisemitisch geprägte Bild vordergründig, zeichnet seine „schöne Jüdin“ Chava nach den literarischen Vorlagen der exotischen, orientalischen, jüdischen Femme fatale.22 Auch spielt Chava mit ihren sexuellen Reizen, setzt ihre Sexualität zur Schaffung von emotionalen Abhängigkeitsverhältnissen ein und verwirrt mit ihrer Schönheit Juden wie Nichtjuden.

22 Auch seine jüdische Protagonistin Zlabya aus Die Katze des Rabbiners, die äußerlich Chava sehr ähnlich ist, hat Sfar an diesem Stereotyp orientiert. Vgl. Sfar, Die Katze des Rabbiners.

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Ausgangspunkte sind somit das Klischee, die damit verbundenen Attribute und die vordergründige Affirmation dieser Zuschreibungen. In der Figur Chava jedoch transzendiert Sfar diese Zuschreibungen und macht aus dem antisemitischen Motiv der als selbst verschuldetes Opfer angelegten Figur eine den eigenen Zuschreibungen entfliehende „schöne Jüdin“. Chava verlässt ihr Dorf und ihre Familie, um mit Noe Davidovitsch nach Odessa zu gehen. Als Grund für diesen Bruch mit der Vergangenheit verweist sie auf die damit verbundenen und an sie als jüdische Frau gerichteten Zwänge und Erwartungen.23 Sie verlässt somit eigenständig den Rahmen, in dem sie solchen Zuschreibungen – hier zunächst durch die eigene jüdische Dorfgemeinschaft – ausgesetzt wird und ist, anders als die traditionellen literarischen Figuren, von Beginn an handelnde Person, die zudem über die eigenen Zwänge reflektiert. Auch ist sich Chava bewusst über die Rolle, die sie spielt, bzw. die Wirkung, die sie hat. Sie inszeniert ihre Rolle als „schöne Jüdin“, ist sich der auf sie gerichteten Projektionen bewusst. In Odessa wird sie von Vertretern einer russischen Delegation für Volkskunst eingeladen, für diese zu singen. Vor ihrem Auftritt schminkt sie sich und probiert verschiedene „Rollen“ aus, in denen sie ihren Auftritt vollziehen könnte, um der Delegation eine möglichst hohe Gage zu entlocken. Chava erfüllt schließlich optisch ihre Rolle als exotische Verführerin, scheitert jedoch daran, dass die Delegation lediglich daran interessiert scheint, die eigenen Erwartungen an die „schöne Jüdin“, die „jüdische Kultur“ sowie an die „jüdische Habgier“ bestätigt zu bekommen. Das Judentum ist, wie Sfar zeigt, der Willkür der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Diese, hier verkörpert von der Delegation, verweigert Juden jeglichen Raum und jegliche Selbstbestimmung, die über das von ihnen definierte Maß hinausreicht. Verweigern sich die Juden den Erwartungen, so werden die antisemitischen Projektionen aktiviert.24 Im Aufgreifen des Klischees der „schönen Jüdin“ zeigt Sfar somit zum einen die Ausweglosigkeit der jüdischen Protagonisten, innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zum anderen wird das Beharren Chavas auf Autonomie ihr von der Mehrheitsgesellschaft zum Vorwurf gemacht. Das literarisch tradierte zwiespältige Bild der „schönen Jüdin“, die einerseits zum Schicksal der anderen wird, gleichzeitig aber in ihrem Schicksal gefangen bleibt25, nimmt Chava für sich nicht an. Zwar wird sie in Bezug zur nichtjüdischen Umwelt gesetzt, wie es für das literarische Motiv typisch ist, der „ahasverischen Ausweglosigkeit“26 im Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft ergibt sie sich jedoch nicht. Chava ist ein die eigene Rolle und das eigene Ste23 Vgl. Sfar, Klezmer I, S. 13f. 24 Sfar, Joann: Klezmer 3. Diebe, alles Diebe. Aus dem Französischen von Jana Lottenburger. Berlin 2011, S. 88. 25 Vgl. Krobb, Die schöne Jüdin, S. 250. 26 Krobb, Die schöne Jüdin, S. 255.

246

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reotyp reflektierender Charakter, der – bedenkt man Krobbs Deutung der „schönen Jüdin“ als Repräsentantin des gesamten Judentums – für ein mit dem Zionismus geschaffenes neues Selbstbewusstsein des osteuropäischen Judentums steht.

3.2

Der dämonische Jude

Das Cover des ersten Bandes von Klezmer zeigt Noe Davidovitsch am Klavier sitzend. Er trägt einen schwarzen Umhang, sein Schädel ist kahl, sein Blick starr nach vorne gerichtet und seine überdimensionierten Hände liegen auf den Tasten. Nicht nur hier erinnert die Erscheinung des selbsternannten „Baron vom Arsch“27 an einen Vampir – hier insbesondere an die bekannten filmischen Umsetzungen des Nosferatu-Stoffes. Nur selten legt Davidovitsch seinen Umhang ab und sein vampirisches Erscheinen wird zudem über weitere diesem Motivkomplex zugeordnete Assoziationen verstärkt (siehe Abb. 2). Einem Vampir gleich steigt Noe Davidovitsch durch das Fenster in die Wohnung, und auch seine Physiognomie unterscheidet sich von derjenigen der anderen jüdischen Protagonisten in Klezmer. Während die weiteren männlichen Juden dem Klischee des weibischen respektive verweichlichten Juden entsprechend schmächtig gebaut sind, fällt Davidovitsch allein durch seine physische Präsenz aus der ‚Rolle‘. Davidovitsch erscheint alterslos und hat als einziger der fünf Charaktere keine Vergangenheit, abgesehen von dem Verweis auf seine vorherige Klezmerband, deren Mitglieder sich in der polnischen Armee kennengelernt hatten und die zu Beginn des ersten Bandes von einer konkurrierenden Klezmerband überfallen und bis auf den Baron umgebracht wird. Diese genannten Attribute des Charakters und Erscheinungsbildes deuten darauf hin, dass Sfar in der Figur des Davidovitsch’ verschiedene antisemitische Projektionen vereint. Das Motiv des Juden als Vampir, als Blutsauger, ist ein weit verbreitetes und lässt sich bis heute in abgewandelter Form immer wieder finden. Mona Körte sieht einen der Ursprünge in dem bereits zitierten Bild des Ahasver, des „Wandernden Juden“, der ebenso wie der Vampir als Untoter durch die Welt zieht.28 Jedoch spielen natürlich auch jene antijüdischen Anschuldigungen eine Rolle, die den Juden rituelle Blutopfer unterstellten. Noe Davidovitsch wird, mit all diesen dämonischen, untoten und teuflischen Zügen beladen, zur Projektionsfläche, die all jene unreflektierten religiösen und dem Aberglauben entsprungenen Ängste aufnimmt. Auch innerhalb der Nar27 Sfar, Klezmer I, S. 15. 28 Vgl. Körte, Mona: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt am Main 2000, S. 35.

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247

Abb. 2

ration von Klezmer bleibt er der geheimnisvollste Charakter, dessen Absichten selten nach außen dringen, wenn er auch mehr und mehr die Rolle des väterlichen Beschützers seiner jungen Mitmusiker übernimmt. Nach außen hin vertritt er daher auch deren Interessen, etwa von ihrer Kunst leben zu können, was ihm wiederum, wie beim Aufeinandertreffen mit der bereits erwähnten russischen Delegation für Volkskunst, den Vorwurf des geldgierigen Juden einbringt. Martin Gubser schreibt zum literaturgeschichtlichen Bild des „gefährlichen Juden“: Lüstern, oft genug auch teufelähnlichen Aussehens, macht- und geldversessen: Im jüdischen Bösewicht, gleichgültig, ob als kleiner Schacherer, Güterhändler oder moderner Finanzkapitalist, erscheint das Böse innerhalb eines Romangeschehens in gebündelter Form. Handlungsweisen, Sprache, Aussehen, Charakter – alles ist dieser einen Funktion unterworfen.29

29 Gubser, Literarischer Antisemitismus, S. 125.

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Das Motiv des Juden als Vampir geht über jenes des jüdischen Bösewichts hinaus, da zwei in der antisemitischen Konstruktion zentrale Aspekte an dieses geknüpft sind: der mit dem „unreinen“ Blut verbundene Diskurs wie auch die „jüdische Physiognomie“, die vermeintliche Identifizierbarkeit jüdischer Körper. Der Vampir ist ständig auf der Flucht vor der Mehrheitsgesellschaft, für die er durch seine Lebensweise eine Bedrohung darstellt; er ist ein Parasit, der vom Blut der anderen lebt. Auch Davidovitsch ist ständig auf der Flucht, jedoch ist diese Flucht Folge der Bedrohung durch den antisemitischen Wahn der Mehrheitsgesellschaft und nicht Folge eines realen Vergehens. Weil die Kulturgeschichte des Vampirs eng mit antisemitischen Projektionen verknüpft ist, kann Sfar über die Parallelen seines Protagonisten zu dieser Gestalt die Funktionsweisen antisemitischer Projektionen abbilden: Die Angst der Mehrheitsgesellschaft vor dem „Fremdartigen“ lässt sie aus dem Fremden das Bedrohliche modellieren, für dessen Bösartigkeit, ist es erst einmal mit diesen Attributen ausgestattet, ständig neue Beweise gefunden werden können; vom Brunnenvergifter des christlichen Antijudaismus bis zu der auf rassistischen Begründungen fußenden, vermeintlichen und nicht minder bedrohlichen Überlegenheit der „jüdischen Rasse“.

4.

Luftmenschen in Odessa

Ein zentraler Vorwurf schwingt in fast allen Stereotypen mit: das Fehlen einer Heimat, einer Verwurzelung der Juden in Europa, sowie das stets prekäre Gastrecht, das sich auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft in Pogromen entlädt und auf der jüdischen Seite zwischen Assimilationsbestrebungen und Zionismus pendelt. In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff des „Luftmenschen“ zur Selbst- wie auch Fremdbezeichnung für das „Nicht-Verwurzelte“ des osteuropäischen Judentums von Bedeutung, zumal diese Bezeichnung in Klezmer selbst auch auftaucht. Im ersten Band von Klezmer zitiert Sfar aus Isaak Babels Erzählung Odessa von 1916: „In Odessa treiben sich ‚Luftmenschen‘ bei den Cafés herum, um einen Rubel zu verdienen und ihre Familien zu ernähren, aber es gibt nichts zu verdienen, und warum sollte man auch einem nutzlosen Menschen, einem ‚Luftmenschen‘, etwas zu verdienen geben?“30 Diese Umschreibung der verarmten Ostjuden als „Luftmenschen“ wurde zur Handlungszeit des Comics parallel zur Entstehung des politischen Zionismus häufig gebraucht. Die schlechte wirtschaftliche Lage der Juden im Osten Europas war nicht nur eine Folge des gesellschaftlichen Antisemitismus, sie war auch eine gesellschaftlich geduldete 30 Vgl. Sfar, Klezmer 1, S. 67; vgl. Babel, Isaak: Odessa. Deutsch von Thomas Reschke, in: Babel, Isaak: Erste Hilfe. Sämtliche Erzählungen. Nördlingen 1987, S. 48.

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Form, die jüdische Bevölkerung gewissermaßen in Schach zu halten. Sfar lässt Noe Davidovitsch diese Problematik aussprechen, wenn dieser zu Chava über seine Lebenssituation sagt: „Ich ziehe von einer Stadt in die nächste und lebe von der Hand in den Mund. Es ist ein Bettlerleben.“31 Nicolas Berg hat sich intensiv mit dem Bild des Luftmenschen beschäftigt und die unterschiedlichen Bedeutungen der Metapher herausgearbeitet. Wurde der Begriff in Quellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch als jüdische Selbstbeschreibung benutzt, so war er anschließend meist eine Fremdbeschreibung und da oftmals in abwertender Weise verwendet.32 Dies fasst Berg wie folgt zusammen: „Die Wortgeschichte birgt also beides, jüdische Geschichtserfahrung und zusammen mit dieser auch die Historie all jener Wahrnehmungen und Zuschreibungen von außen, denen sich jüdische Lebenswelten durch die jeweilige Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sahen.“33 Die ursprüngliche Bedeutung, wie sie bei Babel zu erkennen ist, meint im sozialen Sinne die armen Juden Osteuropas, die „von der Hand in den Mund“ leben. Die Metapher wurde aber auch jenseits dieser ökonomischen Aspekte verwendet: „Sie stand für die diasporische Existenz der Juden insgesamt.“34 Nach der Shoah ist auch die Begrifflichkeit des Juden als „Luftmensch“ anders konnotiert, wie Nicolas Berg unter anderem am Beispiel von Paul Celans Todesfuge herausarbeitet.35 Zur Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert dagegen war der Begriff die Beschreibung einer ökonomischen Situation, in der jedoch die Hoffnung auf Änderung der Zustände steckte – die Hoffnung, der Armut durch ein Wunder oder einen Zufall zu entkommen: Im Begriff schwinge „ein wenig Selbstironie und Pfiffigkeit mit, auch jene Schwerelosigkeit, wie sie von Marc Chagall Anfang des 20. Jahrhunderts gemalt worden sei“36, schreibt Nicolas Berg; jener Künstler, dem Sfar, wie bereits erwähnt, einen ganzen Comic gewidmet hat. Klezmer knüpft in seiner Ästhetik an den von Chagall gepflegten Aquarellstil an. Die beschriebenen, mit Stereotypen belegten Figuren leben in einer ComicWelt, die in ihrer Ästhetik versucht, den Stereotypen im wahrsten Sinne des Wortes den Boden zu entziehen. Stattdessen macht Sfar dem Leser diese Stereotypen bewusst, lässt sie zum Mittelpunkt der Geschichte und den Umgang der Protagonisten mit diesen Stereotypen zu einer Frage des Verhältnisses von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft werden. Die Protagonisten in Klezmer sind alles, was man in ihnen sehen will: Kommunisten, Diebe, Musiker, Zionisten, Dämonen, Blutsauger, Kabbalisten, Helden, Opfer, Wanderer. Diese sind 31 32 33 34 35 36

Sfar, Klezmer I, S. 14. Vgl. Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008, S. 11. Berg, Luftmenschen, S. 31. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 200ff. Ebd., S. 29.

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sich ihrer Zuschreibungen bewusst und spielen mit ihnen. Die Pfiffigkeit und die Selbstironie, mit der Berg die Luftmensch-Metapher bei Chagall beschrieben hat, sind auch in Sfars Klezmer anzutreffen. Im Moment des Musizierens lösen sich die Musiker tatsächlich von den Zwängen der Schwerkraft und scheinen auf der Bühne zu schweben (siehe Abb. 3).

Abb. 3

Die schwebenden Figuren bei Sfar sind dabei jedoch ebenso wenig wie die von Chagall als reine Illustration des „jüdischen Lebens“ zu lesen, als Feier des „Magischen“, sondern vielmehr als Kommentar zu einer jüdischen Realität. Sie führen die politischen Unsicherheiten und die Bedrohungslage durch Pogrome vor, „als sei das Berühren einer in Frage gestellten Erde (als das Juden insgesamt verweigerte Symbol von Zugehörigkeit) gefährlich geworden.“37 In seiner Autobiographie hat Chagall diese Sucht nach Festigkeit und Verbundenheit mit dem Boden mit einer Krankheit verglichen: „Und waren unsere bildhaften Vorahnungen nicht richtig, hängen wir denn nicht tatsächlich in der Luft, leiden wir

37 Berg, Luftmenschen, S. 58.

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nicht an einer einzigen Krankheit: der Sucht nach Stabilität?“38 Berg interpretiert diese von Chagall formulierte Kritik an der Vorstellung einer „Verwurzelung von Identität“ und die zur künstlerischen Umsetzung dieser Kritik benutzten „Luftmenschen“ als über die damalige Zeit hinausweisenden Kommentar: „Hier trafen sich Tradition und Aufbruch, Religion und Säkularisierung, Phantasie und Experiment zu einem künstlerischen Zeitkommentar, in dem eine partikulare Erfahrung ihre universellen Bezüge zu erkennen begann.“39 Die Verweigerung des Bodens sowie die Ausgrenzung und Verfolgung durch die Mehrheitsgesellschaft mit der Begründung unklarer Herkunft findet bei Chagall im schwebenden Menschen ein Bild. Chagall, der als Ausgangspunkt einer künstlerischen Traditionslinie von russisch-jüdischer Identität angesehen wird40, hat diese Identität als eine Identität im Schwebezustand abgebildet und positiv für sich angenommen, wie seine Analogie des Drangs nach Verwurzelung und Krankheit deutlich macht. „Ich würde gern die Juden aus meinem Dorf nehmen und sie in meinen Bildern in Sicherheit bringen“, zitiert Sfar Chagall.41 Die Luftmenschen in seinen Bildern können auch als Reflexion über das Scheitern an dieser Rettung gelesen werden – trotz aller idealisierenden Deutung des Luftmenschen ist doch die Tatsache, dass den osteuropäischen Juden der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, die Realität, die bleibt und der sich auch Sfar stellen muss. Er führt selbst im Nachwort aus: Wenn heute zum Beispiel jemand die Ölbilder, die das Leben im Schtetl zeigen, wieder malen würde, wäre das nicht viel wert. Man würde ganz richtig denken, dass das alles schon einmal gesagt worden ist. Das wäre wie diese Maler, die ihre Bilder bei Gemeindeversammlungen verkaufen: Sie glauben, sie malen wie Chagall, doch ihre Bilder sind nicht viel mehr wert als die Krippenfiguren aus der Provence. Weil die Maler, die so etwas tun, sich verhalten, als wäre nie etwas geschehen.42

Die jüdischen Lebenswelten Osteuropas sind unwiederbringlich zerstört und selbst seine bildliche Erinnerungsarbeit kann diesen Verlust nicht kompensieren. Sie kann aber, so zeigt Sfar, zu einem Beitrag in der Auseinandersetzung mit heutigen antisemitischen Tendenzen werden, wenn man sich die Leere, die er im Comic nicht zu füllen versucht, als solche bewusst macht.

38 Chagall, Marc: Mein Leben. Aus dem Französischen von Lothar Klünner. Stuttgart 1959, S. 173. 39 Berg, Luftmenschen, S. 58. 40 Vgl. Scheps, Marc: Russisch-jüdische Künstler: zwischen nationaler Identität und Universalismus, in: Galinski, Hans Günter/Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.): Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst. Heidelberg 2003, S. 186. 41 Sfar, Klezmer I, S. V. 42 Sfar, Klezmer I, S. V.

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5.

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Von Ost nach West

Wie oben ausgeführt, endet Joann Sfars Chagall in Russland mit der Flucht des Malers nach Paris, die Erinnerungen an seine alte Heimat, das osteuropäische Schtetl, sind in seinem Skizzenbuch in Sicherheit gebracht. Jene Überführung osteuropäischer jüdischer Geschichte nach Westeuropa ist der zweite zentrale Aspekt in Sfars Beschäftigung mit jüdischer Kultur. Am Beispiel des Golem43 im Werk von Sfar soll dieses Anliegen im Folgenden deutlich gemacht werden. Der Kabbalaforscher Gershom Scholem hat sich intensiv mit der Golem-Figur beschäftigt: „Die Buchstaben des Alphabets, um wie viel mehr noch die des Gottesnamens oder gar die der ganzen Tora, die ja das Instrument Gottes bei der Schöpfung war, haben geheime, magische Gewalt.“44 Worte haben die Macht, tote Materie zum Leben zu erwecken, aus dem Abbild eines Menschen aus Lehm eine, wenn auch nicht mit Gefühlen ausgestattete, Form von Leben zu schaffen. Der Mythos von der Schaffung des Golem war ein schöpferischer, kreativer Akt, über den sich die Juden zum einen in ihre eigene Tradition einschrieben, der aber zum anderen den jeweils aktuellen Zeitumständen angepasst wurde: Die ersten Golem-Mythen entstanden bereits im 12. Jahrhundert und wurden in den folgenden Jahrhunderten den jeweils neuen Bedrohungslagen, Ghettoisierungen etc. entsprechend aktualisiert, wie Gershom Scholem in seinem historischen Überblick über die Legende herausgearbeitet hat. Der Golem spielt im Werk Sfars als Teil der ostjüdischen Geschichte immer wieder eine Rolle und hat mit Die kleine Welt des Golem auch ein eigenes Album erhalten.45 Er ist jedoch nur eine Figur unter vielen Außenseitern im Kosmos von Sfar: einem Dibbuk, einem Vampir, einem Rabbiner, der gleichzeitig ein KungFu-Trainer ist. Der Golem wird von den anderen Charakteren nicht ernst genommen, niemand weiß genau, was man mit ihm anfangen soll. Als Michael, ein jüdischer Junge vom Land, der in der Schule immer verprügelt wird, vorgeschlagen bekommt, den Golem zum Schutz mit in die Schule zu nehmen, sagt er: „Das geht nicht. Wir dürfen keine Riesen mit in die Schule nehmen.“46 Die Zeiten haben sich geändert, denn statt wie im Mittelalter Beschützer des Judentums zu sein, ist der Golem bei Sfar ein unbedarfter, debiler, schweigender Riese, dessen Bedeutung für das Judentum nicht mehr offensichtlich ist. Es ist ein Herantasten an die Frage, was ein Geschöpf wie der Golem heutigen Juden noch geben kann, ob er sich geschichtlich erledigt hat oder noch Relevanz 43 Glasenapp, Gabriele von: „Lehmriese lebt!“ Golem-Narrationen in der modernen Populärkultur, in: Dettmar, Ute/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Frankfurt am Main 2019, S. 95–125. 44 Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt am Main 1973, S. 219. 45 Vgl. Sfar, Joann: Die kleine Welt des Golem. Berlin 2006. 46 Sfar, Joann: Desmodus: Der Vampir macht Kung Fu. Berlin 2006, S. 5.

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besitzt. Die Comics von Sfar sind dabei durchzogen von der Trauer darüber, dass die Welten, die er erschafft, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sind. Und in diesem Kontext ist auch das Auftauchen des Golem zu lesen: Er ist eine Besinnung auf jüdische Traditionen im Schatten von Auschwitz; der Versuch, sich auf „Wurzeln“ zu beziehen, um zu zeigen, dass sie gekappt und nicht mehr ohne weiteres in die Gegenwart überführbar sind. Eine ähnliche Tendenz hat Kathy S. Gelbin in ihrer Untersuchung des Golem in der Literatur der jüdischen Nachkriegsgeneration beschrieben, in deren Werken der Golem „als Zeichen der Zerstörung jüdischen Lebens und der Erinnerung an die Shoah“47 zurückkehrt. Zwar kehrt der Golem als gespenstische Erinnerung an die zerstörte osteuropäische Lebenswelt zurück, doch verbleibt Sfar nicht auf der Ebene der Geisterbeschwörung. Beim Blick von West nach Ost, von der Gegenwart in die Vergangenheit offenbart sich eine Suche nach Strategien, mit dem aktuellen Antisemitismus umzugehen. Am deutlichsten macht Sfar die Ambivalenz seiner eigenen Strategie, über die Kunst beispielsweise eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Stereotypen des Jüdischen einzufordern im abschließenden fünften Band seiner Klezmer-Reihe. Darin reist der Dichter Chaim Nachman Bialek mit der Gruppe Musiker nach Kischinew, um über das Pogrom ein Gedicht zu verfassen und es so über Literatur der Welt zu vermitteln. Unterwegs, nach einem Überfall durch Gangster, verliert er seinen Glauben an die Kraft der Kunst: Ich habe mein ganzes Dichterleben darauf hingearbeitet, die Juden liebenswert zu machen. Und ihr seht ja, was daraus geworden ist. Unmöglich! Genau! Es ist unmöglich. Sie wollen uns hassen. Das ist ihre einzige Hoffnung. Das lässt sie glauben, dass es noch jemanden gibt, der niederer steht als ihre Niedertracht!48

Der Rom Tchokola erschießt ihn daraufhin, weil Chaim Nachman Bialek den Juden nicht mehr bereit ist zu helfen; Tchokola dagegen glaubt noch an die Kraft der Kunst zur Aufklärung über gesellschaftliche Verhältnisse. Doch auch ihm und dem Violinisten Vincenzi kommen zunehmend Zweifel, sie geraten in Streit – Geige und Gitarre seien zumindest gut für die Ohren und das sei immerhin ein Anfang, ist ihr Kompromiss. Dass Kunst die Welt ändern oder zumindest aufwecken kann, daran glauben sie auch nicht mehr und fahren mit ihrer Waffenlieferung weiter in Richtung Kischinew. Dieselben Ambivalenzen treiben auch Sfar selbst im Nachwort um, der sich ebenfalls zwischen den Polen bewegt, zu verstummen oder lauter zu schreien, wie 47 Gelbin, Kathy S.: Das Monster kehrt zurück. Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration, in: Kormann, Eva/Gilleir, Anke/Schlimmer, Angelika (Hg.): Textmaschinenkörper: Genderorientierte Lektüren des Androiden. Amsterdam 2006, S. 147. 48 Sfar, Joann: Klezmer 5. Tollhaus Kischinew. Aus dem Französischen von Claudia Sandberg. Berlin 2017, S. 80ff.

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er angesichts des Rechtsrucks in Europa und des zunehmenden Antisemitismus (nicht nur in Frankreich) im Nachwort formuliert. Er entscheidet sich für die Kunst und beschreibt, warum er weitermacht, obwohl er an ihrer Wirksamkeit oft genug zweifelt: Ich bin ein Idiot. Systematisch will ich glauben, dass es soweit noch nicht gekommen ist. Dass wir so tief nicht gefallen sind. Vor zehn Jahren, in einem Vorwort zur Katze des Rabbiners, habe ich darüber geklagt, gegen den Rassismus zu schreiben. Ich fand, dass ich offene Türen einrannte. Ich jammerte über den ewigen Hass unter den Menschen und beklagte mich darüber, dass die Künstler, wie Sisyphos, immer neu anfangen müssten. – Ich habe mich geirrt. Die Wahrheit ist schlimmer. In unserem Land wird es seit langem wirklich jedes Jahr noch schlimmer. Was erwarten wir also von einem Künstler? Die ewig selbe Leier? Niemand hört mehr hin. Und wenn die Menschen keine Brüder sein wollen? Noch lauter schreien! Bücher machen, die den großen Rückschritt bezeugen, den Wahnsinn[,] der im Gange ist? Vielleicht kann das auf lange Sicht den Seismographen verstellen.49

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Sfar, Joann: Illustration, aus: Sfar, Joann: Klezmer, Bd. 2. Alles Gute zum Geburtstag, Scylla! Berlin 2009, S. 15. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2009. Abb. 2: Sfar, Joann: Illustration, aus: Sfar, Joann: Klezmer I. Die Eroberung des Ostens. Berlin 2007, Coverausschnitt. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2007. Abb. 3: Sfar, Joann: Illustration, aus: Sfar, Joann: Klezmer, Bd. 2. Alles Gute zum Geburtstag, Scylla! Berlin 2009, S. 68. © für die deutsche Ausgabe – avant-verlag 2009.

49 Sfar, Klezmer 5, unpaginiert.

IV. Illustrationskunst zwischen Tradition und Avantgarde

Oxane Leingang (Dortmund)

„Deutschlands erster Baumeister“ als Illustrator des russischen Struwwelpeters? Ludwig Bohnstedts Ausflug in die Kinderliteratur

1.

Einleitung

„Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen“, erinnerte sich Heinrich Hoffmann sichtlich stolz an die Weltkarriere seines berühmtesten Geschöpfs: […] und die bösen Buben sind weiter auf der Welt herumgekommen als ich; in ganz Europa sind sie heimisch geworden, ich habe gehört, daß man ihnen in Nord- und Südamerika, am Kap der Guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist. Sie haben allerlei Sprachen gelernt, die ich selbst nicht verstehe, denn ich habe eine russische, schwedische, dänische, englische, holländische, französische, italienische, spanische und portugiesische Übersetzung in den Händen.1

Der literarische Siegeszug des Struwwelpeters begann in Russland mit der anonymen Übersetzung Stepka-rastrepka.2 Erzählungen für Kinder (Stepka-rastrepka. Razskazy dlja detej) (1849), die in der Privattypographie von Christian Gince3 in St. Petersburg erschien. Der obligatorische Vermerk der Zensurbehörde ist auf den 25. 09. 18484 datiert. Im Gegensatz zum deutschen Original handelt es 1 Hoffmann, Heinrich: Lebenserinnerungen. Frankfurt am Main 1985, S. 142f. 2 Russische Wörter und Eigennamen werden grundsätzlich in der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben. Die einzigen Ausnahmen bilden der Name des Autors Heinrich Hoffmann und der Titel seines berühmtesten Werkes. Diese werden nicht als „Genrich Gofman“ und „Sˇtruvvel’peter“ rücktransliteriert, sondern in ihrer deutschen Schreibweise beibehalten. Sofern nicht explizit anders angegeben, wurden Zitate aus den russischen Quellen von mir übersetzt. Auf den parallelen Abdruck russischer Originalzitate wurde aus Platzgründen verzichtet. 3 In Russland existier(t)en keine bindenden Konventionen zur Umschreibung deutscher Vorund Nachnamen, was bei der Rücktransliteration zu durchaus problematischen linguistischen Variationen führen kann. Der kyrillisch geschriebene Nachname „Gince“ könnte beispielsweise folgende Entsprechungen haben: Hinze, Hienze, Hintze, Ginze, Gienze, Gientze. 4 Dieses Datum macht die kühne These von Hasso Böhme, der polnische Verleger Mavrikij Vol’f habe diese Übersetzung und den Illustrationsprozess initiert, eher unwahrscheinlich. Auch von dem „unerwartete[n] Erfolg“ des Struwwelpeters in Polen und Frankreich im Jahre 1848 konnte noch keine Rede sein, wurde doch dieser erst 1857 ins Polnische und 1860 ins Fran-

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sich bei dieser neu illustrierten Übertragung um ein „Kinderkünstlerbuch“5 mit ästhetischem Anspruch. Bis 1916 erlebte Stepka-rastrepka zehn Auflagen, mindestens 160.000 Exemplare gingen in dieser Zeit über den Ladentisch; eine kaum überschaubare Flut von Struwwelpetriaden setzte auch im Zarenreich ein.6 Diese prompte Übertragung, ein Vergleichsparameter und Gradmesser des Erfolges, dokumentiert die Dynamik des (kinder-)literarischen Kulturtransfers7, während sich die Neuauflagen nach Konjunkturen und Wirkungsmächtigkeit sortieren lassen. Stepka ist ein Diminutiv von Stepan, eines damals äußerst beliebten, traditionellen Vornamens, der ausschließlich im bäuerlichen Milieu vergeben wurde.8 Rastrepka geht etymologisch auf das Verb rastrepat’ zurück, das „zerraufen, zerzausen, zerfetzen“ bedeutet. Während der Struwwelpeter ein „alter Frankfurter Neckname […] für Unangepaßtsein“9 ist, imitiert Stepka-rastrepka, ein verspottendes Anthroponym, die oralkulturelle Performanz der Kindersprache und setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. An erster Stelle steht die jargonal-joviale Variation des Vornamens der genannten Person: Stepka. Der sich reimende, expressiv-wertende zweite Teil – rastrepka – hat eine diskreditierende rhetorische Funktion. Diese beleidigende Rhythmisierung des Vorna-

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7 8 9

zösische übertragen. Dazu Böhme, Hasso: „Stepka rastrepka“ – Ludwig Bohnstedt: Meister der Arabeske, in: Gotha Illustre. Jahrbuch der Stadtgeschichte 5/2022, S. 85–113, hier S. 88. Vol’f tratt erst im Herbst 1848 seinen Dienst beim Petersburger Verleger Jakov Isakov an, dazu stellvertretend Timofeeva, Ljubov’: Vol’f, M. O., in: Sˇcˇedrinskij sbornik 2016, S. 31–34, hier S. 31. Heller, Friedrich C.: Das Künstlerbilderbuch. Notizen zu einer unbekannten Welt, in: Hollein, Max/Luyken, Gunda (Hg.): Kunst – Ein Kinderspiel. Frankfurt am Main 2004, S. 198–202; auch Hildebrand-Schat, Viola: Kinderkünstlerbuch – Künstlerkinderbuch, in: Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium. Berlin 2019, S. 511–518, hier S. 511. So etwa der anonym publizierte Stepka-rastrepka i umnyj Vasja (dt. Stepka-rastrepka und der kluge Vasja) aus dem Jahre 1881, Novyj Stepka rastrepka (dt. Der neue Stepka-rastrepka) in zwei unterschiedlichen Versionen von S. Lavrent’eva (1898) und A. Segal (1912), F. Pestjakovs Volsˇebnyj fonar’ Stepki-rastrepki (dt. Die Zauberlaterne von Stepka-rastrepka) (1898), Ivan Kondrat’evs Novyj Stepka rastrepka: pochozˇdenija i prikljucˇenija odnogo neispravimogo ˇsaluna (dt. Der neue Stepka-rastrepka: Streiche und Abenteuer eines unverbesserlichen Lausbuben) (1910), der bis 1923 sieben Wiederauflagen erreichte, Aleksandr Panovs Zarstvo ˇsalostej: Stepki-rastrepki rodnye brat’ja (dt. Das Zarenreich der Streiche: Stepka-rastrepkas leibliche Brüder) (1912) und Stepka rastrepka dobrovolec (dt. Stepka-rastrepka der Kriegsfreiwillige) von Rodion Mendelevicˇ (1915). Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Stuttgart 42016; Kap. 5 Kulturtransfer, S. 143–188, hier S. 145. Man denke etwa an Stepan Razin, die Galionsfigur der Bauernarmee, die sich 1688 gegen die Bojaren, den Hochadel im alten Russland, erhob. Herzog, G. H./Herzog-Hoinkis, Marion/Siefert, Helmut: Heinrich Hoffmann. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt 1995, S. 72.

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mens, eine Form der „satirischen Kinderlyrik“, ist für die russische Kindersprache durchaus typisch.10 Für die folgenden Ausführungen wurde die Erstauflage (1849), eine leuchtend kolorierte Zimelie von exzellenter Qualität, herangezogen, die in der Johann Christian Senckenberg-Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main aufbewahrt wird.11 Wie dem handschriftlichen Eintrag auf dem Vorblatt zu entnehmen ist, stammt sie aus dem Besitz der Familie von Freytag-Loringhoven, einer baltischen Linie dieses Adelsgeschlechts. Möglicherweise wurde das Büchlein in Riga12 erworben, einer der wichtigsten multikulturellen Buchhandelsmetropolen des zaristischen Russlands. Interessant ist ferner, dass dieses Exemplar einige Bleistiftanmerkungen auf Russisch als Lesespuren13 aufweist. So wurden zwei offensichtliche Druckfehler durchgestrichen und korrigiert. Eine fingerfleckige Seite aus der Geschichte vom Daumenlutscher erhält sogar einen gereimten Zweizeiler mit dem Appell an die kindlichen (Mit-)Leser: „Osobenno, ty dolzˇen znat’ –, | otnud’, cˇtoby pal’cev ne sosat’/Besonders Du sollst es wissen, | Von nun an, nicht an den Fingern zu lutschen.“14 Entgegen dem Konsens handelt es sich bei dieser klassischen Version um eine Neuübersetzung, eine sogenannte retranslation.15 Walter Sauer konnte eine frühere Übertragung ausfindig machen – eine deutsch-russische Ausgabe als den ersten bilingualen Struwwelpeter überhaupt.16 Publiziert wurde sie 1848 in St. Petersburg unter dem sperrigen Titel Erheiternde Erzählungen und unterhaltsame Bildchen für Kinder von 3 bis 6 Jahren, ein Werk des bekannten Schriftstellers Hoffmann. Eine freie Übersetzung aus der fünften deutschen Auflage, mit Hinzufügung des Originals und 48 Bildchen (Zabavnye razskazy i 10 Smol’nikov, Sergej: Antroponimy v detskoj draznilke, in: Sudakov, G./Tichomirov, S.: Russkaja kul’tura novogo stoletija: Problemy izucˇenija, sochranenija i ispol’zovanija istorikonaucˇnogo nasledija. Vologda 2007, S. 808–813. 11 Einsehbar unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-384774 [01. 05. 2022]. An dieser Stelle möchte ich mich bei Bärbel Wagner und ihren Kolleginnen (Sammlung Frankfurt und Seltene Drucke der Universitätsbibliothek) für ihr Interesse und ihre tatkräftige Unterstützung bedanken. 12 Meyer, Klaus: Riga und St. Petersburg. Zwei Ostseemetropolen im Vergleich, in: Schorkowitz, Dittmar (Hg.): Rußland – Vertraute Fremde. Neues und Bleibendes in historischer Perspektive. Ausgewählte Beiträge von Klaus Meyer (†). Frankfurt am Main 2008, S. 252–265. 13 Vgl. auch Assmann, Aleida: Das Buch – Nährstoff des Geistes, politische Waffe und Lebensbegleiter, in: Eder, Thomas/Kobenter, Samo/Plener, Peter (Hg.): Seitenweise: was ein Buch ist. Wien 2010, S. 150–163. 14 o. A.: Stepka-rastrepka. Razskazy dlja detej. [Sankt-Peterburg] 1849, S. 9, ein handschriftliches Notat in der alten Orthographie. 15 Vgl. dazu stellvertretend Deane-Cox, Sharon: Retranslation. Translation, Literature and Reinterpretation. London/New Delhi/New York/Sydney 2014. 16 Sauer, Walter: Zwei neue, alte Struwwelpeterübersetzungen aus England und Rußland, in: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 6/2001, A334– 347, hier A344.

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zanimatel’nye kartinki dlja detej ot 3ch do 6ti-let, socˇ. Vol’nyj perevod s nemetskogo pijatogo izdanija s prisovokupleniem originala i 48 kartinkami). Zwar wird im Titel explizit auf die fünfte deutsche Auflage, d. h. auf die vollständige Ausgabe von 1847 verwiesen, jedoch firmierte das Werk bereits seit der dritten Auflage als Struwwelpeter. Es liegt auf der Hand, dass die Verleger auf mehrere Versionen zurückgreifen konnten. Diese zweisprachige Ausgabe blieb kommerziell erfolglos: Bis heute konnte man lediglich zwei Rarissimuma – in den Universitätsbibliotheken von Okayama und Harvard – finden.17 Zum Tragen kam in diesem Fall das Ersetzungs- bzw. Überholungsprinzip einer retranslation als der entscheidende Teil der wissenschaftlich-translatorischen Evolution. Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, dass binnen Monaten zwei konkurrierende Übertragungen von St. Petersburger Verlegern publiziert wurden. Sie hatten den deutschen Buchmarkt mit seinen (kinderliterarischen) Bestsellern genau im Blick, besaßen die aktuellsten Ausgaben und wollten auch in Russland von jener „Struwwelpeterfabrik“ profitieren, von der in Deutschland „eine Anzahl fleißiger Menschen lebt“, wie Heinrich Hoffmann rückblickend in seinen Lebenserinnerungen vermerkte.18 In der Tat ist die Erfolgsgeschichte des Struwwelpeters phänomenal: Nach neuester Schätzung erreichte die kumulierte deutschsprachige Druckauflage längst eine Höhe von über 30 Millionen Exemplaren.19 Dass die Struwwelpeter-Übertragungen ausgerechnet von den deutschstämmigen Verlegern St. Petersburgs vermarktet wurden, ist sicherlich kein Zufall, waren doch die Buchproduktion und der Buchhandel in Russland seit dem 16. Jahrhundert fest in deutscher Hand.20 Diesen Wissenstransfer belegen beispielsweise Germanismen in der Terminologie von Druck-, Verlags- und Zeitungswesen.21 Mit der Freigabe des Buchdrucks im Jahre 1783 trugen zahlreiche von deutschen Auswanderern gegründete Privatdruckereien maßgeblich zur Verbreitung deutschsprachiger Publikationen und ihrer Übersetzungen in Russland bei.22 In ihrer normativen, globalen und interkulturellen Bedeutung 17 Ebd. 18 Hoffmann, Lebenserinnerungen, S. 143. 19 Zekorn-von Bebenburg, Beate: Der Struwwelpeter. Bilder machen Geschichte(n), in: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Anker, Martin (Hg.): Bilder zu „Klassikern“. Baltmannsweiler 2019, S. 47–66, hier S. 47. 20 Höcherl, Alfons: Deutsche Fachkräfte für die Modernisierung Russlands seit Peter dem Großen, in: Ammon, Ulrich/Kemper, Dirk (Hg.): Die deutsche Sprache in Russland. Geschichten, Gegenwart, Zukunftsperspektiven. München 2011, S. 41–59, hier S. 46f. 21 Ilarionova, T.: Nemeckie izdateli v Rossii (XVIII–nacˇalo XX veka), in: Smagina, Galina (Hg.): Nemcy v Rossii. Tri veka naucˇnogo sotrudnicˇestva. Sankt-Peterburg 1999, S. 357–374, hier S. 366. 22 Koch, Kristine: Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Fremdsprachenlernens in Europa und zu den deutsch-russischen Beziehungen. Berlin/New York 2002, S. 89.

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erscheint die Expansion deutscher Weltliteratur23 daher auch als die kommerziell-distributive Strategie eines möglichst lukrativen Bücherverkaufs. Vor allem die Lese(r)zeugnisse, wie etwa autobiographisch-bibliophile Lektüreerfahrungen oder kontrovers geführte Debatten unter den Pädagogen und Kritikern, kartierten die faktische Verbreitung von Stepka-rastrepka sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. So betonten viele russische Literaten und Künstler die Relevanz dieses kinderliterarischen Weltbestsellers für ihre (Lese-)Biographie. Aleksandr Benua24 (eigentlich Alexandre Benois, 1870–1960), der einflussreichste französischstämmige Maler, Bühnenbildner, (Kinderbuch-) Illustrator und Kunsttheoretiker des Landes, widmete beispielsweise dem Struwwelpeter, dem ersten Buch seiner Kindheit, in den Memoiren ein ganzes Kapitel.25 „Ein sehr mutiges, lebensnahes Buch […] bar jeglicher Vulgarität. Herrlich illustriert“26, so erinnerte sich der bedeutendste Dichter des Symbolismus Aleksandr Blok (1880–1921) an sein Lieblingsbuch. „Auch wenn nicht alle Bildchen zum Text passen“27, fügte er hinzu und spielte damit auf das komplettierende Text-Bild-Verhältnis an, bei dem sich piktorale und verbale Zeichenebenen gegenseitig ergänzen und die für die Bilderbücher charakteristischen synergetischen Effekte entstehen lassen.28 Der russisch-litauische Bühnenbildner und Maler Mstislavas Dobuzˇinskis (1875–1957) konnte als Kind Stepka-rastrepka stundenlang anschauen. Das Buch gehörte zu dem Grundstock seiner ersten Sammlung „wunderbarer Bücher mit Bildchen“.29 Sowohl die Autorschaft als auch der Name des Übersetzers von Stepka-rastrepka wurden von dem Verleger verschwiegen. Laut dem sowjetischen Literaturwissenschaftler Boris Begak verschleierte man die Urheberschaft Hoffmanns absichtlich, indem man die kindlichen Missetäter russifizierte.30 „Dieses für ein Kind geschriebene Buch avancierte zum Objekt von Transaktionen gewissenloser Händler, die zuvor die Konjunktur des Buchmarkts einkalkuliert hatten“,31 so 23 Aktuell dazu Lamping, Dieter: Was ist Weltliteratur? Ein Begriff und seine Bedeutung, in: Escher, Anton J./Spickermann, Heike (Hg.): Perspektiven der Interkulturalität. Forschungsfelder eines umstrittenen Begriffs. Heidelberg 2018, S. 127–141. 24 Benua illustrierte unter anderem das kanonisch gewordene Erstlesebuch, das in jedem gehobenen Haushalt zu finden war. Acht Jahre lang leitete er in Petrograd (heute St. Petersburg) die Eremitage-Gemäldesammlung und setzte sich für den Schutz der zaristischen Sehenswürdigkeiten ein. Der britische Schauspieler Sir Peter Ustinov war sein Neffe mütterlicherseits. 25 Benua, Aleksandr: Moi vospominanija. Kniga 1. Moskva 2003, S. 285–301. 26 Blok, Aleksandr: Zapisnye knizˇki 1901–1920. Moskva 1965, S. 269f. 27 Ebd. 28 Sipe, Lawrence R.: How Picture Books Work: A Semiotically Framed Theory of Text-Picture Relationships, in: Children’s Literature in Education 29/1998, S. 97–108. 29 https://dobuzhinsky.com/text/vospominaniya_peterburg-moego-detstva.html [15. 06. 2021]. 30 Begak, Boris: Deti smejutsja. Ocˇerki o jumore v detskoj literature. Moskva 1979, S. 212. 31 Ebd., S. 222.

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führt Begak indigniert fort. Die Spekulationen über den mysteriösen Übersetzer führten bislang zu keinem eindeutigen Ergebnis;32 was nicht weiter wundert, blickt doch die symbolische Praxis konsequenter Missachtung von Übersetzern – „translator’s invisibility“33 – auf eine lange Geschichte zurück. Die Dominanz der kontextzentrierten Muster und die Vernachlässigung der literarischen Qualität lassen vermuten, dass der Übersetzer aus der großen deutschen Kolonie St. Petersburgs rekrutiert wurde, die damals 7 % der Stadtbevölkerung ausmachte.34 Diese Annahme bestätigte auch der berühmte sowjetische Kinderlyriker und Übersetzer Samuil Marsˇak (1887–1964): Vor der Revolution lechzten die Verlage danach, ein gutes Kinderbuch zu bekommen, weil es ihnen viele Gewinne einbrachte. Aber seltsam: Das, was die Literaten ihnen gaben, war erfolglos, aber jede pseudovolkstümliche Lyrik hatte dagegen Erfolg. Zum Beispiel, die schreckliche Übersetzung des deutschen ‚Stepka-rastrepka‘, übertragen von einem Deutschen, der schlecht Russisch sprach. (Ich kannte seinen Sohn, sogar er sprach immer noch schlecht Russisch. Stellen Sie sich nur vor, wie dann der Vater sprach).35 Nichtsdestotrotz hatte dieser „Stepka“ einen wahnsinnigen Erfolg. Es war sogar das erste Büchlein, das ich las.36

„Bis heute“, monierte jüngst die Petersburger Literaturwissenschaftlerin Ol’ga Selivanova „bleibt der Autor des russischen Textes und der Schöpfer der ersten Illustrationen unbekannt.“37 Diese Behauptung stimmt nicht ganz, denn auf dem Titelblatt der anonymen Übersetzung wurden als Zeichen der Hochschätzung die Namen der Illustratoren in lateinischer Schrift vermerkt: G. HOHENFELDEN und L. BOHИSTEDT [sic!]. Bei der Transkription unterlief dem Setzer ein durchaus häufiger Fehler: Der Konsonant „N“ wurde mit dem Vokal „И“ geschrieben; emblematisch rückt dieses Nebeneinander kyrillischer und lateinischer Schrift die transkulturellen Prozesse ins Blickfeld. Insgesamt sechsmal tauchen die Monogrammierungen „LB“ und „GHF“ in Druck- und Schreib32 Noch Ende der 1980er-Jahre wurde versucht, die Identität des Übersetzers zu bestimmen. Dazu Putilova, Elena: Tajna avtorstva „Stepki-rastrepki“, in: Neva 12/1987, S. 194–197; Saksonova, Irina: Razgadana li tajna?, in: Neva 7/1987, S. 207. 33 Zum translationswissenschaftlichen Konzept der (Un-)Sichtbarkeit der Übersetzer vgl. ausführlicher Venuti, Lawrence: Translator’s Invisibility: A History of Translation. London/ New York 1999. 34 Zernack zit. nach Jahn, Hubertus F.: Das Fenster nach Rußland, in: Dahlmann, Dittmar/ Potthoff, Wilfried (Hg.): Deutschland und Rußland. Aspekte kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2004, S. 13–28, hier S. 14. 35 Trotz der weitgehenden Assimilierung blieb der radebrechende Deutsche für lange Zeit ein Imagem der russischen Literatur und Kultur. 36 Marsˇak, Samuil: Sobranie socˇinenij v 8 mi tomach. Tom 7. Vospominanija slovom (stat’i, zametki, vospominanija). Moskva 1971, S. 582f. 37 Selivanova, Ol’ga: „Stepka-rastrepka“ v protokolach zasedanij bibliotecˇnoj komissii obsˇcˇestva sodejstvija dosˇkol’nomu vospitaniju, in: Detskie cˇtenija 17(1)/2020, S. 234–267, hier S. 237.

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schriftbuchstaben auf. Aus den späteren, minderwertigen Ausgaben, die inzwischen der Verleger Mavrikij Osipovicˇ Vol’f, der „erste Büchermillionär“38 Russlands, publizierte, wurden die Initialen der Illustratoren bis auf einige wenige getilgt. Dass es sich um eine kollaborative Arbeit handelt, zeigt sich an den recht unterschiedlichen Physiognomien der kindlichen Helden innerhalb der Bildfolge; auch zahlreiche Arabesken variieren in ihrer Komplexität. Georg Hohenfelden (1828–1908) (russ. Georgij bzw. Egor Vasil’evicˇ Gogenfel’den), der Sohn eines eingewanderten Elsässers und einer Schwedin, wuchs bei seinem Großvater mütterlicherseits auf.39 Dieser war bei der Expedition zur Beschaffung von Staatspapieren tätig, die Assignaten und andere Papiere mit Staatswappen herstellte. Die Expedition galt als die innovativste und größte polygraphische Institution Europas.40 Georg Hohenfelden avancierte rasch nicht nur zu einem bekannten Lithographen und Holzstecher des Zarenreichs, sondern arbeitete auch bis zu seinem Tod für diese Organisation: Er lebte in einer Werkwohnung an der Fontanka, erledigte Aufträge und leitete unterschiedliche Abteilungen.41 In den 1840–1860er-Jahren fertigte Hohenfelden zahlreiche Graphiken für die Petersburger Zeitungen und Almanache an. In den 1860–1870erJahren existierte unter seinem Namen eine private Typographie, die für ihre erstklassigen illustrierten Publikationen und ihre Prachtdrucke, vor allem für die Akademie der Künste, berühmt war.42

2.

Der Petersburger Ludwig Bohnstedt

Hinter dem Namen L. Bohnstedt verbirgt sich aber kein Geringerer als Ludwig Franz Carl Eduard Albert Bohnstedt (1822–1885). Aufgrund seiner Herkunft und seiner persönlichen Kontakte avancierte Bohnstedt zu jenem „Vermittler westlicher Ideen in Russland und russischer Traditionen im Ausland“43, der die „Beziehung Russlands mit Deutschland und mit Westeuropa im Ganzen“ zu stärken vermochte.44 Kein Wunder, dass sowohl die russische als auch die

38 Ilarionova, Nemeckie izdateli, S. 369. 39 Ivleva, Svetlana: Peterburgskij tipograf Georgij Gogenfel’den (1828–1908). Materialy k biografii. In: Sankt-Peterburg i strany Severnoj Evropy, 20(2)/2019, S. 9–14, hier S. 9. 40 Vorob’eva, Ol’ga: Istorija E˙kspedicii zagotovlenija gosudarstvennych bumag. Kratkie biograficˇeskie svedenija, In: Vosnesenskij, Sergej: Pervye sto let E˙kspedicii zagotovlenija gosudarstvennych bumag 1818–1918. Sankt- Peterburg 2009, S. 392–412, hier S. 392. 41 Ivleva, Peterburgskij tipograf Georgij Gogenfel’den, S. 9. 42 Ebd., S. 9f. ˇ ekanova, O. A: Ljudvig Bonsˇted, in: Isacˇenko, V. G. (Hg.): Zodcˇie Sankt-Peterburga XIX43 C nacˇala XX veka. Sankt-Peterburg 1998, S. 420–432, hier S. 421. 44 Ebd., S. 432.

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deutsche Seite ihn für sich als ihren berühmtesten Architekten des 19. Jahrhunderts reklamiert. Ludwig Bohnstedt, Sohn eines Kaufmanns, kam in St. Petersburg zur Welt, wo er die erste Hälfte seines Lebens verbrachte. Über dessen Herkunft wird in D[er] Gartenlaube45, dem erfolgreichsten Massenblatt Deutschlands, Folgendes vermerkt: „Da aber sein Vater aus Stralsund und seine Mutter aus Bamberg stammte, so ist aus dem pommerischen und fränkischen Blut ein kerndeutsches Leben entstanden, und zwar mit einem norddeutschen Verstandeskopf und einem süddeutschen warmen Herzen.“46 In St. Petersburg besuchte Ljubim Ljubimovicˇ, so lautete sein slavischer Kosename, die Petri-Schule47, die älteste und renommierteste deutsche Schule, die zur evangelisch-lutherischen St. PetriGemeinde gehörte. Nach dem Studium an der Berliner Akademie der Künste kehrte Bohnstedt in seine Heimatstadt zurück und erwarb sich Meriten bei den Großindustriellen und dem Hochadel als äußerst vielseitiger, rasch arbeitender und zuverlässiger Privatarchitekt. Mehr noch: Bohnstedt wurde zum Hofarchitekten der Großfürstin Elena Pavlovna berufen.48 Später war er als Hofrat und Titularprofessor an der Petersburger Akademie der Künste tätig, wo er eine Werkstatt unterhielt.49 Während der zwanzigjährigen Schaffenszeit wurden in St. Petersburg etwa 40 Gebäude nach seinen Entwürfen erweitert, rekonstruiert oder erbaut.50 Die Gründe für seine endgültige Übersiedlung nach Deutschland sind vielfältig, auch wenn die russischen Quellen lediglich den sich verschlechternden Gesundheitszustand51 nennen. Der prinzipientreue Bohnstedt, der mit Vehemenz gegen den korrupten Staatsapparat und das bürokratische Bescheinigungswirrwarr ankämpfte, machte sich oft unbeliebt bei Auftraggebern, Kollegen und Vorgesetzten. Bereits 1852 geriet er ins Fadenkreuz der Behörden, als er zwei entflohene Leibeigene mit Stuckarbeiten ausgerechnet an einem Ministerialgebäude beauftragte.52 In den späten 1850er-Jahren verschlimmerte sich seine wirtschaftliche Lage als freischaffender Architekt zusehends, nicht nur weil die Baufreudigkeit der privaten Auftraggeber rapide nachließ, sondern auch weil der

45 Allgemein dazu Stockinger, Claudia: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt „Die Gartenlaube“. Göttingen 2018. 46 [J. H.]: Des Reiches „erster“ Baumeister, in: Die Gartenlaube 29/1872, S. 473–477, hier S. 474. 47 Koch, Deutsch als Fremdsprache, S. 121–125. 48 Dolgner, Dieter: Architektur im 19. Jahrhundert. Ludwig Bohnstedt. Leben und Werk. Weimar 1979, S. 29f. ˇ ekanova, Bonsˇted, S. 431. 49 C 50 Ebd., S. 432. 51 Ebd., S. 439. 52 Ebd., S. 31.

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Rat der Akademie die Vergabe von staatlichen Aufträgen manipulierte.53 Kurzum überwog „der Widerwille gegen gewisse allbekannte russische Landüblichkeiten, die ihm gerade bei Bauunternehmungen in häßlichster Gestalt entgegenkamen“, wie es im obig zitierten Gartenlaube-Heft heißt.54 Bohnstedt, der dem russischen Bildungswesen misstraute, war daher auch um die Ausbildung seiner Söhne besorgt.55 Als binnen Kurzem seine Mutter, die Tochter Emma (*1860) und der Sohn Otto (*1862) starben, hielt ihn nichts mehr in St. Petersburg. Seine neue Heimat fand er nicht etwa in den Kunstzentren Berlin oder München, sondern in der thüringischen Residenzstadt Gotha, wo intensive Wissenschaftsbeziehungen zu Russland und insbesondere zur St. Petersburger Akademie der Wissenschaften gepflegt wurden.56 Der mit dem ersten Preis prämierte, jedoch nicht verwirklichte Entwurf des neuen Reichstagsgebäudes trug Bohnstedt den Titel des „Reiches ersten Baumeister[s]“57 ein und katapultierte ihn auf den Olymp der zeitgenössischen Baukünstler. Er war für einige Monumentalbauten in Riga, Mailand, Madrid und Helsinki verantwortlich. Auch wenn Ludwig Bohnstedt als einer der wichtigsten europäischen Architekten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt, bleibt er als Maler bis heute weitestgehend unbekannt. Die große Anzahl an Landschaftsskizzen in Feder, Aquarell und Gouache, die er während seiner Studienreise durch Südeuropa anfertigte, zeigen die anfängliche Unentschlossenheit, so Dieter Dolgner in der Künstlermonographie Bohnstedts, ob „er der Landschaftsmalerei oder der Architektur den Vorzug in seinem späteren Schaffen einräumen sollte.“58 Auch seine Tochter Ida (1858–1922) und einige Verwandte mütterlicherseits waren zeichnerisch außergewöhnlich begabt. Der weltbekannte Expressionist Franz Marc59, dessen Leben 1916 in der Schlacht bei Verdun ein jähes Ende fand, war sein Großneffe.

53 Dolgner, Architektur im 19. Jahrhundert, S. 33. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei Prof. Dr. Dieter Dolgner und seiner Frau für die engagierte Unterstützung und bereitwillige Auskunft bedanken. 54 [J. H.], Des Reiches „erster“ Baumeister, S. 474. 55 Dolgner, Architektur im 19. Jahrhundert, S. 33–35. 56 Dolgner, Dieter: Ludwig Bohnstedt, in: Goltz, Hermann (Hg.): Tausend Jahre Taufe Rußlands – Rußland in Europa. Beiträge zum interdisziplinären und ökumenischen Symposium in Halle. Leipzig 1993, S. 493–516, hier S. 511. 57 [J. H.], Des Reiches „erster“ Baumeister, S. 474. 58 Dolgner, Architektur im 19. Jahrhundert, S. 28. Einige aquarellierte Landschaftszeichnungen, die Bohnstedt bis in die 1860er-Jahre anfertigte, kursieren nach wie vor im Kunsthandel. 59 Zu Franz Marc siehe stellvertretend Kohle, Hubertus: Franz Marc (1880–1916), in: Weigand, Katharina (Hg.): Große Gestalten der bayerischen Geschichte. München 2011, S. 403–419.

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3.

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Die deutschen Illustratoren des russischen Stepka-rastrepka

Die Illustrationen zum russischen Struwwelpeter stammen aus jener Zeit, als sich der junge Bohnstedt – noch vor seinem endgültigen Durchbruch als Privatarchitekt in 1848/1849 – mangels Aufträgen fast fünf Jahre lang mit Zeichen- und Mathematikunterricht über Wasser halten musste und sich in dieser Zeit intensiv mit der Aquarellmalerei beschäftigte (Abb. 1).60 Für die Autorschaft Bohnstedts sprechen zunächst pragmatische Gründe: Es liegt auf der Hand, dass Christian Gince, der deutschstämmige Inhaber einer florierenden, renommierten Privattypographie61, nicht nur in St. Petersburg ansässige Übersetzer, sondern auch Illustratoren aus der großen deutschen Kolonie rekrutierte. Sowohl im zaristischen als auch im (post-)sowjetischen Russland beteiligten sich arrivierte, klassisch ausgebildete Künstlerinnen und Künstler an der Gestaltung von Kinderbüchern,62 was für das hohe Renommee der Kinderliteratur im Land spricht. Die zweifelsfreie kunsthistorische Attribuierung bestätigen außerdem filigrane Arabesken, welche Bohnstedt beherrschte, sowie die Volkstypen der sogenannten Muzˇiks, der grobschlächtigen Bauern, die sich bereits in seinen Schülerzeichnungen nachweisen lassen.63 Es ist ferner davon auszugehen, dass Ludwig Bohnstedt, der nach seinem zweijährigen Kunst- und Architekturstudium in Berlin eine ebenso lange Studienreise absolvierte und der im Jahre 1843 von der Russischen Akademie der Künste als „freier Künstler“64 anerkannt wurde und seinen Zeitgenossen als „geschickter Zeichner, ausgezeichneter Kunstmaler“65 60 In dieser Zeit erschuf Bohnstedt die Stadtansichten von St. Petersburg und Moskau, die man Queen Victoria als Geschenk zu ihrem zehnjährigen Thronjubiläum überreichte. Die Serie wurde im Jahre 1956 von Queen Elizabeth II. an Klim Vorosˇilov weiterverschenkt. Seitdem gehört sie zum Bestand der Staatlichen Eremitage. Bis heute werden Bohnstedts Bilder als miniaturisierte Derivate der Souvenir-Industrie in Form von Postkarten und Kunstdrucken vertrieben. 61 Zum vielfältigen Sortiment der Typographie gehörten Kalender, naturwissenschaftliche, historische und theologische Ausgaben, meist Übersetzungen aus dem Deutschen, sowie Werke russischer und internationaler Autoren wie Aleksandr Pusˇkin, Nikolaj Gogol’, Victor Hugo, E. T. A. Hoffmann und Washington Irving. Als wichtigste Einkommensquelle für mehrere Jahrzehnte fungierten zahlreiche Gedichtanthologien sowie übersetzte Schul- und Kinderbücher aus Deutschland. 62 Lemmens, Albert/Stommels, Serge: Russian Artists and the Children’s Book 1890–1992. Nimwegen 2009. Während der NEP-Ära (1921–1928), die der sowjetischen Kinderliteratur eine innovative Blütezeit bescherte, konnten zahlreiche (Kubo-)Futuristen, Konstruktivisten und Suprematisten, wie die Graphiker El Lissitzky oder Vladimir Lebedev, als Illustratoren gewonnen werden. Siehe dazu Rothenstein, Julian/Budashevskaya, Olga (Hg.): Schatzkammer der Revolution. Russische Kinderbücher von 1920–1935: Bücher aus bewegten Zeiten. Zürich 2013. 63 Telefonat mit Dieter Dolgner am 28. 11. 2017. 64 Dolgner, Ludwig Bohnstedt, S. 495. 65 Sˇreter, V. A.: Ludvid Ludvigovicˇ Bonsˇtedt, in: Zodcˇij 15(1–2)/1886, S. 1–3, hier S. 1.

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galt, die qualitativ elaborierteren Zeichnungen beisteuerte als sein Kollege, der damals zwanzigjährige Georg Hohenfelden. Allein aufgrund seines Alters und seiner Expertise musste Bohnstedt bei diesem Gemeinschaftsprojekt die Federführung obliegen. Durchaus denkbar ist auch, dass er, wie viele andere Künstler, diesen Erwerbsauftrag bagatellisierte und rasch vergaß. Bis heute schenkt man in der Kunstgeschichte den Künstlerbilderbüchern aufgrund ihres vermeintlichen pädagogischen Primats kaum Beachtung.66 Georg Hohenfelden war nicht, wie Hasso Böhme jüngst behauptet, in erster Linie für die Zeichnungen, sondern eher für die Holzstiche, die sogenannten Xylographien, zuständig.67

Abb. 1

Die Petersburger Illustratoren orientieren sich maßgeblich an der deutschen Vorlage, was sich in frappanten Analogien zeigt: Kopiert bzw. modifiziert werden nicht nur die Komposition der monoszenischen Bildfolgen, die Mimik und Gestik der Protagonisten, sondern auch die vestimentären Details und das bürgerliche Interieur. Wie bei Hoffmann handelt es sich bei den Zeichnungen um Alltagsszenen. Bohnstedt und Hohenfelden reduzieren die Anzahl der Bilder und konzentrieren die Handlung auf einige wenige, dramatische Momentaufnahmen. Der naiv-kindliche Zeichenduktus, Hoffmanns bewusste Imitation von Kinderkritzeleien, wird ins akademisch Versierte und Realistische überführt: Seine 66 Heller, Das Künstlerbilderbuch, S. 196, S. 201. 67 Böhme, „Stepka-rastrepka“, S. 88. Böhme hält ihn sogar für einen „Schüler“ (ebd., S. 86) Bohnstedts, was wiederum die Federführung Hohenfeldens bei diesem Projekt noch unwarscheinlicher macht.

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„Dilettantengestalten“68 verlieren endgültig ihre Strichmännchenhaftigkeit; das rosige Inkarnat der Wangen evoziert eine Vorstellung herzig pausbäckiger russischer Kinder. Das Tableau auf dem Titelblatt präsentiert das anvisierte Publikum – die Kinder der russischen Oberschicht – und scheinbar alles, was die damalige Spielzeugindustrie zu bieten hatte (Abb. 2). Puppen und Puppenküche samt Kaffeeservice des modisch gekleideten Mädchens fungieren als Repräsentationsarsenal des weiblichen Rollenkonzepts. Während Heinrich Hoffmann im weihnachtlichen Prolog einen Jungen mit einem berittenen, bewaffneten Soldaten spielen lässt, ist in der russischen Ausgabe das spielende Kind selbst ein Kavallerist en miniature, der mit einem Säbel ausgerüstet auf einem gescheckten Schaukelpferd reitet. Auf dem Kopf trägt der Knabe einen Helm mit Rosshaarschweif des Garde-Kürassier-Regiments der Kaiserin (Chevalier Garde), einer Eliteeinheit aus dem Napoleonischen Krieg. Ein Spielzeuggrenadier, dessen Bajonett wie auch ein Schwert mit goldenem Knauf bereits bei Hoffmann zu finden sind, eine bunte Trommel, eine Trompete, eine Standarte, ein kleiner Tisch mit Schreibutensilien sowie eine Spielzeugkutsche sind wiederum Figuranten männlicher Rollenfindungsrituale. Einige von diesen Gegenständen, wie etwa das Pferdchen, die Puppe und das Kaffeekännchen, tauchen später in der revidierten deutschen Auflage69 als Gaben des Christkindes auf. Darüber hinaus zitiert das Illustratoren-Duo das Bildrepertoire der Commedia dell’Arte bzw. des Jahrmarktpuppenspiels: Gleich zweimal ist der maskierte Pedrolino bzw. Pierrot zu sehen, erkennbar an seinem losen weißen Kostüm mit großen Knöpfen. Abgebildet sind auch der Teufel und eine Handpuppe mit roter Kappe und Hakennase, den Attributen von Petrusˇka, des transkulturellen Abkömmlings von Pulcinella.70 Die rebellische Attitüde des Hoffmannschen Struwwelpeters zeigt sich vor allem in der Statuarik seiner Imponierpose und in seiner Frisur. Mit weit gespreizten Beinen steht er exponiert auf einer Platte und hält seine Hände mit armlangen Fingernägeln im deiktischen Gestus weit vom Rumpf weg. Seine überlangen Haare, der hervor-ragende Körperteil, verdecken das ganze Gesicht,71 68 Hoffmann, Lebenserinnerungen, S. 141. 69 Als Gründe für die Neuillustration des inzwischen weltberühmten Bestsellers gelten zum einen die technologische Umstellung auf kostengünstige Reproduktionsverfahren von Lithographie auf Holzdruck, zum anderen die strategische Reaktion auf epigonale Bilderbücher, die den Markt überschwemmten, schließlich die Konzession an die Kritiker, die nicht etwa die dargestellten Grausamkeiten, sondern die schlecht gezeichneten „Fratzen“ monierten. Dazu Zekorn-von Bebenburg, Beate: Der Struwwelpeter, S. 62. 70 Kelly, Catriona: Petrushka. The Russian Carnival Puppet Theatre. Cambridge 1990. 71 Die fast bis zum Boden reichende Mähne des Struwwelpeters im zweiten Manuskript wurde später durch die emblematische „Afro-Frisur“ ersetzt; vgl. Zekorn-von Bebenburg, Der Struwwelpeter, S. 62.

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Abb. 2

während er mit einem selbstbewussten Blick das (Lese-)Publikum taxiert. Im Gegensatz zu ihm schaut der russische Stepka-rastrepka – zum pausbäckigen, grimmig dreinschauenden Jungen infantilisiert – verschämt nach unten. Die Fingernägel und Haarsträhnen sind kürzer, seine Hände enger am Körper. Beim klassischen Kontrapost berührt nur der Ballen des Spielbeins den Boden, was Stepka einen unsicheren Halt verleiht. Durch diese körpersprachlichen Unterwerfungsgesten wird hier keine Revolte, sondern eine Beschämungs- bzw. Läuterungsszene dargestellt. „Struwwelpeter’s alter ego east of his home in German lands“, schreibt die polnische Literaturwissenschaftlerin Joanna Dybiec-Gajer, „due to illustrative transformation became more civilised, tamed but also more conventional.“72 In einer 1909 publizierten Neuübersetzung, die im Verlag des 72 Dybiec-Gajer, Joanna: Postanthropocentric Transformations in Children’s Literature: Transcreating Struwwelpeter, in: Dybiec-Gajer, Joanna/Oittinen, Riitta/Kodura, Małgorzata (Hg.): Negotiating Translation and Transcreation of Children’s Literature. From Alice to the Moomins. Singapore 2020, S. 39–55, hier S. 45.

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deutschstämmigen Josef Knebel erschienen war, mutierte Stepka-rastrepka längst zu einem schmuddeligen Schuljungen in derangierter Kleidung mit leicht zerzausten Haaren und spitz gefeilten Fingernägeln, die an die Maniküre-Modeerscheinung der stiletto nails erinnern.73 Bohnstedt, dem Dieter Dolgner die zeichnerische Ausführung von Stepka eindeutig zuweist,74 greift den anarchischen, grobianischen Aspekt des Originals auf, indem er das Kostüm seines Titelhelden – ein mit verschiedenfarbigen Flicken besetztes Trikot – am Arlecchino, einer Figur der Commedia dell’Arte, modelliert. Das Farbspektrum ist hier nicht beliebig, sondern folgt der entsprechenden Programmatik, die allerdings bei den Wiederauflagen verloren geht. Bezeichnenderweise orientieren sich die späteren russischen Ausgaben an der Farbgebung des deutschen Originals: Während beispielsweise der erste handkolorierte Stepka-rastrepka die harlekinartigen Flickenkaros in den klassischen Farben Rot, Gelb und Blau trägt, wird er bei den Wiederauflagen in das ikonische Kostüm des Struwwelpeters gesteckt – in den roten Kittel, die Protestkleidung rebellischer Studenten im Vormärz,75 und grüne Beinkleider. Die aktuelle Ausgabe (2012) – seit den 1920er-Jahren war dieses vermeintlich bourgeoise Bilderbuch in der Sowjetunion verboten – bezieht sich zwar auf die stilistisch geglättete Vorlage des Verlegers Mavrikij Vol’f von 1857, übernimmt aber die Hoffmannschen Illustrationen der kanonischen Version. Erwähnenswert ist darüber hinaus auch die Tatsache, dass Bohnstedt den Titelhelden, der bei der Übersetzung einen ur-russischen, den damals äußerst populären, sozialdistinktiven Namen Stepan bzw. Stepka erhielt, nach westeuropäischer Manier einkleidet und nicht etwa die naheliegende Bildtradition des Volkstypus „Muzˇik“ zitiert. Über diese Entscheidung lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise sollte die fremdländische Kleidung die soziale Degradierung der Titelfigur konterkarieren. Die Verwestlichung von Stepka setzte sich aber nicht durch. In den russischen Adaptationen fallen piktorale und textuelle Ebenen zusammen: Der Held mutiert endgültig zu einem schmuddeligen russischen Dorfjungen. Im Lustige[n] Lesebüchlein für niedere Stände wird beispielsweise der Analphabet Stepka von einem Geißbock ausgelacht.76 In einer Struwwelpetriade aus der früheren Sowjetzeit muss er als Galionsfigur des rückständigen Bauerntums im Rahmen einer Hygienekampagne gegen den adretten Petrusˇka, den bolschewistischen homo novus, antreten.77 Der Vorna73 74 75 76

o. A.: Stepka-rastrepka. Rissunki B. V. Zvorykina. Moskva 1909. Telefonat mit Dieter Dolgner am 28. 11. 2017. Herzog/Herzog-Hoinkis/Siefert, Heinrich Hoffmann, S. 72. o. A.: Zabavnaja knizˇka dlja cˇtenija. Knizˇka dlja cˇtenija v 1. godu obucˇenija. Moskva 1911, S. 46–48. 77 Dazu auch Hlawacek, Adelheid: Der Krieg von Petruschka und Stjopka Rastropka, in: Struwwelpost 12/2006, S. 15–21.

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me Stepan, ein Distinktionsmerkmal der sozialen Klasse, fungiert hier erneut als Zivilisationsindex. Das Inszenierungspotential der Kleidung, über die das Klassenbewusstsein ventiliert wird, spielt bei Bohnstedt/Hohenfelden eine größere Rolle als im Original. Die Draperie der Kleidung ist im raffinierten Licht-Schatten-Spiel schraffiert, das sich besonders in den monochromen Lithographien zeigt. Anders als ihre westeuropäischen Pendants sind die russischen Figuren fashionabler ausgestattet. Die Schuten und Hauben der Damen sind nach der neuesten Mode mit Bändern ausgeschmückt. Katjusˇa, das russische Paulinchen, erhält ein eleganteres Kleid mit Rüschen- und Spitzenbordüren. Unter ihren Kleidchen tragen beide Mädchen Beinkleider mit Spitzensaum, die europaweit bei den präadoleszenten Bessergestellten als „mark of gentility“78 galten. Das Karikatureske des deutschen Originals zitierend, werden die Herren als skurrile Sonderlinge mit markanten Nasen und schütterem Haar dargestellt. Der von den Illustratoren erfundene, drollig kostümierte Barbier hat, wie es seinem Berufsstand gebührt, eine modische Coiffure mit ondulierten Locken. Augenfällig ist, dass allen Männern in der russischen Version die sogenannte Säufernase wächst, die – durch Schraffuren und/oder Farbe angezeigt – den Alkoholismus ihres Besitzers symbolisieren sollte. Wilhelm Busch dichtete später in seinem Lied über die rote Nase: „Treulich hat sie mich begleitet | Bald zum Schnaps und bald zum Wein | Darum glänzt sie auch so prächtig | Wie ein roter Edelstein.“79 Die rote Nase steht affirmativ für das im deutschen Russenbild tradierte Nationalstereotyp des Trinkers.80 Als landesspezifische Konzession russifizieren die Illustratoren die deutsche Vorlage, indem sie beispielsweise Fedja, das Pendant zum bösen Friederich, in Volkstracht zeigen: Der Junge trägt das kosovorotka-Hemd mit seitlich versetztem Halsausschnitt als Oberhemd, das an der Taille gegürtet wird, weite Hosen und hohe Stiefel. Die bäuerlich gekleideten Muzˇiks, die den russischen HannsGuck-in-die-Luft aus dem Fluss fischen, haben nicht nur traditionelle Mützen auf dem Kopf, sondern auch eine kleine Axt als Accessoire am Gürtel. Gerade weil die Namensgleichheit mit dem reaktionären Monarchen Nikolaj I. (1796–1855) bereits ein Politikum war und alle Bücher der zaristischen Zensurbehörde vorgelegt werden mussten, wurde der Bischof Nikolaus durch einen namenlosen Zaubererriesen, einen „bösen alten Mann“, ersetzt, der die Jugend 78 Laver, James: Costume and Fashion. A Concise History. London 42002, S. 178. 79 Busch, Wilhelm: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von Friedrich Bohne, Bd. 1. Wiesbaden 1960, S. 84. 80 Derartige Zuschreibungen durch westeuropäische Reisende sind bereits aus dem 16. Jahrhundert bekannt. Dazu Scheidegger, Gabriele: Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse. Zürich 1993.

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bestraft – wiederum lesbar als eine Anspielung auf den Zaren Nikolaj.81 Der korpulente Alte erinnert an die Figur des Il Dottore aus der Commedia dell’Arte. Dessen Umhang, einem Professoren- oder Advokatentalar nicht unähnlich, wirft effektvolle Falten. Der ikonische Gestus des erhobenen Zeigefingers der rechten Hand weist ihn als den notorischen Besserwisser aus; der schuldzuweisende Zeigefinger der linken Hand ist auf die kindlichen Missetäter gerichtet. Das Tintenfass und die Schreibfeder sind Ironieverweise auf seinen Status als homo doctus. Die tiefrote Nase, bereits bei den lithographischen Zeichnungen dunkel schraffiert, verrät auch hier den habituellen Alkoholkonsum von Il Dottore82 (Abb. 3).

Abb. 3

Das Illustratoren-Duo modifiziert nicht nur die Bilder, sondern auch die Arabesken, die bereits Hoffmann als Rahmendekor und zur Textbegleitung einsetzte.83 Diese Ornamente symbolisieren das (romantische) Kunstwerk per se, weil sie „durch ihre Verwindungen und Verschlingungen vom erlebten, realen 81 McEwan, Dorothea: Der gute Bischof Nikolaus. Aby Wartburgs Interpretation der russischen Übersetzung von „Struwwelpeter“ und die politischen Parodien „Struwwelhitler – A Nazi Story Book“ und „Schicklgrüber“, in: Zeitschrift für Volkskunde. Halbjahresschrift der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 102/2006, S. 67–90, hier S. 71–75. 82 Rudlin, John: Commedia dell’Arte. An Actor’s Handbook. London/New York 1994, S. 100. 83 Pommeranz, Johannes: „Struwwelpeter-Arabesken“: Gedanken zum Urmanuskript, in: ders. (Bearb.): Struwwelpeters Welt: mit originalgetreuem Nachdruck des „Struwwelpeter“-Urmanuskripts von Dr. Heinrich Hoffmann (1809–1894) zu seinem 200. Geburtstag. Hg. Germanisches Nationalmuseum. Nürnberg 2009, S. 65–79, hier S. 74.

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Alltag des Lesers in das Reich der Literatur und damit der Fantasie überleiten sollen.“84 Bezeichnend ist, dass alle Arabesken mit der „GHF“-Signatur rein dekorativer Natur sind. Sie bestehen aus Stabgerüsten mit Bändern oder aus vegetabilen Elementen wie dem knorrigen Wurzelwerk oder Efeu. Elaboriertere, häufig unsignierte Arabesken, die ich Ludwig Bohnstedt zuweise, kombinieren verschiedene Darstellungsmodi und fungieren oft als Strukturelemente; so trennen eine überdimensionierte, mit ebenso großem Messer verkeilte Gabel oder eine riesige Schreibfeder den Raum. Die Attribute des Barbiers (ein Kamm, eine Schere und eine Figurine) werden ins Dekorative eingebettet. Ein zerrissenes Buch – die Hinzufügung des russischen Übersetzers – und eine malträtierte Katze, schielend und mit ausgestreckter Zunge dargestellt, sowie ein Medizinfläschchen, in den ornamentalen Ranken versteckt, flankieren die Geschichte vom bösen Friederich. Eine mit Hummer, Fischen und Wurstringen opulent verzierte Arabeske setzt das Tableau der bürgerlichen Mahlzeit in Szene, die der Zappel-Philipp bereits auf der nächsten Seite sabotiert. Diese Füllhorndarstellung zitiert Hoffmann in seiner revidierten Neuauflage. Die Überschrift Andrej Rotozej taucht auf einem fliegenden Drachen auf, der mit den Quasten an die kulissenhafte Arabeske gebunden ist. Eine zierliche Wasserfontäne in Form einer Ente kommentiert ironisch den Ausgang der Geschichte vom zerstreuten Jungen. Das formale Verfahren der Arabesken, „das Heterogene“ zu einem Ensemble zu verbinden, „ohne es bis zur Unkenntlichkeit zu amalgamieren“,85 wird Bohnstedt später auch in seinen architektonischen Werken aufgreifen. Die Reime und Bilder von Stepka-rastrepka dienten als Vorlage für die erste polnische Ausgabe (1857). Einige Illustrationen hatte man dabei graphisch polonisiert; so wurden unter anderem die bereits erwähnten mit einer Axt ausgestatteten Bauern, die dem ertrinkenden Hanns-Guck-in-die-Luft zu Hilfe eilen, in landesspezifische Volkstrachten eingekleidet und entwaffnet.86 Interessanterweise verwendete man bei einigen russischen Wiederauflagen die polnische Version. Dass diese „Übersetzung aus zweiter Hand“87 ausgerechnet in St. Pe84 Ebd., S.76. Zur romantischen Emanzipation der Arabeske siehe auch Oesterle, Günter: Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“, in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft 1/91, S. 69–107, hier S. 94–98. 85 Ebd., S. 90, S. 97. 86 Dybiec-Gajer, Joanna: Von der Popularität in die Vergessenheit. Rätselhafte Wege des polnischen Struwwelpeter – zum 170. Jubiläum der Erstausgabe, in: Struwwelpost 22/2016, S. 4– 13, hier S. 6.; siehe auch dies.: Mixing Moralizing with Enfreakment – Polish Language Rewritings of Heinrich Hoffmann’s Classic Struwwelpeter (1845), in: Kérchy, Anna/Sundmark, Björn (Hg.): Translating and Transmediating Children’s Literature. Palgrave 2020, S. 71–86. 87 Dazu grundlegend Stackelberg, Jürgen von: Übersetzungen aus zweiter Hand: Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin/New York 1984.

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Oxane Leingang

tersburg erschien, war kein Zufall, verbirgt sich doch hinter dem russifizierten Namen Mavrikij Vol’f der aus einer jüdischen Familie stammende und in Warschau geborene Bolesław Maurycy Wolff (1825–1883). Dieser machte in der Zarenmetropole eine fulminante Karriere als Verleger von pädagogischen Schriften und stieg sogar zum kaiserlichen Hoflieferanten auf. Als folgenreiches Geschenk übersandte er Heinrich Hoffmann die im Eingangszitat erwähnte russischsprachige Ausgabe mit folgender Widmung auf Deutsch: „Dem Verfasser des Werkes [,] welches auch in Rußland tausende der Kinder erfreuete [sic!], sendet als Zeichnung seiner Hochachtung der Verleger der russischen Übersetzung Boleslas Maurin [sic!] Wolff.“88 Dem dilettantischen „authorstrator“89 Hoffmann gefielen die handkolorierten Zeichnungen so gut, dass er bei der Gestaltung der zweiten Struwwelpeter-Fassung von 185990 die Petersburger Ausgabe als Bildzitate verwendete. Somit hatten Georg Hohenfelden und vor allem Ludwig Bohnstedt die Ikonizität einzelner Figuren stark mitbeeinflusst.

4.

Fazit

Stepka-rastrepka ist ein exponiertes Beispiel für die kulturellen Aneignungs- und Zirkulationsprozesse. Eine deutsche Vorlage wurde zwar mit dem Rekurs auf die dezidiert westeuropäische Bildtradition der Commedia dell’Arte neuinterpretiert, erhielt aber durch punktuelle Details ein landesspezifisches Kolorit. Ein ähnliches synthetisierendes Nebeneinander lässt sich interessanterweise auch in den Bauwerken und in den nicht verwirklichten architektonischen Entwürfen Bohnstedts nachweisen:91 „Er spielte in experimenteller Absicht die […] Stilvariationen durch und berücksichtigte hierbei sowohl das national-spezifische russische Formengut als auch im Ausland – vor allem in Italien und Deutschland – aufgenommene Anregungen“, schreibt sein Biograph Dieter Dolgner.92

88 Zit. nach Sauer, Walter: A Classic is Born: The „Childhood“ of Struwwelpeter, in: The Papers of the Bibliographical Society of America 97(2)/2003, S. 215–263, hier S. 253, Fn. 130. 89 Salisbury, Martin: „The Artist and the Postmodern Picturebook“, in: Sipe, Lawrence R./ Pantaleo, Sylvia (Hg.): Postmodern Picturebooks. Play, Parody, and Self-Referentiality. New York/Abington 2008, S. 22–40, hier S. 23. 90 Diese Struwwelpeter-Version gilt als kanonisch, weil sie die Reihenfolge und die Anzahl der Geschichten endgültig festlegte und das Bilderbuch zudem nicht mehr unter dem Pseudonym „Reimerich bzw. Heinrich Kinderlieb“, sondern unter dem eigentlichen Namen des Autors veröffentlicht wurde. Vgl. Sauer, Walter: Der Struwwelpeter und Stepka Rastrepka. Zur Ikonographie der 2. Struwwelpeterfassung. Mit Abbildungen, in: Schiefertafel. Zeitschrift für Kinder- und Jugendbuchforschung VIII (1)/1985, S. 20–34, hier S. 24. 91 Zur synthetisierenden Strategie (post-)sowjetischer Illustratoren siehe den Beitrag von Birgitte Beck Pristed im vorliegenden Band. 92 Dolgner, Ludwig Bohnstedt, S. 500.

„Deutschlands erster Baumeister“ als Illustrator des russischen Struwwelpeters?

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An Stepka-rastrepka lässt sich darüber hinaus das produktive allelopoietische93 Zusammenwirken zwischen Aufnahme- und Referenzkultur beobachten. Die Petersburger Illustratoren modifizierten durch technische Raffinesse und humoristische Einfälle die deutsche Vorlage. Ihre Interpretation wurde wiederum bei der revidierten Neuauflage vom Autor selbst akribisch kopiert, was die Rückkopplungseffekte des bi-direktionalen Transformationsmodells bestätigt.94 Hoffmann übernahm beispielsweise nicht nur die Bildkomposition der Bettszene und die komplette Paulinchen-Sequenz, sondern auch viele amüsante Details – die Serviette um den Hundehals, den zu Schleifen gebundenen Trauerflor an den Schwänzen der Katzen, das flatternde Maßband des blutrünstigen Schneiders und die Fußfehlstellung des inzwischen daumenlos gewordenen Konrads. Er imitierte auch die Gesten der aufgebrachten Mutter des Zappel-Philipps.95 Lediglich die Geschichte vom wilden Jäger blieb unverändert, wurde doch diese mundus inversus-Episode von dem bewaffneten, schießwütigen Hasen in der russischen Ausgabe aus pädagogischen Gründen getilgt. Nach der „‚Enttarnung‘ dieser ‚russischen Verbindung‘“, schreibt Walter Sauer apologetisch, wird man freilich dem „Vater des Struwwelpeters“ weiterhin Tribut zollen, eines der erfolgreichsten und liebenswerten Kinderbücher des 19. Jahrhunderts geschaffen zu haben. Der „Struwwelpeter“ aber kann in mehr als einem Sinne ein europäisches Kinderbilderbuch genannt werden.96

Eingedenk der Tatsache, dass beide St. Petersburger Illustratoren, der Verleger und vielleicht auch der Übersetzer deutschstämmig waren, ist diese „russische Verbindung“ viel deutscher, als man zunächst dachte. Die nachhaltige Wirkung der deutschen „wissenschaftlich-pädagogischen, verlegerischen und buchhändlerischen Diaspora“97 auf die russische Kinderliteratur im letzten Drittel des 18.

93 In den griechischen Begriffen allelon (gegenseitig) und poiesis (Hervorbringung) archiviert, bezeichnet die Allelopoiese den konstruktiven Akt der Neufigurationen innerhalb der Referenz- und Aufnahmekultur. Vgl. dazu ausführlicher Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/ Schirrmeister, Albert et al.: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung des kulturellen Wandels, in: Böhme, Hartmut/Bergemann, Lutz/Dönike, Martin et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung des kulturellen Wandels. München 2011, S. 39–56. 94 Böhme, Hartmut: Einladung zur Transformation, in: Böhme/Bergemann/Dönike, Transformation, S. 7–37, hier S. 27. 95 Zunächst schielt sie durch ein Glas ihrer Lorgnette auf den Stuhlwackler; als sie ihre Contenance endgültig verliert, inspiziert sie das Ausmaß der Tischunordnung durch beide Brillengläser. 96 Sauer, Walter: Struwwelpeters Verbindung nach Rußland. Zur Entstehung der zweiten Auflage von Heinrich Hoffmanns Kinderbuch, in: FAZ vom 28. 04. 1984, S. 38; auch Sauer, A Classic is Born, insbesondere S. 252–257. 97 Sergienko, Inna: Nemeckie avtory – russkim detjam: Opyt bibliografii detskoj knigi vtoroj poloviny XVIII veka, in: Detskie cˇtenija 17(2)/2017, S. 382–411, hier S. 390.

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Oxane Leingang

und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden.98

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Meyer, E.: Ludwig Bohnstedt, Lithographie, 1841, aus: Dolgner, Dieter: Architektur im 19. Jahrhundert. Ludwig Bohnstedt. Leben und Werk. Weimar 1979, Bildteil, S. 157. Abb. 2: Bohnstedt, Ludwig/Hohenfelden, Georg: Frontispiz, aus: Stepka-rastrepka. Razskasy dlja detej. Sankt-Peterburg 1849. Abb. 3: Bohnstedt, Ludwig/Hohenfelden, Georg: Illustration, aus: Stepka-rastrepka. Razskasy dlja detej. Sankt-Peterburg 1849, S. 8, eine nicht kolorierte Ausgabe.

98 Dazu ausführlicher auch Leingang, Oxane: Unter deutscher Ägide – Der kinderliterarische Kulturtransfer in Russland und seine wichtigsten Instanzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Cahier d’etudes germaniques 81/2022, S. 151–168.

Birgitte Beck Pristed (Aarhus)

Russian Illustration in German Children’s Books of the 1980s–1990s

A main narrative of the recent history of Russian book art goes as follows: after the 1991 breakdown of the Soviet Union and the subsequent decline of the centralized state publishing system, imported translations of popular Western children’s books, comics, and cartoons boomed at the new Russian book market and replaced the long tradition of illustrated Soviet children’s books.1 Without reducing the challenges of Russian children’s book publishing under the difficult post-Soviet conditions of privatization,2 this article suggests that rather than being lost, classic Russian illustration successfully transferred to German niche publishers of illustrated children’s literature. Here the Soviet school of book illustration met the German tradition of high-quality book publishing and printing craft, and these economically and politically different, and yet culturally similar, uncompromisingly ambitious traditions mutually enriched each other. The mid-1980s was a time of change, not only in the USSR, where Soviet state publishers struggled to implement Gorbachev’s perestroika reforms, but also in the traditional South-West German publishing landscape of middle-sized family businesses that faced increasing market pressure, restructurings and mergers. During these years, Gerhard Schreiber, the owner of the German children’s book publisher Esslinger Verlag J. F. Schreiber, began publishing the works of a number of Russian children’s book illustrators, among them Nikolai Ustinov, Igor Il’inskii, Gennadii Spirin, Anastasia Arkhipova, Ol’ga Dugina and Andrei Dugin. However, this is not the beginning of the stereotypical story about a West German “capitalist,” who wanted to profit on the assets of the ailing Soviet state 1 An early version of this article was presented at the International Conference “Russian-German Contacts in Children’s Literature”, June 7th–June 8th, 2018, at the Institute of Russian Literature (Pushkin House), St. Petersburg, Russia, and a Russian version is published as Pristed, Birgitte Beck: Illiustratsii rossiiskikh khudozhnikov v nemetskikh detskikh knigakh (1980–1990-е gody), in: Detskie chtenia 15(1)/2019, pp. 262–280. 2 Kondratov, Sergej: Stanovlenie negosudarstvennogo knigoizdaniia v Rossii (1987–1993), in: Kniga: issledovaniia i materialy 4/1997, pp. 61–80, here p. 70; Pristed, Birgitte Beck: The New Russian Book: A Graphic Cultural History. Cham 2017, pp. 61–82.

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Birgitte Beck Pristed

publishers of children’s literature, but rather about an esteemed mentor, who sparked the illustrators’ international careers. Based on a series of oral interviews with four of the above mentioned book artists and Schreiber’s former publishing manager, Mathias Berg, together with an examination of a selection of the resulting illustrated children’s books, the present study seeks to nuance our understanding of this recent chapter in Russian-German publishing history.3 Firstly, by resituating the local publishing historiography of J. F. Schreiber Verlag into its larger transnational context of the (post-)Cold War era to discuss the ability of the Russian-German picture book to cross linguistic, geographical, and ideological boundaries. Secondly, by presenting its agents’, the publishers’ and artists’, capabilities (and their limits) of connecting pacifistic ideals with economic pragmatism, professional aims with personal friendships, and a strong sense of obligation to tradition with an even stronger urge for artistic liberation.

1.

J. F. Schreiber Verlag

The publisher Gerhard Schreiber (1922–2007) was a fourth-generation owner of the family business J. F. Schreiber Verlag. The publishing house was founded by his great-great-grandfather Jakob Ferdinand Schreiber (1809–1867) in 1831 in Esslingen near Stuttgart. Jakob Schreiber was the son of a corporal, but lost both of his parents during Napoleon’s invasion of Russia in 1812, and grew up in a military orphanage. Thus, deprived of a carefree childhood himself, the adult Jakob Schreiber became a lithograph printer, and built a publishing house, which specialized in the publication of illustrated print sheets (Bilderbogen) and children’s books, allowing his readers to escape into an adventurous, lost world. He, and later his sons, published among others, the German fin de siècle illustrators, Lothar Meggendorfer (1847–1925) and Sibylle von Olfers (1881–1916), whose works enjoyed international popularity and were translated into a number of languages. The publisher exported not only idyllic fairy tales, but also educational wall charts, developed for object lessons in the Prussian school system, 3 I thank the artists, Anastasiia Arkhipova, Ol’ga Dugina and Andrei Dugin, Nikolai Ustinov and Iulia Ustinova, and former manager of Esslinger Verlag J. F. Schreiber, Matthias Berg, for sharing their works and viewpoints with me, and for invaluable help with finding materials for this study. The J. F. Schreiber publishing archive up to 1945, containing a valuable collection of lithographs and drawings, is kept partly in the J. F. Schreiber Museum, founded 1992 in Stadt Esslingen, partly in Württembergisches Landesmuseum in Stuttgart. However, the press and publishing archive of the 1990s has apparently been lost in the latest 2014 merger with Thienemann Verlag, when the publishing imprint moved from Esslingen into Thienemann’s domicile in Stuttgart. Hence, the present article is primarily based on oral sources with the obvious limitation that such accounts are always subjective.

Russian Illustration in German Children’s Books of the 1980s–1990s

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for example, to Sweden, Serbia, South America, the Austrian-Hungarian Empire, and also to the Russian Empire.4 (Fig. 1)

Fig. 1

In 1948, Gerhard Schreiber stepped into the family business, when the company reobtained its publishing license from the occupation authorities, after it had been closed down by the Nazi regime in 1944. According to the Russian artists’ accounts, Gerhard Schreiber did not initially intend to become a publisher, but had to replace his elder brother who was a prisoner of war in the USSR. Long after his return, the brother would disturb his neighbors by singing the popular Soviet war hymn “Arise, Great Country!” (Vstavai, strana ogromnaia), in the morning, as he had learned in prison.5 Gerhard Schreiber himself was as a young man sent 4 Borst, Otto: Ein Stück deutscher Kulturgeschichte: Dem Verlag J. F. Schreiber zum einhundertfünfzigsten Geburtstag. Esslingen 1981, p. 7–45; Herbst, Helmut: 175 Jahre Verlag J. F. Schreiber in Esslingen, in: Aus dem Antiquariat: Zeitschrift für Antiquare und Büchersammler 6/2006, pp. 458–460; Historischer Verein Leutenbach e. V.: Berühmte Bürger unserer Gemeinde: Ausstellung über den J. F. Schreiber Verlag, Esslingen, im Rathaus in Leutenbach vom 3. Juli bis 30. September 1994, in: Leutenbacher Heimatblätter 4/1994, pp. 1–4, here pp. 2–4; Tielert, Barbara: Die bunte Bilderwelt von J. F. Schreiber, in: Bücher-Markt: das Fachmagazin für Liebhaber alter Bücher, Graphiken und alten Papiers 2/1993, pp. 4–7; 20–22, here pp. 4–5. 5 Interview with the book illustrators and graphic artists, Ol’ga Dugina and Andrei Dugin (Stuttgart, May 11, 2018); Interview with book illustrator Nikolai Ustinov and his daughter, the artist Iulia Ustinova (Moscow June 3, 2018).

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Birgitte Beck Pristed

to the front in Italy, but very soon ended up in the hospital, and spent his recovery learning Italian.6 Like other German publishers, J. F. Schreiber Verlag produced Nazi propaganda for children during the war. Nevertheless, Theodor Haecker, the catholic philosopher and symbol of German anti-fascist resistance, was a close friend of the Schreiber family and maintained a leading position in the Munich-branch of the publishing house during the war, despite political repression.7 Affected by his war experiences, Gerhard Schreiber belonged to a postwar generation who envisioned peaceful coexistence in Europe. Apart from his professional and business interests, such pacifist and philanthropic values, presumably, motivated much of his later publishing activities behind the Iron Curtain. Together with his brothers, Gerhard Schreiber developed a broad postwar publishing program, spanning from an American-inspired children’s journal Teddy (1950s–1980s), to paper craft models, new children’s literature, and reprints of 19th century children’s book classics. However, the middle-sized publishing house, which had around twenty employees by 1987, faced increasing economic difficulties. The subsequent declining quality of cheap reprints represented a threat to its strong, inherited brand. None of Gerhard Schreiber’s three children wished to take over the ailing company, and after 40 years of work, now at retirement age and with declining health, the publisher decided to sell the majority of his shares to the large and old Stuttgart-based publisher, the Klett group. From 1987, the former family-owned company continued as a Klett branch under the imprint “Esslinger Verlag”. Illustrated children’s books had no high priority to the publishing program of the Klett group, which primarily specializes in educational literature and textbooks. However, Esslinger Verlag had relatively free reign to develop their own niche market throughout the 1990s without interference from the side of the Klett management, as long as they did not incur significant losses. From this position, the publishing imprint successfully built up a back catalogue of high-quality illustrated children’s book classics, featuring Soviet and post-Soviet artists.8

6 Ustinov, interview, June 3, 2018; Interview with book illustrator Anastasiia Arkhipova (Moscow, May 31, 2018). 7 Tielert, Die bunte Bilderwelt, pp. 20–22. 8 Interview with former manager of Esslinger Verlag J. F. Schreiber, Mathias Berg (Königstein, May 4, 2018).

Russian Illustration in German Children’s Books of the 1980s–1990s

2.

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Schreiber and Ustinov at the Moscow International Book Exhibition and Fair in 1979

Gerhard Schreiber’s first visit to the USSR took place at the Second Biannual Moscow International Book Exhibition and Fair, September 4–10, 1979.9 The international book fair was part of the cultural diplomacy initiatives following the 1975 Helsinki Accords at the Conference on Security and Cooperation in Europe and the détente efforts to improve relations and exchanges between East and West. The Soviet State Committee for Publishing, Goskomizdat, the All-Union Agency on Copyright, VAAP, and the Soviet foreign trade book agency, The International Book (Mezhdunarodnaia kniga), organized the book fair with participation from 70 countries, 2000 publishers and agencies, and support from UNESCO, under the slogan: “The book serves peace and progress.” Among the Western countries, West German publishers had a very high presence at the book fair,10 presumably due to the important role of book fairs in Germany and existing experience from the GDR-based Leipzig Book Fair, which had served since its 1952 relaunching as a meeting place for East and West German publishers and their readers. As an active member of the West German Association of Book Trade (Börsenverein des deutschen Buchhandels), Schreiber exhibited at the 1979 Moscow fair, but also used the occasion to visit one of its major international exhibitions, which was devoted to children’s books, “The Book and Children” (Kniga i deti). Here Schreiber was acquainted with the illustrations by the children’s book artist, Nikolai Ustinov (b. 1937), whose lyric nature scenes and animal drawings impressed him. Encouraged by the 1979 fair’s “business meeting club” that was set up to stimulate discussions about improved international book trade, Schreiber approached the official agents from VAAP and The International Book and insisted on establishing contact with Nikolai Ustinov. VAAP then invited Ustinov to a meeting with Schreiber in the newly opened, monstrously chic French-Soviet construction, Hotel Kosmos, where all international guests were housed.11

9 Ustinov, interview, June 3, 2018. 10 Solonenko, Vladimir K.: 40 let Moskovskoi mezhdunarodnoi knizhnoi vystavke-iarmarke, in: Universitetskaia kniga 6/2017, pp. 15–19; http://www.unkniga.ru/vistavki-konferents/7422-4 0-let-moskovskoy-mezhdunarodnoy-knizhnoy-vystavke-yarmarke.html [18. 10. 2020]; Ovsiannikov, Nikolai F.: Razvitie knigoizdaniia v kontekste iarmarochnoi deiatel’nosti: k 30letiiu Moskovskoi mezhdunarodnoi knizhnoi vystavki-iamarki. Moscow 2008. 11 Ustinov, interview, June 3, 2018.

282

3.

Birgitte Beck Pristed

Towards a “Sovietization” of West German Children’s Books?

During the next five years, Schreiber and Ustinov stayed in contact and developed a series of children’s books together. Due to not only the VAAP bureaucracy, but also the illustrator’s time-consuming work, the first collection of six tales, re-told by the author Paul Wanner (1895–1990), did not come out until 1984, under the title Die schönsten Kindergeschichten.12 In 1985, it was expanded with another six tales, first issued as Die schönsten Märchen für das ganze Jahr, and then under the serial title, Die schönsten Kindergeschichten Europas.13 The series consisted of an unusual collection of lesser-known tales from Germany, France, Italy, Spain, England, Finland, Sweden – and the USSR. Already in 1971, Schreiber had issued a series by Wanner, entitled Die schönsten Märchen Europas, with illustrations by the Italian artist Severino Baraldi, but the new series with Ustinov differed from the previous both in form and content. Schreiber’s inclusion of tales and illustrations “Aus der UdSSR” in his “European collection” insisted that the tradition of Russian fairy tales is an inseparable part of a panEuropean cultural heritage. The aesthetic style and design of the series were striking. It was issued both as one collected hardcover edition and as single stories in thin booklets of 16 pages each, with a 20 x 27 cm format and “look” reminiscent of the characteristic cheap, mass-printed, paper booklets for children by the Soviet children’s book publisher Children’s Literature (Detskaia literatura). (Fig. 2–3). According to Ustinov, Schreiber was a very conscientious publisher, who went through all the official channels of the Soviet publishing authorities, but after realizing how little of the royalties Ustinov received, he learned to work more informally. Gerhard Schreiber held the international rights to Ustinov’s illustrations and eventually the book series and collection were published in several European languages. Schreiber gave Ustinov the finished layout sheets for free publication in the USSR, but a philologist from Moscow State University, who reviewed the work for the Soviet publisher Children’s Literature, rejected the collection of tales as “not ideologically supportable.” Thus, it did not pass prepublication censorship and was not published in Russian until two decades later. 12 Ustinov, Nikolai (ill. to) Wanner, Paul. Die schönsten Kindergeschichten. Neu erzählt von Paul Wanner. Gemalt von Nikolai Ustinov. Esslingen 1984. 13 Ustinov, Nikolai (ill. to) Wanner, Paul: Die schönsten Kindergeschichten Europas (Reihe). Erzählt von Paul Wanner. Gemalt von Nikolai Ustinov. Esslingen 1985/1986. Inhalt: Aus Deutschland: Zwergenkönig Rübezahl; Aus Frankreich: Der Zauberfaden; Prinzessin Rosenblüte; Aus Italien: Die sieben Söhne; Der Waldmensch; Aus Spanien: Die drei Apfelsinen; Aus der UdSSR: Die Schwäne der Hexe; Die Froschprinzessin; Aus England: Prinzessin Binsenkappe; Aus Finnland: Anton Baumzweig; Aus Schweden: Das Schloss östlich der Sonne und westlich des Mondes. The series was partly issued under the imprint Esslinger im ÖBV.

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Fig. 2

Ustinov recalls that the Soviet publishing house treated him with suspicion after his cooperation with a foreign, “Western” publisher.14 Nevertheless, during the following decade, Ustinov and Schreiber’s first project led not only to several other joint, illustrated editions of, for example, Ivan Krylov’s fables, and Lev Tolstoy’s stories for children, but also to an expansive network, close cooperation and personal friendships with further illustrators, not only from Soviet Russia, but also Ukraine and Lithuania.15 To some extent, I would argue, Perestroika led to a certain “Sovietization” of illustrated West German children’s books. Hence, in the years leading up to the merger with Klett, Gerhard Schreiber and his assistant Mathias Berg, who took over management after 1987, aimed at developing a new publishing strategy. They gave up the

14 Ustinov, interview, June 3, 2018. 15 Mathias Berg later continued the cooperation with several illustrators from other former Soviet republics, among them, the Ukrainian artist, Lev Kaplan (*1967, living in Stuttgart since 1992), and the Lithuanian children’s book author and artist, Ke˛stutis Kasparavicˇius (*1954), but due to the Russian-German scope of the 2018 conference (cf. note 1), this article focuses on the Russian artists.

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Birgitte Beck Pristed

Fig. 3

brightly colored cheap book prints and focused more strictly on the core assets of the publishing brand, namely, high quality, classic, illustrated children’s books, and after Schreiber had retired, the outdated American-style Teddy magazine was sold.16 The publishers found what they searched for in Soviet artists, who mastered the crafts of classic drawing and realistic detail that enjoyed high priority in the Soviet art educational system.

4.

The Publishers’ Travels to the USSR and VAAP

In the beginning, the publishers could not just directly contact the artists, with whom they wished to cooperate, since VAAP, which officially represented all the creative unions, including the Soviet Artists’ Union, held state monopoly both on import and export of copyrights. However, as Gorbachev’s reforms allowed for intensified Soviet-foreign trade, several modifications of the copyright legis16 Berg, interview, May 4, 2018.

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285

lation gave new possibilities for cooperation between international publishers and Soviet authors and artists.17 In addition to the bureaucracy of obtaining copyright, travel permissions, and the like, publishing logistics in the pre-digital age represented a challenge. Without any international courier services yet in operation, publishers and artists had to transport the original illustrations themselves with the risk of unpleasant encounters with Soviet airport custom officers.18 At the German publishers’ regular VAAP organized travels to the USSR, one thing that struck Mathias Berg as unusual was the fact that the artists did not possess the rights to their own works. VAAP would invite Schreiber and Berg to a kind of “illustrator audition” in their office, and the VAAP representative would present “her own” artists and their portfolios one after another.19 With time, Gerhard Schreiber learned Russian and listened to Chekhov cassette recordings when biking daily to his office in Esslingen, but especially in the beginning, despite some interpreter assistance, the two publishers’ communication was limited to thumbs up or down. Ustinov explains how Schreiber patiently and thoroughly would go through the portfolios, and politely reject the VAAP representatives, who followed and controlled each of his steps, with the laconic expression: “different taste” (vkus raznyi).20 The artists Anastasiia Arkhipova (b. 1955) and Andrei Dugin (b. 1955) both credit Ustinov for his informal role as a “contact point,” who encouraged younger, talented Moscow illustrators to get their portfolios to Schreiber and Berg.21 Ustinov showed Schreiber’s books to the young artists, who were impressed by the high quality of print, color, and paper of these books, and, of course, excited by the offered honorarium and exotic WestEuropean career prospects.22

5.

Anastasiia Arkhipova’s Illustrations Travel to the World Market

In 1985, Anastasiia Arkhipova’s first illustrations for an Esslinger edition of the Brothers Grimm’s fairy tales came out. Like Gerhard Schreiber, Anastasiia Arkhipova was raised in a strong family tradition of children’s books. Her grandfather Boris Dekhterev (1908–1993) was head artist of the state publisher Children’s Literature and illustrated numerous fairy tales, along with children’s 17 Elst, Michiel: Copyright, Freedom of Speech, and Cultural Policy in the Russian Federation. Law in Eastern Europe. Leiden/Boston 2005. 18 Berg, interview, May 4, 2018. 19 Berg, interview, May 4, 2018. 20 Ustinov, interview, June 3, 2018. 21 Dugin, interview, May 11, 2018; Arkhipova, interview, May 31, 2018. 22 Dugina, interview, May 11, 2018.

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books, depicting the Communist leaders. He also served many years as professor at the Surikov Art Institute, and his school of aquarelle drawing was formative for generations of Soviet book artists.23 Since the late 1970s, Arkhipova had worked as a recognized illustrator for Detskaia literatura, which issued her interpretations of Hans Christian Andersen’s fairy tales in million-high print-runs. However, after Perestroika, she established a long-term contract with Esslinger Verlag. Today she describes Gerhard Schreiber with much veneration, and after her grandfather, as the most important figure in her artistic development, and says that he opened her eyes to the world.24

Fig. 4

Beyond comparison, Arkhipova’s drawings have become the most successful for Esslinger Verlag J. F. Schreiber. Hence, the publishing house matched and marketed the Soviet ‘socialist’ school of classic, realistic illustration to the ‘conservative’ taste of their audience of responsible, selective parents of German Bildungsbürgertum, which put high social value on children’s education. The

23 A retrospective exhibition of his works, curated by Anastasiia Arkhipova, was on display at the Moscow State Specialized School of Aquarelle and Sergei Andriiak Museum – Exhibition Center: “Boris Dekhterev – khudozhnik liubimykh knig”, May 22–August 2, 2010. 24 Arkhipova, interview, May 31, 2018. In 2010, when I first met with Arkhipova, who is also head of the Moscow Artists’ Union, she declared to my initial surprise: “I am a German artist,” which became the starting point of this study, Arkhipova, interview, May 2010.

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Fig. 5

light and atmosphere of Arkhipova’s aquarelles genuinely followed the long 19thcentury line of J. F. Schreiber’s illustrated children’s books.25 (Fig. 4–5). Her many pictorial interpretations of the Brothers Grimm and Hans Christian Andersen into Russian imagery returned to the German readers both a lost and other world, and may have appealed to nostalgia. A 2013 Esslinger’s catalogue highlights her works as “enchanting top sellers.”26 Esslinger Verlag did not publish her books in best-selling mass print-runs, but instead her more than 90 prints and reprints formed a backlist of classics for the publisher, who obtained the foreign rights to her works, which were subsequently translated and published not only in many European countries, but also in Brazil, the United States, China, and South Korea. Finally, in 2002, the Russian branch of the Egmont

25 Archipowa, Anastassija. (ill. to) Grimms Märchen mit Bildern von Anastassija Archipowa, Bd. 1. Esslingen 1987. Archipowa, Anastassija. (ill. to) Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Grimms Märchen mit Bildern von A. Archipowa, Bd. 2. Esslingen 1990. 26 Esslinger Verlag J. F. Schreiber GmbH. Foreign Rights Guide 2012–2013 [n. p.].

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Birgitte Beck Pristed

group published collections of Arkhipova’s Grimm and Andersen interpretations for a Russian-language audience.27

6.

Fahr mich erst hinüber … Artists’ Travels to Germany

The cooperation between the artists and Gerhard Schreiber was not limited to publishing activities, but soon developed into a regular cultural exchange and educational program or “Bildungsreisen.” Schreiber invited Ustinov on his first visit to Stuttgart and Esslingen in 1982. As a privileged illustrator, specializing in drawing wild animals, Ustinov had previously travelled with the Soviet Artists’ Union to India and Africa, but the trip to Germany was the first time he could go as an individual and privately visit the Schreiber family, who organized study trips for him to the Wilhelma Zoo in Stuttgart and the Frankfurt Zoological Garden. Between 1982 and the mid-1990s, Ustinov visited the Schreiber family seven times, and five times brought his family with him.28 (Fig. 6)

Fig. 6

When Schreiber invited Arkhipova to Germany for the first time in 1985, the Soviet authorities arrogantly and insinuatingly declined the young woman’s request for travel permission, but after the perestroika reforms, she was allowed to go in 1987. Since then, she has visited Stuttgart almost every year, and has 27 Berg, interview, May 4, 2018; Arkhipova, interview, May 31, 2018. 28 Ustinov and Ustinova, interview, June 3, 2018.

Russian Illustration in German Children’s Books of the 1980s–1990s

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maintained close personal contacts with the Schreiber family, even after the publisher’s death in 2007.29 Despite illustrating the imaginary lands of fairy tales, the Soviet schooled artists put much emphasis on observing naturalistic detail and depicting “realia”. They studied in the unaccustomedly open and user-friendly German library collections, made sketches of South-West German landscapes, castles, and Fachwerkhäuser, and with the help of Gerhard Schreiber, travelled on to Switzerland, Austria, France and Italy.30 Their book illustrations clearly reflect the travels in pictorial landscapes and mix German and Russian elements of flora and fauna, art and architecture. One example is the river landscape of Andrei Dugin and Ol’ga Dugina’s Die Drachenfedern from 1993, with bushes and trees in the foreground, depicted from the Oka River near Ryazan, while the castle in the background on the other shore is inspired by the German Rhine-Neckar landscape.31 (Fig. 7–8)

Fig. 7

29 Arkhipova, interview, May 31, 2018. 30 Arkhipova, interview, May 31, 2018; Dugin and Dugina, interview, May 11, 2018; Ustinov, interview, June 3, 2018. 31 Dugin, Andrej; Dugina, Olga (ill. to) Die Drachenfedern. Illustriert von Andrej Dugin und Olga Dugina. Nacherzählt von Arnica Esterl. Esslingen/Wien 1993.

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Fig. 8

Andrei Dugin first came to Stuttgart in autumn 1989, around the time of the Peaceful Revolution in Germany, when he began the first “test project” for Esslinger Verlag Das Märchen vom schönen, runden Kuchen [Dugin, A.; Dugina, O., 1991]. After some time, Ol’ga Dugina joined him, and for a full year, Esslinger Verlag hosted the couple in a housing community with Klett’s English-speaking trainee from Bristol, while the Dugins worked on the illustrations to the next, ambitious, artistic book Die Drachenfedern. Andrei Dugin: “and of course, the first period here was a happy one, because there was ‘Gorbymania’ all over the city, and if you just mentioned that we are from Russia …” Ol’ga Dugina: “Applause!! [laughs] … now it is, of course, very different … [both laugh], but at that time: ‘Gorby, Gorby, Gorby!’”.32

After 1992, they decided to settle in Germany permanently, as they had now found both work and a network there, and had no option of returning to their previous publisher Children’s Literature in Russia. Today both work as established artists and teachers at the Stuttgart Art Academy.33 Hence, the many departure and ferry scenes of Die Drachenfedern, depicting the poor, but determined young lumberjack son, who first leaves his beloved through the battered, wooden gates, and later frees a fisherman from his spell of eternal river 32 Dugin and Dugina, interview, May 11, 2018. 33 Dugin and Dugina, interview, May 11, 2018.

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crossing (see figures), also reflect an existential threshold experience of the two artists, caught in the watershed between Russia and Germany. With much self-irony, the two artists remember how Mathias Berg and Gerhard Schreiber helped them survive the initial culture shock and provided instructions for everything from shopping to Landeskunde. Mathias Berg recalls how he had difficulties keeping his tight publishing time schedule as the two artists spent 10 months on two illustrations. However, from his side, Andrei Dugin appreciated how Berg gradually came to acknowledge that quality requires patience. While Berg remembers he sometimes had to moderate the artists, who addressed their stories to an adult, rather than the publisher’s core target group of children (and their parents),34 the Dugins characterize their early years in Germany as an experience of unlimited artistic freedom. They only remember one complaint from an American Waldorf-Schule who did not consider a bagpipe an appropriate illustration of an angel’s head (see Fig. 7) in a book for children.35 Consequently, the Dugins brought not only the school of socialist realism, but also “Soviet surrealism” to both the German and the wider international market. When asked, Andrei Dugin claims that, in fact, Soviet reality was surrealistic. In addition, Die Drachenfedern contained a myriad of references to German renaissance art, especially Albrecht Dürer, whose signature Dugin inserted into his illustrations, but also the Dutch Hieronymus Bosch and Pieter Bruegel.

7.

Globalization: The Russian Illustrators of Harry Potter

In 1993, the publication year of Die Drachenfedern, the jury of the Annual Russian Book Art Competition refused to award any of the 425 participating candidates a first prize as a symbolic protest against the post-Soviet commodification of the book, perceived as an uncultured Western invasion of cheap and tasteless popular visual aesthetics.36 Аt the same time, Russian book illustration was breaking new ground abroad, relieved from ideological and material restrictions. Schreiber sold the Russian illustrators’ books to other countries and they were translated into a wide number of languages. The works were exhibited at large books fairs, such as the International Children’s Book Fairs in Bologna 34 At present, the merged publisher Thienemann-Esslinger advertises the complex book as “Ein Märchen für Kinder ab 3 Jahren” with wonderfully high expectations to their youngest audience’s ability of perceiving and appreciating this encyclopedia of art history; https:// www.thienemann-esslinger.de/esslinger/buecher/buchdetailseite/die-drachenfedern-isbn-9 78-3-480-21865-3/ [04. 06. 2018]. 35 Berg, interview, May 4, 2018; Dugin and Dugina, interview, May 11, 2018. 36 Lebedev, Vladimir: Sud’ba knizhnogo dizaina, in: Knizhnoe delo 3/1995, pp. 58–65, here p. 63.

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and Barcelona, where they received international recognition and several awards, not as objects of any Russian or German national pride, but as rare fruits of professional and personal transcultural cooperation. In the early 2000s, a representative of Leavesden Film Studios, in Southeast England, contacted the Dugins. The Mexican director, Alfonso Cuarón, who prepared the third film in Warner Bros.’ Potter series, Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (2004), had seen Spanish translations of their books, presumably, through an acquaintance, working for an American charity organization that distributed children’s books to Mexican orphanages. Eventually, the couple worked on the stage concept of the film, and Andrei Dugin’s Soviet artistic training and knowledge of anatomic detail came into use, for example, in the visualization of Rowling’s fabled creatures, such as the “dementors”, whom Dugin made move like cats with birds’ claws.37 Dugin’s drawings of the Warner Bros.’ beasts do not represent some deformation of classic Soviet children’s book illustration, but rather display the fine techniques of the Surikov Art Academy. Warner Bros. paid the artists on a monthly basis while they were working on the set, but then took exclusive rights forever to all the work, even the drafts, which is reminiscent of the centralized, monopolized conditions under VAAP.38 Since the Potter film, Andrei Dugin and Ol’ga Dugina have also made illustrations for a children’s book by the American pop star, Madonna, just like their former colleagues, Gennadii Spirin. Spirin began his international career at Esslinger Verlag in the late 1980s with a series of illustrated Russian tales, but moved to the United States in 1992.39

8.

Conclusion

Because of the Russian illustrators’ success, Esslinger Verlag found it increasingly difficult to compete with the honoraria offered to them elsewhere on the international market, not only in the United States, but also on the Japanese and growing Chinese book markets for quality fairy tale books. In some cases, inexperience in dealing with copyright issues and lack of economic options to decline competitors’ offers cost them trust and friendship. Today, Schreiber’s 37 Examples of the illustrations for Harry Potter and Madonna are online available at Andrei Dugin and Ol’ga Dugina’s homepage; http://www.duginart.com [04. 06. 2018]. 38 Dugin and Dugina, interview, May 11, 2018. 39 Spirin, Gennadij. (ill. to) Gogol, Nikolaj: Der Jahrmarkt von Sorotschinzy. Nacherzählt von Sybil Schönfeldt. Esslingen 1990; Spirin, Gennadij (ill. to): Der Hecht hat’s gesagt!: ein russisches Märchen. Nacherzählt von Arnica Esterl. Mit Bildern von Gennadij Spirin. Wien 1990; Peters, Erin: Gennady Spirin: Russia – Illustrator, in: Bookbird: A Journal of International Children’s Literature 50(2)/2012, p. 45.

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small family business has gone through several mergers, and now belongs to the Munich-branch of the Swedish Bonnier-conglomerate under the imprint Thienemann-Esslinger Verlag. Apart from its German bestseller Kleiner Rabe Socke (Raven, the little Rascal), Thienemann-Esslinger still issues reprints of Schreiber’s back catalogue of illustrated fairy tales, but the Russian-German program has not developed further with new generations of artists and has lost its special character. Nevertheless, the hundreds of book titles illustrated by Russian, Ukrainian and Lithuanian artists, to which the present, strongly limited selection cannot do justice, demonstrate that several Soviet children’s book illustrators found a new, receptive audience and a fertile ground for developing their talents in the German and wider, international book market of the 1980s and 1990s. The post-Soviet decline of state publishers did not mean that the tradition of Soviet classic children’s book illustration died out. Instead, it moved on and experienced a period of what Helmut Kohl would probably have termed a “blossoming” in Germany during the reunification years. The cultural borrowing between East and West that flourished in the 1990s went in both directions. Just like translated and hitherto unavailable books from the West enjoyed high popularity among a Russian audience at the newly privatized book market, also German readers and publishers were nostalgically inspired by the old craft of Soviet illustration. This culturally enriching Russian-German exchange at the market for children’s books did not start overnight with the 1989 fall of the Berlin Wall or the 1991 fall of the Soviet Union. Rather, it gradually and continuously developed from the 1970s, when the Helsinki Accords, the successful Soviet cultural diplomacy in UNESCO, and the international book fairs in Moscow established a foundation for East-West business contacts and publisher cooperation, which the Soviet publishing and copyright authorities actively promoted a decade before Gorbachev’s perestroika. In the case of Esslinger Verlag J. F. Schreiber, the professional relationships between artists and publishers became more than business contacts, and developed into personal friendships, which widened the frames for artistic experimentation. The Soviet illustrators got free hands to develop their talents, and Gerhard Schreiber and Mathias Berg contributed to their creative education through study trips across Germany and Europe. Long talks and travels enabled the artists to experience continental European landscapes first-hand and reconnect to the pan-European cultural heritage that formed the publishers and illustrators’ shared past. Despite the economically fragile position of the J. F. Schreiber Verlag, time and cost considerations did not rigidly dictate the work of the Russian illustrators. Furthermore, the German publisher had the resources to not only present the artists’ books in excellent printing quality, but also promote their works for an international audience. This led to wider translation of the

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Birgitte Beck Pristed

artists’ works into several other languages on the world market and helped them find further opportunities abroad. Without doubt, Gerhard Schreiber was an extraordinary publisher; nevertheless, the case of Esslinger Verlag J. F. Schreiber offers a precedent for a wider post-Soviet globalization story of Russian children’s book illustration that has fertilized contemporary, popular children’s culture worldwide.

List of illustrations Fig. 1:

Meggendorfer, Lothar: Transformable illustrations, from: Meggendorfer, Lothar: Die lustige Tante: Ein komisches Verwandlungsbilderbuch. München/Esslingen, org. 1891, reprint 1979, unpaged. Fig. 2: Ustinov, Nikolai: cover illustration, from: Wanner, Paul: Anton Baumzweig. Wien 1986. Fig. 3: Ustinov, Nikolai: illustration, from: Tolstoj, Leo N.: Der Knecht Jemeljan und die leere Trommel, translated by Marianne Kegel, retold by Arnica Esterl. Esslingen 1989, unpaged. Fig. 4: Archipowa, Anastassija: illustration, from: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Grimms Märchen, Bd. 2. mit Bildern von A. Archipowa. Esslingen 1990, p. 57. Fig. 5: Archipowa, Anastassija: cover illustration, from: Andersen, Hans Christian: Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Esslingen 1994. Fig.6: Gerhard Schreiber and Nikolai Ustinov together in Esslingen (Germany) around 1996. Courtesy of Nikolai Ustinov, private photo collection. Fig. 7–8: Dugin, Andrei/Dugina, Ol’ga: illustrations of departure and ferry scenes, from: Esterl, Arnica: Die Drachenfedern, illustrated by Andrei Dugin and Ol’ga Dugina. Esslingen 1993, unpaged.

Katja Wiebe (München)

Berge, Bienen und furchtlose Bauernweiber – Kinderliteratur aus dem östlichen Europa auf dem deutschsprachigen Buchmarkt seit 2010

Seit den 2010er-Jahren beginnen die postkommunistischen und postsozialistischen Kinder- und Jugendliteraturen aus den Ländern Mittel-, Südost-, Nordostund Osteuropa (MSNOE)1 nach einer langen Durststrecke mit wenigen Publikationen in den 1990er-Jahren langsam wieder auf dem deutschsprachigen Buchmarkt Fuß zu fassen.2 Der Beitrag beleuchtet, welche Buchtitel seit 2010 auf dem deutschsprachigen Buchmarkt aus den Kinderliteraturen des östlichen Europas erschienen sind, zeichnet Entwicklungslinien nach und sucht nach Schwerpunkten. Er fragt auch danach, welche Voraussetzungen und Umstände diese Entwicklungen begünstigt haben können. Dabei konzentriert sich die Analyse auf den Zeitraum bis in das Frühjahr 2021. Wenngleich seit Mitte der 2000er-Jahre bereits „neue“ Kinderbücher aus MSNOE auf Deutsch erscheinen, so kann das Jahr 2010 als Wegmarke gelten. Denn in diesem Jahr erscheint das polnische Kindersachbuch Treppe, Fenster, Klo: Die ungewöhnlichsten Häuser der Welt auf Deutsch im MoritzVerlag.3 Das Buch ist der erste große Erfolg für seine Macher:innen Aleksandra Mizielin´ska (ehem. Machowiak) und Daniel Mizielin´ski und zugleich der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit des polnischen Verlags Dwie Siostry mit dem Moritz-Verlag: In elf Jahren bis 2021 sind bereits 15 Bücher erschienen. Auch der mittlerweile aufgelöste Gimpel Verlag bringt um 2010 Bilderbücher polnischer Illustrator:innen heraus. Das ebnet den Weg für weitere Kinderbücher aus Polen sowie in der Folge auch aus anderen Ländern auf den deutschsprachigen Buchmarkt.

1 Hierzu gehören neben den slavischen Kulturen auch diejenigen des Baltikums, Rumäniens und Georgiens. 2 Vgl. zu diesen Entwicklungen Wiebe, Katja: Überblicksstudie über die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur in Polen, Russland, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn. München 2011. 3 Machowiak, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/Stroin´ska, Dorota (Übers.): Treppe, Fenster, Klo: Die ungewöhnlichsten Häuser der Welt. Frankfurt am Main 2010 (pl. 2009).

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Katja Wiebe

In die 2010er-Dekade fallen weiterhin der mehrjährige Programmschwerpunkt der Leipziger Buchmesse tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus (2012–2015), die Slowenische Literaturwoche auf der Messe Buch Wien 2017, der Ehrengastauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018 und der Tschechien-Fokus Ahoj! der Leipziger Messe im Frühjahr 2019. Neben der Erwachsenenliteratur nehmen die Messen schwerpunktmäßig auch zunehmend die Kinderliteraturen in den Blick und versuchen Anstoß zur Übersetzung zu geben.4 Schließlich nahm das Förderprogramm ViVaVostok 2011 seine Arbeit auf und unterstützte bis 2017 kinderliterarische Veranstaltungen und Probeübersetzungen mit Schwerpunkt MSNOE in den deutschsprachigen Ländern.5

1.

Das Jahrzehnt in Zahlen – aus kinderliterarischer MSNOE-Perspektive

Zu den kinderliterarischen Übersetzungen aus bestimmten Herkunftsliteraturen gibt es keine systematischen Erhebungen, weshalb die nachstehenden Ausführungen, Zahlen und Angaben auf einer eigenen Erhebung basieren.6 Danach wurden zwischen 2010 und 2021 auf dem deutschsprachigen Buchmarkt 107 kinder- und jugendliterarische Titel aus MSNOE publiziert. Gezählt wurden hierbei belletristische Neuerscheinungen sowie kinderliterarische Sachbücher, Schullektüren sowie Wiederauflagen hingegen ausgeklammert.7 Zu den 107 Übersetzungen aus den MSNOE-Herkunftsliteraturen kommen 17 Veröffentlichungen, die unter Beteiligung von Illustrator:innen und Autor:innen aus MSNOE entstanden, jedoch nicht dort erschienen sind. 4 Vgl. insbes. die Diskussionsveranstaltungen tranzyt kids mit Autor:innen, Illustrator:innen aus Belarus, Polen, der Ukraine (Leipzig, 2013), Sowjetische Vergangenheit in den baltischen Kinderliteraturen (Frankfurt am Main, 2015), Slowenische Kinderbücher – Ein Einblick in Trends des slowenischen und internationalen Buchmarkts (Wien, 2017), Sockenfresser und Piroggenpiraten: Kinderliteratur aus Europas Osten (Leipzig, 2019). 5 Unter dem Motto „Es lebe der Osten!“ stellt ViVaVostok neue Kinderliteratur aus dem mittleren und östlichen Europa vor. Die Initiative ist aus einer Kooperation der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Internationale Jugendbibliothek hervorgegangen. 6 Das Problem einer fehlenden Systematik und Statistik wurde bereits 2006 konstatiert: Seifert, Martina/ Weinkauff, Gina: Ent-Fernungen. Bd. 2. Kulturtransfer. Studien zur Repräsentanz einzelner Herkunftsliteraturen. München 2006, S. 791f. Auch Ines Galling verweist auf die Schwierigkeit, „valide Zahlen zum Transfer im kinder- und jugendliterarischen […] Bereich ausfindig zu machen“. Galling, Ines: Internationale Kinder- und Jugendliteratur, in: Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 2020, S. 80–91, hier S. 80, Sp. 2. 7 Ausgeklammert werden auch deutschsprachige Ausgaben, die in den jeweiligen Herkunftsländern publiziert wurden, wie z. B. Malý, Radek/Fucˇíková, Renáta (Ill.)/Kraetsch, Mirko (Übers.): Franz Kafka. Ein Mensch seiner und unserer Zeit. Prag 2017.

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mit Beteiligung aus MSNOE

Abb. 1

In den Jahren 2010–2019 erschienen auf dem deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt im Schnitt 8414 neue Titel pro Jahr. Im Verlauf der Jahre 2015–2019 ging die Zahl der Neuauflagen zurück und zeigte 2019 den niedrigsten Wert im Fünf-Jahres-Vergleich mit 7969 Titeln.8 Der Gesamtanteil der Übersetzungen auf dem deutschen Kinderbuchmarkt schwankt: Im Zeitraum von 2010 bis 2019 liegt er zwischen 19,8 % und 24,5 %.9 Die Anzahl der Übersetzungen aus den MSNOEKinderliteraturen ist dabei gering, wächst jedoch stetig (siehe Abb. 1).10 Mit dem Anstieg der Übersetzungen aus den MSNOE-Kinderliteraturen geht auch eine Auffächerung und Ausweitung der Herkunftsliteraturen einher. Während um 2010 vor allem Titel aus Polen, Russland und Tschechien erschienen, kommen seit 2017 deutlich mehr Bücher aus verschiedenen MSNOELändern auf dem deutschsprachigen Buchmarkt an (Estland, Slowenien, Litauen, Ukraine). Mit sehr deutlichem Abstand erweist sich die polnische Kinderliteratur als diejenige mit den meisten Übersetzungen ins Deutsche, gefolgt von der tsche-

8 Berechnungen nach Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main 2021. Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (Hg.): Buchhandel und Buchmarkt in Zahlen 2020. Frankfurt am Main 2020, S. 87 [BuBiZ]. 9 2018 – 19,8 %; 2014 – 24,5 %. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., BuBiZ 2020, S. 99. Die Zahlen beziehen sich nur auf den deutschen Buchmarkt, nicht auf den deutschsprachigen, der Österreich und die Schweiz einschließt. 10 Der Zahlenabfall für das Jahr 2020 spiegelt lediglich das Ende der Zählung wider.

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Abb. 2

chischen und der von den Veröffentlichungen zahlenmäßig kleinen estnischen Kinderliteratur. Ein großer Buchmarkt wie der russische rangiert mit sieben Übersetzungen weiter hinten. Für die polnische und die tschechische Kinderliteratur deutet sich hier ein Wachwechsel an: Bis in die 1990er-Jahre war die tschechische resp. die tschechoslowakische Kinderliteratur im deutschsprachigen Raum prominenter vertreten als die polnische. Sie war mit ihren Übersetzungen breiter aufgestellt im Vergleich zu der eher stiefmütterlich behandelten polnischen Kinderliteratur.11 Während auf dem gesamten deutschsprachigen Buchmarkt das erzählende Kinderbuch den größten Anteil ausmacht, gefolgt von Bilderbuch, Jugendbuch und dem Kindersachbuch/Sachbilderbuch, sieht die Situation für die kinderliterarischen Transfers aus MSNOE anders aus.12 Hier dominieren Medien mit hohem visuellem Anteil, während die erzählende Literatur in deutlich geringerem Umfang vertreten ist (siehe Abb. 2). Die Gründe hierfür sind vielfältig: Für Verlage aus dem deutschsprachigen Raum geben Bilderbücher und Kindersachsowie Sachbilderbücher einen unmittelbaren Eindruck über ihren Inhalt, auch ohne Übersetzung. Die Entscheidung, ein Buch zu übersetzen und ins Verlagsprogramm aufzunehmen, fällt hier womöglich leichter als bei einem literarischen Text, dessen Stil, Narrativik und Gehalt erst noch durch Auszugsübersetzungen 11 Vgl. Seifert/Weinkauff, Ent-Fernungen, S. 808f. 12 Für das Jahr 2019: Kinderbuch (26,8 %), Bilderbuch (24,2 %), Jugendbuch (15,4 %), Sachbuch/ Sachbilderbuch (10,8 %). Vgl. die Jahresanalyse, in: Börsenblatt 187(1)/2020, S. 26.

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Abb. 3

und Lektüre zu überprüfen sind, der somit eine gewisse Sprachbarriere mit sich bringt. Die Dominanz von Bilderbuch und Sachbilderbuch resp. Kindersachbuch aus den Kinderliteraturen MSNOEs in deutscher Übersetzung spiegelt jedoch auch ein traditionelles Interesse der deutschsprachigen Zielliteratur an der Illustrationskunst aus MSNOE wider, insbesondere aus Polen und Tschechien, das bereits seit den 1950er-Jahren vorhanden ist.13

2.

Edutainment: Sachbücher aus Polen, Russland, Tschechien und der Ukraine

Das traditionelle Interesse an polnischer und tschechischer Illustrationskunst ging immer auch mit dem Image einher, es hier mit einem avantgardistischen Strich zu tun zu haben.14 Gleiches gilt für die neuen, vor allem polnischen und tschechischen Bilder- und kinderliterarischen Sachbücher. Sie werden als besonders innovativ wahrgenommen und bringen eine andere ästhetische Note in die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur. So waren unter den Nominierungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis (DJLP) zwischen 2010 und 2020 13 Vgl. Wincencjusz-Patyna, Anita: Polish School of Illustration, in: Wincencjusz-Patyna, Anita (Hg.): Captains of Illustration. 100 Years of Children’s Books from Poland. Warsaw 2019, S. 324–327, hier S. 324. 14 Vgl. Seifert/Weinkauff, Ent-Fernungen, S. 794.

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in den Kategorien Bilderbuch und Sachbuch zehn Titel aus Polen und Tschechien zu verzeichnen, deren künstlerische Ausarbeitung von der Preisjury mit Begriffen wie „vielfältig“, „eigenwillig“, „unverwechselbar“, „radikal“, „Geniestreich“ oder „wegweisend“ belegt wurden.15 Ein Grund für diese Einschätzung mag auch in der fachlichen Herkunft der Illustrator:innen liegen, die häufig aus dem Bereich des Grafikdesign stammen und nicht „genuine“ Kinderbuchillustrator: innen sind.16 Ihre grafische Herangehensweise an Sachbuchthemen ebnet neuen Formen der Wissensvermittlung – dem „postmodernen Edutainment“17 – den Weg. Unbestrittener Vorreiter ist hier das polnische Grafikdesign-Duo Aleksandra Mizielin´ska und Daniel Mizielin´ski. Ihre Kindersachbücher sind nach dem großen Erfolg des Architektur-Sachbuchbuches Treppe, Fenster, Klo (Abb. 4) nahezu vollzählig auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vertreten, immer wieder werden sie für den DJLP nominiert (2013 und 2019, 2021).18 Während Treppe, Fenster, Klo bis 2019 in der neunten Auflage erscheint, bleiben die beiden Nachfolger zu Design19 und Kunst20 mit nur einer Auflage dahinter zurück. Mit dem Kartenbuch Alle Welt erlangen die Mizielin´skis 2013 ihren endgültigen Durchbruch: Nicht nur ist das Buch 2017 bereits in zehnter, ergänzter und korrigierter Auflage sowie ab 2018 als erweiterte Neuausgabe erschienen, sondern der Verlag entscheidet sich auch für beifügende Produkte wie einen Aktivitäts-

15 Vgl. Jurybegründungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Sommerschnee und Wurstmaschine; https://www.jugendliteratur.org/buch/sommerschnee-und-wurstmaschine-3918-978 3895652608/?page_id=1; Bienen: https://www.jugendliteratur.org/buch/bienen-4073-978383 6959155/?page_id=1; Wie das klingt: https://www.jugendliteratur.org/buch/wie-das-klingt-4 212-9783895653841/?page_id=1; Kopf im Kopf: https://www.jugendliteratur.org/buch/kopf -im-kopf-4074-9783792003671/?page_id=1; A wie Antarktis: https://www.jugendliteratur.org /buch/a-wie-antarktis-4210-9783792003718/?page_id=1 [13. 04. 2021]. 16 So die Einschätzung der Kunsthistorikerin, Kuratorin und Gründerin des Internationalen Bilderbuchfestivals Sarah Wildeisen in einer unveröffentlichten Korrespondenz. Das seit 2013 bestehende Bilderbuchfestival legt den Fokus auf die Bilderbuchkunst der MSNOE-Kinderliteraturen. 17 Vgl. Begriff bei von Merveldt, Nikola: Sachbuch, in: Kurwinkel/Schmerheim, Handbuch, S. 189–200, hier S. 189. 18 So fehlen die textlosen Mamoko-Wimmelbücher, die die Leser:innen mithilfe von Tierfiguren, Außerirdischen und anderen Bewohner:innen durch labyrinthische Wege der Stadt Mamoko führen und auf diese Weise vielfältige Geschichten erzählen. Während in Polen drei Bände herauskamen, erschien in Deutschland lediglich der erste Band 50 Geschichten aus Mamoko im Kinderbuchverlag Wolff (dt. 2011, pl. 2010). 19 Solarz, Ewa/Mizielin´ska, Aleksandra (Ill.)/Mizielin´ski, Daniel (Ill.)/Stroin´ska, Dorota (Übers.): Farbe, Form, Orangensaft. Verrücktes Design aus aller Welt. Frankfurt am Main 2011 (pl. 2010). 20 Cichocki, Sebastian/Mizielin´ska, Aleksandra (Ill.)/Mizielin´ski, Daniel (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Sommerschnee und Wurstmaschine. Sehr moderne Kunst aus aller Welt. Frankfurt am Main 2013 (pl. 2011).

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Abb. 4

block.21 Zudem beginnt die Vermarktung von Alle-Welt-Kalendern im DuMontVerlag. Mit dem Landkartenbuch findet auch ein besonders großes Buchformat seinen Weg zu den deutschsprachigen Leser:innen. Während die Sachbücher zu Architektur, Design und Kunst sowie das 2019 publizierte Buch über Musik Wie das klingt! Neue Töne aus aller Welt in kompakter, quadratischer Ausführung gehalten sind, ist Alle Welt in einem schweren Folio-Format. Auch die 2016 und 2020 erschienenen Bücher Unter der Erde. Tief im Wasser und Auf nach Yellowstone. Was Nationalparks über die Natur verraten sind opulente Folio-Ausgaben.22 Seit 2015 gibt es von den Mizielin´skis auch Pappbilderbücher für die Jüngsten auf Deutsch; auch sie erscheinen in mehreren Auflagen.23

21 Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/Weiler, Thomas (Übers.): Alle Welt – das Landkartenbuch. Frankfurt am Main 2013 (pl. 2012); Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel: Meine Welt: Mit dem Buntstift auf Entdeckungsreise. Aktivitätsblock. Frankfurt am Main 2014 (pl. 2013). 22 Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/Weiler, Thomas (Übers.): Unter der Erde. Tief im Wasser. Frankfurt am Main 2016 (pl. 2015); Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/ Weiler, Thomas (Übers.): Auf nach Yellowstone. Was Nationalparks über die Natur verraten. Frankfurt am Main 2020 (pl. 2020).

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Nach Alle Welt erscheinen weitere großformatige Sachbücher von anderen polnischen Illustrator:innen, die in Polen nahezu alle im Verlag Dwie Siostry verlegt werden.24 Neben dem Moritz-Verlag, der auch die Aktivitätssachbücher von Piotr Karski herausgibt,25 hat der Gerstenberg-Verlag die preisgekrönten Bücher Bienen und Bäume von Piotr Socha im Programm.26 Generell ist der Gerstenberg-Verlag seit 2017 in Bezug auf die kinderliterarischen Übersetzungen aus MSNOE breiter aufgestellt, denn er gibt neben polnischen auch russische sowie ukrainische Kindersachbuchtitel heraus. Auch hier zeichnen sich enge Kooperationen ab – auf ukrainischer Seite mit dem Verlag Vydavnystvo Staroho Leva als Partner, auf russischer Seite mit Samokat. Realisiert werden gemeinsame Buchprojekte mit dem Illustrator:innen-Paar Romana Romanyschyn/Andriy Lessiw aus der Ukraine sowie dem Autorin-Illustratorin-Duo Alexandra Litwina/ Anna Desnitskaya und Roman Beljajew aus Russland. Mit In einem alten Haus in Moskau hat Gerstenberg bereits 2017 ein Sachbilderbuch von Litwina/Desnitskaya herausgegeben. Das Buch, das anhand eines Hauses und seiner Bewohner die Entwicklungen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert darstellt, wurde 2018 in der Kategorie Sachbuch für den DJLP nominiert.27 2019 folgt Roman Beljajews Buch über Leuchttürme28 und im Herbst 2021 ein Sachbuch über die transsibirische Eisenbahn von Litwina/Desnitskaya. Weitere Titel mit den drei russischen Künstler:innen stehen laut Verlag für 2022 und 2023 an.

23 Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel: Alles im Blick: Buchstaben. Frankfurt am Main 2015 (pl. 2012). Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel: Alles im Blick: Zahlen. Frankfurt am Main 2015 (pl. 2012). Mizielin´ska, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/Weiler, Thomas (Übers.): Mein ganzer Tag. Frankfurt am Main 2018 (pl. 2016). 24 Im Moritz-Verlag erscheint 2019 das aufsehenerregende Großformat von Bajtlik, Jan/Weiler, Thomas (Übers.): Ariadnes Faden. Götter, Sagen, Labyrinthe. Frankfurt am Main 2019 (pl. 2019). 25 Karski, Piotr/Weiler, Thomas (Übers.): Berge! Das Mitmachbuch für Gipfelstürmer. Frankfurt am Main 2017 (pl. 2016). Karski, Piotr/Breuer, Marlena (Übers.): Meer! Das Wissens- und Mitmachbuch. Frankfurt am Main 2019 (pl. 2017). 26 Socha, Piotr/Weiler, Thomas (Übers.): Bienen. Hildesheim 2016 (pl. 2015). Grajkowski, Wojciech/Socha, Piotr (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Bäume. Hildesheim 2018 (pl. 2018). Bienen gewinnt 2017 den DJLP. Laut Verlag ist mit Piotr Socha ein weiteres Sachbuch geplant. Weitere polnische Sachbuchtitel und Pappbücher bei Gerstenberg: Lipka-Sztarbałło, Krystyna/Weiler, Thomas (Übers.): Badewanne, Klo und Co. Hildesheim 2015 (pl. 2014); LothIgnaciuk, Agata/Ignaciuk, Bartłomiej (Ill.)/Breuer, Marlena (Übers.): 14000 Meilen über das Meer. Hildesheim 2019 (pl. 2017); Królak, Agata/Weiler, Thomas & Hanne (Übers.): Wie Bären so sind. Hildesheim 2019 (pl. 2012); Królak, Agata/Weiler, Thomas & Svenja (Übers.): Was Bären so machen. Hildesheim 2019 (pl. 2013). 27 Litwina, Alexandra/Desnitskaya, Anna (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): In einem alten Haus in Moskau. 100 Jahre russische Geschichte. Hildesheim 2017 (russ. 2017). 28 Beljajew, Roman/Weiler, Thomas (Übers.): Leuchttürme. Wegweiser der Meere. Hildesheim 2019 (russ. 2017).

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Von Romanyschyn/Lessiw kommen 2021 Sehen sowie Hören heraus, weitere Titel sind in Vorbereitung.29 Sehen und Hören zeigen, wie sehr ihre Schöpfer:innen dem Grafikdesign verpflichtet sind und – wie ihre polnischen Kolleg:innen – für einen kühnen Umgang mit Farbe, Form und Layout stehen.30 Auch die Verlage Knesebeck und Beltz & Gelberg bringen inzwischen Sachbuchtitel aus polnischen Verlagen heraus: Knesebeck setzt dabei auf drei Titel der Illustratorin Asia Gwis aus dem polnischen Verlag Nasza Ksie˛garnia, die sich Pilzen, Eiern und Vögeln widmen.31 Beltz & Gelberg publiziert Sachbücher über Tierrechte und Umweltschutz von Ola Woldan´ska-Płocin´ska aus dem polnischen Verlag Papilon.32 Während sich viele Verlage auf polnische Kindersachbücher konzentrieren, stößt der Verlag Karl Rauch mit dem Titel Kopf im Kopf, einer umfassenden wie unkonventionellen Erkundungstour über alles, was mit dem Kopf zu tun hat, 2016 eine ganze Reihe von Übersetzungen aus dem Tschechischen an. Der Verlag arbeitet hauptsächlich mit dem Illustrator David Böhm zusammen und hat mit ihm bislang drei Sachbücher verlegt: Kopf im Kopf wird 2017 für den DJLP nominiert, im Jahr 2020 gewinnt David Böhm dann den Preis mit seinem Kindersachbuch A wie Antarktis.33 Zusammen mit Böhms drittem Sachbuch und zwei erzählenden Kinderbüchern deutet sich ein kinderliterarischer tschechischer Schwerpunkt des Verlags an.34

29 Romanyschyn, Romana/Lessiw, Andrij/Dathe, Claudia (Übers.): Sehen. Hildesheim 2021 (ukr. 2018). Romanyschyn, Romana/Lessiw, Andrij/Dathe, Claudia (Übers.): Hören. Hildesheim 2021 (ukr. 2017). 30 Sehen wurde als Luchs des Monats März 2021 ausgezeichnet. In der Jurybegründung wird auf die besondere grafische Technik hingewiesen. Humann, Klaus: Da guckst du!, in: Die Zeit vom 04. 03. 2021, Nr. 10/2021. Vgl. bei ZEIT-online: https://www.zeit.de/2021/10/sehen-kinder-sa chbuch-grafik-sinne-bildsprache [15. 04. 2021]. 31 Gwis, Asia/Weiler, Thomas (Übers.): Schau mal, wer da fliegt. Die bunte Welt der Vögel. München 2021 (pl. 2019). Piotrowska, Eliza/Gwis, Asia (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Eier. Eine runde Sache. Kurioses von Kolibri bis Kolumbus. München 2020 (pl. 2018); Fabisinska, Liliana/Gwis, Asia (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Pilze. Verrückte Fakten über Fliegenpilz, Hefe und Co. München 2019 (pl. 2017). 32 Woldan´ska-Płocin´ska, Ola/Breuer, Marlena (Übers.): Schütze die Natur. Plastik – nein, danke! Weinheim 2020 (pl. 2018). Woldan´ska-Płocin´ska, Ola/Breuer, Marlena (Übers.): Tiere haben Rechte. Wir fordern Respekt! Weinheim 2020 (pl. 2019). 33 Buddeus, Ondrˇej/Böhm, David (Ill.)/Kouba, Doris (Übers.): Kopf im Kopf. Düsseldorf 2016 (cz. 2013). Böhm, David/Dorn, Lena (Übers.): A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt. Düsseldorf 2019 (cz. 2019). 34 Chrobák Ondrˇej/Korycˇánek, Rostislav/Vaneˇk, Martin/Böhm, David (Ill.)/Dorn, Lena (Übers.): Wie kommt die Kunst ins Museum? Über die Arbeit von Museen und Galerien. Düsseldorf 2017 (cz. 2016). Zu den Kinderbüchern vgl. Abschnitt Randnotiz in diesem Beitrag.

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3.

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Bilderbücher und illustratorische Kooperationen

Wie bereits im Bereich Sachbuch, so dominieren auch bei den BilderbuchNeuerscheinungen aus MSNOE polnische Titel. Zwischen 2011 und 2013 stellt der Gimpel Verlag neue Illustratorinnen, darunter Gabriela Cichowska und Iwona Chmielewska, vor.35 Bis 2016 erscheinen einige Bilderbuchtitel von Chmielewska, deren Bücher sich in ihrer gedeckten Farbigkeit und Assoziationskraft erst nach und nach entschlüsseln lassen.36 Auch die Bücher der polnischen Illustratorin Joanna Concejo sind in Auswahl in Deutschland, Österreich und der Schweiz zugänglich.37 Letztlich werden beide Künstlerinnen jedoch weniger auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, sondern vielmehr auf dem koreanischen und frankophonen verlegt. Stattdessen finden sich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vermehrt Titel der Illustratorin Emilia Dziubak, die sowohl Bücher anderer (internationaler) Autor:innen illustriert als auch eigene Titel gestaltet:38 Ihre Tiergeschichten über das Umarmen, Freundschaft und das Leben in der tierischen Waldgemeinschaft erscheinen in verschiedenen Verlagen.39 Das gegenwärtige Bild einer neuen polnischen Illustrationskunst prägen jedoch die unkonventionellen, innovativen Sachbilderbücher von Aleksandra Mizielin´ska und Daniel Mizielin´ski u. a. Insgesamt werden von deutschsprachigen Verlagen zwischen 2010 und 2021 vermehrt Kooperationen mit Illustrator:innen, die aus MSNOE stammen, angestoßen. Auch die Slowenin Maja Kastelic setzt hier einen Akzent. Ihr im slo35 Sie publizieren Titel zur Lebensgeschichte von Janusz Korczak. Vgl. Chmielewska, Iwona/ Jaromir, Adam (Übers.): Blumkas Tagebuch. Hannover 2011 (pl. 2011). Jaromir, Adam/Cichowska, Gabriela: Fräulein Esthers letzte Vorstellung. Hannover 2013 (pl. 2013). 36 Chmielewska, Iwona: abc.de. Hannover 2016 (mehrsprachige Ausgabe); Chmielewska, Iwona/Jaromir, Adam (Übers.): Ojemine. Hannover 2014 (pl. 2012). 37 Tokarczuk, Olga/Concejo, Joanna (Ill.)/Quinkenstein, Lothar (Übers.): Die verlorene Seele. Zürich 2020 (pl. 2017). Das Bilderbuch erscheint im Fahrwasser des Nobelpreisgewinns von Tokarczuk und ist Concejos bislang einzige Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum. 38 Vgl. Dziubaks Illustrationen zu Norton, Mary: Die Borger. Frankfurt am Main 2015; Schrefer, Eliot: Caldera – Die Wächter des Dschungels. Stuttgart 2018; Schrefer, Eliot: Caldera: Die Rückkehr der Schattenwandler. Stuttgart 2019. 39 Vgl. Dziubaks Bilderbücher: Wechterowicz, Przemysław/Kinsky, Esther (Übers.): Komm in meine Arme! Frankfurt am Main 2014 (pl. 2013); Dziubak, Emilia/Lach, Viktoria (Übers.): Ein Jahr im Wald. München 2016 (pl. 2015); Bardijewska, Liliana/De Nuzzo, Ilaria (Übers.): Der grüne Wanderer. Weimar 2017 (pl. 2015); Wechterowicz, Przemysław/Kinsky, Esther (Übers.): Ein Lächeln für Fröschlein. Frankfurt am Main 2017 (pl. 2017); Kasdepke, Grzegorz/ Kinsky, Esther (Übers.): Auf keinen Fall Prinzessin! Frankfurt am Main 2018 (pl. 2015); Wechterowicz, Przemysław/Weiler, Thomas (Übers.): Freunde für immer. München 2019 (pl. 2018); Dziubak, Emilia/Weiler, Thomas (Übers.): Die ganze Welt der Dinosaurier. München 2019 (pl. 2017); Wechterowicz, Przemysław/N. N. (Übers.): Der achtsame Tiger. Berlin 2019 (pl. 2016); Wechterowicz, Przemysław/Weiler, Thomas (Übers.): Das Faultier und die Motte. München 2020 (pl. 2018).

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wenischen Original textloses Bilderbuch erschien 2016 unter dem Titel Luftigruß im Bohem-Verlag, jedoch mit verändertem Titel (die Übersetzung des slowenischen Originaltitels Decˇek in hisˇa lautet Der Junge und das Haus) und neuem Cover. Des Weiteren wurde dem Buch ein Gedicht des im deutschsprachigen Raum bekannten slowenischen Lyrikers Alesˇ Sˇteger beigefügt, das es in der slowenischen Ausgabe nicht gibt. 2020 erscheint ein Buch von Maja Kastelic, das in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Kinderbuchautor Heinz Janisch entstanden ist, und das die Lebensgeschichte von Hans Christian Andersen erzählt, zunächst nur auf Deutsch bei NordSüd (2020) und erst im Anschluss in slowenischer Übersetzung (2021).40 Der NordSüd-Verlag initiierte weitere Kooperationen mit Künstler:innen aus MSNOE. 2014 illustrierte die rumänische Illustratorin Irina Dobrescu das Märchen König Drosselbart der Brüder Grimm.41 Für den Ehrengastauftritt Georgiens 2018 auf der Frankfurter Buchmesse versammelte NordSüd eine Gruppe von 14 jungen georgischen Illustrator:innen, um einen Band mit georgischen Märchen zu gestalten.42 Das Ergebnis – Der König, der nicht lachen konnte (2017) – ist in Georgien selbst nicht erschienen. Auch die Illustrator:innengruppe verzeichnet auf dem einheimischen georgischen Buchmarkt keine weiteren Publikationen. Sie ist vielmehr im Ausland aktiv: So veröffentlichte Tatia Nadareischwili zwei Bilderbücher im schweizerischen Verlag Baobab Books als Originalausgaben.43 Obwohl auf dem georgischen Kinder- und Jugendbuchmarkt Übersetzungen und erzählende Kinderliteratur dominieren und „einheimische“ Bilderbücher keine Rolle spielen, dringt die neue Illustrationskunst aus Georgien dennoch in den deutschsprachigen Raum.44 Im Unterschied zu den gezielten, zum Teil einmaligen Kooperationen zwischen dem NordSüd-Verlag und Illustrator:innen aus MSNOE, blickt der Verlag minedition auf eine langjährige Zusammenarbeit mit der renommierten tsche40 Janisch, Heinz/Kastelic, Maja (Ill.): Hans Christian Andersen. Die Reise seines Lebens. Zürich 2020. 41 Grimm, Jacob und Wilhelm/Dobrescu, Irina (Ill.): König Drosselbart. Zürich 2014. 42 Die Illustrator:innen sind: Warlam Dschmuchadse, Sonia Eliaschwili, Otar Karalaschwili, Sopho Kirtadse, Natia Kwarazchelia, Mai Laschauri, Sura Mtschedlischwili, Tatia Nadareischwili, Tamar Nadiradse, Eka Tabliaschwili, Chatia Tschitorelidse, Elene Tschitschaschwili, Lewan Tschogoschwili und Ana Tschubinidse. 43 Nadareischwili, Tatia/Gratzfeld, Rachel (Übers.): Schlaf gut. Basel 2017; Nadareischwili, Tatia/ Gratzfeld, Rachel (Übers.): Tina hat Mut. Basel 2020. 44 Eine Ausnahme war das 2018 bei Edition Orient erschienene zweisprachige Kinderbuch Land unter im Zoo: Nach einer wahren Begebenheit in Georgien von Tea Topuria mit Illustrationen von Sonia Eliaschwili. Der 2013 mit dem DJLP als bestes Jugendbuch ausgezeichnete Roman Abzählen der georgischen Autorin Tamta Melaschwili war im Erwachsenensegment des Schweizer Unionsverlags erschienen. Die Kinderbücher Das Märchen von Bekna und Tekla (Bondo Matsaberidze) und Tomas Märchen (Giorgi Kekelidze), erschienen 2018, erhielten hingegen keine Aufmerksamkeit.

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chischen Künstlerin Kveˇta Pacovská zurück. Allein zwischen 2010 und 2021 kommen vier neue Bilderbücher heraus: Peter und der Wolf (2013), Hexeneinmaleins (2015), Die Nimmtes-Nimmtes Frau (2018) und Mondgespräche (2021). Dabei handelt es sich um Originalausgaben, die nicht immer über ein tschechisches Gegenstück verfügen.

4.

Randnotiz: erzählendes Kinder- und Jugendbuch

Während kinderliterarische Sach- und Bilderbücher bei den Übersetzungen aus MSNOE deutlich den Ton angeben, bleiben das erzählende Kinderbuch und – in noch stärkerem Maße – das Jugendbuch Randnotizen. Es erscheinen nur einzelne Titel, die nur selten größere Aufmerksamkeit erhalten, wie der Kinderroman Frossja Furchtlos45 von Stanislaw Wostokow, der 2020 für den DJLP nominiert wurde (siehe Abb. 5). Dabei handelt es sich um eine Kindergeschichte, die schwungvoll die kuriose Lebenswirklichkeit des Mädchens Frossja, einem „echten Bauernweib“ vom russischen Land, spiegelt. Aus Slowenien stammen Geschichten einer aufmüpfigen Gruselfee oder Erzählungen über das Hausgespenst Bubajan.46 Die fantastische Kinderliteratur aus Russland war lediglich mit zwei Kinderbüchern über den findigen Zauberlehrling Trix Solier präsent, die 2010 und 2012 erschienen.47 Größere Aufmerksamkeit erzielte der polnische Erfolgskinderbuchautor Marcin Szczygielski 2015 mit der deutschen Übersetzung seines Kinderbuches Flügel aus Papier.48 Darin setzt er sich mit dem Holocaust auseinander, was eine Diskussion auslöste, ob es angebracht sei, sich dem Thema in Form einer fantastischen Geschichte zu nähern. Nach Flügel aus Papier erschien in Deutschland lediglich ein weiterer Titel des polnischen Autors, der jedoch in seinem Heimatland nach wie vor überaus erfolgreich publiziert.49 2019 kam mit Clementine liebt Rot ein weiteres Kinderbuch, das aus dem Polnischen übersetzt wurde, 45 Wostokow, Stanislaw/Voroncova, Maria (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Frossja Furchtlos oder Von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern. München 2019 (russ. 2014). 46 Bauer, Jana/Bolton, Ann Catrin (Übers.): Die kleine Gruselfee. Frankfurt am Main 2019 (slo. 2011). Pregelj, Sebastian/Razpotnik Donati, Ana (Ill.)/Wakounig, Metka (Übers.): Das Gespenst Babujan und seine Freunde. Klagenfurt 2017 (slo. 2014); Pregelj, Sebastian/Razpotnik Donati, Ana (Ill.)/Wakounig, Metka (Übers.): Das Gespenst Babujan und der unerwartete Umzug. Klagenfurt 2017 (slo. 2016). 47 Lukianenko, Sergej/Pöhlmann, Christiane (Übers.): Trix Solier. Zauberlehrling voller Fehl und Adel. Weinheim 2010 (russ. 2009); Lukianenko, Sergej/Pöhlmann, Christiane (Übers.): Trix Solier – Odyssee im Orient. Weinheim 2012 (russ. 2009). 48 Szczygielski, Marcin/Weiler, Thomas (Übers.): Flügel aus Papier. Frankfurt am Main 2015 (pl. 2013). 49 Szczygielski, Marcin/Weiler, Thomas (Übers.): Hinter der blauen Tür. Frankfurt am Main 2016 (pl. 2010).

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Abb. 5

heraus. Es war allerdings kein aktueller Titel – vielmehr gilt Clementine liebt Rot in Polen als Kinderbuchklassiker und erschien bereits 1970.50 Die SommerferienDetektiv-Verwechslungsgeschichte verströmt mit ihrer Erzählweise den Duft einer anderen Zeit. Ähnlich verhält es sich mit dem ebenfalls verzögert erschienenen tschechischen Kinderbuch Die Sockenfresser von Pavel Sˇrut, das auch über einen humorvollen, aber antiquierten Ton verfügt. In Tschechien wurde es als das Kinderbuch der 2000er Dekade ausgerufen, es kamen zwei Nachfolgebände sowie ein Kinofilm heraus.51 Auf Deutsch erscheint die Geschichte um eine Horde von sockenfressenden, mafiösen Wesen erst 2018 und bleibt ohne großen Erfolg. Die Nachfolgebände werden nicht mehr übersetzt.

50 Boglar, Krystyna/Butenko, Bohdan (Ill.)/Weiler, Thomas (Übers.): Clementine liebt Rot. Hildesheim 2019 (pl. 1970). Im Jahr 2006 hatte der Verlag Dwie Siostry das Buch neu aufgelegt. 51 Sˇrut, Pavel/Miklínová, Galina (Ill.)/Tretner, Andreas (Übers.): Die Sockenfresser. Frankfurt am Main 2018 (cz. 2008).

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Stiller geworden ist es im Laufe des Jahrzehnts auch um die tschechische Autorin Iva Procházková52, die zu Beginn der 2010er-Jahre mit ihren Jugendbüchern noch fest auf dem deutschsprachigen Kinderbuchmarkt verankert gewesen ist.53 Abzuwarten bleibt zudem, ob neue Kinderbücher, wie die BösewichtGeschichte Der Mann in der Uhr54 von Vratislav Manˇák oder Tippo und Fleck55 über das Rätsel, warum die Dinge altern und der Zahn der Zeit an ihnen nagt, eine neue tschechische Linie auf dem deutschsprachigen Kinderbuchmarkt anstoßen können.

5.

„Kleine“ Literaturen – große Erfolge: Baltische Länder

Die Kinderliteraturen aus den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen warten zwischen 2010 und 2021 mit einer erstaunlichen Anzahl an Veröffentlichungen (Bilder- und Kinderbuch, kein Sachbuch) auf. Insbesondere für die estnische Kinderliteratur fanden sich auf deutschsprachiger Seite seit 2010 kleine, umtriebige Verlage: Zunächst erschienen 2015–2017 bei Willegoos zwei Bändchen mit anekdotischen Kindergeschichten des erfolgreichsten estnischen Kinderbuchautors Andrus Kivirähk. Dazu gesellten sich zwei Bilderbücher von Autorin Kätlin Vainola, die bei Willegoos und dem Schweizer BaltArt-Verlag erschienen.56 Im Jahr 2017 nahm der Kullerkupp-Verlag seine Arbeit auf: Verleger Carsten Wilms ist selbst Übersetzer aus dem Estnischen. Das Portfolio des Verlags setzt sich heute aus überwiegend estnischen Bilderbuchausgaben57sowie finnischen, isländischen, norwegischen und grönländischen Titeln zusammen. Die Bücher der renommierten estnischen Illustratorin und Autorin Piret Raud sind hingegen weder bei Willegoos noch bei Kullerkupp erschienen, sondern 52 Vgl. hierzu in diesem Sammelband die Ausführungen von Tamara Bucˇková. 53 Vgl. unter anderem Procházková, Iva: Orangentage. Mannheim 2012 (cz. 2011). 54 Makak, Bratislava/Kurien, Igor (Ill.)/Dorn, Lena (Übers.): Der Mann in der Uhr. Düsseldorf 2018 (cz. 2014). 55 Koncˇinský, Tomásˇ/Klárová, Barbora/Sˇpacˇek, Daniel (Ill.)/Dorn, Lena (Übers.): Tippo und Fleck. Düsseldorf 2018 (cz. 2016). Für die Übersetzung des Buches gewinnt Dorn in 2021 den Sonderpreis „Junge Talente“ des DJLP. 56 Kivirähk, Andrus/Hasselblatt, Cornelius (Übers.): Der Schiet und das Frühjahr. Potsdam 2015 (est. 2009); Kivirähk, Andrus/Pikkov, Anne/Hasselblatt, Cornelius (Übers.): Frösche küssen. Potsdam 2015 (est. 2013); Vainola, Kätlin/Saar, Ulla (Ill.)/Grönholm, Irja (Übers.): Lift. Potsdam 2015 (est. 2013); Vainola, Kätlin/Sillaste, Kertu (Ill.)/Wilms, Carsten (Übers.): Wo ist die Liebe. Langenthal (CH) 2015 (est. 2014). 57 Von Illustratorin Kertu Sillaste: Nein, so ist es nicht! Berlin 2017 (est. 2015); Jeder macht Kunst auf seine Weise. Berlin 2017 (est. 2016); Der schönste Rock der Welt. Berlin 2021 (est. 2019). Weiterhin: Tungal, Leelo/Lukk-Toompere, Regina: Schneemann Ludwigs größtes Glück. Berlin 2017 (est. 2016); Koff, Indrek/Saar, Ulla (Ill.): Einen Tag ganz brav. Berlin 2018 (est. 2016). Alle Titel wurden übersetzt von Carsten Wilms.

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lediglich in kleiner Auswahl bei leiv sowie bei dem Schweizer Midas Verlag: Bei leiv kam die Geschichte vom Herrn Vogel (2010), bei Midas Das Ohr (2020) heraus. Letzteres ist eine Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe, die im Zuge des Messefokus auf die drei baltischen Länder auf der London Book Fair 2018 entstand.58 Bei kinderliterarischen Übersetzungen aus dem Lettischen ins Deutsche ist es nach der überraschenden Veröffentlichung des 652 Seiten starken Kinderbuches Die wilden Piroggenpiraten59 still geblieben, bis 2017 im österreichischen DravaVerlag das Bilderbuch Mit Weißbär in der Küche erscheint. Danach folgen weitere Publikationen, die sich einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren zu verdanken scheinen: Im November 2017 stellt die in der Schweiz lebende lettische Illustratorin Anete Melece eine geförderte Auszugsübersetzung aus dem Kinderbuch Hallo, Walfisch! vor, das sie mit Autor Lauris Gundars entwickelt hat.60 Nachdem dieses Buch von dem Schweizer Verlag Baobab Books herausgegeben wurde, publiziert ein anderer Schweizer Verlag – Atlantis – zwei Jahre später das Bilderbuch Kiosk von Melece (siehe Abb. 6). Die drei genannten Bücher stammen alle aus dem gut vernetzten lettischen Verlag liels un mazs.61 Als letzte der drei baltischen Kinderliteraturen tritt die litauische mit neuen Titeln in den deutschsprachigen Markt ein. In kurzer Folge erscheinen zwischen 2019 und 2021 vier Bücher: Der Autor und Literaturagent Benas Be˙rantas und die Illustratorin Vilija Kvieskaite˙ sind für zwei Bilderbücher über das Lügen und die Angst verantwortlich.62 Darüber hinaus kommt mit Sibiro Haiku 2020 ein besonderes Kinderbuch auf den deutschsprachigen Markt: Es erzählt in Form einer Graphic Novel von der Deportation einer litauischen Familie nach Sibirien während des Zweiten Weltkriegs.63 Wie bereits bei Melece übernimmt der Schweizer Verlag Baobab Books eine Art Vermittlerrolle für Literatur aus „klei58 In Großbritannien erschienen im Nachgang zur Messe insbesondere bei The Emma Press Kinder- und Bilderbücher aus Estland, Lettland und Litauen. 59 Putnin¸ˇs, Ma¯ris/Teich, Karsten (Ill.)/Knoll, Matthias (Übers.): Die wilden Piroggenpiraten. Ein tollkühnes Abenteuer um eine entführte Mohnschnecke und ihre furchtlosen Retter. Frankfurt am Main 2012 (lv. 2003). 60 Die Veranstaltung und die Auszugsübersetzung wurden durch das Förderprogramm ViVaVostok unterstützt. 61 Daugavin¸ˇs, Uldis/Sirmais, Ma¯rtinsˇ/Visˇka, Mara (Ill.)/Ringer, Britta (Übers.): Mit Weißbär in ’ der Küche. Klagenfurt 2017 (lv. 2017). Gundars, Lauris/Melece, Anete (Ill.)/Knoll, Matthias (Übers.): Hallo, Walfisch! Basel 2018 (lv. 2017). Melece, Anete: Der Kiosk. Zürich 2020 (lv. 2019). 62 Be˙rantas, Benas/Kvieskaite˙, Vilija (Ill.)/Drude, Saskia (Übers.): Nüsse haben kurze Beine. Bamberg 2019 (lt. 2017); Be˙rantas, Benas/Kvieskaite˙, Vilija (Ill.)/Drude, Saskia (Übers.): Oh Schreck, der Tag ist weg! Bamberg 2020 (lt. 2018). 63 Vile˙, Jurga/Itagaki, Lina (Ill.)/Drude, Saskia (Übers.): Sibiro Haiku. Basel 2020 (lt. 2018). Die deutschsprachige Ausgabe wurde durch ein ausführliches Nachwort über den historischen Hintergrund ergänzt und für den DJLP 2021 nominiert.

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Katja Wiebe

Abb. 6

nen“ Sprachen. Im Sommer 2021 erscheint im Prestel-Verlag Monika Vaicenavicˇiene˙s Bilderbuch über Claude Monet Ella im Garten von Giverny mit einem Text des Schweizer Autors Daniel Fehr.64 Für die publikationsmäßig „kleinen“ Herkunftsliteraturen scheinen sich eine gute, persönliche Vernetzung, Förderprogramme und große Anstrengungen, die Sprachbarriere zu überwinden, auszuzahlen. Estland, Lettland und Litauen verfügen über nationale Literaturzentren mit zum Teil gesonderten kinderliterarischen Einzelzentren.65 Diese betreiben umfangreiche Marketing-Arbeit mit mehrsprachigen Informationsmaterialien zu kinderliterarischen Neuerscheinungen und Auszugsübersetzungen, sind präsent auf den großen Buchmessen und bieten Verlagen finanzielle Übersetzungs- und Publikationsunterstützung an. Insbesondere der gemeinsame Messeauftritt der drei baltischen Literaturen auf der London Book Fair 2018, der einen Anschub für englischsprachige 64 Fehr, Daniel/Vaicenavicˇiene˙, Monika: Ella im Garten von Giverny. Ein Bilderbuch über Claude Monet. München 2021. Vaicenavicˇiene˙s Bilderbucherfolg Was ist ein Fluss?, das in 14 Sprachen vorliegt, wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt. 65 In Estland ist es das Estonian Children’s Literature Centre; in Lettland die Initiative Latvian Literature; in Litauen das Lithuanian Culture Institute.

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Übersetzungen gab, hatte aufgrund der damit einhergehenden sprachlichen Zugänglichkeit zudem Auswirkungen auf das Übersetzungsgeschehen in anderen Sprachräumen, so auch den deutschen. Wenngleich sich dieser Erfolg nicht im Detail rekonstruieren lässt, so scheint es genau das Zusammenspiel aus einem guten persönlichen Kontakt, langfristigen Kooperationen und unterstützenden finanziellen Angeboten zu sein, das die Präsenz übersetzter Kinderliteratur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt begünstigt. Das gilt nicht allein für die baltischen Länder, sondern auch für die anderen MSNOE-Nationen, deren Kinderliteraturen in den visuellen Formaten Sach- und Bilderbuch zu überzeugen wissen und die sich dank jenes Zusammenspiels seit 2010 stärker verbreiten.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Wiebe, Katja: Neuerscheinungen KJL aus MSNOE auf Deutsch nach Erscheinungsjahren. Eigene Grafik, 2021. Abb. 2: Wiebe, Katja: Neuerscheinungen KJL aus MSNOE 2010–2021 nach Herkunftsliteraturen. Eigene Grafik, 2021. Abb. 3: Wiebe, Katja: Neuerscheinungen KJL aus MSNOE 2010–2021 nach Fachgruppen. Eigene Grafik, 2021. Abb. 4: Machowiak, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel: Buchcover, aus: Machowiak, Aleksandra/Mizielin´ski, Daniel/Stroin´ska, Dorota (Übers.): Treppe, Fenster, Klo: Die ungewöhnlichsten Häuser der Welt. Frankfurt am Main 2010. Abb. 5: Voroncova, Maria: Buchcover, aus: Wostokow, Stanislaw/Weiler, Thomas (Übers.): Frossja Furchtlos oder Von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern. München 2019 (russ. 2014). Abb. 6: Melece, Anete: Buchcover, aus: Melece, Anete: Der Kiosk. Zürich 2020 (lv. 2019). © Atlantis Verlag in der Kampa Verlag AG, Zürich.

V. Diskursive und mediale Rezeption

Carola Pohlmann (Berlin)

„Es geht da zu, wie auf dem polnischen Reichstage.“ Die Darstellung Polens in Kindersachbüchern vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Das Verhältnis zwischen den Nachbarländern Deutschland und Polen ist bis in die Gegenwart hinein komplex und zumindest teilweise geprägt von gegenseitigen Vor- und Fehlurteilen. Preußen war eine der treibenden Kräfte und Nutznießer der Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts; mit den drei Teilungen des Landes gewann Preußen eine Fläche von 136.000 Quadratkilometern und 2,5 Millionen Einwohner hinzu. Unter Napoleon schien sich das Geschick des Landes zu wenden: Das 1807 von ihm errichtete Herzogtum Warschau bestand im Wesentlichen aus den von Preußen annektierten polnischen Gebieten. Da die Polen Napoleon als Verteidiger ihrer Souveränität betrachteten, unterstützten sie ihn im Russlandfeldzug mit einem der größten Truppenkontingente von insgesamt 96.000 Soldaten. Auch in der Völkerschlacht kämpfte die polnische Armee auf Seiten Frankreichs gegen die antinapoleonische Koalition, zu der Preußen gehörte. Bei der Erfüllung der Mission, Napoleons Rückzug aus Deutschland zu decken, wurden die polnischen Truppen fast vollständig aufgerieben. Die Niederschlagung des polnischen Novemberaufstandes 1830/1831 gegen das Russische Kaiserreich führte in Deutschland zu Sympathiekundgebungen für die freiheitsliebenden Polen. Im Zuge der Polenbegeisterung wurden an vielen Orten „Polenvereine“ gegründet, mit dem Ziel, die aus Polen nach Deutschland kommenden Flüchtlinge zu versorgen. Dieses wechselvolle nachbarschaftliche Verhältnis spiegelt sich auch in Kinderbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei die Autoren oft zwischen der Sympathie für das seiner Selbstbestimmung beraubte polnische Volk und der eigenen vorurteilsbeladenen Haltung schwanken. Der Beitrag untersucht das Polenbild in deutschen Kindersachbüchern, deren Botschaften die Wahrnehmung des Landes und seiner Bevölkerung bis heute beeinflussen.

316

1.

Carola Pohlmann

Enzyklopädien und Kinderlexika

In den wichtigen Kinderenzyklopädien, die Ende des 18. Jahrhunderts entstanden bzw. begonnen wurden, lassen sich kaum Bezüge zu Polen nachweisen. So finden sich weder in Basedows Elementarwerk – ein geordneter Vorrath aller nöthigen Erkenntniß zum Unterrichte der Jugend von Anfang, bis ins akademische Alter noch in der von Sigmund Stoy verfassten Bilder-Akademie für die Jugend entsprechende Hinweise. Selbst Friedrich Justin Bertuchs zwölf Bände umfassendes Bilderbuch für Kinder, das zwischen 1790 und 1830 erschien, enthält kein Kapitel zur Geschichte oder Kulturgeschichte Polens. Immerhin findet sich im Orbis sensualium pictus1 von Johann Amos Comenius ein Beleg zu Polen. Dass der Orbis pictus, dessen Erstausgabe 1658 erschien, in einem Beitrag, der sich der Kinderliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts widmet, überhaupt erwähnt wird, liegt an seiner nachhaltigen Bedeutung für spätere Generationen: Das Buch war in ganz Europa verbreitet und erschien in mehr als 200 Ausgaben,2 Nachauflagen und Bearbeitungen des Orbis pictus wurden noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht.3 Damit war der Orbis pictus für einen Zeitraum von rund zwei Jahrhunderten das wichtigste Sachbuch für Kinder, an dem sich nahezu alle anderen Enzyklopädien orientierten. Polen wird im Orbis pictus zwar nicht explizit erwähnt, aber im Kapitel CVIII „Europa“ ist eine Umrisskarte des Kontinents enthalten, in der die Ländernamen durch Nummern gekennzeichnet sind. Die dazugehörige Legende weist unter Nummer 17 Litauen und unter Nummer 18 Polen aus.4 Bemerkenswert ist, dass trotz der tiefgreifenden politischen Veränderungen in Europa, die mit den Teilungen 1772, 1793 und 1795 auch Polen betrafen, die Karte im 19. Jahrhundert weitgehend unverändert in Ausgaben des Orbis pictus übernommen wurde. So zeigt eine 1805 in Wroclaw erschienene Ausgabe die Karte von Europa zwar in differenzierteren Umrissen, sonst aber kaum verändert. Polen ist weiterhin als Land aufgeführt, obwohl durch die Annexionen Russlands, Österreichs und Preußens von 1796 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs kein souveräner polnischer Staat mehr existierte.5 Auch die 1833 in Hradec Králowé bei Pospjsˇil erschienene Ausgabe des Orbis pictus weist Polen unter den europäischen Ländern 1 Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. Nürnberg 1679 [1658]. 2 Pilz verzeichnet 245 Ausgaben, allerdings sind dabei auch die Ausgaben des von Wolfgang Christoph Deßler (1660–1722) verfassten zweiten Teils mitgezählt. 3 Auch danach wurden noch zahlreiche Ausgaben des Orbis pictus publiziert, dabei handelte es sich aber vorwiegend um Faksimiles, Jubiläums- oder wissenschaftlich kommentierte Ausgaben. 4 Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. Nürnberg 1679, S. 420, Legende S. 422. 5 Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. Wroclaw 1805, S. 374, Legende S. 376.

„Es geht da zu, wie auf dem polnischen Reichstage.“

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aus.6 Dabei hatten sich mit den Napoleonischen Kriegen, dem Wiener Kongress und der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1830/1831 die Machtverhältnisse in diesem Teil Europas erneut verändert. Die Übernahme längst überholten Wissens ist nicht nur an diesem Beispiel nachweisbar und deshalb auch nicht spezifisch auf das Thema Polen zu beziehen, sondern charakteristisch für Nachdrucke des Orbis pictus.7 Trotz seiner Bekanntheit und der anhaltenden Wertschätzung für das Werk, die dazu führten, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nachdrucke entstanden, wurde die wachsende Diskrepanz zwischen dem Informationsgehalt im Orbis pictus und dem aktuellen Kenntnisstand deutlich. Das Werk hatte sich überlebt, andere Formen der Sachliteratur, die der Notwendigkeit einer stärkeren Differenzierung nach Wissensgebieten Rechnung trugen, traten an die Stelle des Universallehrbuches. Bei den zahlreichen Nachdrucken und Nachahmungen des Orbis pictus muss zwischen Nachauflagen des Originals von Comenius, originalnahen Bearbeitungen und Bildwörterbüchern, die lediglich den bekannten und werbewirksamen Namen Orbis pictus benutzten, unterschieden werden. Zu Letzteren gehört auch der 1843 erschienene Band Neuester Orbis pictus oder Schauplatz der Natur und Kunst von Huldreich Becher und Johann Christian Schneemann. Er enthält 40 alphabetisch geordnete Bildtafeln, auf denen die Gegenstände – anders als bei Comenius – durch den gemeinsamen Anfangsbuchstaben in einer formalen, nicht aber in einer inhaltlichen Beziehung zueinander stehen. Die Abbildungen zum Buchstaben P umfassen zwei Tafeln (Nr. 25 und 26), auf Tafel 26 ist der Begriff „Pole“ dargestellt. Der dazugehörige knappe, lediglich aus neun Zeilen bestehende Text informiert über die Abstammung der Polen und schließt mit dem Satz: „Die Masse des Volks lebte zum Theil im harten Drucke der Leibeigenschaft.“8 Da auf der Tafel insgesamt 24 Begriffe veranschaulicht werden, sind die einzelnen Bildteile sehr klein. Trotzdem ist die Abbildung ausdrucksvoll. Sie zeigt einen Mann mit langem Haar, Schnurrbart und melancholischem Gesichtsausdruck, der mit einer langen blauen Jacke, Pluderhosen und Stiefeln bekleidet ist. Neben ihm ist ein grob behauener Grabstein mit der Inschrift 1830 zu sehen. Diese Jahreszahl nimmt Bezug auf den Novemberaufstand von 1830, der sich gegen die russische Fremdherrschaft richtete und 1831 von der russischen Armee niedergeschlagen wurde.

6 Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. Hradec Králowé 1833, S. 308, Legende S. 310. „Europa“ ist in dieser Ausgabe Kapitel CIX. 7 Vgl. dazu Pohlmann, Carola: Vom Eigen-Sinn der Bilder. Text-Bild-Relationen im Orbis sensualium pictus am Beispiel von Drucken aus drei Jahrhunderten, in: Schmideler, Sebastian/ Helm, Wiebke (Hg.): BildWissen – KinderBuch. Stuttgart 2021, S. 63–82, hier S. 75. 8 Becher, Huldreich/Schneemann, Johann Christian: Neuester Orbis pictus oder Schauplatz der Natur und Kunst. Meißen 1843, S. 90.

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Carola Pohlmann

Neben den Konversationslexika für Erwachsene, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend populärer wurden, erschienen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Nachschlagewerke für Kinder und Jugendliche. In dem von Wilhelm Weiß, einem Lehrer aus Dillingen, herausgegebenen Kinder-Conversations-Lexikon sucht man den Begriff „Polen“ vergebens, denn es enthält grundsätzlich keine Einträge zu Ländern. Unter P sind dagegen „Pflug“, „Porzellan“, „Puppe“ und „Pyramide“ aufgeführt. Deutlich umfangreicher und anspruchsvoller ist das Conversations-Lexicon für die Jugend, das ab 1840 in Meißen und Leipzig erschien.9 Der Herausgeber kündigt im Vorwort an, „[…] daß dieses Conversations-Lexikon nach Inhalt und Form den begründeten Bedürfnissen der Zeit sich anschließt und mit keiner Forderung vorgeschrittener Wissenschaft im Widerspruch steht.“10 Das vierbändige Werk enthält einen zweieinhalb Seiten langen Artikel zu Polen, der mit dem Satz beginnt: „Polen, ein Land und ein Volk in Europa, das aber 1795 seine bürgerliche Selbstständigkeit unter den europäischen Völkern verloren hat.“11 Damit wird auf ein zentrales Ereignis der polnischen Geschichte – die vollständige Auflösung des Königreichs Polen – hingewiesen und zugleich ein Dilemma angedeutet: Der Länderartikel ist einem Land gewidmet, das nicht mehr existiert. Es folgt eine kurze Schilderung der polnischen Geschichte vom 9. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Darin wird auf die Bedeutung Polens im 16. Jahrhundert hingewiesen, das als „[…] der mächtigste Staat im östlichen Europa“ bezeichnet wird.12 Ausführlicher wird über die Ereignisse vom 17. bis zum 19. Jahrhundert berichtet, beginnend 1697 mit der Regentschaft von August dem Starken als König von Polen. Breiten Raum nimmt die Darstellung der Teilungen Polens ein. Als Ursache für die erste Teilung wird der Ausbruch des Bürgerkriegs unter Stanisław Antoni Poniatowski benannt. Der Aufstand wird aber als Vorwand für das militärische Eingreifen Russlands entlarvt: „Er war nicht im Stande den ausbrechenden Bürgerkriegen Einhalt zu thun, die nun Rußland Veranlassung gaben, mit bewaffneter Macht in Polens Angelegenheiten sich zu mischen.“13 Die Sympathien des Verfassers sind ganz offenbar auf Seiten des polnischen Volkes, die Besatzungsmächte Russland, Preußen und Österreich werden als „Unterdrücker“ bezeichnet.14 Die Darstellung der Geschichte endet mit der Niederschlagung der Revolution von 1830. Daran schließen sich knappe und sehr allgemein gehaltene Angaben zu Geographie, Landeskunde und Wirtschaft Polens an. Die Bevölkerung wird als ärmlich und rückständig verunglimpft: „Die Bewohner des Landes, unter denen 9 10 11 12 13 14

Conversations-Lexicon für die Jugend. Meißen/Leipzig 1840. Dass., Bd. 1, S. VII. Dass., Bd. 3, 1841, S. 471. Ebd., S. 472. Ebd., S. 472. Ebd., S. 473.

„Es geht da zu, wie auf dem polnischen Reichstage.“

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sich viele Juden befinden, sind im allgemeinen dem römisch-katholischen Glauben zugethan, stehen aber an Bildung noch weit hinter den übrigen europäischen Völkern zurück.“15 Außer dem Ländereintrag sind noch mehrere Artikel zu polnischen Themen enthalten, darunter zu Andrzej Tadeusz Kos´ciuszko16 und zu Adam Mickiewicz, der als „[…] der berühmteste neuere polnische Dichter, unter den jetzt lebenden europäischen Dichtern überhaupt einer der ausgezeichnetsten“17 hervorgehoben wird. Der Artikel zu Warschau macht nochmals auf die gravierenden sozialen Unterschiede aufmerksam: „Neben prächtigen Palästen sieht man hölzerne Häuser und mit Stroh gedeckte Hütten.“18 Damit beschränken sich die Darstellungen nicht auf Faktenwissen, sondern sind häufig wertend, wobei – wie im Artikel „Polen“ – auf Äußerungen der Anteilnahme unmittelbar abfällige Urteile über die angeblich wenig zivilisierte Bevölkerung folgen können. Solche wertenden Aussagen, die einer Objektivität widersprechen, die Lexika eigentlich anstreben sollten, waren keine Ausnahme und auch keineswegs auf Kinderlexika beschränkt, wie Anna Kochanowska-Nieborak in ihrer Publikation Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts nachweist: Daraus geht hervor, dass die untersuchten Auflagen von Meyers Konversations-Lexikon sich beileibe nicht auf die Vermittlung von reinem Faktenwissen beschränkten. In der Art der meisten Konversationslexika der Epoche versuchte man vielmehr, kausale Abhängigkeiten aufzudecken und sie im Rahmen größerer Zusammenhänge zu erläutern.19

2.

Die Darstellung „der Polen“ in völkerkundlichen Abhandlungen für Kinder

Einhergehend mit dem in der Aufklärung gewachsenen Interesse an der Anthropologie, mit wissenschaftlichen Diskussionen über die Entwicklung der menschlichen Gattung und Versuchen einer systematischen Klassifikation der Völker, wurden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auch völkerkundliche

15 16 17 18 19

Ebd., S. 473. Dass., Bd. 2, S. 450. Dass., Bd. 3, S. 218. Bd. 4, S. 360. Kochanowska-Nieborak, Anna: Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2010, S. 257.

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Carola Pohlmann

Abhandlungen für Kinder verfasst.20 Obwohl sich einige Autoren durchaus um eine sachliche und ausgewogene Darstellung fremder Völker und Kulturen bemühten, sind die meisten Beschreibungen anderer Ethnien von gravierenden Vor- und Fehlurteilen geprägt. Polinnen und Polen sind in diesen Publikationen allerdings vergleichsweise selten vertreten, denn das Interesse konzentrierte sich vor allem auf Völker, deren Lebensweise sich – zumindest vermeintlich – von der mitteleuropäischen signifikant unterschied. Ein Standardwerk völkerkundlicher Literatur für Kinder war Erdmann Hannibal Albrechts Gallerie der Menschen nach alphabetischer Ordnung.21 Hier wird unter P neben „Pilger“, „Postknecht“ und „Prediger“ auch der „Polack“22 (siehe Abb. 1) gezeigt. Zu sehen ist ein Mann mit Schnauzbart, bekleidet mit einer fellbesetzten Mütze, langem Rock, Hose und Stiefeln, der einen Säbel trägt und mit ausgestreckter Hand nach rechts weist. Der dazugehörige Text nimmt Bezug auf die dritte Teilung Polens, die bei Erscheinen des Bandes erst vier Jahre zurücklag: „Die harte Sklaverey, worunter der größte Theil der Nation seufzen muß, erhält bey den zwey Hauptständen des Volks die Rohheit der vorigen Jahrhunderte.“23 Hier wird das polnische Volk als unzivilisiert und ungebildet abgewertet, auch wenn diese „Rohheit“ mit der Unterdrückung durch die Besatzungsmächte begründet wird. Wenige Jahre später erschien in Wien ein kleinformatiges, aus drei Teilen bestehendes Werk mit dem Titel Gallerie der Menschen. Ein Bilderbuch zur Erweiterung der Kenntnisse über Länder und Völker.24 Hier werden stellvertretend für die polnische Bevölkerung zwei polnische Juden und eine Jüdin abgebildet. Im Text mischen sich die Stereotype zu Juden und Polen. So wird die angebliche Unehrlichkeit und Unehrenhaftigkeit jüdischer Händler postuliert: „Leider ist es wahr, daß schon mancher, der von ihnen Geldvorschüsse bekam, statt der Hülfe, zu Grunde gerichtet wurde, oder vorzüglich wenn es Fabrikanten sind, in höchst elender Abhängigkeit erhalten wurde.“25 Allerdings werden nicht ausschließlich negative Urteile gefällt: „Im häuslichen Leben sind sie verträgliche, gewissenhafte, liebevolle Gatten und Väter.“26 Polen wird nur kurz erwähnt als eines der Länder,

20 Dabei wurden mitunter Darstellungen zu Berufen, Ständen und Völkern miteinander vermischt, „Gallerien“ der Völkerkunde können deshalb Berufsdarstellungen enthalten, Abhandlungen über „Stände“ behandeln teilweise auch ethnische Gruppen. 21 Albrecht, Erdmann Hannibal: Gallerie der Menschen nach alphabetischer Ordnung. Leipzig 1799. 22 Der hier noch wertneutral verwendete Begriff „Polack(e)“ wandelte sich Ende des 18., vor allem aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Schimpfwort. 23 Ebd., S. 86f. 24 Gallerie der Menschen. Neue, verb. und verm. Aufl. Wien 1805. 25 Ebd., S. 19. 26 Ebd.

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Abb. 1

„[…] wo Handel und Industrie noch in der Wiege liegen“,27 und wird damit erneut als rückständig und unterentwickelt verunglimpft. 1816 erschien unter dem Titel Gallerie der Nationen eine dritte, vermehrte Ausgabe des Werks, in die der Text zu den polnischen Juden aber unverändert übernommen wurde. Um 1815 erschien in Leipzig ein völkerkundliches Bilderbuch unter dem Titel Gallerie der Völker aus der Nähe und Ferne. Darin werden 125 Völker und ethnische Gruppen nach dem Alphabet geordnet aufgeführt und in kleinen Bildszenen porträtiert. Die alphabetische Reihung ergibt ein buntes Gemisch von Männern und Frauen unterschiedlicher geographischer Herkunft, die durch Kleidung, Haartracht oder spezifische Gegenstände charakterisiert werden. Angedeutete Landschaften oder Bauten im Hintergrund stellen den Bezug zur Region her. Außer den Bildunterschriften gibt es keine weiteren Erläuterungen, die Informationen müssen aus den Bildern erschlossen werden. Die Illustration zu Polen zeigt einen Bauern und eine Bäuerin, die mit demütig gesenktem Kopf vor einem reich gekleideten und offenbar höher gestellten Mann stehen, der 27 Ebd., S. 18.

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ihnen Anweisungen erteilt. Damit macht das Bild die auch in vielen Texten behandelte Armut der Landbevölkerung zum Thema und definiert Polen als Land mit gravierenden sozialen Unterschieden. Auch in dem anonym publizierten Nationen-Bilderbuch für die wißbegierige Jugend sind die dargestellten Völker in alphabetischer Folge geordnet. Die rund zwei Seiten umfassenden Texte werden durch ganzseitige Illustrationen ergänzt, auf denen jeweils ein männlicher Vertreter eine der insgesamt 23 Ethnien repräsentiert. Zwar werden auch Sachinformationen zu Geographie, Flora, Fauna und Wirtschaft vermittelt, der Schwerpunkt liegt aber auf der Beschreibung des „Volkscharakters“, die meist ebenso oberflächlich wie klischeehaft ausfällt. So werden die Deutschen als „ernsthaftes, verständiges, arbeitsames, ausdauerndes, ehrliches, aufrichtiges, gelehriges und erfinderisches Volk“28 bezeichnet,29 andere Nationen werden dagegen deutlich weniger positiv beurteilt.30 Diese Aussagen werden weder begründet noch durch Quellennachweise belegt. Im Eintrag „Der Pole“ fehlt ein solches summarisches Urteil, es wird lediglich auf die Ähnlichkeit der Sitten und Gebräuche mit Russen und Böhmen hingewiesen.31 Kritik gilt dem Alkoholkonsum der Polen: „Der gemeine Mann liebt den Branntwein leidenschaftlich.“32 Wie in vielen Publikationen wird auch hier die soziale Ungleichheit angeprangert, die bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft durch den russischen Zaren Alexander bestand: „Der Leibeigene galt für ein Mittelding zwischen Mensch und Thier.“33

3.

Darstellungen zur Geschichte und Kulturgeschichte

Die Epoche der Aufklärung brachte kinderliterarische Darstellungen zur Weltgeschichte hervor, die der zeittypischen Forderung nach der Vermittlung „nützlicher“ Kenntnisse Rechnung trugen. Eine der bekanntesten historischen Darstellungen jener Zeit ist die Allgemeine Weltgeschichte für Kinder von Johann Matthias Schröckh. Darin sind der polnischen Geschichte 117 Seiten gewidmet.34 28 Nationen-Bilderbuch für die wißbegierige Jugend. Reutlingen 1835, S. 7. 29 Im Artikel „Der Deutsche“ geht der Autor noch einen Schritt weiter und stellt sogar zwischen den Bewohnern einzelner deutscher Städte signifikante Unterschiede fest, wobei die Norddeutschen im Ganzen strenger beurteilt werden als die Bewohner von Deutschlands Süden. (Der Band ist im schwäbischen Reutlingen erschienen.) 30 So wird über die Ostiaken mitgeteilt: „Sie sind ein guthmütiges Völkchen, aber feig und furchtsam.“ Nationen-Bilderbuch für die wißbegierige Jugend. Reutlingen 1835, S. 27. 31 Ebd., S. 29. 32 Ebd., S. 30. 33 Ebd., S. 29. 34 Schröckh, Johann Matthias: Allgemeine Weltgeschichte für Kinder. Leipzig 1784, Bd. 4.3, S. 138–255.

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Polen gehört zu jenen Ländern, denen bei Schröckh vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zukommt, die englische und französische Geschichte werden wesentlich ausführlicher behandelt und auch die Abschnitte zu Italien, Spanien und Schweden nehmen breiteren Raum ein. Dennoch ist Schröckhs Weltgeschichte in dieser Zeit die ausführlichste Abhandlung zur polnischen Geschichte für Kinder. Der Beitrag über Polen schließt direkt an die Darstellung zu Russland an, was von Schröckh als „sehr natürlicher Übergang“35 zwischen den beiden benachbarten Ländern bezeichnet wird. Ein direkter Vergleich zwischen Russland und Polen geht zu Ungunsten Polens aus, da nach Schröckhs Meinung „das pohlnische Reich von der ehemaligen Größe seines Umfangs, und von seinem Ansehen in Europa, beständig tiefer herabgesunken, da hingegen das russische in jeder dieser Betrachtungen gestiegen ist.“36 Die Geschichte Polens umfasst vier Zeitabschnitte, von denen der vierte, der die Jahre von 1573 bis 1783 beschreibt, der umfangreichste ist. Wiederholt macht der Autor (ab)wertende Aussagen zum angeblichen „Volkscharakter“. So beklagt er mehrfach die fehlende Neigung zu Kunst und Wissenschaft37 und den Mangel an „sanftern“38 bzw. „feinern Sitten“.39 Während Schröckh Polen schon im 14. Jahrhundert als einen Hort der Gesetzlosigkeit und der politischen Unruhen betrachtet: „Die Gesetze hatten bey ihnen eine geringe Kraft; aber von ihren rechtmäßigen Oberherren abzufallen, Partheyen und Unruhen zu stiften, fiel ihnen desto leichter“,40 werden die Deutschen deutlich positiver beurteilt: „Von den Nachbarn der Pohlen waren die Deutschen allein zum Theil gesitteter, in einigen Künsten geübt, mehr an Ordnung und Arbeitsamkeit gewöhnt.“41 Auch in späteren Epochen stellt Schröckh Deutschland als Vorbild für Polen dar. So hätten die Polen in der Zeit der Reformation besonders von Reisen nach Deutschland profitiert: Durch ihren häufigern Aufenthalt in fremden Ländern, vornehmlich in Deutschland, gewannen sie an Wissenschaft und Sitten. Lehrreiche Bücher wurden auch bey dieser Gelegenheit in Pohlen mehr verbreitet, wo außerdem mit dem sechszehnten Jahrhunderte die ersten Buchdruckereyen angelegt wurden.42

Der Fokus der Betrachtung liegt auf der Herrschergeschichte, von denen Kasimir III. und die polnischen Könige aus der Dynastie der Jagiellonen ausführlicher behandelt werden. Bei Kasimir III., den Schröckh sehr positiv bewertet, hebt er besonders dessen Einsatz für die arme Landbevölkerung hervor und verbindet 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 151, S. 162, S. 178. Ebd., S. 151. Ebd., S. 162. Ebd., S. 162f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 197.

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diese Passage mit einer zeittypischen allgemeinen Adelskritik: „[…] daß es für einen weisen König mehr Freude seyn muß, über rechtschaffene, arbeitsame und nützliche Bauern zu regieren, als über stolze, unwissende und müßige Edelleute, welche bloß die Früchte von dem Schweiße des Landmanns verprassen.“43 Durchaus differenziert wird der Einfluss des Deutschen Ordens in Polen betrachtet. Während Schröckh den Anfängen der Herrschaft des Deutschen Ordens im 13. Jahrhundert und insbesondere den Städtegründungen Anerkennung zollt,44 kritisiert er mehrfach den ausschweifenden Lebenswandel,45 die zunehmende Gewalttätigkeit und Willkür46 der Ordensritter. Ein weiterer von Schröckh positiv beurteilter Herrscher ist Johann III. Sobieski, der bei der Schlacht am Kahlenberg als Oberbefehlshaber den entscheidenden Angriff gegen das türkische Heer führte. Schröckh geht in seiner Schilderung über den ehrenden Beinamen Sobieskis als „Retter von Wien“ noch hinaus, indem er ihn als „Retter nicht allein von Wien, sondern auch von Deutschland, und einem ansehnlichen Theile des christlichen Europa“47 bezeichnet. Die erste Teilung Polens betrachtet Schröckh als verdiente Folge politischer Unruhe und Zwietracht. So begründet er die Annexion polnischer Gebiete durch Russland, Österreich und Preußen mit einer „für die Sicherheit ihrer Länder schädlichen Verwirrung“,48 die von Polen ausging, und rechtfertigt die Gebietsübernahme außerdem damit, dass es sich um Territorien handelte, „welche entweder bereits ihren Vorfahren zugehört hatten, oder auf welche sie andere Ansprüche machen konnten.“49 Mit seinem Urteil unterscheidet sich Schröckh deutlich von einigen später verfassten Darstellungen anderer Autoren, welche die Okkupation missbilligten.50 Allerdings schreibt er aus der zeitlichen Perspektive der 1780er-Jahre, in der erst eine Teilung Polens stattgefunden hatte, und nicht aus der Erfahrung der völligen Auflösung des polnischen Staates 1795, die in Deutschland weithin Empörung auslöste. Schröckh sieht dagegen in der Fremdherrschaft sogar eine Chance zur Verbesserung der Verhältnisse: „Allein verschiedene Hauptveränderungen darunter waren zur Beruhigung und dauerhaften Ordnung ihres Vaterlandes unentbehrlich.“51 So äußert er sich am Ende seines Artikels optimistisch über die Zukunft der Polen: „Eine Nation, die auf so mancherley Art aufgefordert wird, sich durch die Anstrengung ihrer Kräfte 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 170. Ebd., S. 157ff. Ebd., S. 159 und S. 183. Ebd., S. 183. Ebd., S. 229. Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Vgl. die entsprechenden Abschnitte im Conversations-Lexicon für die Jugend (S. 472f.) und in Meyniers Weltgeschichte für Kinder (S. 569). 51 Schröckh, Allgemeine Weltgeschichte für Kinder, Bd. 4.3, S. 251.

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hervorzuthun, wie die pohlnische, wird allem Ansehen nach in kurzer Zeit die Geschichtschreiber [sic!] mit dem glücklichsten Erfolge derselben beschäftigen.“52 35 Jahre nach Schröckhs Abhandlung erschien die zweibändige Weltgeschichte für Kinder von Johann Heinrich Meynier, die der als Jurist, Diplomat und Lehrer tätige Autor unter dem Pseudonym Georg Ludwig Jerrer veröffentlichte. Das Werk, das mehrfach nachaufgelegt wurde, umfasst Kapitel zur alten, mittleren und neuen Geschichte, die wiederum in einzelne Zeitabschnitte untergliedert sind. Einzeldarstellungen zur polnischen Geschichte finden sich im fünften Zeitraum („Von Gottfried von Bouillon bis auf Columbus und Luther“) sowie im sechsten Zeitraum („Von Columbus und Luther bis auf die französische Revolution“). Der Text zum fünften Zeitabschnitt fasst auf einer knappen Seite lediglich einige wesentliche Fakten zusammen. Die Darstellung der Ereignisse im Zeitraum von 1520 bis 1789, die mit der Schilderung von Verlusten polnischer Gebiete in der Folge des Zweiten Nordischen Krieges beginnt, ist deutlich ausführlicher. Ähnlich wie Schröckh charakterisiert auch Meynier Polen als einen Unruheherd in Europa. Bei der Beschreibung der Machtkämpfe im 18. Jahrhundert wird der Eindruck erweckt, die instabilen Herrschaftsverhältnisse seien Teil des polnischen „Wesens“, sie gipfelt in der Bemerkung: Die stolzen polnischen Edelleute hatten große Vorrechte, und maßten sich immer größerer an. Oft machten sie solche gegen einander selbst auf den Reichstagen geltend; daher sagt man noch heut zu Tage von Versammlungen, in denen Streit und wilde Unordnung herrscht: „Es geht da zu, wie auf dem polnischen Reichstage.“53

Im Text zu den Teilungen Polens verurteilt Meynier jedoch im Unterschied zu Schröckh scharf die Okkupation polnischer Gebiete. Zur ersten Teilung Polens 1772 weist er darauf hin, dass Russland, Österreich und Preußen sich Teile des Königreichs Polen angeeignet hätten, „auf die sie durchaus kein Recht hatten.“54 Obwohl der Abschnitt eigentlich nur die Zeit bis 1789 umfasst, geht Meynier hier auch auf die zweite und dritte Teilung Polens und deren Folgen ein. Er hebt die Leistung Kos´ciuszkos hervor, den er als „Mann voll Vaterlandsliebe, Kraft und Thätigkeit“ bezeichnet und resümiert das desaströse Ergebnis der letzten Teilung Polens: Der ganze Ueberrest von Polen wurde nun von den Feinden besetzt, und im October 1795 vollends vertheilt. Durch diese drei Theilungen erhielt Rußland 5 Millionen Ein-

52 Ebd., S. 255. 53 Meynier, Johann Heinrich: Die Weltgeschichte für Kinder. 4. verm. u. verb. Aufl. T. 2. Nürnberg 1832, S. 568. 54 Ebd., S. 569.

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wohner, Oesterreich 4 Millionen 600,000; Preußen 2 und eine halbe Million. Die Polen waren nun nicht mehr eine eigene Nation.55

Johann Heinrich Meynier war auf unterschiedlichen Gebieten der Kinderliteratur tätig. Er verfasste nicht nur historische Werke, sondern auch Reisebeschreibungen56 und Abhandlungen zu Geographie,57 Völkerkunde und Kulturgeschichte. In seinem dreiteiligen Kinderbuch Europa’s Länder und Völker, dessen erste Auflage 1822/1823 unter dem Pseudonym Felix Selchow veröffentlicht wurde, informiert er über Geographie, Kultur und Geschichte der europäischen Länder. Der ersten Auflage folgte 1828 eine zweite, die posthum erschien,58 die dritte Auflage, aus der im Folgenden zitiert wird, wurde 1840 publiziert. Hier wird im Vorwort darauf hingewiesen, dass „Vieles zeitgemäß berichtigt und manches Neue hinzugefügt“59 wurde. Abgesehen von statistischen Angaben bspw. zur Zahl der Einwohner von Warschau, die von 76.000 auf 120.000 gestiegen war, unterscheiden sich die Texte aber nur unwesentlich. Polen ist ein Abschnitt von 23 Seiten gewidmet. Es gehört damit zu den weniger ausführlich dargestellten Ländern, die Kapitel zu Großbritannien und Frankreich umfassen je rund 75, zu Italien und zur Türkei mehr als 50 Seiten. Zu Beginn des Artikels wird der Niedergang Polens vom einstigen Großreich bis zum Verlust der Eigenstaatlichkeit thematisiert. Anders als in seiner Weltgeschichte wird die Teilung hier als Folge eigenen Verschuldens der Polen dargestellt: Polen war ehemals ein großes und mächtiges Königreich, schwächte sich aber selbst durch innerliche Zwistigkeiten und brachte es endlich dahin, daß Rußland, Österreich und Preußen […] es endlich, im Jahre 1795, als selbstständiges Reich ganz auflöseten und unter sich vertheilten.60

Meyniers im Plauderton verfasster Text ist von Herablassung und Vorurteilen geprägt, mehrfach wird die polnische Bevölkerung in toto als unsauber und faul diffamiert: Das Fegen vor den Häusern, wodurch dem Übel wenigstens einigermaßen abgeholfen werden könnte, verträgt sich nicht mit der angeborenen Trägheit61 und der Unreinlichkeit der Polen, die lieber hinter dem Backofen bei der Branntweinflasche sitzen, als sich vor dem Hause mit dem Besen beschäftigen.62 55 Ebd. 56 Z. B. Meynier, Johann Heinrich: Rinaldo’s Reisen durch Deutschland. Leipzig, Bd. 1 (1821), Bd. 2 (1823), Bd. 3 (21826). 57 Meynier, Johann Heinrich: Neue Bilder-Geographie für die Jugend. Nürnberg 1818. 58 Meynier war 1825 verstorben. 59 Meynier, Johann Heinrich: Europa’s Länder und Völker. Berlin, T. 1., 1840, S. VI. 60 Ebd., S. 226. 61 In der ersten Auflage ist sogar von der „Nationalträgheit“ die Rede. Vgl. Meynier, Europa’s Länder und Völker. Berlin, T. 1., 1822, S. 205. 62 Meynier, Europa’s Länder und Völker. Berlin, T. 1., 1840, S. 231.

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Aber auch andere Pauschalvorwürfe wie die Ungeschicklichkeit der polnischen Handwerker63 und übermäßiger Alkoholgenuss64 (siehe Abb. 2) werden erhoben. Hier werden Vorurteile vorgetragen, die das Polenbild in Deutschland nachhaltig beeinflussten. Auch der Zustand der meisten Bauten wird bemängelt und kann laut Meynier einem Vergleich mit Deutschland nicht standhalten.65 Damit zeichnet er durchgängig ein düsteres Bild von Polen als verwahrlostes Land mit rückständiger Bevölkerung. Abhilfe in dem Elend wird von den Besatzungsmächten erwartet und in Ansätzen auch bereits erkannt: „Pracht und Armuth begegnen sich allenthalben in Polen. Aber immer merklicher werden hier, unter der russischen Regierung, die Fortschritte der Kultur, wie es denn auch in dem Preußischen Antheile von Polen seit längerer Zeit schon viel besser geworden ist.“66 Die Fremdherrschaft wird von Meynier damit geradezu als Glücksfall interpretiert, weil er den Polen die Fähigkeit abspricht, die Verhältnisse in ihrem Land selbst zum Besseren zu wenden. Wie Schröckh äußert ebenso Meynier – wenn auch aus einer anderen zeitlichen Perspektive – Hoffnung auf einen Aufschwung: „Der Geist der Zeit wirkt aber überall in fortschreitender Bildung, und auch in Polen ist es jetzt schon um Vieles besser.“67

Abb. 2

Ende der 1830er-Jahre erschien die Bildergallerie zur allgemeinen Weltgeschichte in 100 Abbildungen der wichtigsten historischen Begebenheiten mit erläuternden 63 64 65 66 67

Vgl. S. 233. Vgl. S. 232. Vgl. S. 236. Ebd., S. 237. Ebd., S. 244.

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Texten von Johann Gottlieb Amadeus Ziehnert, die Kindern historische Ereignisse von der biblischen Geschichte bis in die jüngste Zeit anschaulich vermitteln sollte. Aus der polnischen Geschichte wurden lediglich zwei Ereignisse ausgewählt, „Kosciuszko’s Niederlage“ und die mit „Polens letzte Revolution“ überschriebene Darstellung der Aufstände in den Jahren 1830/1831. Wie in den meisten Darstellungen stehen militärische Ereignisse, revolutionäre Unruhen und Aufstände im Fokus. Damit wird die Wahrnehmung Polens als eines Unruheherdes in Europa verfestigt, obwohl der Autor durchaus Sympathien für die ihrer Selbstbestimmung beraubte polnische Bevölkerung hegt. Wie Schröckh und Meynier wirft aber auch Ziehnert den Polen vor, dieses Schicksal mitverschuldet zu haben. So resümiert er im Kapitel „Polens letzte Revolution“: „Dessen ungeachtet konnten die Polen es nicht vergessen, einst ein freies, selbstständiges Volk gewesen zu sein, dachten aber nicht daran, wie unfähig sie gewesen waren, ihre Selbstständigkeit zu bewahren.“68 Ein wichtiges Thema geschichtserzählender Jugendliteratur in Deutschland im 19. Jahrhundert bildeten die Befreiungskriege. Die Rolle der polnischen Truppen, die in Napoleon keinen Besatzer, sondern einen Befreier sahen und den Russlandfeldzug mit dem größten Kontingent unter den ausländischen Hilfstruppen unterstützten, wird in den deutschen Jugendbüchern allerdings nur am Rande thematisiert. Eine Ausnahme bildet der tragische Tod des Fürsten Józef Antoni Poniatowski, der als Oberbefehlshaber des V. Korps der Großen Armee mit Napoleon 1812 in Moskau einrückte. Für seine militärischen Leistungen wurde Poniatowski 1813 von Napoleon zum Marschall von Frankreich ernannt. Als Poniatowski nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig den Rückzug Napoleons decken sollte, wurde eine über die Weiße Elster führende Brücke vorzeitig gesprengt. Poniatowski wurde verwundet und ertrank bei dem Versuch, den Fluss schwimmend zu überqueren. Diese Begebenheit wurde in mehreren jugendliterarischen Sachbüchern und Geschichtserzählungen verarbeitet. In der 1834 erschienenen Sacherzählung Der Befreiungskrieg. Eine Geschichte für deutsche Knaben wird Poniatowskis Tod mit den Worten kommentiert: „Treu bis in den Tod dem Kaiser Napoleon, dem er aus freier Wahl sich ergeben.“69 30 Jahre später schildert der Autor Karl Biernatzki in dem Sachbuch Deutsche Befreiungskriege 1813, 1814, 1815 diese dramatische Szene und inszeniert Poniatowski als Kriegshelden: „Poniatowski, als er den herannahenden Feind bemerkte, rief seiner Begleitung zu: ‚Meine Herren, es ist besser, mit Ehren zu fallen, als sich zu ergeben.‘ Dann sprengte er den andringenden Russen entgegen […].“70 68 Ziehnert, Johann Gottlieb Amadeus: Bildergallerie zur allgemeinen Weltgeschichte. Neue Ausg. Meißen 1838/1839, S. 193. 69 Der Befreiungskrieg. Eine Geschichte für deutsche Knaben. Hamburg 1834, S. 150. 70 Biernatzki, Karl: Deutsche Befreiungskriege 1813, 1814, 1815. Stuttgart 1864, S. 151.

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Obwohl Poniatowski als militärischer Führer in der napoleonischen Armee zu den gegnerischen Truppen gehörte, zollten beide Autoren seiner Tapferkeit und Treue große Anerkennung. Poniatowski wird als wagemutiger, unerschrockener Kämpfer gezeigt, der bereit ist, sein Leben für die Freiheit einzusetzen, und zu einer Symbolfigur des polnischen Widerstands gegen die Besetzung seiner Heimat erhoben. Die ausführlichste jugendliterarische Beschreibung der polnischen Unabhängigkeitskämpfe stellt Eduard Farnows Sachbuch Bilder aus den polnischen Freiheitskämpfen älterer und neuester Zeit dar. Farnow beginnt mit dem Rückblick auf die ruhmreiche Vergangenheit Polens im 17. und frühen 18. Jahrhundert, schildert dann die Verwerfungen in den Herrschaftsverhältnissen bis zur ersten Teilung des Landes, die aus Sicht des Autors „durch Verrath, Zwietracht und die Habgier der fremden Mächte herbeygeführt“ wurde.71 Daran schließt sich ein Kapitel über „Kosciuszko oder die Revolution von 1794“ an, in dem die Verdienste und militärischen Leistungen des bedeutenden Militäringenieurs und Heerführers eingehend betrachtet werden. Farnow verfolgt den Lebenslauf Kos´ciuszkos von seiner Jugend über seine Leistungen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zu seinem Tod in Solothurn 1817. Die Errichtung des Kos´ciuszko-Hügels auf der Sankt-Bronisława-Anhöhe bei Krakau, an dessen Bau viele Krakauer Bürgerinnen und Bürger persönlich mitwirkten, würdigt Farnow mit den Worten: „Groß mußte der Mann seyn, der von seinem Volke also geehrt wurde, aber edel auch das Volk, das wahre Größe so zu würdigen versteht und so zu belohnen sich bemüht; darum Ruhm ihm, so wie Ruhm und Ehre der Asche seines Helden!“72 Ein kurzer Abschnitt ist den polnischen Freiheitskämpfen unter Napoleon gewidmet, in dem Farnow die geschickte Politik des Zaren Alexander I. in dem 1815 gegründeten Königreich Polen, das unter russischer Oberherrschaft stand, hervorhebt. Wesentlich kritischer wird dagegen das Regime von Alexanders Bruder Konstantin beurteilt, der als Militärgouverneur und Generalstatthalter in Kongresspolen herrschte. Konstantin war für seine Willkür und Rohheit bekannt, die sich besonders in den Methoden äußerte, mit denen Angehörige des Militärs gedrillt wurden. Farnow schildert den brutalen Umgang mit Soldaten und Offizieren an mehreren Beispielen und verurteilt vor allem die Schikanen, denen die jüdische Bevölkerung durch die russische Armee ausgesetzt war (siehe Abb. 3). Rund die Hälfte des Bandes behandelt die Unabhängigkeitsbewegung in den Jahren 1830/1831, die durch den Novemberaufstand 1830 eingeleitet wurde. Farnow, der hier Ereignisse schildert, die erst drei Jahre zurückliegen, gibt eine 71 Farnow, Eduard: Bilder aus den polnischen Freiheitskämpfen älterer und neuester Zeit. Reutlingen 1834, S. 7. 72 Ebd., S. 69f.

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Abb. 3

ausführliche Darstellung der Abläufe vom 29. November 1830 bis zum endgültigen Scheitern der Revolution im Oktober 1831. Dabei analysiert er auch die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, darunter die Unterstützung Preußens für das russische Heer. Der Autor lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass er auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung steht und die Okkupationen Russlands und Preußens scharf verurteilt. Am Ende gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass Polen wieder ein eigener Staat sein wird, da „ein Volk von so unvertilgbarem Nationalgefühle, von so unauslöschlicher Vaterlandsliebe […] niemals untergehen“ kann.73 In einem Anhang werden 22 Anekdoten und Gedichte aus der Revolution von 1830/1831 überliefert, welche die Vaterlandsliebe, die Tapferkeit und die Unbeugsamkeit der Polinnen und Polen bezeugen sollen. 73 Ebd., S. 200.

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4.

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Zusammenfassung

Es sind vergleichsweise wenige Befunde zum Nachbarland Polen, die sich im Berichtszeitraum in deutschen Kindersachbüchern nachweisen lassen. Dieses Ergebnis ist besonders erstaunlich angesichts der Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts, bei denen Preußen nicht nur große Teile des Landes annektierte, sondern auch mehr als zwei Millionen Polen preußische Staatsbürger wurden. Der damit einsetzende komplexe Prozess von Integration auf der einen und Abgrenzung auf der anderen Seite spielt in den Kindersachbüchern allerdings keine Rolle. Polen und seine Bewohner werden in Kulturgeschichten und Reiseberichten stets als andersartig, abweichend und fremd dargestellt, nicht das Verbindende, sondern das Trennende wird hervorgehoben. Viele Autoren betonen den Kontrast zwischen der ruhmreichen Vergangenheit des Landes als bedeutende Macht im östlichen Europa während der Jagiellonen-Ära und der Phase des Niedergangs seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Obwohl die Okkupationen durch Russland, Preußen und Österreich meist – und teilweise scharf – verurteilt werden, richten Autoren wie Johann Matthias Schröckh und Johann Heinrich Meynier ihre Hoffnungen für eine Modernisierung Polens auf die Besatzungsmächte, weil sie das Land nicht aus eigener Kraft für reformierbar halten. Polen wird in den meisten Texten einseitig als rückständiges Land mit erheblichen infrastrukturellen Defiziten, desolaten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen sowie einer verarmten und abhängigen Landbevölkerung dargestellt. Als Hauptursache für den Verfall des Landes werden die Zwistigkeiten innerhalb des polnischen Adels ausgemacht, dessen Vertreter ausschließlich die eigenen – und nicht die Interessen des Landes – verfolgten, wobei mitunter eine über Polen hinausgehende allgemeine Adelskritik geübt wird, die auf Deutschland zielt und charakteristisch für die Zeit der Spätaufklärung ist. In Reiseberichten und völkerkundlichen Abhandlungen für Kinder wird die polnische Bevölkerung meist undifferenziert als ungebildet, unzivilisiert, träge und trunksüchtig abgewertet. Reiseberichte waren von besonderer Überzeugungskraft, weil deren Aussagen (angeblich) auf Augenschein beruhten und somit als authentisch galten. Damit wurden Stereotype entworfen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein nachwirkten und Ressentiments gegenüber dem polnischen Volk schürten. Oft wurden die Deutschen den Polen als Vorbild entgegengestellt und überhöht als gebildet, tüchtig und fleißig charakterisiert. Ein völlig anderes, deutlich positiveres Bild Polens wurde in den Beschreibungen der polnischen Unabhängigkeitskriege gezeichnet. Hier wurden die Polen als freiheitsliebend, patriotisch, ehrenhaft, tapfer und treu dargestellt. Die meisten Autoren sympathisierten mit den unterdrückten Polinnen und Polen, die gegen die Fremdherrschaft kämpften. Wichtige Leitfiguren waren Heerführer

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wie Johann III. Sobieski, Andrzej Tadeusz Kos´ciuszko und Józef Antoni Poniatowski, die bedeutende militärische Leistungen erbrachten und bereit waren, ihr Leben für die Befreiung ihrer Heimat zu opfern. In Umkehrung der negativen Klischees wurde mit dem Bild des polnischen Freiheitshelden, dessen Kampf angesichts der Übermacht der Feinde zum Scheitern verurteilt ist, ein positives Stereotyp geschaffen. In der Glorifizierung dieser tragischen Helden wird die Ambivalenz des Polenbildes im Berichtszeitraum deutlich, das zwischen Anteilnahme am Schicksal des polnischen Volkes und herablassenden Pauschalurteilen schwankt.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Tafel zum Buchstaben P. In: Albrecht, Erdmann Hannibal: Gallerie der Menschen nach alphabetischer Ordnung. Leipzig 1799. Abb. 2: Ein polnischer Jahrmarkt. In: Meynier, Johann Heinrich: Die Weltgeschichte für Kinder. 4. verm. und. verb. Aufl. Nürnberg 1832, S. 232. Abb. 3: Bestrafung eines Offiziers unter dem Großfürsten Konstantin. In: Farnow, Eduard: Bilder aus den polnischen Freiheitskämpfen älterer und neuester Zeit. Reutlingen 1834.

Michael Düring (Kiel)

Was will der Gurkenkönig in der Sowjetunion? Zur spätsowjetischen Verfilmung von Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (DOLOJ OGURECˇNOGO KOROLJA, 1990)

1.

Einführendes

Leserinnen und Lesern des deutschen Sprachraums muss man Leben und Werk der österreichischen Autorin Christine Nöstlinger wohl kaum näher vorstellen1, ihr Bekanntheitsgrad erreicht mühelos den anderer populärer Namen wie Astrid Lindgren2, Cornelia Funke, Otfried Preußler oder Michael Ende, die mit ihren Werken seit Jahrzehnten unvergessliche Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur hervorgebracht haben, die auch heute noch gelesen werden.3 Weniger bekannt dürfte im deutschsprachigen Raum aber naturgemäß sein, dass Werke Nöstlingers in der Sowjetunion und späterhin auch in der Russischen Föderation übersetzt wurden und sich dort eines gewissen Bekanntheitsgrades erfreuen.4 Betrachtet man in diesem Zusammenhang die vorliegenden wissen-

1 Grundlegendes zur Autorin findet sich exemplarisch, in: Blumesberger, Susanne (Hg.): Handbuch der österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen, Bd. 2. Wien/Köln/Weimar 2014, S. 818–820. Vgl. darüber hinaus exemplarisch auch Friedl, Harald: Die Tiefe der Tinte. Salzburg 1990, S. 163–165 (Interview mit Christine Nöstlinger); Fuchs, Sabine: Christine Nöstlinger. Eine Werkmonographie. Wien 2001, S. 7–10. 2 Mit ihr war Nöstlinger befreundet; vgl. dazu Blumesberger, Handbuch, S. 818. ˇ etyre dobrych pera, in: Literatura 10/1984, S. 3–6, der in seiner 3 Vgl. dazu Frenkel’, Pavel: C kurzen Abhandlung über die von ihm übersetzte Christine Nöstlinger die Verbindung zu Otfried Preußler herstellt; vgl. zur Rezeption Nöstlingers in der Sowjetunion Frenkel’, Pawel: Auf den Gurkenkönig wird nicht gepfiffen oder ein Schluck von Freiheit. Christine Nöstlinger in der Sowjetunion – ein ganz persönlicher Rückblick, in: Fuchs, Sabine/Seibert, Ernst (Hg.) … weil die Kinder nicht ernst genommen werden. Zum Werk von Christine Nöstlinger (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, hg. von Ernst Seibert und Peter Malina, Bd. 4). Wien 2003, S. 271–274. 4 Es gibt allerdings, soweit zu überblicken, keine monographische Abhandlung zu Leben und Werk Nöstlingers, das den Rezeptionsprozess, Fragen zu Übersetzungen oder Intertextualitätsphänomene im russischsprachigen Raum untersucht. Diese These stützt sich auf Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlichen Alters in Russland. Zudem wurde das Werk Nöstlingers in über 50 Sprachen übersetzt, vgl. dazu Blumesberger, Handbuch,

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schaftlichen Arbeiten zum Thema, dann leuchtet aber durchaus ein, dass die österreichische Autorin auch in einem grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Kontext situier-, wenn nicht gar instrumentalisierbar ist. Das liegt einerseits wohl daran, dass sie in ihren Werken die wesentlichen, von der Kinder- und Jugendliteratur immer wieder thematisierten Grundfragen des menschlichen (Zusammen-)Lebens aufgreift, also Fragen des Heranwachsens, der Autorität der Erwachsenen, der Emanzipation der Heranwachsenden, der Identitätsproblematik sowie Pubertätsschwierigkeiten und Elternprobleme5, mithin Themenbereiche, die als Archetypen menschlicher Existenz oder anthropologische Konstanten grundsätzlich auf andere, im vorliegenden Fall geographisch und kulturell aber noch vergleichbar eng nebeneinander liegende Welten übertragbar sind.6 Andererseits ist vermutlich auch der politische und gesellschaftskritische Unterton zahlreicher Bücher Nöstlingers ein Grund für deren Aktualisierung respektive Neu- oder Andersdeutung in manchmal vielleicht unerwarteten ideologischen Kontexten. In diesem Zusammenhang sind das exemplarisch in Maikäfer, flieg! thematisierte Ende des Zweiten Weltkriegs – in der ehemaligen Sowjetunion, aber auch in der Russischen Föderation Schlüsselnarrativ – sowie der in Nöstlingers früheren Büchern deutlich werdende Widerstand zahlreicher ihrer Protagonisten gegen jede Form von Unterdrückung zu nennen.7 Dies gilt auch dann, wenn Nöstlinger selbst sich von einer pragmatischen Funktion ihrer Texte distanziert hat: Ich habe keine Botschaften. Ich will Kindern ein Stück von dieser Welt ehrlich beschreiben, das ist auch in einer phantastischen Geschichte möglich. Ich will ein Stück Wirklichkeit, ohne zu lügen, ohne sie zurechtzubiegen, darstellen. Was die Kinder damit tun, ist ihre Sache.8

Ein dritter Grund für die Rezeption ihrer Bücher in auf den ersten Blick fremden Kontexten ist schließlich Nöstlingers Sprachkreativität9, die es Übersetzerinnen und Übersetzern zwar nicht immer leicht gemacht haben dürfte, ihre Werke zu

5 6 7

8 9

S. 818. Ein Artikel zum Werk Nöstlingers aus der Feder des Nöstlinger-Übersetzers P. L. ˇ etyre dobrych pera, S. 32–46. Frenkel’ (s. u.) findet sich in Frenkel’, C Vgl. Fuchs, Christine Nöstlinger, S. 66–76. ˇ etyre dobrych pera, S. 5–6. Vgl. Frenkel’, C Vgl. Fuchs, Christine Nöstlinger, S. 51–66; vgl. auch Nöstlinger, Christine: Vorwort, in: Gross, Johann: Spiegelgrund. Leben in NS-Erziehungsanstalten. Wien 2000, S. 7–11, hier S. 10–11; vgl. auch Grenz, Dagmar: Zur Rezeption von Christine Nöstlingers Kinderroman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972) durch Kinder heute, in: Fuchs, Sabine/Seibert, Ernst (Hg.) … weil die Kinder nicht ernst genommen werden. Zum Werk von Christine Nöstlinger (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, hg. von Ernst Seibert und Peter Malina, Bd. 4). Wien 2003, S. 165–201. Vgl. Blumesberger, Handbuch, S. 820. Vgl. Fuchs, Christine Nöstlinger, S. 126–142.

Was will der Gurkenkönig in der Sowjetunion?

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übertragen, die aber dazu beigetragen hat, die Möglichkeiten verschiedener Zielsprachen auszuloten und in veränderten Kontexten auszuprobieren.10 Ein derartiges „Ausprobieren“ findet sich ja auch im Roman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig.

2.

Wir pfeifen auf den Gurkenkönig

Seit seinem Erscheinen im Jahr 1972 gehört Nöstlingers Roman zu einem ihrer am häufigsten besprochenen Werke11, übertroffen vielleicht nur von der Rezeption zu Maikäfer, flieg! (1973), anlässlich dessen erster (!) russischer Übersetzung aus dem Jahr 2006 es in einer Rezension vielsagend heißt: „Das literarische Schaffen Christine Nöstlingers, mit mehr als dreißig Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter die Hans Christian Andersen-Goldmedaille, ist, ungeachtet der weltweiten Anerkennung der Autorin, dem russischen Leser so gut wie unbekannt.“12 Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass der in diesem Zitat geäußerten These von der weitgehenden Unbekanntheit der Autorin in Russland nicht ohne weiteres gefolgt werden kann, denn wie ist die oben zitierte Aussage zu erklären, wenn doch nahezu das gesamte Werk Nöstlingers auf der Internetseite eines Buchhändlers in seit den 1970er-Jahren entstandenen russischen Fassungen präsentiert wird – und derzeit offenbar nicht mehr alle Bücher lieferbar sind.13 Darüber hinaus ist der Hinweis auf die Verleihung der HansChristian-Andersen-Medaille im Jahre 1984 in diesem Zusammenhang von Bedeutung, belegt er doch nicht nur Nöstlingers Renommee, sondern verweist auch implizit auf den Übersetzer und Autor Pavel L. Frenkel’ (*1946), der den Gur10 Vgl. dazu nochmals Blumesberger, Handbuch, S. 818. 11 Vor einigen Jahren etwa erregte die Quinkenstein-Nöstlinger-Kontroverse Aufsehen. Der von Lothar Quinkenstein im Tagesspiegel formulierte Vorwurf des in der Figur des Gurkenkönigs angelegten Antisemitismus wurde von Christine Nöstlinger mit der Replik „Der ist eine Gurke bitte“ gekontert, vgl. dazu Quinkenstein, Lothar: Ein Gemüsediktator namens Jerusalem, in: Tagesspiegel vom 25. 01. 2013; vgl. ebenfalls Quinkenstein, Lothar: Jerusalem als intrigante Gurke? Eine Relektüre von „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, in: interjuli. Internationale Kinder- und Jugendliteraturforschung 02/2013, S. 77–91. Im Verlauf der Kontroverse hatte Christine Nöstlinger zudem darauf verwiesen, dass Cohn, der Protagonist ihres Romans Maikäfer, flieg!, sowjetischer Soldat und Jude sei; vgl. exemplarisch und didaktisch aufbereitet auch, in: Böhmann, Marc/Schäfer-Munro, Regine (Hg.): ‚Maikäfer, flieg!‘ im Unterricht. Lehrerhandreichung zum Jugendroman von Christine Nöstlinger (Klassenstufe 7–9). Weinheim/Basel 2009, S. 1–5. 12 Zitat nach https://www.labirint.ru/books/325265/ [24. 02. 2021]; „Литературное творчество К. Нестлингер, удостоенной более 30 литературных премий, в том числе – Золотой медали Ханса Кристиана Андерсена, несмотря на общемировое признание автора, практически неизвестно российскому читателю“ (alle Übersetzungen aus dem Russischen – sofern nicht gesondert vermerkt – stammen vom Verfasser vorliegenden Beitrags). 13 Vgl. dazu https://www.labirint.ru/books/325265/ [24. 02. 2021].

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kenkönig bereits 1976 (!) in das Russische übertragen hatte – illustriert durch den bekannten Grafiker Michail Aleksandrovicˇ Skobelev (1930–2006) – und in den Jahren 1992 bis 1996 Mitglied der internationalen Jury dieses Preises war.14 Es hatten sich also bereits in den 1970er-Jahren in der Sowjetunion angesehene Übersetzer und Illustratoren mit dem Werk Nöstlingers kreativ auseinandergesetzt, was der Aussage widerspricht, es sei russischsprachigen Leserinnen und Lesern unbekannt. Sei es, wie es sei – die Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Romans Wir pfeifen auf den Gurkenkönig beginnt in der damaligen Sowjetunion also bereits drei Jahre, nachdem er im deutschen Sprachraum erschienen war; wir haben es also mit einer nahezu „blitzartigen“ Rezeption zu tun, die sodann einen Medienwechsel vollzieht, denn bereits 1981 entwarf oben erwähnter Pavel Frenkel’ eine Fassung für das Repertoire des seit seiner Gründung 1928 in der Sowjetunion außerordentlich renommierten „N.K. Krupskaja Theater für junge Zuschauer in Gor’kij“;15, heute als das „Staatstheater für junge Zuschauer in Nizˇnij Novgorod“16 bekannt. Im Jahr 1990 erscheint dann in Minsk, im bekannten Kinder- und Jugendbuchverlag „Junactva“17, eine weitere Ausgabe mit Frenkel’s Übersetzung, die dann im Jahr 2017 erneut – unverändert die Illustrationen Skobelevs enthaltend – aufgelegt wird, dieses Mal im Verlag „MelikPasˇaev“.18 Da die Theaterversion Frenkel’s aber nicht nur im damaligen Gor’kij (heute wieder Nizˇnij Novgorod) gespielt, sondern auch in anderen Städten der damaligen Sowjetunion gezeigt wurde, kann doch eine weitergehende Bekanntheit mit dem Thema des Romans und dessen Aktualisierungspotential vorausgesetzt werden.19 All das macht sich dann sicher auch die Fernsehversion

ˇ uprinin, S. I.: Novaja Rossija: mir literatury. E˙nciklopedicˇeskij slovar’-spravocˇnik 14 Vgl. dazu C ˇ etyre dobrych pera, S. 36–41. v 2 t. Moskva 2002, S. 478–79; vgl. Frenkel’, C 15 „Горьковский театр юного зрителя им. Н.К. Крупской“; vgl. dazu https://www.archive-nno v.ru/?id=7318 [24. 02. 2021]. Seinerzeit trug es den Namen der Ehefrau Lenins: N. K. Krupskaja. 16 „Нижегородский государственный ордена ‚Знак Почета‘ театр юного зрителя“, vgl. dazu http://tyuz.ru/ [24. 02. 2021]. 17 Der Verlag hat unter anderem zahlreiche englischsprachige Werke in Kinder- und Jugendbuchfassungen herausgegeben, u. a. Defoes Robinson Crusoe und Swifts Gulliver’s Travels; vgl. dazu Düring, Michael: Swift in Russland. Frankfurt am Main 2007, S. 518. 18 Nestlinger, K.: Doloj ogurecˇnogo korolja: povest’ [dlja starsˇego dosˇkol’nogo i mladsˇego ˇskol’nogo vozrasta]; perevod s nemeckogo P. Frenkel’ja, chudozˇnik M. Skobelev. Moskva 2017. Auf einer Buchmesse stellte der Verlag das Buch in Kurzform vor, vgl. dazu https://www. youtube.com/watch?v=hdltf6fgJww [03. 03. 2021]. Bemerkenswert ist hier, dass der Verlag das Buch für „Kinder im älteren Vorschul- und jüngeren Schulalter“ empfiehlt. ˇ etyre dobrych pera, S. 32–36; vgl. zur Rolle des Theaters als „Fernsehtheater“ 19 Vgl. Frenkel’, C Barabasˇ, N. A.: Televidenie i teatr. Igry postmodernizmа. Moskva 2003, S. 174–176.

Was will der Gurkenkönig in der Sowjetunion?

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aus dem Jahr 1990 zunutze20, die landesweit Verbreitung fand, weil sie von der „Hauptredaktion des Fernsehprogramms für Kinder“ des „Zentralen Staatsfernsehens der UdSSR“ (russ. „Центральное Телевидение СССР“) hergestellt wurde. Alle Fernsehenden der damaligen Zeit konnten somit kaum an der Verfilmung „vorbeikommen“.

3.

Spätsowjetische Filme – Spätsowjetische Verfilmung

Bekanntlich war die Fernsehwelt in der UdSSR zentralistisch organisiert. Sie folgte vor allem einem bildungspolitischen sowie das sowjetische System stützenden Auftrag und konzentrierte sich auf nur wenige Kanäle.21 Damit entspricht diese Fernsehwelt strukturell, wenn auch nicht ideologisch, dem bundesrepublikanischen Modell vor der Privatisierung, in dem drei durch den Staat, mithin durch Steuermittel finanzierte Programme sich einem bestimmten Bildungsauftrag verpflichtet fühlten (und fühlen). Es ist hier nicht der Ort zur Diskussion etwa des Niveauverfalls des Fernsehens nach Zulassung privater Sender oder der Indoktrination der Fernsehzuschauer durch offen politisch agitierende „Staatssender“ wie den russischen „Pervyj Kanal.“22 Vielmehr ist darauf zu verweisen, dass es bis zum Ende der Sowjetunion ungeachtet der Zentralisierung des Fernsehens durchaus ausdifferenzierte Programmschienen gab, die sich speziell auf die Sehgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen richteten respektive diese auch evozierten. Einem wesentlichen Teil dieser Programme stand zudem Sendezeit zur Ausstrahlung von Literaturverfilmungen zur Verfügung, die sich einem bestimmten kulturellen Anspruch verpflichtet fühlten.23 In diesem Zusammenhang ist nun auch die Zusammenarbeit des bereits erwähnten Übersetzers Pavel Frenkel’ und des Schauspielers Oleg M. Sˇklovskij (*1947) zu sehen. Frenkel’ repräsentiert, wie oben bereits angedeutet, die sowjetische Übersetzerschule und gehört zu den herausragenden Mittlern 20 Vgl. dazu https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [01. 03. 2021]. Die Angaben hier fokussierter Sequenzen aus dem Film beziehen sich auf diese bei YouTube eingestellte Fassung. 21 Vgl. dazu Minina, T. P./Tattar, G. V. (Hg.): E˙nciklopedicˇeskij slovar’ junogo zritelja. Teatr. Kino. Cirk. E˙strada. Televidenie. Dlja srednego i starsˇego sˇkol’nogo vozrasta. Moskva 1989, S. 353. 22 Vgl. exemplarisch ein Interview V. V. Putins für den Sender, in: Razgovor s Rossiej: stenogramma ‚Prjamoj linii s Prezidentom Rossijskoj Federacii V. V. Putinym‘; 19. dekabrja 2002. Moskva 2003. 23 Vgl. dazu Egorov, V.: Televidenie. Stranicy istorii. Moskva 2004, S. 36–52, S. 106–130; vgl. zudem Minina/Tattar, E˙nciklopedicˇeskij slovar’, S. 349–354, hier S. 352: „В последнее время ТВ уделяет много внимания нравственным и моральным проблемам нашего общества“ („In letzter Zeit widmet das Fernsehen ethischen und moralischen Problemen unserer Gesellschaft viel Aufmerksamkeit“).

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deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur, neben Nöstlinger etwa von Michael Ende. Er übersetzte aber auch „Höhenkammwerke“ von Autoren wie Franz Kafka, Peter Handke oder Wolfdietrich Schnurre. Zugleich ist er Literatur- und Kulturwissenschaftler, der in den wichtigsten Zeitschriften der Sowjetunion und später Russlands publizierte, er ist Dichter sowie Mitglied im Russischen Schriftstellerverband – zuvor Schriftstellerverband der UdSSR.24 Oleg M. Sˇklovskij wiederum gehört zu den Schauspielern der Spätsowjetepoche, die regelmäßig auf den Leinwänden der Kinos respektive auf den Fernsehbildschirmen präsent waren. Seine erste Rolle spielt er als 17-jähriger bereits im Jahr 1964, nach einigen Jahren der Film-Abstinenz setzt sich seine Karriere bis in die unmittelbare Gegenwart fort und er spielt in Kinofilmen ebenso mit wie in Fernsehserien, die ein Millionenpublikum erreichen.25 Diese Details zeigen, dass die Kooperation Frenkel’s, der das Drehbuch für den Film nach seiner Theaterfassung schrieb, und Sˇklovskijs, der die Rolle des Vaters Rudi Hogelmann übernahm, im ˇ NOGO KOROLJA Repräsentanten des spätsowjetischen Film DOLOJ OGUREC Kulturbetriebs zusammenführte, die großen Bekanntheitsgrad genossen und somit den Erfolg dieses Films garantierten. Nun geht es bei Filmprojekten aus marktwirtschaftlicher Perspektive immer um Erfolg, müssen diese doch refinanziert werden. Diese Notwendigkeit besteht bei der Verfilmung des Nöstlingerschen Romans allerdings nicht, wurde sie doch im Jahre 1990 im Auftrag des Zentralen Staatsfernsehens vorgenommen. Wenn es aber nicht primär um Geld geht, muss die Frage erlaubt sein, was die Verfilmung des Romans in einer gesellschaftlichen Gemengelage begründet, in der der Zerfall der Sowjetunion droht, die durch bereits fünf Jahre Perestrojka und Glasnost’ unter dem damaligen Staatspräsidenten Michail S. Gorbacˇev an den Rand des wirtschaftlichen Kollaps26 geraten sowie ideologisch als Großmacht gespalten ist? Ging es tatsächlich nur um – mehr oder weniger – „harmlose“ Familienunterhaltung oder finden sich in der Verfilmung, wie im spätsowjetischen (Medien-)Kontext nicht unüblich, Subtexte, äsopische Sprache, geheime Codes oder Zwischen-den-Zeilen- respektive Zwischen-den-Bildern-Informationen, die unmittelbar an den politischen Kontext und an die Alltagswelt der

24 Jenseits der bereits zitierten Quelle zu Frenkel’ gibt es keine weiteren, hier zu nennenden Titel; es sei somit ausnahmsweise der Verweis auf https://ru.wikipedia.org/wiki/Френкель,_ Павел_Львович gestattet [05. 03. 2021]. Auf Wikipedia bezieht sich auch die russischsprachige Seite https://librusec.pro/a/44323 [07. 04. 2021]. 25 Vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/m/ros/4901/bio/ [05. 03. 2021]. 26 Überliefert ist zu diesem Status Helmut Schmidts früheres, sich auf Vorperestrojka-Zeiten beziehendes Bonmot „Im Grunde genommen ist die UdSSR ein Obervolta mit Raketen“, vgl. dazu https://research.handelsblatt.com/wp-content/uploads/2014/03/2014-3-7_Lichter_Rus sland-Obervolta-mit-Atomwaffen.pdf [25. 02. 2021].

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damaligen Zuschauerinnen und Zuschauer anknüpfen? Vermutlich ist das eine wie das andere der Fall.

3.1

(Film-)Setting – Materielle Kultur

Die Verfilmung des Romans Nöstlingers ist in einer Rückschau von etwas mehr als dreißig Jahren in Bezug auf die darin zu erkennende Anknüpfung an die materielle Kultur der Alltagswelt ein hoch interessantes Forschungsfeld. Durch die gesamte Verfilmung hinweg wird nämlich deutlich, dass die 1959 geborene Regisseurin Ol’ga Vichorkova27 das Konzept verfolgt, das österreichische – und damit westeuropäische – Setting des Romans zu erhalten, unter anderem auch durch die Übernahme der Eigen- und Familiennamen. Aus heutiger Sicht mag dies – auch wegen der in der Sowjetunion nur schwer auszusprechenden Namen wie ‚Hogelmann‘ – wagemutig wirken, für die damalige (Wende-)Zeit sind Zeichen westlicher materieller Kultur, die eben auch durch Namen vermittelt wird, aber von enormer Bedeutung, insofern westliche Waren die Verheißungen des Kapitalismus transportierten. Wenn Wolfi, der ältere Sohn der Familie Hogelmann, also ein braunes Paar Adidasturnschuhe (u. a. Sequenz 4:05, 22:43, 43:54– 44:12; 1:15:01) trägt, dann hat dies für das damalige Publikum eine ganz andere Wirkung, als wenn in einer amerikanischen Blockbusterproduktion das neueste Nike-Produkt promotet wird. Darüber hinaus wird allen, die den Film seinerzeit gesehen haben, aufgefallen sein, dass im Küchenregal der Hogelmanns eine ganze Batterie von Bierdosen, Alkoholflaschen und anderer Behältnisse aufgereiht ist, die eine vergleichbare Funktion erfüllen, wie die Turnschuhe Wolfis. So ist etwa die Dose Löwenbräu-Bier sicher kein Zufall (vgl. u. a. Musiksequenz 7:49; 23:10–23:41), gehörte dieses Bier doch zu den Sorten, die in der späten Sowjetunion zuerst importiert und verbreitet wurden – in diesem Zusammenhang reicht vermutlich der Hinweis darauf, dass selbst in sibirischen Städten wie Irkutsk in den Wendejahren Restaurants entstanden, die den Titel „Bierhaus“ trugen und dort Löwenbräu anboten. Gleiches lässt sich zu den Dosen mit dem Heineken- oder Tuborg-Logo sagen (Sequenz 23:14)28, beide Brauereien gehörten ebenfalls zu denen, die in der damaligen Zeit den spätsowjetischen Markt eroberten und sich eines gewissen Sozialprestiges erfreuten – was aber vermutlich 27 Zu Vichorkova finden sich nur spärliche Informationen, vgl. exemplarisch https://www.kino -teatr.ru/kino/director/sov/41202/bio/ [25. 02. 2021]. 1991 zeichnet Vichorkova noch für eine weitere Literaturverfilmung verantwortlich. Der Film SJUZˇET DLJA DVUCH RASSKAZOV ˇ echovs, Posle teatra und Volodja, in (Sujet für zwei Erzählungen) fügt zwei Werke Anton C einem Film zusammen, vgl. https://ruskino.ru/mov/3598 [25. 02. 2021]. 28 Vgl. dazu exemplarisch die aktuelle Getränkekarte des Restaurants „Bierhaus“ in Irkutsk: https://drive.google.com/file/d/1kiLgIX5Nktw8f23RT0SeGcZAqu9xKbzF/view [08. 03. 2021].

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für alle westlichen Waren galt, die den sowjetischen pauschal vorgezogen wurden. Dieses Eindringen westeuropäischer Konsumgüter kollidierte zudem mit der Mängellage in der spätsowjetischen Ökonomie, in der sich der Gedanke festgesetzt hatte, dass besser nichts weggeworfen wurde, was irgendwie wiederverwertbar schien. So symbolisieren die Bierdosen einerseits das neue, bunte Leben, das den Kapitalismus ankündigt, andererseits erinnern sie die Fernsehenden an ihre eigene, von Defiziten geprägte Lebenswelt und vielleicht auch an den Zustand ihrer eigenen Küchen. Es kommt hinzu, dass auf diese Weise ein Bild vom „Westen“ entsteht, das sich ganz offenbar an das vermeintlich naive Bild annähern soll, von dem die Regisseurin glaubt, es herrsche in den Köpfen des Publikums, um sich dann darüber lustig zu machen. Dass zudem mehrfach eine Zigarettenschachtel der Marke Camel und eine Flasche Johnny Walker ins Bild gerückt werden (Sequenz 30:52), hat vermutlich weniger mit Product-Placement zu tun, sondern assoziiert selbstverständlich die mit der Whisky-Marke verbundene Qualität sowie den mit der Zigarette verbundenen Geschmack von Exotik und Freiheit. Auf weiteren Glanz der neuen, schönen Konsumwelt verweist im Film schließlich die längere Sequenz in der Küche der Hogelmanns, in der Mutter Liesel nahezu dreißig Sekunden (!) eine Keksdose aus dem AldiSortiment in die Kamera hält (vgl. Sequenz 54:06–54:37). Auf diese Weise entsteht hinsichtlich der materiellen Kultur also ein recht getreues Abbild der ausgehenden Sowjetunion, in der leitmotivisch zudem eine Kuckucksuhr schlägt (vgl. exemplarisch Sequenz 2:58) und der Kühlergrill eines Papp-BMW ein zur damaligen Zeit unerschwingliches westliches Statussymbol repräsentiert (vgl. Sequenz 40:35), begleitet von dem Pop-Ohrwurm des Jahres 1990, „Lambada“, der seinerzeit in der Sowjetunion zu allen möglichen – und unmöglichen – Gelegenheiten aus den Lautsprechern dröhnte. So auch im Film, einmal erklingt das Lied in einem Kassettenrecorder (Sequenz 35:37–36:17), ein anderes Mal wird es im Fernsehen (Sequenz 43:25–44:15) in einem Musikvideo gespielt. Dass vor unseren Augen aber nicht nur ein (Zerr-)Bild der westlichen materiellen Kultur entsteht, die sich auf den Weg in den Osten macht, liegt nun auch daran, dass die Einrichtung der Wohnung der Hogelmanns typische (spät-)sowjetische Details enthält, die allen zeitgenössischen Fernsehenden sehr vertraut gewesen sein dürften. So sitzt Wolfi am Anfang des Films, was die literarische Vorlage verändert, an einer Schreibmaschine und formuliert Erinnerungen an die dann im Buch (und im Film) dargestellten Ereignisse. Das Schreibtischlicht kommt von einer grünen Stehlampe, das Telefon ist grün (Sequenz 1:05–1:23) und erinnert so an das klassische sowjetische Schreibtischtelefon des durchschnittlichen Beamten – und diesen Rang nimmt ja auch Vater Hogelmann als Autoversicherungsmitarbeiter ein. Dass dies kein zufälliges Detail ist, wird spätestens dann klar, als in der nächsten Szene Mutter Hogelmann, an einer roten Stehlampe sitzend, mit einem roten Telefon telefoniert (Sequenz 2:00–2:10). Das

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rote Telefon ist im sowjetischen Kontext der „heiße“ Draht, aber zugleich auch höheren Vertretern der Nomenklatura vorbehalten – insofern ist auch nachvollziehbar, dass der von Vater Hogelmann über die Existenz Kumi-Oris informierte Journalist29 nicht nur über ein solches, sondern zugleich über ein grünes und ein grau-braunes Telefon verfügt (Sequenz 17:27–18:52). Im Übrigen ist das gesamte im Film als Setting verwendete Mobiliar das getreue Abbild dessen, was in Millionen sowjetischer Wohnungen anzutreffen war.30 Der Film entwirft hinsichtlich der materiellen Kultur also ein durchaus vertrautes Bild, verfremdet dieses aber durch die auf die westliche Markenwelt anspielenden Details, die den Geist der Wendezeit reflektieren und damit ganz offensichtlich auf Breitenwirkung abzielen.

3.2

Personen und Sprache

Breitenwirkung erlangt ein Film wie DOLOJ OGURECˇNOGO KOROLJA aber natürlich vor allem durch die in ihm auftretenden Schauspielerinnen und Schauspieler, die hier der literarischen Vorlage entsprechend Rollen übernehmen. Die Besetzung der Rolle des Rudi Hogelmann mit Oleg Sˇklovskij, oben bereits erwähnt, verankert die Verfilmung im spätsowjetischen Kontext – er ist seinerzeit ein breit bekannter Schauspieler zwar nicht der „ersten Liga“, aber gleichwohl jemand, der Publikum generiert. Doch gilt dies auch für die anderen beteiligten Akteure, denn seine Tochter Martina wird von der damals 26-jährigen Schauspielerin Tat’jana A. Jakovenko verkörpert, ebenfalls keine Unbekannte31, genauso wie Galina L. Petrova, die die Rolle der Liesel übernimmt und nicht nur als Fernsehschauspielerin, sondern als an den Theatern „Sovremennik“ und „MChAT“ in Moskau tätige Theaterschauspielerin unionsweit und späterhin auch in der Russischen Föderation Popularität, ja geradezu Kultstatus genoss

29 Auf eine Analyse der Redesequenzen des Journalisten, des Polizisten sowie des Arbeitskollegen von Rudi Hogelmann – alle von einer Person gespielt (dem 1954 geborenen Schauspieler Viktor Bunakov – vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/search/106242739/614468/ [08. 03. 2021]) – wird hier verzichtet. Aber auch sie haben gewissen Wortwitz, insofern die Phrase „gospodin Chogel’-Mogel’“ (Sequenz 18:50) aus dem Telefonat Rudi Hogelmanns mit dem Journalisten auf die russische Süßspeise gogel’-mogel’ anspielt, vgl. dazu https://www.rus sianfood.com/reading/?post_id=227/ [08. 03. 2021]. Warum nun gerade Liesel Hogelmann ein rotes Telefon verwenden darf, um mit ihren Freundinnen zu telefonieren, bleibt ein Geheimnis der Regisseurin. 30 Vgl. dazu exemplarisch, wenn auch eine andere Periode der Sowjetzeit aufrufend, Attwood, Lynne: Housing in the Khrushchev Era, in: Ilicˇ, Melanie Reid, Susan E./Attwood, Lynne (Hg.): Women in the Khrushchev Era. Basingstoke/New York 2005, S. 189–193. 31 Vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/w/ros/5044/works/ [02. 03. 2021].

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und immer noch genießt.32 Am Theater „Sovremennik“ trat häufig auch German Kovalenko auf, einer der in der Sowjetunion wohl bekanntesten Synchronsprecher – für ältere deutsche Fernsehzuschauer mag interessant sein, dass er in den 1980er-Jahren die Figur des Kommissar Derrick in der gleichnamigen Serie sprach, die für das spätsowjetische Publikum vorbereitet wurde.33 Er übernimmt in der Verfilmung des Gurkenkönigs die Rolle des Großvaters. Aber auch Sergej Pinegin34, der den Gurkenkönig spielt, kann als Akteur gelten, der am Ende der 1980er-Jahre weithin bekannt war. Ergänzt wird das Tableau durch die Nachwuchsschauspieler Vladimir Mironov (*1975)35, einen 15-Jährigen, der von Oleg Sˇklovskij für die Rolle des Wolfi vorgeschlagen wurde, sowie Andrej Pozˇitkov, der die Rolle des Nik übernahm.36 Demzufolge wurde für diese Fernsehverfilmung zwar nicht die Crème de la Crème der spätsowjetischen Schauspielergilde rekrutiert, das Tableau ist aber bekannt genug, um die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums zu erregen und die sowjetische Fernsehfamilie gemeinsam vor dem Fernseher zu versammeln – und damit wäre dem Anspruch der Bücher Nöstlingers Genüge getan, nicht nur Kinder und Heranwachsende, sondern auch Erwachsene mit deren Themen zu konfrontieren. Die Produzenten des Films haben also keine Mühen gescheut, das durch Übersetzung und Theaterinszenierungen in der Sowjetunion nicht unbekannte Buch Nöstlingers in einem vollkommen veränderten gesellschaftlichen Rahmen sowie in einem anderen Medium zu realisieren und dazu eine Riege bekannter Schauspielkünstler engagiert, um ihr Anliegen so breit wie möglich zu kommunizieren. Um was für ein Anliegen es sich handeln könnte, lässt sich nun am ehesten den Dialogen entnehmen, aus denen manche Fragmente, wie es in der literarischen Tradition des russischsprachigen Raumes seit Aleksandr Griboedovs Komödie Gore ot uma (dt. Verstand schafft Leiden, 1824) üblich ist, sprichwörtlich geworden sind. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass es nur ein Jahr nach der Premiere des Filmes im Fernsehen in Moskau zu politischen Ereignissen kam, die wie eine Realisierung der Gespräche zwischen einzelnen Mitgliedern der 32 In einem Interview mit Dar’ja Ustinova berichtet Galina Petrova aus ihrem Leben und damit auch über ihre Karriere als Schauspielerin (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=68sE5k r4Gj4 [26. 02. 2021]), erwähnt den Film nach Nöstlingers Roman freilich nicht. 33 Die Stimme Kovalenkos war den russischen Fernsehzuschauern der damaligen Zeit also bekannt; die Serie Derrick, aber auch die amerikanische Soap-Opera Dynasty, in der Kovalenko die Rolle des Blake Carrington sprach, gehörten zu den meistgesehenen Serien am Ende der 1980er-Jahre in der Sowjetunion; vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/m/ro s/29277/bio/ [25. 02. 2021]. 34 Vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/m/ros/3347/bio/ [25. 02. 2021]. 35 Vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/c/sov/237441/bio/ [25. 02. 2021]. 36 Über Andrej Pozˇitkov gibt es in der Datenbank kino-teatr.ru nur einen Hinweis auf seine Rolle im hier besprochenen Film, er scheint keine weiteren gedreht zu haben (vgl. dazu https://www.kino-teatr.ru/kino/acter/c/sov/364008/works/ [25. 02. 2021], auch sein Geburtsdatum ist nicht bekannt).

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Familie Hogelmann anmuten – Stichwort „Augustputsch“ 1991 –, andererseits sind manche Dialoge Spiegelungen politischer Diskussionen der Spätsowjetepoche. So gesehen und gehört verlässt der Film den Bereich der „reinen“ Unterhaltung und wird – wie viele kulturelle Erzeugnisse der damaligen Zeit – politisch-subversiver Zeitkommentar.37 Diesem auf die Spur zu kommen, bietet sich die Analyse einzelner Redesequenzen der Protagonisten an. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht wohl der Großvater, der in jeder Hinsicht Klartext spricht. Auf diese Weise kommt er der Rolle nah, so wie Christine Nöstlinger sie in ihrem Buch angelegt hat: „Opa ist fast siebzig und hat vom letzten Schlaganfall einen steifen Fuß und einen schiefen Mund. Aber mit dem schiefen Mund kann er noch immer eine Menge gescheiter Sachen sagen. Mehr als viele andere Leute mit geraden Mündern.“38 Gerade mit Blick auf die Äußerungen des Großvaters wird aber deutlich, dass sich die Verfilmung nicht „sklavisch“ an die Buchvorlage hält, sondern spezifische Veränderungen vornimmt – ganz abgesehen davon, dass der Großvater im Film nicht von einem Schlaganfall gezeichnet ist. Politische Anspielungen enthält etwa folgender Dialog zwischen dem Großvater des Ich-Erzählers und seinem Sohn Rudi: [Papa] Ich habe deine Ironie irgendwie nicht verstanden, Papa. Übrigens muss ich dich darauf hinweisen, dass deine ständige Ironie bei den Kindern zu nichts Gutem führt. Wir werden schon bald keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und uns Erwachsenen spüren. Und das wird damit enden, dass wir in ihren Augen alle Autorität verlieren. [zugleich läuft im Hintergrund ein Fernseher mit der Liveübertragung eines Interviews mit Politikern aus Washington und Chicago]. [Großvater] Autorität. Autorität ist doch keine Krawatte, die man mit den Händen umbindet. [Papa] Das sind doch alles nur Wörter, Wörter, Phrasen … [Großvater] In deinem Kfz-Versicherungsbüro beruht meiner Meinung nach alles auf Angst – der Direktor hat Angst vor dem Generaldirektor, du gehst vor dem Direktor auf leisen Sohlen, deine Untergebenen zittern vor Ehrfurcht – das ist doch kein Versicherungssystem, sondern ein System der Angst [kurze Pause, der Großvater schlägt seinem

37 Die Verfilmung verzichtet weitestgehend auf die Umsetzung des Schul-Handlungsstrangs, der in Nöstlingers Vorlage eine zentrale Rolle einnimmt. Lediglich die von Martina unter dem Sofa gefundenen Zettel mit den Versuchen Wolfis, die Unterschrift seines Vaters zu fälschen (Sequenz 3:30–5:09), und eine spätere Sequenz (47:30) erinnern an dieses Thema. Überdies hat Wolfi im Film keinen Gipsfuß, der ihm im Roman als Motivation dient, die Geschichte „ohne Deutschlehrergliederung“ aufzuschreiben, vgl. Nöstlinger, Christine: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. Weinheim/Basel 21994, S. 6. Im Film wird also nahezu ausschließlich und nicht ohne Grund der sich androhende Zerfall der familiären Strukturen durch das Erscheinen des Gurkenkönigs fokussiert. 38 Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 7.

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Sohn mit der flachen Hand an den Hinterkopf]. Nur verwechsle die Arbeit nicht mit Zuhause. [kurze Pause] Hm, irgendetwas habe ich in deiner Erziehung versäumt.39

Von Bedeutung ist hier die Anspielung auf das symbolisch aufgeladene Verhältnis der Generationen – Jugend erhebt sich gegen die Älteren, es geht also um Autoritätsverlust. Dass dieser aber nicht nur auf der Ebene der Generationen vor sich geht, zeigt das im Hintergrund einmal kurz eingeblendete Fernsehbild einer Liveschaltung aus den USA – so wird den Fernsehenden suggeriert, dass es offenbar auch um den Verlust der Autorität der UdSSR im Verhältnis zu den USA geht, die ihren ehemaligen Feind Nummer 1 offenbar nicht mehr ernst nehmen.40 Eine zweite, durch ein Beispiel aus dem Alltag transportierte Botschaft ist im Rahmen der transkribierten Szene der Monolog des Großvaters über das „Versicherungssystem“ in der durch Rudi Hogelmann repräsentierten Autoversicherung, das durch einen bewusst eingesetzten Betonungswechsel zum „System der Angst“ mutiert und damit eine knappe Beschreibung des Zustands des (Spät-)Sowjetsystems liefert: „[…] это не страховая система, а страховая система“ (dt. „das ist doch kein Versicherungssystem, sondern ein System der Angst“). Hier zeigt sich der Großvater in der Tat als ein Korrektiv des Vaters, der offenbar ein funktionierendes Rädchen in der Gesellschaft darstellt, während sein Schwiegervater Missstände offen und scharfzüngig benennt – vielleicht, weil er nichts zu verlieren hat … Werden in dieser Szene des Filmes also bereits tagespolitische Aktualisierungen der Vorlage erkennbar, so wird der folgende Auszug aus einem Gespräch zwischen Vater, Großvater und Martina zu einem wirklichen Kabinettstückchen, das mit unserem Wissen um die Geschichte nahezu prophetischen Charakter aufweist, insofern Martina als Repräsentantin der jungen Generation ihrem Vater und Großvater den Unterschied zwischen den Begriffen ‚Putsch‘ und

39 Transkribiert aus dem Film, Sequenz 5:47ff.: [Папа] Что-то я не понял твою иронию, папа. Кстати, должен заметить тебе, что твое постоянное иронизирование с детьми до добра не доведет. Скоро уже перестанем чувствовать разницу между собой и взрослым. И кончится тем, что мы потеряем всякий авторитет в их глазах. [zugleich läuft im Hintergrund ein Fernseher mit der Liveübertragung eines Interviews mit Politikern aus Washington und Chicago]. [Дед] Авторитет. Авторитет не галстук, руками не навяжешь – вот что. [Папа] Это же слова, слова, фразы … [Дед] В вашей конторе по страхованию автомобилей по-моему все держится на страхе – директор страшится генерального директора, ты ходишь на задних лапах перед директором, твои подчинённые перед тобой трепещут – это не страховая система, а страховая система. [kurze Pause, der Großvater schlägt seinem Sohn mit der flachen Hand an den Hinterkopf] Только не путай работу с домом. [kurze Pause] Хм, что-то я упустил в твоём воспитании. 40 Vgl. dazu Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg und das Wettrüsten. Das Zeitalter der Supermächte, in: https://www.bpb.de/internationales/amerika/usa/10614/kalter-krieg?p=1 [05. 03. 2021].

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‚Revolution‘ erklärt. Anlass dafür ist die Aussage Kumi-Oris, seine Untergebenen hätten gegen ihn „geputscht“41: [Kumi-Ori] Wir sind der König der Unterwelt, Kumi-Ori … Wir erssählen gut – und bald werden wir noch besser erssählen – wir hatten Diener, ein Volk, die Masse, … und sie haben uns verführt und vertruben … […]. ‚Ihre Linkheit, kehren Sie auf den Thron zurück, wir können ohne Kumi-Ori nicht leben.‘ [Großvater] Aber warum können Eure Untergebenen denn nicht ohne Hoheit leben? [Kumi-Ori] Sie sind sehr dumm. Sie sind Ausführer … sie brauchen einen Befehler. [Großvater] Ach so ist das. Darf ich zu fragen wagen: Warum sind sie denn dumm? [Kumi-Ori] Sie sind dumm, sie haben einen Putsch gemacht. Wir bitten um Flüchtung. [Großvater] …, um Gottes willen, nur zu. Nur ist dies kein Putsch, sondern eine Revolution (Sequenz 12:30–14:10).42

Es soll hier nicht darum gehen, dass Kumi-Ori ein ebenso verqueres Russisch spricht wie sein literarisches Vorbild in Nöstlingers Roman verqueres Deutsch.43 Im spätsowjetischen Kontext – und die Macher des Films konnten nun wirklich nicht wissen, dass diese Szene nur ein Jahr später wegen des Augustputsches eine ganz andere Wirkung erzielen würde – ist es vielmehr die in der Familie stattfindende Auseinandersetzung um die Begriffe ‚Putsch‘ und ‚Revolution‘, die diskutiert werden muss, weil letzterer, der den Beginn des Sowjetnarrativs markiert, im ideologischen Kontext für alle Fernsehenden natürlich von exzeptioneller Bedeutung ist. Ein Zufall der Kulturgeschichte führt also dazu, dass ein im Jahr 1973 im deutschsprachigen Raum veröffentlichtes Jugendbuch in einem fremden Kontext etwa 20 Jahre später ein zentrales Geschichtsnarrativ aktualisiert und ein bevorstehendes antizipiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Fragment des Nöstlingerschen Romans im Film sehr eng an den Ausgangstext angelehnt wiedergegeben wird: [Kumi-Ori] Das ist ein Putsch. Ein Putsch. Es hat sie aufgebläht. Aufgebläht … […]. [Großvater] Putsch! Putsch! Das ist kein Putsch, sondern eine Revolution! 41 Im Buch beginnt dieser Abschnitt im „Zweite[n] Kapitel oder Nr. 2 der Deutschlehrergliederung“, vgl. Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 27–29. 42 [Куми-Ори] Мы король подземного государства, Куми-Ори … Мы хорошо расскаживаем – скоро мы будем расскаживать еще лучше – у нас были слуги, народ, толпа, … и они нас пританули и всех прогнили … […] Ваше левачество, вернись на трону, мы не могли без Куми-Ори. [Дед] А почему эти ваши подданные не смогут обойтись без величества? [Куми-Ори] Они очень глупые. Они выполняльчики … им нужен приказальщик. [Дед] А-вот как. Смею вас спросить: почему это они глупые? [Куми-Ори] Они глупые, они наделали путч. Мы просим убежалица. [Дед] А мне, ради Бога, живите. Только это не путч, а революция. (Sequenz 12:30–14:10). 43 Vgl. Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 28. Zudem lispelt Kumi-Ori, was die Transkription der Sequenzen, in denen er auftritt, erschwert.

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[Papa] Papa, ich bitte dich, bitte nicht über die Revolution! [Liesel] Genau, dein Arzt hat dich gewarnt, kümmere dich nicht um Politik, das kann sich sonst auf dein Herz auswirken. [Großvater] Das ist kein Putsch, sondern eine Revolution. [Martina] Großvater, nun streite doch nicht! [Papa] Papa, das ist doch ein- und dasselbe! (Sequenz 14:10–15:00).44

Abgesehen von der Situationskomik sind in dieser Sequenz zwei Sätze hervorzuheben. Der erste – „Tol’ko ne o revoljucii“ (dt. „Bitte nicht über die Revolution“) – ergänzt den Ausgangstext um eine wesentliche, für den Sowjetkontext typische Facette, insofern das Tabuthema „Revolution“ fokussiert wird, ganz abgesehen davon, dass die Revolution als propagandistisches Dauerthema viele Sowjetmenschen ohnehin belastete. Bekanntlich war in der Sowjetkultur die Revolution tabu, es sei denn, die Revolutionäre um Lenin und weitere Drahtzieher der Ereignisse wurden entsprechend positiv dargestellt.45 Der zweite Satz nun berührt die „ewige“, politisch aber eben nicht ungefährliche Frage, ob denn die Oktoberrevolution tatsächlich eine Revolution oder doch eher ein Putsch gewesen ist. Im offiziellen Sprachgebrauch war die Frage ja beantwortet – das gesamte Sowjetnarrativ drehte sich schließlich um die „Große Oktoberrevolution“ (russ. „Velikaja Oktjabr’skaja Revoljucija“)46 als nicht zu hinterfragende historische Wirklichkeit. Wenn Rudi Hogelmann in der Verfilmung, seine Rolle wie im Ausgangstext ausfüllend, also sagt „Papa, e˙to ved’ odno i tozˇe“ (dt. „Papa, das ist doch ein- und dasselbe“), dann eröffnet er auf diese Weise den gesamten,

44 Im Ausgangstext lautet das Fragment wie folgt: „Der Opa hat gesagt, das heißt nicht Putsch, sondern Revolution. ‚Nein‘, hat der Kumi-Ori gesagt, ‚nein! Sie machen Putsch! Putsch! Putsch!‘ ‚Revolution‘, hat der Opa gebrüllt. Und ‚Putsch! Putsch! Putsch!‘[,] hat der Kumi-Ori geschrien. ‚Verdammt noch mal‘, hat der Papa gesagt, ‚das ist doch das gleiche‘“; Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 28. Obiges Zitat lautet in der russischen Filmfassung wie folgt: [Куми-Ори] Это путч. Это путч. Их пучило. Пучило … […]. [Дед] Путч! Путч! Не путч, не путч, а революция! [Папа] Папа, я прошу тебя. Только не о революции! [Мама] Да, ваш доктор вас предупреждал, только не переживайте из-за политики, это, можно, отразится на сердце. [Дед] Это не путч, а революция. [Мартина] Дед, не спорь! [Папа] Папа, это ведь одно и тоже! (Sequenz 14:10–15:00). 45 Exemplarisch etwa im Film LENIN v OKTJABRE von 1937; vgl. dazu Margolit, Evgenij: Der Film unter Parteikontrolle, in: Engel, Christine (Hg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films. Stuttgart/Weimar 1999, S. 71. 46 Hier reicht ein Blick in das Lemma zur Oktoberrevolution in einer der Sowjetenzyklopädien, exemplarisch etwa in die der Brezˇnev-Ära: Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija, t. 24, kniga 2., Sojuz Sovetskich Socialisticˇeskich Respublik. Hg. von A. M. Prochorov. Moskva 31977, S. 124– 130.

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über mehr als siebzig Jahre unterdrückten Diskurs über mögliche Fälschung(en) von Geschichte.47 Doch dieser Diskurs wird nicht nur eröffnet, sondern in der unmittelbaren Fortsetzung der Sequenz im wahrsten Sinne des Wortes – und wieder in Übereinstimmung mit dem Ausgangstext – durchdekliniert, insofern Martina ihrem Vater den Unterschied zwischen den Termini ‚Putsch‘ und ‚Revolution‘ erläutert: [Martina] Wenn einer mit Soldaten anrückt, das Parlament schließt, die Bürger, die ihm nicht passen, ins Gefängnis wirft und den Zeitungen verbietet, das zu drucken, was sie wollen, dann ist das ein Putsch. [Papa] Oho … [Martina] Aber, wenn ein Untertan seinen Herrscher herausschmeißt, das Parlament wiedereröffnet, Wahlen ansetzt und den Zeitungen erlaubt zu drucken, was sie wollen, dann ist das eine Revolution. [Großvater] Ich habe ja immer gesagt, dass sie Köpfchen haben. [Papa] Nun sag einmal, wer hat dir denn diese Häresie beigebracht? [Martina] Wieso? Das ist doch keine Häresie, unser neuer Lehrer hat uns etwas über Geschichte erzählt. [Papa] Hm … euren neuen Lehrer muss ich wohl mal aufsuchen (Sequenz 15:00– 15:30).48

Die spätsowjetische Verfilmung ergänzt nun, beginnend mit dem Kommentar des Großvaters – „Ja zˇe govoril, cˇto oni golovastye“ (dt. „Ich habe ja immer gesagt, dass sie Köpfchen haben“), einen aufschlussreichen Kommentar, insofern Martinas Vater die Definitionen seiner Tochter als „Häresie“ bezeichnet, also als grundlegenden Verstoß gegen allgemein akzeptierte respektive aufoktroyierte Wahrheiten: „Nun sag einmal, wer hat dir denn diese Häresie beigebracht?“ Folgt man Martinas Worten, war die Oktoberrevolution nämlich ein Putsch. Die Drohung ihres Vaters, er müsse den neuen Geschichtslehrer mal aufsuchen, kann somit als ironischer Verweis auf den Umgang mit einer neuen Generation von 47 Vgl. dazu exemplarisch Becker von Sothen, Hans: Fotos machen Politik. Bild-Legenden. Fälschungen – Fakes – Manipulationen. Graz 2013, S. 76–82, S. 104–109; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Bilder, die lügen. Bonn 2003, S. 16–33 [Bundeszentrale für politische Bildung]. 48 Vgl. dazu Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 28; die Übersetzung des obigen Zitats zeigt die sehr enge Anbindung an den Ausgangstext: [Мартина] Если кто-то приходит со солдатами, закрывает парламент, сажает в тюрьму неугодных граждан и запрещает газетам печатать то, что они хотят, это путч. [Папа] О … [Мартина] А если подданный вышвыривает своего правителя, открывает парламент, назначает выборы и разрешает печатать газетам то, что они хотят, то это революция. [Дед] Я же говорил, что они головастые. [Папа] Но, теперь скажи, кто тебе научил такой ереси? [Мартина] Ничего не ересь, это наш новый учитель, историю нам рассказывал. [Папа] Хм … это надо навестить вaшего нового учителя.

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Historikern gesehen werden, die bereit sind, auch Tabuthemen durch das Prisma von Glasnost’ und Perestrojka neu zu bewerten. In den Dialogen der Protagonisten verbirgt sich folglich allerhand Sprengstoff politischer Art. Zugleich jedoch manifestiert sich in ihnen ein sehr spezifischer Sprachwitz, der auf die Mängellage der Spätsowjetepoche ebenso abzielt wie auf die Unterminierung manch gesellschaftlicher Konvention. So reagiert Kumi-Ori wie folgt auf den Verlust seiner Krone, die Liesel im Gefrierfach versteckt hat (dieses Zitat enthält nur schwer zu übersetzende Wortspiele. Annäherungsweise könnte es auf Deutsch wie folgt lauten): „[Kumi-Ori] Wir sind der unterirdische König … Wo ist Makarone? … Wo ist Makarone? … Wir könichtleben ohne Makkaroni. [Großvater] Ja welche Makkaroni denn?“ (Sequenz 25:00–25:15).49

Alle, die die Mängellage der Spätsowjetepoche erlebt haben, erinnern sich lebhaft an die Notwendigkeit, Nudeln zu horten, weil die Geschäfte jenseits der (Kolchos-)Märkte nicht viel an Waren anboten. Diese Situation fasst ein Bonmot Rudi Hogelmanns treffend zusammen: „[…] porazitel’naja bezchozjajstvennost’“ (dt. „erstaunliche Misswirtschaft“; Sequenz 24:50). In den Bereich der kreativen Sprachspiele gehören zudem Aussagen KumiOris wie „ne igraet znacˇenie, ne imeet roli“ („das spielt keine Bedeutung, das hat keine Rolle“; Sequenz 28:18), die Anrede Kumi-Oris als „vasˇe levacˇestvo“ (exemplarisch Sequenz 29:00), wobei „levacˇestvo“ ein Kunstwort ist, das sich durch Buchstabenvertauschung und –Ersetzung aus der offiziösen Anrede „Vasˇe velicˇestvo“(„Eure Hoheit“) ergibt und zugleich an den politisch konnotierten Begriff „levak“ anspielt, der einen radikalen Vertreter der politischen Linken bezeichnet.50 Wolfis Wortneuschöpfung, Kumi-Ori sei ein „Kartozˇnik“ (Sequenz 45:35) – „Kartoffelfresser“ – assoziiert auf der Ebene der Diegese zudem die Vorliebe Kumi-Oris für verfaulte Kartoffeln (exemplarisch Sequenz 23:08–23:15). Semantisch alludiert dieser Neologismus aber den politisch inkriminierten Terminus „katorzˇnik“, der alle Fernsehenden des Jahres 1990 an die Straflagerhäftlinge der zaristischen wie sowjetischen Zeit erinnert haben dürfte. In der Verfilmung gibt es darüber hinaus verschiedene Dialoge, die einerseits mehr oder weniger implizit auf den Zerfall gesellschaftlicher Konventionen während der (Spät-)Sowjetzeit, andererseits auf deren vermeintliche Errungen49 [Куми-Ори] Мы подземный король … Где (моя) макарона? … Где (моя) макарона? Мы не можить без макароны. [Дед] Да какие макароны? 50 Im Malyj akademicˇeskij slovar’ heißt es: „Оппортунист, прикрывающий революционными фразами мелкобуржуазную сущность своих взглядов“ („Opportunist, der mit revolutionären Phrasen das kleinbürgerliche Wesen seiner Ansichten verbirgt“); zudem bezeichnet der „levak“ einen „Anhänger des linken Radikalismus; Linksradikale[n]“ – „приверженец леворадикализма; леворадикал“; vgl. https://gufo.me/dict/mas/левак [07. 04. 2021].

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schaften anspielen. Die Gewohnheit, Kumi-Ori die Hand zu küssen, etwa kommentiert der Großvater wie folgt: „Ich persönlich küsse ja nur zauberhaften Damen ihre Händchen – aber soweit ich es beurteilen kann, sind sie weder eine Dame, noch bezaubernd“ (Sequenz 28:47).51 Er inszeniert sich in diesem Moment somit als Verfechter gesellschaftlicher Konventionen, die in der Sowjetunion als bourgeoise Gewohnheiten verurteilt wurden.52 Auf die laut Sowjetverfassung garantierte Gleichberechtigung der Frauen spielt sodann Liesel Hogelmann an, wenn sie sagt, dass auch sie als Frau alle für die Schule notwendigen Unterschriften leisten könne: „Aufgrund welches Paragrafen benötigst du denn die Unterschriften deines Vaters? In unserem Land herrscht ja, Gott sei Dank, Gleichberechtigung, ich unterschreibe alles“ (Sequenz 47:30–47:36).53 Allerdings ruft sie damit einen Sturm der Entrüstung bei ihrem Mann hervor, der dadurch seinen Status als aufopferungsvolles Oberhaupt der Familie gefährdet sieht: [Papa] Soweit ist es also gekommen. Das ganze Leben habe ich mich nicht geschont, den Buckel krumm gemacht, mich nie sattgegessen, Schulden gemacht (gemacht, Echo durch Kumi-Ori). Und wozu das alles? Ich wollte sie zu Menschen machen (Menschen machen, Echo durch Kumi-Ori) … Vielen Dank euch, liebe Kinderchen … (Sequenz 47:37–48:20).54

51 „Лично я целовал ручки только дамкам-очаровашкам, а вы, насколько я могу судить, не дамка, и не очаровашка“. 52 Die Anzahl an Studien zur Rolle der Frau in der Sowjetgesellschaft ist kaum mehr überschaubar; vgl. daher exemplarisch und Grenzen innerhalb der Forschung überschreitend: Sal’nikova, Ekaterina: Sovetskaja kul’tura v dvizˇenii: ot serediny 1930-ch k seredine 1980-ch. Vizual’nye obrazy, geroi, sjuzˇety. Moskva 22010, S. 395–410; vgl. auch Gradskova, Yulia: Soviet People with Female Bodies. Performing Beauty and Maternity in Soviet Russia. Stockholm 2007, S. 9–28, S. 264–276; vgl. auch Köbberling, Anna: Das Klischee der Sowjetfrau. Stereotyp und Selbstverständnis. Moskauer Frauen zwischen Stalinära und Perestroika. Frankfurt am Main/New York 1997, S. 47–63, S. 235–257. 53 „А с какой то стати тебе понадобились подписи отца? У нас в стране, слава Богу, равноправие, я сама все подпишу“; vgl. auch Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 94; vgl. erneut zur Stellung der Frau in der Sowjetunion Köbberling, Das Klischee der Sowjetfrau, S. 228–257; zur Rolle von Frau und Haushalt in der Sowjetunion vgl. Reid, Susan E.: Women in the Home, in: Ilicˇ, Melanie Reid, Susan E./Attwood, Lynne (Hg.): Women in the Khrushchev Era. Basingstoke/New York 2004, S. 149–176; vgl. für die Zeit des Stalinismus, Rollenbilder späterer Jahre prägend, zudem Attwood, Lynne: Creating the New Soviet Women. Women’s Magazines as Engineers of Female Identity, 1922–1953. Basingstoke/New York 1999, S. 149–167. Soziologische Perspektiven auf diese Thematik öffnet Godel, Brigitta: Auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. Frauenbewegung und Wertewandel in Rußland. Frankfurt am Main 2002, S. 21–31, S. 303–309. 54 [Папа] Так, дожил. Всю жизнь себя не жалел, спину гнул, не доедал, в долги залезал (залезал; Куми-Ори хором). И всё зачем? Хотел их людьми сделать (людьми сделать; Куми-Ори хором) … Спасибо вам, любящие детки …

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Aus der Sicht Rudi Hogelmanns, der hier zudem auf das Narrativ vom „neuen Menschen“ anspielt55, löst sich die Familie also auf – diese Szene entfaltet das Sujet des Nöstlingerschen Romans weiter und lässt es für den spätsowjetischen Kontext anschlussfähiger werden, auf den auch im Streit56 zwischen den Eltern Rudi und Liesel Hogelmann angespielt wird, insofern Liesel darin auf einen für die russische Kulturgeschichte zentralen Begriff hinweist, der im Ausgangstext naturgemäß nicht vorkommt:57 [Liesel] Bitte was, bist du verrückt geworden? Verstehst du eigentlich, was du sagst? Ich bin doch für euch alle nur das Dienstmädchen, ihr schätzt doch überhaupt nichts. [Papa] Leiser, Liesel, ich bitte dich, du hast nicht Recht … [Liesel] Ich habe nicht Recht? Ich will doch nur in einer normalen Familie leben, verstehst du, in einer normalen, ohne Usurpatoren (Sequenz 38:35–39:33).58

Der Begriff ‚samozvanec‘, den Liesel in der russischen Verfilmung gebraucht, bezeichnet in der russischen Kulturgeschichte sich als vermeintlich legitime Nachkommen von Zarinnen und Zaren ausgebende Personen, die aus dieser Situation einen eigenen Herrschaftsanspruch ableiten. Bekanntlich ist die russische Historie voller „samozvancy“, wie etwa Boris Godunov, die Knjaginja Tarakanova oder Emel’jan Pugacˇev, dessen Aufstand sich in den Jahren 1773– 1774 zu einer Bedrohung der Herrschaft Ekaterinas II. auswuchs.59 In diese Sequenz wird also ein speziell für das spätsowjetische Fernsehpublikum bedeutendes Detail eingefügt. Überdies wird in diesem Streit auf „politisches Asyl“ verwiesen, das Kumi-Ori sucht, ein Detail, das im Ausgangstext gleichfalls nicht vorkommt: [Papa] Liesel, ihre Linkheit hat um politisches Asyl gebeten, und unsere Pflicht ist es, ihm Zuflucht zu gewähren. Ich bestehe darauf, dass du freundlich zu ihm bist, und das gleiche auch von unseren Kindern einforderst. 55 Vgl. zum Narrativ des „neuen Menschen“ exemplarisch Ohme, Andreas: Wenn der Mensch zum Tier wird. Die satirische Infragestellung der Idee vom neuen Menschen in der postsowjetischen Literatur am Beispiel von V. Pelevins „Zˇizn’ nasekomych“ und T. Tolstajas „Kys’“, in: Düring, Michael et al. (Hg.): Russische Satire. Strategien kritischer Auseinandersetzung in Vergangenheit und Gegenwart. Frankfurt am Main/Bern 2016, S. 123–127. 56 Ein zentrales Thema der Werke Nöstlingers ist der Streit zwischen Eltern; vgl. dazu Fuchs, Christine Nöstlinger, S. 66–76. 57 Dieser Streit zwischen den Eheleuten wird in Nöstlingers Buch in indirekter Rede und aus der Sicht Wolfis wiedergegeben, vgl. dazu Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 46–47. 58 [Лизель] Ну, ты с ума сошел? Ты понимаешь, что ты говоришь? Я для вас всех уже прислуга, вы ничего не цените. [Папа] Тише, Лизель, прошу тебя, ты не права … [Лизель] Я не права? Я же хочу жить в нормальной семье, понимаешь, нормальной, без самозванцев. 59 Vgl. dazu exemplarisch Uspenskij, B. A.: Car’ i samozvanec: samozvancˇestvo v Rossii kak kul’turno-istoricˇeskij fenomen, in: ders., Izbrannye trudy. T. 1. Semiotika istorii. Semiotika kul’tury. Мoskva 1994, S. 75–109.

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[Liesel] Ja, ja, uns erlaubst du nicht einmal Katzen, Hunde oder Meerschweinchen als Haustiere. Obwohl du sehr gut verstehst, welch guten Einfluss Haustiere auf Kinder haben … [Rudi] Was haben denn Meerschweinchen damit zu tun? Liesel, es geht doch darum, dass ihre Linkheit … [Liesel] Klar, es geht um einen geschädigten König. Spucken würde ich auf diesen Märtyrer, schließlich habe ich ihn ja gefunden, also werde ich ihn auch … [Aufschrei]. (Sequenz 39:00–39:32)60

Nun könnte lange darüber nachgedacht werden, wie das damalige Publikum diese Sequenz aufgenommen hat und welche Person es mit dem König assoziiert, der um politisches Asyl ersucht. Für vorliegenden Beitrag ist indes wichtiger, dass der Verfall der familiären Strukturen vom Publikum vermutlich eher mit dem Verfall gesellschaftlicher Strukturen korreliert, Familienzerfall prognostiziert hier den endgültigen Zerfall der Gesellschaft. Verantwortlich dafür ist der „Paterfamilias“ Rudi Hogelmann, der sich Kumi-Ori andient respektive sich von ihm instrumentalisieren lässt und die Zerstörung seiner Familie in Kauf nimmt. So kommentiert Liesel Hogelmann die Suche ihres Mannes nach verfaulten Kartoffeln sarkastisch mit folgenden Worten: „Radi menja, vo vsjakom slucˇae, ty v pomoennom vedre esˇcˇe ne razu ne rylsja …“ (Sequenz 54:30–54:37)61 – als gäbe es keinen besseren Liebesbeweis, als in „einem Mülleimer zu wühlen.“

3.3

Musik

Neben der Inszenierung materieller Kultur und der Etablierung eines politischen Subtextes in den Dialogen der Protagonisten findet sich in der Verfilmung von Nöstlingers Jugendbuch aber noch eine weitere mediale Ebene, die in der Sowjetfilmkultur eine herausragende Rolle spielt. Allen an sowjetischen Komödienklassikern geschulten Fernsehenden dürften nämlich die Gesangs-, Tanz- und Musikeinlagen in der Verfilmung nicht ungewöhnlich vorgekommen sein.62

60 [Папа] Лизель, Его Левачество попросило дать политическое убежалище, и наш долг дать ему приют. Я настаиваю, чтобы ты была с ним приветлива, и того же требовала от наших детей. [Лизель] Да, нам ты не разрешаешь держать ни кошки, ни собаки, даже не морской свинки. Хотя прекрасно понимаешь, как благотворнo влияют животные на детей … [Папа] При чем тут морские свинки? Лизель, дело в том, дело в том, что Его Левачество … [Лизель] Так, речь идет о пострадавшем короле. Да, плевать я хотела бы на таких пострадальцев, в конце концов я его нашла, я его и … [Aufschrei] (Sequenz 39:00–39:32). 61 Vgl. Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 45–46; „In jedem Fall hast du für mich noch nie im Mülleimer gewühlt“. 62 Vgl. dazu Minina/Tattar, E˙nciklopedicˇeskij slovar’, S. 188–191.

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Vielleicht könnte sogar die These formuliert werden, dass das Fernsehpublikum solche Einlagen geradezu erwartete.63 In Bezug auf die Gesangseinlagen, also von Liesel Hogelmann, Rudi Hogelmann und Kumi-Ori, wird nun erneut eine spezifische materielle Kultur evoziert, nämlich die späte Discokultur, die am Ende der Epoche auch in der Sowjetunion Einzug hielt.64 Das Lied der Mutter ist, diegetisch in Nöstlingers Vorlage angelegt, ein emanzipatorisches, insofern Liesel darin ihren Alltag auf einer von einer Discokugel bestrahlten, bunt beleuchteten Tanzfläche besingt. Dieser Alltag dreht sich um das Frühstück für die Kinder, um die Tageszeitung für den Gatten, um Einkäufe, um die Vorbereitung des Mittagessens, um die Hausarbeit, die allein auf ihren Schultern lastet und jeden Tag zu kurz werden lässt. Letztlich bleibt Liesel auf diese Weise nicht einmal Zeit für ein Telefonat mit der Nachbarin, weil stets die Familie ihre volle Aufmerksamkeit erfordert (Sequenz 6:43– 8:18). Der Text dieser Gesangseinlage spielt auf folgendes Fragment des Ausgangstextes an und „übersetzt“ es in Musik: „Meistens ist sie [Mama, M. D.] lustig. Manchmal ist sie wütend und schimpft, dass sie nur unser Dienstbote ist und dass sie wieder arbeiten gehen wird, und dann können wir unseren Krempel alleine machen.“65 Das aufgrund der Anknüpfung an die Vorlage in der Verfilmung entstehende Frauenbild entspricht dem der Sowjetfrauen damit freilich nur in Teilen, denn Liesel ist aus der Perspektive der (spät-)sowjetischen Frau in gewisser Weise privilegiert, weil sie eben nicht arbeitet, sondern sich um Familie sowie Haushalt kümmert und damit eher ein klassisches, patriarchales westliches weibliches Rollenmodell repräsentiert.66 Für das von Rudi Hogelmann in der Verfilmung vorgetragene Lied, in dem er sich wie Adriano Celentano inszeniert67, findet sich im Roman Nöstlingers nun keine Vorlage, es dient hier ganz offenbar der Zementierung der Rolle des Vaters als Oberhaupt der Familie, zugleich aber als obrigkeitshöriger Staatsbürger, der nichts jenseits des Erlaubten tut. So stellt Rudi sich als „allwissend“ ebenso dar wie als Beschützer seiner Kinder vor „jedwedem Unfug“ (vgl. Sequenz 30:13– 32:11). Seine Position als Staatsbürger wird in der zweiten Strophe des Liedes 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. exemplarisch Zhuk, Sergei I.: „The Disco Mafia“ and „Komsomol capitalism“ in Soviet Ukraine During Late Socialism, in: Roberts, Graham H. (Hg.): Material Culture in Russia and the USSR: Things, Values, Identities, London 2017, S. 74–78; vgl. auch Stites, Richard: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900. Cambridge 1992, S. 182–192; vgl. zur spätsowjetischen „Kinoglasnost’“ und der in Filmen thematisierten respektive gespielten Musik Lawton, Anna: Kinoglasnost: Soviet Cinema in Our Time. Cambridge 1992, S. 167–214, hier S. 178f. 65 Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 9. 66 Vgl. dazu Reid, Women in the Home, S. 159–169. 67 So kommentiert ein User die auf Youtube eingestellte Verfilmung; vgl. https://www.youtu be.com/watch?v=mw9rFSZthBM [05. 03. 2021].

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beschrieben – er „liest alle Zeitungen“, „ehrt die Gesetze“, „spielt nicht Gitarre“ und „schreibt keine Gedichte.“ Damit also wird er zu einem der langweiligen Sowjetmenschen, der von der Obrigkeit hofft, materielle Wohltaten – hier „einen Sack voll Gold“ – zu erhalten: Man bringt dem König seine Krone. Nach dem Gesetz wird hier regiert. Versprochen hat er uns ein Auto Und einen Sack voll Gold. (Sequenz 31:30)68

Zugleich aber stilisiert sich der Vater zu einer bewundernswerten Figur, die zwar keine Krone trägt, dafür aber einen Hut: „Papa – net korony, no est’ sˇljapa.“ Die dritte Gesangseinlage spielt ebenfalls im Ambiente der Diskothek, sie ist Kumi-Ori vorbehalten. In der Szene zuvor hat Liesel ein Ultimatum gestellt: „Libo on, libo my“ (dt. „Entweder er oder wir“; Sequenz 56:54–58:14). Das Lied stellt nun einen Fundus an Aussagen zur Verfügung, die auf die politische Situation der damaligen Zeit anspielen, als Beispiel dafür kann die erste Strophe dienen (vollständiges Lied: Sequenz 57:00–59:35). Mag Tyrann man mich auch nennen. Mag Betrug mich stets begleiten. Ist auf dem Kopf die Krone erst Bin ich der wahre König.69

Der „Tyrann“, der „betrügt“ – damit ist für alle damaligen Fernsehenden der entsprechende politische Kontext eröffnet, unterstrichen durch die zweite Strophe, die deutlich auf die spätsowjetische Mängellage anspielt: Mag im Land Verfall regieren. Kartoffeln gibt’s nicht, Zwiebeln nicht. Zum Regieren braucht’ s kein Denken. Einfach ist die Rolle nicht.70

Der Begriff „razrucha“ („Zerfall“/„Verfall“) in der russischen Filmfassung weckt in der Sowjetunion gleichfalls vielfältige Assoziationen – er ist schon seit Michail 68 Носят королю корону, Значит правит по закону, Обещал он нам машину, И золота мешок. 69 Пусть зовут меня тираном. Пусть всегда живу обманом. Раз на голове корона, Настоящий я король. 70 Пусть в стране моей разруха. Ни картошки нет, ни лука. Управлять – не значит думать. Не простая это роль.

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Bulgakovs povest’ Sobacˇ’e serdce (dt. Ein hündisches Herz) ein Schlüsselbegriff des kritischen Diskurses über die Konsequenzen des Sozialismus.71 Im Kontext des Jahres 1990 erhält er hier aber einen neuen, provokanten Klang, der noch dadurch verschärft wird, dass Regieren in einem „Land ohne Kartoffeln und Zwiebeln“ ja nicht unbedingt bedeutet, auch denken zu müssen: „upravljat’ – ne znacˇit dumat’.“

4.

Schlusswort

Aus all dem folgt, dass das gesamte Projekt der Verfilmung des Jugendbuches von Christine Nöstlinger die zu (Spät-)Sowjetzeiten übliche Gratwanderung vollzieht. Das Rezept dafür lautet wie folgt: Man nehme einen in der Sowjetunion hinreichend bekannten Text aus einem vermeintlich „harmlosen“ Genre, hier einen Jugendroman einer ausländischen Autorin. Aus der Vorlage bewahre man das „fremde“ Setting und garniere es zugleich mit Artefakten materieller Kultur, die seit Beginn der Perestrojka- und Glasnost’-Politik Gorbacˇevs in der Sowjetunion Einzug gehalten haben und damit die Verheißungen des Kapitalismus symbolisieren. Zudem übernehme man die Eigennamen der Figuren, was deutlich darauf verweist, dass sie „woanders“ agieren, in jedem Fall aber nicht in der späten Sowjetunion. Sodann vermische man dieses Setting mit Details, die dem Fernsehpublikum vertraut erscheinen, also mit Details der Wohnungseinrichtung, mit Telefonen in verschiedenen Farben, die den sowjetischen Fernsehzuschauern bestimmte gesellschaftliche Ebenen signalisieren. Auf diese Weise nähert man das fremde Setting dem eigenen Erfahrungshorizont an, verstärkt durch Dialoge, die zwar der Vorlage Nöstlingers folgen, zugleich aber um „eigene“ Textbausteine in äsopischer Sprache72 ergänzt werden, die politische, durch sorgfältiges Zwischen-den-Zeilen-Hören zu entdeckende Anspielungen enthalten. So wird aus einem – natürlich nur auf den ersten Blick – harmlosen Jugendroman eine politische Stellungnahme, die sich dennoch ganz, und diese These wird durch die Musikeinlagen gestützt, der (spät-)sowjetischen Komödienästhetik verschreibt. Allerdings stellt sich im 22. Jahr der Regierung Russlands unter Vladimir Putin auch die Frage, ob die hier analysierte Verfilmung nur noch von historischem Wert ist oder ob sich das dem Roman Nöstlingers zugrundeliegende 71 Vgl. dazu Burgin, Diana L.: Bulgakov’s Early Tragedy of the Scientist Creator: An Interpretation of ‚The Heart of a Dog‘, in: SEEJ 22/1978, S. 494–497. 72 Vgl. dazu Losev, Lev: On the Beneficence of Censorship: Aesopian Language in Modern Russian Literature. München 1984, S. 9–14; vgl. zur Tradition des äsopischen Schreibens in der russischen Literatur Foote, I. P.: Introduction, in: Saltykov-Shchedrin, M. E.: Selected Satirical Writings. Oxford 1977, S. 14–21.

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Strukturprinzip der Auflösung gesellschaftlicher Strukturen nicht als archetypisches Muster aktualisieren lässt. Oben wurde ja bereits auf die Neuauflage der Frenkel’-Übersetzung im Jahre 2017 und deren kurze Präsentation auf YouTube verwiesen, zudem ist die Verfilmung von 1990, zu der keine zeitgenössischen Rezensionen zu recherchieren waren, seit 2016 ebenfalls auf YouTube abrufbar und steht damit sogar weltweit zur Verfügung. Insgesamt wurde der Film seitdem, was zwar nicht wirklich viel ist, aber immerhin ein gewisses Interesse signalisierend, 12.914 Mal aufgerufen (Stand 26. 05. 2021) und mit 33 kurzen Rezensionen versehen, die mal mehr, mal weniger aufschlussreich sind. So beklagen sich verschiedene User darüber, dass der Gurkenkönig nicht wie eine Gurke aussehe und die Tricktechnik wenig überzeuge, während andere diese als für die damalige Zeit überzeugend bewerten.73 Bemerkenswert ist nun, wie eine Userin unter dem Namen „Krutaja babusˇka“ ihr Leseverhalten erinnert: „Ich bin schon 56 Jahre alt, als Kind habe ich das Buch hundert Mal gelesen. Jetzt habe ich den Film gesehen und mich an meine Kindheit erinnert.“74 Natürlich haben wir es hier mit einer Hyperbel zu tun, dennoch verweist die Zahl „Hundert“ im Zitat auf die Beliebtheit des Buches in einer bestimmten Generation. Ein weiterer User formuliert nun aber sogar eine mögliche politische Botschaft des Films auch für die heutige Zeit: „Der kleine Gurkenkönig ist die russische Pseudoopposition, die kleinen Zaren der 1990er, die mit gestohlenem Geld ins Ausland geflohen sind, die Masse kleiner Gauner und anderer Scheiß.“75 Der User übersieht natürlich, dass der Film 1990 entstand und kaum die Gauner meinen kann, die in den 1990er-Jahren den russischen Staat um Milliardenbeträge betrogen und ihr Geld ins Ausland geschafft haben, aber dennoch ist diese Aktualisierung des subversiven Potentials des Films – und der Vorlage – aufschlussreich. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang aber besonders die Reaktionen auf diesen Kommentar – „Die großen kleinen Zaren sind hier geblieben [,] um zu stehlen“ sowie „Diese dumpfbackigen Putinfreunde sind auch hierhergekommen“76 –, denn sie übertragen dieses Potential in die unmittelbare Gegenwart. So ist das Substantiv „zaputincy“ („Anhänger Putins“) bereits in den Wortschatz des Russischen eingegangen und dient als Kampfbegriff im aktuellen politischen 73 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [03. 03. 2021]. 74 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [03. 03. 2021]; „Мне уже 56, а в детстве книжку эту сто раз прочла. Теперь фильм посмотрела, детство вспомнила.“ 75 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [03. 03. 2021]. Orthographie und Stilebene des Kommentars wurden nicht korrigiert. Der User spielt hier auf das Lied des Gurkenkönigs an; „Огуречный королёк это российская псевдооппозиция, царьки из 90-х сбежавшие за границу с ворованными деньгами, мелкие жулики навальныши и прочее гавно“. 76 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [03. 03. 2021]. Die Orthographie auch dieser Kommentare wurde nicht korrigiert; „Крупные царьки остались воровать здесь“ sowie „Эти тупорылые запутинцы и сюда добрались“.

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Diskurs. Wie erwartet, bleibt dieser hier nicht unerwidert, es entfaltet sich also wie anderswo auch im russischsprachigen Netz die bereits bekannte Empörungskultur, die sich gegen das letzte Zitat wendet: „Ich hoffe, Sie sind dir mit dem letzten […] über deine leere Birne gefahren, vielleicht ist dir danach deine Sorge um Putin vergangen.“77 Mit der Erwähnung des russischen Präsidenten sind wir also am Ende und können die im Titel des vorliegenden Beitrags gestellte Frage auch unter dem Eindruck der Ereignisse um Aleksej Naval’nyj beantworten: Der Gurkenkönig konnte damals, also 1990, und heute symbolisieren, wie auf den ersten Blick feste Strukturen zerfallen können. Allerdings ergibt sich aus dieser Antwort sofort die nächste Frage – was bedeutet die „Abservierung“78 des „Gauners“ in diesem Kontext: „Gde e˙tot mosˇennik? Gde on?“ („Wo ist dieser Gauner? Wo?“; Sequenz 1:16:13).79 Eine mögliche Antwort deutet das Lied des Kumi-Ori an: Nachdem ich meine Zeit im Ausland abgesessen habe, flute ich das Land mit Wasser. Kumi-Ori ist gerissen, Kumi-Ori ist perfekt!80

77 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mw9rFSZthBM [03. 03. 2021]. Orthographie und Grammatik des Kommentars wurden nicht korrigiert; „[…] надеюсь, на паследнем движняке тебе ПРом по пустой башке заехали, может после этого прошла твоя озабоченность Путиным“. 78 Vgl. dazu Nöstlinger, Gurkenkönig, S. 181. 79 Vgl. ebd., S. 180. 80 Отсидевшись за границей, Я залью страну водицей. Куми Ори очень хитрый, Куми Ори – молодец.

Anna Stemmann (Leipzig)

Russia vs. Springfield? Darstellungen und Diskurse um ‚Osteuropa‘ in der Serie THE SIMPSONS

1.

Erzählkosmos Springfield

Die US-amerikanische Zeichentrickserie THE SIMPSONS, die seit 1989 ohne Unterbrechung im Fernsehen läuft, umfasst 684 Episoden in 31 Staffeln. Die Serie bildet so ein umfangreiches Archiv der 1990er-, 2000er- und 2010er-Jahre: In das fiktive Seriengeschehen um die gelbe Familie Simpson mit Vater Homer, Mutter Marge und den Kindern Bart, Lisa und Maggie haben sich diverse Diskurse und Bezüge des Zeit- und Mediengeschehens sowie (inter)kulturelle Aspekte, Konflikte und Divergenzen, aber auch Stereotype eingeschrieben.1 Der Handlungsort der Kleinstadt Springfield ist geographisch nicht konkret lokalisierbar, da in den jeweils in sich abgeschlossenen Episoden stets widersprüchliche Angaben zu Nachbarstaaten oder Landmarken innerhalb der USA erscheinen.2 Selbstironisch wird innerhalb der Serie in der Figurenrede immer wieder darauf verwiesen: „Your town appears on no maps or charts.“3 Diese variable Inkonsistenz des erzählten Raumes korreliert mit der narrativen Konstruktion als „successive series“4, da keine fortlaufend aufeinander aufbauenden Geschichten erzählt werden und der Raum Springfield in jeder Episode flexibel angepasst werden kann. Als frei flottierender Ort ist die Stadt dennoch fest im „Hintergrundsraum“ des Landes verankert und die Serie nutzt diese Verortung für „kognitive trigger, die ein […] kulturelles Hintergrundwissen“ aufrufen und

1 Zur Serie THE SIMPSONS aus medienwissenschaftlicher Sicht: Gruteser, Michael/Klein, Thomas/Rauscher, Andreas (Hg.): Subversion zur Prime-Time. Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft. Marburg 22002. 2 Zur Topographie Springfields siehe weiter: Kachel, Jörg C.: Topographia Americana. There’s No Place Like Home!, in: Gruteser, Michael/Klein, Thomas/Rauscher, Andreas (Hg.): Subversion zur Prime-Time. Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft. Marburg 22002, S. 167–183. 3 The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:11:43. 4 Watson, Victor: Series Fiction [Lemma], in: Hunt, Peter (Hg.): International Companion Encyclopedia of Children’s Literature. London 2004, S. 533.

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damit spielen.5 Springfield, das wechselnde Plätze innerhalb der USA einnehmen kann, ist somit ein prototypischer Platzhalter, um US-amerikanische Verhältnisse, historische sowie aktuelle Diskurse und gesellschaftliche Entwicklungen darzustellen und diese vor allem in satirischem Erzählton zu überzeichnen und zu kritisieren.

2.

Eigenes und Fremdes

Neben dem Blick auf das kulturelle Eigene widmet sich das Seriengeschehen in verschiedenen Varianten auch dem Anderen und Fremden, das jeweils mit dem Handlungsraum Springfield und den darin agierenden Figuren kontrastiert wird: „Da jedes Fremde/Andere als solches nur in Bezug auf die ihm entsprechende Ordnung des Eigenen definiert ist, setzt es diese voraus und ist mit ihr verflochten.“6 Gerade dieser reziproke Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden markiert einen zentralen Wirkungsmechanismus, der narrativ sowohl über die topographische Ordnung als auch über die Figurenanlage realisiert und in den Handlungsverlauf implementiert wird. Die Familie Simpson reist in einzelnen Folgen beispielsweise in andere Länder, wie Brasilien, Australien oder Japan, und blickt mit ihrer meist engstirnigen Perspektive auf dortige Verhältnisse.7 Die Familie verlässt dann räumlich zwar die USA, sie repräsentieren als Figuren jedoch das Land in einem anderen Land. So spielen diese Episoden nicht allein mit stereotypischen Zuschreibungen des kulturell Anderen, in Japan nimmt die Familie z. B. an einer abstrusen Game-Show teil, sondern reflektieren und kritisieren auch subtil das Verhalten US-amerikanischer Reisender im Ausland, die sich danebenbenehmen. Aber auch innerhalb Springfields ist auf der Figuren- und Raumebene kulturell Fremdes präsent und wird dem Erleben der Familie gegenübergestellt. Dabei steht ebenfalls die pointierte Überzeichnung von Stereotypen im Vordergrund. Lisa und Bart gehen mit dem deutschen Austauschschüler Üter Zörker, der nur Lederhosen trägt, zur Schule, und der örtliche Supermarkt wird von dem indischen Einwanderer Apu Nahasapeemapetilon geführt, der in breitem 5 Martínez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 92012, S. 152 [kursiv im Original]. 6 Büker, Petra/Kammler, Clemens: Das Fremde und das Andere in der Kinder- und Jugendliteratur, in: dies. (Hg.): Das Fremde und das Andere: Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Weinheim/München 2003, S. 9. 7 Innerhalb der Familie ist dieses Gefüge nicht homogen, denn vor allem die ältere Tochter Lisa fungiert meist als Gegenstimme, die sich kritisch gegen die Ansichten ihrer Familie stellt. Siehe dazu weiter Stemmann, Anna: „Ich esse nichts, was einen Schatten wirft.“ Kulturkritische Ernährungsdiskurse in Die Simpsons, in: Hollerweger, Elisabeth/Stemmann, Anna (Hg.): Narrative Delikatessen. Kulturelle Dimensionen von Ernährung. Siegen 2015, S. 19–30.

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Akzent spricht.8 Auf verschiedene Weise sind außerdem real existierende Personen des Zeitgeschehens in Springfield zu Gast oder finden Erwähnung. Etwa als Homer in der örtlichen Bar einen Alkoholtest machen muss. Er erreicht auf der Skala, die bei „tipsy“ beginnt, jedoch den Maximalwert „Boris Yeltsin“9 und muss daher zu Fuß nach Hause laufen. Der ehemalige russische Staatspräsident, dem eine besondere Leidenschaft für Wodka nachgesagt wurde, womit er auch für politische Eklats sorgte,10 steht hier pars pro toto für ein russlandspezifisches Bild eines hohen Alkoholkonsums.11 Topographisch unterteilt sich Springfield in einzelnen Folgen außerdem in ethnische Enklaven, wie „Little Ukraine“12 oder „Little Russia“13, in denen sich osteuropäische Einwanderer ballen. In diesen topographischen Mikrokosmen verweist die Serie zum einen auf die lange Migrationsgeschichte der USA; zum anderen transportiert die räumliche Separation aber auch eine soziale Trennung, die auf gescheiterte Integrationsprozesse hindeutet. Die „Thematik des interkulturellen Verstehens, des Kulturkonflikts und der ethnisch-kulturellen Segregation“14, die Gina Weinkauff im Hinblick auf den Prozess der kulturellen Globalisierung in der Kinder- und Jugendliteratur beschreibt, ist ebenso relevant für die Konstruktion der Serie THE SIMPSONS. Die Serie erscheint in Fortführung dieser Überlegungen als Dokument, aber auch Verhandlungsmedium „der kulturellen Hybridisierung gesellschaftlicher Erfahrungsräume“15, wobei THE SIMPSONS keine einfachen Ideallösungen anbietet, sondern Zustände kommentiert, satirisch überzeichnet und Stereotype bewusst ausstellt. Anschlüsse ergeben sich weiterhin zur komparatistischen Imagologieforschung, die mit dem Begriff des Images den Zugriff in der Analyse solcher Konstruktionen erweitert. Der Begriff Image dient im Vergleich zur historischen Stereotypenforschung 8 Insbes. die Darstellung von Apu wurde in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs kritisch hinterfragt, da diese stereotype Muster nutzt, aber nicht aufbricht. Dieser Kritik widmet sich z. B. der Dokumentationsfilm THE PROBLEM WITH APU (2017). 9 The Springfield Files. More, Steven Dean. USA: 20th Century Studios 1997, 00:05:12. 10 Siehe dazu weiter: Jelzins Memoiren. Schon mal mit einigen Gläschen dirigiert; https://www. spiegel.de/politik/ausland/jelzins-memoiren-schon-mal-mit-einigen-glaeschen-dirigiert-a-9 6566.html [15. 06. 2021]. 11 Vgl. Leingang, Oxane: „Der schrecklichste aller vorstellbaren Schrecken. Die Russen!“ Imagologische Darstellungen der Rotarmisten in ausgewählten zeitgeschichtlichen Jugendromanen, in: kjl&m 67(2)/2015, S. 43–51, hier S. 48. 12 The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:17:01. 13 Lost Our Lisa. Michels, Pete. USA: 20th Century Studios 1998, 00:12:42. 14 Weinkauff, Gina: Kulturelle Globalisierung als Herausforderung für die Kinder- und Jugendliteraturforschung, in: Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven (Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien, Bd. 1). Berlin 2019, S. 181–195, hier S. 183. 15 Weinkauff, Kulturelle Globalisierung, S. 185.

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einer Erweiterung des Objektbereichs in dem Sinne, dass über imagotypische Aussagen im Rahmen eines sprachlich-gedanklichen Diskurses hinaus auch historisch originelle Einzel- und Kollektivsichtweisen eines Landes Berücksichtigung finden.16

3.

„Little Russia“ – Panorama der Zuschreibungen

Die Szenen in den separierten Einwanderervierteln, wie in Little Russia, rufen sowohl über die Ton- als auch die Bildebene Imaginationen des Fremden auf, die medial geprägt sind. In maximaler Verdichtung bündeln sich beispielsweise in der Episode Lost Our Lisa (dt. Die Kugel der Isis; 1998) in Lisas kurzem Weg durch das russische Viertel die ins Groteske überzeichneten Vorstellungen über Russland. In diesem Distrikt prangt an den Häusern kyrillische Schrift, Lisa begegnet zwei Männern, die Schach spielen und sie auf Russisch anschreien, ein Huhn läuft frei über die Straße, ein lebender Stör wird auf dem Markt feilgeboten, eine wirre Frau fuchtelt mit zwei Marionetten, von denen eine wie Michail Gorbatschow aussieht, vor Lisas Gesicht herum und ein Bär auf Rollschuhen verkauft Schmuckstücke, sodass Lisa sich letztlich in eine Telefonzelle mit einem Zwiebelturm flüchtet, um Hilfe zu rufen.17 Zum einen markieren viele der genannten Details eine vermeintliche Unzivilisiertheit und Abweichung von der US-amerikanischen Norm, die einen russischen Barbarentopos perpetuieren, zum anderen steht das Schachspiel der Männer auch in Spannung dazu und demontiert ein Stück weit das rückständige Bild. In der gut 30 Sekunden langen Sequenz bündeln sich in maximaler Reihung absurdeste Russland-Imagos. In diesen „Strukturierungsmustern“ und „Kodierungsstrategien“18 zeigt sich, wie kulturelle Stereotype in der medialen Inszenierung reproduziert und verfestigt werden. Im Anschluss an die Ausführungen von Boris Hoge-Benteler ist aber genau zu prüfen, inwieweit die „Konstruktionsprozesse und -bedingungen“19 solcher Fremdbilder ebenso mitreflektiert und hinterfragt werden. Hoge-Benteler bezieht sich in seiner Untersuchung auf literarische Russlandbilder, dies kann aber für eine Fernsehserie, wie THE SIMPSONS, produktiv weitergedacht werden: „So finden sich […] nicht einfach 16 Schwarze, Michael: Imagologie, komparatistische [Lemma], in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart 42008, S. 314. 17 Lost Our Lisa. Michels, Pete. USA: 20th Century Studios 1998, 00:13:06. 18 Dauss, Markus: Imagologie [Lemma], in: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 32007, S. 343. 19 Hoge-Benteler, Boris: Metakonstruktion. Zu Möglichkeiten des Umgangs mit problematischen Russland-/Russendarstellungen in der jüngsten deutschen Erzählliteratur am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick, in: kjl&m 67(2)/2015, S. 33–42, hier S. 34.

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Aussagen oder Bilder über Russland, sondern sie [die Inszenierung] gibt […] Aufschluss über deren Zustandekommen, über die (innertextlichen) Konstruktionsprozesse und -bedingungen sowie über Praktiken ihrer Funktionalisierung.“20 Es gibt nämlich einen bewusst gesetzten Bruch in der oben beschriebenen Szene und dieser entlarvt die Wirkungsweisen von Stereotypen, indem die Erzählmöglichkeiten des Mediums Zeichentrickserie genutzt werden. Von den beiden Männern, die Lisa nach dem Weg fragt, schreit sie einer auf Russisch in vermeintlich rabiatem Ton an. Folgt man nur der Bildebene mit der bösen Mimik und offensiven Gestik der Figur sowie der auditiven Ebene der Lautstärke und aggressiven Intonation, der für Lisa, (und für vermutlich viele Rezipierenden), fremden Sprache, bestätigt sich zunächst das Imago des „barbarischen Russen“.21 Aufgelöst und kontrastiert wird dieses Bild jedoch in einem eingeblendeten Untertitel, der den Inhalt der Worte des Mannes übersetzt: „It’s my pleasure. It’s six blocks that way.“22 Deutlich offengelegt wird so, dass sich das medial vermittelte Bild nicht bestätigt und es genau zu hinterfragen gilt, was man sieht und hört. Nicht zufällig steht Lisas Begegnung mit diesem Mann am Beginn ihres Weges durch das Viertel, womit die Lesart des folgenden Geschehens entsprechend eingefärbt ist: Hier werden bewusst Stereotype ausgestellt, um diese in ihrer Wirkmacht zu reflektieren. In dieser Divergenz transportiert sich zum einen Kritik, zum anderen wird in der Zurschaustellung von tradierten Imagos aber auch Komik erzeugt. Ebendiese wechselseitige Durchdringung macht die satirische Inszenierung in THE SIMPSONS aus, wobei sicherlich nicht wenigen Rezipierenden die subtile Kritik entgeht.

4.

Der fremde Blick

Russland, seit dem Kalten Krieg als Erzfeind der USA besetzt, nimmt im Serienkosmos der Simpsons eine besondere Rolle ein. Andere osteuropäische Staaten kommen deutlich seltener vor, umso mehr Folgen thematisieren dagegen Anspielungen auf politische Beziehungen zu Russland und zeigen berühmte Persönlichkeiten. Aus „kulturwissenschaftlicher Perspektive ist Russland [hier] Diskurs, Narrativ, Konstrukt, Stereotyp, Image, Phänomen, Mythos“ und in der medialen Inszenierung vor allem „ein selbstgeneriertes Faszinosum des Westens“.23 Wie sich entsprechend das Eigen- und Fremdbild unauflöslich mitein20 21 22 23

Hoge-Benteler, Metakonstruktion, S. 34 [Einfügung A. S.]. Leingang, „Der schrecklichste aller vorstellbaren Schrecken. Die Russen!“, S. 44. Lost Our Lisa. Michels, Pete. USA: 20th Century Studios 1998, 00:12:46. Rinnerthaler, Peter: Meanwhile in Russia. Das deviante Bild Russlands im Medium Internet, in: kjl&m 67(2)/2015, S. 57–65, hier S. 57.

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ander verschränken und sich wechselseitig nicht nur bedingen, sondern aufs Neue generieren, deutet ein Detail der Episode Boy Meets Curl (dt. Curling Queen; 2010) an. Bart erschafft darin das russische Maskottchen Fatov, das die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi begleitet. Der Junge bastelt einen Fatov-Anstecker, den er an einen Händler verkaufen will. Bart schreibt diesem Maskottchen im Verkaufsgespräch die Eigenschaften von Faulheit und Alkoholismus zu24, womit zunächst tradierte und problematische Stereotype über Russland bedient und nicht gebrochen werden.25 Diese dem Barbarentopos zugehörigen Vorstellungen entwickelten sich bereits im 16. Jahrhundert und beinhalten weiterhin Aspekte der Rückständigkeit, Aggressivität und Grausamkeit.26 Wie präsent diese bis in die Gegenwart sind, zeigt die Episode aus THE SIMPSONS. Verstärkt werden hier die eindimensionalen Zuschreibungen in einem imaginierten Szenario des Händlers, der sich vorstellt, was er mit der Figur unternehmen könnte. Dabei sind seine Vorstellungen deutlich von einer prototypischen kulturellen Tradition des Landes durchdrungen und werden in einem „globalen Kulturtransfer“27 reproduziert: Zur Musik Lara’s Theme aus dem Film DOKTOR SCHIWAGO (1965) machen sie gemeinsam eine Hebefigur beim Eistanz und fahren in einem Schlitten durch den Schnee. Der winterliche Topos, der auf Boris L. Pasternaks Roman Doktor Schiwago (1958) referenziert, setzt sich in der Pelzkleidung und der Uschanka fort. Schließlich kehren die Figuren in einen Palast ein, dessen Raumgestaltung an diverse mediale Adaptionen von Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Nussknacker (1892) angelehnt ist.28 Es überblenden und überlagern sich so kulturelle und mediale Imagos aus verschiedenen historischen und medialen Kontexten zum vermeintlich homogenen Russland-Bild, das jedoch verschiedene Kulturtransfers beinhaltet: Denn die US-amerikanische Serie bezieht sich hier auf verschiedene Adaptionen eines eigentlich deutschsprachigen Kunstmärchens von E. T. A. Hoffmann (1816). Dass ein solches Bild aber immer durch Andere geprägt wird, stellt die Folge subtil heraus und legt damit die Konstruktion des Stereotyps offen. Fat bedeutet auf Russisch Geck oder Dandy, womit implizit Barts schelmisches Spiel ausge24 Vgl. Boy Meets Curl. Sheetz, Chuck. USA: 20th Century Studios 2010, 00:18:21. 25 Vgl. Leingang, „Der schrecklichste aller vorstellbaren Schrecken. Die Russen!“, S. 48. 26 Vgl. Stanzel, Franz K.: Zur literarischen Imagologie. Eine Einführung, in: Stanzel, Franz K. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des früheren 18. Jahrhunderts. Unter Mitwirkung von Ingomar Weiler und Waldemar Zacharasiewicz. Heidelberg 1999, S. 9–43, hier S. 41. 27 Rinnerthaler, Meanwhile in Russia, S. 58. 28 Vgl. Boy Meets Curl. Sheetz, Chuck. USA: 20th Century Studios 2010, 00:18:26. Eine ähnliche Reihung imaginierter Unternehmungen realisiert auch die Episode Fabulous Faker Boy (2013), 00:10:25, in der Bart sich vorstellt, welche Unternehmungen er mit seiner russischen Klavierlehrerin machen könnte.

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drückt wird, denn das schlichte äußere Erscheinungsbild des Maskottchens steht im deutlichen Kontrast zur Benennung: Bart bastelt das Äußere Fatovs aus einem Passfoto von Homer. Dafür schneidet Bart die Mundpartie aus dem Foto, dreht diesen Ausschnitt um und zeichnet zwei Punkte als Augen ein. So wird deutlich ins Bild gesetzt, dass das kulturelle Andere immer aus der Sicht des Eigenen geformt und geprägt sowie – hier nicht nur im übertragenen, sondern wortwörtlichen Sinne – aus diesem gemacht ist. Explizit betont wird dies in der visuellen Inszenierung der Schlusseinstellung der Folge, wenn Fatov gemeinsam mit Homer zur Musik aus Tschaikowskys Nussknacker-Ballett tanzt und die Totale schließlich zu einer Detailaufnahme wechselt, in der die beiden Gesichter nebeneinanderstehen und sich fast überblenden.29 Das Russlandbild, das Peter Rinnerthaler als „selbstgenerierte[s] Faszinosum des Westens“30 ausmacht, findet so seine visuelle Entsprechung: Das russische Imago, für das Fatov steht, hat seinen Ursprung im US-amerikanischen Blick und ist aus diesem geformt, repräsentiert durch die Figur Homer. Dass Homer selbst wiederum zu oft zu viel Bier trinkt und innerhalb der Serie sehr faul ist, betont, wie hier im Fremden eigene Eigenschaften widergespiegelt werden können. Gemäß Hoge-Benteler handelt es sich in dieser Inszenierung, ebenso wie in der zuvor genannten Episode Lost Our Lisa, um eine „Metakonstruktion“, die die „Konzepte des Anderen als diskursive Konstrukte vorzuführen und zu entlarven“31 vermag. Aber längst nicht alle Folgen der Serie weisen einen solchen subversiven Unterton und kritischen Umgang mit kulturellen Stereotypen auf und reproduzieren diese zum Teil auch ungebrochen.

5.

Narrative Muster

Die Erzählstruktur der einzelnen Episoden der Serie THE SIMPSONS zeichnet sich durch einen fast immer verwinkelten Aufbau aus: Zufällige Ereignisse am Beginn lösen einen unverhofften Verlauf aus. In der Folge Helter Shelter (dt. Der Videobeichtstuhl; 2002) zerstören anfangs Termiten das Wohnhaus der Familie und sie ziehen daraufhin in ein Haus in einer Reality TV-Show. Vordergründig widmet sich die Episode der Kritik solcher TV-Formate wie etwa Big Brother oder Ich bin ein Star, holt mich hier raus und beleuchtet satirisch verschiedene Dimensionen des Mediengeschehens. Im Hinblick auf die narrative Abfolge der Handlung ist jedoch ein Detail auffällig: Den Auslöser für den Auszug bilden am Beginn der Episode ‚russische‘ Termiten. Bei einem Eishockeyspiel ruft Lisa dem 29 Vgl. Boy Meets Curl. Sheetz, Chuck. USA: 20th Century Studios 2010, 00:20:53. 30 Rinnerthaler, Meanwhile in Russia, S. 57. 31 Hoge-Benteler, Metakonstruktion, S. 34 [kursiv im Original].

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Spieler Kozlov einen Ratschlag zu, woraufhin dieser das entscheidende Tor machen kann. Zum Dank schenkt er Lisa nach dem Spiel seinen Schläger. Dieser ist geschmückt mit den Insignien des Sowjetstaates: dem überkreuzten Hammer und einem Eishockeyschläger, was zusätzlich auf die spezifische Politisierung des Sports verweist. Außerdem ist sein Name in kyrillischen Schriftzeichen „КОЗЛОВ“32 aufgedruckt. Zuhause hängt sich Lisa die Trophäe, markiert mit russischen Einschreibungen, über ihr Bett, nicht ahnend, dass nachts Termiten daraus krabbeln und sich durch das halbe Haus fressen. Der gerufene Kammerjäger, dessen Firma „A Bug’s Death“ in Bezeichnung und Logo subtil den Animationsfilm A BUG’S LIFE (1999) persifliert, hält fest: „These are no ordinary termites. What you’ve got here are Russian no-wood-niks.“33 „No-wood-nik“ ist zunächst eine wortspielerische Variation des Russizismus no-goodnik, was ein Synonym für Nichtsnutz ist. Das Haus der Simpsons wurde also nicht von üblichen heimischen Termiten heimgesucht, sondern von einer besonderen russischen Sorte, womit das Bedrohungspotential ‚des Ostens‘ reaktiviert wird. In zweifacher Hinsicht ruft diese Szene problematische Bildbereiche auf: Zum einen ist das Fremde hier als besondere Gefahr besetzt, die eben nicht mehr „ordinary“ ist, sondern bedrohlich in das Heim der Familie eindringt. Betont wird dies nicht nur in den Worten des Kammerjägers, sondern auch in der visuellen Inszenierung des Schlägers, auf dem die fremden Schriftzeichen prangen. Zum anderen zeigt sich die negative Konnotation des Fremden durch die Erscheinungsweise als Insekten, die unkontrolliert in die vertrauten Räume des Wohnhauses eindringen und dieses verwüsten. Der ‚Feind‘ wird somit dehumanisiert und die Tonebene intensiviert die amorphe Bedrohung weiter, sowohl durch die dunkle Musikuntermalung als auch durch die Fressgeräusche der Tiere. Auf der sprachlichen Ebene zeigen sich außerdem kulturelle Hybridisierungsprozesse, die noch weitere problematische Konnotationen aufweisen. So ist das Suffix „nik“ in der russischen Sprache häufig zu finden und hier in die informelle amerikanische Sprache hineindiffundiert. Solche Neologismen markieren dabei bezeichnenderweise negative Beschreibungen und Abwertungen, wie „refusenik“, „peacenik“ oder „computernik“. Das als russisch markierte Fremdsprachenpartikel wird demnach genutzt, um abwertende Begriffe zu (er-)finden. In der narrativen Abfolge markiert dieser Auftakt, wie die Familie durch einen fremden Einfluss vertrieben wird. Unterschwellig ruft diese kurze Sequenz in ihrem Ursache-Wirkungs-Gefüge eindimensionale Zuschreibungen auf, die nicht gebrochen werden. Das Fremde, hier repräsentiert durch die russischen Termiten, bleibt als zivilisationsbedrohliche Gefahr, die das Eigene verwüstet. 32 Helter Shelter. Kirkland, Mark. USA: 20th Century Studios 2002, 00:03:41. 33 Helter Shelter. Kirkland, Mark. USA: 20th Century Studios 2002, 00:05:01.

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Das Beispiel der Termiten als handlungsauslösendes Element zeigt, wie in der Inszenierung über die narrative Platzierung bestimmte Imagos reproduziert und verfestigt werden.

6.

Gangster, Gauner, Ganoven

Ein weiteres narratives Muster, das problematische Rollenzuschreibungen transportiert, ist das des Bösewichts, der aus einem fremden, meist osteuropäischen Land stammt. Die archetypische Einteilung in Gut und Böse, wie sie z. B. in diversen James Bond-Filmen immer wieder realisiert ist und in Actionfilmen bis heute reproduziert wird, arbeitet häufig mit kulturellen Semantiken und Gegensätzen: „Besonders klischeeprägend sind die Darstellungen russischer Mafiabosse in US-amerikanischen Kinofilmen.“34 Solche Figurendarstellungen sind eng mit spezifischen Handlungsmustern verschaltet, die wiederum auch in der Serie THE SIMPSONS zirkulieren. Die Episode The Falcon and the D’ohman (dt. Homer Impossible; 2011) entlehnt einzelne Bausteine aus dem AgentenfilmGenre, worauf der deutsche Titel mit der Anspielung auf die MISSION IMPOSSIBLE-Filme (1996–2018) hinweist.35 In der Episode zieht der frühere Geheimagent Wayne nach Springfield, um sich ein neues Leben aufzubauen. Seine Vergangenheit holt ihn in Form von Flashbacks aber immer wieder ein. Innerdiegetisch getriggert werden die Erinnerungsrückblicke durch das Musikstück Tanz der Ritter aus dem Ballett Romeo und Julia (1935) des sowjet-russischen Komponisten Sergej Sergejewitsch Prokofjew, das Lisa auf ihrem Saxophon spielt.36 Im weiteren Verlauf sind alle Erinnerungsszenen, die in der Ukraine verortet sind, durch dieses Lied markiert. Dass das eigentliche Stück kaum ukrainisch ist, verweist auch auf einen undifferenzierten Umgang mit kulturellen Verweisen, in dem die Herkunft aus ‚dem Osten‘ genügt und nicht weiter unterschieden wird. Die Szenen, in denen leitmotivisch Tanz der Ritter zitiert wird, thematisieren einen Geheimdiensteinsatz von Wayne, bei dem er die Frau eines ukrainischen

34 Rinnerthaler, Meanwhile in Russia, S. 60. 35 Der englische Titel ist hingegen eine Anspielung auf das Buch The Falcon and the Snowman (1978), in dem es um einen Spionagefall zwischen der Sowjetunion und der USA geht. 36 The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:13:01. Es handelt sich dabei um das weltweit bekannteste Stück Prokofjews, das bspw. auch oft in der Werbung verwendet wird. 2016 ebenso in Robbie Williams’ Video-Clip Party like a Russian. Der Song zitiert Tanz der Ritter leitmotivisch und thematisiert im Clip die vermeintlichen Exzesse der russischen Oligarchen. Vor allem in Russland wurde diese Darstellung kontrovers diskutiert, aber auch aus imagologischer Perspektive lassen sich viele fragwürdige Darstellungen darin ausmachen.

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Mafiabosses erschossen hat.37 Durch eine Verkettung diverser Zufälle entdeckt dieser Wayne Jahre später in einem Video auf der Plattform „MyTube“38, das ihn nach Springfield führt. Um seine Rache zu vollziehen, lässt der Gangsterboss Homer entführen. Hier sind die Rollen von Gut und Böse klar verteilt und die Episode nutzt das narrative Muster vieler Spionage- und Actionfilme, um daran entlang zu erzählen. Dass dies bisweilen aber auch bewusst überzeichnet ist und in der Episode nicht allein kulturelle Stereotype reproduziert, sondern narrative Mechanismen persifliert werden, verdeutlicht vor allem das große Finale, in dem Wayne Homer in MacGyver-Manier mit einer selbstgebauten Waffe rettet. Nicht zufällig findet der Showdown in einer Eishalle statt, da diese sowohl im Hinblick auf die kalten Temperaturen als auch die Sportart prototypisch erneut auf Russland verweist. Auf dem Eis bewegen sich alle Verbrecher begnadet mit Pirouetten und Hebefiguren vorwärts, womit ebenso augenzwinkernd die stereotypischen Vorstellungen über eine vermeintlich besondere Affinität osteuropäischer Staaten zum Eiskunstlauf ausgestellt werden. Die Suche nach Homer führt Wayne nach „Little Ukraine“.39 Die Namen einzelner Läden in diesem Viertel spielen geschickt mit kulturellen Versatzstücken, so gibt es einen „Tstarbucks“40, was auf das englische Wort für Zar (engl. Tsar) und die US-amerikanische Kaffeehauskette Starbucks verweist, daher Sinnbild für eine kulturelle Hybridisierung ist. Ebenso der Laden „Cossacks Fifth Avenue“41, der als ein Amalgam aus der amerikanischen Kaufhauskette Saks Fifth Avenue und der englischen Bezeichnung für Kosaken erscheint. Letzte Station auf Waynes Weg ist schließlich die Eishalle, an der ein weiteres Werbeschild hängt. Dieses stellt historische Bezüge her: „How to Trotsky’s. Ice Skating Rink“.42 Unter dem Schriftzug ist Leo Trotzki im Tutu eine Pirouette drehend abgebildet. An diversen Stellen rekurriert die Episode damit auf unterschiedlichste Aspekte der sowjetischen Geschichte, vor allem auf Politiker, und verbindet diese mit US-amerikanischen Anspielungen.

7.

Politische Akteure I

Die besondere Beziehung zwischen der ehemaligen Sowjetunion und den USA wird in zwei weiteren Folgen thematisiert. In Two Bad Neighbors (dt. Die bösen Nachbarn; 1996) zieht der frühere US-Präsident George Bush Senior gegenüber 37 38 39 40 41 42

Der Konflikt ist außerdem eine Referenz zur Serie 24 (2001–2010) mit Kiefer Sutherland. The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:14:20 The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:17:01. The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:17:04. The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:17:08. The Falcon and the D’ohman. Nastuk, Matthew. USA: 20th Century Studios 2011, 00:17:10.

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der Familie Simpson in ein großes Anwesen. Die unausweichliche Fehde zwischen Homer, Bart und Bush mündet schließlich in einen offenen Schlagabtausch auf der Straße.43 Währenddessen kommt der ehemalige Staatspräsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow überraschend hinzu, um Bush in dessen neuem Heim zu besuchen. Homer ruft daraufhin, bezugnehmend auf eine große US-amerikanische Angst vor dem Kommunismus seit dem Kalten Krieg: „Oh, brought some of your commie friends to help you fight dirty, eh?“44 Der private Besuch verweist auf die sich verbesserten diplomatischen Beziehungen zwischen der USA und Osteuropa nach dem Ende des Kalten Krieges. Gleichzeitig bleiben aber Ressentiments spürbar, da es weiterhin um strategische Machtgefüge und -positionen geht. So weigert sich Bush zunächst seiner Frau gegenüber, den Faustkampf mit Homer zu beenden, mit den Worten: „But, Bar, we can’t show any weakness in front of the Russians.“45 Bush knickt nach einem Machtwort seiner Frau jedoch ein, woraufhin Gorbatschow etwas zu seinem Begleiter auf Russisch sagt, der darüber lacht. Während in der englischen Originalfassung keine Untertitel angegeben werden, wird dieser Satz in der deutschen Synchronisation übersetzt: „Der Westen, das wird in den Nachrichten nie gezeigt.“46 So bleibt in der originalen Tonspur ein Gefühl von Fremdheit bestehen, weil man nicht nachvollziehen kann, worüber die Männer lachen. Die deutsche Übersetzung verweist hingegen auf einen interessanten Umschlagspunkt, da hier die Männer über ihre medial vermittelten Fremdbilder reflektieren, „das wird in den Nachrichten nie gezeigt“.

8.

Geopolitische Ordnungen

Das Verhältnis zwischen den USA und Russland bzw. der Sowjetunion steht außerdem im Zentrum der Episode Simpson Tide (dt. Homer geht zur Marine; 1998).47 Gemäß des verwinkelten Auftaktes beginnt die Folge zunächst damit, dass Homer seinen Job verliert und von einer Navy-TV-Werbung als Reservist geködert wird.48 In der absurden Überzeichnung des Werbeclips macht die Episode sich über die Praktiken des Militärs lustig, was sich fortsetzt, als Homer schließlich nach einer rudimentären Grundausbildung mit einem U-Boot aus-

43 44 45 46 47

Two Bad Neighbours. Archer, Wes. USA: 20th Century Studios 1996, 00:18:49. Two Bad Neighbours. Archer, Wes. USA: 20th Century Studios 1996, 00:19:12. Two Bad Neighbours. Archer, Wes. USA: 20th Century Studios 1996, 00:19:30. Two Bad Neighbours. Archer, Wes. USA: 20th Century Studios 1996, 00:19:41. Der englische Titel ist eine Anspielung auf den Film Crimson Tide (1995), was sich auch in weiteren inhaltlichen Parallelen fortsetzt, bspw. bei der Darstellung des Kapitäns. 48 Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:02:58.

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fährt. Der Admiral verkündet, dass sie gemäß der „old tradition“49 gemeinsam ein Lied anstimmen werden. Dass die Truppe dafür den Song In the Navy (1979) der queeren Gruppe Village People wählt und die Band sich in ihren Kostümen zwischen die Soldaten mischt,50 betont die ironische Markierung und führt das hypermaskuline Traditionsbewusstsein der Navy ad absurdum. Durch eine weitere Verkettung von Zu- und Unfällen wird Homer schließlich Kapitän des Schiffes. Dies mündet in eine planlose Fahrt durch fremde Gewässer und löst einen großpolitischen Konflikt aus, als Homer das Schiff in „Russian Waters“51 navigiert. Visuell und auditiv wird dieser Übertritt in die Hoheitsgewässer als Moment der Gefahr und Bedrohung inszeniert. Auf einer Seekarte sieht man, wie sich das U-Boot fortbewegt; weiter westlich der Westküste der USA begegnet dem Boot ein Seemonster52 und kurz darauf wird der Schriftzug „Russian Waters“ eingeblendet. Die Russische See erscheint als Gegenraum der fremden Gefahr, was ebenso über die farbliche Gestaltung mit dunkleren Schattierungen wie über die Klangebene mit bedrohlicher Musik hervorgehoben wird. Hier rekurriert die Inszenierung erneut auf Stereotype des Wilden und Gefährlichen. Ein harter Schnitt führt in der nächsten Szene zur Restfamilie Simpson, die in den Fernsehnachrichten von Homers Irrfahrt erfährt: „[…] a nuclear sub was hijacked by local man Homer Simpson.“53 Illustriert ist die Meldung mit einem Foto, das diverse russische Stereotype reproduziert und amalgamiert: Homer trägt Uschanka – eine spezifische Kopfbedeckung mit herunterklappbaren Ohren für kalte Witterungsverhältnisse –, tanzt den russischen Volkstanz Kasatschok, bei dem mit verschränkten Armen aus der Hocke die Beine abwechselnd nach vorn geworfen werden, und hält eine Wodkaflasche in der Hand, während im Hintergrund der Moskauer Kreml zu erkennen ist. Folglich fragt sich der Nachrichtensprecher: „Could Homer Simpson be a Communist?“54 Russland und der Kommunismus kehren so immer wieder als Fremd- und Feindbilder der diffusen Gefahr zurück. In den anschließenden Szenen verlagert sich das Geschehen in das UNHauptgebäude in New York, wo die Vereinten Nationen über den Umgang mit dem Konflikt beraten. Der russische Vertreter spricht dabei von sich als Vertreter der Sowjetunion; und als die anderen Teilnehmenden sich darüber irritiert zeigen, betätigt er einen geheimen Knopf und sein Schild dreht sich auf „Soviet

49 50 51 52 53 54

Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:11:52. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:12:20. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:16:16. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:16:13. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:16:27. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:16:33.

Russia vs. Springfield?

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Union“55 – begleitet ist dies von einer Verschiebung der Kameraperspektive, in der der Mann nun aus einer starken Untersicht erscheint, wodurch er größer und bedrohlicher wirkt. Verstärkt wird diese Inszenierung durch sein plötzlich schattiges Gesicht und ein dunkles höhnisches Gelächter. Der nächste harte Schnitt führt zu einem erneuten Ortswechsel nach Moskau, dort sieht man die Folgen der Enttarnung: Vor dem Kreml findet eine freundliche Parade statt, die dann aber von militärischen Einheiten übernommen wird. Eine Flagge mit Friedenssymbol wird mit der Fahne des Hammer-und-SichelSymbols überhisst, an den bunten Umzugswagen klappen Geheimtüren auf, Panzer fahren heraus und Soldaten marschieren aus diversen Geheimverstecken.56 Die Militärparade erscheint somit als abschreckende Inszenierung des Machtpotentials sowie des Waffenarsenals. Die Tonspur begleitet diese Verschiebung durch einen Chor, der ein russisches Lied singt. Diverse historische Ereignisse werden rückgängig gemacht, so klappt vor einem Denkmal mit der Inschrift „Berlin reunited and it feels so good“57 plötzlich wieder eine Mauer hoch, auf der Wachmänner mit Schäferhunden patrouillieren. In seinem Mausoleum erwacht Lenin zum Leben, läuft wie ein Mumien-Zombie umher und verkündet: „Must crush capitalism.“58 In schneller Rückschau werden so die Verhältnisse des Kalten Krieges ins Bild gesetzt und es droht in diesem Kalten Krieg Reloaded nicht nur die Rückkehr des Kommunismus, sondern ein Nuklearkrieg zwischen den USA und Russland, der in letzter Sekunde jedoch abgewendet werden kann – dieser Konflikt hat in unserer Gegenwart 2022 erschreckenderweise wieder neue Aktualität gewonnen. In einem anschließenden militärischen Gerichtsverfahren wird Homer freigesprochen, da alle anderen Admiräle zugeben, selbst bereits Missgriffe getätigt und verborgen zu haben.59 Damit platziert die Episode am Ende erneut einen Seitenhieb auf US-amerikanische Verhältnisse. So werden also nicht nur Imagos des Fremden bedient und geopolitische Beziehungen reflektiert, sondern auch die Strukturen und Bedingungen im eigenen Land überzeichnet ausgestellt.

9.

Politische Akteure II

Auf verschiedene Weise greifen die Episoden der Serie THE SIMPSONS nicht allein kulturelle Bilder und Stereotype auf, sondern thematisieren auch historische Bezüge, aktuelle geopolitische Konflikte und überzeichnen die politischen 55 56 57 58 59

Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:16:59. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:17:00. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:17:17. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:17:27. Vgl. Simpson Tide. Milton, Gray. USA: 20th Century Studios 1998, 00:20:20.

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Akteure. Der gegenwärtige russische Staatspräsident Wladimir Putin tritt beispielsweise in der Halloweenfolge Treehouse of Horror XXVI (dt. Killer und Zilla; 2015) kurz auf. Er reitet dabei ohne Oberbekleidung auf einem Pferd durchs Bild60; die Szene rekurriert auf die berühmten Fotos, auf denen Putin durch die südsibirische Republik Tuwa geritten ist. Diese Ikonographie zitiert und parodiert THE SIMPSONS ein zweites Mal in dem kurzen Youtube-Special Homer Votes 2016 (dt. Homer wählt 2016; 2016).61 Neben dem bloßen bildlichen Verweis verhandelt der 90-sekündige Clip eine politische Dimension und nimmt die Wahlbedingungen in den Blick, unter denen Donald Trump zum US-Präsidenten wurde. Homer steht in der Schlange eines Wahllokals und der Mann vor ihm erläutert die Vorzüge Trumps, die sein tatsächliches Wahlprogramm noch weiter ins Absurde überzeichnen: „He will build a wall to keep out beauty queens who weight too much.“62 In seinen weiteren Ausführungen gibt der Mann seine wahre Intention preis, denn er verkündet, Trump „has a plan to make Russia great again“.63 Homer bekommt Zweifel und enttarnt Putin, der sich mit falschem Bart und Schirmmütze eingeschlichen hat. Dass Putin dennoch auf der Liste zugelassener Wähler steht und schließlich in einer Kabine verschwindet, spielt auf die vermeintliche Beeinflussung der US-amerikanischen Wahl 2016 durch Russland an. Da Homer nicht auf der Liste steht, darf er seine Stimme nicht abgeben, womit auch ein Seitenhieb auf das gesamte Wahlsystem der USA platziert wird. Putin, der nun oben ohne auf einem Pferd reitend aus der Kabine kommt, tröstet Homer jedoch mit den Worten: „Don’t worry, my hackers will get you in.“64 Damit spielt die Szene auf die politischen Geschehnisse an, wobei nicht allein Putin, sondern auch die Verhältnisse in den USA kritisiert werden.65 Auf politische Verhältnisse unter Putin geht außerdem die Episode Fabulous Faker Boy (dt. Der fabelhafte Fakerboy; 2013) ein.66 Darin erhält Bart von einem russischen Mädchen Klavierunterricht, während Marge dem Vater des Mädchens Fahrstunden gibt. Bei einem Ausparkversuch hält der Mann fest: „I want to go backwards. Like Russian economy under Putin.“67 Marge ist genervt von seinen Witzen und bittet darum, dass er damit aufhört: „Stop making Putin jokes“68, 60 61 62 63 64 65

Treehouse of Horror XXVI (2015), 00:20:02. https://www.youtube.com/watch?v=Eeq1RT_X6vM [08. 07. 2020]. Homer Votes 2016. USA 2016, 00:00:41. Homer Votes 2016. USA 2016, 00:00:45. Homer Votes 2016. USA 2016, 00:01:11. In der Folge The Ten-Per-Cent Solution (dt. Agentin mit Schmerz; 2011) gibt es außerdem ein Internetvideo mit dem Titel „Bart Pranks Putin“ (00:02:50). In diesem Clip sieht man, wie Bart Putin in Moskau ärgert und dieser dann mit einem Raketenwerfer auf den Jungen schießt. 66 Der Episodentitel ist eine Anspielung auf den Film FABULOUS BAKER BOYS (1989). 67 Fabulous Faker Boy. McConnachie, Brian. USA: 20th Century Studios 2013, 00:11:05. 68 Fabulous Faker Boy. McConnachie, Brian. USA: 20th Century Studios 2013, 00:11:10.

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woraufhin der Mann entgegnet: „You sound like police, under Putin.“69 Neben der politischen Dimension einer Unterdrückung in einem zunehmend repressiver werdenden System spielt die Folge außerdem auf mediale inszenatorische Markierungen von Russland an und reflektiert diese. Als Marge und der Vater ihren Deal beschließen, bekommt der Ton des Mannes plötzlich eine dunkle Färbung, wobei dieser den Mechanismus entsprechend selbstreflexiv kommentiert: „I’m sorry, did my voice go all evil? (chuckles) It is common wit Russian accent.“70 Dies ist vor allem üblich in der medialen Inszenierung russischer Figuren, womit diese Episode in dieser „Metakonstruktion“71 auch die eigene Darstellungsweise kritisch ausstellt.

10.

Schluss

Wie kaum eine andere Serie nimmt THE SIMPSONS schnell Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen auf und ist damit auch Seismograph der Gegenwart. In der Episode Looking for Mr. Goodbart (dt. Auf der Suche nach Mr. Goodbart; 2017) spielen Homer und Lisa exzessiv das neue Spiel Peekimon Get, das an die App Pokémon Go angelehnt ist. Die Parodie um den Spielehype verzahnt sich mit einem Verweis auf eine weitere tatsächliche Begebenheit, die noch einmal nach Russland führt. In einer Szene spielt Homer in einer Kirche und stört damit den Gottesdienst.72 Dies verweist auf einen Vorfall in Russland, wo der Blogger Ruslan Sokolowsky vor Gericht stand, weil er in einer Kirche Pokémon gejagt hatte und damit die Gefühle der Gläubigen verletzt haben soll. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die russisch-orthodoxe Kirche eine Renaissance und avancierte jüngst zur Bewahrerin der bedrohten nationalen und kulturellen Identität. Aufgrund dieser Szene wurde diese Episode in Russland vom Sender 2x2 nicht ausgestrahlt. In letzter Konsequenz zeigt dies auch, wie sich innertextuelle Fiktion und extratextuelle Wirklichkeit wechselseitig durchdringen und beeinflussen. Die Serie THE SIMPSONS ist durch ihren satirischen Duktus geprägt; dabei nimmt sie kaum Rücksicht auf politische Korrektheit und arbeitet permanent mit dem Stilmittel der Zuspitzung. Konstruktionen des Fremden und Anderen sind ein wiederkehrender Bestandteil. In der Episode Homer vs. New York (dt. Homer und New York; 1997) weist Lisa z. B. ihren Bruder zurecht: „You can’t

69 70 71 72

Fabulous Faker Boy. McConnachie, Brian. USA: 20th Century Studios 2013, 00:11:12. Fabulous Faker Boy. McConnachie, Brian. USA: 20th Century Studios 2013, 00:07:33. Hoge-Benteler, Metakonstruktion, S. 34. Looking for Mr. Goodbart. Polcino, Michael. USA: 20th Century Studios 2017, 00:06:23.

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judge a place you’ve never been to.“73 Worauf dieser nur trotzig erwidert: „Yeah. That’s what people do in Russia.“74 In verschiedener Weise werden Imagos und Vorstellungen über Osteuropa, insbes. Russland, aufgegriffen und reproduziert, dabei aber vor allem massiv überzeichnet und teilweise auch geschickt gebrochen. Das Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremden, das stark durch mediale Inszenierungen geprägt ist, markiert einen zentralen Wirkungsmechanismus, den die Serie in all ihren hoch- und populärkulturellen Zitaten bewusst ausstellt. Über den Serien-Kosmos hinausgehend sind die Figuren außerdem als semantischer Zeichenträger in anderen medialen Bereichen präsent: So werden etwa auch THE SIMPSONS in Memes im Internet aufgegriffen und weiterbearbeitet. Dass es in Memes – so werden , im Internet zirkulierende Bilder, die sich meist aus Bild- und Schrifttextelementen zusammensetzen, bezeichnet – problematische Russland-Imagos gibt, hat Rinnerthaler75 bereits nachgezeichnet. Es finden sich weiterhin Beispiele, in denen sich die Figuren aus der Serie THE SIMPSONS mit solchen Bildern vermischen, etwa wenn in einem Meme der Familienname Simpsons in Sidorovy76 abgewandelt bzw. ‚russifiziert‘ wird. Die berühmte Szene, in der die Familie auf dem Sofa sitzt, wird in vielen Details variiert und mit russischen Stereotypen markiert: Nahrungsmitteln wie Dörrfisch, gezuckerter Kondensmilch und Sonnenblumenkernen, einem Teppich an der Wand, dem omnipräsenten Landschaftsbild von Iwan Schischkin Morgen im Kiefernwald mit den ikonischen Bären oder Homer Simpson im vermeintlichen Adidas-Trainingsanzug. Letzteres verweist noch auf ein weiteres populäres Meme, das der sogenannten slav squats.77 Dabei handelt es sich auf der Bildebene um eine hockende Pose, meist junger Männer im Trainingsanzug, was auf der Textebene mit variierenden Zeilen begleitet wird und auf Bedingungen in Osteuropa abzielt. Wie in einem Beispiel mit Bart Simpson in der Hocke und der Textzeile: „[D]on’t panic mate! I’m from Poland!“78 Dass dabei nur selten zwischen verschiedenen Ländern differenziert wird, verweist auch nochmals auf die unspezifische Wahrnehmung ‚des Ostens‘ als vermeintlich homogenes Andere.

73 The City of New York vs. Homer Simpsons. Reardon, Jim. USA: 20th Century Studios 1997, 00:04:59. 74 The City of New York vs. Homer Simpsons. Reardon, Jim. USA: 20th Century Studios 1997, 00:05:01. 75 Rinnerthaler, Meanwhile in Russia. 76 http://slavsquat.com/slavsons-2/ [11. 11. 2020]. 77 Vgl. den Beitrag von Peter Rinnerthaler in diesem Band. 78 https://machonis.tumblr.com/post/144817125862/dont-panic-mate-im-from-poland [11. 11. 2020].

Peter Rinnerthaler (Wien)

Die Straße, der slav squat und drei weiße Streifen. Die Web-Ikonographie eines (osteuropäischen) Internet-Memes

„Pencil-Neck Geek“, „Butter Face“, „Whiny Baby“. Viele Subkulturen entwickeln ihre ganz spezifischen Soziolekte. So sind in Fitness-Studios Begriffe zu vernehmen, die nicht nur auf einer persönlichen, sondern auch auf einer kulturellen Ebene beleidigend wirken: „Hindu Push-up“, „Romanian Deadlift“ oder „Maltesische Liegestütze“ sind drei pejorativ klingende Beispiele. Was zunächst nach politisch inkorrekten, besonders archaischen Zuschreibungen klingt, verweist jedoch lediglich auf regionale Unterschiede in der Ausführung gewisser Workout-Übungen. Und daher werden sich Hindus, Rumän:innen oder die Bewohner:innen Maltas wohl nicht gekränkt, sondern eher geehrt fühlen, dass sie auf Grund ihrer kreativen Variationen in Sachen Körperertüchtigung in den Kanon des sportlichen Einmaleins aufgenommen wurden. Eine weitere Bezeichnung, die auf den geographischen Ursprung einer Bodybuilding-Übung zu verweisen scheint, ist der „Slav Squat“, den man mit „Slawische Kniebeuge“ oder „Slawische Hocke“ in die deutsche Sprache übertragen kann. Doch obwohl sich der „Slav Squat“ in das Regio-Fitness-Syntagma einzuordnen scheint, ist diese Praktik meilenweit von einer bloßen GymnastikÜbung entfernt. Dies wird sichtbar, gibt man die einzelnen Begriffe nacheinander in eine Suchmaschine ein. Während die drei erstgenannten Übungen im Rahmen einer Bildersuche stets spärlich bekleidete, durchtrainierte Körper in kahler Indoor-Szenerie auswirft, erhält man dank des Schlagwortes „Slav Squat“ ein völlig anderes und gleichzeitig erstaunlich homogenes Ergebnis mit drei Konstanten: a) ein Straßen-Setting, b) schwarze Adidas-Trainingsanzüge und c) Männer in dieser Bekleidung, die in einer extrem tiefen Hocke verharren. Die auffällige Wiederholung dieser Bildbestandteile in Kombination mit einer No-FilterHandycam-Ästhetik wirft die Frage auf, ob es sich dabei um ein konstruiertes Internet-Meme handelt oder ob sogar eine identitätsstiftende Kulturpraktik abgebildet wird.

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1.

Peter Rinnerthaler

#slavsquat: Meme, Lifestyle, Subkultur

Im Jahr 2020 konstatiert die Journalistin Milina Nikolova „Squatting Slavs: One of the internet’s best-known memes is evolving“. Nach einer ausdifferenzierten kulturtheoretischen Analyse kommt sie zu dem kritischen Schluss: While some emerging Europeans reject Slavic memes because of their tendency to showcase the absolute worst aspects of their countries, others see it as a way to stay positive while acknowledging some widespread issues. Despite the nature of these jokes, they have undoubtedly increased the international awareness of emerging Europe.1

Resümierend spricht Nikolova sowohl von Stereotypen als auch von Memes und verweist damit auf den Konstruktions- bzw. Zuschreibungscharakter dieses Internet-Phänomens. Sie geht aber auch auf die einende Funktion des Hashtags #slavsquat ein und hält fest, dass durch die Bildung der slav-squat-Community Gemeinsamkeiten zwischen slawischen Menschen erkennbar werden und durchaus eine Art Bündnis entstehen könne.2 Die Zielsetzung der nun folgenden Überlegungen liegt weniger darin zu entscheiden, ob es sich bei #slavsquat um ein westliches Meme handelt, das osteuropäische Stereotype verhärtet oder Menschen aus der slawischen Kultur- bzw. Sprachfamilie vereint. Vielmehr soll der auf Social-Media-Plattformen geführte Diskurs über das Hashtag #slavsquat betrachtet und anschließend Memes aus ikonographischer Perspektive analysiert werden. Dennoch darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass sowohl in kulturellen als auch in medialen Bereichen ein undifferenziertes Bild des Konstruktes „Der Osten“ vorzufinden ist, das zudem sehr oft den Aspekt der Devianz in den Vordergrund zu stellen scheint. Die scheinbar nie enden wollende Reaktivierung des Barbaren-Topos führt zu unhinterfragten Stereotypen, die durch ständige Wiederholungen einzementiert werden: Gegenwärtige Beispiele sind der „osteuropäische Akzent“ in sogenannten Gangster-Filmen, die spezifisch maskuline Darstellung Vladimir Putins oder humorvoll gemeinte Anspielungen auf unverhältnismäßig starken Alkoholkonsum, der etwa in der zehnten Episode der achten Staffel der TV-Serie THE SIMPSONS3 verballhornt wird. Das Ausmaß der Verbreitung des Barbaren-Topos zeigt sich jedoch nicht nur anhand der unzähligen Beispiele in populären Medien, sondern auch dadurch, dass er in fast 1 Nikolova, Milina: Squatting Slavs: One of the Internet’s Best-Known Memes is Evolving, in: „Emerging Europe“; https://emerging-europe.com/after-hours/squatting-slavs-one-of-the-in ternets-best-known-memes-is-evolving/ [30. 05. 2021]. 2 Vgl. ebd. 3 Homer Simpson wird ob seines Vorhabens, nach dem Besuch der Stammkneipe mit dem Auto nach Hause zu fahren, von Barkeeper Moe aufgefordert, den Breathalyzer-Test zu machen. Homer erreicht die Marke „Boris Yeltsin“, die auf der Skala nach „Tipsy“, „Soused“ und „Stinkin“ ganz oben liegt. Siehe dazu den Beitrag von Anna Stemmann in diesem Band.

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allen Domänen der „westlichen“ Kultur zu finden ist. Um an die Furcht vor den Rotarmisten seitens der österreichischen Bevölkerung während bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern, wird Kindern (von Kindern) scherzhaft immer noch die Mütze ins Gesicht gezogen und dabei der Spruch „Licht aus, die Russen kommen“ aufgesagt. Zu bezweifeln ist allerdings, dass den spielenden Kindern der historische Kontext heute noch geläufig ist. Dennoch manifestiert sich darin der immer wieder zitierte, deviante Charakter des russischen Volkes/Soldaten. Auch die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur trägt ihren Teil zur Konstruktion des östlichen Stereotyps bei. Mit Wolfgang Herrndorfs Romanfigur Tschick sei lediglich der (gegenwärtig) populärste Fall genannt.4 Geht es um Memes, Subkulturen, Soziolekte und andere jugend- sowie subkulturell geprägte Internet-Phänomene lohnt ein Blick in das Urban Dictionary, das den #slavsquat bereits 2012 in die Sammlung aufgenommen und wie folgt definiert hat: „Refers to the squatting position often done by Russians and other slavic people while loitering/waiting outside.“5 Die drei nachgereichten Definitionen erweitern das Hashtag #slavsquat um das Tragen eines Trainingsanzugs, den Verzehr von Sonnenblumenkernen sowie Wodka, dem Hören des Musikgenres Hard Bass und die Regel, dass es sich um eine korrekt ausgeführte „Slawische Hocke“ handle, wenn die Fußsohlen zur Gänze den Boden berühren würden. Neben dem Einblick in dieses kulturspezifische Regelwerk werden auch jene Personengruppen genannt, die mit dem #slavsquat assoziiert und mit darunterliegenden Definitionen verlinkt werden. In drei von vier Einträgen fällt der Name „slavs“, in einem „Russians“. Während Letztere als Bewohner:innen des russischsprachigen Territoriums bezeichnet werden, fällt die Auseinandersetzung mit dem Begriff „slavic“ differenzierter aus: „Having origins in the [Slavic] parts of Europe, primarily [Eastern Europe]. Sometimes confused as a race of people than a cultural and linguistic term.“6 Zur Abgrenzung der für die Kulturtheorie relevanten Termini muss auch der Begriff „a lifestyle“ aus der viertgereihten Definition auf www.urbandictionary. com genannt werden, womit sich das Meme #slavsquat – wie die im Folgenden zusammengefassten Parameter zeigen – zu einem distinkten „style“ einer Subkultur aufwerten lässt. In den frühen Forschungen zu britischen Subkulturen rund um Stuart Hall und dessen Schüler Dick Hebdige werden unter anderem 4 Eine ausdifferenzierte Betrachtung des Phänomens kann in „Sascha, Mascha und Tschick. Russen- und Russland(bilder) in Kinder- und Jugendmedien“ nachgelesen werden. Roeder, Caroline (Hg.): Sascha, Mascha & Tschick – Russen- und Russland(bilder) in Kinder- und Jugendmedien, in: kjl&m 67(2)/2015. 5 dEX: „Urban Dictionary“; https://www.urbandictionary.com/define.php?term=slav%20squat [22. 10. 2020]. 6 CountGrishnak: „Urban Dictionary“; https://www.urbandictionary.com/define.php?term=sla vic [22. 10. 2020].

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Peter Rinnerthaler

Kleidung, Musik, Ritus, Soziolekt, Tanzstil, Make-up oder auch Drogen genannt, um eine Subkultur zu formen.7

2.

#slavsquat: Social Media, Satire, Archivierung

Zwar wird in den Definitionen auf www.urbandictionary.com auch der von der Subkultur angeeignete Raum („outdoor“) erwähnt, die Paradigmen Soziolekt, Tanzstil und Make-up bleiben jedoch ausgespart. Beispiele, die auch in diesen Bereichen distinkte Ausformungen zeigen, sind jedoch andernorts zu finden. Ein für den squatting slav spezifischer Tanz wird auf Youtube-Videos erkennbar (siehe: Youtube-Video zu „hardbass“) und diverse Foren bieten Crash-Kurse in slawischer bzw. russischer Sprache an, um der Community etwa Schimpfwörter an die Hand zu geben.8 Obwohl das Urban Dictionary nicht alle im Internet zu findenden subkulturellen Versatzstücke unter einem Dach vereint, kann der Stellenwert dieser Plattform aus diskursanalytischer Perspektive nicht hoch genug eingeschätzt werden, da die Definitionen nicht von einem akademischverifizierten Ausschluss-System stammen, sondern aus der Szene heraus formuliert werden.9 Das nicht unumstrittene Projekt Urban Dictionary ist ein von Benutzer:innen selbstverwaltetes Online-Wörterbuch, das maßgeblich an der Konstitution von Memes beteiligt ist, da es diversen Internet-Phänomenen durch die institutionalisierte Form eine gewisse Allgemeingültigkeit verleiht. Ob ein Internet-Meme ein Internet-Meme ist, entscheidet die InternetCommunity selbst. Generell spricht man von einem Meme, wenn es formale Kriterien erfüllt: ein quadratisches Bild, das am oberen und am unteren Rand mit weißer Serifenschrift versehen wird. Memes haben sich über das ganze Internet verstreut, sogar konventionelle Nachrichtenseiten verweisen mittlerweile auf die meist parodistischen Bilder, die sich mit aktuellen Ereignissen beschäftigen, sei es aus der Politik, dem Sport oder dem Kulturbereich. Die Orte, wo sie entstehen und durch eine spezifische Form von Wiederholung und Abwandlung schnelle Verbreitung finden, sind Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Pinterest. Regelrechte Meme-Sammlungen findet man schließlich auf Websites, die sich auf die Verbreitung von humorvollen Inhalten durch User:innen-Beiträge spezialisiert haben.10 Benutzer:innen von Social-Media- und humorba7 Vgl. Hall, Stuart/Jefferson, Tony: Resistance Through Rituals: Youth Subcultures in Post-War Britain (Cultural Studies Birmingham). London 1976; oder Hebdige, Dick: Subculture: The Meaning of Style. London 1979. 8 Vgl. YourLocalSatanist: „imgur“; https://imgur.com/gallery/6WLOU [28. 10. 2020]. 9 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main 1991 [frz. 1971]. 10 Die Websites www.9gag.com, www.buzzfeed.com oder www.funnyordie.com sind drei populäre Beispiele.

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sierten Plattformen verwenden Memes, um gegenwärtige Themen aus einer anderen, meist komisch-satirischen Perspektive zu beleuchten und um einem Ereignis mehr Web-Aufmerksamkeit zu bescheren.11 Während Social-Media-Plattformen wie Facebook den wahren Spielplatz für Memes bilden und diese auf humoraffinen Websites wie 9gag gebündelt bzw. teilweise auch thematisch sortiert werden, kommt es in der Online-Datenbank www.knowyourmeme.com zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit den Internet-Phänomenen. Wikipedia beschreibt das Projekt wie folgt: Know Your Meme (KYM) is a website and video series which uses wiki software to document various Internet Memes and other online phenomena, such as viral videos, image macros, catchphrases, Internet celebrities and more. It also investigates new and changing Memes through research, as it commercializes on the culture.12

Der Hashtag #slavsquat wird auf www.knowyourmeme.com unter dem Titel „Why Do Slavs Squat?/Slav Squat“ geführt und unter der Kategorie „Part of a series on Nationality Stereotypes“ gelistet. Im Vergleich zu anderen Plattformen werden hier Metadaten mitgeliefert und erfahrbar gemacht, wer das Meme als Erstes abgesetzt hat, wann es erstmals verwendet, wie oft es auf der Website angeklickt, wann es zum letzten Mal aktualisiert, welche Videos, Fotos sowie Kommentare unter dem Hashtag gepostet und in welchem Thread (Themenschwerpunkt) das Meme auf www.reddit.com sowie auf www.urbandictionary. com diskutiert wurde. Darüber hinaus implementiert die Website www.know yourmeme.com eine Infografik, die das Suchinteresse für das Schlagwort auf Google-Trends anzeigt.13 Das Suchinteresse auf Google hat sich seit dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit Ende 2017 inzwischen auf ein Drittel reduziert. Dank der Updates auf Know Your Meme und den hier angezeigten Suchanfragen zeigt sich, dass es sich um ein gegenwärtiges Internet-Phänomen handelt. Neben den Daten, die Know Your Meme zur Verfügung stellt, werden zudem eine kurze Definition und ein Abriss über die Herkunft des Memes angeführt. Die definitorische Beschreibung lautet: 11 Wer hat in Österreich dank der breiten Meme-Reaktion nicht von Donald Trumps WaldstadtSager gehört? Im Kontext der verheerenden Waldbrände in Kalifornien erklärte der damalige US-Präsident, dass es in Österreich Bäume gäbe, die zwar hochexplosiv sind, die Lage aber dennoch nicht so dramatisch wäre wie in den USA, obwohl die Menschen dort in „Forest Cities“ leben. Es folgte eine Vielzahl von Memes, die Österreich als rurales Forstland oder auch als extrem bewaldete Region mit vereinzelten Burgen darstellten. 12 „Wikipedia“; https://en.wikipedia.org/wiki/Know_Your_ [25. 10. 2020]. 13 Das Hashtag #slavsquat zusammengefasst auf www.knowyourmeme.com [25. 10. 2020]: Titel: Why Do Slavs Squat?/Slav Squat; Origin: 4chan: Year: 2012; Views: 631.978; Updated: 3 months ago; Videos: 7; Images: 55; Comments: 17. Threads: https://www.reddit.com/r/4c han/comments/1pwlp7/why_do_slavs_always_squat/.

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„Why do Slavs squat?“ is a satirical catchphrase associated with imageboards and forums discussing Eastern European people and cultures. The catchphrase is usually accompanied by pictures of squatting Slavic people in tracksuits, most time engaging in stereotypical eastern European behavior like consumption of vodka and cigarettes and participation in street gambling.

Die hier genannten Paradigmen decken sich weitgehend mit den Beschreibungen im Urban Dictionary und der Titel meines Beitrags müsste im Grunde (auf unpoetische Weise) um eine Spirituose ergänzt werden, da in der Summe der Definitionen vier Elemente den Kern des Hashtags bilden: „Die Straße, der slav squat und drei weiße Streifen“ und Wodka. Gegenüber dem Urban Dictionary wird der miteinbezogene Personen- bzw. Kulturkreis von „slavic“ auf „Eastern European people and cultures“ erweitert, wodurch die Beobachtungen dieses Artikels für die Zielsetzung des Bandes als durchaus relevant erscheinen. Der Verweis auf die satirische Perspektive der Frage „Why do Slavs squat?“ („satirical catchphrase“) rekurriert auf das Spannungsverhältnis zwischen den kulturtheoretischen Zeichensetzungen einer Subkultur einerseits und der parodistischen Stereotypisierung eines ganzen Kulturraumes andererseits, die durchaus mit dem Konzept des „Orientalism“, wie ihn Edward Said versteht, verglichen werden kann.14 Es darf zwar nicht übersehen werden, dass das Meme „Why do Slavs squat?“ auf Know Your Meme als „Part of a series on Nationality Stereotypes“ geführt wird, wo auch Stereotype westlicher Länder zusammengetragen werden. Dennoch zeichnet sich im Meme #slavsquat und der Darstellung einer slawischen Kultur ein pejorativer Grundton ab, der im Sinne der OrientalismusTheorie nicht nur das kulturell Andere konstruiert, sondern dabei immer auch kulturelle Dominanz mitliefert.

3.

#slavsquat: Slavs, Gopniks und die ganze Welt

Spätestens wenn „Slavs“ mit „Gopniks“15 kurzgeschlossen werden, öffnet sich ein dezidiert negativ konnotierter Diskurs, der wesentlich wertender als der „squattingslav“ betrachtet und stets mit delinquenten Eigenschaften in Verbindung gebracht wird. Das Urban Dictionary führt sechs unterschiedliche De14 Vgl. Said, Edward: Orientalism. New York 1978. 15 Bei dem Terminus „Gopnik“ handelt es sich ursprünglich um eine Abbreviatur für Gosudarstvennoe obsˇˇcestvo prizora (Staatliche Aufsichtsorganisation), eine St. Petersburger Umerziehungsanstalt für Bezprisorniks und jugendliche Kleinkriminelle. Nach der Revolution wurde sie zwar in Gosudarstvennoe obsˇcˇezˇitie proletariata (Staatliches Wohnheim für das Proletariat) umbenannt, blieb aber eine Brutstätte der Kriminalität. Dazu allgemein Kelly, Catriona: Children’s World. Growing up in Russia 1980–1991. New Haven/London 2007, insbes. Kapitel Reformatories for the Young, S. 182–192.

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finitionen zu der Bezeichnung „Gopnik“ an, wobei eine davon direkt mit „slavic“ (in Trainingsanzügen und squatting) kontextualisiert wird: „true slavic male wears adidas tracksuit and always slav squatting. all men should be gopnik.“16 In den teils (für die Plattform) sehr ausführlichen Definitionen, die nicht nur den Lebensstil, Vergleiche mit anderen Subkulturen wie den britischen Chavs oder deren Gegner:innen, den Punks, anführen, sondern auch mafiöse Strukturen beschreiben, wird einerseits ein Bezug zu Moskau hergestellt: „Plural ‚gopniki‘, these are Russian white trash, commonly found on the outskirts of Moscow and in towns throughout Russia“17, andererseits mit den Begriffen „Russian White Trash“ und „novostroiki“ (dt. Neubauten) eine größere Dimension evoziert, die sich bei genauerer Recherche als äußerst ausufernd bzw. als glokales Phänomen beschreiben lässt. Einen guten Einblick in das Verständnis und die Tragweite der Bezeichnung „Gopnik“ erhält man auf dem satirisch angelegten Youtube-Kanal „Life of Boris“ (3,2 Millionen Abonnent:innen) und dem Video „What is Gopnik?“ (rund 5,5 Millionen Aufrufe). Nach einem verkürzten historischen Abriss über die sozial und wirtschaftlich bedingte Herkunft der Gopniki und deren Charakterisierung leitet der von Urban Dictionary als „the most slav youtuber“ bezeichnete Boris zu einer überraschenden internationalen Perspektive über:18 You see Gopnik is originally russian term for the drinking, squatting, smoking, low level working-class citizen that you will most likely be talking to for when he ask for light for his cigarette in which case you want to pay attention to your pockets and its contents especially when there are many of them around so according to this description it should be no surprise that there are similar terms around the world […].19

Es folgt eine Aufzählung von Namen, die in anderen Ländern – und dabei geht der Youtuber über die Grenzen der osteuropäischen Region klar hinaus – für die im Zitat „low level working-class citizen“ Genannten verwendet werden.20 Das 16 AndrewTheGoat: „Dictionary“; https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Gopnik [27. 10. 2020]. 17 PaddyJ: „Urban Dictionary“; https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Gopnik [14. 06. 2021]. 18 Russland: „Urban Dictionary“; https://www.urbandictionary.com/define.php?term=life%20 of%20boris [27. 10. 2020]. 19 Life of Boris: „Youtube“; https://www.youtube.com/watch?v=Qif-Qz7NY48&ab_channel=L ifeofBoris [27. 10. 2020]. 20 In eingebetteten Twitter-Kommentaren, die auf einen Aufruf des selbsternannten „King of Slav“ (Life of Boris) folgten, erfährt man, dass Gopniks in Australien „bogan“, in Großbritannien „chavs“, in Polen „dres“ (dresy/dresiarze = Trainingsanzug), in Norwegen „Harry“, in Schottland „Neds“, in Frankreich „racaille“, in den USA „hoodlums“, in Litauen „Marozas“, in Spanien „Cani“, in Lateinamerika „Narcos“, in Schweden „Tattare“, in Estland „oss“, in Finnland „Elämänkoulu“, in Lettland „Urlas“, in Kanada „Hosers“, auf den Philippinen „Tambay“, in den Niederlanden „Asos“, in Serbien sowie Mazedonien „Seljak“, in Italien „Teppista“, in Rumänien „Boschetar“ und in Kolumbien „Rata“ genannt werden.

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Video versucht, mit dieser Strategie für ein gleichzeitig lokales wie globales Verständnis für das Phänomen Gopnik zu sorgen: „So by now you should be able to get the general idea what Gopnik is in real life and find one in your country as well.“21 Während die eingangs zitierte Journalistin Milina Nikolova im Meme #slavsquat ein mögliches Bündnisangebot für die slawische Community sieht, scheint in der Kombination mit dem Begriff „Gopnik“ eine noch größere kulturelle Klammer denkbar, die es auf gleichsam einfache Weise versteht, nationale und kulturelle Grenzen zu überwinden, bzw. eine Klammer, die diese Grenzen zugunsten eines Lifestyles im Trainingsanzug auf parodistische Weise nicht ernst zu nehmen scheint. Bestes Beispiel für diese Haltung ist der Rap-Song „Tristrip“ der Künstler Slav und Jugo Ürdens: Denn jeder Pole trägt Tristrip Jeder Jugo trägt Tristrip A$AP Rocky trägt Tristrip Lewandowski trägt Tristrip.22

4.

#slavsquat: Körper, Raum, Handlung

In dem dazugehörigen Musikvideo versammeln sich eine Handvoll junger Männer, geschätzt zwischen 20 und 40 Jahren alt, lose in einem weißen Studioraum. Man trägt Turnschuhe oder Badeschlappen, weiße Tennissocken, Trainingsjacken und – so will es das Meme #slavsquat und auch der Songtitel – „Tristrip“, d. h. drei weiße Streifen auf schwarzer Jogginghose. Während Urheber Slav und Rap-Beistand Jugo Ürgens den Text mit zeitgemäßem UnderstatementHip-Hop-Gestus vortragen, dienen die restlichen Männer als lebendige Mannequins, die die Regeln der Subkultur auf stumme Weise in die Bildästhetik bringen. „Mit den drei Streifen und Tunnelblick | Tragen allesamt Adidas | Seit den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern.“23 Die angedeutete geschichtliche Dimension, die die Anfänge des Lifestyles der drei Streifen auf die 1960er-Jahre rückdatiert, wird mittels einer zusätzlichen Videomontage untermauert: Eine „schlechtere“ Bildqualität und ein kleineres Format simulieren mit Zooms auf die Kleidung eine Art Archivaufnahme, die allerdings kein anderes Setting, Akteure oder Mode zeigt. Es soll der Eindruck entstehen, die Subkultur sei immer schon da gewesen; zumindest in den 1980erJahren, an die die Videoästhetik tatsächlich erinnert. Das Posieren in Gruppen, 21 Ebd. 22 SLAV: „genius“; https://genius.com/Einfachso-tristrip-lyrics [31. 10. 2020]. 23 Ebd.

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das gekünstelte Auf- und Abgehen der Models und die Ausführung des Slav Squat (der übrigens nicht immer „korrekt“ mit beiden Sohlen am Boden ausgeführt wird) erzeugen eine Ästhetik, die an Modeschauen oder an Werbevideos mit gezieltem Verzicht auf Glanz und Filter hinweist.24 Das Rap-Musikvideo kreiert mit dem Konzept des Minimalismus eine Studiovariante des InternetMemes #slavsquat. Mit dem Verzicht auf Alkohol und Nikotin, mit dem cleanen Studio-Weiß anstelle der Straße und dem artifiziellen Arrangieren der Figuren im Raum gelingt dem Produzenten KANE ein Destillat des Hashtags, das durch den Text an kultureller Breite gewinnt: Polen und Ex-Jugoslawien werden als kulturelle Räume zusammengeführt sowie mit der Celebrity-Domäne in puncto Sport (Robert Lewandowski) und Musik (A$AP Rocky) ergänzt. Womit alle Bereiche kombiniert wären, die reflexiv jene Männer zu prägen scheinen, die im Video abgebildet werden. Von dieser Meme-Essenz ausgehend, soll nach der Ikonographie des InternetPhänomens #slavsquat gefragt werden: Wie schreiben sich die kulturtheoretischen Größen Körper, Raum und Handlung in ausgewählten Memes und Videos ein? Dabei werden keine deskriptiven oder reflexiven Social-Media-Plattformen wie Know Your Meme oder Urban Dictionary miteinbezogen, sondern jene Veröffentlichungsorte aufgesucht, die es sich nicht zur Aufgabe gemacht haben, eine Außen- bzw. Metaperspektive einzunehmen. Für die Analyse von klassischen Internet-Memes wurden die Google-Bildersuche, das populärste Subreddit25 und www.9gag.com nach dem Slav Squat durchsucht und dabei versucht, mittels Filterfunktionen jenen Beitrag zu finden, der am häufigsten aufgerufen oder geteilt wurde. Da der Hashtag #slavsquat jedoch auch über das Medium Video zu einer umfassenden Verbreitung führte, sollen zudem drei sehr populäre, in diversen Foren immer wieder verlinkte Youtube-Clips in die Analyse miteinbezogen werden. Mit Erwin Panofskys vorikonographischer Beschreibung26 kommt man zu folgendem Ergebnis (siehe Abb. 1 und 2): Fünf von sechs Schauplätzen wurden im Freien fotografiert oder gefilmt, drei davon lassen sich als Straßenszenerie beschreiben. In fünf der sechs Beispiele ist zumindest einmal ein Kleidungsteil mit drei weißen Streifen zu sehen. Und in fünf von sechs Fällen werden tiefe Hocken ausgeführt, wobei diese Körperhaltung in den Memes, d. h. in den Bildern, das primäre Sujet darstellt. Alle Fotos sowie Videos wurden mit Handykameras aufgezeichnet bzw. so bearbeitet, dass sie spontan und nicht bildsta24 So wie in den letzten Jahren z. B. die Sportwettenanbieter tipico sowie bwin auf einen düsteren, brutalistischen Video-Stil setzen. 25 Siehe www.reddit.com/r/slavs_squatting [30. 05. 2020]. 26 Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie (1939/1955), in: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. 1. Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklungen, Probleme. Köln 61994, S. 207–225, hier S. 215, S. 217–220.

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bilisiert erscheinen. Auf der Figurenebene dominieren junge männliche Protagonisten. Frauen nehmen bis auf eine Ausnahme lediglich beobachtende Nebenrollen ein, wobei die hockende Haltung auch von weiblichen Figuren ausgeführt wird. Bezüglich der Kleidung können keine Unterschiede im Sinne einer geschlechtlichen Differenzierung ausgemacht werden: Frauen und Männer tragen Trainingsanzüge.

Abb. 1

Aufgrund der gezielten Auswahl der Bilder und Videos beschränkt sich die Identifizierung der Motive auf zwei Begriffe: Während in den klassischen Memes das Hashtag #slavsquat als Motiv zu nennen ist, dürfen die drei Videos mit #hardbass betitelt werden. In den Screenshots sind zwar ebenfalls hockende Figuren zu sehen, in den abgespielten Videos wird jedoch eindeutig jene Tanzform ins Zentrum gerückt, die dem Musikgenre Hardbass zugeschrieben wird: weit ausladende Bewegungen der Beine und Füße, die unkoordiniert erscheinen und möglichst dem Tempo der hohen Beat-Zahl (150–170 bpm) folgen sollen. Der Slav Squat stellt dabei eine medienübergreifende Kulturpraktik dar, die in den Bildern der eigentliche Darstellungsgegenstand ist und in den Videos als eine Art Praxis-Attribut fungiert. Warenästhetische Attribute, die dem Meme zugerechnet werden, sind ebenfalls zu sehen: Zigaretten, Alkohol in Flaschen, Baseballschläger, Autos (Marke: Yugo), Waffen und Ghettoblaster. Wie bereits in der vorikonographischen Beschreibung erwähnt, dominiert das bekannte Kleidungsstück: der schwarze Adidas-Trainingsanzug mit drei weißen Streifen. Diese homogenisierte modische Ausrichtung prägt neben der „Slawischen Hocke“ das Meme und macht den Lifestyle bzw. die Subkultur distinkt. Hinzu kommt der Handlungsort, der überwiegend in Außenräumen spielt und das Meme im Kontext von Straßenkultur mit zusätzlicher Symbolik auflädt. Bild- und videoübergreifend kann von Motivkombinationen gesprochen werden. Ausgehend von dem Kern-Sujet des #slav squats könnten die sozialen Begriffe „Jugendkultur“ sowie „Subkultur“, die medienspezifischen Bezeichnungen „Musikvi-

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Abb. 2

deo“, „Hardbass“ oder „Streetart“, aber auch die pejorativ gebrauchten Zuschreibungen „Slav“ oder „Gopnik“ genannt werden, um die Bedeutungsvielfalt der beispielhaft angeführten Medien einigermaßen eingrenzen zu können. Die modische Uniformierung der Subkultur wirkt wie eine gut inszenierte Marketingstrategie der Firma Adidas, der es gelungen ist, flächendeckend eine Art subkulturelle Tracht zu lancieren. Innerhalb des Diskurses #slavsquat wird dem Tragen der drei Streifen – einem Mythos gleich – eine durchaus traditionsbewusste Haltung entgegengebracht. Immer wieder stößt man auf eine sich leicht abwandelnde Begründung, die in einem Sub-Forum auf www.imgur.com wie folgt lautet: „adidas is famous there cause the three stripe wasn’t considered a brand logo in soviet union, so they bought cause it wanst [sic!] forbidden.“27 Zur Verbreitung der Popularität hält ein/eine User:in darauffolgend fest: „Also be-

27 stellaratmospheres: „imgur“; https://imgur.com/gallery/6WLOU [31. 10. 2020].

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cause gangs were populated with international athletes that were wealthy enough to buy nice tracksuits, everyone wanted to cop [sic!].“28 Das Meme #slavsquat unterscheidet sich von anderen flüchtigeren InternetPhänomenen, vor allem von jenen, die aus einer Außenperspektive mit Zuschreibungen arbeiten, insofern, dass sich ein in Foren und auf Social-MediaPlattformen konstruiertes Narrativ gebildet hat, das zum Beispiel die Herkunft des Adidas-Trainingsanzugs klärt. Auch der kulturell geprägte Handlungsraum (Straße) und die damit einhergehende Praktik (#slavsquat) sind Teil dieser Erzählung. Stets wird der Fokus auf Russlands und Osteuropas suburbanen Städtebau gelegt, der so beschrieben wird: Architecturally, I mean that gray, prefabricated look of khrushchevki, or the more recently built fields of massive, 20-or-more-story, also gray monstrosities that exist outside of Petersburg and Moscow in groves, on huge four-lane streets that are too big for humans, a bus ride away from the last metro stop on some line. Or the crumbling, similar-looking, but slightly smaller buildings of poorer, smaller cities where there’s nothing to do (as it probably seems for a lot of people, especially young ones) other than get fucked up. It’s depressing and dark. But fashion and art romanticizing poverty is nothing new.29

An diesen tristen Orten gäbe es keine (intakten) Parkbänke oder anderen Sitzmöglichkeiten, weshalb die dort ansässigen Menschen dazu übergegangen sind, zu hocken, um nicht auf dem kalten, dreckigen Boden sitzen zu müssen. Ein anderer Strang des Narrativs bringt das Hocken mit der Gefängniskultur in Russland in einen Zusammenhang.30 Mit demselben Resultat: hocken, um dem unattraktiven Untergrund zu entkommen. Doch genau dort scheint das Meme #slavsquat im übertragenen Sinn verortet zu sein: im unattraktiven Untergrund. Diese Behauptung soll kein schnell getroffenes Fazit sein, das sich ebenfalls in das webbasierte, ambivalente Feld kultureller Zuschreibungen begibt. Doch in der Zusammenschau der Fotos und Videos ist eine Bildsprache zu erkennen, die anders als aktuelle Influencer:innen, Marketingagenturen, Weblogs oder Schnappschüsse von angesagten Celebrities lediglich als modischen Trend auf einen artifiziellen „Underclass-Chic“ setzen. Die hier analysierten Beispiele und die im Internet zu findenden Bilder und Videos, die unter dem Hashtag #slavsquat auftauchen, setzen auf eine Ästhetik, die ohne Filter, Retusche, Weichzeichner, teils schlecht ausgeleuchtet, ohne reduzierten Hintergrund sowie ohne auffällige Symmetrien oder populär gewor-

28 filthytank: „imgur“; https://imgur.com/gallery/6WLOU [31. 10. 2020]. 29 Klee, Miles: A People’s History Of The ‚Slav Squat‘, in: MEL Magazine; https://melmaga zine.com/en-us/story/slav-squat-meme-history-russia-gopnik [30. 05. 2020]. 30 Vgl. Life of Boris: „Youtube“; https://www.youtube.com/watch?v=TrmkYJfv0Ww&ab_chan nel=LifeofBoris [29. 10. 2020].

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dene, geringe Tiefenschärfe (also einen verschwimmenden Hintergrund) daherkommt. Diese bildgestalterische Haltung – ob sie nun intendiert ist oder nicht – widersetzt sich im Verzicht auf scheinbar wohltuende Ästhetiken aktueller Bildtrends, die sich zum Beispiel auf Instagram abzeichnen, wo nicht nur „schöne“ Bilder zu sehen sind, sondern, wo die „Verschönerung“ der Bilder durch Filter und andere fotografische Hilfsmittel auch in der App zugrunde gelegt ist. In diesem Kontext scheint sogar Gotthold Ephraim Lessings ästhetisches Dogma eine Renaissance zu erleben, der sich in seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie im Jahr 1766 epochenprägend über das „Schöne“ und das „Hässliche“ äußerte: Es gibt Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigen Stande umschreiben, verloren gehen. Dieser enthielten sich also die alten Künstler entweder ganz und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von Schönheit fähig sind. Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken. Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben.31

Die Bildästhetik des #slavsquat zeichnet sich keineswegs durch „Wut und Verzweiflung“ aus, doch auf „schöne Linien“ wird verzichtet und die „gewaltsame Stellung“ des Körpers ist der „Slawischen Hocke“ und dem Tanzstil „Hardbass“ grundlegend eingeschrieben. Während die ästhetische Haltung eine reaktionäre oder zumindest zwanglosere zu sein scheint, folgt das Meme #slavsquat jedoch auch einer eigenen Gesetzmäßigkeit, die sich mit anderen Internet-Phänomenen vergleichen lässt und die in diesem Beitrag stets wiederholt wurde: „Die Straße, der slav squat und drei weiße Streifen“. Dass jedoch ein sozialer bzw. ein kultureller Aspekt stets am Diskurs beteiligt ist, zeigen die sich wiederholenden Abgrenzungsmechanismen, die von dem Regelwerk der Subkultur auszugehen scheinen. An dieser Stelle soll nochmal darauf verwiesen werden, dass die Plattform Know Your Meme den #slavsquat in der Kategorie „Part of a Series on Nationality Stereotypes“ führt; somit werden Symbolsysteme ein- und zugeschrieben, die bei anderen (kulturell weniger prekären) Themenfeldern schlichtweg irrelevant sind: „Squat. Now, here is where it gets difficult. (Especially for you Western spies out there, […]) Step 1: Place feet on ground. Step 2: Go down like you are sitting, but do not sit. Step 3: Do not lift heels off of ground, you must leave feet flat on ground.“32

31 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Ditzingen 2012, S. 61. 32 YourLocalSatanist: „imgur“; https://imgur.com/gallery/6WLOU [28. 10. 2020]. Orthographie und Stilebene des Kommentars wurden nicht korrigiert.

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Die Frage der Journalistin Milina Nikolova „Squatting Slavs: a culture, a stereotype or just a meme?“ bleibt wie bereits angekündigt unbeantwortet, davon zeugt auch die uneinheitliche Verwendung der Begriffe „Meme“, „Lifestyle“ oder „Subkultur“ in diesem Beitrag. Für die Einordnung des Memes #slavsquat sprechen die in Foren geteilten, wenn auch ironisch gemeinten Anleitungen, die stets wiederholt und im Sinne einer street credibility auch (im Web) sanktioniert werden. Miles Klee fasst es wohl am besten zusammen, wenn er das Meme #slavsquat als ein „mixture“ bezeichnet: „[…] and it wasn’t until recently that some gopniks, or gopniki, embraced this identity with the mixture of pride and irony we expect from an internet-codified subculture.“33

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Links: WTF: „Hardbass-Slav boss“, 2020: https://9gag.com/gag/a5W9n0g [31. 10. 2020]. Mitte: Miles Klee: „A People’s History Of The ‚Slav Squat‘. Your favorite stereotype of young Russian men is more meme than reality“, 2019: https://melma gazine.com/en-us/story/slav-squat-meme-history-russia-gopnik [31. 10. 2020] Rechts: Caitlin 1448: „Our love is strong like three stripes of Adidas“, 2017: https:// www.reddit.com/r/slavs_squatting/comments/7977yn/our_love_is_strong_like_t hree_stripes_of_adidas/ [31. 10. 2020]. Abb. 2: Links: DJ Blyatman & Russian Village Boys: „Cyka Blyat“, 2018: https://www.you tube.com/watch?v=NqM032dnPtk&ab_channel=DJBlyatman [31. 10. 2020]. Rechts: Benz1209: „Russia Hardbass Crazy Dance“, 2017: https://www.youtube.com/wa tch?v=y90yaLFoYoA&ab_channel=Benz1209 [31. 10. 2020]. Unten: Tri Poloski: „ТРИ ПОЛОСКИ /KOLM TRIIPU/THREE STRIPES“, 2016: https://www.youtu be.com/watch?v=QiFBgtgUtfw&ab_channel=TRIPOLOSKI [31. 10. 2020].

33 Klee, Miles: A People’s History Of The ‚Slav Squat‘, in: MEL Magazine; https://melmagazi ne.com/en-us/story/slav-squat-meme-history-russia-gopnik [31. 10. 2020].

Beiträgerinnen und Beiträger

Birgitte Beck Pristed, Dr. phil., Associate Professor im Fachbereich Russlandstudien an der Aarhus Universität. Forschungsschwerpunkte: Sowjetische Buchund Papiergeschichte, Sowjetische Kinderbücher, Russisches Verlagswesen, Bücherausstellungen im Kalten Krieg. Tamara Bucˇková, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur mit dem Fokus auf den Zweiten Weltkrieg, Literaturdidaktik, Dramapädagogik, Textanalyse. Michael Düring, Prof. Dr. phil., Professor im Fach Slavistische Kultur- und Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte (u. a.): Satire und Satiretheorie, Dystopie, Science-Fiction. Übersetzungen aus der polnischen und russischen Literatur. Jonas Engelmann, Dr. phil., Verleger und freier Autor. Forschungsschwerpunkte: Bildtheorie, Comic-Forschung, Jüdische Studien, Popkultur. Tihomir Engler, Dr. phil., Univ.-Dozent an der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur an der Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, deutsche Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Neue Medien. Daniela A. Frickel, Dr. paed., Akademische Oberrätin am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Grundlagen einer inklusionsorientierten und diversitätssensiblen Literaturdidaktik, Adaptivität im Literaturunterricht, Differenzierung sowie Emotionen im Prozess sprachlich-literarischen Lernens, In-/Exklusion in der Kinder- und Jugendliteratur.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Anne Hultsch, Priv.-Doz. Dr. phil., Universitätsassistentin für russische Literaturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: west- und ostslavische Literatur- und Kulturwissenschaft, Fragen kulturellen Transfers und des Übersetzens, Buchgestaltung, experimentelle Poesie und Poetik, Kulturgeschichte des Vodkas. Oxane Leingang, Dr. phil., Akademische Rätin auf Zeit im Fach Neuere Deutsche Literatur an der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: deutsch-russischer Kulturtransfer in der Kinderliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Märchen, Holocaust-Literatur, Populärkultur, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke. Sofie Friederike Mevissen, Dr. phil., Lehrbeauftragte an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Deutsche und österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Erinnerungsliteratur/Cultural Memory Studies, Narrative Identität. Carola Pohlmann, Dr. phil., Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Sachliteratur, Kinderbuchillustration. Monika Preuß, M. Ed., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Neuere Deutsche Literatur an der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Literatur mit Bezug zu Südosteuropa, Bilderbuchanalyse. Peter Rinnerthaler, Mag., Family Mentoring Online Coordinator bei der Mentoring-NGO Big Brothers Big Sisters Österreich, war langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur in Wien (STUBE). Forschungsschwerpunkte: Bilderbuch, Sachbuch, Comic, Gender, Raumtheorie in zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur. Lukas Sarvari, Mag., Doktorand im Fach Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik der Moderne, Literaturtheorie, Kritische Theorie, Graphische Literatur. Iris Schäfer, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Zugänge zu Kinder- und Jugendmedien, Mädchenliteratur um 1900, Krankheit, Traum und Mode in Kinder- und Jugendmedien.

Beiträgerinnen und Beiträger

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Klaus Schenk, Prof. Dr. phil., Professor im Fach Neuere Deutsche Literatur an der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Transkulturalität, Medialität, Erzähltheorie, Autobiographie/Autofiktion. Beate Sommerfeld, Prof. Dr. phil., Professorin am Institut für Germanische Philologie der Adam Mickiewicz-Universität Posen. Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Word and Image Studies, Affektforschung, Übersetzungstheorie, Kinder- und Jugendliteratur im Kulturtransfer. Anna Stemmann, Prof. Dr. phil., Juniorprofessorin für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Raumtheorie, Adoleszenzromane, Intermedialität, Comics, Gegenwartsliteratur, Gender und Queer Studies, Ecocriticism. Andrea Weinmann, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen Kinderliteratur seit 1945, Leben und Werk von Otfried Preußler. Katja Wiebe, Dr. phil., Lektorin für mittel- und osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur an der Internationalen Jugendbibliothek München (IJB). Seit 2021 arbeitet Katja Wiebe für das DFG-Projekt „Colibri – Corpus Libri et Liberi. Digitalisierung von Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts“. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur aus Mittel-, Südost-, Nordost- und Osteuropa, deutschsprachige historische Kinder- und Jugendliteratur, Digital Humanities.

Personenregister

Albrecht, Erdmann Hannibal 320 Aleksjusˇin, Gleb 89 Alexander I. 322, 329 Alexander, Lloyd 114 Andersen, Hans Christian 210, 286f., 305 Andreas-Salomé, Lou 81f., 86, 89f., 97 Anz, Thomas 165 Archipova, Anastasia 277, 285, 288 Aristoteles 165 Assmann, Aleida 175, 179 Babel, Isaak 249 Bachmann-Medick, Doris 197 Baraldi, Severino 282 Barth, Mechthild 182 Basedow, Johann Bernhard 316 Basile, Giambattista 93 Basseler, Michael 181 Bauman, Zygmunt 242 Baumann, Hans 113 Bechdel, Alison 226f. Becher, Huldreich 317 Begak, Boris 261f. Beiner, Friedhelm 27 Beljajew, Roman 302 Benua, Aleksandr (Benois, Alexandre) 261 Be˙rantas, Benas 309 Berg, Mathias 278, 283, 285, 291, 293 Bertuch, Justin 316 Biernatzki, Karl 328 Birke, Dorothee 181 Blanckenburg von, Christian Friedrich 166

Blok, Aleksandr 261 Blümner, Bettina 201 Böhm, David 18, 303 Bohnstedt, Ludwig 263–266, 270f., 273f. Boratyn´ski, Antoni 51 Borchardt, Elisabeth 19f., 23 Bosch, Hieronymus 291 Bossert, Rolf 129, 131 Brecht, Berthold 129 Brlic´-Mazˇuranic´, Ivana 62 Bronsky, Alina 195, 201f. Bruegel, Pieter 291 Brzechwa, Jan 31, 44 Büchner, Georg 167 Bulgakov, Michail 354 Bülow von, Frieda 83 Bunjevac, Nina 223–225, 227, 229, 231f., 235 Bunjevac, Peter 223, 231, 235 Busch, Wilhelm 271 Bush Senior, George 366 Cádra, Fedor 38 Campe, Joachim Heinrich 61f., 64–66, 70, 72–74, 76 ˇ apek, Karel 19–23, 122 C ˇ apek, Pavel 44 C Carroll, Lewis 47–49 Caspar, Franz 109, 112, 122 ˇ echov, Anton 285 C Celan, Paul 171, 176, 249 Celentano, Adriano 352 Certeau de, Michel 204 ˇ ervenka, Jan 110, 124 C

392 ˇ ervenková, Jana 124 C Cesnak, Jozef 38 Chagall, Marc 238f., 249f., 252 Chmielewska, Iwona 304 Cichowska, Gabriela 304 Comenius, Johann Amos 316f. Concejo, Joanna 304 Dechterev, Boris 285 Desnitskaya, Anna 302 Djilas, Milosvan 224 Dobrescu, Irina 305 Dobuzˇinskis, Mstislavas 261 Dolgner, Dieter 270, 274 Dostojevskij, Fedor 88 Dugin, Andrej 277, 285, 289, 291f. Dugina, Ol’ga 277, 289f., 292 Dürer, Albrecht 291 Dybiec-Gajer, Joanna 269 Dziubak, Emilia 304 Ehlers, Swantje 200 Eminem 210 Ende, Michael 333, 338 Engelmann, Jonas 226 E˙psˇtejn, Michail 95 Farnow, Eduard 329 Fehr, Daniel 310 Flörke, geb. Wilm, Emma 86 Frenk, Marina 184, 190, 192f. Frenkel’, Pavel 336–338, 355 Freud, Sigmund 83 Friebel, Inge 38 Fühmann, Franz 38f., 44 Fuka, Vladimír 35–37, 44 Funke, Cornelia 333 Gahlinger, Chantal 91, 96 Gansel, Carsten 198 Gencˇiová, Miroslava 122 Gince, Christian 257, 266 Giordano, Ralph 164 Goethe, Johann Wolfgang 210 Gogol’, Nikolaj 88

Personenregister

Gorbacˇev, Michail (Gorbatschow, Michail) 277, 284, 293, 354, 360, 367 Gorelik, Lena 161, 163–165, 167, 177f., 183 Griboedov, Aleksandr 342 Griese, Sebastian 181 Grimm, Jacob und Wilhelm 129, 214, 285, 287, 305 Grjasnowa, Olga 94, 183 Grözinger, Wolfgang 116 Gubser, Martin 242 Gundars, Lauris 309 Gündisch, Karin 128, 130 Gürtzig, Erich 25 Gwis, Asia 303 Habinger, Renate 43 Hacks, Peter 129 Haecker, Theodor 280 Halas, Frantisˇek 38 Hall, Stuart 375 Handke, Peter 338 Haratischwili, Nino 184, 187, 193 Hauff, Wilhelm 214, 243 Hauser, Hedi 130f. Hebdige, Dick 375 Heinker, Monika 27 Henlein, Konrad 106 Hentig von, Hartmut 29 Herrndorf, Wolfgang 93, 198, 375 Herz, Juraj 124 Herzl, Theodor 241f. Hlavsa, Oldrˇich 35 Hodjak, Franz 129 Hoffmann, E.T.A. 212, 362 Hoffmann, Heinrich 257, 267f., 274f. Hohenfelden, Georg 263, 267, 271 House, Juliane 57 Hummel, Eleonora 184, 187, 193 Il’inskij, Igor

277

Jähn, Karl-Heinz 19f., 22f. Jakovenko, Tat’jana A. 341 Janisch, Heinz 305 Johann, III. Sobieski 332

393

Personenregister

Kafka, Franz 338 Kaminer, Wladimir 183 Karski, Piotr 302 Kasˇikovic´, Dragisˇa 235 Kasimir, III 323 Kastelic, Maja 304 Kivirähk, Andrus 308 Klee, Miles 386 Kleist von, Heinrich 176 Knebel, Josef 270 Kochanowska-Nieborak, Anna 319 Kohl, Helmut 293 Kohout, Pavel 25, 30, 34 Kolárˇ, Jirˇí 35, 37 Kolárˇ, Josef 100 Konstantin, Großfürst 329 Korczak, Janusz 27, 29–31, 44 Koschorke, Albrecht 195f. Kos´ciuszko, Andrzej Tadeusz 319, 325, 328f., 332 Koselleck, Reinhart 175 Kovalenko, German 342 Kovárˇík, Vladimír 25 Krüss, James 114 Krylov, Ivan 283 Kundera, Milan 147 Kunze, Rainer 129 Künzel, Franz Peter 117 Kvapil, Jan 100 Kvieskaite˙, Vilija 309 Lada, Josef 100, 109, 114–116, 119f., 123– 125 Lems, Stanisław 54 Lenin, Vladimir 369 Lepman, Jella 100, 108 Lessing, Gotthold Ephraim 165, 385 Lessiw, Andriy 302 Lindgren, Astrid 169, 333 Litwina, Alexandra 302 Lotman, Jurij 196 Löwe, Corina 204, 209 Lüsebrink, Hans-Jürgen 103 Macukat, Petar 61 Madonna 292

Manˇák, Vratislav 308 Mandelstam, Ossip 210 Marc, Franz 265 Marsˇak, Samuil 262 May, Ernst 203 Meek, Margaret 54 Meggendorfer, Lothar 278 Melece, Anete 309 Meynier, Johann Heinrich 325–327, 331 Michalkov, Sergej 210 Mickiewicz, Adam 319 Mihailovic, Draza 224, 227 Mironov, Vladimir 342 Mitru, Alesandru 131 Mizielin´ska, Aleksandra 295, 300, 304 Mizielin´ski, Daniel 295, 300, 304 Moric, Rudo 110, 123 Moritz, Karl Philipp 200 Motz, Agnes 27 Müller, Herta 127, 139 Nadareischwili, Tatia 305 Napoleon, Bonaparte 278, 315, 328f. Naval’nyj, Aleksej 356 Nedic, Milan 227 Newerly, Igor 29 Newmark, Peter 56 Nicolescu, Livia Mariana 141 Nielsen, Maiken 48 Nietzsche, Friedrich 83 Nikolaj I. 271 Nikolaus II. 240 Nikolova, Milina 374, 380, 386 Noack, Hans-Georg 113 Nodelman, Perry 54 Nöstlinger, Christine 333–335, 338f., 343, 345, 352, 354 Novosel, Antun 62 Oittinen, Riitta 52, 54, 60 Olfers von, Sibylle 278 O’Sullivan, Emer 102 Panofsky, Erwin 381 Pascin, Jules 238 Pasternak, Boris L. 362

394 Pavelic, Ante 227 Pechota, Cornelia 84 Perrey, Hans-Jürgen 64 Peter I. 92 Petrova, Galina L. 341 Petrowskaja, Katja 183 Pick, Otto 19 Pinegin, Sergej 342 Pleticha, Heinrich 99f., 116 Plocar, Johann 25 Pokorný, Ivan 146 Poniatowski, Józef Antoni 328f., 332 Poniatowski, Stanisław Antoni 318 Pozˇitkov, Andrej 342 Pradow, Curt 32 Precup, Mihaela 227, 231, 235 Preuß, Wolfgang 113 Preußler, Otfried 99f., 102–111, 113–115, 117–121, 123–125, 333 Procházka, Jan 145 Procházková, Iva 143–146, 148–152, 154– 156, 308 Prokofjew, Sergei Sergejewitsch 365 Pusˇkin, Aleksandr 93 Putin, Vladimir (Wladimir) 354–356, 370f., 374 Rabinowich, Julya 195, 201, 211, 216 Raud, Piret 308 Relkovic´, Matija Antun 61 Rilke, Rainer Maria 81–83 Rill, Ute 137 Ringelnatz, Joachim 129 Robinson, Douglas 52 Roeder, Caroline 101 Romanyschyn, Romana 302 Rotrekl, Theodor 25 Rousseau, Jean Jacques 73f. Salzmann, Sasha Mariana 183 Sauer, Walter 259, 275 Schami, Rafik 200, 218 Scherf, Walter 108 Schinko, Werner 124 Schischkin, Iwan 372 Schmid, Christoph von 61

Personenregister

Schneemann, Johann Christian 317 Schnurre, Wolfdietrich 338 Schönfeldt, Sybil Gräfin 30 Schreiber, Gerhard 277–283, 285f., 288f., 291, 293 Schreiber, Jakob Ferdinand 278 Schröckh, Johann Matthias 322–325, 327f., 331 Schuster, Martin 115 Schwab, Dorothee 42 Schwarz, Vincy 19 Sedmidubská, Tereza 148 Selivanova, Ol’ga 262 Sendak, Maurice 60 Sfar, Joann 237–241, 243, 245f., 249, 251– 253 Shields, Kathleen 52 Sˇklovskij, Oleg M. 337f., 341f. Skobelev, Michail Aleksandrovicˇ 336 Sˇkultéty, Michaela 41 Slabý, Zdeneˇk Karel 110f. Smetana, Zdeneˇk 110, 124 Snell-Hornby, Mary 52 Sobieski, Johann III. 324 Socha, Piotr 302 Sokolowsky, Ruslan 371 Spinner, Kaspar H. 167 Spirin, Gennadij 277, 292 Srokowski, Jerzy 27 Sˇrut, Pavel 307 Staemmler, Klaus 48, 54–60 Stanisˇic´, Sasˇa 183 Stavaricˇ, Michael 40–44 Sˇteger, Alesˇ 305 Stejskal, Václav 110 Stigloher, Regine 99 Stoy, Sigmund 316 Syrowatka, Dorothea 104 Syrowatka, Josef 104 Szancer, Jan Marcin 32 Szczygielski, Marcin 306 Tabbert, Reinbert 58, 116 Taborska, Agnieszka 47, 50f., 54, 56–60 Teige, Karel 19 Teller, Janne 176

395

Personenregister

Terschak, Ricarda 127, 130, 132, 139–141 Ticha, Hans 137 Tito, Josip Broz 224, 227 Tolstoj, Lev 81, 210, 283 Trotzki, Leo 366 Trump, Donald 370 Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch 362 Ungermann, Silvia 27 Urbanová, Svatava 151 Ustinov, Nikolaj 277, 281f., 285, 288 Vaicenavicˇiene˙, Monika Vainola, Kätlin 308 Vichorkova Ol’ga 339 Vilimek, Peter 124

310

Vol’f, Mavrikij (Wolff, Bolesław Maurycy) 263, 270, 274 Vranic´, Antun 63, 65–73, 76f. Wagner, Richard 129 Wanner, Paul 282 Weinkauff, Gina 359 Weintraub, Katja 27 Weiß, Willhelm 318 Werner Söllner 129 Wilkon´, Józef 48 Wilms, Carsten 308 Woldan´ska-Płocin´ska, Ola 303 Wostokow, Stanislaw 306 Zeman, Karel 110, 124 Ziehnert, Johann Gottlieb Amadeus

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