Orient - Orientalistik - Orientalismus: Geschichte und Aktualität einer Debatte [1. Aufl.] 9783839412930

Dass der Orient eher ein Konstrukt des Westens als eine eigenständige geographische Einheit darstellt, ist seit den Deba

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Orient - Orientalistik - Orientalismus: Geschichte und Aktualität einer Debatte [1. Aufl.]
 9783839412930

Table of contents :
INHALT
Neu-Orient-ierungen
Verschlungene Wege in den Orient und zurück: Ein Prolog
Der Kulturbegriff Edward Saids
Julius Wellhausen und die ‚Kinder Adams‘. Die Aktualität der Orientalisten
Orthodoxie versus Heterodoxie? Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien
Neu-Orient-ierung an Maimonides? Orientalistische Deutungsparadigmen in der jüdischen Aufklärung und der frühen Wissenschaft des Judentums
Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert
American Holy Land: Orientalism, Disneyization, and the Evangelical Gaze
Spielraum ‚Neu-ORIENT-ierung‘ bzw. ‚Neuorientierung‘
Verdis Aida und die Orientalisierung des Ägyptenbildes im 19. Jahrhundert
Musik zwischen den Welten. Zur Entwicklung des modernen Musiklebens in arabischen Staaten
Über die Notwendigkeit, zeitgenössisch zu sein: Die islamische Kunst im Schatten der europäischen Kunstgeschichte
The Turks of Prague: The Mundane and the Sublime
Riding the Turns: Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte
Abbildungsverzeichnis
Autorinnen und Autoren

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Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.) Orient – Orientalistik – Orientalismus

POSTCOLONIAL STUDIES | Band 5

Ein Beitrag wird schmerzlich vermisst. Der Theologe, Ostkirchenkundler und Armenienkenner Prof. Dr. theol. Dr. h.c. Hermann Goltz, der auf der Tagung über die orientalisch-christlichen Völker der Gegenwart gesprochen hatte, konnte seinen Beitrag nicht mehr zum Druck einreichen. Er verstarb am 9. Dezember 2010 in Halle.

Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.)

Orient – Orientalistik – Orientalismus Geschichte und Aktualität einer Debatte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kairouan I, Aquarell von August Macke, 1914, bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen Lektorat & Satz: Hanne Schönig, Antje Seeger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1293-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Neu-Orient-ierungen BURKHARD SCHNEPEL/GUNNAR BRANDS/HANNE SCHÖNIG

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Verschlungene Wege in den Orient und zurück: Ein Prolog BURKHARD SCHNEPEL

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Der Kulturbegriff Edward Saids FRITZ W. KRAMER

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Julius Wellhausen und die ‚Kinder Adams‘. Die Aktualität der Orientalisten ÉDOUARD CONTE

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Orthodoxie versus Heterodoxie? Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien VERENA KLEMM

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Neu-Orient-ierung an Maimonides? Orientalistische Deutungsparadigmen in der jüdischen Aufklärung und der frühen Wissenschaft des Judentums REIMUND LEICHT

93

Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert ANTON ESCHER

123

American Holy Land: Orientalism, Disneyization, and the Evangelical Gaze JACKIE FELDMAN/AMOS S. RON

151

Spielraum ‚Neu-ORIENT-ierung‘ bzw. ‚Neuorientierung‘ JOACHIM GANZERT

177

Verdis Aida und die Orientalisierung des Ägyptenbildes im 19. Jahrhundert KARL-HEINZ KOHL

207

Musik zwischen den Welten. Zur Entwicklung des modernen Musiklebens in arabischen Staaten INES WEINRICH

221

Über die Notwendigkeit, zeitgenössisch zu sein: Die islamische Kunst im Schatten der europäischen Kunstgeschichte AVINOAM SHALEM

245

The Turks of Prague: The Mundane and the Sublime IVAN DAVIDSON KALMAR

265

Riding the Turns: Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte BIRGIT SCHÄBLER

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Abbildungsverzeichnis

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Autorinnen und Autoren

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Neu-Orient-ierungen BURKHARD SCHNEPEL/GUNNAR BRANDS/HANNE SCHÖNIG

Die in diesem Band vorliegenden Beiträge resultieren aus einer internationalen Tagung, die im Juli 2009 vom „Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien – Vorderer Orient, Afrika, Asien“ (ehemals „Orientwissenschaftliches Zentrum“) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg veranstaltet wurde.1 Die Teilnehmer der Tagung waren unter dem Thema „Neu-Orient-ierungen: Geschichte, Pfadabhängigkeiten und Gegenwart orientalistischer2 Imaginationen aus interdisziplinärer Sicht“ zusammen gekommen. Dabei ging es im weitesten Sinne darum, der vor allem von Edward Said aufgeworfenen und seither in viele Richtungen verfolgten Orientalismus-Debatte ideengeschichtlich und anhand konkreter empirischer Studien weitere Substanz zu verleihen. Said und sein Orientalism aus dem Jahr 19783 standen zwar nicht explizit im Mittel1

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Die Sammlung enthält die meisten Vorträge der Tagung sowie zwei zusätzliche Artikel (Kramer, Shalem), die das thematische Spektrum ergänzen. Der Erfolg der Tagung ist nicht nur den Referenten geschuldet, sondern gleichfalls den Teilnehmern, deren anregende Diskussionsbeiträge nicht zuletzt in diese Publikation eingeflossen sind. Dank gilt zudem den studentischen Hilfskräften des ZIRS für den reibungslosen organisatorischen Ablauf der Veranstaltung, den Mitarbeitern Antje Seeger und Felix Girke für ihre konstruktive editorische Zuarbeit sowie der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Tagung sowie die vorliegende Publikation ermöglicht hat. „Orientalistisch“ ist hier immer im Sinne Saids aufgefasst, nicht als neutrales Adjektiv, das sich aus der Fachdisziplin der Orientalistik herleitet. Die 2009 erschienene Neuübersetzung von Hans Günter Holl (Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt: Fischer 2009) enthält zusätzlich wichtige Essays von Said aus den Jahren 1994 und 2003. 7

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punkt des Erkenntnisinteresses dieser Tagung, sie bildeten aber immer wieder Ausgangspunkt, Anreiz und Reibungsfläche für die konstruktivkritischen Vorträge und Diskussionen. Mit dieser akademischen Vorgeschichte widmet sich auch der vorliegende Band den Debatten um den Orient (als eine, wie auch immer definierte, humangeographische Realität), um die Orientalistik (als eine um Objektivität und Unabhängigkeit bemühte Wissenschaft in Bezug auf diesen Raum) und um den Orientalismus (als eine diesen Raum und seine Menschen hegemonial verzerrende diskursive Formation und Praxis). Jede einzelne dieser drei Bezugsdeterminanten ist diskussionsbedürftig: Wo fängt der Orient an, wo hört er auf? Ist der Begriff „Orient“ als solcher nicht schon „orientalistisch“? Gibt es eine unabhängige Wissenschaft „Orientalistik“, die, unbeeinflusst von politischen, wissenschaftspolitischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Einflüssen zu ihren Erkenntnissen in Bezug auf den Orient kommen kann? Lässt sich das Problem der Repräsentation des Anderen allein durch Empirie oder strengere wissenschaftliche und ethische Maßstäbe lösen? Ja, gibt es überhaupt einen wahren Orient, der von seinen möglicherweise „falschen“ Repräsentationen zu unterscheiden wäre? Entscheidet schon aufrichtige Gelehrsamkeit oder die Tatsache, dass man, zumindest seinem eigenen Verständnis nach, politisch korrekt handelt und denkt, ob man „orientalistisch“ im Sinne Saids ist oder nicht? War gar Said selbst befangen in orientalistischen Diskursstrategien? All diese Fragen sind, auch wenn sie hier des Arguments und der Kürze willen rhetorisch verknappt formuliert wurden, keinesfalls leicht und eindeutig zu beantworten, und sie haben zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Letztlich sind die drei, hier lediglich analytisch getrennten Zweige der Debatten um Orient, Orientalistik und Orientalismus aber nur Modalitäten einer einzigen Debatte, die sich auf das Spannungsverhältnis und die Interdependenzen dieser drei gleichermaßen unzertrennlich in einer Art „ménage à trois“ miteinander verbundenen Felder bezieht. Die Beiträge dieses Bandes nehmen aus verschiedenen disziplinären Ansätzen heraus sowie mit unterschiedlichen thematischen und regionalen Fokussierungen Bezug auf die Orientalismus-Debatte. Ein „eigentliches“ Forschungsfeld zu dieser Debatte lässt sich dabei nur vage definieren und kaum dingfest machen. Die Orientalismus-Literatur hat in all ihren Varianten und Spielarten mittlerweile solch immense Dimensionen erreicht, dass jeder Versuch, eine auch nur einigermaßen angemessene Bibliographie zu erstellen, an dieser Stelle fehlgeleitet wäre.4 Darüber

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Deshalb seien hier, unter den jüngeren Veröffentlichungen, stellvertretend nur genannt: Iman Attia (Hg.): Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre

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hinaus lässt sich die Orientalismus-Debatte nur schwer von anderen mit ihr verwandten, ihr vorausgehenden und ihr nachfolgenden Debatten abgrenzen. So zeigt sich Said stark beeinflusst von Foucaults Diskursanalyse und von seinen Ausführungen zum Konnex von Wissen und Macht,5 die ihrerseits eine Unmenge an Nachfolge-Literatur hervorgebracht haben. Ebenfalls zu nennen wären die sogenannten „Postcolonial Studies“ und „Subaltern Studies“ sowie die unter dem Begriff der „Krise der Repräsentation“ vor allem in der Ethnologie und Historiographie geführten Diskussionen.6 Eng verknüpft mit dieser „Krise“ ist wiederum die Frage nach dem „Other-ing“, mithin nach diskursiven Praktiken der „Ver-Anderung“.7 Diese Frage bewegte aber auch und besonders intensiv, schon lange vor Said,8 feministische Debatten zur hierarchischen Konstruktion von Geschlecht, Körper und Sexualität. Und natürlich gab und gibt es auch in der Orientalistik selbst – vor, neben und nach Said – eine lange, die eigenen Ansätze kritisch hinterfragende Wissenstradition.9 Gerade

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Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster: Unrast-Verlag 2007, Robert Irwin: Dangerous Knowledge. Orientalism and its Discontents, Woodstock, New York: The Overlook Press 2006, und Daniel Martin Varisco: Reading Orientalism. Said and the Unsaid, Seattle, London: University of Washington Press 2007. Informative kürzere Einführungen in den Orientalismus bieten, auch wieder nur unter anderem, Julie Marcus: „Orientalism“, in: Paul Atkinson et al. (Hg.), Handbook of Ethnography, Los Angeles et al.: Sage Publications 2007 [2001], S. 109-117, und Reinhard Schulze: „Orientalism. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident“, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und Islambilder (2007), S. 45-68. Eine praktische Textsammlung bietet Alexander Lyon Macfie (Hg.): Orientalism. A Reader, New York: New York University Press 2000. S. bspw. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt: Suhrkamp 1981 [1973]. Vgl. James Clifford/George E. Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986, sowie Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt: Fischer 1990. Modalitäten dieser „Ver-Anderung“ wurden aus ethnologischer Sicht beispielhaft von Fritz Kramer unter dem Begriff der „imaginären Ethnographie“ diskutiert (Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Syndikat 1977). Zu diesem Punkt vgl. auch Richard Rottenburg/Burkhard Schnepel/Shingo Shimada (Hg.): The Making and Unmaking of Differences: Anthropological, Sociological and Philosophical Perspectives, Münster: transcript Verlag 2006. Nämlich spätestens seit Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg: Rowohlt 1968 [1949]. So erschien beispielsweise zeitgleich mit Saids Orientalism Bryan S. Turner: Marx and the End of Orientalism, London: Georg Allen & Unwin 1978. Eine frühe Kritik des Orientalismus aus der Orientalistik findet sich in Anouar Abdel-Malek: „Orientalism in Crisis“, in: Diogenes 11 (1963), S. 103-140. 9

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aus der Orientalistik resultieren jedoch auch eine ganze Reihe von Kritiken bis hin zu „Schmähschriften“, die zuweilen inner-akademisch zu bleiben versuchen, die oft aber auch einen klaren politischen Dissens zwischen dem seit 1971 vom amerikanischen Geheimdienst beobachteten Said und seinen Kritikern, vor allem seinem „Intimfeind“ Bernard Lewis, im Kontext des Palästina-Konflikts und der Irak-Kriege zum Vorschein bringen.10 „Orientalism’s ramifications are endless.“11 Und so erhebt dieser Band keinesfalls den Anspruch, das Thema abschließend zu behandeln. Seine Beiträge beschäftigen sich mit wichtigen zentralen Fragen der Orientalismus-Debatte, aber auch mit kritischen Nahtstellen zu anderen Debatten und Diskursformationen. Oder sie diskutieren „Nischen“ und vermeintliche Randbezirke, die bislang in der Orientalismus-Forschung relativ vernachlässigt wurden. Ein wichtiges Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, neben historischen Untersuchungen zur OrientalismusProblematik auch deren Aktualität stärker ins Visier zu nehmen, wobei Gegenwart und Geschichte in den Beiträgen selbstverständlich als eng miteinander verknüpft betrachtet werden, frei nach dem Motto „Alles Gewordene hat Geschichte“. Aber es gilt verstärkt, die neuen, gegenwärtigen Orientalismen, verstanden als konkrete Manifestationen der diskursiven Formation „Orientalismus“, zu erkunden und sie in ihren Kontinuitäten und Brüchen zu untersuchen. Zwei der Beiträge des vorliegenden Bandes (Kramer und Schäbler) befassen sich dabei ideengeschichtlich mehr oder weniger direkt mit Said und seinem Buch Orientalism und bilden formal den Rahmen für die multidisziplinäre Sammlung. Fritz Kramer diskutiert den keinesfalls eindeutigen Kulturbegriff Saids. Im Kontext seines Gesamtwerkes ist der holistische Kulturbegriff, wie er ihn in Orientalism vertritt, eine „vorübergehende Abweichung“ von seiner Affinität zur Kultur der Aufklärung. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Kramer bei seiner Analyse den Einflüssen Foucaults und vor allem Auerbachs, dessen Erfahrungen gesellschaftlicher Standardisierung im Istanbuler Exil Said in seinem orientalistischen Sinne interpretiert.

10 S. bspw. Bernard Lewis: Islam and the West, New York, Oxford: Oxford University Press 1993, besonders Kapitel 6. Im Klappentext eines weiteren „Anti-Said“-Buches wird Said als „professor of terror“ bezeichnet, und über sein Orientalism heißt es dort, „that nearly every idea – nay almost every sentence – that Edward Said has written is deliberately false“ (Ibn Warraq, Defending the West: A Critique of Edward Said’s Orientalism, New York: Prometheus Books 2007). 11 J. Marcus: „Orientalism“, S. 115. 10

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Die anderen Beiträge widmen sich der Orientalismus-Debatte dezidierter aus empirischer Sicht, ohne dabei allerdings die ideengeschichtlichen, theoretischen und methodologischen Implikationen, die sich aus ihren minutiösen Detailstudien ergeben, aus den Augen zu verlieren. Sie lassen sich der Übersicht halber in drei Schwerpunktbereiche untergliedern: „Wissenschaft und Orientalismus“ (Conte, Klemm, Leicht), „Raum und Orientalismus“ (Escher, Feldman/Ron, Ganzert) und „Kunst und Orientalismus“ (Kohl, Weinrich, Shalem, Kalmar). Zum Fokus „Wissenschaft und Orientalismus“ sprechen Vertreter der Ethnologie, Islamwissenschaft und Judaistik, die sich in diesem Band unmittelbar mit Fragen der Orientalistik und mit der Fachgeschichte zu diesen Fragen beschäftigen. Édouard Conte zeigt in einem großen Bogen vom Alten Testament über den angesehenen Bibelforscher Julius Wellhausen bis hin zum Nepotismus Saddam Husseins, dass auch ein solch anscheinend unpolitisches Gebiet wie Verwandtschaftsnomenklaturen und Heiratspraktiken durchaus „orientalistische“, aber auch realpolitische Brisanz besitzt. Verena Klemm untersucht eine phantastische, ebenfalls als orientalistisch zu bezeichnende Deutungstradition bezüglich der berühmt-berüchtigten schiitischen Assassinen, deren legendärer Ruf als gedungene Attentäter bis ins christliche Mittelalter zurück verfolgt werden kann. Dieser Ruf lebt über die frühe Orientalistik in Gestalt von Joseph von Hammer-Purgstalls Buch Geschichte der Assassinen (1818) bis in die oft gedankenlos mit in diesem Kontext überholten Begriffen wie Heterodoxie, Häresie und Sekte operierende moderne Islamwissenschaft und hin zu gegenwärtigen „Neo-Orientalismen“ bezüglich islamistischer Selbstmordattentäter fort. Reimund Leichts Beitrag zur „Neu-Orient-ierung an Maimonides“ zeichnet anhand der Rezeption dieses jüdischen Philosophen, Rechtsgelehrten und Arztes eindrucksvoll nach, dass lange Zeit der „jüdische Beitrag zur allgemeinen Kulturgeschichte“ weder ernst genommen noch gründlich rezipiert wurde. Leicht verdeutlicht hier exemplarisch, dass sorgfältige Herangehensweisen nötig sind, um den komplexen gegenseitigen Beeinflussungen von geistigen Strömungen und ihren jeweiligen Rezeptionen gerecht zu werden. „Raum und Orientalismus“ ist die thematische Klammer der folgenden Beiträge von Vertretern der Kulturgeographie, Ethnologie und Baugeschichte, die sich mit der wissenschaftlichen Genese des Kulturerdteils Orient, touristischer Inszenierung religiöser Orte bzw. Spielräumen der Rezeption auseinandersetzen. In seiner Aufarbeitung der geowissenschaftlichen Literatur weist Anton Escher nach, wie das Konzept „Orient“ vor allem durch die Werke von E. Banse, H. von Wißmann und E. Wirth stimuliert wurde und nachhaltig wirkte. Auch wenn einige „Orient-typische“ Merkmale wie die angebliche Bedeutung des Renten11

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kapitalismus später relativiert wurden, setzte sich der Orient als Kontinent übergreifende kulturelle (aber auch ökologische) Einheit sowohl in der Fachliteratur wie auch in populären Werken und Schulbüchern fest. Jackie Feldman und Amos S. Ron zeigen in ihrem Beitrag über den Pilgertourismus amerikanischer Protestanten ins Heilige Land anhand eindrucksvoller Fallstudien, wie der Suche nach authentischer Erfahrung der Stätten der Heiligen Schrift vor Ort entsprochen wird. Nicht nur will der „touristische Blick“ die Realitäten, die vorhandenen Bauten und die Bewohner des Landes nicht wahrnehmen – vielmehr wirkt er strukturierend, und die Topographie des Heiligen Landes nähert sich in einer „Disneyisierung“ den mitgebrachten Erwartungen an. Der Bauforscher Joachim Ganzert verfolgt in seinem Beitrag die Rezeption altorientalischer Architektur des 3.-1. Jahrtausends – mit ihren archetypischen Formen der Versinnbildlichung von Herrschaft und dem Verhältnis zwischen Gottheit und Mensch – vom Hellenismus bis in die Neuzeit. Erst im Laufe der Zeit, so seine These, hätten diese zeitlosen, archetypischen Bauformen eine Orient-Okzident-Antinomie ausgebildet. „Kunst und Orientalismus“ ist die Perspektive, die Wissenschaftler aus (Musik)Ethnologie, Islamischer Kunstgeschichte und Kulturstudien verfolgen. Edward Said war nicht nur Musikliebhaber und Pianist, sondern auch Musikkritiker, dessen These, die Verdis Aida als eine orientalistische Oper und Werk des Imperialismus bezeichnet, von Karl-Heinz Kohl diskutiert und in Frage gestellt wird. Kohl analysiert die Geschlechterkonstellationen der Oper, die den Gegensatz zwischen weiblichem Morgen- und männlichem Abendland (gemäß Bachofens Stoff- und Geistprinzip) bis in die früheste Antike zurückprojizieren. Diese Konfiguration ist jedoch durchaus alternierend angelegt und bietet somit Interpretationen bzw. Inszenierungen Raum. Edward Said, so erfahren wir in Ines Weinrichs Kapitel, verfügte weder als Kind noch anscheinend als gereifter Erwachsener über die notwendigen Erfahrungshorizonte, um arabischer Musik in angemessener, nicht binär und (ab)wertender Art und Weise entgegentreten zu können: der Anti-Orientalist scheitert in der Rezeption und erliegt selber einer orientalistischen Vereinfachung. Weinrich zielt hier jedoch nicht auf eine Demontage ab; vielmehr nimmt sie dieses drastische Beispiel zum Anlass, Musik-Rezeption im Aufeinandertreffen von Orient und Okzident aufzuarbeiten und zu problematisieren. Im Zusammenhang mit der Orientalismus-Debatte ist die islamische Kunstgeschichte bislang nur selten diskutiert worden. Avinoam Shalem verfolgt die Rezeption islamischer Kunst vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit. Zu den Topoi der Kunstgeschichtsschreibung gehören die enge Bindung der islamischen Kunst an die Religion und ihre formale Abhängigkeit von der grie12

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chisch-römischen, byzantinischen und frühmittelalterlichen Kunst Europas und des Nahen Ostens. Das „Ende“ der islamischen Kunst, die in den kunstgeschichtlichen Abrissen nie über den Anfang des 20. Jahrhunderts hinausreicht, wird dagegen als zwangsläufige Folge ihrer Unfähigkeit erklärt, sich der europäischen Kunst anzuverwandeln. Ivan Davidson Kalmar geht in seinem Beitrag von der im neuzeitlichen Denken fest verankerten Antinomie zwischen rationalem Westen und irrationalem Orient aus; er zeigt, dass bis in das 17. Jahrhundert hinein die westliche Wahrnehmung des Orients im Gegensatz dazu von Säkularismus geprägt war, während der Westen mit hehrer Religiosität assoziiert wurde. Am Beispiel der Prager Rathausuhr, in deren Bildprogramm muslimische Gelehrte als Sinnbilder der Vergeblichkeit „reiner Wissenschaft“ erscheinen, werden westliche Vorstellungen vom Orient und ihre polemische Verwendung in der Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten beleuchtet. Abschließend und gleichermaßen zusammenfassend legt Birgit Schäbler dar, wie wirkmächtig Saids Orientalism war, ist und auch in Zukunft sein wird. Die Debatte wurde nicht nur in der „betroffenen“ Orientalistik bzw. den Middle East Studies sowie den systematischen Disziplinen geführt. Werk und Konzept wurden auch in anderen Regionalstudien rezipiert und werden weiterhin als Referenz beim Umgang mit anderen (Kulturen) bzw. bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Alterität und Interkulturalität dienen. Die Orientalismus-Debatte wird durch weltpolitische Vorgänge neu angefacht, aber auch in andere Räume getragen.

Literatur Abdel-Malek, Anouar: „Orientalism in Crisis“, in: Diogenes 11 (1963), S. 103-140. Attia, Iman (Hg.): Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster: UnrastVerlag 2007. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg: Rowohlt 1968 [1949]. Clifford, James/Marcus, George E. (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt: Suhrkamp 1981 [1973].

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BURKHARD SCHNEPEL/GUNNAR BRANDS/HANNE SCHÖNIG

Ibn Warraq, Defending the West: A Critique of Edward Said’s Orientalism, New York: Prometheus Books 2007. Irwin, Robert: Dangerous Knowledge. Orientalism and its Discontents, Woodstock, New York: The Overlook Press 2006. Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Syndikat 1977. Lewis, Bernard: Islam and the West, New York, Oxford: Oxford University Press 1993. Macfie, Alexander Lyon (Hg.): Orientalism. A Reader, New York: New York University Press 2000. Marcus, Julie: „Orientalism“, in: Paul Atkinson et al. (Hg.), Handbook of Ethnography, Los Angeles et al.: Sage Publications 2007 [2001], S. 109-117. Rottenburg, Richard/Schnepel, Burkhard/Shimada, Shingo (Hg.): The Making and Unmaking of Differences: Anthropological, Sociological and Philosophical Perspectives, Münster: transcript Verlag 2006. Said, Edward W.: Orientalism, London: Penguin Books 1978; dt. Übersetzung (Hans Günter Holl), Orientalismus, Frankfurt: Fischer 2009. Schulze, Reinhard: „Orientalism. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident“, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und Islambilder (2007), S. 45-68. Turner, Bryan S.: Marx and the End of Orientalism, London: Georg Allen & Unwin 1978. Varisco, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid, Seattle, London: University of Washington Press 2007. White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt: Fischer 1990.

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Verschlungene Wege in den Orient und zurück: Ein Prolog BURKHARD SCHNEPEL

Beginn der Reise Es wurde nicht erst durch die Okzidentalismus-Debatte,1 die seit den neunziger Jahren die Orientalismus-Debatte dialektisch zu bereichern gesucht hat, deutlich, dass Produktion und Transfer von Imaginationen, Stereotypen und Wissen bezüglich des „orientalischen Anderen“ keinesfalls immer geradlinig und nur in eine Richtung, sozusagen „from the West to the Rest“, verlaufen. Die Austauschbeziehungen zwischen Ost und West, Morgenland und Abendland, dem Eigenen und dem Fremden oder schließlich Orient und Okzident waren und sind immer noch von Machtungleichheit und westlichen Hegemonialbestrebungen geprägt; dennoch erweisen sie sich bei mikroskopisch-empirischem Blick, sei dieser nun sozial-, kultur-, politik-, sprach- oder geschichtswissenschaftlich fokussiert, immer als sehr viel komplexer, widersprüchlicher, sprunghafter, dialektischer, unvorhersehbarer und eben „verschlungener“, als es rechtschaffene Kritiken am Orientalismus oft zugestehen wollen. Diese verschlungenen Wege in den Orient und zurück – oder gar umgekehrt –

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Vgl. James G. Carrier (Hg.): Occidentalism. Images of the West, Oxford: Clarendon Press 1995, sowie Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-) Orientalismus und Geschlecht, Münster: transcript Verlag 2009. 15

BURKHARD SCHNEPEL

sollen in diesem Prolog anhand einiger Vignetten oder „Wegmarken“ schlaglichtartig skizziert werden.

Wegmarke 1 Anlässlich der Tourismusmesse ITB in Berlin im Frühjahr 2010 bemerkte der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, dass in Nationen wie China und Indien die Nachfrage nach Überseereisen drastisch steige: „Die Menschen wollen raus aus ihren zugebauten Städten. Sie wollen das Echte, das Unverfälschte.“ Und dies Authentische vermeinen sie, laut Direktor Klingholz, in Europa zu finden.2 Man wird hier stark erinnert an die mit Verve von MacCannell in seinem Buch The Tourist vorgetragene These, der zufolge ein Hauptantrieb zum Reisen darin bestehe, dass man sich von seiner eigenen Gesellschaft und Kultur entfremdet fühlt und, auf der Suche nach verloren geglaubter Authentizität, in die angeblich noch ursprüngliche Fremde reist.3 Gewissermaßen in Umkehrung des Satzes „the past is a foreign country“4 würden Touristen also glauben, ein fremdes Land spiegle die eigene, noch nicht durch Konsum, maschinelle Produktion, Vereinzelung, Habgier, Technologie, etc. verfälschte Vergangenheit wider – dies nach der unausgesprochenen Vorstellung „a foreign country is our past“. Der Unterschied dieser Position zur oben skizzierten besteht nun darin, dass für MacCannell und andere, die ähnlich argumentieren,5 Touristen ganz prototypisch Mitglieder westlich-moderner, industrialisierter Staaten sind. Dabei liegt das von ihnen bereiste „authentische Andere“ aber genau in denjenigen Ländern der „Dritten Welt“, aus denen sich jetzt eine große Anzahl von Reisenden auf den Weg macht, um anscheinend „bei uns“ Authentizität zu finden. Haben wir es bei diesen Reisen aus dem Osten in den Westen dann mit dem zu tun, was Hendry in ihrem

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„ITB in Berlin. Besuch bei den Nachbarn“, http://www.zeit.de/reisen/ 2010-03/reisetrends vom 12.3.2010. Vgl. Dean MacCannell: The Tourist. A new theory of the leisure class, New York: Schocken Books 1976. Vgl. David Lowenthal: The Past is a Foreign Country, Cambridge: Cambridge University Press 1985. Etwa Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition 1997 [1995], und John Urry: The Tourist Gaze, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 2002 [1990].

VERSCHLUNGENE WEGE IN DEN ORIENT UND ZURÜCK: EIN PROLOG

Buch über Themenparks und „heritage villages“ in Japan als „The Orient Strikes Back“ bezeichnet?6

Wegmarke 2 Japaner haben entdeckt, dass man das Fremde auch ohne große Flugreisen erfahren kann. Da gibt es zum einen das eigene Fremde, das den städtischen Japaner schon durch eine kurze Reise aufs Land in die eigene authentische Vergangenheit zu führen scheint.7 Neben diesem Nostalgie-Tourismus gibt es in Japan aber auch die vielen Themenparks, in denen, erstaunlich natur- und maßstabsgetreu, Repliken schweizerischer Dörfer, deutscher Schlösser, holländischer Käsemärkte, spanischer Altstädte oder russischer Siedlungen zu besichtigen, zu begehen und, kulinarisch unterfüttert, zu erleben sind. Der Umstand, dass es in Japan aber Nachbauten auch von nepalesischen Tempeln oder muslimischen Moscheen gibt, bietet schon einen ersten Hinweis darauf, dass der „Orient“ jetzt nicht einfach zurück schaut oder gar „schlägt“. Der sogenannte „Okzidentalismus“ ist eben nicht das Gleiche wie der Orientalismus, bloß anscheinend in umgekehrter Richtung. Jahrhunderte westlicher Dominanz in Bezug auf den Orient haben ihre Spuren hinterlassen, nicht nur in politischen, militärischen oder ökonomischen, sondern auch in sozialen, kulturellen und sozialpsychologischen Belangen. In den oben geschilderten Reisebewegungen von Ost nach West trifft deshalb eben nicht eine ungebrochene asiatische oder auch arabisch-islamische Mentalität in bloßer Umkehrung der Verhältnisse auf das Morgenland; es handelt sich dabei nicht um einen bloßen „Gegenorientalismus“ oder „reverse Orientalism“,8 mag die neu erlangte Wirtschaftsmacht dieser Länder noch so stark und global wirksam sein. Ein Hinweis darauf, wie es stattdessen aussieht, mag die nächste Wegmarke eröffnen.

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Joy Hendry: The Orient Strikes Back. A Global View of Cultural Display, Oxford: Berghahn 2000. S. etwa Millie Creighton: „Consuming Rural Japan: The Marketing of Tradition and Nostalgia in the Japanese Travel Industry“, in: Ethnology 36 (1997), S. 239-254. Vgl. die Diskussionen in J. Hendry: The Orient Strikes Back, Kapitel 2, sowie Sadik Jalal Al-‘Azm: „Orientalism and Orientalism in Reverse“, in: Khamsin: Revue des Socialistes Révolutionnaires du Proche-Orient 8 (1981), S. 5-26, Abdruck in: Alexander Lyon Macfie (Hg.), Orientalism. A Reader, New York: New York University Press 2000, S. 217-238. 17

BURKHARD SCHNEPEL

Wegmarke 3 Im westafrikanischen hauka-Kult, der besonders in den fünfziger Jahren seine Blüte erlebte, begegnet uns eine spezielle Form der Besessenheit, nämlich die Fremdbesessenheit von Unterdrückten nicht durch Götter, Ahnen oder Geister der indigenen Okkultwelt, sondern durch Geister aus der Welt der Kolonialmächte, die Personen oder Dinge aus dieser fremden Welt repräsentieren. Diese Phänomene der Fremderfahrung und Fremdbesessenheit werden ausführlich von Kramer in Der Rote Fes diskutiert, wo es mit Bezug auf den hauka-Kult heißt: „Mit der expressiven Kraft einer alten Besessenheitstradition ausgestattet, entwickelten die Männer und Frauen des Kults ein ganz neues Inventar, dessen Figuren zunächst der französischen Militär- und Zivilhierarchie und der islamischen Gesellschaft abgeschaut waren, später, als die Wanderarbeiter den Kult an die Goldküste trugen, auch dem britischen Kolonialsystem; […] Auf einem hauka-Konvent deutete man das koloniale Ambiente mit bunten Stoffetzen an, die man ‚Union Jack‘ nannte; man stellte eine Plastik auf, die den Gouverneur mit Schnurrbart, Säbel und Flinte darstellte. Das Fest begann mit einer öffentlichen Beichte; eine Trillerpfeife gab das Signal, sich in Reihen aufzustellen. Wachtposten mit hölzernen Gewehren und Peitschen aus Lastwagenschläuchen sorgten für ‚Ordnung‘; wenn sie ihre Gewehre auf jemand anlegten, machten sie ihn besessen. Einer stellte eine Lokomotive dar, die mit mechanischen Bewegungen hin und her fuhr; ein anderer exerzierte im Paradeschritt der britischen Armee, wieder andere salutierten oder inspizierten etwas; der Gouverneur lud zu einer round-table-Konferenz ein; schließlich erdrosselten die Besessenen einen Hund, kochten und aßen ihn.“9

Mehr noch als der Kult selbst interessiert uns im Zusammenhang mit der Orientalismus-Debatte das Befremden, das er bei den unterschiedlichsten Parteien ausgelöst hat. Der hauka-Kult wurde von den Kolonialmächten genauso abgelehnt und verfolgt wie von den unabhängigen Nationalstaaten; seine Dokumentation – vor allem Jean Rouchs Dokumentarfilm Les Maîtres Fous aus dem Jahr 1954 – wurde sowohl von konservativen europäischen Ethnologen als auch von fortschrittlichen afrikanischen Studenten, die sie als rassistisch ansahen, zu verhindern gesucht. Dabei war der hauka-Kult zwar eine recht eigenartige, aber kei-

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Fritz W. Kramer: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Frankfurt: athenäum 1987, S. 135-136.

VERSCHLUNGENE WEGE IN DEN ORIENT UND ZURÜCK: EIN PROLOG

nesfalls einzigartige Reaktion auf die koloniale Situation.10 Auf seine Weise war er eine subalterne Form des Anti-Kolonialismus. Von den Kolonialmächten wurde er wohl auch als solche begriffen und verboten; denn die theatralen Repräsentationen vom Europäer und seinen Errungenschaften, die im Kult dargestellt wurden, waren keineswegs schmeichelhaft. Anders als die ohne Sinn für Ironie hergestellten und bestaunten Repliken europäischer Städte oder Bauten in japanischen Kulturparks sind die „schwarzen Bilder vom weißen Mann“, die sich im hauka-Kult wiederfinden, keinesfalls um Authentizität bemühte Spiegelbilder des Anderen.11 Sie stellen vielmehr Kommentare, Kritiken, Karikaturen und gewollte Verzerrungen des Anderen dar. Die hauka-Protagonisten verkörpern das, was ich an anderer Stelle als den „Groucho-Marx-Typus“ des Narren bezeichnet habe.12 Dies ist ein Typ von Narr, der kein Mitglied eines Klubs sein möchte, welcher jemanden wie ihn selbst als Mitglied aufnehmen würde. Soziologisch gesehen ist dieser Narr ein Underdog. Zumeist stammt er aus einer Gruppe unterprivilegierter Immigranten (wie die Marx-Brothers im Film und in der Wirklichkeit) oder aber aus einer indigenen Gruppe, deren eigene Werte und Glaubensvorstellungen durch eine eingewanderte, aber militärisch, sozial, politisch und ökonomisch dominierende Gruppe erschüttert worden sind, wie dies in vielen Kulturen unter kolonialer Herrschaft zu beobachten war. Die besondere Narrheit und Sprengkraft des Groucho-Marx-Typus besteht nun in dem Umstand, dass er zwar das Verhalten würdevoller Personen imitiert, es dabei aber ins Groteske überzeichnet. Er treibt das stereotype Verhalten und die Etikette der High Society oder der dominanten, aber fremden Kultur solchermaßen auf die Spitze, dass diese sich als absurd und verlogen erweisen. Zeremonie wird als eng verwandt mit der Farce entlarvt. Ordnung wird in Chaos, der gute Geschmack in Absurdität, Pracht in Ruinen und der gesunde Menschenverstand in Wahnsinn überführt. Dieser Meister in der Kunst der imitativen Übertreibung und Karikatur übt mit seinen Handlungen und Worttiraden eine starke soziale oder anti-koloniale Kritik. Aber in seiner Mimesis oder, besser, Meta-Mimesis ist dieser Narr nicht 10 Ähnliche Phänomene der Fremdbesessenheit ließen sich auch in polynesischen „Cargo-Kulten“ wiederfinden; vgl. Peter Worsley: Die Posaune wird erschallen. ‚Cargo‘-Kulte in Melanesien, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1973. 11 Gleiches gilt für die afrikanischen Plastiken, die Julius E. Lips publik gemacht hat (The Savage Hits Back, New York: University Books 1966 [1937]). 12 Zum Groucho-Marx-Typus vgl. Burkhard Schnepel: „Narren: Versuch einer Typologie“, in: Heike Behrend (Hg.), Geist, Bild und Narr. Zu einer Ethnologie kultureller Konversionen. Festschrift für Fritz Kramer, Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft mbH 2001, S. 97-118. 19

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nur ein außen stehender Kritiker und Repräsentant einer zerstörerischen, revolutionären Kraft. Er kommentiert die Werte und Normen eines Klubs vom zweideutigen Standpunkt einer Person, die diese Werte sowohl verachtet als auch internalisiert hat, für die sie sowohl fremd als auch faszinierend und begehrenswert zugleich sind.

Zwischenstopp Der hauka-Kult, aber auch die etwas gradliniger und schmeichelhafter daher kommende Authentizitätssuche von Chinesen, Indern und Japanern können einige Einsichten bezüglich der Orientalismus-Problematik vermitteln. Said interessierte sich ja vor allem für den Nahen und Mittleren Osten; man könnte sagen (unter Einbezug Ägyptens): für die „biblischen Länder“, wäre da nicht der Umstand, dass ihn die islamische Welt weit mehr als die christlich-jüdische Bevölkerung dieser Länder beschäftigte. Said hat für diese Fokussierung auf den arabisch-islamischen Nahen und Mittleren Osten gute Gründe gehabt, repräsentiert doch diese „Re(li)gion“ für ihn historisch die Schnittstelle, an welcher der Westen unmittelbar auf den Osten trifft und an welcher das Abendland folglich das Morgenland als erstes zu dominieren suchen musste. Vor diesem Hintergrund deuten die bisher vorgestellten Wegmarken auf einige Said’sche Lakunen, zunächst in einer auf Regionen bezogenen Sicht: China, Japan, Indien oder Afrika tauchen bei Said gar nicht oder nur am Rande auf. Mittlerweile ist zu diesen Räumen natürlich einiges vorgelegt worden. Man denke nur an Indens Studie Imagining India13 oder an den von Breckenridge und van der Veer herausgegebenen Sammelband Orientalism and the Postcolonial Predicament,14 der sich ebenfalls auf Südasien konzentriert. Aber das Studium von „Orientalismen“ ist in Hinsicht auf außer-islamische Regionen wie auch auf islamisierte Regionen außerhalb des Nahen und Mittleren Ostens durchaus noch ausbau- und vertiefungsfähig. Ein weiteres, stärker zeitlich als räumlich gelagertes Feld ist das des Orientalismus in postkolonialer Zeit. Inwieweit, in welchen neuen Formen, mit welchen Kontinuitäten, aber auch Brüchen und in welchen neuen Feldern der Interaktion leben „Orientalismen“ weiter, oder eben auch nicht? Selbstverständlich war für Said, einen in den USA der bewegten sechziger, siebziger und achtziger Jahre lebenden und lehrenden 13 Ronald B. Inden: Imagining India, Oxford: Blackwell Publishers 1990. 14 Carol A. Breckenridge/Peter van der Veer (Hg.): Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1993. 20

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Palästinenser, die postkoloniale Situation (besonders die im Nahen Osten) eine Sache von äußerster Wichtigkeit. Und auch in Orientalism widmet er das dritte Kapitel seines Buches dem Thema „Orientalism Now“, wobei allerdings nur der vierte Abschnitt dieses Kapitels mit dem Titel „The Latest Phase“ tatsächlich in die Gegenwart hineinreicht.15 Aber hinsichtlich der Gegenwart gibt es in der Orientalismus-Forschung großen Nachholbedarf. In gewisser Weise wird dieses Feld erst ergiebig untersucht sein, wenn keine neuen Formen und Felder des Orientalismus mehr hervorgebracht werden. Doch das ist wohl nicht zu erwarten; das Stichwort New Orientalism bringt es gegenwärtig beispielsweise auf über eine halbe Million Google-Einträge. So ist diese von Said als „latest“ bezeichnete Phase keineswegs auch die letzte Phase des Orientalismus. Dennoch haben mit dem Ende der kolonialen Ära zweifellos massive Veränderungen stattgefunden, die, wie beim Neo- oder Postkolonialismus selbst, oft nur schwer in ihren komplexen, wechselhaften und opaken neuartigen Hegemonien und Machtverhältnissen zu fassen sind. Die bisher genannten Wegmarken haben entweder eine Übergangsphase aus der kolonialen in die postkoloniale Situation bezeichnet oder aber Situationen von unabhängigen Staaten, die mittlerweile in wirtschaftlichen oder sogar politisch-militärischen Belangen recht erfolgreich sind. Dabei „schlagen“ diese Staaten vielleicht nicht zurück, aber sie haben ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ein immer stärker werdendes Wissen über ihre eigenen, auch sozio-kulturellen und intellektuellen Kapazitäten und Identitäten entwickelt. Die Bewegungen von Menschen, Ideen, Modellen, Technologien und Vorurteilen, die wir bislang „markiert“ haben, führten dabei, im Unterschied zum Saidschen Paradigma, ganz offensichtlich nicht „from the West to the Rest“, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Dass diese postkolonialen Bewegungen aus dem Osten in den Westen dabei auf keinen Fall als reine „Umkehr“-Bewegungen zu verstehen sind, wurde bereits betont, aber man muss einen Schritt weiter gehen: Auch der „klassische“ Orientalismus des kolonialen achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, den Said und andere so stark im Visier hatten, war keineswegs immer eindeutig von hierarchischer Dichotomie, Hegemonie und „Einbahnstraßen“-Verkehr geprägt. In gewisser Weise hat der Orient schon immer „geantwortet“, wenngleich des Öfteren mit leiser, nicht wahrgenommener Stimme oder, wie die hauka, auf subalterne, von allen Seiten nicht verstandene Weisen. Zudem hat der Orient die auf ihn projizierten

15 Edward W. Said: Orientalism, London: Penguin Books 1978, S. 199-328 bzw. S. 284-328. 21

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orientalistischen Imaginationen, die keinesfalls immer und zwangsläufig negativ und auf Dominanzerzeugung ausgerichtet waren, zuweilen auch positiv rezipiert und in eigene Stärke umzuwandeln verstanden.

Wegmarke 4 Das Antirassistisch-Interkulturelle Informationszentrum Berlin e.V. schreibt: „Die Ursprünge des Orientalischen Tanzes liegen in Zentralafrika vor mehreren tausend Jahren. Dort wurde er als Geburts-, Initiations- und Fruchtbarkeitstanz praktiziert. […] Das Volk der Pygmäen brachte den Tanz nach Ägypten an den Hof des Pharaos (ca. 1554-1069 v. Chr.), wo er zum öffentlichen Schautanz wurde. Die Ägypterinnen erlernten den Tanz von ihren Sklavinnen und entwickelten aufgrund der durchsichtigen Schleier, die sie dazu trugen, eine herausragende Körper- und Kosmetikkultur. Von Ägypten aus verbreitete sich der Tanz nach Asien, Nordafrika, Spanien und Rom. Heute sind deshalb Einflüsse aus dem Indischen, Persischen und den Zigeunertänzen im Orientalischen Tanz enthalten.“16 Dahingegen und wohl zutreffender behauptet der Arabist Andreas Pflitsch in einem Feature des Deutschlandradio Kultur im Jahr 2007: „Die orientalistischen Klischees des Westens sind dann in der arabisch-islamischen Welt zu einem Großteil wiederum aufgenommen und angenommen worden. Ein frappierendes Beispiel für die Übernahme ist der orientalische Bauchtanz, der in dieser Form, wie wir ihn heute kennen, eher das Produkt europäischer Varietés ist und war und inzwischen aber, auch gerade in den Hochburgen des Tourismus der arabischen Welt, als ureigene Kultur dargestellt und geboten wird. Der Bauchtanz wurde, so wie wir ihn heute kennen, in Europa erfunden und ist selber nur ein Ausdruck vom lasziv-weiblichen Orientalismus.“17 Mit dem Bauchtanz haben wir ein Phänomen aufgegriffen, das eindeutiger in den von Said vorgegebenen Problembereich einzuordnen ist. Wir bewegen uns mit dieser Wegmarke endlich von West nach Ost (und mit Said charakteristischerweise in den islamisch geprägten Nahen Osten) und sehen, wie westliche Imaginationen über den Orient dort Fuß fassen konnten, wie diese Phantasien und Imaginationen mithin den Orient ori-

16 ARiC Berlin e.V. „Orientalische Kultur in Berlin“, http://www.aric.de/ fileadmin/users/aric/PDF/bln_intkult_orient.pdf vom Februar 2008, S. 3. 17 Rolf Cantzen: Forschung und Gesellschaft 21.06.2007. „Der Islam hat den Orient ermordet…“. Neue kulturwissenschaftliche Studien zum Orientalismus, http://www.dradio.de/download/68536/, S. 13. 22

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entalisierten.18 Dabei eröffnen sich mit dem Bauchtanz aber auch einige von Said nicht oder nur unzureichend wahrgenommene und behandelte Aspekte. Zum einen können wir am Beispiel des Bauchtanzes erahnen, mit welch großer Energie orientalistische Vorstellungen des Westens über den Orient von Orientalen selbst aufgenommen und zu einem eigenen, positiv gewerteten Kulturerbe gemacht wurden und werden. Solche Aneignungsprozesse und Nostrifizierungen spielen folglich eine wichtige identitätspolitische Rolle; denn Auto-Orientalisierungen resultieren für indigene Akteure nicht unbedingt und immer in einer Art Überfremdung, sie können unter Umständen auch zu einem gesteigerten sozio-kulturellen Selbstbewusstsein und gar zu empowerment führen. So kann sich aus Fremd-Orientalisierung zunächst Auto-Orientalisierung, dann ein emergenter Orient und schließlich emergente Authentizität entwickeln.19 Des Weiteren eröffnet uns diese Wegmarke ein stärkeres Bewusstsein für Bereiche der Orientalisierung oder, neutraler formuliert, für Gebiete des interkulturellen Kontakts und Austauschs, die ihre volle Wirkung erst in einer postmodernen Welt entfalten, welche durch die „neuen Medien“ global vernetzt ist. Dies sind die Bereiche von Entertainment und Infotainment, von Sport und kultureller Performanz, von identitätspolitisch aufgewertetem Kulturerbe sowie von Freizeit und Tourismus, dem weltweit umsatzstärksten Wirtschaftszweig, in dem für all diese Bereiche Geld ausgegeben wird, ja, der sie durch seine finanziellen Mittel oft erst hervorbringt oder zumindest ermöglicht.20 Ein weiterer Aspekt der Diskursformation „Orientalismus“, der von Said nur am Rande verfolgt wurde und der uns im Bauchtanz auf unmittelbare Weise sinnfällig wird, bezieht sich auf Geschlecht und Sex. Dabei geht es nicht allein um die These, dass der Westen orientalische 18 Hierzu vgl. auch Reinhard Schulze: „Schauspiel oder Nachahmung? Zum Theaterbegriff arabischer Reiseschriftsteller im 19. Jahrhundert“, in: Die Welt des Islams 34 (1994), S. 67-84, hier S. 79-80, sowie Anthony Shay/ Barbara Sellers-Young (Hg.): Belly Dance: Orientalism, Transnationalism and Harem Fantasy, Costa Mesa, California: Mazda Publishers 2005. 19 Eine ähnliche Entwicklung ließe sich über den balinesischen Tanz berichten. S. u. a. Michel Picard: Bali. Tourisme culturel et culture touristique, Paris: Editions L’Harmattan 1992, und Shinji Yamashita: Bali and Beyond. Explorations in the Anthropology of Tourism, New York, Oxford: Berghahn Books 2003. 20 Zum Konnex von Kulturerbe und Tourismus s. Edward M. Bruner: Culture on Tour: Ethnographies of Travel, Chicago, London: The University of Chicago Press 2005; Tim Edensor: Tourists at the Taj. Performance and Meaning at a Symbolic Site, London, New York: Routledge 1998; Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture: Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley: University of California Press 1998. 23

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Frauen sinnlich und erotisch findet und dass er sich den Orient auch über seine Frauen aneignen will. Nein, der gesamte Orient, auch dessen männlicher Teil, wird feminisiert. Er bildet in orientalistischen Imaginationen das sich passiv hingebende, weibliche Gegenstück und die Ergänzung zum männlich-dominanten, erobernden Okzident:21 Bauchtanz als Männerphantasie, und wohl nicht nur westlicher Männer. Schließlich lässt sich im Zusammenhang mit dieser Wegmarke eine große Herausforderung für die Orientalismus-Forschung identifizieren, die aufgrund der Tatsache, dass sie leicht als politisch unkorrekt abgestempelt werden könnte, von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bislang kaum angenommen wird. Sind nicht einige der Orientalismen auch positiv gemeint und als solche zu werten? Dabei geht es nicht darum, dass man, wie oft geschehen, zwischen einem „guten Orient“22 und einem „schlechten“ oder „bösen Orient“23 unterscheidet.24 Positiv, vielmehr in dem generelleren Sinne, dass Vorstellungen über den Orient eben auch in Bereiche von Phantasie und Kreativität führen, die nicht unbedingt von Xenophobie geprägt sein müssen, sondern die vielmehr positiv befreiend und schöpferisch wirken und dabei das orientalische Andere mit all seinen Qualitäten und Anreizen anerkennend aufnehmen und produktiv weiter weben. Dies heißt nicht, die Doppeldeutigkeit – tremens und faszinans zugleich – vieler orientalistischer Phantasien, wie die des Bauchtanzes, zu verkennen; allein es gilt, auch die andere Seite in die Deutung einzubeziehen.

Verschlungene Wege Was haben wir soweit an „verschlungenen Wegen“? Wie lassen sich diese ständigen Hin-und-Her-Bewegungen zwischen Okzident und Orient systematischer fassen? Alles in allem gibt es rein logisch gesehen 21 Feministische Auseinandersetzungen mit Saids Orientalism finden sich in Clare Midgley: Gender and imperialism, Manchester: Manchester University Press 1998, und Meyda Yeºenoºlu: Colonial fantasies: Towards a feminist reading of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 1998. 22 Meist das buddhistisch-hinduistische Indien, oder noch weiter östlich gelegen, oder gar nur ideell. 23 Immer der Islam, zuweilen auch der real erlebte Orient, im Gegensatz zum lediglich imaginierten. 24 Julie Marcus hat darauf hingewiesen („Orientalism“, in: Paul Atkinson et al. (Hg.), Handbook of Ethnography, Los Angeles et al.: Sage Publications 2007 [2001], S. 109-117, hier S. 113-114), dass auch ein liberaler, weltaufgeklärter Humanist wie Claude Lévi-Strauss solch einer wertenden Unterscheidung zwischen „gutem“ und „schlechtem Orient“ anheimfällt (Traurige Tropen, Frankfurt: Suhrkamp 1978 [1955]). 24

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acht Formen der gegenseitigen Beeinflussung von Orient und Okzident: a) die Fremd-Orientalisierung des Orients25 (bspw. Wegmarke 4); b) die Auto-Orientalisierung des Orients (auch Wegmarke 4); c) die FremdOkzidentalisierung des Okzidents (Wegmarken 1 und 2); d) die AutoOrientalisierung des Okzidents;26 sowie e) die Auto-Okzidentalisierung des Okzidents (um die es eigentlich immer geht, wenn man das vermeintlich Andere zur Reflektion über das Eigene und zu dessen Konstitution benutzt). Hinzu kommen noch als f) und g) die Fremd- und AutoOkzidentalisierungen des Orients (Phänomene, die heute vielfach unter dem Begriff „Globalisierung“ diskutiert werden) sowie h) schließlich die bislang wenig erforschte, nichts desto trotz faszinierende Fremd-Orientalisierung des Okzidents. Selbstverständlich hängen alle hier analytisch getrennten Spielarten in der gelebten Wirklichkeit eng miteinander zusammen, sind oft gar nicht auseinander zu halten. Wahrscheinlich ist sogar alles viel besser zu begreifen, wenn wir die Analysen von Orientalismen über die in ihnen so markant operierenden Dichotomisierungen hinaus ausweiten. Was uns in der Praxis begegnet – in kolonialen wie in postkolonialen Zeiten – ist besser als eine permanente Zirkulation und ein ständiger Austausch von Waren, Menschen, Ideen, Modellen, Technologien, Ideologien, Dingen, Tieren, Krankheiten, sozialen und kulturellen Energien, politischrechtlichen Konzepten, Finanzen, Organisationsmodellen und anderem mehr zu verstehen. Diese Bewegungen sind durch permanente (nostrifizierende, aber auch ablehnende) Translationen von Bedeutung und Funktion des Zirkulierten gekennzeichnet. Anfangs- und Endpunkte dieser Bewegungen sind dabei kaum noch auszumachen, ja sie existierten wohl als solche nie eindeutig. Das heißt aber nicht, dass Anfang und Ende keine Rolle spielen. Im Gegenteil, sie tun dies in einem zunehmenden Maße, weniger in einem neutralen historiographischen Verständnis als in rechtlichen, ökonomischen, politischen und auf Identität bezogenen Auseinandersetzungen der involvierten Akteure mit Bezug auf Urheber-

25 Mit „fremd“ meine ich im Folgenden, wenn „agency“ auf der jeweils anderen Seite des Paares liegt, also in diesem Fall, wenn die Orientalisierung des Orients durch den Okzident betrieben wird. 26 Man nehme beispielhaft Goethes Forderung: „Wollen wir an diesen Produktionen der herrlichsten Geister teilnehmen, so müssen wir uns orientalisieren, der Orient wird nicht zu uns herüberkommen“ (Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, Band 3, Berliner Ausgabe, Berlin 1979, S. 355); vgl. auch Reinhard Schulze: „Orientalism. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident“, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, S. 45-68, hier S. 52-56. 25

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fragen, Copyrights, Patentrechte, geistiges Eigentum, „intangible property“ oder „heritage“. Auch sind diese Bewegungen nicht in einem a-historischen Sinne zyklisch – verstanden als ewige Wiederkehr des Immergleichen –, sondern sie entwickeln dynamische Spiralen der (Fort-)Bewegung und Veränderung. Und selbstverständlich sind sie nicht a-politisch; denn diese Bewegungen finden in ungleichen Macht-, Autoritäts-, und Respektverhältnissen statt. Sie spiegeln und verstärken diese Ungleichheiten, oder aber sie streben mehr oder weniger erfolgreich danach, diese zu verändern oder gar zu beseitigen. Alles in allem gilt es also, sich selbst in einer Analyse und Kritik der vorgefundenen Orientalismen von einem allzu platten dichotomischen, statischen und essentialisierenden Verständnis des Verhältnisses zwischen Ost und West zu verabschieden. Gleichzeitig muss aber auf diesem komplexeren dynamischen und dialektischen Hintergrund der Sachlage weiterhin dafür die Aufmerksamkeit geschärft und im Detail aufgezeigt werden, dass und wie orientalistisches Denken und Handeln vorzugsweise mit Polarisierungen, Essentialisierungen und hierarchischen Dichotomien argumentiert und agiert.

Literatur Al-‘Azm, Sadik Jalal: „Orientalism and Orientalism in Reverse“, in: Khamsin: Revue des Socialistes Révolutionnaires du Proche-Orient 8 (1981), S. 5-26, Abdruck in: Alexander Lyon Macfie (Hg.), Orientalism. A Reader, New York: New York University Press 2000, S. 217-238. Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition 1997 [1995]. Breckenridge, Carol A./van der Veer, Peter (Hg.): Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1993. Bruner, Edward M.: Culture on Tour: Ethnographies of Travel, Chicago, London: The University of Chicago Press 2005. Carrier, James G. (Hg.): Occidentalism. Images of the West, Oxford: Clarendon Press 1995. Creighton, Millie: „Consuming Rural Japan: The Marketing of Tradition and Nostalgia in the Japanese Travel Industry“, in: Ethnology 36 (1997), S. 239-254. Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript Verlag 2009. 26

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Edensor, Tim: Tourists at the Taj. Performance and Meaning at a Symbolic Site, London, New York: Routledge 1998. Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan, Band 3, Berliner Ausgabe, Berlin 1979. Hendry, Joy: The Orient Strikes Back. A Global View of Cultural Display, Oxford: Berghahn 2000. Inden, Ronald B.: Imagining India, Oxford: Blackwell Publishers 1990. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: Destination Culture: Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley: University of California Press 1998. Kramer, Fritz W.: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Frankfurt: athenäum 1987. Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt: Suhrkamp 1978 [1955]. Lips, Julius E.: The Savage Hits Back, New York: University Books 1966 [1937]. Lowenthal, David: The Past is a Foreign Country, Cambridge: Cambridge University Press 1985. MacCannell, Dean: The Tourist. A new theory of the leisure class, New York: Schocken Books 1976. Marcus, Julie: „Orientalism“, in: Paul Atkinson et al. (Hg.), Handbook of Ethnography, Los Angeles et al.: Sage Publications 2007 [2001], S. 109-117. Midgley, Clare: Gender and imperialism, Manchester: Manchester University Press 1998. Picard, Michel: Bali. Tourisme culturel et culture touristique, Paris: Editions L’Harmattan 1992. Said, Edward W.: Orientalism, London: Penguin Books 1978. Schnepel, Burkhard: „Narren: Versuch einer Typologie“, in: Heike Behrend (Hg.), Geist, Bild und Narr. Zu einer Ethnologie kultureller Konversionen. Festschrift für Fritz Kramer, Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft mbH 2001, S. 97-118. Schulze, Reinhard: „Schauspiel oder Nachahmung? Zum Theaterbegriff arabischer Reiseschriftsteller im 19. Jahrhundert“, in: Die Welt des Islams 34 (1994), S. 67-84. Schulze, Reinhard: „Orientalism. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident“, in: Iman Attia (Hg.): Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster: Unrast-Verlag 2007, S. 45-68. Shay, Anthony/Sellers-Young, Barbara (Hg.): Belly Dance: Orientalism, Transnationalism and Harem Fantasy, Costa Mesa, California: Mazda Publishers 2005.

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Urry, John: The Tourist Gaze, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 2002 [1990]. Worsley, Peter: Die Posaune wird erschallen. ‚Cargo‘-Kulte in Melanesien, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1973. Yamashita, Shinji: Bali and Beyond. Explorations in the Anthropology of Tourism, New York, Oxford: Berghahn Books 2003. Yeºenoºlu, Meyda: Colonial fantasies: Towards a feminist reading of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 1998.

Internetquellen ARiC Berlin e.V. „Orientalische Kultur in Berlin“, http://www.aric.de/ fileadmin/users/aric/PDF/bln_intkult_orient.pdf vom Februar 2008 Cantzen, Rolf: Forschung und Gesellschaft 21.06.2007. „Der Islam hat den Orient ermordet…“. Neue kulturwissenschaftliche Studien zum Orientalismus, http://www.dradio.de/download/68536/ „ITB in Berlin. Besuch bei den Nachbarn“, http://www.zeit.de/reisen/ 2010-03/reisetrends vom 12.3.2010.

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Der Kulturbegriff Edward Saids FRITZ W. KRAMER

Edward Said war politischer Publizist und Kulturpolitiker, Musikkritiker und Pianist, Literat und komparatistischer Literaturwissenschaftler. In akademischen Kreisen wurde er durch seine Orientalismusschrift bekannt, in der gebildeten Öffentlichkeit als Freund Daniel Barenboims und Mentor des West-Östlichen Diwan Orchesters. In politischer Hinsicht konnte er als gefährlicher Aktivist gelten, in kultureller als Konservativer, der Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts verteidigte, die Avantgarden der Moderne aber ignorierte. Nur das Kernstück aller Bewahrung des Überkommenen, die Idee einer Kontinuität ererbter Traditionen, war ihm gänzlich fremd. Als palästinensischer Araber und protestantischer Christ unter britischer Herrschaft in Jerusalem geboren und in wohlhabenden Verhältnissen in Kairo aufgewachsen, eignete er sich im Elternhaus und in der Schule die Grundlagen europäischer Bildung an, durch die er sich zugleich der Sprache und Kultur seiner Umwelt entfremdete. Später fühlte er sich in der arabischen Gesellschaft ebenso out of place wie in Amerika, wo er studierte und als Autor und Hochschullehrer Karriere machte. Er begriff sich selbst als „viele verschiedene Dinge und Personen, nicht als kohärente, einheitliche Person“. Die Dissonanzen, Spannungen und Widersprüche, in denen er lebte, wollte er aushalten, nicht mildern, aufheben oder leugnen. In seiner langen Leidenszeit – er unterzog sich wiederholt langwierigen Therapien gegen seine zuletzt tödliche Leukämie – wurde ihm Schlaflosigkeit zu einem

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„hoch geschätzten Zustand“, in dem er sich selbst gelegentlich als ein „Gewirr fließender Strömungen“ erlebte.1 Said hat es seinen Lesern nicht leicht gemacht, sich in seinem widerspruchsvollen Werk zu orientieren. Die Arbeit an Definitionen und Begriffen hielt er für kleinlichen Streit; theoretische und methodologische Klärungen interessierten ihn wenig; und Positionen, die er einmal bezogen hatte, konnte er unvermerkt mit anderen vertauschen. So behauptete er, Denkern wie Marx oder Freud stets Respekt entgegengebracht zu haben, obwohl er Marx zuvor ohne Einschränkung als „Orientalisten“ verurteilt und abgetan hatte. Oder er bekannte sich einmal zur Kultur des 19. Jahrhunderts und ein anderes Mal zur Aufklärung, ohne darin einen erklärungsbedürftigen Widerspruch zu sehen. Einerseits behauptete er, die europäische Kultur sei in der Kolonialzeit vollständig in imperialistischen Ambitionen befangen gewesen, andererseits warf er ihr vor, nach dem Ende der Kolonialreiche den Glauben an die Widerstandskraft und das Emanzipationspotential der Kultur verloren zu haben. Oder er hielt Foucault vor, sich „der Untersuchung und Kultivierung des Selbsts“ zu widmen und „Narrative mit einem ermächtigenden Anfangspunkt und einem rechtfertigenden Ziel“ als nicht länger adäquat zu verwerfen. Nur zog er daraus nicht die Konsequenz, dann auch seine eigenen Ansichten über den Orientalismus, die sich doch aus der Anwendung von Foucaults Diskursanalyse ergeben hatten und beinahe ganz von ihr abhängig sind, zu überdenken und wenigstens teilweise zu revidieren. Seine Schriften und noch mehr seine mündlichen Stellungnahmen in Interviews, oft überraschend, immer entschieden und unmittelbar, zeugen zudem von einem Hang zu Polemik und grandiosen Übertreibungen, die den beflissenen Leser ratlos zurücklassen. So glaubte er „ohne Übertreibung“ erklären zu können, dass die Befreiung als intellektuelle Mission, geboren aus „Widerstand und Opposition gegen die Einschränkungen des Imperialismus“ von der sesshaften, domestizierten Kultur auf die „unbehausten, dezentrierten, exilischen Energien“ übergegangen sei, deren Inkarnation der Migrant und deren Bewusstsein „der Intellektuelle und Künstler im Exil“ ist. Postmodernisten, Dekonstruktionisten, Pragmatisten und Sprachanalytiker – die ganze „intellektuelle Klasse“ des Westens – hatten dagegen versagt und sich am „Krieg gegen den Terror“ mitschuldig 1

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Edward W. Said: Out of Place: a Memoir, New York: Alfred A. Knopf 1999; dt. Übersetzung (Meinhard Büning), Am falschen Ort, Autobiografie, Berlin: Berlin-Verlag 2000, dort besonders S. 449f.; vgl. auch ders.: Culture and Resistance. Conversations with Edward W. Said, Cambridge, Mass.: South End Press 2003; dt. Übersetzung (Michael Schiffmann), Kultur und Widerstand. David Barsamian spricht mit Edward W. Said über den Nahen Osten, Zürich: edition 8 2006, dort besonders S. 168.

DER KULTURBEGRIFF EDWARD SAIDS

gemacht. Sie hatten das „eigentliche Ziel“ aus den Augen verloren, „das Rendezvous mit dem Sieg“ – die Metapher stammte von Aimé Césaire –, „zu dem sämtliche Menschen, die für Freiheit, Emanzipation und Aufklärung kämpfen, zusammenkommen.“2

Die Kultur der Aufklärung und ihre „kontrapunktischen“ Lesarten Manchmal machte Said sich eine Argumentationsweise zunutze, die eine extrem holistische Auffassung von Kultur voraussetzt, aber nie so konsequent wie in seiner Anklageschrift gegen den Orientalismus. Dort setzte er nämlich die eher randständige Stilrichtung in der Malerei, Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts, die man gewöhnlich als „Orientalismus“ bezeichnet, in Eins mit dem wissenschaftlichen Studium der Sprachen und Kulturen Asiens und besonders des Nahen und Mittleren Ostens, deren Vorläufer und Gründer sich ebenfalls „Orientalisten“ genannt hatten. In dieser Sicht hatte die Orientalistik die ausschweifenden Phantasien trivialer Romane, schwülstiger Malereien und sensationslüsterner Reiseberichte lediglich in graue Prosa gekleidet. Wenn sie dem Orient eine eigentümliche „Mentalität“, einen einheitlichen „Charakter“ und eine jahrtausendealte „Identität“ unterstellte, die jede Entwicklung und jeden historischen Wandel vereitelt hatte, verlieh sie dem märchenhaften Morgenland der Schriftsteller die Autorität fundierter Kenntnisse; und wenn sie ihm „Sinnlichkeit“ und „Despotismus“ bescheinigte, reproduzierte sie die schwüle Erotik der Maler, die den Bourgeois mit demütigen, nackten Odalisken und blutrünstigen Tyrannen ergötzt hatten. Diese beinahe unbewussten, unantastbaren Topoi bestimmten in immer neuen Abwandlungen und doch mit erschreckender Gleichförmigkeit das imperiale Wissen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Sie überdauerten die Erkenntnisse der Orientalisten bei der Erforschung von Sprache, Literatur, Geschichte, Religion und Gesellschaft und sogar den sonst so dramatischen Untergang der europäischen Kolonialreiche. Denn statt der Maler und Schriftsteller bedienten sich nun Filmregisseure und Journalisten in der Requisitenkammer des Orientalismus, wenn sie Araber als lüstern, blutrünstig, intrigant, sadistisch und verräterisch darstellten, als Kameltreiber, Sklavenhändler und Geldwechsler oder ihre Individualität im Bild eines rasenden Mobs auslöschten. Und statt des europäischen Orientalisten, der Arabisch, Türkisch und Persisch gelernt

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Ebd., S. 162, 166; Edward W. Said: Culture and Imperialism, New York: Knopf 1993, S. 332. 31

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hatte, trat nun der amerikanische social scientist auf, der sich nicht erst mit dem Studium von Fremdsprachen aufhielt, sondern seine Wissenschaft sogleich anwandte. Auch in seiner Version erschien der „Orient“ als unterentwickelt, inferior und konfus, als absoluter und systematischer Gegensatz des rationalen Westens – die alten Topoi in neuem Jargon, die koloniale Mission als Projekt der Kontrolle durch Forschung, Entwicklung und Pazifikation.3 Der orientalistische Diskurs stand zwar keineswegs in unmittelbarer Beziehung zu „politischer Macht in ihrer rohen Form“, seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts aber politisch, intellektuell, kulturell und moralisch unter dem Eindruck und dem Diktat eines ungleichen Machtverhältnisses. Seine Topoi entsprangen nicht etwa korrigierbaren Irrtümern, sondern dem imperialen Stil, den Orient zu dominieren, ihn umzustrukturieren und Autorität über ihn auszuüben. Sein vorgeblicher Gegenstand war „beinahe eine europäische Erfindung“, ein Produkt und ein Spiegel der Herkunftskultur der Orientalisten, durchgehend geprägt durch die Interessen, die Sprachen und die Kultur des Westens, durch ökonomische und soziale Verhältnisse, akademische Institutionen und fachspezifische Überlieferungen. Wer als Europäer oder Amerikaner eine nicht-westliche Gesellschaft studierte, konnte nicht umhin, dies als Europäer oder Amerikaner zu tun. Foucault hatte zwar zu Unrecht bestritten, dass der einzelne Autor für seine Texte verantwortlich ist; als Individuum hatte der Autor sehr wohl die Freiheit, sich gegen den Diskurs zu entscheiden. Gerade deswegen war den Orientalisten ihre Borniertheit anzulasten, ihre Fixierung auf die partikularistischen, ausgrenzenden Momente ihrer Kultur. Einige hatten sich zwar mit dem Gegenstand ihrer Studien identifiziert, aber nur „auf einer gewissen Ebene“, und ein freies Studium anderer Kulturen und Völker setzte uneingeschränkte, vorbehaltlose Identifikation voraus. Daraus folgte aber nicht, dass Wissenschaftler, die nicht aus dem Westen stammten, imstande wären, die Irrtümer und Entstellungen westlicher Forschung zu korrigieren und zu ergänzen oder ihnen gar ein eigenständiges Bild entgegenzusetzen. Denn auch das wäre ja ein „positivistisch verifizierbares Wissen“, zwangsläufig vom Diskurs der Wissenschaft bestimmt und in einer europäischen Sprache verfasst. Der unlösbare Nexus von Wissen und Macht schloss folglich Revision und Rehabilitierung der Orientalistik aus.4 Überblickt man Saids Gesamtwerk, erweist sich die holistische Auffassung von Kultur als vorübergehende Abweichung, zu der ihn sein

3 4 32

Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York: Pantheon Books 1978, besonders S. 203, 206, 287, 296, 290-302. Vgl. ebd., besonders S. 1-3, 7, 11f., 20-27, 202-204, 313-315, 322.

DER KULTURBEGRIFF EDWARD SAIDS

Hang zu polemischen Zuspitzungen verleitet hat. Denn in beinahe allen anderen Zusammenhängen und besonders im Titel seines Hauptwerks Culture and Imperialism setzte er wie selbstverständlich den Kulturbegriff der Aufklärung voraus, mit der er sich durch den unzeitgemäßen Glauben an die befreiende Kraft und universale Geltung der Kultur verbunden wusste. In diesem Sinn unterschied er in seinem Hauptwerk zwischen den Apologeten des Imperialismus, die in ihren trivialen Machwerken die koloniale Situation nur reproduzierten und darüber hinaus nichts zu sagen hatten, und „außergewöhnlichen Schriftstellern und Denkern“ wie Jane Austen, Joseph Conrad, Verdi, Kipling und Camus. Zwar waren auch sie Teil des Imperialismus; sie hatten der europäischen Kultur sogar überhaupt erst die Autorität verliehen, die der „Unterwerfung unterlegener Völker und kolonialer Territorien“ die notwendige Basis gab; und nur der realistische Roman war imstande gewesen, die Gefühlslage zu schaffen, die die „Praxis des Imperiums unterstützte, verfeinerte und konsolidierte“ und so „beinahe unbemerkt ein gesellschaftliches Einverständnis mit der überseeischen Expansion“ aufrechterhielt. Zugleich hatten sie aber ein gegenläufiges Emanzipationspotential bereitgestellt, das auf ungeahnte Weise „zeitliche, kulturelle und ideologische Grenzen“ überschritt und „kontrapunktisch“ – die Metapher spielte auf Bachs Goldbergvariationen an – „aufgrund späterer Entwicklungen ganz andere Werke und Lesarten hervorbrachte“.5 Die Stellung von Werken, die man für gewöhnlich dem Orientalismus zurechnet und trotz gewisser Vorbehalte als „klassisch“ betrachtet, blieb in Saids Sicht zwiespältig. Unter Verdis Opern, die er zutiefst verehrte, störte ihn Aida wegen ihres bizarren, konventionellen Orientalismus;6 und über Flauberts orientalistische Werke – die Voyage en Ÿgypte gehört zu den Hauptangeklagten der Orientalismusschrift – hatte er in Culture and Imperialism kein Wort zu verlieren. Das Emanzipationspotential von Literatur und Musik lag eben nicht etwa in der ästhetischen Virtuosität eines Werks, sondern in seiner Aufrichtigkeit, seinem unwillkürlichen Beitrag zur Aufklärung, selbst wenn es die koloniale Situation nur durch ein vielsagendes Schweigen zu erkennen gab. So hatte Jane Austen in Mansfield Park ausschließlich die Probleme der Autorität und Ordnung auf einem englischen Landsitz im Sinn; die Handlung aber wurde durch die Reise des Hausherrn nach seinen westindischen Besitzungen in Gang gesetzt. Die Wirren, die diese Reise veranlassten – das Verbot des transatlantischen Sklavenhandels und der wirtschaftliche Nie5

6

E. W. Said: Culture and Imperialism, S. 299; ders.: Freud and the NonEuropean, London: Verso 2003; dt. Übersetzung (Miriam Mandelkow), Freud und das Nichteuropäische, Zürich: Dörlemann Verlag 2004, S. 30. S. den Beitrag von Karl-Heinz Kohl in diesem Band. 33

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dergang der Plantagen –, blieben im Dunkeln, nicht aber die Tatsache, dass ihre Schlichtung unerlässlich war, um die häusliche Ordnung wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.7 Joseph Conrad hatte in Heart of Darkness die grauenhaft verzerrte Wirklichkeit im Kongostaat Leopolds II. sogar explizit und ohne irgendeine Beschönigung dargestellt. Doch auch er konnte die Welt der „Eingeborenen“ am Ufer des Flusses nur von außen zeigen, wie sie ein Reisender an Bord eines Schiffes wahrnimmt; und auch er hatte keine Alternative zur zivilisatorischen Mission des Westens gesehen. Man hat ihm deshalb eine entmenschlichende Haltung den kolonisierten Völkern gegenüber vorgeworfen; in „kontrapunktischer“ Lesart hatten postkoloniale Autoren dagegen gerade in Heart of Darkness ein befreiendes Potential entdeckt und in eigenen Werken freigesetzt. Einmal etwa V. S. Naipaul in A Bend in the River, wo der Protagonist von der neuen und nicht weniger grauenhaft verzerrten Wirklichkeit Zaires ein weiteres Mal zur Emigration gezwungen wird; und auf ganz andere Weise Tayeb Salih in der Erzählung Season of Migration to the North, die von einer Reise aus dem Sudan nach England handelt und dies als ein zweites „Herz der Finsternis“ schildert. Naipaul wie Salih setzten bei ihren Lesern die Kenntnis der kolonialen Erzählung voraus, auf die sie sich „kontrapunktisch“ bezogen.8 Und ähnlich fügen sich die großen Narrative des Imperiums in Saids Interpretation Zug um Zug mit neuen Lesarten und einer Vielzahl von Wiederholungen, Abbrüchen und Neueinsätzen zu einem Ensemble voller Gleichklänge, Dissonanzen und Widersprüche, das, wie Gesa Mackenthun bemerkt hat, weniger an eine Bachsche Fuge als an die großen Opern des späten 19. Jahrhunderts erinnert.9 Die gleichsam musikalische Komposition, die das Europäische mit dem Nicht-Europäischen zusammenfügt, hatte den Sinn, dem Imperialismus das politische Potential der Kultur entgegenzusetzen. Dazu konnte die alteuropäische Literatur sich nicht eignen, sondern allein Werke des 19. und 20. Jahrhunderts, die im Wechselspiel mit der kolonialen Expansion entstanden waren. Die nicht-europäischen Schriftsteller, deren Lesarten und Werke ihnen „kontrapunktisch“ entsprachen, waren nicht immer mit den Sprachen und Kulturen ihrer Herkunftsländer vertraut; in jedem Fall sahen sie sich gezwungen, sich ihren Traditionen zu entfremden und „bis zu einem gewissen Grad an der Wiedergewinnung von Formen“ zu arbeiten, die „von der Kultur des Imperiums etabliert 7 8 9

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Vgl. E. W. Said: Culture and Imperialism, S. 80-97. Vgl. ebd., S. 22-30, 211, 265. Vgl. Gesa Mackenthun: „The Literary Presence of Atlantic Colonialism as Notation and Counterpoint”, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 52/4 (2004), S. 331-350.

DER KULTURBEGRIFF EDWARD SAIDS

oder wenigstens beeinflusst oder infiltriert waren“. Das Identitätsgerede postkolonialer Nationalisten, die sich Mut damit machten, Syrer, Iraker, Ägypter oder Saudis zu sein, ohne ihre nationalen Programme kritisch zu überdenken, und die Amerikanisierung oder den Imperialismus beinahe ebenso unkritisch und undifferenziert attackierten, wie die Orientalisten sie selbst, stellte dagegen nur ein Hindernis dar.10 Das bedeutete nicht, dass der Widerstand auf eigenständige Traditionen verzichten musste. Wenn eine Gruppe in ihrer politischen Identität bedroht war, bot die lokale Kultur sich als „Form von Erinnerung“ zum „Kampf gegen Auslöschung und Vernichtung“ an. Angesichts der Gefahr konnten Dichter wie Mahmud Darwisch die „Bilderwelt der koranischen Tradition“ einsetzen, in ihrem Werk die „Sprache des Korans und der Evangelien“ anklingen lassen – sie blieben „dabei dennoch säkular“ und der Tradition der europäischen Literatur verbunden.11 Einen Autor wie Nagib Mahfuz, der sich zwar europäische Formen angeeignet hatte, in seinem Spätwerk aber nicht nur die Sprache und Bilderwelt der Sufis aufgriff, sondern auch ihren religiösen Glauben teilte, erwartet man in Saids vielstimmiger Komposition jedoch vergeblich.

Auerbach und Saids Auerbach Religiöse und literarische Traditionen, die in keiner expliziten Beziehung zur europäischen Kultur der Kolonialzeit stehen, kümmerten Said wenig, obwohl er ihre Existenz gelegentlich ins Spiel brachte. Man kann das am besten an seinem Verhältnis zu Erich Auerbach beobachten, wenn man Auerbachs Werk mit dem Auerbach vergleicht, auf den Said sich so beharrlich bezog wie auf kaum einen anderen Autor. Schon zu Beginn seiner Karriere hatte er Auerbachs Aufsatz Philologie der Weltliteratur in englischer Übersetzung ediert; noch kurz vor seinem Tod schrieb er eine Einleitung zu Mimesis; und selbst die Orientalismusschrift, in der er ausnahmsweise nicht auf Auerbach einging, bezog ihre analytische Kraft nicht zuletzt daraus, dass Said sich Auerbachs Verfahren zunutze machte, nach „Ansatzpunkten“ zu suchen – in diesem Fall waren es die Topoi –, durch die allein es gelingen kann, ein sonst so unüberschaubares Phänomen wie den Orientalismus zu ordnen und zu interpretieren. Man hat sogar geglaubt, Culture and Imperialism als Versuch verstehen zu können, „Mimesis nachzuahmen und aus der Perspek-

10 E. W. Said: Culture and Imperialism, S. 54, 299, 311; 210. 11 E. W. Said: Kultur und Widerstand, S. 139-142. 35

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tive eines Kritikers neu zu denken“.12 Zum Teil erklärt sich diese Wertschätzung sicher aus der Sicht der amerikanischen Komparatistik, die, sonderbar genug, Auerbach zuschreibt, die Fixierung auf die eigene nationale Tradition überwunden zu haben, und ihn neben Leo Spitzer und Ernst Robert Curtius als Vorläufer und Begründer der eigenen Forschungsrichtung ehrt. Said faszinierte jedoch noch mehr, dass Auerbach seine Einsichten auf der Flucht vor dem europäischen Faschismus und als Emigrant in Istanbul gewonnen hatte. Said deutete Auerbachs Exil unter dem Eindruck seines eigenen Geschicks, das ihn umgekehrt von Jerusalem und Kairo nach New York, ins Zentrum imperialer Macht, und dort ebenfalls zur vergleichenden Literaturwissenschaft geführt hatte. Er stellte sich vor, Auerbach sei als Europäer zwangsläufig von all den Ängsten und Phantasien besessen gewesen, die er in seiner Orientalismusschrift aufgedeckt hatte. Demnach musste Istanbul für ihn der Ort des „schrecklichen Türken“ gewesen sein, des „Islam, diese[r] Geißel des Christentums und Verkörperung der bedrohlichen morgenländischen Apostasie“, ein Inbegriff der „äußerste[n] Entfremdung von Europa und den [des] Gegensatz[es] zu ihm, zur europäischen Tradition christlicher Latinität sowie zur vermeintlichen Autorität von Kirche, humanistischer Bildung und kultureller Identität.“ Jahrhundertelang hatten Türkei und Islam „wie ein riesiges, vielgliedriges Ungeheuer“ über Europa gelastet und mit Vernichtung gedroht. Es musste „eine tief berührende und verschärfte Form der Verbannung aus Europa“ bedeutet haben, „[z]ur Zeit des europäischen Faschismus Emigrant in Istanbul zu sein.“13 Auerbachs Istanbuler Briefe an Walter Benjamin und andere Freunde konnte Said zwar nicht kennen, er musste aber wissen, dass die osmanische Kultur von den Kemalisten damals bereits unterdrückt und unsichtbar gemacht worden war. Was Auerbach, der das Leben in Istanbul im Übrigen „bezaubernd“ fand, tatsächlich Angst machte, war auch nicht der Islam, sondern gerade die „Ablehnung aller bestehenden mohammedanischen Kulturüberlieferung“, zusammen mit der „technische[n] Modernisierung im europäischen Verstande“.14 Als Philologe dachte er dabei primär an die kemalistische Schriftreform, die bereits dazu geführt habe, dass arabische, persische und sogar ältere

12 Herbert Lindenberger: „Aneignungen von Auerbach: Von Saïd zum Postkolonialismus“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 357-370, hier S. 364. 13 Edward W. Said: The World, the Text, and the Critic, London: Vintage 1983; zitiert nach Kader Konuk: „Deutsch-jüdische Philologen im türkischen Exil: Leo Spitzer und Erich Auerbach“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 215-229, hier S. 227. 14 Ebd., S. 228. 36

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türkische Texte unzugänglich würden und „kein Mensch unter 25 Jahren mehr irgendeinen religiösen, literarischen oder philosophischen Text verstehen kann, der älter ist als 10 Jahre.“ Auerbach fühlte sich nicht durch das „Andere“ bedroht – dazu wäre er zu sehr Romantiker gewesen –, sondern durch die „Vereinheitlichung und Vereinfachung“ aller kulturellen Unterschiede, durch das, was er die „Internationale der Trivialität“ nannte.15 Auch hat nicht die Erfahrung des Exils, sondern diese Begegnung mit dem rigorosen Modernismus in der Türkei Auerbach zu jener Revision des philologischen Denkens und zu der pessimistischen Abwandlung der hegelschen Geschichtsphilosophie veranlasst, die Said eigentlich aus Mimesis und Philologie der Weltliteratur kennen musste. In Auerbachs Denken waren die Existenz und die Mischung unterschiedlicher sozialer Milieus oder die Begegnung mit „exotischen Völkern“ konstitutiv für den Realismus der Wirklichkeitsdarstellung. Der historische Prozess der Mischung literarischer Stillagen, den er in Mimesis entwarf, war zugleich die allmähliche Absorption und Nivellierung unterschiedlicher sozialer Milieus und vollendete sich in der Moderne, als die exemplarische Darstellung beliebiger Menschen und ihres alltäglichen Lebens möglich wurde. In der Literatur der kolonialen Territorien, die er nur in ihren Anfängen kannte, glaubte er, nichts als eine Vereinfachung und Standardisierung zu erkennen, die darin die moderne, europäische Literatur noch übertraf. Seine Istanbuler Wahrnehmung verallgemeinernd, hatte er sogar den Eindruck, es gebe keine „exotischen Völker“ mehr. Wie er später in Philologie der Weltliteratur schrieb, rechnete er mit einer kulturellen „Standardisierung, sei es nach europäischamerikanischem, sei es nach russisch-bolschewistischem Muster“, wobei ihm dieser Unterschied vergleichsweise gering erschien, wenn man beide mit den islamischen, indischen oder chinesischen Traditionen vergleiche. Er befürchtete, dass die Vielfalt der literarischen Sprachen durch die Ausbreitung weniger, am Ende vielleicht einer einzigen Sprache verdrängt werde. Angesichts dieses unerwartet fatalen Ausgangs der Geschichte sah er, darin Hegel modifizierend, nur mehr die Chance, die „Fülle der Kulturen“ durch die Philologie zu retten. Daraus ergab sich die Aufgabe, „Material aus sechs Jahrtausenden, aus allen Teilen der Erde, in vielleicht fünfzig Literatursprachen“ zu erforschen und zu interpretieren. Nur so konnte es gelingen, die Weltliteratur zu bewahren und

15 Zitiert nach Ursula Link-Heer: „‚Die sich vollziehende Standardisierung der Erdkultur‘ – Auerbachs Prognose“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 307-322, hier S. 309f. 37

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den Menschen als den „mannigfaltigen Hintergrund eines gemeinsamen Geschicks“ bewusst zu machen.16 In Saids Vorstellung verkehrte sich die Sorge des Philologen über das Verschwinden von Sprachen in ihr Gegenteil, nämlich in die Angst vor einer neuen babylonischen Sprachverwirrung. Denn seinen Auerbach hatte das ungewohnte „Wirrwarr“ von Sprachen deprimiert, die er in eurozentrischer Befangenheit für „neu“ hielt, ohne zu ahnen, „daß viele dieser asiatischen und afrikanischen Sprachen älter sind als die europäischen und traditionsreiche Literaturen und Philologien hervorgebracht haben, von deren Existenz seine Generation schlichtweg nichts wußte“. Zugleich verblasste die Sorge um die Vielfalt der Kulturen, die Auerbach mit Malraux, Lévi-Strauss und so vielen anderen Europäern seiner Zeit teilte, zur bloßen Trauer um das Ende einer Epoche – die übliche Furcht älterer Herrn, die überall den Niedergang des Althergebrachten wittern. Auerbach hatte lediglich die Sensibilität besessen, „zu spüren, daß eine neue Epoche anbrach“, darin aber nichts als eine Gefahr gesehen, und zwar insofern als „er begriff, daß ihre Züge und Strukturen eben deshalb fremd sein würden, weil so vieles daran weder europäisch noch eurozentrisch war.“17

Diskursanalyse und Militanz Als Orientalism erschien, 1978, herrschte der Eindruck, Said habe die Diskursanalyse, die damals ihre größten Triumphe feierte, erfolgreich auf ein Gebiet angewandt, das von Foucault selbst nicht beachtet worden war. Das europäische Wissen von der nicht-europäischen Welt schien alle Bedingungen für eine Verknüpfung von Wissen und Macht zu erfüllen. Wie die Orientalistik, so mussten auch Wissenschaften wie Ethnologie, Indologie und Sinologie in die koloniale Expansion verstrickt sein. Sie alle schienen soziale und kulturelle Phänomene ihren Konstruktionen unterworfen und heterogene soziale Gruppen unter griffigen Namen zu Stämmen, Nationen und ganzen Weltgegenden wie dem „Orient“, „Afrika“ oder „Indien“ zusammengefasst zu haben. Im Gegenzug setzte eine Flut von Kritiken ein. Der Exotismus erwies sich als allgemeine Erscheinung, die sich nur sekundär an die Macht gebunden haben 16 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: A. Francke Verlag 1946, besonders S. 514; ders.: Philologie der Weltliteratur. Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1992 (Bern: A. Francke Verlag 1967), besonders S. 83f., 87f. 17 E. W. Said: Freud und das Nichteuropäische, S. 29. 38

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konnte. Denn die Vorstellungen, die sich Muslime, Chinesen oder Afrikaner von Europa machten, zeugten ja von mindestens ebenso grotesken Fehldeutungen und bizarren Phantasien wie der europäische Diskurs über den Orient. Es fiel auch nicht schwer, die Übertreibungen der Orientalismusschrift zurückzuweisen, ihre naive Epistemologie oder die Behauptung, kein Europäer sei imstande gewesen, sich von den Topoi des Orientalismus zu befreien. Man musste nur an Außenseiter wie Massignon oder Berque erinnern, die sich von der kolonialen Mission abgewandt hatten; an große Gelehrte wie Ignaz Goldziher oder Hellmut Ritter, deren Arbeit Said ignorierte; an die ethnographische Feldforschung; oder an die von Said völlig unterschätzte Philologie, die ihren Sachverstand über viele Generationen im Studium von Texten in asiatischen Sprachen erworben und die engen Grenzen europäischer Fragestellungen und Theorien längst überschritten hatte. Der absurde Determinismus, der Revision und Rehabilitierung des Wissens über andere Gesellschaften kategorisch ausschloss, störte dennoch zuweilen nicht einmal die betroffenen Wissenschaftler selbst; sie wandten sich der Geschichte der eigenen Disziplin zu und lasen ethnographische, islamwissenschaftliche oder indologische Texte nur mehr im Hinblick auf die Auskunft, die sie über den „Diskurs“ und seine Verstrickung mit der Macht gaben. In einer anderen Perspektive gab der engagierte Ton den Ausschlag. Wie Fanon und andere militante Intellektuelle der Dritten Welt war Said ja tatsächlich von der spontanen, unbezwingbaren Kraft des Widerstands und der Revolution überzeugt. Er hatte das Studium des Orientalismus in den späten sechziger Jahren begonnen, in palästinensischer Sicht und mithin in einer Zeit der Verzweiflung, der Empörung und des Aufbruchs; und dieser historischen Erfahrung entsprang der Impetus, der sich die Diskursanalyse zunutze machte, ohne sich um Foucaults eigene Absicht zu kümmern. In der militanten Lesart bedurfte der Angriff auf die Orientalistik keiner ausgewogenen Kritik, er überzeugte vielmehr gerade als vom Zorn diktierte Polemik. Es empörte den Leser ebenso wie den Autor, wenn die Orientalisten die „aktive Hingabe zahlloser Menschen“ verkannten und diffamierten, indem sie das arabische Wort für Revolution etymologisch auf etwas so wenig „Edles und Schönes“ wie das Sicherheben eines Kamels zurückführten. Das verriet ihren „konterrevolutionären Zelotismus“.18 Und wenn es dem Autor fern lag, die Irrtümer der Orientalistik korrigieren zu wollen oder dazu gar Wissenschaftler nicht-westlicher Herkunft aufzufordern, so konnte er damit bei militanten Intellektuellen erst recht keinen Anstoß erregen, glaubten sie doch, längst erkannt zu haben, dass die Traditionen ihrer Herkunfts18 E. W. Said: Orientalism, S. 313-315. 39

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gesellschaften keine Zukunft hatten, noch weniger ein revolutionäres Potential. Inzwischen ist es um Diskursanalytiker und militante Intellektuelle still geworden, nicht aber um Said. Sein Orientalismusbegriff gehört so selbstverständlich zum akademischen Bildungsgut, dass man sich scheut, überhaupt noch von Orient und Orientalistik zu sprechen, während man analoge Begriffe wie Mediterranismus oder Okzidentalismus ohne Erklärung verwenden kann; und sein weniger bekanntes Hauptwerk findet seine Leser und Verehrer nach wie vor unter komparatistischen Literaturwissenschaftlern, in deren Sicht es die globale Gegenwartsliteratur nobilitiert, ohne den Kanon europäischer Werke zu entwerten. Vor allem ist Said aber mehr und mehr zu einem Vorbild für all diejenigen geworden, die allein der modernen, europäischen Kultur universale Gültigkeit zuschreiben, den Hegemonieanspruch des Westens aber vehement bekämpfen.

Literatur Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: A. Francke Verlag 1946. Auerbach, Erich: Philologie der Weltliteratur. Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1992 (Bern: A. Francke Verlag 1967). Barck, Karlheinz/Treml, Martin (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007. Konuk, Kader: „Deutsch-jüdische Philologen im türkischen Exil: Leo Spitzer und Erich Auerbach“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, S. 215-229. Lindenberger, Herbert: „Aneignungen von Auerbach: Von Saïd zum Postkolonialismus“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 357-370. Link-Heer, Ursula: „‚Die sich vollziehende Standardisierung der Erdkultur‘ – Auerbachs Prognose“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 307-322. Mackenthun, Gesa: „The Literary Presence of Atlantic Colonialism as Notation and Counterpoint“, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 52/4 (2004), S. 331-350. Said, Edward W.: Orientalism, New York: Pantheon Books 1978. Said, Edward W.: The World, the Text, and the Critic, London: Vintage 1983; zitiert nach Kader Konuk: „Deutsch-jüdische Philologen im 40

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türkischen Exil“, in: Barck/Treml (Hg.), Erich Auerbach (2007), S. 213-229. Said, Edward W.: Culture and Imperialism, New York: Knopf 1993. Said, Edward W.: Out of Place: a Memoir, New York: Alfred A. Knopf 1999; dt. Übersetzung (Meinhard Büning), Am falschen Ort, Autobiografie, Berlin: Berlin-Verlag 2000. Said, Edward W.: Culture and Resistance. Conversations with Edward W. Said, Cambridge, Mass.: South End Press 2003; dt. Übersetzung (Michael Schiffmann), Kultur und Widerstand. David Barsamian spricht mit Edward W. Said über den Nahen Osten, Zürich: edition 8 2006. Said, Edward W.: Freud and the Non-European, London: Verso 2003; dt. Übersetzung (Miriam Mandelkow), Freud und das Nichteuropäische, Zürich: Dörlemann Verlag 2004.

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Julius Wellhausen und die ‚Kinder Adams‘. Die Aktualität der Orientalisten 1 ÉDOUARD CONTE

In einem Brief vom 5. April 1882 schrieb der berühmte Bibelforscher und Philologe Julius Wellhausen, Ordinarius für Theologie in Greifswald, an den preußischen Kultusminister: „Ich bin Theologe geworden, weil mich die wissenschaftliche Behandlung der Bibel interessierte, es ist mir erst allmählich aufgegangen, daß ein Professor der Theologie zugleich die praktische Aufgabe hat, die Studenten für den Dienst in der evangelischen Kirche vorzubereiten und daß ich in dieser praktischen Aufgabe nicht genüge, vielmehr […] meine Zuhörer für ihr Amt eher untüchtig mache.“2

Hiermit bestätigt er eine frühere Äußerung, nämlich: „Es kommt mir wie eine Lüge vor, dass ich Diener der evangelischen Kirche bilden soll, der ich im Herzen nicht angehöre.“3 So trat Wellhausen von seinem Amt zurück und übernahm 1882 eine außerordentliche Professur für orientalische Sprachen an der Universität

1 2

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Ich danke sehr Frau PD Dr. Cornelia Essner für ihre sorgfältige Lektüre dieses Aufsatzes. Zitiert in Kurt Rudolph: Wellhausen als Arabist. Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 123, Heft 5, Berlin: Akademie-Verlag 1983, S. 11. Brief vom 9. Februar 1879 an Geheimrat Olhausen im preußischen Kultusministerium, zit. in: Rudolf Smend: „Wellhausen in Greifswald“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 78 (1981), S. 141-176, hier S. 167. 43

ÉDOUARD CONTE

Halle und wurde nie wieder Mitglied einer theologischen Fakultät. In Halle, dann in Marburg zwischen 1885 und 1892 und schließlich in Göttingen zwischen 1892 und 1913, wo er zum Nachfolger Paul de Lagardes wurde,4 hat Wellhausen eine reiche Zahl an arabistischen und islamwissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht. Zu denen zählen wir nicht zuletzt Reste arabischen Heidentums5 und Das arabische Reich und sein Sturz.6 Der Leipziger Forscher Kurt Rudolph meinte 1983 in seinem Aufsatz „Wellhausen als Arabist“: „Das entscheidend Neue bei W. war, daß er die Quellenkritik in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückte und sie zur Voraussetzung der historischen Darstellung erhob. […] ‚Unser geschichtliches Interesse‘, meinte Wellhausen, ‚deckt sich gewöhnlich nicht mit dem der Quellen; eben deshalb ist Forschung von nöten.‘7 […] W. ist der Höhepunkt, aber auch der Abschluß der literarkritischen Methode oder Schule. Er hat unübertroffen gezeigt, was sie zu leisten vermag: auf seinen Ergebnissen ist weitergebaut worden, wenn auch mit anderen Problemstellungen und Methoden.“8

Zu Lebenszeiten, ja bis heute ist Wellhausen in heftige Kritik geraten.9 Seine Historisierung der biblischen Quellen sei antisemitisch gefärbt, wie gerade die Hochschätzung seines Ansatzes durch Chamberlain in seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts beweisen solle.10 Ferner sei Wellhausens Fokus auf das vorislamische Arabien bzw. die Umayyaden ein Höhepunkt orientalistischer Missachtung späterer Entwicklungen arabischer Gesellschaften. Rudolph meint dazu lindernd: „Seine Liebe galt nun einmal den Arabern, nicht ihren islamischen Nachfahren, ebenso wie er seine Neigung zu den alten Hebräern gegenüber ihren jüdischen Nachkommen nicht verhehlte. Das alles schloß nicht aus, […],

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Vgl. Julius Wellhausen: „Gedächtnisrede auf Paul de Lagarde“, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mittheilungen aus dem Jahre 1894, Göttingen: Commissionsverlag der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung 1895, S. 49-57. 5 Vgl. Julius Wellhausen: Reste arabischen Heidentums, Berlin, Leipzig: Walter de Gruyter, 1884. 6 Vgl. Julius Wellhausen: Das arabische Reich und sein Sturz, Berlin: G. Reimer 1902. 7 K. Rudolph: Wellhausen, S. 12. 8 Ebd., S. 15. 9 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Klassiker der Theologie 2. Von Richard Simon bis Karl Rahner, München: C. H. Beck, 2005, S. 132ff. 10 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München, 181934. S. auch F. W. Graf: Klassiker der Theologie, S. 133.

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JULIUS WELLHAUSEN UND DIE ‚KINDER ADAMS‘

dass er diese ‚Spätzeiten‘ wenigstens für das Judentum ebenfalls eindrucksvoll darzustellen wußte.“11 Wellhausen selber äußerte sich deutlich weniger vornehm: er konnte den Ritualismus der Priester, die sich das Buch Leviticus ausgedacht haben, schlicht nicht leiden. Was die Folgedynastie der Umayyaden angeht, schrieb er einem Freund: „Zur Hölle mit den Abbasiden. Sie sind vielleicht schon dort!“12 Trotz Wellhausens aufbrausenden Temperamentes darf man bei seiner Behandlung von religionsgeschichtlichen Problemen bewundern, so Rudolph, „wie wenig er von zeitgenössischen ethnologischen oder religionswissenschaftlichen Theorien abhängig ist. Er huldigt weder dem Totemismus, wie ihn sein Freund und Kollege W. R. Smith13 vertrat […] noch dem Animismus E. Tylors14 […] oder Manismus (Ahnenkult-Theorie).“15 Ziel seiner Forschung ist also nicht die Anpassung der Quellen an diese oder jene hypothetische historische Rekonstruktion, sondern „das System der Beziehungen zwischen Mensch und Mensch“ verständlich zu machen.16 Insofern ist Wellhausen als Sozialwissenschaftler zu bezeichnen, und als solcher interessiert er uns heute. In einer 1893 erschienenen Synthese unter dem Titel „Die Ehe bei den Arabern“ schöpft Wellhausen17 aus frühen arabischen Quellen und aus modernen Berichten wie Charles Doughtys 1885 publizierten Travels in Arabia Deserta18 oder Christiaan Snouck Hurgronjes Mekka von 1888-1889.19 Er bezeichnet seinen dichten Text als „eine Nachlese zu der Ernte, die Andere, namentlich WRSmith, gehalten haben.“20 William Robertson Smith war ein eifriger Anhänger des unilinearen Evolutionismus seines Freundes John McLennan. Außer für sein Religion of the

11 K. Rudolph: Wellhausen, S. 10. 12 Zitiert in Robert Irwin: „Oriental Discourses in Orientalism“, in: Middle Eastern Lectures 3 (1999), S. 87-110, hier S. 105. 13 Vgl. William Robertson Smith: Kinship and Marriage in Early Arabia, Cambridge: Cambridge University Press 1885. 14 Vgl. Edward B. Tylor: „The Religion of Savages“, in: The Fortnightly Review 6/31 (1866), S. 71-86. 15 K. Rudolph: Wellhausen, S. 13f. 16 Ebd., S. 19. 17 Vgl. Julius Wellhausen: „Die Ehe bei den Arabern“, in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-AugustsUniversität zu Göttingen 11 (1893), S. 431-481. 18 Vgl. Charles Doughty: Travels in Arabia Deserta, 2 Bde., Cambridge: Cambridge University Press 1888. 19 Vgl. C. Snouck Hurgronje: Mekka, 2 Bde., Haag: Martinus Nijhoff, 18881889. 20 J. Wellhausen: „Ehe“, S. 431. 45

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Semites von 188921 ist Smith als Verfasser eines ambitiösen Kinship and Marriage in Early Arabia22 bekannt. Der Autor übernimmt hier die von Bachofen23 und McLennan24 lancierte Theorie eines archaischen Mutterrechts, das sich in „natürlicher“, vordeterminierter Weise ins Patriarchat verwandele. Die vorislamische Sozialorganisation betrachtete er als Idealtyp des Semitischen. Gleichzeitig meinte er, die einheimische Darstellung verwandtschaftlicher Beziehungssysteme sei als „genealogische Fiktion“ zu verstehen: „The tribal bond all over Arabia […] was conceived as a bond of kinship.“25 „Kinship […] among the Arabs means a share in the common blood which is taken to flow in the veins of every member of a tribe – in one word, it is the tribal bond which knits men of the same group together and gives them common duties and responsibilities from which no member of the group can withdraw.“26

So überzeugt war Smith von den Aussagen seines Freundes McLennan, dass er das Patriarchat als Sieg in einem historisch dokumentierbaren Kampf zwischen Mutterrecht und Vaterrecht deutete. Um die Existenz eines primitiven Matriarchats in Arabien zu beweisen, bediente sich Smith schwacher etymologischer Argumente: „among the Arab tribes we find no small number that refer their origin to a female eponym. Hence it follows that in many parts of Arabia kinship was once reckoned not in the male but in the female line.“27 Trotz seiner wertvollen Deutung arabischer Verwandtschaftsbegriffe wie nasab28 oder raÎim,29 die die synchrone Verbindung von männli-

21 Vgl. William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh: Adam and Charles Black 1889. 22 Vgl. W. R. Smith: Marriage. 23 Vgl. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart: Krais und Hoffmann 1861. 24 Vgl. John Ferguson McLennan: Primitive Marriage: An Inquiry into the Origin of the Form of Capture in Marriage Ceremonies, Edinburgh: Adam and Charles Black 1865. 25 W. R. Smith: Marriage, S. 24. 26 Ebd., S. 27. 27 Ebd., S. 26-27. 28 Der Begriff nasab bedeutet „Genealogie“ oder „(patrilineare) Abstammung“, aber auch „Affinität“ oder „eine aus der Ehe stammende Verwandtschaft“ usw. S. Édouard Conte: „Le pacte, la Parenté et le Prophète: Réflexions sur la proximité parentale dans la tradition arabe“, in: Françoise Héritier-Augé/Élisabeth Copet-Rougier (Hg.), Les Complexités de l’alliance, Volume IV: Économie, politique et fondements symboliques, 46

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chen und weiblichen Aspekten der Konstruktion sozialer Nähe andeuten, bleibt Smith in einem eurozentrischen Verständnis der Blut-Metapher befangen. Jedoch lenkt Smith unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung individueller oder kollektiver Verwandtschaftsverträge wie Adoption durch die Verleihung des Patronyms eines Mannes oder der Milch einer Frau bzw. verschiedene Formen der Verbrüderung.30 Wellhausen hat als Erster gespürt, dass Smiths Beobachtungen eine andere, historisch brauchbare Relevanz fänden, wenn man auf das Axiom einer evolutionär bestimmten Sequenz der Eheformen verzichten würde. Ferner nuanciert Wellhausen Smiths Blutmetapher und liefert damit die Voraussetzungen einer soziologischen Analyse. Araber bezeichnen „Verwandtschaft“ nicht zuletzt als „Nähe“ oder qarÁba. In diesem Sinne schreibt 1900 Wellhausen in einer unterschwellig subversiven „Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs“ unter dem Titel „Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit“: „Der Einheimische kann einem Fremden dauernden Aufenthalt in seiner Sippe gewähren ; durch die Aufnahme in die Sippe ist der Beisasse zugleich im ganzen Stamm nostrificiert. Nicht bloss einzelne Männer, sondern ganze Sippen und Geschlechte können nostrificiert werden ; […] Verwandtschaft und Nachbarschaft wirken zusammen, um den Stamm zu verkitten ; […] Das Blut ist das höhere und stärkere Princip und die Nachbarschaft geht in Bruderschaft über.“31

„Blut“ ist aber nicht als essentielles Prinzip zu verstehen: „das Anrecht des Mannes an die Kinder“, bemerkt Wellhausen, „ist nicht auf die Thatsache oder die Vermuthung gegründet, daß er sie gezeugt hat, sondern darauf, daß ihre Mutter ihm gehört.“32 Besitzen heißt aber nicht unterwerfen, da die Ehe ein Vertrag ist, der gegenseitige Verpflichtungen zwischen Verwandtengruppen voraussetzt. „Sehr verkehrt wäre es [...]“, meint Wellhausen, „sich die arabischen Ehefrauen als unterwürfig vor-

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Paris: éditions des archives contemporaines (‚Ordres sociaux‘) 1994, S. 143-185, hier S. 147-152. RaÎim – vom Stamm RÍM, barmherzig sein – bedeutet buchstäblich „Uterus“, aber auch uterine, allumfassende, ja heilige Verwandtschaft. S. É. Conte: „Le pacte“, S. 152-155. Vgl. W. R. Smith: Marriage, S. 14f., 44f., 51f. und 112f. Julius Wellhausen: Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1900 im Namen der Georg-Augusts-Universität, Göttingen: Dieterich’sche Univ.-Buchdruckerei [1900], S. 4. J. Wellhausen: „Ehe“, S. 457. 47

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zustellen.“33 „Die Menschlichkeit“, fügt er hinzu, „ist [...] durch kein System zu ersticken.“34 Die weiblichen und männlichen Prinzipien schließen sich also nicht diachron gegenseitig aus, sondern interagieren synchron in einem sozialen Feld, das durch die Asymmetrie der Geschlechter sowie zwischen gens differentiell beeinflusst wird. „[N]ur die väterliche Verwandtschaft [ist] politische Verwandtschaft“, unterstreicht Wellhausen.35 Die mütterliche, sprich raÎim – buchstäblich „Uterus“ –, jedoch ist allumfassend.36 Bei der Partnerwahl geht es also nicht darum, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen dem Kind des Vaterbruders und dem der Mutterschwester zu lösen. Ferner wird bei der häufigen Wahl des Vaterbruders Sohn bzw. Tochter, so Wellhausen, „nicht eine eigenthümliche Verwandtenheirath, zwischen Geschwisterskindern von Vaters- aber nicht von Mutterseite empfohlen, sondern vielmehr die Endogamie.“37 Bei der lokalen Endogamie ist die notwendige Ebenbürtigkeit vorgegeben. Die Exogamie wird jedoch nicht nur gestattet, sondern auch oft gewünscht, nicht zuletzt um neue Allianzen zu schließen. Hier tritt das Gebot der Statussymmetrie bzw. Ebenbürtigkeit der Partner – oder kafÁÞa – hervor, das sorgfältig berücksichtigt werden muss: „Eine strenge und allgemein anerkannte Rangordnung der Stämme“, sagt Wellhausen, „gibt es zwar nicht, sie schwankt und wechselt; doch aber ist die öffentliche Meinung darüber, zu einer und derselben Zeit, ziemlich fest ausgebildet.“38 Die exogame Ehepraxis ist also nicht durch eine positive und fixe mutterrechtliche Regel vorgeschrieben, sondern muss in jedem Falle subtil eingeschätzt werden, da „[d]er Sohn einer auswärtigen Frau [...] ein Amphibium [ist]; als Vaterssohn gehört er dem Stamme an, in dem er geboren ist, als Schwestersohn aber dem Stamme seiner Mutter.“39 Die hier zusammengefasste Folge von diesen eng verflochtenen Hypothesen ermöglicht zum ersten Mal eine struktural fundierte Gesamtanalyse verschiedener Varianten arabischer Sozialorganisation in historischer Perspektive. Wellhausens Analyse bekräftigt den Ansatz des berühmten ungarischen Philologen Ignaz (Ignác) Goldziher. Goldziher prägte schon in seinen Muhammedanischen Studien den heute noch gängigen

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Ebd., S. 451. Ebd. Ebd., S. 438. Vgl. Édouard Conte: „Mariages arabes. La part du féminin“, in: L’Homme 154-155 (2000), S. 279-307, hier S. 289-296. 37 J. Wellhausen: „Ehe“, S. 437. 38 Ebd., S. 439. 39 Ebd., S. 477.

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Begriff „Affiliirung“.40 Dieser bezeichnete alle Formen der verwandtschaftlichen Inkorporation, die nicht durch eine schon bestehende agnatische Abstammung legitimiert sind. In diesem Sinne umfasst „Affiliirung“ sowohl die Gewährung von Schutz an Flüchtlinge als die „Einverleibung“ von Ebenbürtigen, die durch ein „feierliches Bündnis entsteht, das die gemeinsame Abstammung ersetzen“ kann.41 Die „orientalistischen“ Vorgänger der anthropologischen Theorie betonen insofern viel mehr als ihre funktionalistischen Nachfolger die strukturale Bedingtheit von Filiation und Affiliation, von Abstammung und Wahlverwandtschaft. Auf diese Weise erkennen sie, dass der soziopolitische Vorrang der agnatischen Deszendenz nicht bedeutet, dass die Verwandtschaft ausschließlich patrilinear verstanden werden kann. Hier treffen sich die Beobachtungen von Orientalisten und islamischen Gelehrten, die, obwohl von ganz anderen Kriterien ausgehend, begriffen hatten, dass es in der sozialen Praxis der Araber keine sogenannte Blutsverwandtschaft ohne Wahlverwandtschaft gibt und umgekehrt. Der Beitrag von Wellhausen ist nicht durch die ausschließliche Brille der Richtigkeit oder Schwäche seiner historischen Thesen zu lesen, sondern im von ihm praktizierten Bruch mit seinerzeit herrschenden Dogmen, der es ihm ermöglichte, neue „Fragestellungen“ zu entwickeln, ein Ausdruck, den er als einer der ersten benutzte. Sein Ansatz ist heute noch insofern gültig, indem er uns eben jene methodologischen Werkzeuge liefert, die die Validität eines Ansatzes konstruktiv zu kritisieren erlauben. Auf dem Felde der historischen Verwandtschaftsstudien ist die Originalität derjenigen, die ihn gelesen und überholt haben, das beste Zeugnis seiner akribischen Kreativität. Bezug nehmend auf „Die Ehe bei den Arabern“, bricht die schwedisch-finnische Forscherin Hilma Granqvist in ihren 1931 bis 1935 erschienenen Marriage Conditions in a Palestinian Village42 definitiv mit evolutionistischen Vorstellungen. Sie erfasst die Ehe als Praxis und Prozess anhand ihres vollständigen Zensus von Artas, einer Lokalität im Westjordanland. Durch eine erweiterte Anwendung der Wellhausen’schen Systematik macht die statistische Vollständigkeit ihres Korpus Phänomene sichtbar, die weder Wellhausen noch ihr darwinistisch inspirierter Meister Edward Westermarck eruiert hatten. Granqvist beschreibt nichts weniger als die Zirkulation von Ehepartnern in einem erweiterten sozia-

40 Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien, Band I, Halle a. S.: Max Niemeyer 1888, S. 40. 41 Ebd. 42 Vgl. Hilma Granqvist: Marriage Conditions in a Palestinian Village, Helsingfors: Societas Scientiarum Fennica 1931-1935. 49

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len Feld, und sie bringt dadurch jenes von Claude Lévi-Strauss43 fünfzehn Jahre später thematisierte Prinzip des Tausches ans Licht, ohne dass sie eine einseitige Regel der unilinearen Deszendenz als analytisch kausal gelten lässt. Granqvist genoss in gewisser Hinsicht die Gnade ihrer „frühen Geburt“ und des Zufalls: hätte sie sich die von Edward Evans-Pritchard44 entwickelte Theorie der kausalen Verbindung der unilinearen Deszendenz, der Exogamie und der Segmentarität zu Herzen genommen, die die imperiale sowie postimperiale britische Sozialanthropologie jahrzehntelang dominieren sollte, hätte sie vielleicht ihre Daten ganz anders gelesen. Wenn sie eine einseitige Wirkung des patrilinearen Prinzips vermutet hätte, hätten die Prinzipien Tausch, Reziprozität und Diachronie leicht ausgeblendet werden können, wie es bei vielen ihrer Nachfolger der Fall war. Was Granqvist durch eine eingehende Ethnographie gelungen ist, hat Gertrude Stern, eine andere Wellhausen-Kennerin, als Philologin auf dem Feld der historischen Anthropologie entwickelt. In ihrer 1939 erschienenen Studie Marriage in Early Islam45 zeigt sie sich auch als völlig abgelöst von evolutionistischen Axiomen und wendet die Wellhausen’sche Methode der Fragestellung an Teilbereichen der Verwandtschaftsbeziehungen an anhand der Schriften der klassischen arabischen Autoren Ibn Íanbal und Ibn SaÝd. Nicht zuletzt unterstreicht sie in Anlehnung an Smith wie auch Granqvist die Bedeutung der selektiven Gabe der Muttermilch für die Gestaltung von Heiratsstrategien, Verboten und Mustern in einem soziopolitischen Feld, was spätere Anthropologen sowie ihre männlichen Informanten oft als ausschließlich agnatisch präsentieren sollten. Ein indirekterer Abkömmling der frühen „Geheimehe“ zwischen Philologie und Anthropologie ist der walisische Forscher Emrys Peters. In einer posthumen Sammlung seiner Aufsätze findet man die Quintessenz einer vergleichenden Lektüre von Smith, Wellhausen, Goldziher, Granqvist und Stern: „while much is made of true descent by the Bedouin, they are in fact speaking of the validity of status connections not of patrilineal consanguinity.“46 In Widerhall zu Goldzihers kurzem Artikel 43 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Les structures élémentaires de la parenté, Paris: Presses universitaires de France 1949. 44 Vgl. Edward E. Evans-Pritchard: The Nuer, Oxford: Oxford University Press 1940, sowie ders.: The Sanusi of Cyrenaica, Oxford: Clarendon Press 1949. 45 Vgl. Gertrude Stern: Marriage in Early Islam, London: The Royal Asiatic Society 1939. 46 Emrys L. Peters: The Bedouin of Cyrenaica. Studies in Personal and Corporate Power. Hg. Jack Goody/Emanuel Marx, Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 46. 50

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von 1893 „Die Fiktion der Blutsverwandtschaft bei orientalischen Völkern“47 führt Peters weiter aus: „Essentially, agnation has little to do with kinship. Its bonds are political, and they bind together – for certain purposes only – a corporation of men conceptually endowed […] with a fiction of kinship but among whom are included consanguineously unrelated males. […] Agnation is a denial of choice, and the enforcement of duties […] [whereas] [a]ffinity retains its frailty until the birth of children turn debt partners into kin.“48

Oder noch deutlicher ausgedrückt: „To speak of the principle of agnation conflicting with the principle of cognation or maternal origin is nonsense.“49 Diese bruchstückhafte Skizze einer konzeptuellen Genealogie einiger hervorragender Geister soll aber nicht als ein reibungsloser Siegeszug der Vernunft präsentiert werden. Die Ideen dieser Forscherinnen und Forscher kamen nicht ohne Schwierigkeiten zur Geltung. Im Gegenteil: Jahrzehntelang wurden sie weitgehend übersehen im breiteren Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese Marginalisierung war nicht nur von theoretischen, sondern auch politischen Gründen bestimmt. Die britische funktionalistische Anthropologie entsprach deutlich besser als die bisher besprochene „Anthropophilologie“ schottisch-preußisch-finnougrischer Prägung den Erwartungen der europäischen Kolonialverwaltungen. Die Ansichten der Funktionalisten zu „tribalen“ bzw. „staatslosen“ Gesellschaften erwiesen sich nolens volens von unmittelbarer Bedeutung für die Kolonialherren. Darüber hinaus boten sie eine sozusagen fertig gekochte wissenschaftliche Legitimierung an für die Praxis der Curzons, der Lugards und der Lyauteys in Sachen divide et impera. Es sei ferner angemerkt, dass die Welt der deutschsprachigen Gelehrten seit dem Verlust von Kronen und Kolonien, die etwa mit dem Tode von Wellhausen (im Januar 1918), Max Weber (im Juni 1920) und Goldziher (im November 1921) koinzidierte, im internationalen Forum der sich dann bekräftigenden Kolonialwissenschaften nun wenig zu melden hatte. Und überhaupt: wer las jetzt noch die Sprache Goethes? Parallel zu diesem Wandel des politischen Umfeldes der Wissenschaft wurden die uterinen Aspekte von Verwandtschaftsvorstellungen und -praxen mit den von Bachofen und McLennan erzeugten matriarchalischen und evolutionistischen Axiomen verschmolzen und vom Blickfeld 47 Vgl. Ignaz Goldziher: „Die Fiktion der Blutsverwandtschaft bei orientalischen Völkern“, in: Globus LXIII (1893), S. 50-51. 48 E. L. Peters: The Bedouin, S. 158, 160, 162. 49 Ebd., S. 109. 51

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ausradiert. Das spätere Emporkommen des synchron orientierten Strukturalismus als pan-sozialwissenschaftliche Übertheorie ab 1950 änderte wenig an der dadurch begünstigten gender blindness. Vor diesem Hintergrund ereignete sich ab 1960, als die kolonialen Reiche ihren Niedergang erlitten, ein äußerst ungünstiger „theoretischer Kurzschluss“: das Zusammenspiel der britischen Theorien von unilinearer Deszendenz und Segmentarität mit der französischen Allianztheorie ließ die berühmte father’s brother’s daughter’s marriage – später als „arabische Ehe“ getauft – irrtümlicher Weise als missing link zwischen einer behaupteten Notwendigkeit der Exogamie und der Vermeidung von Inzest erscheinen. Auf diese Weise wurde der Ehe zwischen den Kindern von Brüdern der Status eines ethnographischen Artefakts zugewiesen. Der „Skandal“ einer in westlichen Augen fast inzestuösen Präferenz in der Partnerwahl wurde als eine „strukturelle Anomalie“ von islamisch geprägten Gesellschaften gesehen. Dieses Artefakt musste an und für sich erklärt werden, anstatt als nur ein Aspekt der Ehepraxis in einem Gesamtsystem gesehen zu werden. In frühen feministischen Schriften wurde die Ehe unter Bruderkindern als Galionsfigur der ewigen „orientalischen Patriarchie“ interpretiert, während Funktionalisten meist männlichen Geschlechts sie mit dem von ihm gezeugten homo segmentarius50 verbrüderten. Das Erforschen von Verwandtenehe kam auf diesem rutschigen Feld der Missverständnisse zum Stillstand, bis die postmoderne Anthropologie dann das „Ende der Verwandtschaft“ sieghaft ankündigte.51 Konnte vor diesem konfliktreichen Hintergrund das Erbe der Orientalisten überhaupt noch wahrgenommen werden? Jenes liegt meines Erachtens in einer begrifflichen Kohärenz, die jenseits der Streitereien der Schulen ihre ganze Gültigkeit behält. Wir erhalten von ihnen einen starken Apparat konzeptueller Werkzeuge: Hierzu zählen die logische Zentralität der Geschwisterschaft, die anhand der Dichotomie zwischen patriund matrilinearer Deszendenz vernachlässigt wurde; die Relativität des Begriffspaares Endogamie/Exogamie; Wahlverwandtschaft als Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung und Anpassung von Abstammungsvorstellungen; ein Begriff von Tausch und Permutation, der nicht der Annahme einer Exogamieregel unterstellt wird; und nicht zuletzt ein Bewusstsein der komplexen Verflechtung von Genderasymmetrie und politischer Hierarchie. Das ist nicht wenig. 50 Vgl. Lila Abu-Lughod: „Zones of Theory in the Anthropology of the Arab World“, in: Annual Review of Anthropology 18 (1989), S. 267-306, hier S. 280ff. 51 Vgl. Édouard Conte/Saskia Walentowitz: „Kinship Matters. Tribals, Cousins, and Citizens in Southwest Asia and Beyond“, in: Études rurales 184/2 (2009), S. 217-248. 52

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Von diesen Begrifflichkeiten ausgehend, können neue Hypothesen entwickelt werden, die die agnatische und die uterine Seite der Verwandtschaft nicht mehr als entgegengesetzte Pole erscheinen lassen, sondern als Komponenten einer diachronischen Relationalität. Versuchen wir nun, diese Perspektive anhand des von Granqvist ins Licht gebrachten blinden Flecks zu untersuchen, nämlich das Phänomen der Ehe durch synchrone oder verschobene Permutation von Partnern, die arabisch als badal oder tabÁdul bezeichnet wird. Diese oft verschwiegene Praxis darf nicht als Artefakt behandelt werden, sondern muss als sozialer Prozess in ihrer vollen politischen und Gender-Relevanz dargelegt werden. Dies wird uns zu einem palästinensischen Dorf sowie libyschen Beduinenlager führen, von der Schöpfung bis zum Sturze von Saddam Hussein.

Vignette 1: Die Lösung Adams Die Geschichte der Erschaffung der Verwandtschaft, wie wir sie von den jeweiligen heiligen Schriften zu kennen glauben, ist, muss man feststellen, unvollständig.52 Erfreulicherweise liefern uns arabische Sammlungen sowie frühe und konkordante jüdische und christliche Texte die Zusatzelemente, die es uns ermöglichen, nachzuvollziehen, wie alles „wirklich gewesen ist“. Die Geschichte aέ-ÓabarÐs,53 923 n. Chr. gestorben, sowie Leben der Propheten von AbÙ IsÎÁq a×-ÕaÝlabÐ,54 1035/1036 n. Chr. gestorben, vermitteln uns die äußerst unheilvolle, aber lehrreiche Geschichte der allerersten Geschwisterpaare: Kain und Abel kamen nicht allein auf die Welt.

52 Vgl. Édouard Conte: „Germanité et filiation de la Genèse au Déluge selon les traditions musulmanes“, in: Pierre Bonte/Enric Porqueres i Gené/Jérôme Wilgaux (Hg.), L’argument de la filiation aux fondements des sociétés européennes et méditerranéennes anciennes et actuelles, Paris: Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme [im Druck]. 53 Vgl. AbÙ ÉaÝfar MuÎammad ibn ÉarÐr aÔ-ÓabarÐ [224-310/829-923]: TaÞrÐÌ ar-rusul wa’l-mulÙk, Leiden: de Goeje 1879, sowie dessen Übersetzung: The History of al-TabarÐ (TaÞrÐkh al-rusul wa’l-mulÙk), Volume I: General Introduction and From the Creation to the Flood, translated and annotated by Franz Rosenthal, Albany: State University of New York Press 1985. 54 Vgl. AbÙ IsÎÁq AÎmad ibn MuÎammad ibn IbrÁhÐm a×-ÕaÝlabÐ [gest. 427/ 1035-1036]: KitÁb ÝArÁÞis al-majÁlis fÐ qiÒaÒ al-anbiyÁÞ, al-QÁhira [o. D.], sowie dessen Übersetzung: AbÙ IsÎÁq AÎmad ibn MuÎammad ibn IbrÁhÐm al-ThaÝlabÐ: ÝArÁÞis al-majÁlis fÐ qiÒaÒ al-anbiyÁÞ or „Lives of the Prophets“, translated and annotated by William M. Brinner, Leiden, Boston, Köln: Brill 2002. 53

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Abb. 1: Adams Lösung

Der ältere Kain hatte eine Zwillingsschwester namens IqlÐmÁ und der jüngere Abel eine Zwillingsschwester namens LabÙÆÁ. Angesichts dieser Situation befindet sich Vater Adam, „nicht in der Lage, die erwünschte ‚Disparität und gegenseitige Fremdheit‘ [unter ihnen] zu bewahren.“55 Da erleuchtet ihn Gott. Die einzige Möglichkeit, um eine exzessive Nähe zu vermeiden, aber die Reproduktion der Generationen trotzdem zu initiieren, lag darin, die Ehe zwischen Zwillingen zu verbieten und die eheliche Permutation der Zwillingsgeschwister zu befehlen. In anderen Worten war das erste Gebot der Verwandtschaft die einige Zeit später von Hilma Granqvist beobachtete badal-Ehe. Wie wir jedoch wissen, rebellierte Kain gegen die Forderung seines Vaters. Er meinte, seine Schwester sei schöner und er habe als älterer Bruder ein Anrecht auf sie. So verweigerte er seinem Vater den Gehorsam, rebellierte somit gegen den Herrn und tötete seinen Bruder. Adam und Eva gaben jedoch nicht auf. Sie gebaren vierzig Zwillingspaare! ÕaÝlabÐ berichtet: „Als Adams Kinder groß wurden, heiratete der Sohn von einer Geburt die Tochter einer anderen Geburt. In jener Zeit konnte ein Mann diejenige Schwester heiraten, die er wollte, mit der Ausnahme seiner Zwillingsschwester, die – zusammen mit ihm geboren – ihm nicht erlaubt war. Dies alles war notwendig, da es in jenen Tagen keine Frauen gab, die nicht Schwester von Männern waren und Eva als gemeinsame Mutter hatten.“56

Wäre Kain dem väterlichen Befehl gefolgt, wären seine Kinder und die seines Bruders Abel bilaterale Kreuzcousins gewesen (s. Diagramm un55 al-MasÝÙdÐ: MurÙÊ aÆ-Æahab, zit. in: Geert Jan van Gelder: Close Relationships. Incest and Inbreeding in Classical Arabic Literature, London: I.B. Tauris 2005, S. 122-123 (Übersetzung des Verfassers). 56 a×-ÕaÝlabÐ: ÝArÁÞis, S. 37, und dessen Übersetzung, „Lives“, S. 74 (Übersetzung des Verfassers). 54

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ten). Ehen unter ihnen hätten die Gefahr des Geschwister-Inzestes vermieden. Jedoch hätten sie keine agnatischen Parallelcousin-Ehen ermöglicht, welche die Weitergabe der prophetischen Linie in männlicher Folge zwischen Adam und MuÎammad hätte aufrecht erhalten können. Geschwister-Paarungen durften jedoch nicht zur Norm werden. In seinem Korankommentar vermittelt ÓabarÐ, des Problems voll bewusst, eine stichhaltige Lösung: „Der Frau wurde verboten, ihren Zwillingsbruder zu heiraten. Sie wurde von einem anderen Bruder geheiratet. Und die Kinder Adams taten dies, bis vier Generationen vorbeigingen. Und dann verehelichte man die Tochter des Bruders seines Vaters, und es hörte auf mit der Ehe unter Geschwistern.“57 Die Vermeidung des Inzests unter Bewahrung der Kontinuität der prophetischen Linie in männlicher Folge verlangte also die sukzessive Kombination eines Verbotes der Ehe unter Zwillingen und die Bevorzugung der Ehen unter patrilateralen Parallelcousins.58

Vignette 2: Granqvists Beobachtungen von badal In ihrem Zensus von Artas stellt Granqvist59 fest, dass ein Viertel aller Ehen nach dem Prinzip der Permutation organisiert werden. Solche können in vielerlei Kombinationen unter Verwandten oder Nicht-Verwandten stattfinden. Zum Beispiel, ein Bruder und seine Schwester heiraten respektive eine Schwester und ihren Bruder: Abb. 2: badal: Bruder-Schwester-Tausch

57 AbÙ ÉaÝfar MuÎammad ibn ÉarÐr aÔ-ÓabarÐ [224-310/829-923]: TafsÐr aÔÓabarÐ. ÉÁmiÝ al-bayÁn Ýan taÞwÐl Áy al-qurÞÁn, al-QÁhira: DÁr al-maÝÁrif biMiÒr [o. D.], 10, S. 223 (Übersetzung des Verfassers). 58 Vgl. É. Conte: „Germanité“. 59 Vgl. H. Granqvist: Marriage Conditions, I, S. 109-119. 55

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In anderen Fällen: x Zwei Brüder heiraten zwei Schwestern. x Ein Mann bietet einem anderen seine Schwester an und heiratet dessen Tochter. x Ein Mann bietet einem Zweiten seine Schwester an; der Zweite bietet seine Schwester einem Dritten an, der wiederum dem Ersten seine Schwester anbietet. x Verboten ist nur, dass zwei Männer ihre respektiven Töchter zur Frau nehmen.60 Die erlaubten Kombinationen können darüber hinaus synchron oder mit Verzögerung durchgeführt werden. Diese von der funktionalistischen Theorie noch unbeeinflussten Beobachtungen ergeben ein komplexes Bild der Heiratspraxis, die alle Formen der Ehe einbezieht, nämlich diejenige unter Verwandten und NichtVerwandten und die badal-Ehen, die die beiden Kategorien untereinander verflechten. Spätere Untersuchungen – bis Peters – haben diese Verbindung übersehen. Einerseits sprechen die Betroffenen kaum davon, da badal keine prestigevolle Praxis ist. Andererseits suchten viele spätere Forscher zu beweisen, dass die behauptete Präferenz für Ehe unter Bruderkindern in statistischer Konformität mit der agnatischen Deszendenzregel stünde, und damit haben sie in aller Ruhe die Mehrheit der Ehen außer Betracht gelassen.

Vignette 3: Die Beduinen von Cyrenaica Nicht so Emyrs Peters.61 In Anlehnung an Smith, Wellhausen und Granqvist versteht er, dass arabische Genealogien sich in den wenigsten Fällen auf einen einzigen männlichen Urahnen beziehen, sondern auf Brüderpaare. Wenn man dann versucht, die Einheit der lokalen Gruppe durch Ehen unter agnatischen Verwandten über mehrere Generationen hinaus zu stärken, wird aus logischen Gründen ein Gegeneffekt produziert. Warum? Weil die Kinder von Parallelcousins per Definition Kreuzcousins sind und die agnatische Nähe von Generation zu Generation sich ausdehnt. Kurzum, die bevorzugte Form der Ehe unter Bruderkindern ist nicht reproduzierbar.62 Hingegen sind die von Kreuzcousins gezeugten 60 Vgl. MÁlik ibn Anas [um 708-716, gest. 795]: al-MuwattÁÝ, al-QÁhira: MaÔbaÝat dÁr aÎyÁÞ al-kutub al-Ýarabiyya [o. D.], S. 535. 61 Vgl. E. L. Peters: The Bedouin, S. 239f. 62 Vgl. Élisabeth Copet-Rougier: „Le mariage ‚arabe‘. Une approche théorique“, in: Pierre Bonte (Hg.), Épouser au plus proche. Inceste, prohibitions 56

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Kinder auch Kreuzcousins. Diese Kontinuität ist unbegrenzt reproduzierbar. Aus diesen logischen Gründen, wie Peters es zeigt, kann die agnatische Verbundenheit einer lokalen Gruppe auf Dauer nur durch badal wiederhergestellt werden. Abb. 3: Eine Permutation von Cousins

Badal ist also nicht eine Form von „Billigehe“, die bloß die Zahlung hoher Brautgaben zu vermeiden erlaubt, sondern eine strukturale Notwendigkeit, wenn man die Illusion der agnatischen Kontinuität aus politischen bzw. Prestige-Gründen bewahren will. Solche Strategien sind auch, wie wir nun sehen werden, in den „besten Familien“ zu beobachten.

Vignette 4: Saddams Heiratspolitik Betrachten wir als letztes Beispiel zwei genealogische Dokumente, die den Widerspruch verdeutlichen zwischen der Repräsentation der politischen Verwandtschaft und den Heiratsstrategien, die zur Machterhaltung verfolgt werden. Die offizielle Genealogie des Saddam Hussein widerspiegelt die Illusion einer reinen Männerwelt.63 et stratégies matrimoniales autour de la Méditerranée, Paris: Éditions de l’EHESS 1994, S. 453-474. 63 Vgl. Amatzia Baram: „La ,maison‘ de Ñaddâm Íusayn“, in: Pierre Bonte/ Édouard Conte/Paul Dresch (Hg.), Émirs et présidents. Figures de la parenté et du politique dans le monde arabe, Paris: CNRS Éditions 2001, S. 302-329, hier S. 305. 57

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Abb. 4: Der nasab des Saddam Hussein

In dieser Darstellung erscheint es so, als ob Männer Männer gebären, die wiederum Männer gebären, und so ad infinitum. Wo sind aber die Frauen?

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Abb. 5: Saddams Heiratspolitik

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Ihre Wiedereinführung in die genealogische Darstellung ergibt ein ganz anderes Bild, das uns erlaubt, die Verbindung zwischen den agnatischen und uterinen Aspekten der Verwandtschaftspraxis deutlich wahrzunehmen. Die zentrale Person in diesem Diagramm ist nicht Saddam selber, sondern seine hochverehrte Mutter, die jahrzehntelang Saddams Verwandtschaftspolitik in die Hand nahm. Saddam verdankte weitgehend seinen Aufstieg nicht seinem miserablen biologischen Vater, sondern seinem Mutterbruder. Er heiratete nicht eine Tochter seines Vaterbruders, doch wohl die Tochter seines Mutterbruders. Um den schwachen Agnatismus dieser Konfiguration zu stärken, heirateten hingegen zwei seiner eigenen Töchter Enkel seines Vaterbruders. Die magische Formel für die Verwirklichung dieser Strategie hieß badal: zwei Schwestern heiraten zwei mit ihnen agnatisch verwandte Brüder. Genau wie in dem von Peters dokumentierten Fall kann die agnatische Kontinuität, ja die politische Verwandtschaft nur dank der sonst verschwiegenen Ehe durch Permutation gewährleistet werden.

Die Geiselnahme der Sozialwissenschaft Hiermit hoffe ich gezeigt zu haben, dass der Begriffsapparat, den eine vergleichende Lektüre orientalistischer Beiträge gewinnen lässt, uns erlaubt, fundamentale Vorannahmen späterer Theorien in Frage zu stellen und zu einem strukturalen – und nicht strukturalistischen – Ansatz zu gelangen, der es ermöglicht, asymmetrische Verflechtungen von Gender- und Machtfaktoren, aber auch persönliche Strategien durch Zeit und Raum, besser zu erkennen. Das Erreichen dieses Ziels würde zu einer Neuinterpretation der intergenerationellen Konstruktion und Tradierung von Identitäten führen, die der vielbedeutende arabische Begriff von nasab konnotiert. Soll dieser Versuch jedoch nur im Sinne einer übrigens sehr zu wünschenden Spezialistendebatte zwischen Anthropologen und Philologen unternommen werden? Oder wäre er von breiterer sozialer Relevanz? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir neue Dimensionen der Analyse einbeziehen. Wird die arabische Ehepraxis zu einem musealen Artefakt für Neoorientalisten gemacht, oder ist sie bereits Gegenstand von intensiven soziopolitischen, rechtlichen und medizinischen Debatten in europäischen wie arabischen Gesellschaften? Die Antwort auf diese Frage geht zweifelsohne in letztere Richtung.

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Seit etwa zehn Jahren zeigen demographische Forschungen, dass die arabische Ehepraxis gewaltige Änderungen erfährt.64 Die Fruchtbarkeit ist in einer Generation dramatisch gesunken. Marokkanische Frauen z. B. gebaren 1970 im Durchschnitt sieben Kinder; heute sind es nur noch 2,4. In gewissen Ländern wie Libanon, Tunesien oder in den Golfstaaten wird die Ziffer von 2,1, die für die Erneuerung der Generationen nötig ist, nicht mehr erreicht. Im Maghreb ist das Alter von Frauen bei ihrer ersten Ehe seit 1965 von 18 auf 28 gestiegen. Umgekehrt heirateten 1970 in den Emiraten 95 % der Frauen vor der Erreichung des 19. Lebensjahres; heute sind es etwa 6 %. In Algerien sank die Scheidungsquote zwischen 1890 und 1960 von 40 auf 12 %. In Ägypten ist die Häufigkeit von polygynen Ehen auf 1,5 % gesunken. Gleichzeitig entsteht eine signifikante Kategorie – zwischen 3 und 21 % – von Frauen, die nie heiraten und gebären. Die Proportion von Frauen, die ausgebildeter sind als ihre Männer, übersteigt manchmal ein Drittel. Soviel zu einigen Pauschalurteilen zum arabischen Patriarchat, die man so oft in europäischen Kreisen hört bzw. in der Presse liest. Bei dieser demographischen Transition bleibt hingegen stabil bzw. bekräftigt sich eine Praxis, nämlich die Ehe unter Verwandten.65 Dieser Brauch, dachten viele, sei prädestiniert, im Zuge der sogenannten Modernisierung, der Urbanisierung und der höheren weiblichen Ausbildung zurückzugehen. Vermählungen zwischen Cousins ersten Grades, agnatisch in ihrer großen Mehrheit, stellen zwischen 17 und 36 % aller Ehen dar. Wenn man weiter entfernte Cousins einbezieht, übersteigt diese Ziffer 50, wenn nicht 60 %, wie in manchen Regionen der Halbinsel. Jedoch sind die höchsten Anteile von Ehen unter Verwandten oft außerhalb vorwiegend islamisch geprägter Länder zu finden. Ein Musterbeispiel dafür bieten die 55 % sogenannte British Pakistanis, die Cousins ersten Grades heiraten: diese Quote erreicht im bekannten Beispiel Bradfords 76 %, eine Ziffer, die nur durch selektive Einwanderung erklärbar ist.66 Diese Tendenz ist der Aufmerksamkeit derjenigen Publizisten und Politiker nicht entgangen, die eine essentialistische Ost/West Dichotomie bekräftigen wollen, um besser im Sinne einer sogenannten Entmi64 Vgl. z. B. Philippe Fargues: Générations arabes. L’alchimie du nombre, Paris: Fayard 2000, und Zahia Ouadah-Bedidi/Jacques Vallin: „Maghreb: la chute irrésistible de la fécondité“, Population et sociétés 359 (juilletaoût 2000). 65 Vgl. H. Rashad/M. Osman/F. Roudi-Fahimi: Marriage in the Arab World. Population Reference Bureau, September 2005. 66 Vgl. Alison Shaw: „Kinship, Cultural Preference and Immigration. Consanguineous Marriage among British Pakistanis“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute (N. S.) 7/2 (2001), S. 315-344. 61

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schung zu plädieren. Nehmen wir als Beispiel einen gewissen Stanley Kurtz. Nach seiner Feldforschung in Indien promovierte er in Sozialanthropologie an der Harvard University. Er ist zur Zeit senior fellow am Ethics and Public Policy Center und Mitglied mehrerer neoconservative think tanks wie die Hoover Institution. In einer Aufsatzserie von 2007 unter dem Titel „Marriage and Terror War“ wendete er ein griffig formuliertes anthropologisches Wissen an, um die Idee eines kausalen Zusammenhanges zwischen „dem“ Islam, der Ehe unter Bruderkindern und einem vorderorientalischem Gewaltkomplex zu propagieren. „Grasp the connection between Islam and Middle Eastern kinship, and you’ll have a far better chance of devising a long-term strategy for winning the war on terror. […] parallel-cousin marriage has an effect precisely the opposite of the alliance-building interchange encouraged by cross-cousin marriage – and praised by Tylor and Levi-Strauss. Instead of encouraging cultural exchange […] [it] tends to wall off groups from one another and to encourage conflict between and among them.”67 „Islam [...] functions more like a gigantic in-marrying lineage, whose solidarity is threatened by any individual member’s dishonourable exit. […] The ‚self-sealing‘ character of Islam is part and parcel of a broader and more deeply rooted social pattern. And parallel-cousin marriage is more than just an interesting but minor illustration of that broader theme. If there’s a ‚self-sealing‘ tendency in Muslim social life, cousin marriage is the velcro. In contemporary Europe, perhaps even more than in the Middle East, cousin marriage is at the core of a complex of factors blocking assimilation and driving the war on terror.“68

Geht es hier um die Stiftung von terror oder um die Stiftung von war on terror? Wie dies auch immer sei, Kurtz’ message bleibt sehr deutlich: „Better learn up on your anthropology if you want to understand the

67 Stanley Kurtz: „Marriage and the Terror War. [Part I:] Better learn up on your anthropology if you want to understand the war“, in: National Review Online, February 15, 2007. http://article.nationalreview.com/305768/ marriageand-the-terror-war/stanley-kurtz vom 10. Juli 2009. 68 Stanley Kurtz: „Marriage and the Terror War. Part II: Protecting the honor of the family; protecting the honor of Islam“, in: National Review Online, February 16, 2007, http://article.nationalreview.com/305851/ marriage-andthe-terror-war-part-ii/ stanley-kurtz vom 10. Juli 2009. S. auch: S. Sailer: „Cousin Marriage Conundrum. The ancient practice discourages democratic nation-building“, in: The American Conservative, 13. Januar 2003, S. 20-22, http://www.isteve.com/cousin_marriage_conundrum.htm vom 28. Oktober 2009. Hingegen: Ted Swedenburg and an anonymous MES scholar: „On the Use and Misuse of Anthropology [on Stanley Kurtz & MES]“, http://www.campus-watch.org/article/id/3085 vom 10. Juli 2009. 62

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war.“69 Genau das machen die „embedded anthropologists“, die zu den kämpfenden Einheiten der US Army in Afghanistan oder im Irak als Human Terrain Teams abkommandiert wurden und die Verwandtschaftsanthropologie wie die angewandte Philologie als Waffen einsetzen.70 In diesem Sinne wurde die berüchtigte „orientalische Neigung“ zur cousin marriage zu einem Akkumulationspunkt für Intoleranz. Und nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den werten Parlamenten Europas. Die holländische Volkspartij voor Vrijheid en Democratie verlangt das Verbot der Ehe unter Cousins, falls diese türkische oder marokkanische Staatsbürger sind. Im Fall von Niederländern wäre dies rechtlich inakzeptabel. Aber die Einführung von Einwanderungsbegrenzungen durch das neue Gesetz bezüglich des Zuzugs von Familienmitgliedern hat die Zahl der sogenannten Importehen – meistens unter Cousins – deutlich reduziert.71 Ähnlich geschah es auch in Dänemark, wo das Immigrationsministerium versuchte, jedoch gegen gerichtlichen Widerstand, die Begriffe Verwandtenehe und Zwangsehe zu amalgamieren und auf diese Weise erstere strafbar zu machen.72 Solche Initiativen sind kein Monopol der Rechten. Die Labour-Abgeordnete Ann Cryer erklärte im November 2005 auf BBC Two: „As we address problems of smoking, drinking, obesity, we say it’s a public health issue, […] the same should be applied to [cousin marriage] in the Asian community. They must adopt a different lifestyle. […] We have to stop this tradition of first cousin marriages.“73 In anderen Ländern erfüllt das „islamische Kopftuch“ bzw. das Minarett eine analoge symbolische Funktion als vergegenständlichter Blitzableiter für konfuse Gefühle empfundener Bedrohung durch die sogenannte Andersartigkeit. Zur gleichen Zeit entfaltet sich auf mehreren Ebenen in der arabischen Welt eine komplexe Debatte über Konsanguinität, die eng mit der Frage der religiösen Akzeptanz von neuen Repro-

69 S. o. Anmerkung 67. 70 Vgl. Human Terrain System, http://humanterrainsystem.army.mil/ vom 25. Oktober 2009. S. auch Nathan Finney: Human Terrain Team Handbook, http://88.80.16.63/leak/human-terrain-handbook-2008.pdf vom 28. Oktober 2009. Zu „Tribal research questions“ s. ebd., S. 115. 71 Vgl. „Islam in Europe: Netherlands: Proposal to ban cousin marriages“, http://islamineurope.blogspot.com/2007/11/netherlands-proposal-to-bancousin.html vom 10. Juli 2009; „Can cousin marriages be banned?“ http://politiken.dk/newsinenglish/article794315.ece vom 27. September 2009. 72 Vgl. ebd. 73 Justin Rowlatt: „The risks of cousin marriage“, 16.11.2005, http:// news. bbc.co.uk/2/hi/programmes/newsnight/4442010.stm vom 27. September 2009. 63

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duktionstechniken verbunden ist.74 Seit den 80er Jahren wurden andererseits sehr breit angelegte statistische Studien unternommen, um die genetischen Folgen der Verwandtenehe zu verstehen, und genetische Beratungsstellen wurden eingerichtet. Hingegen haben einige Golfstaaten gut dotierte Familienförderungsprogramme eingeführt, die Ehen zwischen Einheimischen favorisieren und damit Ehen zwischen Cousins eher begünstigen.75 In öffentlichen Gesprächen ist das Thema Partnerwahl höchst sensibel geworden.76 Seit einigen Jahren jedoch haben manche arabische Ärztinnen ihre Stimme leise aber bestimmt erhoben. Fachpersonen wie Prof. Hanan Hamamy77 aus Amman haben meines Wissens zum ersten Mal in der arabischen Welt unternommen, die genetischen und sozialen Aspekte des Verwandtenehekomplexes ganzheitlich anzusprechen und damit die Debatte zu entschärfen. Die divergente Entwicklung der Diskussion in Europa und der arabischen Welt böte an sich einen höchst relevanten wissenschaftlichen Gegenstand, falls die Fachleute bereit wären, einen wahrhaft interdisziplinären und interkulturellen Ansatz zu entwickeln. Vorerst müsste man die Schranken verschiedener disziplinärer Autismen überwinden und, in einem zweiten Schritt, sich die Mühe geben, disziplinübergreifende „Fragestellungen“ im Sinne Wellhausens zu entwickeln. Erst dann könnte die schädliche Dichotomie zwischen Natur und Kultur sinnvoll angefochten werden. Wie haben die Sozialwissenschaften gegenüber den hier skizzierten Herausforderungen reagiert? Ehrlich gesagt, mit Ausnahmen, so wenig, dass man an der Behauptung eines Fortschrittes jener Disziplinen, die den Mensch als Gegenstand gewählt haben, zweifeln müsste. Die Folgen dieser epistemologischen aber vor allem deontologischen Kapitulation78 lassen sich bereits spüren. Wie die Beispiele von Stanley Kurtz und des Human Terrain System der US Army zeigen, werden sozial relevante The-

74 Vgl. ÉamÝiyyat al-ÝulÙm aÔ-Ôibbiyya: QaÃÁyÁ Ôibbiyya muÝÁÒira fÐ ÃawÞ aššarÐÝa al-islÁmiyya, ÝAmmÁn: DÁr al-bashÐr 1995/1415; Morgan Clarke: Islam and New Kinship. Reproductive Technology and the Shariah in Lebanon, New York, Oxford: Berghahn Books 2009. 75 Vgl. Paul Dresch: „Debates on Marriage and Nationality in the United Arab Emirates“, in: ders./James Piscatori (Hg.), Monarchies and Nations: Globalisation and Identity in the Arab States of the Gulf, London: I.B. Tauris 2005, S. 136-157. 76 Persönliche Beobachtung von Anke Reichenbach, Dubai. 77 Vgl. Hanan Hamamy: „Consanguineous Marriages in the Arab World“, in: The Ambassadors Online Magazine 6/2 (2003), http://www.ambassadors. net/archives/issue14/selected_studies3.htm vom 25. März 2009. 78 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Chamboredon/Jean-Claude Passeron: Le métier de sociologue, Paris: Mouton-Bordas 1968, S. 59ff. 64

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matiken, die traditionell zum Kern der Sozialwissenschaften gehören – wie die Verwandtschaftsstudien zur Anthropologie – heute aufgrund der Vernachlässigung der Sozialwissenschaftler von Personen und Instanzen beschlagnahmt und missbraucht, die die Wissenschaft des Menschen als Legitimierungswerkzeug benutzen im Sinne einer Verachtung des Menschen. Ob diese Entwicklung sich bestätigen oder ob ihr entgegengesteuert wird, hängt vom Engagement jeder Wissenschaftlerin und jedes Wissenschaftlers ab sowie von einer Neugestaltung und Vertiefung der intellektuellen Kooperation zwischen arabischen und europäischen Ländern.

Schlusswort Sei zum Abschluss eine kleine Träumerei gestattet. Im „Sozialwissenschaftlichen Forum“ des Paradieses könnte man sich gut eine heftige Debatte zwischen ÓabarÐ, Wellhausen und Bourdieu vorstellen, nachdem sich Granqvist und Stern gemeinsam zum high tea begeben haben und Goldziher sich absetzt, um sein Sumerisch im Hinblick auf eine bevorstehende Exkursion zum himmlischen Eden zu revidieren. Es ist aber zu befürchten, keiner der drei Herren würde dulden, dass Smith als Evolutionist überhaupt dazwischenrede. Die Frage bleibt jedoch bestehen, ob der Zugang zum Himmel kritischen Bibelforschern wie Wellhausen überhaupt gewährt wird, da sie sich bekannter Weise viel übler über die Worte des Herrn äußern als deklarierte Freidenker wie Bourdieu. Wenn der Ewige sich aber so gnädig zeigen sollte, ein solches Gespräch im eigenen Hause zu gestatten, möchte man hören, wie der irritierte Preuße Wellhausen auf bis zur Unkenntlichkeit destilliertem Hocharabisch den edlen Perser ÓabarÐ zur zweifelhaften Stichhaltigkeit seiner Überlieferungsketten frech befragt, während Bourdieu, vielleicht sogar auf Deutsch, versucht, Wellhausen ironisch dazu zu provozieren, sein Verständnis der begriffskritischen Konstruktion einer „Fragestellung“ endlich mal explizit zu erläutern. Solche Einblicke in die Kakophonie der Salons des Hohen Gartens bleiben uns leider verwehrt. Aber nur vorläufig.

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Orthodoxie versus Heterodoxie? Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien VERENA KLEMM

Einleitung Der vorliegende Beitrag diskutiert die offene oder latente Fortexistenz eines althergebrachten Paradigmas bei Erforschung und Darstellung des schiitischen Islams. Als Ausgangspunkt dient ein Zitat des österreichischen Orientalisten und Diplomaten Joseph von Hammer-Purgstall aus seinem Werk Die Geschichte der Assassinen, aus morgenländischen Quellen (1818): „Unter allen Begebenheiten aber, deren Erzählung, seitdem Geschichte geschrieben wird, auf uns gekommen, ist der seltensten und wunderbarsten eine die Gründung der Herrschaft der Assassinen, dieses Staates im Staate, der durch blinde Unterwerfung die Grundfesten des Despotismus erschütterte, dieses Vereins von Betrügern und Betrogenen, der unter dem Scheine strengerer Sitten- und Glaubenslehre alle Moral und Religion untergrub, dieses Ordens von Meuchelmördern, unter deren Dolchen die Häupter der Völker fielen. Allmächtig, weil allgefürchtet durch zwei Jahrhunderte lang, bis die Mördergrube zugleich mit dem Sturze des Chalifats, dem sie als dem Mittelpunkt aller geistlichen und weltlichen Macht zuvörderst den Untergang geschworen, einsank, und durch dessen Trümmer verschüttet ward. Einzig und ohne Parallele steht die Regierungsgeschichte dieses Meuchlerreichs, mit dem verglichen alle frü-

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heren und späteren geheimen Verbindungen und Räuberstaaten nur unreife 1 Versuche, oder mißglückte Nachahmungen sind.“

Obwohl wir wissen, dass von Hammer-Purgstall, der sein Werk kurz nach der französischen Revolution schrieb, seine Antipathien gegen europäische Geheimgesellschaften wie Freimaurer, Templer, Jesuiten und Illuminati in die Assassinen hinein projizierte,2 ist das unverhohlen aggressive Zitat auch heute noch bemerkenswert – es kann eine jahrhundertealte Deutungstradition, welche die Erforschung des schiitischen Islams und insbesondere seines ismailitischen Zweiges begleitet, drastisch illustrieren. Von Hammer-Purgstalls Buch, das bald nach seinem Erscheinen auch ins Englische und Französische übersetzt wurde, war immerhin bis in die Geburtsjahre der modernen Ismailiyya-Studien in den 1930er Jahren das Standardwerk über die Geschichte der Assassinen bis zur Mongolenzeit.3 Die Nizariten, ein Zweig der schiitischen Bewegung der Ismailiten,4 verkörpern für westliche Rezipienten von der Kreuzfahrerzeit bis in unser Jahrhundert hinein als „Assassinen“ immer wieder Prototypen von Mördern5 und die „Häresie innerhalb der Häresie“.6 Von Hammer-Purgstalls Quellen waren, neben ihm zugänglichen Werken sunnitischer Autoren (wie die ËiÔaÔ von al-MaqrÐÛÐ, die Muqad1

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Joseph von Hammer: Die Geschichte der Assassinen, aus morgenländischen Quellen, Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta‘sche Buchhandlung 1818, Erstes Buch, Einleitung, S. 1f. Vgl. Farhad Daftary: The IsmÁÝÐlÐs. Their History and Doctrines. Second edition, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 25f. Vgl. ebd., S. 25. S. das in Anmerkung 2 genannte Werk oder auch: Farhad Daftary: A Short History of the Ismailis. Traditions of a Muslim Community, Edinburgh: Edinburgh University Press 1998. Zur Etymologie sowie der Verballhornung zu assassino/assassin etc., das ausgehend von dem erstmals im Jahr 516/1222 in einem offiziellen fatimidischen Dokument nachgewiesenen Schimpfwort ÎÁšÐšiyya in der Bedeutung von „Mörder“ in mehrere europäische Sprachen einging, s. Farhad Daftary: The IsmÁÝÐlÐs, S. 10-24. Nach F. Daftary ist die in zeitgenössischen fatimidischen und zaiditischen Quellen belegte Bezeichnung ÎÁšÐšiyya nicht im wörtlichen Sinne von „Haschisch-Konsumenten“ zu verstehen, sondern vielmehr als „low class rabble“, „irreligious social outcast“. Die wörtliche Übersetzung ist „rooted in the fantasies of medieval Europeans and their ‚imaginative ignorance‘ of Islam and the IsmÁÝÐlÐs“ (ebd., S. 10). Die polemische Bezeichnung für feindlich gesonnene Zeitgenossen wurde bereits in der Chronik des Arnold von Lübeck (st. 1212) in der Wiedergabe „Heissessin“ übernommen. Von diesem während des Dritten Kreuzzugs (1189-1192) entstandenen Bericht nahm die Haschischlegende dann ihren Weg in das christlich-europäische Imaginäre. Bernard Lewis: Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam, Frankfurt: Eichborn Verlag 1989, S. 49.

ORTHODOXIE VERSUS HETERODOXIE?

dima von Ibn ËaldÙn, das ÉihÁnnumÁ sowie das TaqwÐm tawÁrÐÌ des ÍÁÊÊÐ ËalÐfa)7 insbesondere die Viaggi, der Reisebericht des Marco Polo (1254-1324), der zwischen 1271 und 1275 an den Sommerhof des Mongolen-Khan Qubilai nach China reiste. Farhad Daftary hat in seinem Buch The Assassin Legends das Knäuel entwirrt, in dem Marco Polo die Berichte persischer Informanten mit in Europa zirkulierenden Kreuzfahrerlegenden vom Vetus de Montanis, dem „Alten vom Berge“ (dem Führer der syrischen NizÁrÐs, RašÐd ad-DÐn SinÁn, herrschte 557-589/11621193), und eigenen phantasievollen Imaginationen verspann.8 In Marco Polos Bericht werden diese Erzählungen ins östlich gelegene Reich der persischen NizÁrÐs übertragen. Dort lockt, nach Marco Polo, der von den Kreuzfahrern eigentlich in Syrien lokalisierte „Alte vom Berge“ seine Anhänger mit Drogen in einen von Jungfrauen bevölkerten Garten, den sie aufgrund ihrer benebelten Sinne sowie der Vergnügungen, die ihnen dort angedeihen, fürs wahre Paradies halten. Im unersättlichen Bedürfnis, den Garten noch einmal betreten zu können, leisten sie nach diesem unvergesslichen Erlebnis dem alten Despoten blinden Gehorsam und begehen heißblütig und heimtückisch, verblendet und verschlagen jene Mordtaten, zu denen der Verführer sie in kleinen Kommandos oder aber alleine aussendet.9 Marco Polos Bericht, mehrere Jahrzehnte nach der Rückkehr aus China im Gefängnis von Genua von einem Sekretär aufgezeichnet, ist im Original verlorenen gegangen. Eine vermutlich von besagtem Schreiber weitergesponnene Version, verfasst in einer alten, franko-italienischen Sprache, zirkulierte jedoch schon in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts in anderen italienischen Dialekten sowie in Latein. Das hybride Werk, in dem sich (vermutlich) feindliche iranische Lokaltraditionen mit schaurigen Kreuzfahrerlegenden und orientalistischen Ausfabulierungen eines oder mehrerer italienischer Autoren miteinander verbinden, war wiederum eine wichtige Quelle für viele Generationen europäischer Autoren. Unter ihnen ragen wegweisende Orientalisten des 18. und 19. Jahrhunderts wie Silvestre de Sacy (1758-1838) und von HammerPurgstall (1774-1856) heraus, deren Werke über die Assassinen zu Epochen übergreifenden Meilensteinen innerhalb der Schia-Forschung wurden.10 Somit hatte die im 13. Jahrhundert verwurzelte und zusammengesponnene Überlieferung ihren Weg ungefiltert in die Islamwissenschaft

7 8

Vgl. J. von Hammer: Die Geschichte der Assassinen, S. V-VIII. Vgl. Farhad Daftary: The Assassin Legends. Myths of the IsmaÝilis (1995), reprint London, New York: I.B. Tauris & Co Ltd Publishers, S. 115. 9 Vgl. ebd., S. 109-114. 10 Vgl. ebd., S. 109, 122-125. 73

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gefunden und sich dort über viele weitere Generationen hinweg eine faszinierte akademische Rezipientenschaft erobert. Dieser hier resümierten Tradition hat der Fortschritt in den Ismailiyya-Studien zumindest in weiten Bereichen der Orientwissenschaften ein Ende gesetzt. Ausschlaggebend für eine Neubewertung der Ismailiyya und damit auch der Assassinen war die auf ismailitischen Originalquellen beruhende Forschung seitens einer ersten Generation von Wissenschaftlern in den 1930er, 40er und 50er Jahren wie Wladimir Ivanow (1886-1970), Asaf A. A. Fyzee (1899-1981), Husayn F. al-Hamdani (1901-1962) und anderen.11 Diese Quellen ermöglichten erstmals eine Sichtweise unabhängig von sunnitischen Autoren, die Ismailiten im Allgemeinen tendenziös oder offen feindselig begegnen. Die genannten Forscher und ihre Nachfolger aus jüngeren Generationen konnten aber nicht verhindern, dass auch heute noch das Echo der ins christliche Mittelalter zurückreichenden Assassinenlegenden widerhallt: So immer dann, wenn die sogenannten Assassinen in semi- oder pseudowissenschaftlichen Werken und in manch einem Feuilleton ohne historische Herleitung oder wissenschaftliche Beweisführung gerne als erste Generation und Vorbilder islamischer Selbstmordattentäter dargestellt werden und somit als Begründer einer dem Islam eigenen, mörderischen und lebensfeindlichen Tradition.12 Die alten Räuberpistolen liest auch jeder, der nach Syrien kommt, in seinem Reiseführer wieder – wie z. B. am Originalschauplatz der Burg MaÒyÁf, die im 12./13. Jahrhundert parallel zum nizaritischen Reich im Nordosten Irans Zentrum eines kleinen und wehr11 Vgl. F. Daftary, The IsmÁÝÐlÐs, S. 30-33. 12 Als Exempel mag im Zusammenhang dieses Beitrags folgendes Zitat genügen: „Osama bin Laden hatte einen Vorgänger. Er lebte vor 900 Jahren und hieß Hasan-i Sabbah – der islamische Top-Terrorist des Mittelalters“ (Martin Gehlen: „Der Top-Terrorist des Mittelalters“, in: Der Tagesspiegel, 24.02.2002, http://www.tagesspiegel.de/politik/art771,2192963 vom 10. August 2009. Auch die Brockhaus Enzyklopädie online stellt im Artikel „Assassinen“ durch wissenschaftlich keinesfalls eindeutig geklärte Begrifflichkeiten und Zusammenhänge („Terrorismus“ oder „11. September des Mittelalters“) eine Verbindung her: http://elib.at/index.php/Wikipedia_vs_ Nachschlagewerke_-_Hassan_i_Sabbah_-_Gernot_Hausar_-_2009 vom 10. August 2009. – Der Zusammenhang zwischen den Attentaten der Nizariten sowie den Selbstmordattentaten der Gegenwart konnte bisher historisch nicht ohne Weiteres belegt werden und bedürfte weiterer Forschung. Gegen eine Traditionslinie des militanten Selbstmords spricht v. a. folgendes Kriterium: Die nizaritischen Glaubenslehren wurden von der Mehrheit der Sunniten und Schiiten als häretisch abgelehnt und konnten deshalb nicht zum Ideal avancieren – das Image der „Erzketzer“ war und ist in der islamischen Welt nicht besser als im Westen (vgl. Navid Kermani: „Die Gärten der Märtyrer“, http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2001/ 11/20/a0126 vom 10. August 2009). 74

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haften, vornehmlich aus Burgen bestehenden Staates war, der sich inmitten der von Ayyubiden und Kreuzfahrern fremdbeherrschten Region behauptete. Reproduziert werden die Legenden beispielsweise auch im ansonsten kundigen Reiseführer des Islamwissenschaftlers Gernot Rotter,13 ebenso im Lonely Planet Reiseführer, der in seiner jüngsten Ausgabe (2008) die gruselige und zugleich schöne Erzählung der Kreuzfahrer und frühen Orientalisten für die Touristen wiedererzählt.14 Ein kleiner Literaturverweis am Ende des Berichts nennt allerdings neben dem vorwiegend historisch-kritischen Werk The Assassins. A Radical Sect in Islam von Bernard Lewis (1967) die oben genannte Studie von Farhad Daftary, der, wie erwähnt, die Legenden in ihrer historisch-literarischen Entstehung und Tradition verfolgt und dekonstruiert hat.15 QalÝat MaÒyÁf in Syrien, im 12. Jahrhundert Sitz von RašÐd ad-DÐn SinÁn, dem „Alten vom Berge“ der Kreuzfahrer. Die Festung wurde jüngst vom Aga Khan Development Network restauriert.

Im Folgenden soll es jedoch um eine diesen Narrativen übergeordnete, ebenfalls alte Deutungstradition in der Islamwissenschaft gehen: Die althergebrachte, offene oder latente Wahrnehmungsweise der Schia und besonders der Ismailiyya als randständige, abgespaltene, tendenziell sek-

13 Vgl. Gernot Rotter: Syrien, Edition Erde Reiseführer, Nürnberg: BW-Verlag 1995. Rotter zitiert den andalusischen Reisenden Ibn Éubair in epischer Breite, ohne die Tendenz der Quelle explizit in Frage zu stellen. 14 Vgl. Lonely Planet Syria & Lebanon, Hong Kong: Lonely Planet Publications Pty Ltd 2008, S. 170. 15 S. Anmerkung 8. 75

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tiererische und zur Auflehnung neigende religiöse Gemeinschaften innerhalb des Islams. Postuliert wird im vorliegenden Beitrag, dass dieses Paradigma nicht im selben Maße von der Forschung überholt wurde wie die darin eingeflochtenen Assassinenlegenden, die hier eingangs zur Illustration der alten Sichtweise herangezogen wurden: Denn von Hammer-Purgstall, so entnimmt man dem Zitat, sieht einen unversöhnlichen Gegensatz, bei dem das sunnitische Kalifenreich auf der einen Seite für die Norm steht, die Assassinen hingegen auf der anderen Seite für Abspaltung und Destruktion.

Die Schia am Rand In der westlichen Wissenschaft vom Islam erfuhren und erfahren die Schia und Ismailiyya gegenüber dem sunnitischen Islam von den Anfängen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Über Jahrhunderte hinweg lässt sich dies, neben der historisch sehr starken philologischen Orientierung der Arabistik, vor allem auf die schwierige und gegenüber sunnitischen Quellen stark reduzierte Zugänglichkeit schiitischer Originalschriften zurückzuführen.16 Dennoch hatten sich bereits die Pioniere der Islamwissenschaft, die französischen Orientalisten Barthélemy d’Herbelot (1625-1695) und Silvestre de Sacy (1758-1838) durchaus für die Zwölferschia sowie insbesondere für die Ismailiyya und ihre Untergruppen interessiert. Im fortgeschrittenen 19. und frühen 20. Jahrhundert widmeten sich auch Aloys Sprenger (1813-1893), Alfred von Kremer (1828-1889), Julius Wellhausen (1844-

16 Vgl. nun den Aufsatz von Stefanie Brinkmann, die im Unterschied zu der im Anschluss genannten Studie von Kohlberg in aufschlussreicher Weise insbesondere die Handschriftenquellen der deutschsprachigen Schia-Forschung erleuchtet: „Ein Mangel an Quellen oder fehlendes Interesse? Zum späten Einstieg der deutschen Schia-Forschung“, in: Orient IV (2009), S. 25-43, der detailliert auf die Quellen eingeht, die der deutschen historischen Schia-Forschung zur Verfügung stehen. Vgl. auch Etan Kohlberg: „Western Studies of ShiÝa Islam“, in: Martin Kramer (Hg.), Shi’ism, Resistance and Revolution, Boulder, Colorado: Westview Press 1987, S. 31-44. Insbesondere Brinkmann, aber auch Kohlberg gehen in ihren Studien auf den Zugang zu zwölferschiitischen Originalquellen ein, der in der Islamwissenschaft über Jahrhunderte hinweg nicht vorhanden bzw. begrenzt war. Im Spiegel der leichter zugänglichen sunnitischen Handschriften führte dies immer wieder zu tendenziösen Darstellungen der Schia. Zur Geschichte der Ismailiyya-Studien s. u. a. Farhad Daftary: Ismaili Literature. A Bibliography of Sources and Studies, London, New York: I.B. Tauris 2004, Kap. 2, S. 84-103: „Ismaili Studies: Medieval Antecedents and Modern Developments“. 76

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1918)17 und Ignaz Goldziher (1850-1921) aus unterschiedlichen Perspektiven der Schia.18 Insbesondere Ignaz Goldziher kann mit recht zahlreichen Publikationen zum zwölferschiitischen Islam zweifellos als Pionier der Schia-Forschung gelten. Trotz einiger krasser Fehlurteile, die sicherlich ein Spiegel der auch für ihn als sehr unbefriedigend eingeschätzten Quellensituation waren,19 traf er bereits 1874 eine für die damalige Zeit bemerkenswerte Feststellung, die sich von den Urteilen seiner Fachkollegen deutlich unterschied. In ihr sieht er die Differenz zwischen Sunna und Schia nicht etwa als essentiell und somit unhistorisch, sondern als durch bestimmte politische Kontexte bedingt. Goldzihers Sichtweise hat sich in der Forschung ungeachtet ihrer Richtigkeit noch nicht selbstverständlich etabliert: „Es muss im Allgemeinen in Betracht gezogen werden, dass Sunniten und ĜîÝiten nicht etwa wie Katholiken und Protestanten als zwei gegensätzliche Kirchen von einander geschieden sind. Im Islam hat sich der schismatische Geist nie lebendig entfaltet. Da die Differenz zwischen ĜîÝâ und Sunne ursprünglich eine politische Frage, welche, nachdem der Zankapfel selbst vom Schauplatze gewichen, völlig bedeutungslos ist, so hat die confessionelle Spaltung nur dort schroff auftreten können, wo sie mechanisch herbeigeführt wurde (wie z. B. zur Zeit der Sefiden20 in Persien)… Die Scheidung ist allerdings theoretisch vorhanden, aber in der Erscheinung ist die Scheidewand kaum zu ziehen. Es gibt zwischen den beiden Richtungen so viele Mittelstufen, dass sie sehr leicht in einander aufgehen.“21

Heute hat die Beschäftigung mit der Schia eine randständige Position in Forschung und Lehre. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das gegenüber der angloamerikanischen Forschung beträchtlich zurück steht, auch wenn nach dem Aufblühen der sich mit der Moderne befassenden Orientwissenschaft und insbesondere nach der Islamischen Revolution im Iran (1979/80) die moderne Zwölferschia zunehmende Aufmerksamkeit erfährt. Die insgesamt jedoch marginale Rolle der Schia-Forschung findet auch in der Organisation islamwissenschaftlicher Überblickswer17 S. den Beitrag von Édouard Conte in diesem Band. 18 Vgl. S. Brinkmann: „Ein Mangel an Quellen?“, S. 35-42. 19 Zu den Textgrundlagen Ignaz Goldzihers sowie zu seiner Rolle und Bedeutung für die Schia-Forschung s. E. Kohlberg: „Western Studies“, S. 38-40, S. Brinkmann, „Ein Mangel an Quellen?“, S. 38-42. Beide Autoren führen auch Goldzihers insgesamt recht ambivalente und durch gelegentliche Fehlurteile geprägte Haltung gegenüber der Schia vor Augen. 20 Gemeint ist die Dynastie der Safawiden (907-1145/1501-1732), unter der die Schia zur Staatsreligion wurde. 21 Ignaz Goldziher: Gesammelte Schriften, hg. von Joseph Desomogyi, 2 Bde., Hildesheim: Olms 1967-1973, Band 1, S. 282f. 77

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ke und Handbücher zur islamischen Geschichte einen Niederschlag.22 Allenthalben stehen das Kalifenreich und der sunnitische Islam im Zentrum und die Schia am Rand; Trennendes wird hervorgehoben, Verbindendes eher weggelassen. Dies trifft noch viel mehr für die IsmailiyyaStudien zu, obwohl ismailitische und fatimidische Autoren ein reichhaltiges und zum Teil einzigartiges Schrifttum hinterlassen haben und somit einen tiefen Einblick in die islamische Kultur in der sogenannten klassischen Zeit ermöglichen.23 Allerdings haben die Ismailiyya-Studien mit der Gründung des Institute of Ismaili Studies im Jahr 1977 in London international enormen Auftrieb und ein ausgesprochen produktives weltweites Zentrum bekommen. Das hat an der marginalen Position der Schia- und Ismailiyya-Studien in Deutschland nichts geändert. Es scheint mir wahrscheinlich, dass hierfür eine veraltete Epistemologie, die immer noch häufig auf undefinierten Termini wie „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“ oder sogar „Häresie“ und „Sekte“ beruht, zumindest eine Mitverantwortung trägt. Die mit christlicher Konnotation aufgeladene Benennung islamischer religiöser Differenz ist weniger bei Studien zur modernen Schia, verstärkt aber in Untersuchungen zum Bereich der frühen und mittleren Epoche der islamischen Geschichte immer noch gang und gäbe. Mit dieser Epistemologie verbunden ist zwangsläufig eine tendenziell binäre Betrachtungsweise von Sunna und Schia als Norm versus Opposition, was wiederum eine isolierte und oft latent inkriminierende Betrachtung schiitischer Gruppierungen als Verursacher von Spaltung, Fragmentierung oder Destruktion zu Folge hat. Ausgehen will ich bei meiner Betrachtung deshalb von den Begriffen, die epistemologisch dem formulierten Dilemma zugrunde zu liegen scheinen.

Orthodoxie versus Heterodoxie/Häresie? Die Diskussion um die Begriffe Orthodoxie//Heterodoxie (oder Häresie) wird in der jüngsten Zeit in Deutschland verstärkt geführt. So widmet sich die Fachzeitschrift Die Welt des Islams in einer jüngst erschienenen themenorientierten Ausgabe der „Dynamik von Orthodoxie und Hetero-

22 Jüngstes Beispiel: Peter Heine handelt in seiner ansonsten ausgesprochen verdienstvollen „Einführung in die Islamwissenschaft“, Berlin: Akademie Verlag 2009, die „konfessionelle Spaltung“ zwischen Sunniten und Schiiten unter der plakativen und missverständlichen Kapitelüberschrift „Orthodoxie und Heterodoxie“ im Islam ab (Kapitel 5). 23 Vgl. Paul E. Walker: Exploring an Islamic Empire. Fatimid History and its Sources, London: I.B. Tauris 2002. 78

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doxie“. In einer Reihe von Einzelbeiträgen, die sich u. a. der Diskriminierung der Aleviten in der Türkei und der einschlägigen Kategorisierung der Ahmadiyya widmen, werden Zuschreibungen von „Häresie“ und „rechtem Glauben“ in lokalen, internationalen, medialen und auch wissenschaftlichen Diskursen kritisch beleuchtet.24 Robert Langer und Udo Simon, die Gast-Herausgeber der genannten Ausgabe, widmen sich in ihrer Einleitung vor allem auch der Terminologie „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“.25 Das Begriffspaar ist bekanntlich etymologisch griechischen Ursprungs, entstammt kirchengeschichtlicher Objektsprache und ist bereits seit dem 2. Jahrhundert geläufig. Heterodoxie wurde im 17./18. Jahrhundert in Analogie zu „Häresie“ zunächst im anglikanischen und protestantischen Kontext verwendet. Im Wissensgebiet der Orientalistik macht – soweit ich sehe – erstmals im 17. Jahrhundert Barthélemy d’Herbelot in seiner für viele zukünftige Generationen wegweisenden Enzyklopädie Bibliothèque Orientale von dem Begriff Gebrauch, indem er die Sunniten (Sunniah) als „Orthodoxie“ typologisch versus Schia (Schiâh) als „Sekte“ setzt. So gibt es bei ihm fünf Hauptsekten der Schia und viele Abspaltungen.26 Ab dem 18. Jahrhundert dringt die Begrifflichkeit, wie auch Langer und Simon resümieren, immer häufiger in Form von einschlägigen Begriffen auch in wissenschaftliche Diskurse ein. Gegen Ende des Jahrhunderts finden diese sich dann auch in einem neutralen Sinn bei sozialwissenschaftlich orientierten Wissenschaftlern. Im 19. Jahrhundert bezeichnete man in marxistischen und philosophischen Diskursen herrschende oder aber abweichende Meinungen auf diese Weise. Max Weber erweiterte den Begriffshorizont inhaltlich und räumlich auf religiöse Bewegungen in Indien und China, nicht aber für den Islam. Gleichzeitig objektiviert er ihn, indem er „Sekte“ als soziologischen Begriff benutzt und dabei betont, dass dieser „von allem ihm durch die kirchliche Verlästerung angehängten Beigeschmack natürlich sorgsam freigehalten werden“ muss.27 24 Die Welt des Islams 48/3-4 (2008). 25 Robert Langer/Udo Simon: „The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies“, in: Die Welt des Islams 48/3-4 (2008), S. 273-288. 26 Vgl. Barthélemy d’Herbelot de Molainville: Bibliothèque Orientale, ou Dictionnaire Universel contenant tout ce que fait connoître les peuples de l’Orient, 4 Bde., La Hague: Neaulme & van Daalen 1777-1779, Band 3, 1778, S. 264. Vgl. S. Brinkmann: „Ein Mangel an Quellen?“, S. 29ff. 27 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie. 5. rev. Auflage, Studienausg., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1980 [1922], Kapitel IX: „Herrschaftssoziologie“, S. 722. 79

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In dem von kirchlich-tendenziösen Konnotationen befreiten Sinne nimmt der Terminus nach Weber seinen weiteren Weg in der Religionssoziologie bzw. Religionswissenschaft. Aufbauend auf Marx und Weber systematisiert der Soziologe Pierre Bourdieu von religiösen Institutionen und Akteuren gebildete „historische Strukturkonfigurationen und Beziehungen“ als „religiöses Feld“.28 Für ihn ist die Orthodoxie der „anerkannte Glaube“, der mit „rechte[r] Meinung und Glaube[n] (doxa)“ einhergeht.29 Als Vertreter und gegebenenfalls Verteidiger dieses Systems gilt die auf Machterhalt besonnene „Priesterschaft“, die für ihn ein begrifflicher Platzhalter für einen „Korps von religiösen Spezialisten“ ist. Sie haben die „Verwaltung von Heilsgütern“ monopolisiert und genießen als „die ausschließlichen Inhaber der zur Produktion oder Reproduktion eines organisierten Korpus von geheimem […] Wissen notwendigen spezifischen Kompetenz gesellschaftliche Anerkennung.“30 Die Häresie oder Sekte hingegen ist eine um eine charismatische Persönlichkeit („Prophet“ oder „Häresiarch“) gescharte konkurrierende Gemeinschaft, welche die Existenz der Institutionen des religiösen Feldes insgesamt anficht, indem sie das kirchliche Monopol in Frage stellt.31 Der Prophet hat kraft seines Charismas die Fähigkeit, „das auszusprechen und zu benennen, was die geltenden [von der Priesterschaft produzierten] Symbolsysteme ins Unausgesprochene und Unbenennbare verweisen, und so die Grenze zwischen Gedachtem und Ungedachtem, Denkbarem und Undenkbarem zu verschieben.“ „Ein prophetischer Diskurs erscheint um so wahrscheinlicher in Zeiten offener oder versteckter Krise, in denen er auf ganze Gesellschaften oder einzelne Klassen ansteckend wirkt, d.h. in den Zeiten, in denen die ökonomischen oder morphologischen Wandlungen […] einen Zusammenbruch, eine Aufweichung oder ein Obsoletwerden der Traditionen oder Symbolsysteme hervorrufen“.32 Bourdieu hat mit dem auf Max Weber aufbauenden Modell des „religiösen Feldes“ ein von historischen Ausprägungen befreites, dennoch dynamisches und dialektisches Spannungsfeld entworfen, in dem insbesondere das Interesse an wirtschaftlicher und damit politischer Macht das Agieren und Reagieren der „Orthodoxie“, aber auch der „Sekte“ spätestens nach dem Tod des charismatischen Führers und dem Übergang zur „Veralltäglichung“ (M. Weber), bestimmt. 28 Pierre Bourdieu: „Genese und Struktur des religiösen Feldes“, in: ders., Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH 2009, S. 30-91. 29 Ebd., S. 67. 30 Ebd., S. 45 (Hervorhebungen im Original). 31 Vgl. ebd., S. 70. 32 Ebd., S. 83f. 80

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In der Islamwissenschaft dagegen wurden die Begriffe „Orthodoxie“, „Heterodoxie“/„Häresie“ bislang nicht im soziologischen Sinn idealtypisch oder systematisch, sondern, wenn überhaupt, unter Einbeziehung des historischen oder dogmatischen Kontextes reflektiert. Auch Langer und Simon beziehen sich in ihrer einleitenden theoretischen Erörterung auf diese fachinterne Tradition, indem sie Ansätze weiterführen, die bereits von Josef van Ess vor dem Hintergrund seiner detaillierten Kenntnis der Quellenüberlieferung der frühen und mittleren Periode der islamischen Geschichte und Geistesgeschichte festgestellt worden waren. So hat van Ess in seinem großen mehrbändigen Werk Theologie und Gesellschaft die kontrastierende Anwendung der Begriffe implizit in Frage gestellt und anstatt dessen vielmehr die Prozesshaftigkeit betont, die aus der Orthodoxie hervorgebracht wird. Dabei sieht auch er Orthodoxie nicht unabhängig von politischer Macht: „‚Orthodoxie‘ entwickelt sich; sie ist immer Ausdruck eines Konsenses, aber auch eines Netzwerkes von Macht.“33 Eine Studie von Alexander Knysh plädiert auf der Basis differenzierter Überlegungen islamischer Theologen hinsichtlich der Frage nach den Gründen für die Uneinstimmigkeit in der islamischen Gemeinschaft und ihrer Spaltung in Glaubensfaktionen (firaq) ebenfalls gegen die zeitlosunhistorische Übertragung des Gegensatzpaars Orthodoxie und Heterodoxie.34 So teilt der Autor aš-ŠahrastÁnÐ (gest. 548/1153) in seinem Werk KitÁb al-Milal wa‘n-niÎal – dem Buch der Religionsgemeinschaften und Glaubensrichtungen – die grundlegenden, stets in Diskussion und im Wandel begriffenen zentralen Themen der islamischen Religion in vier Gruppen: 1. Göttliche Attribute und göttliche Einheit (tawÎÐd), 2. Göttliche Gerechtigkeit und Vorsehung in Hinblick auf Prädestination und menschlichen Willen, 3. Göttliches Versprechen und Drohung sowie die Frage des „wahren“ Glaubens und der Definition des „Gläubigen“, 4. Offenbarung und prophetische Mission sowie die legitime Führung der islamischen Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten.35 Diese von ašŠahrastÁnÐ herauskristallisierten Cluster zentraler religiöser Themen evozieren weniger ein Bild zweier unversöhnlicher Lager von religiös Rechtgläubigen und religiös Abtrünnigen als vielmehr das Bild eines permanenten Dialogs zwischen traditionalistischen, devianten, konformistischen, nichtkonformistischen, mehrheitlichen und schismatischen 33 Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde., Band 4, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1997, S. 685f. 34 Vgl. Alexander Knysh: „‚Orthodoxy‘ and ‚Heresy‘ in Medieval Islam: An Essay in Reassessment“, in: Muslim World 83/1 (1993), S. 48-67. 35 Vgl. ebd., S. 51. 81

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Positionen. Resultat ist nach Knysh ein kreatives Ferment, in dem sich ein immer dynamisches und kontroverses islamisches Religionsgespräch vollzieht: „a perpetual collision of individual opinions over an invariant set of theological problems that eventually leads to a transient consensus that already contains the seeds of future disagreement. Disparate ideas and concepts, bits and pieces of creeds and doctrines circulated freely and were thus easily available to individual believers who patched them into a ragtag whole of Weltanschauung.“36

Dieser ständige Dialog führt niemals zu einer Einigung hinsichtlich der zentralen Probleme muslimischer Glaubenslehre und religiöser Praxis. Angesichts des inneren Pluralismus und der Komplexität des religiösen Lebens der muslimischen Gemeinschaft hält Knysh die binären kirchlich-eurozentrischen Begriffe und Kategorien, die über komplexe islamische Wirklichkeiten gestülpt würden, für ungeeignet, da ihnen bedeutungsvolle Nuancen entgingen.37 Orthodoxie ist für Knysh im islamischen Kontext eine eher amorphe und prozesshafte, mehr oder weniger allgemein akzeptierte Haltung oder Tendenz, die über Jahrhunderte hinweg als Produkt vieler Generationen von muslimischen religiösen Denkern entstanden ist. Diese Position/Tendenz gelangt in Situationen der Bedrohung des Konsenses durch schismatische Tendenzen an die Oberfläche und stellt eine Strategie der Verteidigung durch Gegenargumente dar.38 Jede Periode und jede Region in der islamischen Welt findet so zu einer eigenen Mischung orthodoxer Ideen.39 Wie die islamische Geschichte zeigt, war die effektivste Art, eine in solchem Sinn verstandene orthodoxe Glaubenshaltung zu verankern und zu verstetigen, die Verbindung mit der jeweiligen politischen Macht. Viele islamische Theologen taktierten zwar in dieser Richtung, aber nur wenige hatten Erfolg, da die meisten Herrscher es doch vorzogen, zwischen den rivalisierenden theologischen Fraktionen und Interessengruppen zu manövrieren, um die Situation unter ihrer Kontrolle zu behalten.40 Wie Knysh stellen auch Simon und Langer fest, dass Argumente gegen die Anwendung der Begrifflichkeit in der Islamwissenschaft leicht zu finden sind und schon oft geäußert wurden; entsprechen die kirchlich geprägten Termini doch keiner arabischen Terminologie im islamischen 36 37 38 39 40 82

Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd.

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Kontext. Dort hingegen finden sich eine Vielfalt anderer einschlägiger Begriffe, die alle verschiedene Traditionen haben und auf unterschiedliche Relationen und Zusammenhänge verweisen: bidÝa, verwerfliche Neuerung, oder ÃalÁl/ÃalÁla, „Irrtum, Irrlehre“, firqa, „Abspaltung“, ebenso ilÎÁd, das „Blasphemie“ und wie das Wort kufr „Unglaube“ konnotiert. Weiter der Begriff hawÁ, „Laune“, der auf individuelle religiöse Vorlieben verweist, sowie ÈulÙw, „Übertreibung“, das als Bezeichnung der Zwölferschiiten gegen Abweichler aus den eigenen Reihen, welche die Imame vergöttlichen und an die Seelenwanderung glauben, in Gebrauch war. Drastisch und ganz besonders gefährlich war zumindest in der frühen Abbasidenzeit (8./9. Jahrhundert) der Begriff zandaqa, „Ketzerei, Häresie“, mit welchem wohl zunächst die irakischen Manichäer bezeichnet wurden, der dann aber auch zur Denunziation von Muslimen mit Apostasie gleichgesetzt und mit der Todesstrafe belegt werden konnte.41 Trotz der Vielzahl, des Facettenreichtums und der schwankenden historischen „Konjunktur“ dieser Begriffe war, wie insbesondere Josef van Ess betont, die Bestimmung der Häresie im vormodernen Islam nicht autoritativ festgeschrieben, sodass für die Duldung von religiöser Abweichung meist relativ großer Spielraum blieb.42 Obwohl es offensichtlich ist, dass durch die Anwendung des objektsprachlichen Begriffspaars „Orthodoxie und Heterodoxie“ (oder gar Häresie) die differenzierte Anwendung verschiedener objektsprachlicher islamischer Begriffe umgangen wird, stellen Langer und Simon in einem nächsten Schritt dennoch die Frage nach dem analytischen Wert des Begriffes Orthodoxie. Sie wird, zunächst überraschend, positiv beantwortet. Offensichtlich auf der Basis von Weber und Bourdieu schlagen die Autoren vor, Orthodoxie als Faktor in einem Machtkampf zu verstehen. Orthodoxie kann nach ihrem Dafürhalten durchaus mit Erkenntnisgewinn als „prize in the ongoing struggle for the power to define and control the right belief“ verstanden werden. Weiter heißt es: „It is a dominant position in a dynamic interacting system which balances change and stability, and it is something to be gained and to be lost.“ Eine diachrone Betrachtungsweise zeigt, dass es keine religiöse Strömung im Islam gibt, die als solche dazu bestimmt ist, die Orthodoxie zu repräsentie41 Vgl. J. van Ess: Theologie und Gesellschaft, Band 4, S. 688-691. Ausführlich werden die arabisch-islamischen Begriffe aufgeführt und historisch kontextualisiert bei Bernard Lewis: „Some Observations on the Significance of Heresy in the History of Islam“, in: Studia Islamica I (1953), S. 43-63. Das neueste Werk von Josef van Ess: Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Berlin, New York: de Gruyter, ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags noch nicht publiziert [erscheint April 2011]. 42 Vgl. J. van Ess: Theologie und Gesellschaft, Band 4, S. 693. 83

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ren. Orthodoxie „begins with a claim and must meet certain requirements, such as a body of texts, a genealogy, flexibility, comprehensibility, the ability to integrate deviation, to manage boundaries, and produce consent.“43 Verbunden mit den religionssoziologischen Konzepten von Weber und Bourdieu kann die kritische Auseinandersetzung der genannten Autoren als längst überfällige Grundlage für eine reflektierte Anwendung der einschlägigen Begrifflichkeit in der Islamwissenschaft verstanden werden. Als Fazit der vorangegangen Erwägungen ergibt sich, dass „Orthodoxie“, aber auch die Begriffe „Heterodoxie“, „Häresie“, „Sekte“ als soziologisch geprägte Kategorien auch im islamischen Kontext unter bestimmten Voraussetzungen durchaus sinnvoll einzusetzende Begriffe sind. Sie eignen sich, um machtpolitische und konfligierende Beziehungen und Strategien im religiösen Feld zu bezeichnen. Wesentliche Grundlage und Bedingung ist somit ein Geschichtsverständnis, das angesichts der Vielfalt der empirischen Erscheinungen und Manifestationen „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“ als Positionen bzw. Tendenzen bei der Aushandlung von Machtbeziehungen und somit als dynamisch und prozesshaft begreift und nicht etwa als Ausdruck essentieller Gegensätze oder statischer Rollen. Denn im Charisma des „Häresiarchen“ (nach Bourdieu ein Homolog zu Webers „Propheten“) liegt ein möglicher historischer Ausgangspunkt für die Bildung einer neuen Orthodoxie – wofür die in der Macht des fatimidischen Imam-Kalifen kulminierende politische und konfessionelle Institutionalisierung der Ismailiyya ein Beispiel ist. Ebenso kann eine religiöse Formation zur ein und derselben Zeit sowohl Heterodoxie als auch Orthodoxie sein – wie die Beispiele der Zwölferschia und der fatimidischen Ismailiyya in Bezug zu ihren eigenen religiös-politischen Untergruppen, den protoschiitischen „Übertreibern“ (ÈulÁt), sowie den QarmÁÔen, Drusen und Nizariten waren. Die Begrifflichkeit von „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“/„Häresie“ lassen sich somit nur mit dem Bewusstsein der historischen Dynamik und Relativität der damit bezeichneten Manifestationen, nicht jedoch starr und zeitlos auf religiöse Strömungen und Gemeinschaften in der islamischen Welt übertragen.44 43 Alle Zitate bei Robert Langer und Udo Simon (guest eds.): „The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies“, in: Die Welt des Islams 48/3-4 (2008), S. 273-288, hier S. 281. 44 Im Graduiertenkolleg „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ (Universität Leipzig, 2009-2013) wurde als Schlüsselbegriff im dargestellten Spannungsfeld nicht etwa der Terminus „Heterodoxie“, „Häresie“ oder „Sekte“, sondern „religiöser Nonkonformismus“ gewählt. Das Kolleg widmet sich „Formen religiösen Verhaltens und Glaubens, die von 84

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Erkenntnishorizonte jenseits der Differenz Ausgehend von den bisherigen Überlegungen soll hier für eine Sichtweise plädiert werden, welche die beiden im Folgenden genannten Forschungsperspektiven verstärkt berücksichtigt. Sie werden an der Ismailiyya veranschaulicht.

a. Interaktion und Intertextualität statt isolierte Betrachtung Das ismailitische Schrifttum wird oft noch als Teil einer vermeintlich autoreferentiellen ismailitischen Literaturgeschichte wahrgenommen und erforscht. Diese Perspektive betont die eingangs konstatierte Dichotomie in der Wahrnehmung von Sunna und Schia. Wenn man sie hingegen im Lichte ihrer geistigen und literarischen Beziehungen sieht, erscheinen viele ismailitische Texte als Zeugnisse eines weiten und ausgesprochen beziehungsreichen Geflechts, das übergreifend religiöse wie auch weltlich geprägte Gattungen, Themen und Motive umfasst. Die intertextuelle Beschaffenheit des ismailitischen Schrifttums lässt sich somit auch als Ausdruck der spannungsvollen Partizipation und Eingebundenheit der Ismailiyya in den übergreifenden geistigen und literarischen Kosmos der islamischen Welt verstehen. Als Beispiel mag ar-RisÁla al-mÙjaza al-kÁfiya fÐ ÁdÁb ad-duÝÁt, Die kurz und bündige Epistel über die Etikette des dÁÝÐs (also des Missionars) dienen, verfasst vom iranischen Autor AÎmad b. IbrÁhÐm an-NaisÁbÙrÐ, der im 5./11. Jahrhundert am Fatimidenhof in Kairo wirkte.45 Der vielseitig profilierte Autor dieser Schrift ist auch durch sein historisch sowie philosophisch-theologisch ausgerichtetes Werk bekannt. Die RisÁla hingegen ist ein normativer Leitfaden für ismailitische dÁÝÐs im den in einer Gesellschaft dominanten Formen von Religion abweichen und in der Regel negativ sanktioniert sind.“ Der Begriff „Nonkonformismus“, der als theoretischer Begriff bislang noch nicht systematisch entwickelt wurde, wird zunächst als „ein heuristisches Instrument“ verstanden, „um übergreifend kulturvergleichend und im theoretischen Zusammenhang bestimmte Formen und Formationen zu analysieren, deren Legitimität von den seitens der politischen Macht legitimierten Akteuren in Frage gestellt oder bestritten wird.“ (Antragstext). 45 Eine kritische Edition, Übersetzung und Kontextualisierung des Werkes wurde von mir in Zusammenarbeit mit Paul Walker (Chicago) vorgenommen. Das Erscheinen der Publikation in der Reihe Ismaili Text and Translation Series bei I.B. Tauris ist für Anfang 2011 vorgesehen. Eine kurze Zusammenfassung des Werks findet sich in Verena Klemm: Memoirs of a Mission. The Ismaili Scholar, Statesman and Poet al-MuÞayyad fi’l-DÐn alShÐrÁzÐ, London, New York: I.B. Tauris 2003, Appendix 2, S. 117-127: „The Hierarchy and Pedagogy of the Fatimid daÝwa“. 85

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Dienste der religiös-politischen Sache des fatimidischen Imam-Kalifen und damit eine einzigartige Quelle für die organisatorischen und praktischen Aspekte der ismailitischen daÝwa (Mission). Er vermittelt dieser Zielgruppe die Ideale der real praktizierten daÝwa, die sich im berufsspezifischen Wissen, aber auch in der inneren Haltung und im Handeln des sie ausführenden dÁÝÐs widergespiegelt und zum Ausdruck gebracht werden sollen. Über die dichte Vernetzung mit den islamischen religiösen Texten wie dem Koran sowie den bekannten kanonischen sunnitischen und schiitischen Traditionswerken ist NaisÁbÙrÐs Epistel in viele andere literarische Beziehungen eingebettet, die ihr etliche weitere, über die ismailitische Literaturtradition hinausreichende Dimensionen hinzufügen. So steht das kleine Werk in der (reichen) Tradition der Fürstenspiegelliteratur, die bei allen pragmatischen Aspekten literarisch kodiert die ethischen und politischen Ideale islamischen Herrschertums zum Thema hat. Motive und Topoi aus diesem Überlieferungsstrom werden von NaisÁbÙrÐ immer wieder aufgegriffen, in den Kontext der daÝwa übertragen und ismailitisch überschrieben. Gleichermaßen bedient sich der Autor auch der Gattung der professionellen Adab-Literatur – was im Titel arRisÁla al-mÙjaza al-kÁfiya fÐ ÁdÁb ad-duÝÁt explizit zum Ausdruck gebracht wird. Die Berufung auf ein solch renommiertes Genre, das ausschließlich respektablen und einflussreichen Berufen vorbehalten ist, verleiht der ar-RisÁla al-mÙjaza zweifellos Autorität und Würde. Die intertextuelle Beschaffenheit des ismailitischen Schrifttums ist somit auch Ausdruck der spannungsvollen Partizipation und Einbindung der Ismailiyya in den übergreifenden geistigen und literarischen Kosmos der islamischen Welt. Auch Sumaiya A. Hamdanis Studie zum Werk des ismailitischen Staats- und Rechtsexperten QÁÃÐ an-NuÝmÁn hat dies deutlich gezeigt:46 Dessen Rezeption des islamischen und arabischen Schrifttums ist ein kritischer und konstruktiver Prozess, der sowohl mit Aneignung als auch mit Abgrenzung einhergeht und schließlich zur Entwicklung eines charakteristischen fatimidischen Herrschafts- und Geschichtsmodells führt. So wird in den DaÝÁÞim al-IslÁm (Stützpfeiler des Islams), dem wegweisenden und bis zum Ende der Dynastie maßgeblichen Rechtswerk, die historische und doktrinäre Begründung der spezifischen alidisch-fatimidischen Imamfolge zunächst aus einer übergeordnet koranischen und an zweiter Stelle aus einer gesamtschiitischen Überlieferungstradition heraus entwickelt. Damit wird der universale Herrschafts-

46 Vgl. Sumaiya A. Hamdani: Between Revolution and State. The Path to Fatimid Statehood. Qadi al-NuÝman and the Construction of Fatimid Legitimacy, London, New York: I.B. Tauris 2006. 86

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anspruch des regierenden fatimidischen Imam als Garant des Gesetzes und einer gerechten Gesellschaftsordnung für alle islamischen Konfessionen in der fatimidischen Ökumene begründet – bekanntlich in fast allen Epochen der Fatimidenzeit (297-567/909-1171) auch für Christen und Juden. Mit seinem Werk vermittelte der QÁÃÐ somit das Konzept eines integrierenden Islams, in dem Traditionen und Interessen der Gemeinschaften und Strömungen unter fatimidisch-ismailitischer Herrschaft neben- und sogar miteinander existieren konnten.47

b. Innovatives Potential und transformative Dynamik anstatt starre Konstellationen Auch die ideologischen Konflikte zwischen Sunna und Schia zeigen, dass abweichende Normen und Formen des Welt- und Menschenbildes immer eine Herausforderung für die dominante Auslegung der Wirklichkeit darstellen. Schon Max Weber zeigte in seiner „Protestantischen Ethik“, dass alternative Deutungen aber auch Optionen und Impulse zur kulturellen Innovation sein können.48 Betrachtet man die Ismailiyya mit ihrer weit über tausendjährigen Geschichte aus einer Perspektive der longue durée, zeigt sich eine rhizomartige, über die ganze islamische Welt reichende, flexible und anpassungsfähige Formation. Der politische Druck, dem die Ismailiyya in den zumeist sunnitisch geprägten Zentren immer wieder ausgesetzt war, förderte ihre geographische Mobilität, was wiederum zur Entstehung überregionaler und – seit dem 19. Jahrhundert – transkontinentaler Netzwerke führte. Je nach historischem und regionalem Kontext agierte die Ismailiyya offen oder klandestin, staatlich oder taktisch subversiv, militant oder friedlich adaptiert. So wanderten auch Mitte des 19. Jahrhunderts die Nachkommen der persischen Nizariten, welche die Zeit nach dem Fall von Alamut im Mongolensturm meist mithilfe der in der Schia altbewährten Techniken und Codes der taqiyya – d. h. das Verbergen des wahren Glaubens und die vermeintliche Adaption an die Mehrheitskonfession – praktizierten,49

47 Vgl. auch meine Rezension zur in der vorangegangenen Anmerkung genannten Studie Sumaiya A. Hamdanis in: Die Welt des Islams 49/3-4 (2009), S. 485-488. 48 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen: J. C. B. Mohr 1934. Vgl. Graduiertenkolleg Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik an der Universität Leipzig, Antragstext. 49 Vgl. Verena Klemm: „Verbergen, Verschweigen, Verstellen: Konzepte und Praktiken zum Schutz von Glauben und Gemeinschaft bei schiitischen 87

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unter politischem Druck zu ihren Glaubensbrüdern, den ismailitischen Hodscha-Gemeinden nach Sind und weiter nach Indien aus. Die dortigen ismailitischen Gemeinden pflegten eine synkretistische Form ihrer Religion, den sogenannten Satpanth Ismailism. Er stellt eine Verschmelzung von islamischen und hinduistischen Elementen als auch etlichen anderen Traditionen wie Sufismus, Tantrismus und der Bhakti Tradition dar und ist damit das Ergebnis eines komplexen Prozesses von Anpassung und Synkretismus, den die Ismailiyya in Indien vollzog.50 Das heutige Oberhaupt der Hodscha-Ismailiten, Agha Khan IV. (geb. 1936 in Genf), führt sich über die Linie der nizaritischen sowie fatimidischen Imame bis zum Propheten Muhammad zurück. Auf den Grundlagen von Stiftungen, Spenden und Steuern initiierte bereits sein modernistisch gesonnener Großvater, Aga Khan III. (1877-1957), in den indischen und ostafrikanischen Ismailitengemeinden soziale Einrichtungen, Kooperativen und fortschrittliche Bildungs- und Aufbauprogramme. Auf dieser Basis schuf Aga Khan IV. eine komplexe und weltumspannende Nichtregierungsorganisation (Aga Khan Development Network, AKDN). Das AKDN ist zweifellos eine der größten NGO’s der Welt. Nach Daftary hat sie ein Budget von mehreren 100 Mill. $ p. a.51 Das AKDN betreibt eine bemerkenswert fortschrittliche Entwicklungs- und Bildungspolitik, die sich – als Spiegel der eigenen historischen Erfahrung als islamische Minderheit – der Anerkennung der historisch gewachsenen kulturellen und geistigen Pluralität in der islamischen Welt verpflichtet sieht und, soweit ich sehe, von keinen missionarischen Interessen getragen ist. Das AKDN führt zum einen Projekte zur sozialen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung in ismailitischen und nicht-ismailitischen Gemeinschaften vor allem in Ostafrika, Zentralasien, Indien und Pakistan durch. Zu den insbesondere im islamischen Kontext beachtlichen Potentialen des AKDN gehört die progressive „Gender-Politik“ (mit einer Betonung auf der Mädchenbildung) in ländlichen und verarmten ismailitischen Regionen in der ehemaligen Sowjetunion und in Pakistan; ebenso die Schaffung von in der Bevölkerung verhafteten sozialen und ökonomischen Strukturen in den Entwicklungsprogrammen sowie der Impetus auf zivilgesellschaftlichem Bewusstsein. Zu den auch im Westen wahrgenommenen Aktivitäten der enormen, netzwerkartigen Institution gehört der Aga Khan Award for Architecture (ebenfalls mit sozialem und kulturellem Impetus) sowie der Aga Khan Trust for Culture mit seinem Historic Cities Förderungs- und RestauratiMinderheiten“, in: Bernhard Streck (Hg.), Die gezeigte und die verborgene Kultur, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2007, S. 53-68. 50 Vgl. F. Daftary: Short History, S. 184. 51 Vgl. ebd., S. 208. 88

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onsprogramm;52 zu den international hoch anerkannten Forschungszentren des AKDN gehören das Institute of Ismaili Studies (London) sowie der 2006 in London gegründete „Ableger“ der Aga Khan Universität in Karachi, dem Institute for the Study of Muslim Civilisations. Die Bildungs- und Kulturpolitik des AKDN ist zweifellos ein bemerkenswertes Phänomen im großen Spektrum oft ideologisch und funktionalistisch orientierter islamischer Netzwerke und transregionaler Organisationen. Offenbar ist das zugrunde liegende universalistische und humanistisch-philanthrope Konzept auch das Ergebnis einer langen Erfahrung als islamische Minderheit. In der Islamwissenschaft wurde das innovative und transformative Potential der indischen Ismailiyya bis heute kaum beachtet und erforscht.

Resümee Dieser Beitrag wollte dazu anregen, Termini bzw. Kategorien wie Orthodoxie/Heterodoxie und Häresie neu zu reflektieren. In aller gebotenen Kürze führten die gegebenen Beispiele vor Augen, dass heterodoxe Formationen sowohl in der historischen islamischen als auch in der globalisierten Welt als übergreifend partizipierende, transformativ und innovativ agierende Kräfte wirksam sind. Im Rahmen eines Tagungsbandes, der im Zeitalter nach Edward Said althergebrachte ideologische Denkweisen und Paradigmen der Orientwissenschaften reflektiert, sollte hier am Beispiel von Schia und Ismailiyya für islamwissenschaftliche Perspektiven jenseits von Ausgrenzung und Isolation plädiert werden – oder mit anderen Worten: für eine insgesamt rundere, integrierende Wahrnehmung dieser Gruppen. Nicht a priori, sondern nur aus einem Blickwinkel, der die stets in Bewegung und Veränderung befindlichen Beziehungen zwischen den religiösen, politischen und sozialen Instanzen im Auge behält, werden „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“/„Häresie“, religiöse Devianz und Differenz, zu aussagekräftigen Kategorien. Erst dann auch werden die Spannungsfelder sichtbar, die weit über die isolierende oder dividierende Betrachtung hinausreichen und die als gemeinsame Interaktionsräume von Menschen, Ideen, Literaturen begreifbar sind.

52 Vgl. zum Beispiel die Studie von Stefano Bianca: Syria: Medieval Citadels Between East and West, Turin: Umberto Allemandi & C. for the Aga Khan Trust for Culture 2007 über die „Assassinenburgen“ in Syrien (s. auch http://www.archnet.org/library/documents/one-document.jsp?document_id= 10541 vom 19. November 2009). 89

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Literatur Bianca, Stefano: Syria: Medieval Citadels Between East and West, Turin: Umberto Allemandi & C. for the Aga Khan Trust for Culture 2007. Bourdieu, Pierre: „Genese und Struktur des religiösen Feldes“, in: ders., Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH 2009, S. 30-91. Brinkmann, Stefanie: „Ein Mangel an Quellen oder fehlendes Interesse? Zum späten Einstieg der deutschen Schia-Forschung“, in: Orient IV (2009), S. 25-43. Daftary, Farhad: A Short History of the Ismailis. Traditions of a Muslim Community, Edinburgh: Edinburgh University Press 1998. Daftary, Farhad: The Assassin Legends. Myths of the IsmaÝilis (1995), reprint, London, New York: I.B. Tauris & Co Ltd Publishers 2001. Daftary, Farhad: Ismaili Literature. A Bibliography of Sources and Studies, London, New York: I.B. Tauris 2004. Daftary, Farhad: The IsmÁÝÐlÐs. Their History and Doctrines, 2nd edition, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Ess, Josef van: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde., Berlin, New York: Walter de Gruyter 1991-1997. Ess, Josef van: Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Berlin, New York: Walter de Gruyter [erscheint April 2011]. Goldziher, Ignaz: Gesammelte Schriften, hg. von Joseph Desomogyi, 2 Bde., Hildesheim: Olms 1967-1973. Hamdani, Sumaiya A.: Between Revolution and State. The Path to Fatimid Statehood. Qadi al-NuÝman and the Construction of Fatimid Legitimacy, London, New York: I.B. Tauris 2006. Hammer, Joseph von: Die Geschichte der Assassinen, aus morgenländischen Quellen, Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1818. Heine, Peter: Einführung in die Islamwissenschaft, Berlin: Akademie Verlag 2009. Herbelot de Molainville d’, Barthélemy: Bibliothèque Orientale, ou Dictionnaire Universel, contenant tout ce que fait connoître les peuples de l’Orient, 4 Bde., La Hague: Neaulme & van Daalen 1777-1779. Klemm, Verena: Memoirs of a Mission. The Ismaili Scholar, Statesman and Poet al-MuÞayyad fi’l-DÐn al-ShÐrÁzÐ, London, New York: I.B. Tauris 2003. 90

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Klemm, Verena: „Verbergen, Verschweigen, Verstellen: Konzepte und Praktiken zum Schutz von Glauben und Gemeinschaft bei schiitischen Minderheiten“, in: Bernhard Streck (Hg.), Die gezeigte und die verborgene Kultur, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2007, S. 53-68. Klemm, Verena: Rezension zu Hamdani, Sumaiya A.: Between Revolution and State, in: Die Welt des Islams 49/3-4 (2009), S. 485-488. Kohlberg: Etan: „Western Studies of ShiÝa Islam“, in: Martin Kramer (Hg.), Shi’ism, Resistance and Revolution, Boulder, Colorado: Westview Press, 1987, S. 31-44. Knysh, Alexander: „‚Orthodoxy‘ and ‚Heresy‘ in Medieval Islam: An Essay in Reassessment“, in: Muslim World 83/1 (1993), S. 48-67. Langer, Robert/Simon, Udo: „The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies“, in: Die Welt des Islams 48/3-4 (2008), S. 273-288. Lewis, Bernard: „Some Observations on the Significance of Heresy in the History of Islam“, in: Studia Islamica I (1953), S. 43-63. Lewis, Bernard: Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam. Frankfurt: Eichborn Verlag 1989. (Englische Originalausgabe: The Assassins. A Radical Sect in Islam, London: Weidenfeld & Nicolson. 1967). Lonely Planet Syria & Lebanon, Hong Kong: Lonely Planet Publications Pty Ltd 2008. Rotter, Gernot: Syrien, Nürnberg: Edition Erde 1995. Walker, Paul E.: Exploring an Islamic Empire. Fatimid History and its Sources, London: I.B. Tauris 2002. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen: J. C. B. Mohr 1934. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie. 5., rev. Auflage, Studienausg., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1980 [1922].

Internetquellen Navid Kermani: „Die Gärten der Märtyrer“, http://www.taz.de/index. php?id=archivseite&dig=2001/11/20/a0126 vom 10. August 2009. Martin Gehlen: „Der Top-Terrorist des Mittelalters“, in: Der Tagesspiegel, 24.02.2002, http://www.tagesspiegel.de/politik/art771,2192963 vom 10. August 2009. [O. A.] http://elib.at/index.php/Wikipedia_vs_Nachschlagewerke_-_ Hassan_i_Sabbah_-_Gernot_Hausar_-_2009 vom 10. August 2009.

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[O. A.] http://www.archnet.org/library/documents/one-document.jsp? document_id=10541 vom 19. November 2009.

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Neu-Orient-ierung an Maimonides? Orientalistische Deutungsparadigmen in der jüdischen Aufklärung und der frühen Wissenschaft des Judentums REIMUND LEICHT

Es ist ein gängiger Topos der jüdischen Philosophiegeschichte, Maimonides (1135-1204) als den bedeutendsten jüdischen Philosophen des Mittelalters, wenn nicht gar aller Zeiten zu bezeichnen. Er erscheint als verdeckter oder offener Bezugspunkt vieler Konstruktionen jüdischer Philosophiegeschichte, ja in manchen Fällen jüdischen Philosophierens überhaupt. Diese „Orientierung an Maimonides“ ist für das jüdische Denken im Mittelalter und der Neuzeit vielleicht sogar bis Spinoza historisch kaum zweifelhaft. Wie kein anderer Denker hat Maimonides das Judentum, sei es in positiver Rezeption oder ablehnender Kritik, beschäftigt und geprägt. Mit dem Übergang zur Neuzeit wandelte sich diese Situation jedoch grundlegend. Während sich das spätmittelalterliche jüdische Denken mit Maimonides immer wieder inhaltlich auseinandersetzen konnte und musste, rückte der große Gelehrte den jüdischen Denkern der Neuzeit und der Moderne zunächst in eine oft unüberwindlich scheinende Ferne. Die Differenzen zwischen den modernen und den mittelalterlichen Denkvoraussetzungen ließen kaum noch Raum für eine philosophische Würdigung des maimonidischen Denkens, und nur mühsam hat sich die jüdische Philosophie ihren wohl wichtigsten Vertreter

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im Laufe des 20. Jahrhunderts philosophisch wieder zu eigen gemacht.1 Was indessen ungeachtet der inhaltlichen Entfremdung aber stets blieb, war und ist der Topos von Maimonides’ herausragender philosophischer Bedeutung. Aus heutiger Sicht kann somit das 18. und 19. Jahrhundert mit guten Gründen als historischer Tiefpunkt der philosophischen MaimonidesRezeption angesehen werden. Es ist nun aber bemerkenswert, dass diese baisse der maimonidischen Philosophie zusammenfällt mit der hausse des europäischen Orientalismus. Diese historische Parallelität wirft Fragen auf, denen im Folgenden nachgegangen werden soll, denn wie immer man Maimonides inhaltlich deuten mag, dieser jüdische Philosoph war ein Orientale.2 Geboren 1138 in Cordova im maurischen Andalusien, gehörte die Familie des Maimonides zu einer traditionsreichen und angesehenen Bildungselite. Bereits um 1149 musste sie jedoch vor den almohadischen Verfolgungen fliehen, gelangte zunächst nach Nordafrika, dann über Palästina nach Ägypten, wo Maimonides bis zu seinem Tode 1204 lebte. 1

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Die Rezeptionsgeschichte des Maimonides und des „Maimonidismus“ hat in den letzten Jahren verstärkt das Forschungsinteresse auf sich gezogen; vgl. dazu u. a. die Sammelbände Georges Tamer (Hg.): The Trias of Maimonides/Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge/Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005; Görge K. Hasselhoff/Otfried Fraisse (Hg.): Moses Maimonides (1138-1204). His Religious, Scientific, and Philosophical Wirkungsgeschichte in Different Cultural Contexts, Würzburg: Ergon 2004; James T. Robinson (Hg.): The Cultures of Maimonideanism. New Approaches to the History of Jewish Thought, Leiden: Bill 2009; Carlos Fraenkel (Hg.): Traditions of Maimonideanism, Leiden: Brill 2009. Wichtige weitere Aufsätze stammen von Eliezer Schweid: „The Influence of Maimonides in 20th Century Jewish Thought“ (hebr.), in: Shlomo Pines Jubilee Volume on the Occasion of his Eightieth Birthday, Band 2, Jerusalem 1990, S. 293-324; Warren Zev Harvey: „The Return of Maimonideanism“, in: Jewish Social Studies 42/3 (1980), S. 249-268, und ders.: „Historiographies of Jewish History: The Place of Maimonides and Lévinas“, in: Raphael Jospe (Hg.), Paradigms in Jewish Philosophy, Madison: Fairleigh Dickinson University Press 1997, S. 27-36; J. Harris: „The Image of Maimonides in Nineteenth-Century Jewish Historiography“, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 54 (1987), S. 117-139; Gregor Schwarb: „Die Rezeption Maimonides’ in der christlich-arabischen Literatur“, in: Judaica 63/1-2 (2007), S. 1-45. Die Forschungsliteratur zu Maimonides ist unüberschaubar. Neuere Gesamtdarstellungen mit umfangreicher Forschungsliteratur sind Herbert A. Davidson: Moses Maimonides. The Man and His Works, Oxford: Oxford University Press 2005; Sarah Stroumsa: Maimondes in his World. Portrait of a Mediterranean Thinker, Princeton: Princeton University Press 2009; zu seiner Philosophie vgl. Kenneth Seeskin (Hg.): The Cambridge Companion to Maimonides, Cambridge: Cambridge University Press 2005.

NEU-ORIENT-IERUNG AN MAIMONIDES?

Schwere Krisen in seinem Leben waren der Tod seines Vaters und seines Bruders, die ihn phasenweise offenbar in tiefe Depression versetzten. Dennoch gelang es ihm, sich als geistiger und politischer Führer der ägyptischen Juden durchzusetzen, und er genoss als Arzt auch Zugang zum Kairoer Kalifenhof. Maimonides’ literarisches Werk lässt sich in drei Bereiche einteilen, die untrennbar miteinander verwoben sind: Er war in der Tradition seines Vaters jüdischer Rechtsgelehrter, der von einer frühen Phase an mit den Fragen des jüdischen Rechts vertraut wurde. Aus diesem Tätigkeitsbereich stammt sein frühestes großes Werk, der arabisch geschriebene Kommentar zur Mischna, das „Buch der Leuchte“ (KitÁb as-SirÁÊ), das er mehrfach überarbeitete, vermutlich erstmals aber im Jahre 1168 veröffentlichte. Sein wichtigstes Werk in diesem Bereich ist aber der in Hebräisch verfasste Rechtskodex Mischne Tora aus dem Jahre 1180, in welchem er versuchte, das gesamte geltende und überlieferte jüdische Recht zu systematisieren und zu vereinheitlichen. Zudem war Maimonides aber nicht nur geistliches, juristisches und politisches Oberhaupt der ägyptischen Juden, sondern auch – und in gewisser Hinsicht sogar vor allem – Arzt. Wie aus biographischen Notizen hervorgeht, hat er diesem Beruf viel seiner Zeit opfern müssen, die er selbst gerne anderen Zwecken gewidmet hätte. Dennoch ist bemerkenswert, dass er auch im Bereich der Medizin wissenschaftlich-schriftstellerisch tätig war und eine nicht geringe Anzahl von beachtlichen medizinischen Werken in arabischer Sprache verfasst hat, die teilweise ins Hebräische und auch Lateinische übersetzt worden sind. Schließlich hat sich Maimonides zeitlebens aber auch für philosophische Fragen interessiert, wie schon an einem – vielleicht jedoch nicht authentischen – frühen Werk über die Logik zu ersehen ist. Das wichtigste Werk zur Philosophie ist jedoch der „Führer der Verwirrten“, More ha-Nevukhim oder DalÁlat al-ÍÁÞirÐn, wie das Buch in seinem arabischen Originaltitel lautet. Er verfasste das Werk in den Jahren 1176-1190, und es wurde schon zu seinen Lebzeiten von Shemuel Ibn Tibbon in der Provence ins Hebräische übersetzt. Neben dieser Übersetzung existiert noch eine zweite Übersetzung von Yehuda al-Íarizi, die zwar innerhalb des Judentums weniger gelesen wurde, aber der lateinischen Übersetzung zugrunde liegt, die bereits im 13. Jahrhundert in Europa so verbreitet war, dass beispielsweise Albertus Magnus und Thomas von Aquin sie intensiv studieren konnten.3

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Zur christlichen Maimonides-Rezeption vgl. Görge K. Hasselhoff: Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg: Ergon 2004. 95

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Philosophiegeschichtlich steht Maimonides am Übergang von stärker neuplatonisch und theologisch ausgerichtetem Denken hin zur Philosophie des Aristoteles. Er vollzieht damit einen Wandel, der auch in der arabisch-islamischen Philosophie der Umweltkultur stattgefunden hat und besonders stark in Andalusien, der ursprünglichen Heimat des Maimondes, wirksam war. Diese Neuausrichtung rief im Bereich der Philosophie ein starkes Interesse an der authentischen Lehre des Aristoteles hervor, das darum bemüht war, die Überformungen, die diese Lehre im Laufe der Jahrhunderte vor allem aus dem Bereich der neuplatonischen Philosophie erfahren hatte, abzustreifen. Zugleich setzte sich Maimonides von den islamischen Theologen – den mutakallimÙn – sehr kritisch ab und bemühte sich, die Überlegenheit der aristotelischen Lehre gegenüber dieser islamischen Theologie zu unterstreichen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Maimonides in jeder Hinsicht ein Produkt des Orients ist. Sein Denken war – neben der hebräisch-jüdischen Tradition – vorrangig durch das Arabische geprägt, er hat die Mehrzahl seiner Werke in Arabisch verfasst, und er hat zeitlebens im arabischislamischen Kulturkreis gelebt. Die orientalische Herkunft des Maimonides hat denn auch die orientalistische Phantasie beflügelt. Obwohl nicht bekannt ist, wie er tatsächlich ausgesehen hat, hat das 18. Jahrhundert dem Orientalen Maimonides ein Angesicht verliehen, das er seitdem nie wieder verlieren sollte: Erstmals im Jahre 1744 erschien in Venedig der Thesaurus antiquitatum sacrarum complectens selectissima clarissimorum virorum opuscula, in quibus veterum Hebraeorum mores, leges, instituta, ritus sacri, et civiles illustrantur des Blasius Ugolino, vermutlich ein jüdischer Konvertit zum Katholizismus, in dem sich das erste Maimonides-Portrait findet, das wir kennen. Es präsentiert den jüdischen Gelehrten als Orientalen par excellence, mit Turban, Bart und edlem Mantel, wodurch er den Eindruck eines weisen, ernsten, aber wohlwollenden orientalischen Herrschers und Führers vermittelt, wie überhaupt zu vermuten ist, dass für diese Darstellung türkische Sultansdarstellungen Pate standen.4 Dieses Bild prägt die visuelle Vorstellung von Maimonides bis auf den heutigen Tag. Mitte des 19. Jahrhunderts von Isaak Samuel Reggio in dem Thesaurus wieder entdeckt und begutachtet,5 wurde es z. B. in die einflussreiche englische Jewish Encyclopaedia (1901-1906) aufgenommen und fand von dort Ein4

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Zur Darstellung von Juden mit Turban vgl. auch Ivan Davidson Kalmar: „Jesus Did Not Wear a Turban: Orientalism, the Jews, and Christian Art“, in: ders./Derek J. Penslar (Hg.), Orientalism and the Jews, Waltham: New England University Press 2005, S. 3-31. Isaak Samuel Reggio: Beleg zur wahrscheinlichen Echtheit dieses Bildes von Herrn Professor I. S. Reggio in Görz (1843).

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gang in zahllose andere Publikationen, so nicht zuletzt in die 1933 erstmals erschienene Philosophie des Judentums von Julius Guttmann,6 so dass der Orientale Maimonides auch hier zumindest visuell zum orientalischen Emblem der jüdischen Philosophie wurde. Die Rezeption dieses orientalisierenden Maimonides-Portraits ist natürlich vor dem Hintergrund der Verklärung des Orients erklärbar, die auch vor dem Judentum nicht Halt machte.7 Gerade die jüdischen Aufklärer des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, die der als beengend und rückständig empfundenen rabbinischen Kultur des europäischen Judentums entkommen wollten, erkannten in der jüdischen Kultur des islamischen Spaniens, aber auch in der arabisch-jüdischen Kultur des Mittelalters insgesamt ein lichtes Vorbild für eine bessere Zukunft des Judentums auch in Europa. In vielerlei Beziehungen versuchten die jüdischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts daher, das jüdisch-arabische Erbe des Mittelalters für sich zu reaktivieren, wie unter anderem im Hinblick auf die maurische Synagogenarchitektur gezeigt werden kann.8 So ergänzt das Portrait des weisen, strengen, selbstbewussten, ernsten aber auch wohlwollenden orientalischen Führers Maimonides das Gesamtphänomen einer Neu-Orientierung des Judentums an orientalischen Vorbildern. Die ikonographische Lösung des bekannten Portraits war so überzeugend, dass offenbar nie die Notwendigkeit empfunden wurde, einen konkurrierenden Entwurf für ein Bildnis des Maimonides zu entwerfen. Aus der historischen Parallelität der Phänomene ergibt sich jedoch die Frage, ob die ikonographische Orientalisierung des Maimonides einerseits und die inhaltliche Bewertung und Deutung seines Werks – philosophisch oder historisch gleichermaßen – sachlich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einander stehen? Wenn Maimonides intuitiv von der Imagination des 18. und 19. Jahrhunderts in orientalistischen Farben gemalt wurde, hat dieser Orientalismus auch Einfluss auf die Maimonides-Rezeption innerhalb des Judentums gehabt? Haben orientalistische Deutungsmuster die Orientierung an Maimonides als Bezugs6 7

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Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums, München: Ernst Reinhardt 1933. Einen wichtigen Überblick zu Zeugnissen der Wertschätzung des sephardisch-arabischen Judentums bietet Ismar Schorsch: „The Myth of Sephardic Supremacy“, in: Leo Baeck Institute Year Book 34 (1989), S. 47-66; zu dem Verhältnis von Judentum und Orientalismus vgl. Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar in der Einleitung zu ihrem Sammelband Orientalism and the Jews, Waltham: New England University Press 2005, S. XIII-XL. Vgl. Ivan Davidson Kalmar: „Moorish Style: Orientalism, the Jews and Synagogue Architecture“, in: Jewish Social Studies 7 (2001), S. 68-100. 97

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punkt der jüdischen Philosophiegeschichte mit geprägt? Oder hat umgekehrt die philosophiegeschichtliche Deutung des Maimonides seine Orientalisierung erfordert und gefördert? Mit dieser Frageperspektive reihen sich die folgenden Ausführungen in eine Diskussion über das Verhältnis der Juden zum europäischen Phänomen des Orientalismus ein, die seit einigen Jahren am Rande der Orientalismus-Debatte geführt wird. Ein wichtiger Anstoß in der Übertragung und Kritik orientalistischer Kategorien auf die Deutung der jüdischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts war Susannah Heschels Untersuchung zum Jesus-Bild Abraham Geigers (1810-1874).9 In ihrer Studie zu dem Werk des Vordenkers der jüdischen Reformbewegung kam sie zu dem Schluss, dass Geigers Versuch, Jesus als Juden darzustellen, das Ziel verfolgte, die Hegemonie christlicher Geschichtsdeutung in einer Art „postkolonialem Diskurs“ zu durchbrechen. Damit zeichnet Heschel die Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts mutatis mutandis als Objekte eines inneren Kolonialismus des christlichen Westens, der vergleichbar dem eigentlichen Orientalismus versucht, sein Dominanzverhältnis gegenüber dem Anderen durch intellektuelle Hegemonie und Autorität zu manifestieren. Geiger untergrub dagegen durch seinen Deutungsansatz eben diese innere Kolonialisierung des Judentums. Zugleich hinterfragt Heschel Edward Saids pauschale Kritik am europäischen Orientalismus, indem sie auf die Rolle der kulturell selbst marginalisierten Juden in der europäischen „Orientalistik“ verweist. Auch Jonathan M. Hess betrachtet das Verhältnis zu Juden und Muslimen im Deutschland des 18. Jahrhunderts als zwei parallele Ausformungen von Orientalismus,10 und der Sammelband Orientalism and the Jews von Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar widmet sich ebenfalls diesem Themenkomplex von verschiedenen Seiten.11 Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten kann die oben formulierte Frage nach dem Einfluss des Orientalismus auf die jüdische Maimonides-Rezeption durch die jüdische Aufklärung im 18. und die frühe Wissenschaft des Judentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weiter präzisiert werden. Es soll herausgearbeitet werden, ob die jüdische Rezeption der maimonidischen Philosophie auch als Reaktion auf eine wie auch immer geartete innere koloniale Hegemonisierung des Juden im europäischen, insbesondere im deutschen Wissenschaftsdiskurs der Zeit zu verstehen ist. Dazu wird anhand einer vergleichenden Analy9

Vgl. Susannah Heschel: Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago: The University of Chicago Press 1998. 10 Vgl. Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, New Haven, London: Yale University Press 2002. 11 Vgl. I. D. Kalmar/D. J. Penslar (Hg.): Orientalism and the Jews. 98

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se von Maimonides-Interpretationen verschiedener Vertreter der jüdischen Aufklärung und der Wissenschaft des Judentums untersucht, ob und, wenn ja, in welcher Form gerade der Orientale Maimonides zu einem Bezugspunkt für eine Neu-Orientierung des europäischen Judentums im 19. Jahrhundert werden konnte. Um die Maimonides-Rezeption der jüdischen Aufklärung und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihrer ganzen Breite darstellen zu können, bedürfte es einer monographischen Abhandlung. Deshalb kann hier nur anhand von Beispielen aufgezeigt werden, wie orientalistische Motive in verschiedenen Maimonides-Deutungen Eingang gefunden haben, welchen Ursprung sie hatten und wie sie sich auf die Gesamtbewertung der maimonidischen Philosophie niederschlugen. Nach einem kurzen Rückblick auf die Maimonides-Rezeption in der jüdischen Aufklärung (Haskala) sollen die Anfänge der Wissenschaft des Judentums, äußerlich repräsentiert durch Leopold Zunz’ Aufsatz „Etwas über die rabbinische Literatur“ (1818) und die Gründung des Vereins für die Kultur und Wissenschaft der Juden (1819), als Ausgangspunkt dienen. Die frühe Phase der Wissenschaft des Judentums soll bis zur Jahrhundertmitte begrenzt werden, auch wenn diese Einteilung etwas schematisch erscheinen mag. Als Hauptvertreter werden Salomon Munk und Moritz Steinschneider besondere Aufmerksamkeit erfahren. Bei ihnen lassen sich die Forschungsparadigmen schon nachvollziehen, die für die Wissenschaft des Judentums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Manuel Joël,12 Jacob Guttmann13 und Moritz Eisler,14 wei12 Ausgehend von einem Vortrag Aharon Shear-Yashuvs: „Manuel Joël and Kantian Philosophy“ (hebr.), in: Proceedings of the Eleventh World Congress of Jewish Studies, Division C: Thought and Literature, Band 2, Jerusalem: The World Union of Jewish Studies 1994, S. 101-108, hat sich in einigen neueren Arbeiten die Ansicht verbreitet, dass sich bereits in den philosophischen und philosophiegeschichtlichen Arbeiten Manuel Joëls in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Wendung zum Kantianismus abzeichne. Diese Deutung beruht jedoch auf einer zu schwachen Textgrundlage und ist jedenfalls für die Maimonides-Interpretation nicht von großer Bedeutung; vgl. dazu Görge K. Hasselhoff: „Manuel Joel and the Neo-Maimonidean Discovery of Kant“, in: Robinson (Hg.), The Cultures of Maimonideanism (2009), S. 289-307, und George Y. Kohler: „Maimonides and Ethical Monotheism: The Influence of the Guide of the Perplexed on German Reform Judaism in the late Nineteenth and Early Twentieth Century“, in: ebend., S. 309-334. 13 Vgl. dazu auch Görge K. Hasselhoff: „The Rediscovery of Maimonidean Influence on Christianity in the Works of Moritz Steinschneider, Manuel Joel, Joseph Perles, and Jacob Guttmann“, in: ders./Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 449-478, hier S. 459-470. 14 Vgl. Moritz Eisler: Vorlesungen über die jüdischen Philosophen des Mittelalters, 2. Abt., Wien: Verlag der Wallishausser’schen Buchhandlung 1870. 99

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ter gültig waren. Eine echte Neu-Orientierung zeichnete sich erst um die Jahrhundertwende durch die Abkehr von dem bis dahin dominierenden Positivismus und Historismus in der Wissenschaft des Judentums ab,15 die im vorliegenden Kontext nicht mehr berücksichtigt werden kann.16 Es ist bereits oben darauf hingewiesen worden, dass in der frühen Neuzeit das jüdische Interesse am philosophischen Werk des Maimonides zunächst stark zurückging. Dies spiegelt sich auch in der Druckgeschichte des More Nevukhim wieder. Während in den Jahren zwischen 1480-1553 der hebräische More Nevukhim noch mehrfach in Italien gedruckt wurde, erfolgte danach für knapp 200 Jahre keine Neuauflage. Erst im Jahre 1742 wurde das Werk wieder aufgelegt, diesmal im sächsischen Jeßnitz.17 Zeitpunkt und Ort dieser Neuauflage sind nicht bedeutungslos, da sie mit dem Beginn dessen zusammenfällt, was als die „jüdische Aufklärung“ bezeichnet wird, die sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem unter den Juden Mitteleuropas – Preußen spielte hierbei eine ganz zentrale Rolle – herausbildete und ausbreitete. Die „Renaissance“, wenn man so will, des Maimonides ist also ganz eng im Kontext der jüdischen Aufklärung zu sehen. Ein besonders starkes Interesse an Maimonides gerade im Kreise der jüdischen Aufklärer scheint auf den ersten Blick auch kaum überraschend, wenn man bedenkt, wie sehr dessen Philosophie einem „Rationalismus“ verpflichtet war, der der europäischen Aufklärung in mancher 15 Es wird sich zeigen, dass nach dem Ende der Geschichtsdeutungen im Sinne des deutschen Idealismus der Positivismus und der Historismus die beiden wesentlichen Strömungen waren, die die historische MaimonidesRezeption bestimmt haben. Zum Positivismus und Historismus in der europäischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts vgl. Eckhardt Fuchs: „Conceptions of Scientific History in the Nineteenth-Century West“, in: Q. Edward Wang/Georg G. Iggers (Hg.), Turning Points in Historiography. A Cross-Cultural Perspective, Rochester: Rochester University Press 2002, S. 147-161. 16 Diese Wende ist wesentlich mit der Person und dem Werk Hermann Cohens verbunden; vgl. hierzu v. a. Hermann Cohens Aufsatz aus dem Jahr 1908 „Charakteristik der Ethik Maimunis“, in: ders., Jüdische Schriften (1924), Band 3, S. 221-289. Die programmatische Abkehr vor allem vom Historismus findet sich am deutlichsten in seiner Rede aus dem Jahre 1904 „Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religionsphilosophie an den jüdisch-theologischen Lehranstalten“, in: ders., Jüdische Schriften (1924), Band 2, S. 108-125. Zu Cohens Kritik am Historismus vgl. auch Georg G. Iggers: The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, überarbeitete Auflage, Middletown: Wesleyan University Press 1983, S. 144-147. 17 Zu den Druckausgaben von Maimonides’ More Nevukhim vgl. Moritz Steinschneider: Catalogus Librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana, Berlin: Friedländer 1852-1860, Sp. 1894-1897. 100

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Hinsicht verwandt zu sein scheint. Trotz dieser scheinbaren Verwandtschaft des mittelalterlich-maimonidischen mit dem aufgeklärten Rationalismus ist jedoch bemerkenswert, dass sich nur wenige Vertreter der Haskala inhaltlich wirklich auf Maimonides beriefen oder auch nur intensiver mit seiner Philosophie auseinandersetzten.18 Eine wirklich sachliche Annäherung an oder Befruchtung durch Maimonides hat es unter den Maskilim nur in Ausnahmefällen gegeben, so dass Amos Funkenstein in einem wichtigen Aufsatz zu Recht anmerkt, dass die Begegnung der jüdischen Aufklärer mit mittelalterlicher philosophischer Tradition im Allgemeinen und mit Maimonides im Besonderen mehr eine symbolische als eine inhaltliche Funktion hatte.19 Unabhängig von den konkreten Inhalten der Werke der jüdisch-arabischen Denker erkannten die Maskilim in ihnen eine Präfiguration ihres eigenen Anliegens. Sie wurden zu einer rückprojizierten Utopie für ihr eigenes Streben, sich von der als unbefriedigend empfundenen Lage ihrer Gegenwart abzusetzen. Zu dieser symbolischen Rolle des Maimonides gesellte sich aber auch ein biographischer Aspekt: Für viele Aufklärer war die Lektüre von Maimonides’ philosophischem Hauptwerk die erste Begegnung mit Philosophie überhaupt, die auf diese Weise subjektiv auch dann noch von großer symbolischer Bedeutung blieb, wenn sie sich in der Folgezeit anderen philosophischen Strömungen zuwandten. Irene Zwiep will daher drei Formen der Maimonides-Rezeption im Judentum der Aufklärung unterscheiden, indem sie die Bezugnahme auf Maimonides als intellektuelle Kult-Figur ohne besonderen Bezug auf dessen Philosophie und die Verbreitung seiner Werke zu didaktischen Zwecken von echten Fortentwicklungen seiner Philosophie abheben will.20 Dabei kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die erste Form der Rezeption, also die Stilisierung von Maimonides zu einer Kult-Figur der jüdischen Aufklärung, gegenüber den anderen Formen bei weitem überwog. Er wurde zusammen mit der gesamten sephardischen Kulturtradition idealisiert, während

18 Vgl. Fischl Lachower: „Ha-RaMBa“M we-ha-Haskala ha-‘Ivrit be-Reshitah“, in: ders., ‘Al Gevul ha-Yashan we-he-Íadash, Jerusalem: Bialik 1951, S. 97-107. 19 Vgl. Amos Funkenstein: „Das Verhältnis der jüdischen Aufklärung zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie“, in: Karlfried Gründer/Nathan Rotenstreich (Hg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nicht-jüdischer Sicht, Heidelberg: Schneider 1990, S. 13-21. 20 Vgl. Irene E. Zwiep: „From Moses to Moses…? Manifestations of Maimonides in the Early Jewish Enlightenment“, in: Hasselhoff/Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 323-336. Vgl. Auch den älteren Aufsatz von James H. Lehmann: „Maimonides, Mendelssohn and the Me’asfim. Philosophy and the Biographical Imagination in the Early Haskala“, in: Leo Baeck Institute Year Book 20/1 (1975), S. 87-108. 101

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die tatsächlichen philosophischen Leistungen nur eine Nebenrolle spielten. Der „Rationalist“ Maimonides wurde zum Emblem der neuen jüdischen Philosophen, nicht aber seine Philosophie, die den Aufklärern fremd blieb. Der Denker Maimonides trat nur selten hinter dieser Maske hervor, so dass es überhaupt nur einen wirklichen Versuch unter den jüdischen Aufklärern gegeben hat, sein Werk philosophisch zu prüfen und positiv aufzunehmen. Die geschah durch Salomon Maimon (1753-1800), der aus einer traditionellen jüdischen Familie in Polen-Litauen stammte und sich der Haskala anschloss. Schon in seiner Autobiographie finden sich wiederholt Hinweise darauf, wie er gewissermaßen mit Maimonides in der Hand und mit einem an Maimonides geschulten Denken den traditionellen Vorstellungen der jüdischen Kultur seiner Zeit entgegen trat. Auch wenn es sich dabei in manchen Punkten sicherlich um eine retrospektive Stilisierung handelt, kann es keinen Zweifel geben, dass diese Beschreibung sinnbildlich für die Bedeutung der frühen Begegnung Salomon Maimons und anderer Maskilim mit den Werken des Maimonides steht. Detaillierte Darstellungen von Maimons Maimonides-Interpretation finden sich an anderer Stelle und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.21 Hervorzuheben ist aber, dass Maimon in philosophischer Hinsicht ein durchaus kritisches Verhältnis zu Maimonides einnahm, ihm in vielen Punkten offen widersprach, sich aber dennoch eben darin von seinen Zeitgenossen unterscheidet, dass er ihn als Gesprächspartner wirklich ernst nahm. Salomon Maimon liest den More Nevukhim im Wesentlichen als Werk über die „Metaphysik“, was für ihn im Sinne der Kantischen Philosophie erkenntniskritisch zu verstehen ist: Metaphysik behandelt die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, untersucht die Fundamente und Strukturen, um so ihre Grenzen zu bestimmen. Damit kann zwischen möglichen und illegitimen Erkenntnisansprüchen differenziert werden. Dem entsprechend preist Maimon den More Nevukhim des Maimonides zwar zunächst überschwänglich, lehnt aber eine dogmatische Lesart des Werkes ab. Unter der Ägide des Dictums Amicus Socrates, amicus Plato, sed magis amica veritas betont er in seinem hebräisch verfassten Kommentar GivÝat ha-More, dass man in ihm keine wahren Sätze suchen solle, sondern es seine Absicht sei, die Methoden zu verstehen, wie man zu solchen Sätzen gelangen kann, denn Ziel der Voll21 Vgl. Hierzu v. a. Gideon Freudenthal: „Salomon Maimon: Philosophizing in Commentaries“, in: Daat 53 (2004), S. 125-160; ders.: „Salomon Maimon. The Maimonides of Enlightenment?“, in: Hasselhoff/Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 347-362; Abraham Socher: „The Spectre of Maimonidean Radicalism in the late Eighteenth Century“, in: Robinson (Hg.), The Cultures of Maimonideanism (2009), S. 245-258. 102

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kommenheit sei es eben, im Erkenntnisvorgang aus der Potenz zur Aktualität zu gelangen, was aber nicht durch das Akzeptieren oder Glauben wahrer Sätze erfolgen könne, sondern nur durch den Vollzug des Erkennens selbst.22 Es ist also ein erkenntnistheoretisches Interesse, mit dem sich Maimon dem More nähert, das jedem Dogmatismus abhold ist. Salomon Maimon verfolgt eine kritische Strategie in seiner Maimonides-Lektüre, die ihm erlaubt, seinen „fortgeschrittenen“ Erkenntnisstand dem des Maimonides gegenüberzustellen. So kann der Rationalist Maimon den Rationalisten Maimonides schätzen und zugleich kritisieren, da er mit ihm in der Grundhaltung übereinzustimmen meint, wie auch in Maimons allgemeiner Charakterisierung des More in seiner Lebensbeschreibung deutlich wird: „Hier zeigt sich die reine Wahrheitsliebe, die ungeheuchelte, religiöse und moralische Gesinnung des Verfassers, seine tiefe Einsicht in allen Zweigen der menschlichen Erkenntnis, und sein philosophischer, alles durchdringender Geist auf eine ganz eigne musterhafte Art.“23 Diese philosophische Auseinandersetzung mit Maimonides paart sich bei Maimon aber ebenfalls mit einer idealisierenden Darstellung der andalusischen Kultur. So betont Maimon in der Einleitung zu der Zusammenfassung des More Nevukhim, die er als Anhang seiner deutschen Autobiographie beifügte, geradezu schwärmerisch den Fortschritt der Wissenschaften und Künste im maurischen Spanien: „Spanien und Frankreich standen damals gerade in einem umgekehrten Verhältnis, als sie jetzt stehn. Dort blühten Künste und Wissenschaften. Der politische Wohlstand und die Aufklärung stiegen bis zu einem hohen Grade. Hier (wie auch in den andern christlichen Ländern) herrschte die größte politische Zerrüttung, Unwissenheit und Roheit der Sitten. In Spanien waren zu dieser Zeit die berühmtesten Akademien und Universitäten. Die Gelehrsamkeit wurde auf alle Art und Weise befördert und aufgemuntert.“24

Die argumentative Stoßrichtung von Maimons Darstellung wird schnell deutlich: Gerade seinem nichtjüdischen Leserpublikum, an das sich die Autobiographie bevorzugt richtet, will Maimon die biographische wie die philosophische Bedeutung des Maimonides als Vorbild der jüdischen Aufklärung verdeutlichen. Damit unterscheidet er sich nicht von anderen

22 Vgl. Salomon Maimon: GivÝat ha-More (hebr.), hrsg. von Shemuel Hugo Bergmann und Nathan Rotenstreich, Jerusalem: Academy of Sciences and Humanities 1967, S. 4. 23 Fromer, Jakob (Hg.): Salomon Maimons Lebensgeschichte, München: G. Müller 1911, S. 375 (Hervorhebungen im Original). 24 Ebd., S. 367-368 (Hervorhebungen im Original). 103

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Maskilim, für die Maimonides allenfalls eine symbolische Bedeutung besaß. Der lautere Rationalist Maimonides wird hier zum Vorläufer und Vorbild des Erkenntniskritikers Maimon. Zugleich verbindet Maimon dies aber mit einem Orientbild – repräsentiert durch das andalusische Spanien –, das aus der Vielzahl orientalistischer Motive gerade das der aufgeklärten arabischen Wissenschaftstradition hervorkehrt. Damit gelingt Maimon in singulärer Weise eine umfassende Neu-Orientierung an Maimonides, die den autobiographischen Aspekt ebenso umfasst wie eine echte philosophische Auseinandersetzung mit der maimonidischen Philosophie und die Orientbegeisterung der jüdischen Aufklärung. So faszinierend die Gestalt Salomon Maimons mit ihrer Orientierung an Maimonides ist, es muss festgehalten werden, dass sie eine Ausnahme darstellt. Kein anderer Vertreter der Haskala hat sich derart intensiv mit Maimonides auseinander gesetzt. Dies gilt zunächst auch für die Erben der jüdischen Aufklärung unter den Vertretern der Wissenschaft des Judentums, die sich seit dem Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts um die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Kultur, den Nachweis ihres Wertes für die Allgemeinkultur und die politische und soziale Emanzipation der Juden bemühten.25 Maimonides hat in der Gründungsphase der Wissenschaft des Judentums zunächst kaum eine Rolle gespielt. In dem zuweilen als „Gründungsmanifest“ der Bewegung bezeichneten Aufsatz von Leopold Zunz „Etwas über die rabbinische Literatur“ (1818) ist Maimonides’ Philosophie beispielsweise überhaupt nur in einer Fußnote erwähnt.26 In dem nicht weniger bedeutenden Aufsatz des Hegelianers Immanuel Wolf „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“ (1822) verschwindet Maimonides sogar völlig – zugunsten einer gezielten Betonung der Bedeutung von Baruch Spinoza.27 Von einer unmittelbaren Neu-Orientierung an Maimonides kann in der Gründungsphase der Wissenschaft des Judentums also keine Rede sein.

25 Zur Wissenschaft des Judentums allgemein vgl. Kurt Wilhelm (Hg.): Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Ein Querschnitt, 2 Bde., Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1967; Nahum N. Glatzer: „The Beginnings of Modern Jewish Studies“, in: Alexander Altmann (Hg.), Studies in Nineteenth-Century Jewish Intellectual History, Cambridge/MA: Harvard University Press 1964, S. 27-45; Ismar Schorsch: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, Hanover: Brandeis University Press 1994. 26 Vgl. Leopold Zunz: „Etwas über die rabbinische Literatur“, in: Curatorium der „Zunzstiftung“ (Hg.), Leopold Zunz, Gesammelte Schriften, Band 1, Berlin: L. Gerschel 1875, S. 1-31, hier S. 27-28. 27 Vgl. Immanuel Wolf: „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1823), S. 124, hier S. 14. 104

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Eine bemerkenswerte Episode für die langsam einsetzende Maimonides-Rezeption in der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert ist dagegen der Aufruf Abraham Geigers zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät im Jahre 1836.28 Aus erhaltenen Dokumenten geht hervor, dass der Reformrabbiner Geiger Maimonides als Namenspatron für sein Unternehmen wählte, weil er ihn als Vorbild einer abgebrochenen Tradition wissenschaftlicher jüdischer Theologie sah, die in Form einer universitären jüdischen Theologie wieder belebt werden sollte. Gleichwohl unterstreicht Frank Surall in seiner Studie überzeugend, dass diese Vorbildfunktion nicht dazu verleiten dürfe, den inhaltlichen Einfluss von Maimonides auf Geiger zu überschätzen. Schließlich notierte dieser in seinem Tagebuch vom 29. April 1831: „Auch den More Nebuchim habe ich nunmehr durchgelesen, freilich nicht in der Absicht, über die von ihm behandelten Gegenstände belehrt zu werden, sondern mehr aus sprachlichen und historischen Gründen.“29 Geiger folgt hier also der bereits aus der Aufklärung bekannten symbolischen Instrumentalisierung des Maimonides unter ausdrücklicher Abkehr von philosophischen und theologischen Inhalten. Der orientalische Kontext des Maimonides spielt für Geiger dabei weder im Hinblick auf das jüdische oder gar das nichtjüdische Zielpublikum des Aufrufs eine herausragende Rolle.30 Ähnlich verhält es sich bei dem stark von Hegel beeinflussten jüdischen Religionsphilosophen Nachman Krochmal (1785-1840), der manchmal der Mendelssohn Galiziens genannt wird. Er war Schüler von Leopold Zunz, gehörte also im weiteren Sinne der Gruppe der Wissenschaft des Judentums an, schlug aber mit seinem posthum veröffentlichten Hauptwerk More Nevukhe ha-Zeman (Führer der Verwirrten der Zeit) eigene philosophische Wege ein. Dabei verrät schon der Titel des Werks, dass Krochmal sich Maimonides anschließen wollte.31 Dennoch wird hinsichtlich des Verhältnisses zu Maimonides schon in den ersten vier

28 Vgl. Frank Surall: „Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines ‚Maimonidesvereins‘ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät“, in: Hasselhoff/Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 397-425. 29 F. Surall: „Abraham Geigers Aufruf“, S. 413. 30 Zu Abraham Geigers Maimonides-Interpretation vgl. auch dessen Schrift: Moses ben Maimon. Studien, Breslau: A. Gosohosky’sche Buchhandlung 1850. Nachdruck in: Abraham Geiger’s Nachgelassene Schriften, hg. von Ludwig Geiger, Band 3, Berlin: Gerschel 1876, S. 34-96. 31 Das Verhältnis Nachman Krochmals zu Maimonides ist in der Forschung mehrfach behandelt worden; vgl. hierzu v. a. Andreas Lehnardt: „Maimonides in der Geschichtsphilosophie Nachman Krochmals“, in Hasselhoff/ Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 427-447, der auch die gesamte relevante ältere Literatur nennt. 105

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„Pforten“ seines Werkes deutlich, dass Krochmals eigenes System mit dem Denken des Maimonides kaum etwas gemein hat.32 Er versucht dort, unter dem Einfluss der Geschichtsphilosophie Hegels die jüdische Geschichte in ihrer inneren Beziehung zum „absoluten Geist“ zu interpretieren, was natürlich keinerlei Anknüpfungspunkt bei Maimonides hat. Krochmal enthält sich aber auffällig jeder direkten Kritik an Maimonides und verteidigt dessen zeitbedingte Einsichten und Verstehensmöglichkeiten. Zudem übernimmt er dessen Grundeinstellung, dass Tradition und zeitgenössische Philosophie vereinbar seien, und in seiner Beschreibung der drei Grundübel der Zeit – Krochmal spricht hier von „Schwärmerei“, „Aberglauben“ und „Werkheiligkeit“ – besteht ebenfalls eine gewisse Parallele zu der Zeitdiagnose des Maimonides. Diesen Grundübeln will Krochmal mit den drei Gebieten der Philosophie, der „Metaphysik“, „Physik“ und „Ethik“ entgegenarbeiten. In den Überlegungen des Maimonides, in denen seiner Meinung nach diese Disziplinen vorausgesetzt sind, fehlt jedoch die historiosophische Fragestellung, die das eigentliche Novum in Krochmals Philosophie bildet.33 Während Geiger und Krochmal aber gerade im Kontext ihrer eigenen theologischen und philosophischen Denkvoraussetzungen verbleiben und sich trotz demonstrativer Maimonides-Bezüge weitgehend auf eine symbolische Verwendung dessen Gestalt beschränken, ohne dabei intensiver auf orientalistische Aspekte zu rekurrieren, entwickelt sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in dem stärker historisch arbeitenden Zweig der Wissenschaft des Judentums ein einflussreicher Interpretationsansatz, in dem die Verbindung des Maimonides gerade zur arabischen Kultur eine zentrale Funktion einnehmen sollte. An erster Stelle kann hier der Philosophiehistoriker Salomon Munk (1805-1867) genannt werden, dessen größte wissenschaftliche Leistung die in den Jahren 1856-1866 in Paris erschienene dreibändige Ausgabe des arabischen Urtextes des DalÁlat al-ÍÁÞirÐn ist, die er mit einer gelehrten französischen Übersetzung versah. Beide Teile des Werks, Edition und kommentierte Übersetzung, sind bis heute von großem wissenschaftlichen Wert. Gerade vor dem Hintergrund dieser aufwändigen philologischen Editionsarbeit, die Maimonides erstmals sprachlich in den arabischen Orient zurück führte, ist interessant zu sehen, wie Munk selbst die Bedeutung seines Philosophen einschätzt. Der Schlüssel hierfür findet sich in seiner Esquisse historique de la philosophie chez les

32 Vgl. Nachman Krochmal: Kitve RN“Q (hebr.), hg. von Sh. Ravidowicz, London: Ararat 1961. 33 Vgl. A. Lehnhardt: „Maimonides in der Geschichtsphilosophie Nachman Krochmals“, S. 437. 106

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juifs, die der erste Versuch überhaupt war, eine zusammenhängende Geschichte der jüdischen Philosophie zu schreiben.34 In der Esquisse stellt Munk die Philosophie des Maimonides in den Kontext des umfassenden Gegensatzes von Philosophie und Religion, während es dessen Ziel war, beide mit einander zu versöhnen: „Um, wenn irgend möglich, zwischen Judenthum und Philosophie eine Versöhnung zu erwirken, bedurfte es eines Geistes, der beide beherrschend, Ruhe und Klarheit, Energie und Tiefe vereinigte; durch imponirendes Wissen und eindringende Kritik befähigt war, das ganze Gebiet der Religion mit der Fackel der Wissenschaft zu beleuchten und die Grenzen der Spekulation und des Glaubens mit Genauigkeit zu bestimmen. Der grosse Mann, der dieser Aufgabe sich unterzog, war Moses, Sohn Maimons, gewöhnlich Maimonides genannt, geboren zu Cordua am 13. März 1135 und gestorben zu Alt-Kairo am 13. Dezember 1204. Bei tiefster Kenntniss der umfassenden religiösen Literatur der Juden war er zugleich mit allen der arabischen Welt damals zugänglichen profanen Wissenschaften vertraut. In die unförmlichen und riesenhaften Massen der talmudischen Kompilationen brachte er zuerst systematische Ordnung, stellte das religiöse Gebäude des Judenthums auf feste Grundlage hin, und bestimmte die Anzahl der Grundartikel des Glaubens. Indem er auf diese Weise ein Mittel darbot, das Ganze des Religionssystems sich anzueignen, vermochte er, wenn auch nicht völlige Versöhnung, doch mindestens Annäherung zwischen Philosophie und Religion zu bewirken und, die Rechte beider anerkennend, sie zur gegenseitigen Kontrole und Unterstützung zu befaehigen.“

Dann führt er jedoch durchaus kritisch weiter aus:

34 Der Text wurde als „Esquisse historique de la philosophie chez les juifs“ als Teil seiner berühmten Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris: A. Franck 1857/1859, S. 461-511, veröffentlicht. Er beruht jedoch auf einem für das Dictionnaire des sciences philosophiques, 6 Bde., Paris: Hachette 1844-1852 (n. v.), verfassten Beitrag, der auch als Separatdruck veröffentlicht wurde (Salomon Munk: La Philosophie chez les Juifs, Paris: Bureau des Archives Israelites 1848). Das Werk wurde fast unmittelbar nach seinem Erscheinen von Bernhard Beer ins Deutsche übertragenen (Philosophie und philosophische Schriftsteller der Juden, Leipzig: Hunger 1852) und mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen. Vgl. zu Munk auch Alfred L. Ivry: „Salomon Munk and the Mélanges de Philosophie juive et arabe“, in: Jewish Studies Quarterly 7 (2000), S. 120-126; ders.: „Salomon Munk and the Science of Judaism Meet Maimonides’ Guide of the Perplexed“, in: Hasselhoff/Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (2004), S. 479-489; Chiara Adorisio: „Jewish Philosophy or ‚Philosophy among the Jews‘? Salomon Munk and the Reception of Judeo-Arabic Texts in the 19th Century“, in: Naharaim 3 (2009), S. 91-101. 107

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„Die Entscheidung, in wie weit Maimonides’ Bestreben der Entwickelung der jüdischen Theologie nützte, gehört nicht hierher, aber in philosophischer Beziehung trug sein Moreh oder ‚Führer der Verirrten‘, obgleich er unmittelbare, in der Geschichte der Philosophie Epoche machende Erfolge nicht hervorbrachte, doch immer zu grösserer Ausbreitung des Studiums der peripatetischen Philosophie unter den Juden mächtig bei, machte Letztere zu Vermittlern zwischen den Arabern und dem christlichen Europa und übte dadurch einen unbestreitbaren Einfluss auf die Scholastik aus. – Innerhalb der Synagoge hatte der Moreh oder ‚Führer‘ Erfolge, die die Herrschaft der perpatetischen Lehre überdauerten und deren Einfluss heutzutage noch fühlbar ist. Durch das Studium des ‚Moreh‘ wurden die grössten Geister unter den neueren Juden, Spinoza, Mendelssohn, Sal. Maimon und viele Andere in das Heiligthum der Philosophie eingeführt.“35

Munk verschränkt in dieser Darstellung mehrere Aspekte mit einander, die durchaus von Interesse sind: Zunächst stützt er sich auf die inhaltliche Charakterisierung, nach der Maimonides es vermochte, „wenn auch nicht völlige Versöhnung, doch mindestens Annäherung zwischen Philosophie und Religion zu bewirken und, die Rechte beider anerkennend, sie zur gegenseitigen Kontrolle und Unterstützung zu befaehigen.“ Anders als bei Salomon Maimon ist es also nicht das erkenntniskritische Interesse, das Munk am More Nevukhim fasziniert, sondern die angestrebte Versöhnung der einander widerstreitenden Bereiche Religion und Philosophie. Mit der Betonung der Gegensätzlichkeit von Religion und Philosophie bzw. Wissenschaft kann Munk in die geistige Atmosphäre der Mitte des 19. Jahrhunderts und des aufkommenden Positivismus verortet werden. Er bleibt allerdings skeptisch, ob eben diese Versöhnung dem Maimonides gelungen sei, so dass er es hinsichtlich der historischen Bewertung keinesfalls damit bewenden lassen will. Stattdessen rückt Munk einen weiteren Aspekt ins Zentrum seines Interesses: Er betont, dass Maimonides eine wichtige Funktion in der Entwicklung der philosophischen Bildung der Juden einnahm. Erst durch ihn wurden sie befähigt, so Munk, ihre historische Mittlerfunktion zwischen der arabischen und der europäischen Kultur wahrzunehmen. Das letztgültige Werturteil über Maimonides ergibt sich damit für Munk nicht aus dessen Werk selbst, sondern aus seiner historischen Rolle in der allgemeinen Philosophiegeschichte, die ihn an den Beginn des Übermittlungsprozesses von Wissen aus dem Orient in den Okzident stellt.

35 S. Munk: Philosophie und philosophische Schriftsteller der Juden, S. 26-27 (Hervorhebung im Original). 108

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Munks Maimonides-Deutung nimmt damit wieder das Motiv der Einbettung in die arabische Wissenschaftskultur auf, das uns bereits begegnet war. Daraus wird deutlich, dass sich Munks Interesse gerade an dem arabischen Maimonides von einem Narrativ herleitet, das auf dem Fundament der Hochschätzung des Orients als Wissenschaftskultur und der Rolle der Juden als Kulturvermittler beruht.36 Diese historische Funktion war aber für Munk eine einmalige, die nicht für die Gegenwart wiederholbar ist, so dass er hinsichtlich der jüdischen Philosophie der Neuzeit am Ende seines historischen Abrisses feststellt: „Wenn es seitdem [d. h. seit dem Ende des 15. Jahrhunderts; R.L.] unter den Juden Philosophen gab, so gehören sie zur Geschichte der allgemeinen Civilisation und wirken als Philosophen nicht auf ihre Glaubensgenossen insbesondere. Spinoza, der die religiösen Empfindungen einer grösstentheils aus spanischen und portugiesischen Flüchtlingen, Opfern der Inquisition, bestehenden Gemeinde ohne Schonung behandelte, und für Menschen, die wegen ihres Glaubens so viel gelitten hatten, kein Mitgefühl kannte, dieser Spinoza ward von den Juden verläugnet. Selbst Mendelssohn, der sich der Sache seiner Glaubensgenossen so edel annahm und den man als den Schöpfer der neuern Civilisation der europäischen Juden betrachten kann, wollte und konnte keine neue philisophische Aera für sie begründen. – Mit einem Worte: die Juden als Nation oder als Religionsgesellschaft spielen in der Geschichte der Philosophie nur ein sekundäre Rolle; denn dies war nicht ihre Aufgabe. Indessen theilen sie unbestreitbar mit den Arabern das Verdienst, die philosophische Wissenschaft während der Jahrhunderte Barbarei erhalten und verbreitet, so wie eine lange Zeit hindurch auf die europäische Welt einen civilisirenden Einfluss geübt zu haben.“37

36 Es ist auffällig, dass Munk mit dieser reinen Vermittlerfunktion der Juden unzufrieden war. So betont er in Philosophie und philosophische Schriftsteller der Juden, S. 19, historisch ganz zu recht, dass die Juden in Spanien sich bereits vor den Muslimen mit der Philosophie befasst hätten: „Man glaubt gewöhnlich, die moslemischen Philosophen in Spanien seien die Lehrer der spanischen Juden in der Philosophie gewesen, diese Meinung ist insoweit richtig, als sie Maimonides und seine Nachfolger im christlichen Spanien betrifft, aber es ist ausgemacht, dass die spanischen Juden bereits die Philosophie mit vielem Erfolge behandelten, ehe diese Wissenschaft unter den Moslemen einen würdigen Vertreter gefunden hatte.“ (Hervorhebung im Original). Außerdem streicht er den aktiven Beitrag bei der Rezeption der aristotelischen Philosophie hervor: „Die Juden hatten, indem sie die arabische Philosophie in Uebereinstimmung mit ihrer Religion zu bringen suchten, der peripatetischen Lehre einen besonderen Charakter verliehen, wodurch in mancher Hinsicht eine National-Philosophie für sie daraus geworden war“ (ebd., S. 37-38). 37 Ebd., S. 38 (Hervorhebung im Original). 109

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Die historische und philologische Verortung des Maimonides in der arabischen Kulturtradition gilt Munk wie der Wissenschaft des Judentums insgesamt als unbestreitbarer Wert. Dennoch führt sie aber auch zu einer inhaltlichen Entfremdung von dem orientalischen Denker Maimonides. Selbst die symbolische Vorbildfunktion des jüdisch-arabischen Mittelalters relativiert sich, wenn Munk nur noch zweifeln kann, ob es Maimonides überhaupt gelungen sei, Philosophie und Religion mit einander zu versöhnen. Zugleich wird eine Orientierung an Maimonides als jüdischem Philosophen für die Gegenwart obsolet, da jüdische Philosophie in der Gegenwart ohnehin für Munk keine Entwicklungsperspektive mehr besitzt. Neben Munk ist auch Moritz Steinschneider (1816-1907), der als der Vater der hebräischen Bibliographie gilt, als ein wichtiger Wegbereiter für die Maimonides-Rezeption durch die Wissenschaft des Judentums zu nennen. Er verbindet dabei historistische und positivistische Elemente mit einander. Zwar hat Steinschneider sich in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk an keiner Stelle monographisch mit Maimonides befasst. In seinem Konzept einer jüdischen Literaturgeschichte, das seinem in den Jahren 1845-1847 verfassten großen Aufsatz „Jüdische Literatur“ zugrunde liegt,38 nimmt die historische Auseinandersetzung um die maimonidische Philosophie aber dennoch eine Schlüsselfunktion ein.39 Grundgedanke in Steinschneiders Konstruktion der jüdischen Literaturgeschichte ist, dass ihre erste Phase durch den kollektiv geschaffenen Midrasch geprägt war, also eine Form der Bibelauslegung, die sich aus gesetzlicher Halakha und freier Haggada zusammensetzt. Alle möglichen Inhalte menschlichen Wissens wurden in dieser kollektiven „nationalen“ Literatur des Judentums vereinigt. Erst durch den Einfluss der arabischen Wissenschaften konnten sich dann ab dem 8.-9. Jahrhundert auch im Judentum die einzelnen Wissenschafts- und Literaturzweige von der religiös geprägten Haggada emanzipieren.40 Diese Befreiung der Wissenschaften aus der Vormundschaft der Religion konnte aber nicht ohne Kampf erfolgen, so dass Steinschneider seinem literaturgeschichtlichen Entwurf einen gesonderten Abschnitt über den „Kampf der 38 Vgl. J. S. Ersch/J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, 2. Section, 27. Theil, Leipzig: Brockhaus 1847, S. 357-471. Eine überarbeitete englische Übersetzung erschien unter dem Titel: Jewish Literature from the Eighth to the Eighteenth Century with an Introduction on Talmud and Midrash: A Historical Essay, London: Longman, Brown, Green, Longmans & Roberts 1857. 39 Vgl. hierzu auch Reimund Leicht: „Moritz Steinschneider’s concept of a history of Jewish literature“, in: Gad Freudenthal/Reimund Leicht (Hg.), Studies on Moritz Steinschneider, Leiden: Brill [im Druck]. 40 Vgl. M. Steinschneider: „Jüdische Literatur“, S. 384-387. 110

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Wissenschaft und Haggada“ beifügt, in dem er detailliert beschreibt, wie unter dem Einfluss der arabischen Kultur zunächst die jüdische Sekte der Karäer entstand und später der sogenannte maimonidische Streit die Oberhoheit der rabbinischen Autoritäten erschütterte.41 Beides waren unabdingbare Voraussetzungen für das Aufblühen der jüdischen Literatur und Wissenschaften im Mittelalter, die so letztlich nur unter arabischem Einfluss in Gang kommen konnten.42 Auch wenn Steinschneider der Gestalt des Maimonides in diesen Darstellungen jeweils nur wenige Zeilen widmet, so zeichnet sich in seinem literaturhistorischen Entwurf eine Tendenz ab, die für die Maimonides-Rezeption weit reichende Konsequenzen hat. Ganz bewusst greift Steinschneider nämlich wieder das bekannte Motiv auf, wonach der wesentliche Beitrag der Araber zur Geschichte der Menschheit ihre Rolle in der Entwicklung der Wissenschaften war. Ähnlich hatte, wie oben dargestellt, schon Salomon Maimon den Orient gesehen, und Anklänge an diese historische Sichtweise finden sich auch bei den Gründungsvätern der Wissenschaft des Judentums wie Leopold Zunz,43 Immanuel Wolf44 oder später bei Salomon Munk. Steinschneider verändert diese Sicht aber insofern, als er den Einfluss der arabischen Wissenschaften explizit mit ihrer Befreiung aus der Bevormundung durch die Religion gleichsetzt. An diesem geschichtlichen Prozess, so stellt es Steinschneider dar,

41 Vgl. ebd., S. 393-396. 42 Die Grundzüge dieser Entwicklungslinie nimmt Moritz Steinschneider auch auf in seine Allgemeine Einleitung in die Jüdische Literatur des Mittelalters, Jerusalem: Bamberger & Wahrmann 1938, S. 82-111 (zuerst veröffentlicht in: The Jewish Studies Quarterly 1903-1905). 43 Leopold Zunz: „Die Jüdische Literatur“, in: ders., Zur Geschichte und Literatur, Band 1, Berlin: Verlag von Veit und Comp. 1845, S. 1-21, hier S. 5: „Denn eben als die mönchisch geleiteten Beherrscher von Griechenland und Spanien, angeblich um die christliche Lehre zu schützen, den Juden Verfolgungen bereiteten, brach nicht weit vom Sinai die grosse Revolution aus, in deren Folge die Araber mit dem Islam ihre Herrschaft, ihre Sprache, und allmählig auch ihre von den syrischen Griechen erlernte Wissenschaft bis Tanger und Habesch, bis Indien und Chorasan trugen.“ Über das spätere Mittelalter schreibt Zunz weiter: „Die ersten Ahnungen von Gewissensfreiheit erstanden; die Wissenschaft, einigermassen von Byzanz aus gepflegt, aber von den Arabern angebauet, durch Juden vermittelt, hatte von dem Weltverkehr unterstützt, die Universitäten und den DoctorenStand geschaffen; …“ (ebd., S. 7-8). 44 I. Wolf: „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judentums“, S. 11: „So sehen wir die Juden noch im Mittelalter in Gemeinschaft mit den Arabern, als der Islam, der seine vorzüglichsten Dogmen ebenfalls aus dem Judenthum entlehnt hatte, den der Gelehrsamkeit früher zugefügten Schaden vergüten zu wollen schien, besonders in Spanien das Feld der Wissenschaften muthig bearbeiten.“ (Hervorhebung im Original). 111

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hatten die Juden im Mittelalter Anteil, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie für den Westen als Agenten von Kulturtransfer fungierten. Steinschneider hebt damit viel weniger als Munk die historische Vermittlerrolle der Juden hervor, sondern verortet die Geschichte ihrer literarischen und wissenschaftlichen Leistungen anhand eines stark positivistisch anmutenden Entwicklungsschemas, nach dem die Menschheit sich – zumindest im Idealfall – von der Religion hin zur Wissenschaft entwickelt.45 Es zeigt sich also, dass die Wissenschaft des Judentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ansätzen versucht hat, Interpretationsparadigmen für Maimonides zu entwickeln, die jeweils die unhinterfragte Hochschätzung der orientalischen Kulturtradition als Ausgangpunkt hatten. Dieses Element hat die frühe Wissenschaft des Judentums auch mit den jüdischen Aufklärern gemein (Maimon). Darüber hinausgehend wurde die Idealisierung der sephardischen Kultur so eng mit der Hochschätzung der arabischen Wissenschaften verbunden, dass sich schließlich beide Elemente gegenseitig zu bedingen scheinen: Durch die Teilnahme der Juden an der arabischen Kultur wurde die sephardische Kultur des Maimonides zu einem Vorbild für ein modernes, an den Wissenschaften orientiertes europäisches Judentum. An diesem Punkt lässt sich eine weitere Differenzierung der Argumentationsstrategien erkennen: Auf der einen Seite griff Salomon Munk das historische Paradigma des Kulturtransfers auf, nach dem der Wert der mittelalterlichen jüdischen Philosophie – Maimonides eingeschlossen – in der Rolle der Juden als Vermittler von Philosophie und Wissenschaften an das mittelalterliche Europa besteht. Auf der anderen Seite steht das stärker positivistisch geprägte Modell der Partizipation der Juden an dem Befreiungsprozess der Wissenschaften aus der Hegemonie der Religion, das von Steinschneider stärker betont wurde. In jedem Fall wird jedoch deutlich, dass die „Orientalisierung“ des Maimonides nicht zufällig erfolgt ist, sondern in einem festen Deutungszusammenhang steht. Eine Orientierung an Maimonides konnte nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem er orientalisiert wurde.

45 Zu Steinschneiders starker Aversion gegen jeden Versuch einer apologetischen Instrumentalisierung der Mittlerposition der Juden in der Wissenschaftsgeschichte, die sich bereits in dem frühen Aufsatz über die „Jüdische Literatur“ widerspiegelt, vgl. den späteren Aufsatz „Die Juden und die profanen Wissenschaften, eine Warnung“, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums 20 (1893), S. 229-235, und die Einleitung zu: Die Hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin: Kommissionsverlag des Bibliographischen Bureaus 1893, S. XXIV. 112

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Diese Form der jüdischen Rezeption der maimonidischen Philosophie kann nun aber nicht losgelöst von dem europäischen Wissenschaftsdiskurs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Rolle der Araber und Juden verstanden werden. Dies soll anhand von zwei Beispielen dokumentiert werden: Betrachtet man zunächst Georg Wilhelm Friedrich Hegels Sicht der welthistorischen Rolle des Islams und der Araber, so steht für ihn zwar einerseits ihre „Negativität“ als Vertreter „des Einen“ und ihrem daraus resultierenden Fanatismus im Vordergrund. Zumindest sekundär ist er aber auch bereit, ihre Bedeutung für die Verbreitung der Wissenschaften einzuräumen.46 Eine Rolle für das mittelalterliche Judentum kommt für Hegel dagegen offenbar nicht in Betracht. Ähnlich verhält es sich auch in der Philosophiegeschichte eines viel vorsichtigeren Beobachters wie Heinrich Ritter (1791-1869), bei dem die Bewertung der Araber und Juden ebenfalls stark voneinander abweicht: So bestätigt auch Ritter die Bedeutung der Araber für die Überlieferung der aristotelischen Naturphilosophie und Metaphysik nach Europa,47 und er hebt sogar die relative Eigenständigkeit der arabischen Philosophie hervor,48 selbst wenn er ihnen in seiner Geschichte der Philosophie dennoch nur den Rang einer „Einschaltung“ im Rahmen der Geschichte der christlichen Philosophie zuerkennen mag.49 Zugleich hebt Ritter aber die Rolle der Araber signifikant von der der jüdischen 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Berlin 1822/1823, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1996, S. 461: „Die Tapferkeit der Europäer ist zum schönen Rittertum in Spanien, in Berührung mit den Arabern, geworden, die auch die Wissenschaften verbreiteten, ebenso die klassischen Werke der Alten, auf die sie Einfluß gehabt haben, und ebenso ist auch die freie Poesie, die freie Phantasie, die noch in heutigen Tagen von Goethe in Anregung gebracht [worden] ist, an den Orient angegründet.“ 47 Heinrich Ritter: Über unsere Kenntniss der Arabischen Philosophie und besonders über die Philosophie der orthodoxen Arabischen Dogmatiker, Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung 1844, S. 4. 48 Vgl. ebd., S. 5, in Kritik an der negativen Darstellung bei August Schmölders (Franziscus Augustus Schmoelders: Documenta philosophiae Arabum, Bonn: Fr. Baadenus 1836) (n. v.): „Diese Verachtung der Arabischen Aristoteliker erstreckt sich sogar über die ganze Arabische Philosophie; er spricht ihr alle originellen Gedanken ab. Wenn die Philosophen unter den Arabern so reine Kanäle gewesen wären, durch welche die Gedanken der Griechen ihren Durchgang zu uns genommen hätten, so würden sie freilich in der Geschichte der Menschheit keine grössere Aufmerksamkeit verdienen, als andere Mittel, welche nicht Menschen, sondern nur menschliche Werkzeuge sind. Aber es hat die grösste Unwahrscheinlichkeit, dass es so sich verhalte.“ 49 Heinrich Ritter: Geschichte der Philosophie, 12 Bde., Hamburg: Friedrich Perthes 1829-1853, hier Siebenter Theil = Geschichte der christlichen Philosophie, Dritter Theil, S. 663. 113

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Philosophie – einschließlich Maimonides’ – ab, wenn er am Ende der Darstellung der arabischen Philosophie lapidar anmerkt: „Von den Arabern kam die Philosophie auch auf die Juden, unter welchen im 12. Jahrhundert besonders Moses Maimonides einen großen Ruhm sich erwarb. Über die Geschichte dieser Jüdischen Philosophie sind wir aber zu wenig unterrichtet, als daß wir ein entscheidendes Urtheil über sie uns anmaßen dürften. Von Kennern ihrer Literatur ist in neuern Zeiten behauptet worden, daß eine selbständige Philosophie in ihr nicht zu finden sei. Auch wüßten wir nichts anzugeben, was von daher in die Untersuchungen der Theologen des 13. Jahrh. gekommen sein könnte.“50

Aus diesen Worten wird deutlich, vor welche Aufgabe sich die Wissenschaft des Judentums gestellt sah: Sie musste um die Jahrhundertmitte nicht nur eine Unterbewertung des jüdischen Beitrags zur mittelalterlichen Philosophie korrigieren, sondern sich gegen eine vollständige wissenschaftliche Ausgrenzung wehren. Sollte der Beitrag der Juden zur Kulturgeschichte der Menschheit angemessen gewürdigt werden, so musste man daher bei dem pauschalen Urteil ansetzen, dass der Beitrag der Juden sogar noch hinter dem der Araber zurückstehe und damit historisch völlig zu vernachlässigen sei.51 Während die positive historische Rolle der Araber – wie eingeschränkt sie auch immer gesehen worden sein mag – für die allgemeine Philosophiegeschichte um die Jahrhundertmitte zumindest grundsätzlich anerkannt war, wurde die Bedeutung selbst eines Denkers wie Maimonides noch nicht akzeptiert. Damit wird an dieser Stelle eine wesentliche Differenz deutlich, die die akademische Orientalistik von der Wissenschaft des Judentums trennte: Während schon seit der Aufklärung über Hegel und bis zu Ritter die Bereitschaft existierte, die Araber als historische Träger einer Wissenschaftstradition in die allgemeine Geschichte aufzunehmen, blieben die Juden noch bis zur Jahrhundertmitte völlig ausgeschlossen. Europäische Orientalisten wie Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827), Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774-1856) und August Tholuck (1799-1877) bemühten sich zumindest ernsthaft, die islamische Geisteswelt in der akademischen Welt Europas bekannt zu machen, und ein vorsichtig abwägender Philosophiehistoriker wie Heinrich Ritter nahm diese Anregungen auf. 50 H. Ritter: Geschichte der Philosophie, Achter Theil = Geschichte der christlichen Philosophie, Vierter Theil, S. 178 (Hervorhebung im Original). 51 Zur Auseinandersetzung von Salomon Munk mit Heinrich Ritter vgl. Martin Ritter: „‚Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft‘. Das Profil der jüdischen Philosophie im Werk von Leopold Zunz, Abraham Geiger und Salomon Munk“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 45 (2003), S. 121-150, hier S. 138-144. 114

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Dagegen scheiterte Leopold Zunz mit seinen wiederholten Versuchen, einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Literatur an der Berliner Universität einzurichten.52 Im Unterschied zum europäischen Orientalismus, der den Orient zwar in einen hegemonialen Diskurs einband, aber dennoch als eigene Größe wahrnahm, negierte die akademische Welt den jüdischen Beitrag zur allgemeinen Kulturgeschichte noch ganz. Sie verzichtete damit bewusst darauf, eben das Modell von akademischer Deutungshoheit auch auf das Judentum anzuwenden, das im orientalistischen Diskurs zum Standard geworden war. An dieser Stelle offenbart sich ein fundamentaler Unterschied zwischen dem akademischen Diskurs über den Orient und dem über das Judentum. Vor diesem Hintergrund gewinnen die philosophiegeschichtlichen Interpretationsparadigmen, die durch die Wissenschaft des Judentums der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, eine zusätzliche Dimension. Durch die Aufnahme und Anknüpfung an das Motiv der arabischen Wissenschaftstradition, das sich im orientalistischen Diskurs bereits anfing zu behaupten, bot sich der Wissenschaft des Judentums die Möglichkeit, auch Maimonides in einen Kulturkontext einzubetten, der in der allgemeinen Wahrnehmung bereits, wenn auch in Maßen, positiv besetzt war. Die Orientalisierung des Maimonides konnte so seine philosophiegeschichtliche Wertschätzung absichern, wenn man das Interpretationsparadigma der arabischen Wissenschaftstradition stark machte – was die Wissenschaft des Judentums denn auch geflissentlich tat. In einem zweiten Schritt konnte dann dieses Deutungsmuster mit der Vorstellung verschränkt werden, dass Maimonides eine zentrale Rolle im mittelalterlichen Kulturtransfer einnahm – sei es durch seine Bedeutung für die Verbreitung von Philosophie innerhalb des Judentums oder seinen Einfluss auf die mittelalterliche Scholastik. Dadurch wurde gerade der Orientale Maimonides zu einem Vorbild für ein jüdisches kulturelles Selbstverständnis im modernen Europa, und es gelang der Wissenschaft des Judentums so, unter den Bedingungen des vorherrschenden Historismus und Positivismus Maimonides zu einem Orientierungspunkt des europäischen Judentums werden zu lassen. So wiederholt sich im Hinblick auf Maimonides eine Beobachtung, die Ismar Schorsch über 52 Vgl. Alfred Jospe: „The Study of Judaism in German Universities before 1933“, in: Leo Baeck Institute Year Book 27/1 (1982), S. 295-319. Die Dokumente zum Versuch der Gründung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an der Berliner Universität sind veröffentlicht in Ludwig Geiger: „Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellen“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 60, N. F. 24 (1916), S. 245-262 und 321-347, hier S. 334-346; vgl. auch Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 113-118. 115

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den Mythos der sephardischen Kulturüberlegenheit machen konnte: Der Kontakt zum Islam sollte Maimonides paradoxerweise zu einem Teil der westlichen Welt machen.53

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53 Vgl. I. Schorsch: „The Myth of Sephardic Supremacy“, S. 66. 116

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NEU-ORIENT-IERUNG AN MAIMONIDES?

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Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert ANTON ESCHER

Vorbemerkung Die Gestaltung des Begriffs Orient bzw. die wissenschaftliche Konstruktion und literarische Repräsentation des Orients aus der Perspektive der Hochschuldisziplin Geographie steht in direktem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des Faches Geographie um die Wende zum 20. Jahrhundert. Die frühe Definition der modernen Geographie sieht es als eine vornehmliche Aufgabe ihres Faches, die physisch gegebene und kulturell gemachte Erdoberfläche zu gliedern und zu differenzieren: „Es ist die Aufgabe der Länderkunde oder speziellen Geographie, in begrifflicher Nachbildung der Wirklichkeit die Erdteile, Länder, Landschaften und Örtlichkeiten zu beschreiben und in ihrer Eigenart zu erklären.“1 Dabei spielt die grundlegende Erkenntnis „Alles ist Wechselwirkung“ des Begründers der modernen Geographie, Alexander von Humboldt, eine zentrale Rolle. Im Wechselspiel von Natur und Kultur vollzieht sich die Gestaltung der Erdoberfläche, und es entstehen Erdteile, Länder, Landschaften und Örtlichkeiten.2 Grundsätzlich will die Kulturgeographie eine kulturelle Ordnung der physisch gegebenen Erdoberfläche erzielen. Dabei lassen sich folgende Zielsetzungen isolieren, welche das 1 2

Alfred Hettner: „Die geographische Einteilung der Erdoberfläche“, in: Geographische Zeitschrift 14 (1908), S. 1-13, 94-110, 137-150, hier S. 1. Vgl. ebd. 123

ANTON ESCHER

Fach Geographie gegenüber anderen Hochschuldisziplinen profilieren und absetzen: Der definierende Forschungs- und Betrachtungsgegenstand der wissenschaftlichen Geographie ist die Erdoberfläche als multidimensionales, multifaktorielles, umfassendes und ganzheitliches Gebilde. Deshalb hat sich Geographie mit Natur und mit Kultur eines Landes oder einer Landschaft auseinanderzusetzen. Damit ist allerdings nur eine, inzwischen nicht unumstrittene, Forschungsperspektive der heutigen Hochschuldisziplin Geographie genannt. Die derzeitige Geographie an Universitäten hat sich im Laufe des Jahrhunderts methodisch vielfach ausdifferenziert und kann inzwischen als Naturwissenschaft, als Sozialwissenschaft oder als Geisteswissenschaft betrieben werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es jedoch die dringlichste Aufgabe der Geographie, die gesamte Erdoberfläche auf der Basis ihrer physischen Beschaffenheit und aufgrund ihrer kulturellen Prägung abzugrenzen und dadurch Kulturerdteile und Landschaften auf der Grundlage von kulturgeprägten Ländern zu erzeugen. Geographie soll die Wechselwirkungen von Mensch und Natur erkennen und die daraus resultierenden Lebensformen und Landschaften, die letztlich vom Menschen gestaltet sind, isolieren. Dabei werden fremde Länder und fremde Menschen in der Regel bevorzugt über die Differenz zur eigenen Lebenswirklichkeit in Europa beschrieben. Das Ziel, Kulturerdteile, Länder und Landschaften gegeneinander abzugrenzen und die Wechselwirkung von sozialer Organisation und physischem Ort aufzudecken, lässt sich paradigmatisch im, durch und mit dem Orient umsetzen, so die Überzeugung einiger geographischer Vorväter. Wissenschaftliche Konzeptionen wurden in der Vergangenheit der deutschen Hochschulgeographie in hohem Maße von einzelnen Individuen erzeugt; sie sind zwar in einen wissenschaftlichen Metadiskurs eingebettet, aber während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geben einzelne Professoren den Referenzrahmen zur Konzeption des Orients vor. Deshalb wird die Gestaltung des Orients nachfolgend an den Publikationen einzelner Hochschullehrer festgemacht. Insbesondere innerhalb der deutschen „Orientgeographie“, soweit es ein derartiges Fach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben hat, sind es einige Forscherpersönlichkeiten, die tonangebend den Orient gestalten und definieren. Streng genommen sind es – von anderen wenigen konzeptionellen Arbeiten abgesehen – mit Ewald Banse (1883-1953), Hermann von Wißmann (1895-1979) und Eugen Wirth (1925) bis in die 1980er Jahre insbesondere drei Wissenschaftler, die sich für die Definition, Abgrenzung und Konzeption des Orients als Kontinent übergreifenden Kulturerdteil in Publikationen stark machen.

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DIE GEOGRAPHISCHE GESTALTUNG DES BEGRIFFS ORIENT

Die folgenden Ausführungen sprechen in groben Zügen die geographischen Konstrukteure und die geographischen Konzepte für den Orient in der deutschsprachigen Geographie des 20. Jahrhunderts an.

Ewald Banse und die geographische Gestaltung des Orients zu Beginn des 20. Jahrhunderts In den meisten deutschsprachigen Publikationen wird Ewald Banse (1883-1953) aufgrund seiner einschlägigen Arbeiten über Rassetheorien und seiner Nähe zum Nationalsozialismus schlichtweg nicht zitiert. Hinzu kommt, dass E. Banse als Außenseiter der Geographie und als Autodidakt gilt.3 Er hatte keinen Hochschulabschluss, war nicht promoviert und hatte lediglich wenige Jahre den Titel eines Honorarprofessors in den 1930er Jahren an den Technischen Universitäten Braunschweig und Hannover inne.4 Die grundlegenden Ausführungen zur Verortung, Definition und Charakterisierung des Orients verfasste Banse bereits im Jahre 1908 in der Zeitschrift Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik.5 Danach wird ihm in der damaligen weltweit wichtigen wissenschaftlichen Zeitschrift Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt Platz eingeräumt, wo er die Ausführungen wiederholt. Dr. A. Petermanns Mitteilungen ist zu ihrer Zeit eine Zeitschrift, welche wissenschaftliche Wertschätzung wie heute NATURE genoss, aber auch gleichzeitig populärwissenschaftliches Publikum bediente, das heute GEO liest. Die farbige Karte der Kulturerdteile (Abb. 1), in welcher der Orient in grüner Farbe erstmalig kartographisch als Einheit präsentiert wird, erscheint mit einer Darstellung der Ziele, Methoden und Konzeptionen der Geographie in Dr. A. Petermanns Mitteilungen im gleichen Heft des Jahres 19126 wie die Ausführungen von Alfred Wegener zur Plattentektonik.7 Der Karte der Plattentektonik wird nur ein 3

4 5 6

7

Vgl. Ute Wardenga: „Orientbilder der deutschen Geographie im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Manfred Büttner/Wilhelm Leitner (Hg.), Beziehungen zwischen Orient und Okzident, Bochum Universitätsverlag N. Brockmeyer 1992, S. 185-210, hier S. 192. Vgl. Ditmar Henze: Ewald Banse und seine Stellung in der Geographie auf Grund seiner Schriften, Tagebücher und Briefe, Marburg, Lahn 1968. Ewald Banse: „Der Orient – ein geographischer Begriff?“, in: Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik XXXI/1 (1908), S. 1-7. Ewald Banse: „Geographie“, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt 58 (1912), I. Halbband, S. 1-4, 69-74, 128-131, hier Tafel 1. Alfred Wegener: „Die Entstehung der Kontinente“, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt 58 (1912), I. Halbband, S. 185-195, 253-256, 305-309, hier Tafel 36. 125

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schwarz-weißer Druck zugebilligt. Dies demonstriert eventuell, dass kulturgeographische Komponenten damals innerhalb der Geographischen Wissenschaft bei der Erklärung der Erdoberfläche von größerer Bedeutung waren. Abb. 1: Die geographische Gliederung der Erdoberfläche (Ewald Banse)

Ewald Banse macht nicht nur einmal in seinen Arbeiten deutlich, dass er der Erfinder des Orients für die Geographie ist: In der Zeit von 1908 bis 1914 breitet er in zahlreichen einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften und in Büchern seine Idee des Orients aus, um dann wie in seiner Publikation Das Orientbuch festzuhalten: „Der Begriff Orient als der eines festumrissenen Erdteils wurde erst von mir in die Literatur eingeführt. […] Meine ersten Entwicklungen des Begriffs entsprangen fast mehr der Intuition als der verstandesmäßigen Durchdenkung. Wie alles Neue […] hat sich meine Orientidee noch nicht allgemein durchgesetzt.“8 In den folgenden Jahren des 20. Jahrhunderts finden sich Hinweise von im Universitätsbetrieb etablierten Wissenschaftlern, welche die Arbeiten und Verdienste von E. Banse um das Konzept Orient mit unterschiedlicher Wertung würdigen: Einerseits mit klarer Akzeptanz und andererseits mit deutlicher Kritik weist der damals bedeutende Ordinarius für Geographie an der Universität Heidelberg Alfred Hettner auf die „Erfindung“ von E. Banse hin: „Im allgemeinen vergleiche man die beiden Bücher von Ewald Banse: Orientbuch 1914 und Das Buch vom Morgen8

Ewald Banse: Das Orientbuch. (Der alte und der neue Orient), Straßburg, Leipzig: Josef Singer Verlag 1914, S. 16-17.

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DIE GEOGRAPHISCHE GESTALTUNG DES BEGRIFFS ORIENT

lande 1925, die allerdings manche irrige Auffassungen enthalten.“9 Eine weitere wichtige Arbeit zur Definition des Kontinent übergreifenden Orients im Sinne von E. Banse verfasst Hermann von Wißmann, der Ordinarius für Geographie an der Universität Tübingen. In der ersten Fußnote seines Beitrags in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin bemerkt der Autor: „Unter den Arbeiten, die sich mit dem Orient als Lebensraum befassen, seien erwähnt: E. Banse, Orientbuch (1914), Das Buch vom Morgenland (2. Aufl. 1934).“10 Die deutlichste Stellungnahme zur Bedeutung von E. Banse kommt von Eugen Wirth, dem Ordinarius für Geographie an der Universität Erlangen-Nürnberg. In einer ausführlichen Replik auf das Alterswerk von O. Schmieder mit dem Titel Die Alte Welt I. Der Orient, Die Steppen und Wüsten der Nordhemisphäre mit ihren Randgebieten11 macht er zur Abgrenzung des Orients in einer Fußnote folgende Bemerkung: „Trotz vieler berechtigter Einwände gegen Persönlichkeit und Werk dieses Autors muß darauf hingewiesen werden, daß Banse eine bis heute tragfähige Grundkonzeption des Orients entwickelt hat, und daß er – vor allem in seinem Werk: Die Türkei; 3. Aufl. Braunschweig 1919 – über Einzelheiten wie über größere Zusammenhänge im Orient zuverlässig orientiert.“12 Damit ist ausreichend belegt, dass E. Banse als der erste und grundlegende theoretische Pionier des Orients der deutschsprachigen Geographie gelten kann. E. Banse ist ein Geograph, der sich nach einer Phase konstruktiver wissenschaftlicher Publikationen im Stil der Zeit nach Beginn der 1920er Jahre intensiv der nationalsozialistischen „Blut und Boden“Ideologie widmet. D. Henze gibt in seiner Dissertation eine gute biographische und wissenschaftshistorische Skizze und führt unter anderem aus: „Bis 1920 politisch durchaus indifferent, mehr international als national eingestellt, kam ihm im April 1921 die Erkenntnis von der Vorrangstellung der ‚germanischen Rasse‘, gleichzeitig mit der Idee des ‚germanischen Europa‘. Fortan legte er in allen seinen Arbeiten großes Gewicht auf die Behandlung der Rasse.“13 Interessanterweise übertreibt es E. Banse mit der Rassenideologie, „so daß er als ‚gefährlicher Außen9

10

11 12 13

Alfred Hettner: „Der Orient und die orientalische Kultur“, in: Geographische Zeitschrift 37 (1931), S. 193-414, hier S. 193, Anmerkung 1 (Hervorhebung im Original). Hermann v. Wißmann: „Stellung und Bedeutungswandel des Orients in den Lebensräumen der Alten Welt“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (1942), S. 353-368, hier S. 353. Oskar Schmieder: Die Alte Welt I. Der Orient, Die Steppen und Wüsten der Nordhemisphäre mit ihren Randgebieten, Wiesbaden: Steiner 1965. Eugen Wirth: „Der altweltliche Trockengürtel in neuer Sicht“, in: Geographische Zeitschrift 56 (1968), S. 58-66, hier S. 63, Anmerkung 12. D. Henze: Ewald Banse und seine Stellung in der Geographie, S. 61-62. 127

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seiter‘ von der neuen Regierung sogleich ausgeschaltet wurde.“14 Aus diesen Gründen werden nachfolgend zur Gestaltung des Orients durch E. Banse vorwiegend seine frühen Publikationen herangezogen. In der Tradition der metaphorischen Betrachtung von Landschaften und Ländern war es üblich, allegorische Figuren in das kartographischterritoriale Aussehen des Staates zu projizieren. Die Karte des Kulturerdteiles Orient dreht der Geograph E. Banse mit der eingenordeten Basis nach Westen. Nach dieser Operation interpretiert der Autor das figurale Kartenbild (Abb. 2) folgendermaßen: „Betrachtet man die Westseite des Orients als Basis, Iran als Kopf, so erscheint in anmutiger Tanzbewegung die Jungfrau Morgenland als Bauchtänzerin, Kleinasien als rechten Arm gesenkt, mit dem linken (Arabien) aber winkend gen Mittag, dem dort wartenden Neger. Eine ominöse Richtung, die nach Rassendegeneration schmeckt. Es gibt ja immer noch Länderkunden, die derartige Spielereien kultivieren, ohne daß ihnen – den Spielereien – derart bezeichnender Sinn innewohnt.“15

Abb. 2: Der Orient, die Jungfrau Morgenland als Bauchtänzerin (Ewald Banse; im Original nicht gedreht)

14 Ebd., S. 62. 15 E. Banse: Der arabische Orient (Orient II), Leipzig: Teubner Verlag 1910, S. 5, Anmerkung 1. 128

DIE GEOGRAPHISCHE GESTALTUNG DES BEGRIFFS ORIENT

Das Zitat macht die exotische, rassistische und kolonialgeprägte Grundhaltung des Autors gegenüber der Gesellschaft des Orients deutlich. Die Thematisierung von Ländern als essentielle Einheiten in Form allegorischer Figuren gehört bereits im 18. Jahrhundert für die wissenschaftliche Geographie der Vergangenheit an und findet sich danach nur noch in Satiremagazinen und Kinderbüchern.16 Dessen ist sich E. Banse bewusst. Deshalb positioniert er seine Ausführungen in einem populärwissenschaftlichen Büchlein der Reihe „Aus Natur und Geisteswelt“, einer „Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen“ des renommierten Wissenschaftsverlags B. G. Teubner (Leipzig), in einer Fußnote. E. Banse sieht sich der modernen Geographie verpflichtet und definiert den Orient folgendermaßen: „Als Orient erkenne ich die Länder Nordafrikas und Vorderasiens, die ein im wesentlichen trocknes Klima mit einem Großbesitz weit ausgedehnter Steppen und Wüsten beschenkt hat, so daß die meisten Teile wenige oder gar keine Abflüsse und Beziehungen zum Meer haben. Die einförmige Steppe bedingt eine überall ziemlich gleiche Lebens- und Denkweise, die auch den an den Meerrändern sitzenden Volkselementen sich mitgeteilt hat, da die meisten Küsten in nur geringem Maße verkehrfreundlich sind. Fast alle Orientalen huldigen dem Islâm, d. h. einem durch die uniforme Natur bedingten Denken, das weniger ein Ausfluß tiefsinniger Religiosität ist als eine Folge der Weltabgewandtheit des großen Trockenraums. […] Die Charakterzüge der orientalischen Natur: Meerabgewandtheit, Trockenheit, deshalb Steppe und alles gleichmachende Einförmigkeit und Ähnlichkeit sind die Säulen des Islâm, des Orients als ureignen Kulturindividuums.“17

16 Karten als Lesefiguren literarischer Räume tauchen als allegorische Darstellungen wie beispielsweise Europa in Gestalt einer Jungfrau im Jahr 1588 auf (Annegret Pelz: „Karten als Lesefiguren literarischer Räume“, in: German Studies Review 18 (1995), S. 115-129). Allerdings taugt diese Darstellungsweise bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gerade noch als „Geographical Fun“, wie eine einschlägige Publikation zeigt: „Being Humourous Outlines of Various Countries was first published in London by the firm of Hodder and Stoughton in 1869. The atlas consists of twelve maps of European countries; each with a unique national stereotype created by the author based on the outline and shape of the country.“ (John Owen Edward Clark: Die faszinierende Welt der Kartografie. Wie Karten die Welt verändert haben, London: Parragon Books 2005, S. 232ff.). 17 Ewald Banse: „Der Orient. (Begriff, Fläche und Volksdichte)“, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt 55 (1909), S. 301-304, hier S. 301 (Hervorhebung im Original). 129

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Nach dieser eingrenzenden Beschreibung und eindeutigen Merkmalsdefinition liefert E. Banse auch eine Erklärung für den Zustand und das Aussehen des Orients. Er macht in einer mit Europa vergleichenden Bewertung die „nicht vorhandenen Potentiale“ für eine soziale Entwicklung verständlich und liefert die Erklärung für den ökonomischen Zustand des voranstehend definierten Orients: „Sie ermöglichen den Mangel an Differenzierung, der der Kern des morgenländischen Ruins ist. Solange verschiedene Staatsreligionen und verschiedene Staatsmaximen die einzelnen politisch voneinander unabhängigen Länder regierten, solange blüten Boden und Volk, die materielle wie die geistige Wirtschaft. Seit aber die islamische F-Schablone ihren erstickenden Riesenmantel um die Sonderglieder geschlagen hat, seitdem ächzen alle unter tötender Rückschrittlichkeit. Es fehlt die aneifernde Gegensätzlichkeit, in der Natur und den Menschen. Es fehlt der Wettbewerb. Es fehlt die feindurchdachte und feinaus18 geführte Teilung der Arbeit.“

Letztlich lassen sich aus den zahlreichen in seiner Zeit wissenschaftlich anerkannten Publikationen von E. Banse zur Definition und Abgrenzung sowie zur inhaltlichen Füllung des Orients19 drei konstituierende Elemente erkennen: „Kultur“, „Lebensform“ und „Trümmer“. Der „Orient“ ist danach eine sich über zwei Kontinente erstreckende homogene geographische Einheit, die einen durch Kultur mitgeprägten Erdteil, einen Kulturerdteil, bildet. Die klimatischen Verhältnisse des altweltlichen Trockengürtels und die Verbreitung des frühen Islams stehen dabei im Vordergrund. Die innere landschaftliche Gliederung des Orients orientiert sich vornehmlich an der physischen Landesnatur und an der Sprache der dort lebenden Bevölkerung: Die Atlasländer, der arabische Orient und der arische Orient (Abb. 2).20 Im Orient herrschen drei Lebensformen vor: Nomade, Fellache und Städter mit den jeweiligen spezifischen dazugehörigen Frauentypen. Der Fellache ist ein abhängiger Bauer, der vorwiegend in Oasen mit Palmen lebt und wirtschaftet. Nur im Orient ist die Lebensform des Nomadismus ausgeprägt, der von Karawanen und Kamelen lebt und durch Beduinen und Sklaven repräsentiert wird. Schließlich ist die Kultur der Stadt zu nennen, wo mit Moscheen, Basaren, Herbergen, Handwerk und Teppichen das wesentliche Zentrum des Orients festzumachen ist. Die Stadt

18 Ebd. 19 Vgl. ebd; vgl. Ewald Banse: Das Buch vom Morgenlande, Leipzig: Voigtländers Verlag 1926. 20 Vgl. E. Banse: Die Atlasländer (Orient I), Der arabische Orient (Orient II), Der arische Orient (Orient III), Leipzig: B. G. Teubner Verlag 1910. 130

DIE GEOGRAPHISCHE GESTALTUNG DES BEGRIFFS ORIENT

beherbergt die exotische Einrichtung des Harems, das Herz des Orients schlechthin. Schließlich dürfen die versprochenen Genüsse und die Geschichten aus 1001 Nacht, die sich der europäische Besucher im Kaffeehaus vom Dragoman, dem professionellen Vermittler, Übersetzer und Touristenführer erzählen lässt, nicht vergessen werden.21 Das dritte Element ist die wirtschaftliche Dynamik, deren materieller Ausdruck sich für E. Banse in „Trümmern“ zeigt.22 Fatalismus und Fanatismus sowie Trägheit und Trachten charakterisieren als „Wesenszüge des Orients“ den Stillstand, den Niedergang und die Degeneration der orientalischen Gesellschaft. Damit wird das Aussehen der Landschaft, die mit „Trümmern“ aus allen historischen Epochen übersät ist, verstehbar. Ewald Banse, der mehrfache Außenseiter der Scientific Community, prägt letztlich durch eine Vielzahl von wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und märchenhaften Publikationen das geographische Image und die geographische Strukturierung des Orients. Er schreibt die Konzeptionen vom Orient als Kulturerdteil, vom Orient der Lebensformen und vom Orient der Entwicklungsdifferenz fest.

Der Orient des Kulturerdteils, der Lebensformen und des Rentenkapitalismus Letztlich wird der geographische Orient durch drei theoretische Annahmen erschaffen, die durch lebensweltliche Beobachtungen der reisenden Geographen begründet sind: Der Orient bildet einen Kontinent übergreifenden Kulturerdteil, der durch Trockenheit und Islam gekennzeichnet ist. In diesem Raum haben sich in Wechselwirkung mit der gegebenen physischen Beschaffenheit der Erdoberfläche drei Lebensformen entwickelt, die durch das Prinzip bzw. die Theorie des Rentenkapitalismus miteinander verwoben sind. Der Rentenkapitalismus ist letztlich verantwortlich für den Entwicklungszustand des Orients.

Der Orient, ein Kontinent übergreifender Kulturerdteil Die erste thematische Karte der kulturellen Einteilung der Erde, die den Kulturerdteil Orient darstellt, wird – wie bereits erwähnt – unter dem Namen Ewald Banse in der Zeitschrift Dr. A. Petermanns Mitteilungen

21 Vgl. Ewald Banse: Wüsten, Palmen und Basare, Braunschweig: Westermann 1921; ders.: Harem, Sklaven, Karawanen, Wien, Berlin, Leipzig, München: Rikola Verlag 21921. 22 Vgl. E. Banse: Der Orient; ders.: Das Buch vom Morgenlande. 131

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aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt veröffentlicht (Abb. 1).23 Mit dieser Konstruktion steht E. Banse zunächst alleine, denn die etablierten Geographen begrenzen den Orient meist auf Gebiete Vorderasiens. „Der Begriff des Orients brauchte nicht erst gefunden zu werden, und nur über seine Begründung und seine räumliche Ausdehnung kann man verschiedener Meinung sein. Daraus einen Erdteil zu machen, hat wenig Sinn; denn die Erdteile sind nun einmal im täglichen Gebrauche anders festgelegt, sind mehr Naturganze als Gebiete der Gleichartigkeit“, wie A. Hettner formuliert.24 H. Schmitthenner übernimmt das Konzept des Kulturraums Orient in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Lebensräume im Kampf der Kulturen,25 schließt sich der Nordafrika einschließenden Umgrenzung jedoch nicht an. Das erfundene Konzept der Kulturerdteile überlebt unverändert die Zeitenwende mit den Arbeiten von H. Schmitthenner26 und wird von A. Kolb neu belebt, der unmittelbar an seinen Lehrer H. Schmitthenner anknüpft und die derzeitig meist zitierte Definition erzeugt: „Dabei wird unter einem Kulturerdteil ein Raum subkontinentalen Ausmaßes verstanden, dessen Einheit auf dem individuellen Ursprung der Kultur, auf der besonderen einmaligen Verbindung der landschaftsgestaltenden Natur- und Kulturelemente, auf der eigenständigen, geistigen und gesellschaftlichen Ordnung und dem Zusammenhang des historischen Ablaufes beruht.“27 Heute hat das Konzept der Kulturerdteile durch die politischen Arbeiten von S. Huntington über den „Kampf der Kulturen“28 und seine Verwendung in der Schulgeographie29 trotz der differenzierten wissen23 S. o. Anmerkung 6. 24 A. Hettner: „Der Orient und die orientalische Kultur“, S. 193. 25 Heinrich Schmitthenner: Lebensräume im Kampf der Kulturen, Leipzig: Quelle & Meyer 1938. 26 Vgl. Heinrich Schmitthenner: Lebensräume im Kampf der Kulturen, Leipzig: Quelle & Meyer 1951. 27 Albert Kolb: „Die Geographie und die Kulturerdteile“, in: Adolf Leidlmaier (Hg.), Hermann von Wissmann – Festschrift, Tübingen: Selbstverlag des Geographischen Instituts der Universität 1962, S. 42-49, hier S. 46 (gesamtes Zitat im Original hervorgehoben). 28 Vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München: Siedler im Goldmann Verlag 1998. 29 Vgl. Jürgen Newig: „Drei Welten oder eine Welt: Die Kulturerdteile“, in: Geographische Rundschau 38/5 (1986), S. 262-267; Herbert Popp: „Kulturwelten, Kulturerdteile, Kulturkreise – Zur Beschäftigung der Geographie mit einer Gliederung der Erde auf kultureller Grundlage. Ein Weg in die Krise?“, in: ders. (Hg.), Das Konzept der Kulturerdteile in der Diskussion – das Beispiel Afrikas. Wissenschaftlicher Diskurs – unterrichtliche Relevanz – Anwendung im Erdkundeunterricht, Bayreuth: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Bayreuth e.V. 2003, S. 19-42. 132

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schaftlichen Diskussion Aufwind bekommen (Abb. 3). Die fachwissenschaftliche Kritik beurteilt das Konzept vernichtend: „Insgesamt handelt es sich bei den ‚Kulturerdteilen‘ nicht um das Ergebnis eines methodisch kontrollierten Analyseverfahrens, sondern um den Versuch einer holistischen Synthese, dem stereotype Wahrnehmungsmuster zu Grunde liegen.“30 Die Autoren gehen bei ihren weiteren Ausführungen auf die Konsequenzen ein und geben klare Empfehlungen zur Verwendung des Konzepts: „Sie reduzieren kulturelle Vielfalt auf wenige, in sich homogene Gebilde und überbetonen andererseits die Bedeutung kultureller Differenz, v.a. dort, wo sie den Blick auf andere, universelle oder kulturübergreifende Aspekte verstellen, sie einzige Referenzpunkte bleiben. Sie transferieren zudem […] Gegensätze ins Abstrakte (‚Kultur‘), wo konkrete Interessen involviert sind. So sehr sie sich z.T. auch zu Legitimationszwecken eignen mögen, so wenig eignen sie sich als Leitlinien politischen Handelns oder als schulische Bildungsinhalte, 31 die zu ‚kompetentem Verhalten‘ führen.“

Aber auch diese umfassende Kritik der Fachwissenschaft kann die schulische Wissensvermittlung nicht von der Konstruktion der Kulturerdteile abhalten. Abb. 3: Die zehn Kulturerdteile

30 Georg Stöber/Hermann Kreutzmann: „Zum Gebrauchswert von ‚Kulturräumen‘“, in: Reinhard Zeilinger et al. (Hg.), Kritische Geographie 14. Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Wien: Promedia Verlag 2001, S. 214-230, hier S. 226. 31 Ebd., S. 227. 133

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Die paradigmatischen Lebensformen des Orients: Bauer, Nomade und Städter „Der Orient ist somit das Altgebiet des Islams, das sich im ganzen mit der Zone sommerheißen Trockenklimas des eurischen Lebensraumes, der subtropischen Trockenzone der Alten Welt nördlich der Sahara, und mit der Zone der Oasen deckt“ formuliert Hermann von Wißmann32 und legitimiert nun für die etablierte Geographie den Kontinent übergreifenden Orient, der, wie seine kartographische Darstellung zeigt, nahezu den gesamten altweltlichen Trockengürtel umfasst und damit noch weiter in den Osten reicht, als E. Banse den Orient festgelegt hatte.33 Eine inhaltliche Füllung bzw. eine theoretische Ausweitung erfährt das Konzept Orient durch Hans Bobek mit der ureigenen geographischen Idee der „sozialen Raumbildung“34 sowie durch H. von Wißmann mit der Festschreibung und historischen Ableitung der orientalischen Trilogie Bauer, Nomade und Städter.35 Mit dem Aufsatz „Soziale Raumbildungen am Beispiel des Vorderen Orients“ verweist H. Bobek auf die grundsätzliche, ja die Geographie definierende Aufgabe des Faches: „Der Orient ist hervorragend geeignet zur Darlegung der Bedeutung, die der Gesellschaft im Rahmen geographischer Betrachtung zukommt; denn hier liegen die Zusammenhänge zwischen Gesellungstypen, Lebensformen und landschaftlich-lebensräumlichen Einheiten besonders klar zutage. Die Eindeutigkeit der lebensräumlichen Einheiten im Orient bringt es mit sich, daß sich hier die wesentlichen Lebensformen in reiner Ausprägung immer wieder neu bilden und immer wieder neu zur Gesellschaft zusammenfügen.“36

Und erläuternd fährt der Autor fort: „Für das orientalische Kerngebiet ist die mosaikartige Durchdringung sehr verschiedener natur- und lebensräumlicher Einheiten bezeichnend, denen bestimmte Lebensformen entsprechen.“37 Auf der Grundlage des lebensräumlichen Gefüges, das mit den folgenden Landschaften benannt werden kann: Mittelmeerische Küs-

32 H. v. Wißmann: „Stellung und Bedeutungswandel des Orients“, S. 362 (Hervorhebung im Original). 33 Vgl. Abb. 1. 34 Vgl. Hans Bobek: „Soziale Raumbildungen am Beispiel des Vorderen Orients“, in: Verhandlungen des 27. Deutschen Geographentages München 1948, Landshut: Verlag des Amtes für Landeskunde 1950, S. 193-206. 35 Vgl. Hermann v. Wißmann: „Bauer, Nomade und Stadt im islamischen Orient“, in: Rudi Paret (Hg.), Die Welt des Islam und die Gegenwart, Stuttgart: W. Kohlhammer 1961, S. 22-63. 36 H. Bobek: „Soziale Raumbildungen“, S. 193. 37 Ebd., S. 194. 134

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tenränder, Gebirge, Waldlandschaften, Steppenhochflächen, steppenhafte Gebirge, Wüste, Fluss-und Grundwasseroasen,38 haben sich drei große Bereiche charakteristischer Sozialstruktur und Kulturlandschaft herausgebildet, die je nach landschaftlicher Prägung nochmals in sich differenziert werden können: Nomaden, Bauern und Städter. H. von Wißmann bestätigt in seiner kulturhistorischen Arbeit, dass die drei Lebensformen im Orient entstanden, aber für die Mitte des 20. Jahrhunderts lautet sein scheinbar von den nachfolgenden Rezipienten übersehenes Statement: „Die scharfe Ausprägung der drei sozialen Lebensformen des Orients, des Bauerntums, des Nomadentums und des Städtertums, die sich vor rund zweitausend Jahren voll ausbildete, reicht bis zur heutigen Zeit. Heute ist sie einer umstürzenden Wandlung unterworfen.“39 Damit macht von Wißmann bereits vor Ende des Zweiten Weltkriegs das Konzept der drei Lebensformen zu einem historischen Mythos.

Rentenkapitalismus, die Theorie für den Orient Dem Begriff, der Theorie oder dem Konzept Rentenkapitalismus kommt für die Erklärung unterschiedlichster Phänomene in der frühen Konstruktion des Orients eine große Bedeutung zu. Das Phänomen des Entwicklungsrückstands bzw. Verfalls, das E. Banse über die Wahrnehmung von „Trümmern“ beschreibt40 und mit Fatalismus und Trägheit erklärt, bekommt durch die Beobachtungen von H. Bobek eine andere, theoretische Dimension: „Eine besondere Rolle fällt dabei der orientalischen Stadt zu. Als bevorzugter Sitz der politischen Machthaber, die aber fast immer von außen, oft von nomadischer Seite stammen und häufigem Wechsel unterliegen, vermag sie zwar sich selbst als politischen Körper nicht zu entwickeln, schließt aber in einem seltenen Ausmaß alle soziale Macht in sich und erscheint als Beherrscherin und Ausbeuterin des platten Landes. Von ihr aus werden die Steuern eingetrieben und kommen im wesentlichen ihr zugute. Ihr wirtschaftliches Wesen wird in besonderem Maße von einem Rentenkapitalismus geprägt, der in die Produktion selbst in der Regel nicht eingreift, sondern sich mit Anteilen aus der laufenden Produktion begnügt. Dieser Geist durchdringt alle Bevölkerungsschichten der Städte vom Reichsten bis zum Ärmsten und unterwirft sich alle wirtschaftlichen Betätigungen. In besonderm Maße gilt dies von der Landwirtschaft. Es gelingt den Städtern, unter den verschiedensten Titeln Hand auf einen bedeutenden Teil der Erträge der Landwirtschaft zu legen, sei es in Form

38 Vgl. ebd. 39 H. v. Wißmann: „Bauer, Nomade und Stadt“, S. 25. 40 Vgl. E. Banse: Das Buch vom Morgenlande. 135

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der Aneignung des Bodens, der dann im Teilbau- oder Pachtverhältnis dem Bauern überlassen wird, sei es in der planmäßigen Dauerverschuldung der Bauern. Durch diesen Rentenkapitalismus erhält die orientalische Stadt auch wirtschaft41 lich einen eigentümlich parasitären Charakter gegenüber dem Lande.“

Mit diesem ausführlichen Zitat sind alle grundlegenden Überlegungen zum Rentenkapitalismus genannt, die im Laufe der Zeit von nachfolgenden Kollegen noch weiter ausgearbeitet und ausdifferenziert werden. Die Theorie des Rentenkapitalismus verbindet die Lebensformen und Landschaften des Orients. Die Stadt, in der Herrschaft und Konsum, Gewerbe und Produktion sowie Handel und Kapital verortet werden, bestimmt die agrarische Produktion der Bauern auf dem Lande. Die psychologische Dynamik der Nomaden, die immer wieder die Herrschaft in der Stadt ablösen und eine ausbeuterische Wirtschaftsweise praktizieren, tragen zum Bestehen der Zusammenhänge bei.42 Mit dem Versuch, den Begriff in eine geographische Entwicklungstheorie einzubauen,43 begann die grundlegende Kritik am Konzept des Rentenkapitalismus. Die tiefgehende Analyse der Verwendung des Begriffs Rentenkapitalismus und seine Rolle in der Entwicklungsdiskussion zeigen im Vergleich zum politischen und ökonomischen Diskurs seine Defizite auf.44 Nach der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Entwicklungstheorien und anderen Fachwissenschaften hatte die Theorie des Rentenkapitalismus bei den meisten Geographen Ende des 20. Jahrhunderts eine nur noch untergeordnete Bedeutung.

Renaissance des Konzepts Orient zu Beginn der 1970er Jahre Das Konzept Orient ist in der deutschen Nachkriegsgeographie nicht unumstritten. In den 1960er Jahren werden zwei für die damalige Zeit umfangreiche populärwissenschaftliche Werke der deutschen Hochschulgeographie publiziert: Die grosse illustrierte Länderkunde, die in zwei Bänden vom Lexikon-Institut Bertelsmann in Zusammenarbeit von 18 Geographen erstmals im Jahr 1963 und wiederaufgelegt 1968 her-

41 H. Bobek: „Soziale Raumbildungen“, S. 198-199. 42 Vgl. Klaus-Peter Müller: Unterentwicklung durch „Rentenkapitalismus“? Geschichte, Analyse und Kritik eines sozialgeographischen Begriffes und seiner Rezeption, Kassel: Gesamthochschulbibliothek 1983. 43 Vgl. Hans Bobek: „Die Hauptstufen der Gesellschafts- und Wirtschaftsentfaltung in geographischer Sicht“, in: Die Erde 90 (1959), S. 259-298. 44 Vgl. K.-P. Müller: Unterentwicklung durch „Rentenkapitalismus“?. 136

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ausgegeben wird45 und – man kann sagen als alternatives Projekt – die Illustrierte Welt- und Länderkunde in drei Bänden von Emil Hinrichs, die 1969/1970 erscheint.46 Im ersten Werk wird im Vorwort explizit mit den beteiligten etablierten deutschen, österreichischen und schweizerischen Hochschulprofessoren geworben. Außerdem lässt der Einführungsartikel die Tradition der deutschen Hochschulgeographie personell und konzeptionell Revue passieren. Beide Werke, die für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum verfasst sind, verstehen sich als Vermittlung von geographischer Erkenntnis an Laien, an Nicht-Wissenschaftler. Sie unterscheiden sich grundlegend bei der Darstellung der Erde in geographische Großräume. Während das etwas ältere Werk eine klassische Gliederung bevorzugt, erfindet das zweite Werk den Orient für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts neu: „Nordafrika und Vorderasien seien im folgenden unter dem Oberbegriff ‚Orient‘ zusammengefasst. Diese Umgrenzung des Orients erscheint heute nicht mehr selbstverständlich.“47 Das erste Plädoyer (abgesehen von E. Banse) eines etablierten Wissenschaftlers für eine Kontinent übergreifende kulturelle Einheit findet sich, wie bereits erwähnt, bei von Wißmann.48 Deshalb ist es nur verständlich, dass sich Eugen Wirth bei der Begründung seiner Orientdefinition auf diese Protagonisten beruft: „Die besten Kenner des Orients, z. B. Ewald Banse oder Hermann von Wißmann, haben die wesentlichen Bestimmungselemente des Orients immer wieder gerade in denjenigen großräumigen Zusammenhängen gesehen, die Nordafrika und Vorderasien zu einer Einheit verbinden.“49

45 Lexikon-Institut Bertelsmann (Hg.): Die grosse illustrierte Länderkunde. I: Europa, Sowjetunion, Asien. II: Afrika, Amerika, Australien, Ozeanien, Polargebiete, Meere. Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag 1963. 46 Emil Hinrichs (Hg.): Illustrierte Welt- und Länderkunde in drei Bänden, Zürich: Stauffacher Verlag AG 1969-1970. 47 Eugen Wirth: „Der Orient“, in: Emil Hinrichs (Hg.), Illustrierte Welt- und Länderkunde in drei Bänden. Band III: Die Grossräume der Erde, Zürich: Stauffacher Verlag AG 1970, S. 259-319, hier S. 259. 48 Vgl. H. v. Wißmann: „Stellung und Bedeutungswandel des Orients“; ders.: „Bauer, Nomade und Stadt“. 49 E. Wirth: „Der Orient“, S. 260. Vgl. ders.: „Einleitung: Der Orient – Versuch einer Definition und Abgrenzung“, in: Horst Mensching/Eugen Wirth (Hg.), Fischer Länderkunde Band 4: Nordafrika und Vorderasien – Der Orient, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 21989, S. 15-26; Eugen Wirth: Theoretische Geographie. Grundzüge einer Theoretischen Kulturgeographie, Stuttgart: B. G. Teubner Verlag 1979; ders.: „German geographical research in the Middle East AND North Africa“, in: ders. (Hg.), German Geographical Research Overseas. A Report to the International Geographical Union, Tübingen: VCH Verlagsgesellschaft mbH 1988, 137

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Nachdem die Auseinandersetzung, die man aus den beiden oben angesprochenen Länderkunden ableiten kann, von dem empirisch im „Orient“ arbeitenden Geographen gewonnen wurde, etabliert sich der Kontinent übergreifende Orient in den wissenschaftlichen Erzählungen der deutschen Geographie. Nahezu zwanzig Jahre später äußern sich drei damals tonangebende empirische Orientforscher, Eugen Wirth,50 Eckart Ehlers51 und Fred Scholz,52 in einschlägigen „länderkundlichen“ Buchpublikationen über die Abgrenzung und Gestaltung des Orients. Dabei repräsentieren die drei Positionen unterschiedliche Strategien der damaligen Geographie, mit dem Phänomen „Orient“ umzugehen. Die Positionen könnte man auf der Basis ihrer Ansprüche aus heutiger Perspektive als „Essentialistische Geographie“, „Interkulturelle Geographie“ und „Geographie der Entwicklungsländer“ bezeichnen. E. Wirth schreibt in einer der letzten deutschsprachigen geographischen Arbeiten, die mit der Zuschreibung „Länderkunde“ vermarktet werden, nahezu identisch mit den Formulierungen in der populärwissenschaftlichen Publikation Illustrierte Welt- und Länderkunde: „Gegenüber solchen weithin üblichen Abgrenzungen wird nachfolgend ganz bewußt die These vertreten, daß Nordafrika und Vorderasien im Rahmen des altweltlichen Trockengürtels sowohl hinsichtlich ihrer Landesnatur als auch hinsichtlich ihrer Kulturlandschaft eine übergreifende geographische Einheit darstellen. Jeder, der Nordafrika und Vorderasien von längerem Aufenthalt oder ausgedehnteren Reisen her kennt, ist immer wieder davon überrascht, wie sehr sich sowohl die Landschaften als auch die Lebensformen in dem ganzen Bereich zwischen Atlantik und Indus, zwischen Kaspischem Meer und zentraler Sahara gleichen. Hinter aller Vielfalt, Mannigfaltigkeit und Buntheit scheint immer wieder die große übergeordnete regionale Einheit des Orients auf.“53

Außerdem hält E. Wirth an den Definitionskriterien für die geographische Einheit fest. Folgende Phänomene prägen den Orient: Altweltlicher

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S. 93-132; ders.: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika. 1. Text, Mainz: Philipp von Zabern Verlag 2000. Vgl. E. Wirth: „Einleitung: Der Orient – Versuch einer Definition und Abgrenzung“. Vgl. Eckart Ehlers et al. (Hg): Der Islamische Orient. Grundlagen zur Länderkunde eines Kulturraumes. (Islam: Raum – Geschichte – Religion, Band 1), Köln: Verlag Moritz Diesterweg GmbH & Co 1990. Vgl. Friedemann Büttner/Fred Scholz: „Islamisch-orientalische Welt: Kulturtradition und Unterentwicklung“, in: Dieter Nohlen/Franz Nuscheler (Hg.), Handbuch der Dritten Welt, 6: Nordafrika und Naher Osten, Bonn: Verlag J. H. W. Karl Dietz Nachf. 31993, S. 16-66. E. Wirth: „Einleitung: Der Orient – Versuch einer Definition und Abgrenzung“, S. 15.

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Trockengürtel, Islam, Antike, Erdöl, Neolithische Revolution; Hochkulturen und regionale vergangene Staatensysteme. Der Orient besteht für den exzellenten Empiriker aus rentenkapitalistisch geprägten Entwicklungsländern. Auch die vier dominanten Landschaften (mittelmeerischer Orient, Gebirge, Wüsten, Stromniederungen) und die drei Lebensformen (Hirtennomaden, Fellachen, Städter) sind geblieben. Der letzte Versuch, differenzierte, wissenschaftliche Arbeiten, die unterschiedlichsten wissenschaftstheoretischen Paradigmen verpflichtet sind, im Sinne der klassischen Orientkonstruktion zu ordnen, gelingt Eugen Wirth im Forschungsbericht „German geographical research in the Middle East AND North Africa.“54 Der Mentor der deutschen Orientgeographie teilt die geographischen Arbeiten in Feldforschungen im Orient vor 1939 und nach 1950 und ordnet sie unter der Überschrift „completely new directions of research and new research priorities“55 unter die Kategorien Bauer (settlement, land degeneration), Nomadismus (nomadic life style) und Stadt (Bazar) sowie Rentenkapitalismus ein. Auch die vielfältigen und unterschiedlichen Arbeiten zu Entwicklungsprozessen in Nordafrika und Vorderasien strukturiert er mit Hilfe der althergebrachten Lebensformtypen. Hier wird greifbar, dass sich das Wesen des Orients aus der Sicht des Ordinarius nicht ändern kann. Interessanterweise belegen die zahlreichen Länder- und Stadtmonographien, die der Berichterstatter als Ertrag der geographischen Orientforschung anführt, die generelle essentialistische Ausrichtung dieser Forschung im vergangenen Jahrhundert. Die unüberbrückbare Differenz zwischen klassischem Ordnungsschema und kritischen, empirischen Studien ist offensichtlich. Eine pragmatische länderkundliche Dokumentation über den islamischen Orient von Geographen und Islamwissenschaftlern mit interkulturellem Anspruch gibt E. Ehlers heraus. Unter den Ausführungen über den islamischen Orient im Lichte der Geographie werden zwölf Jahre nach Erstveröffentlichung die Thesen von Edward Said56 über die europäische Konstruktion und die literarische Gestaltung des Orients als anderen Ort der Aufklärung mit folgenden Worten in einer geographischen Länderkunde rezipiert: „Der notgedrungen kursorische Überblick über die Region sowie ihre inhaltliche Abgrenzung und Ausfüllung machen deutlich, daß es vor allem europäisch geprägte Denkvorstellungen sind, die immer wieder unsere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesem Raum geprägt haben. Dies kommt nicht nur in 54 E. Wirth: German geographical research (Hervorhebung des Verfassers). 55 Ebd., S. 97 (Hervorhebung im Original). 56 Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York: Penguin 1978. 139

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unklaren Begriffen und räumlichen Zuordnungen sowie in fragwürdigen inneren Differenzierungen des Islamischen Orients zum Ausdruck, sondern auch in einer bis heute fortwährenden ganz spezifischen Sicht dieses Raumes und seiner Menschen durch die meisten Europäer.“57

Der Herausgeber bemüht sich, die vorgebrachte als Orientalismus bezeichnete Kritik auch auf die empirische Orientgeographie zu beziehen. Dies hält ihn aber nicht davon ab, das Buch in jeder Hinsicht nach den Vorgaben der klassischen Geographie zu gliedern und den Orient weiterhin durch die althergebrachten Konzepte zu beschreiben: „Die traditionelle Gesellschaft des Islamischen Orients erschien den Einheimischen wie dem kulturfremden Beobachter aus drei in sich differenzierten Komponenten aufgebaut, aus Städtern, Bauern und Nomaden […]. Diese drei Kategorien finden sich, in anderen Proportionen als früher, auch heute noch. Trotzdem reicht dieses Modell zur Erfassung der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aus.“58

Die vorgelegte Länderkunde behandelt den Natur- und Kulturraum getrennt. Danach folgt die Differenzierung des Kulturraumes in die altbekannten Lebensformen „Landwirtschaft und ländlicher Raum“, „Nomadismus“ und „Stadt“. Die dynamischen Veränderungen werden als „Erdölwirtschaft und Industrialisierung“ sowie „Räumliche Mobilität und Gesellschaftsstrukturen“ abgehandelt. Und ein wichtiger Aspekt kommt hinzu: der Orient wird als „Konfliktraum“ definiert, denn die politischen und alltäglichen Auswirkungen von Terror und Migration sind in Europa zur Zeit der Publikation der Studie angekommen. Der Anspruch der Arbeit ist nicht mehr die Wesenserkenntnis, sondern wird mit dem Verständnis der fremden, der anderen Kultur begründet. „Der Versuch, Vertreter anderer Kulturen ‚verstehen und achten zu lernen‘, trägt vielleicht dazu bei, Konfliktpotential zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ zu reduzieren, vermeiden lassen sich Konflikte hierdurch nicht.“59 In der ersten Auflage des Handbuches der Dritten Welt aus dem Jahre 1976 entscheiden sich die Herausgeber Dieter Nohlen und Franz Nuscheler für die konventionelle Gliederung der Kontinente und handeln bei der entwicklungsbezogenen Vorstellung die einzelnen Staaten der Erde lexikalisch ab. In der dritten Auflage sieht dies unter Beteiligung

57 E. Ehlers et al. (Hg.): Der Islamische Orient. Grundlagen zur Länderkunde eines Kulturraume, S. 17f. 58 Ebd., S. 321. 59 Ebd., S. 367. 140

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des Geographen F. Scholz im Band 6 des Handbuchs mit dem Titel Nordafrika und Naher Osten völlig anders aus: „Die in diesem Band zusammengefaßten Länder gehören einer Kontinente übergreifenden Region an, die in der Vergangenheit als Kultur-Erdteil ‚Orient‘ begriffen, in der Gegenwart mit recht verschiedenen Bezeichnungen benannt wurde und hier erst einmal als ‚islamisch-orientalische Welt‘ oder ‚islamisch-orientalische Region‘ bezeichnet werden soll. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR müßte ihre Grenze im NO weit nach Zentralasien hinein verlagert werden.“60

Damit knüpft der Autor an die klassische Abgrenzung des Orients von H. von Wißmann61 an. Letztendlich zieht auch F. Scholz die altbekannten Kriterien zur räumlichen Abgrenzung der Region heran, wenn er auch den Begriff Orient meidet. Eine grundlegende Differenz zeigt sich jedoch bei der Thematisierung der paradigmatischen Lebensformen. F. Scholz führt „das konfliktträchtige Gegenüber und auch Nebeneinander von Seßhaften (Oasenbauer, Städter, hadr) und Mobilen (Nomade, Beduine, badw)“62 an. Damit verlässt er die geographische Tradition und greift auf die Konzeption des Historikers und Soziologen Ibn Khaldun zurück. Ebenso macht der Verfasser die interne und externe Perspektive auf den Gegenstand kenntlich. Mit wenigen Thesen gelingt es dem Autor, ein differenziertes Bild der Region zu entwerfen. Als wichtige Kennzeichen nennt F. Scholz: „[…] die vehement ablaufende, extern initiierte Wirtschafts-, Gesellschaftsund Infrastrukturentwicklung und die nicht zuletzt dadurch ausgelösten Reaktionen in Form von Re-Islamisierung oder Fundamentalismus; Gesellschaftsund Wirtschaftsformationen, in denen traditionelle und moderne Elemente nebeneinander oder auch in hierarchischer Abhängigkeit miteinander verbunden bestehen, Klientel, Patronage und Korruption im formellen und informellen Sektor herrschen.“63

Die anschließenden Ausführungen spannen die Problematik der Region weiter auf und schildern in differenzierter Weise ihre Merkmale. Und schließlich folgt, um die Konvention der Geographie zu erfüllen, der unweigerliche Schritt zur Regionalisierung der differenzierten Erkenntnisse. Hier greift F. Scholz auf den aus externer Sicht bedeutungsvollen „Erdölreichtum(s) und die damit eng verbundene politische, strategische und 60 F. Büttner/F. Scholz: „Islamisch-orientalische Welt“, S. 16. 61 Vgl. H. v. Wißmann: „Stellung und Bedeutungswandel des Orients in den Lebensräumen der Alten Welt.“ 62 F. Büttner/F. Scholz: „Islamisch-orientalische Welt“, S. 16. 63 Ebd., S. 17. 141

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ökonomische Stellung im Staatensystem“ sowie „das Nebeneinander von armen Agrar- und reichen Erdölstaaten“64 zurück. Leider lässt er sich dazu hinreißen, eine Karte der Region zu publizieren, welche die Staaten des Orients von Marokko bis Iran bzw. des „Subsystems: Naher Osten“ in „Haves“, „Semi-Haves“ und „Have-Nots“ simplifizierend einteilt.65 Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich damit der Orient doch noch in die Entwicklungsländerdiskussion eingeschrieben hat. Die Ausführungen zeigen, dass sich verschiedene Wissenschaftler bereits frühzeitig vom essentialistischen Verständnis des Orients im Rahmen ihrer Forschungen und ihrer länderkundlichen Publikationen entfernt hatten, aber die Abgrenzung der Region als ihr „angestammtes Forschungsgebiet“ oder ihren „abgesteckten Forschungs-Claim“ in der Auseinandersetzung mit Kollegen und Kolleginnen nicht aufgeben wollten. Damit verschneiden sich bei der Präsentation und Gliederung von Forschungsergebnissen forschungspolitische Interessen mit wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen.

Zukunft des Konzepts „Orient“ in der deutschsprachigen Geographie Bereits Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die meisten deutschsprachigen Geographinnen und Geographen, die empirisch und theoretisch über und in der Region „Orient“ arbeiten, von den Konstruktionen des klassischen Orientverständnisses verabschiedet und sie theoretisch aufgearbeitet.66 Die klassische essentielle Trilogie Kulturerdteil, Lebens-

64 Ebd. 65 Ebd., S. 41. 66 Vgl. Herbert Popp: „Theoretische Reflexionen zur sozialgeographischen Forschung im Islamischen Orient. Einige einleitende Anmerkungen“, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 133-136; Frank Meyer: „Methodologische Überlegungen zu einer kulturvergleichenden Geographie oder: ‚Auf der Suche nach dem Orient‘“, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 148-164; Marc Boeckler: „Entterritorialisierung, ‚orientalische‘ Unternehmer und die diakritische Praxis der Kultur“, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 178-193; Anton Escher: „Das Fremde darf fremd bleiben! Pragmatische Strategien des ‚Handlungsverstehens‘ bei sozialgeographischen Forschungen im ‚islamischen Orient‘“, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 165-177; Peter Lindner: „‚Orientalismus‘, imaginative Geographie und der familiäre Handlungsraum palästinensischer Industrieunternehmer“, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 194-210; Sybille Bauriedl: „Der ‚Orient‘ als Raumkonstruktion der Geographie“, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster: Unrast-Verlag 142

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formen und Rentenkapitalismus haben sich in jeder Dimension als Konzept, als Gegenstand und als Theorie, die konstituierend für den Orient gesehen wurden, aufgelöst. Die Lebensform des Bauern ist nahezu in jedem Dorf des Orients durch technisierte Agrarproduktion und/oder Migration, wie Detlef Müller-Mahn zeigt,67 verschwunden. Nomadismus, einstmals die exotische Lebensform des Orients, funktional-ökonomisch klassifiziert68 und als sozioökologische Lebensweise thematisiert,69 wird noch im 20. Jahrhundert von F. Scholz für tot erklärt.70 Die definitive Ikone der klassischen Orientgeographen, die Orientalische Stadt, von Klaus Dettmann71 (mit)erfunden, wird von Herbert Popp als „fast schon unzulässige Generalisierung“72 und von Frank Meyer als „historisch relevanter Sonderfall“73 zu Grabe getragen. Damit hat sich bereits gegen Endes des 20. Jahrhunderts der geographisch gestaltete Orient der Lebensformen erübrigt, wenn er auch hin und wieder von einzelnen Forschern imaginiert wird. „Neuere Arbeiten deutscher Orientgeograph/inn/en weisen auf die sprachliche Vielfalt und die historische, kulturelle und wirtschaftsgeographische Diversität hin, sprechen aber weiterhin vom Orient als Forschungsraum. Die Aufrufung

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2007, S. 137-154. Die Ausführungen der Autorin zur deutschsprachigen Orientforschung sind sehr differenziert und durchgehend zutreffend. Ihre Analyse zur „Orientalisierung des Orients“ erfolgt über die typischen stereotypen Motive, vgl. Julia Lossau: Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer ‚ANDEREN‘ Geographie der Welt, Bielefeld: transcript Verlag 2002. Vgl. Detlef Müller-Mahn: „Ägyptische Migranten in Paris“, in: Geographische Rundschau 54/10 (2002), S. 40-44. Vgl. Fred Scholz/Jörg Janzen (Hg.): Nomadismus – ein Entwicklungsproblem? Beiträge zu einem Nomadismus-Symposium, veranstaltet in der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin vom 11. bis 14. Februar 1982, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1982. Vgl. Fred Scholz: Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise. Erdkundliches Wissen 118, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995. Vgl. Fred Scholz: „Der Nomadismus ist tot. Mobile Tierhaltung als zeitgemäße Alternative“, in: Geographische Rundschau 51/5 (1999), S. 248-255. Vgl. Klaus Dettmann: Damaskus: eine orientalische Stadt zwischen Tradition und Moderne, Erlangen: Palm & Enke 1969. H. Popp: „Theoretische Reflexionen“, S. 135. Frank Meyer: „Die ‚islamisch-orientalische Stadt‘ – noch immer ein eigenständiger kulturgenetischer Stadttyp?“, in: Herbert Popp (Hg.), Das Konzept der Kulturerdteile in der Diskussion – das Beispiel Afrikas. Wissenschaftlicher Diskurs – unterrichtliche Relevanz – Anwendung im Erdkundeunterricht, Bayreuth: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Bayreuth e.V., 2003, S. 63-85, hier S. 85. 143

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des Orientbegriffs dient dem Anspruch, aus wissenschaftlichen Einzelergebnissen verallgemeinerbare Modelle und regionalspezifische Typen und Entwicklungsprognosen abzuleiten, führt jedoch gleichzeitig zur Reproduktion eines Orients als homogene Region.“74

Diese Kritik dürfte aber nur noch auf wenige Protagonisten zutreffen, denn die Kommentare der empirischen Forscher lauten anders: „Die Einheit der Arabischen Welt oder sogar des gesamten Islamischen Orients wird von den zugehörigen Ländern selbst immer wieder beschworen, und auch im Westen wird der Orient oftmals als ein Kulturraum oder gar als irgendwie abgrenzbarer ‚Kulturerdteil‘ betrachtet, aber letztlich beruhen alle diese Vereinheitlichungen auf einer Fiktion.“75

Abb. 4: Die Arabischen Staaten

Die Frage, wie die Geographie weiter mit der Region Nordafrika und Vorderasien oder mit der Islamischen bzw. Arabischen Welt umgeht, zeigt sich pragmatisch in den drei nachfolgend angesprochenen geographischen Sammelwerken, die den ehemaligen „Orient“ thematisieren. Eine Strategie zeigt sich in der nahezu lexikalischen Aufstellung von Informationen zu Geschichte, Politik, Religion, Gesellschaft und Wirt74 S. Bauriedl: „Der ‚Orient‘ als Raumkonstruktion der Geographie“, S. 138139. 75 Detlef Müller-Mahn: „Islamischer Orient“, in: Geographische Rundschau 58/11 (2006), S. 45-47, hier S. 45 (Zitat im Original hervorgehoben). 144

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schaft der arabischen Staaten, wobei die politische Selbstzuschreibung und Selbstorganisation der Arabischen Liga den Staatenverbund definiert (Abb. 4) und die nationalstaatliche Abgrenzung der jeweiligen Staaten die statistischen Informationen liefern.76 Eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Region zeigen beispielhaft zwei Sammelbände, die geographische, vorwiegend empirische Studien teilweise – von einigen Ausnahmen abgesehen – im Charakter der „Cultural Studies“ und „Postcolonial Studies“ über die Staaten der Arabischen Welt77 und die Staaten des Maghreb78 in gekürzter Form wiedergeben. In konstruktiver, kritischer und kultureller Hinsicht wird die/der Leser(in) über die geographische Alltagswirklichkeit der Länder der Arabischen Liga bzw. der Länder des Maghreb in differenzierter Empirie und Empirie basierter Theorie aus unterschiedlichen Perspektiven informiert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verändern sich Fragestellungen, Methoden, Theorien und die Gegenstände der wissenschaftlichen Geographie. Die positivistische Suche nach einer vorgegebenen Ordnung, das Streben nach Erkenntnissen über „die homogene Einheit und das differente Wesen des Orients und der Orientalen“ gehören damit bei der neuen Generation der Vergangenheit an.

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76 Vgl. W. Weiss: Die Arabischen Staaten. Geschichte. Politik. Religion. Gesellschaft. Wirtschaft 2007. 77 Vgl. Günther Meyer (Hg.): Die Arabische Welt im Spiegel der Kulturgeographie, Mainz: Veröffentlichungen des ZEFAW (Selbstverlag) 2004. 78 Vgl. Herbert Popp (Hg.): Les pays du Maghreb. Contributions de la géographie humaine allemande. Rapport présenté à l’UGI à l’occasion du 31 ème Congrès International de Géographie à Tunis 2008, Bayreuth 2008. 145

ANTON ESCHER

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ANTON ESCHER

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American Holy Land: Orientalism, Disneyization, and the Evangelical Gaze JACKIE FELDMAN/AMOS S. RON

Introduction The American Protestant gaze on the Holy Land has been influenced, not only by Biblical paradigms, but by Orientalist world-views and the process of theming and disneyization. These processes shape the gaze both through the mass-culture industry, as well as within Evangelical churches. By analyzing the construction and narration of two fairly recent Biblical sites, we demonstrate how new Holy Land sites are tailored to reflect changing American Protestant gazes and expectations. At the same time, local agents may strategically channel those gazes to legitimize their own interests and world-views. Orientalism, according to Timothy Mitchell, has three salient features: essentialism, otherness, and absence. By organizing and producing the Orient as passive, static, emotional and chaotic, as opposed to an active, mobile, rational and orderly West, the colonial world can be mastered, and that mastery will reinforce those defining features.1 At the same time, the Orient was infused with romance, as a place of desire.2 1

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Cf. Timothy Mitchell: “Orientalism and the Exhibitionary Order”, in: Nicholas B. Dirks (ed.), Colonialism and Culture, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1992, pp. 289-317 at p. 289. Cf. Edward W. Said: Orientalism, London: Routledge and Kegan Paul 1978, p. 1; Malini Johar Schueller: US Orientalisms: Race, Nation, and Gender in Literature, 1790-1890, Ann Arbor: University of Michigan Press 1998, p. 4. 151

JACKIE FELDMAN/AMOS S. RON

Furthermore, since the 19th century, the Orientalist view of the East – and the Holy Land in particular – has been produced and reified by the exhibitionary order: by the presentation of the East as spectacle. Whether as tableau vivant, miniature model or World’s Fair exhibit, such forms present themselves as controlled environments which can be visually consumed and comprehended by the Western spectator. The 19th century spectacles of the Orient also shaped American and British touring practices in the Middle East.3 In the United States, additionally, the Holy Land and Zion have served as an American cultural myth, which inspired numerous spectacular models and representations. These representations legitimized American Protestant visions of themselves and the world.4 Along with oil, visions and narratives of the ‘Holy Land’ as a site of mainly Christian origins have forged cultural investments that allowed many Americans to become intimately involved in the Middle East.5 Here, we wish to focus on the way American Protestant values and images are being inscribed on the physical space of Christian sites in Israel/Palestine, shaping a Holy Land in the American Orientalist image. Orientalism, however, is not uniform across cultures and time periods; it interacts with other interests and ways of seeing the world. American Protestant visitors’ images and expectations of the Holy Land are subject to changing forms of sensory experience of both geographical sites and religious truth at large.6 An important influence is that of Disneyworld and other theme parks.7 As part of the late 20th century processes of globalization, Alan Bryman has identified disneyization as a process including four components: 1. themed environments, “material forms that are products of a cultural process aimed at investing constructed spaces with symbolic meaning and conveying that meaning to

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7

Cf. T. Mitchell: “Orientalism”, pp. 303-314. Cf. M. J. Schueller: US Orientalisms. Cf. Melani McAlister: Epic Encounters: Culture, Media, and U.S. Interests in the Middle East since 1945, Berkley, Los Angeles: University of California Press 2005, pp. 1-2. Cf. Amos S. Ron/Jackie Feldman: “From Spots to Themed Sites – The Evolution of the Protestant Holy Land”, in: Journal of Heritage Tourism 4/3 (2009), pp. 201-216. Cf. Alan Bryman: “The Disneyization of Society”, in: Sociological Review 47/1 (1999), pp. 25-47; Alan Bryman: The Disneyization of Society, London: Sage 2004; Noam Shoval: “Commodification and Theming of the Sacred: Changing Patterns of Tourist Consumption in the ‘Holy Land’”, in: Mark Gottdiener (ed.), New Forms of Consumption: Consumers, Culture and Commodification, Lanham et al.: Rowman & Littlefield 2000, pp. 251-263.

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AMERICAN HOLY LAND

inhabitants and users through symbolic motifs”;8 2. hybrid consumption – the interlocking of different institutional spheres within forms of consumption; 3. merchandising – the sale of goods with copyright images and logos – and 4. performative labor – service work involving display of a certain mood as part of the labor involved.9 Disneyization has made its way into religious worship as well, with a series of Christian theme parks that have popped up over the last twenty years, many, though not all, geared for Protestants and built in the United States.10 For the purposes of this paper, we adapt John Urry’s understanding of the tourist gaze11 as a historically and socially constructed way of consuming landscape. The particular modes of the tourists’ search for the extraordinary, claims Urry, have consequences for the ‘places’ that are its object and, consequently, for the people building and running those places. In recent years, scholars of tourism have noted how processes of McDonaldization and disneyization have extended the ‘environmental bubble’ typical of group tours to more and more touristic spaces throughout the world.12 We will demonstrate how forces of Orientalism and disneyization have generated a distinctly contemporary American Protestant pilgrim gaze, which, in recent years, has been accommodated by new Holy Land sites which materialize that gaze and thus reproduce it. We begin by providing a brief sketch of the processes of Christian sacralization of space in the Holy Land, particularly for Protestants. We then turn to two recent Biblical sites – Yardenit on the Jordan River and Nazareth Village – and demonstrate how the American Protestant gaze is objectified by local agents’ construction of sites to accommodate it. In doing so, we will also show how local Israeli or Palestinian agents devise strategies to channel that gaze to serve needs of their own identity politics.

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Mark Gottdiener: The Theming of America: American Dreams, Media Fantasies, and Themed Environments, Boulder: Westview Press 22001, p. 5. 9 Cf. A. Bryman: Disneyization, p. 2. 10 Cf. Scott A. Lukas: “Politics of Reverence and Irreverence: Social Discourse on Theming Controversies”, in: Scott A. Lukas (ed.), The Themed Space: Locating Culture, Nation, and Self, Lanham, MD: Lexington Books 2007, pp. 271-293 at pp. 274-275; A. S. Ron/J. Feldman: “Spots”. 11 Cf. John Urry: The Tourist Gaze, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 22002. 12 Cf. George Ritzer/Allan Liska: “‘McDisneyization’ and ‘Post-Tourism’: Complimentary perspectives on contemporary Tourism”, in: Chris Rojek/ John Urry (eds.), Touring Cultures: Transformations of Travel and Theory, London, New York: Routledge 1997, pp. 96-109. 153

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The Historical Development of Protestant Concepts of Space and Travel In the Holy Land, sacred narratives are at the origin of sacred space.13 In the 4th century, a large number of sites associated with Biblical events were identified, many through pilgrim reports; churches sanctified those spaces through the performance of rituals and processions, and Constantine constructed several large memorial sites that sanctified the Biblical events – and his imperial power, made manifest through construction and iconography.14 Thus, pilgrim itineraries and stories often served as predecessors to the construction of ‘facts on the ground’. Christians then performed rituals sanctifying those Biblical events in their home churches, producing copies of holy sites, painting pictures, and disseminating relics that formed images and expectations that the pilgrims took with them to the Holy Land – and back to their churches.15 Thus, long before discussions of American hyperreality16 or postmodern simulacra,17 the symbolic and material exchange between original and representation is an essential movement throughout the history of sanctification of Christian Biblical spaces. Often new sites were dedicated (Prison of Christ, mounting stone at Bethphage), or old ones refashioned, in accordance with such expectations. Even central events in Christian Heilsgeschichte, such as the Baptism of Jesus or the place of his Crucifixion, have been marked in different sites by different churches and in different periods. Thus, as Halbwachs showed 80 years ago, the territory of Israel/Palestine is a palimpsest upon which religious groups impose their successive conceptual

13 Cf. Robert A. Markus: “How on Earth Could Places Become Holy? Origins of the Christian Idea of Holy Places”, in: Journal of Early Christian Studies 2/3 (1994), pp. 257-271. 14 Cf. Francine Cardman: “The Rhetoric of Holy Places: Palestine in the Fourth Century”, in: Studia Patristica XVII/I (1982), pp. 18-25; Noel Lenski (ed.): The Cambridge Companion to the Age of Constantine, Cambridge: Cambridge University Press 2006; Robert Louis Wilken: The Land Called Holy: Palestine in Christian History and Thought, New Haven: Yale University Press, 1992. 15 Cf. Jonathan Z. Smith: To Take Place: Toward Theory in Ritual, Chicago: University of Chicago Press 1987, pp. 74-95; see also R. A. Markus: „How on Earth“. 16 Cf. Umberto Eco: Travels in Hyperreality: Essays, Orlando: Harvest/HBJ 1986. 17 Cf. Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation, Ann Arbor: Michigan University Press 1994; id.: America, London, New York: Verso Press 1988. 154

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grids.18 Pilgrimage, along with imperial and ecclesiastic power, and, occasionally, local authorities, partitions space in ways that make it possible for non-critical thought to accept the resultant reality at face value.19 For Catholics, holiness arises from the sense of being part of a long, often unbroken history, during which the will of Jesus has been enacted in the world through the agency of the Church.20 While Protestants took exception to ‘holy sites’, as mediating objects whose sanctity was transferred to them through physical contact with the Divine, they have increasingly been drawn to the land as the physical illustration of significant loci of their faith. For Protestants, sacred scripture provides the basic repertoire of potential sites.21 The landscape calls forth words, not as heard but as seen, as if lettered across the view. Their outward sight should call forth in inward vision the words of remembered prayers and scriptural passages.22 “The Protestant task is always to return to that first simplicity which so exactly matches the Protestant’s own. The plainness of the landscape is itself held up as evidence of the truth of Protestantism.”23 Thus, for Protestants, a holy place ‘covered over’ with Orthodox or Catholic churches is, in effect, a site which commemorates ecclesiastical domination (and of the false church!) rather than the ‘truth’ that, in their view, the ecclesiastical institution has usurped, distorting the unimpeded relationship between the individual and Christ. Topography, uncluttered nature, simplicity, rather than traditional churches, become the scriptural signs inscribed on the Protestant Holy Land.24 Furthermore, Protestants presented Jesus as “a fellow-seeker after the unmediated Divine, as if He were not the object of the pilgrimage, [the Divine person 18 Cf. Maurice Halbwachs: “The Legendary Topography of the Gospels in the Holy Land”, in: id., On Collective Memory, edited, translated and with an introduction by Lewis A. Coser, Chicago, London: University of Chicago Press 1992, pp. 191-235. 19 Cf. Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford, UK, Cambridge, USA: Basil Blackwell 1991, p. 280. 20 Cf. Noga Collins-Kreiner et al.: Christian Tourism to the Holy Land: Pilgrimage during Security Crisis, Aldershot, UK: Ashgate 2006, p. 17. 21 Cf. Glenn Bowman: “Christian ideology and the image of a Holy Land: The place of Jerusalem pilgrimage in the various Christianities”, in: John Eade/ Michael J. Sallnow (eds.), Contesting the Sacred: The Anthropology of Christian Pilgrimage, Urbana: University of Illinois Press 2000, pp. 98-121. 22 Cf. Gershon Greenberg: The Holy Land in American Religious Thought, 1620-1948: The Symbiosis of American Religious Approaches to Scripture’s Sacred Territory, Lanham: University Press of America 1994, p. 106. 23 Charles Lock: “Bowing Down to Wood and Stone: One Way to be a Pilgrim”, in: Simon Coleman/John Elsner (eds.), Pilgrim Voices: Narrative and Authorship in Christian Pilgrimage, New York, Oxford: Berghahn 2003, pp. 110-132 at p. 123. 24 Cf. A. S. Ron/J. Feldman: “Spots”, pp. 205-206. 155

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of the Trinity] but as if He were himself merely the first and chief of pilgrims.”25 They seek the ‘original’ stones where Jesus might have walked on, in order to ‘walk with Jesus’. Increased pilgrimage was inseparable from the colonial project of dismantling the Ottoman Empire in the Middle East.26 This was manifested in the establishment of pilgrim and tourist infrastructure such as churches, modern hotels, hostels and hospices to serve the needs of pilgrims of colonial powers and encourage them to come, as well as through the many journeys undertaken by church officials and missionaries, who also established missions, hospitals and Christian schools. Part of this larger movement was the ‘discovery’ of the Protestant site of Calvary, the Garden Tomb. The latter relied on information and ways of seeing expressed through the survey, mapping and excavation work of the Palestine Exploration Fund (PEF). Visits to archaeological sites and archaeological discourse are a prominent aspect of Protestant pilgrimages – both liberal and Evangelical. British and subsequently, Israeli archaeology often cleared ‘later levels of habitation’ to ‘reveal’ the Biblical foundations underlying them and enable direct contact – even communion – of the individual with Biblical times. Other related Protestant (and, not incidentally, Zionist) pilgrim practices are the panoramic view, where one can visually control the landscape without mingling with the masses or natives,27 as well as the extensive use of maps and map studies. The British and later Israeli project of mapping the country dug ‘underneath’ the Arabic place names to ‘reveal’ their Biblical Hebrew 25 Ch. Lock: “One Way to be a Pilgrim”, p. 118, cf. also p. 122; see also Janie R. Todd: “Whither Pilgrimage: A consideration of Holy Land pilgrimage today”, in: Annales de la Commission des Pélerinages Chrétiens, Jerusalem: Notre Dame Center 1984, pp. 20-54. 26 Cf. Doron Bar/Kobi Cohen-Hattab: “A New Kind of Pilgrimage: The Modern Tourist Pilgrim of Nineteenth-Century and Early Twentieth-Century Palestine”, in: Middle Eastern Studies 39/2 (2003), pp. 131-148; Yehoshua Ben-Arieh: The Rediscovery of the Holy Land in the Nineteenth Century, Jerusalem, Detroit: The Magnes Press and Wayne State University Press 1979; Thomas Hummel/Ruth Hummel: Patterns of the Sacred: English Protestant and Russian Orthodox Pilgrims of the Nineteenth Century, London: Scorpion 1995; Burke O. Long: Imagining the Holy Land: Maps, Models, and Fantasy Travels, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2003; Daniel Bertrand Monk: An Aesthetic Occupation: The Immediacy of Architecture and the Palestine Conflict, Durham, London: Duke University Press 2002; Hilton Obenzinger: American Palestine: Melville, Twain, and the Holy Land Mania, Princeton: Princeton University Press 1999. 27 Cf. Jackie Feldman: “Constructing a shared Bible Land: Jewish Israeli guiding performances for Protestant pilgrims”, in: American Ethnologist 34/2 (2007), pp. 351-374. 156

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origins;28 such practices created a land dotted with recently uncovered and identified ruins that could be presented as self-evidently Biblical, while Oriental Arabs could be relegated to the background, or if properly costumed, made into stand-ins for Biblical figures.

American Protestantism and Zion Zion has a long history as a charged term in American Protestantism, and the American nation often depicted itself as a chosen people, its land as promised, its historical trajectory as a wandering through the wilderness, and its enemies – the Indians – as Canaanites to be vanquished by God’s people.29 The American experience with Indians and the frontier, and their lack of direct experience of ruling others in the East before the mid-20th century, yielded somewhat different images that were projected on the Oriental other than say, in Britain.30 Americans were more familiar with Old Testament passages relating to the Land, and many of its place names were superimposed on the American continent (Bethlehem, New Canaan, Efrata, Hebron, Nazareth).31 Unquestionably, this ‘Holy Land craze’ was also fueled by popular 19th century ideologies of millenarism in the United States.32 An example of such Protestant Holy Land education is Palestine Park at the Chautauqua Institution, “a half-acre tract of land outfitted in 1874 with a scaled Jordan River, Galilee, and Jerusalem”,33 built on the shores of Lake Erie in Upstate New York in 1874. At the time, Chautauqua was an important center of Protestant adult religious education, and the imagined Holy Land in America, a “geographically materialized narrative of Christian redemption […] [in which] fantasies of the Holy Land, en28 Cf. The PEF project was also the basis for the Zionist project to create the “Hebrew Map”. For the common roots of Zionism and Protestantism, see Amnon Raz-Krakotzkin: “The Return to the History of Redemption (Or, What Is The ‘History’ to Which the ‘Return’ in the Phrase ‘The Jewish Return to History’ Refers)”, in: S. N. Eisenstadt/Moshe Lissak (eds.), Zionism and the Return to History: A Reevaluation (Hebrew), Jerusalem: Yad Yitzhak Ben-Zvi Press 1999, pp. 249-279. 29 Cf. H. Obenzinger: American Palestine. 30 Cf. M. J. Schueller: U.S. Orientalisms, pp. 1-21. 31 See Wilbur Zelinsky: “Some Problems in the Distribution of Generic Terms in the Place-names of the Northeastern United States”, in: Annals of the Association of American Geographers 45/4 (1955), pp. 319-349. 32 Cf. Y. Ben-Arieh: Rediscovery; G. Greenberg: Holy Land. 33 Stephanie Stidham Rogers: “American Protestant Pilgrimage: NineteenthCentury Impressions of Palestine”, in: Koinonia Journal: The Princeton Seminary Graduate Forum XV/1 (2003), pp. 60-80 at p. 60. 157

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tangled with ideologies of religion and national selfhood, were acted out”.34 Through landscaping, construction of models of the Tabernacle and Jerusalem, and performances by actors and vacationers dressed in Oriental ‘Biblical’ costume, the site created a Christian fantasy world, more accessible and far less arduous than that of contemporary Palestine. It catered both to the desire for tactile intimacy with the Biblical past and American’s emergent imperial sense and fascination with exotic, primitive Orientals, while proclaiming the triumph of Christianity.35 It may also have spurred modern-day Protestant pilgrimage, as Americans traveled to find “the beautiful, utopian, promised land pictured in their Bible illustrations”.36 In order to affirm the progressive nature of the Protestant, in opposition to a backward ‘Orient’,37 pilgrim contact (as opposed to that of missions) with locals and especially Oriental Christian churches was to be avoided. Hence, Protestant tours of the period, particularly British and American ones, promoted effective isolation of pilgrims from both the locals and Russian pilgrims through accommodation in tents, imported Western food and beer, and bathing huts at the Jordan. Where limited contact was made with natives, it was usually to see how Biblical customs were preserved in indigenous villages; even then, such visits often took place where English mission schools were built, thus confirming the progressive and civilizing nature of Western Christianity. Thus, Protestant pilgrimage shared in the romantic Orientalist gaze in which the natives became artifacts, markers of an unchanging past, and stand-ins for the Western visitors’ (spiritual) ancestors. The removal of the natives from the present to the past is, of course, a powerful expression of the Orientalist view.38 In the late 20th century, processes within American Protestantism have made Holy Land pilgrimage more popular: the greater accessibility and affordability of travel to the Holy Land, better tourism infrastructure in Israel, and the shift towards dispensationalism in American Protestantism, a doctrine which sees current events in Israel as manifestations of God’s hand in history on the way to the immanent end times. As Evangelical churches are seen as pro-Israel, since the mid-1970s, Israeli governments and local organizations have invested substantial efforts to cul-

34 35 36 37 38

B. O. Long: Imagining the Holy Land, p. 10. Cf. ibid., p. 27. S. S. Rogers: “American Protestant Pilgrimage”, p. 78. Cf. A. Raz-Krakotzkin: “Return”. Cf. Johannes Fabian: Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object, New York: Columbia University Press 1983.

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tivate this niche market. The sites we have chosen to examine, Yardenit and Nazareth Village, are two such examples.

Yardenit In the 1980s, the Israeli government developed a new site for Baptism – Yardenit (‘Little Jordan’) on the Jordan River, at the southern tip of the Sea of Galilee. One traditional site of Jesus’ baptism by John the Baptist, near Jericho (marked by a Greek Orthodox monastery), was on the border between the Israeli-occupied West Bank and the Kingdom of Jordan. It has been designated as a restricted military area since 1967, with limited and difficult access for pilgrims. The traditional site of Beth Abara, near Jericho, already marked on the Madaba Map (see fig. 1), is dusty, muddy and polluted. Another site, also designated as Bethany Beyond the Jordan,39 is on the eastern side of the Jordan River in the Kingdom of Jordan. This site, which receives more than one million visitors annually, is not visited by many pilgrims who restrict their weeklong visit to the borders of the State of Israel. The Yardenit site is complete with concrete ramps and guardrails leading into the water, several amphitheaters for baptismal services, toilets, a changing room and showers, video filming services, and a snack bar. The adjoining restaurant serves St. Peter’s Fish lunches, and the (Jewish-run) Christian gift shop sells a wide variety of Christian literature, music and souvenirs; rents robes and towels for pilgrims; provides plastic bottles for Jordan Water for pilgrims to take home and sells baptismal certificates.40 This well-equipped site is not linked with any church or mentioned specifically in any scriptural or traditional source. Yet it has become, over the course of 25 years, the place of immersion for almost all American Christians and is a ‘must’ site for prayer and immersion (or sprinkling of water) on the vast majority of Christian itineraries, both Protestant and Catholic.

39 The place, known as “Bethany Beyond the Jordan”, has been developed in recent years, and is now on UNESCO’s tentative World Heritage List (http://whc.unesco.org/en/tentativelists/1556). See also: Kevin J. Wright, The Christian Travel Planner, Nashville, Tennessee: Thomas Nelson Inc., 2008, pp. 51-52, http://baptismsite.com/. 40 See below p. 162 with note 43. 159

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Fig. 1: Madaba Mosaic Map showing pilgrim places in Israel/Jordan (6th century), detail

We suggest that the layout of the site, in which hundreds may witness the baptism simultaneously, is felt as appropriate by a public that seeks natural, uncluttered, open-air settings,41 yet is accustomed to worship in theater-shaped mega-churches (in which over 25 % of American Christians worship); far more appropriate than the muddy banks of the river adjoining a Greek Orthodox monastery. Moreover, the shaping of the space at Yardenit both reflects and encourages particular contemporary Protestant forms of religious practice. The Yardenit space is a theatrical one, in which, in addition to the congregation grouped around the steps, tourists, both Israeli and foreign, often come to gawk at the exotic white-clad pilgrims being submerged into the water, and coming up loudly proclaiming praise. While baptism has always been both an individual act of faith and a public affirmation to the world (cf. Acts 2, 38), it also came to mark affiliation with and commitment to a shared community of worship and practice (being baptized into a particular church). Here, however, the ‘witnesses’ of baptism do not coincide with the boundaries of the church community. It may well be that some tourist/pilgrim who might hesitate to be baptized into a 41 Cf. A. S. Ron/J. Feldman: “Spots”, pp. 205-206. 160

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church in their home area, might feel more comfortable in performing a ceremony in a place billed as historically ‘authentic’ and with a congregation whose boundaries are more fluid. The new devotee returns home already baptized, and does not need to deliberate at length with family and friends about their decision. This fluidity corresponds with the increasing mobility of American Protestants from one denomination or community to another in search of particular experiences and/or services – what Wuthnow terms the shift from a theology of dwelling to one of seeking.42 Fig. 2: Yardenit, the relatively new baptismal site on the upper Jordan River, near the Sea of Galilee. It has become the preferred site of baptism for most pilgrims.

There is considerable pressure ‘from below’ to be baptized. In the authors’ prior capacity as tour guides, we have not infrequently witnessed the vain efforts of pastors to dissuade members of the congregation from being baptized in the cold waters of the Jordan in wintertime. Likewise, the ‘renewal of baptismal vows’, though not practiced elsewhere by many congregations, is demanded by many participants, and encouraged through the site management’s production of an elegant certificate avail-

42 Cf. Robert Wuthnow: After Heaven: Spirituality in America since the 1950s, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1998, pp. 1-14. 161

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able in ten different languages and two different theological formulations (and provided free with robe rentals) to be signed by the pastor.43 We suggest that while the possible link of the location to a Biblical event (even if farfetched) and the ‘naturalness’ of the setting (a relative term) are essential for the establishment of a holy site, the success of Yardenit reflects changes in American Protestant church buildings, worship styles and theologies. In American Protestantism, the differences between sacred and profane spaces have become blurred. If, in the past, places of worship were distinct buildings in the urban and rural geography that drew people to leave the everyday world and enter a sanctuary, now those churches are often nondescript, functional buildings that look like shopping malls or offices from the outside and remind people of everyday life.44 The Temple hall is being replaced by the mega church theatre; the hymn book makes way for the Power Point presentation of lyrics on the screen, sometimes with Holy Land scenes in the background. Church officials provide financial and estate counseling to their parishioners. As the neighborhood church is being increasingly replaced by the ‘Christian community center’, where the worship hall is often located in a larger building containing athletic facilities, franchised food courts, Christian book and music stores, and financial counseling services, commodification is no longer anathema to the Christian life of worship45 – as we find at Yardenit. The merging of religious space and that of consumption, as well as the American orientation, are even more explicit on the Yardenit website. The website announces that it offers baptismal facilities for “small groups as well as up to 1000 people at a time”. It has “one of the most modern rest-rooms in Israel, consisting of toilets, showers and dressing room facilities” as well as “an impressively spacious free parking lot”. The souvenir shop is, according to the website, “designed in the form of a bazaar in a Galilean style typical of the time of Jesus. It sells numerous holy items and rents robes and towels to the visitors, who take home a Baptism or a Rededication certificate. [...] For your convenience all 43 The first reads “X was baptized in the Jordan”. The second, for denominations that see baptism as a one-time experience, speaks of “renewal of baptismal vows”. 44 Cf. R. Wuthnow: After Heaven, p. 9. 45 Cf. This reflects the larger tendency of disneyization of American culture (A. Bryman: Disneyization), in which the spaces of consumption, entertainment and work (and, we might add, worship) are increasingly merged. One of the authors (A. S. R.) was recently told that Pastor Chuck Smith, founder of Calvary Chapel and a major figure in the Evangelical megachurch movement in the United States, was instrumental in founding Yardenit in the 1970s (Yonatan Bobrov: Interview with Amos S. Ron, January 21, 2009). 162

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prices quoted in the gift shop are both in American dollars and Israeli shekels. However most foreign currencies are accepted. The shop is taxfree, which means that persons spending the acquired amount of $100 or more are entitled to receiving back the tax which is payable on exit from Israel.”46 An additional webpage links the development of the site with progress and the Zionist endeavor: “For hundreds of years, the Jordan remained desolate. Pilgrims and adventurous travelers described the descent to the Jordan, baptism and sailing as one of the most exciting events of their journey in the Holy Land. The character of the region changed dramatically only in 1932, when the Naharayim hydraulic plant was built to utilize the water of the Jordan and the Yarmukh rivers to produce electricity. At that time, the Deganya dam, located next to the Yardenit Baptismal Site, was constructed. […] The northern part of the river […], where the Yardenit Baptismal Site is located, is the only place where it is still possible to be baptized in the flowing water of the Jordan river, and experience a sense of purification and spiritual rebirth.”47 It is interesting to note that the (secular Jewish) kibbutz running the site positions itself both with the Protestant West – as restorer of the Biblical past –, as well as with Israeli pioneers – by identifying itself with the modern founders of the first kibbutzim (Deganya, Kinneret) that paved the way for the modern state of Israel.

Nazareth Village Nazareth was the site of the Annunciation and the childhood home of Jesus. In Jesus’ days, Nazareth was a small village, inhabited by a traditional, mainly agricultural Jewish population. Today, in the words of the Nazareth Village book, “this idyllic town has been transformed into a teeming city of 70,000 […] Horns blare from the cars and buses that jam the streets from dawn to dusk […]”.48 Nazareth’s population are Palestinian Israelis, and the religious sites in Nazareth, mainly Catholic and Orthodox, repulse many Protestant visitors who seek to spend their time in more natural and ‘Biblical’-looking environments.49

46 http://www.yardenit.com/info/content/facilities.asp, accessed on January 3, 2010. 47 http://www.yardenit.com/info/content/jordanr.asp, accessed on January 3, 2010. 48 Joel Kauffmann/D. Michael Hostetler: The Nazareth Jesus Knew, Nazareth: Nazareth Village 2005, p. 70. 49 Cf. N. Shoval: “Commodification”. 163

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Established in 2000 by a local Protestant Arab, Dr. Nakhle Beshara, and supported by the Mennonite Mission Network (based in the USA and Canada and administered almost exclusively by North Americans)50 Nazareth Village was designed to bring “to life a farm and Galilean village, recreating Nazareth as it was 2,000 years ago. It is a window into the life of Jesus, the city’s most famous citizen” (site brochure). According to the site’s founding director, D. M. Hostetler, the concept of Nazareth Village was inspired by heritage sites such as Colonial Williamsburg in Virginia. In return for an admission fee, visitors encounter actors, costumes, staged buildings and streets, and traditional ‘Biblical’ artifacts like a threshing floor, newly built ‘traditional’ homes, streets, and an ‘ancient’ synagogue. Tourists encounter local men, women and children dressed in traditional gear, performing traditional jobs like plowing, picking and crushing of olives, the production and repair of tools, weaving, winnowing, and more.51 The scene suggests appealing industry and evokes a nostalgic kinship with these agrarian people living close to the soil… There is no sign of dirt, thirst, ill health, or tattered clothing; nothing of hardscrabble poverty. Like the heritage villages it is modeled on,52 the orderly and sparsely populated spaces of Nazareth Village paint a relatively suburban picture, with lives centered on home interiors and nuclear families. This picture is at odds with the communal and extremely crowded outdoor life,53 attested to in the Jewish sources of the period and the remains of the densely built villages like Capernaum and Chorazin. What sets Nazareth Village apart from a plethora of themed religious environments,54 including several Holy Land theme parks, is its claim to

50 Lynn Bridgers: The American Religious Experience: A Concise History, Lanham, MD: Rowman & Littlefield Publishers 2006, pp. 61-72. 51 In 2008, 60,000 visitors, are about 5% of foreigners entering Nazareth, visited the site. For the first quarter of 2008 about 65% of the visitors came from the U.S., mostly Protestants. 30% of the visitors were of EU origin (Shirley Roth: Personal Communication to Amos S. Ron, May 12, 2008). 52 Cf. Richard Handler/Eric Gable: The New History in an Old Museum: Creating the Past at Colonial Williamsburg, London: Duke University Press 1997. 53 Cf. Edward M. Bruner: “Abraham Lincoln as Authentic Reproduction: A Critique of Postmodernism”, in: American Anthropologist 96/2 (1994), pp. 397-415. 54 Cf. Timothy K. Beal: Roadside Religion: In Search of the Sacred, the Strange, and the Substance of Faith, Boston: Beacon Press 2005; A. S. Ron/ J. Feldman: “Spots”; Yorke M. Rowan: “Repacking the Pilgrimage: Visiting the Holy Land in Orlando”, in: id./Uzi Baram (eds.), Marketing Heritage: Archaeology and the Consumption of the Past, Walnut Creek, California: Alta Mira Press 2004, pp. 249-266; Amir Shani/ Manuel Antonio 164

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the authority of place, as voiced by its founding director: “Nazareth Village is situated about 500 meters from where Jesus grew up… So when you talk about being only 500 meters away, that’s very, very close. And, in fact, we have found here a winepress from that time period... So we’re actually sitting in a site that we know was farmed by people that day, that time…. Our commitment is to authenticity. People that come here from other places can go to Disney, they can go to Florida… (to the) Holy Land Experience. They can go do that. But here it’s not Mickey Mouse… (People) want the real thing.55 They want to know that it’s as close as they can get to what Jesus would have known.”56 Fig. 3: A guided tour along the Parable Walk, Nazareth Village

The correspondence of the site to Protestant expectations is furthered through the narrative which organizes the sites around the “Parable Walk”. The reconstructed material culture is focused around illustrations of Jesus’ parables; thus the words are “lettered across the landscape”.

Rivera/Denver Severt: “‘To bring God’s word to all people’: The case of a religious theme-site”, in: Tourism 55/1 (2007), pp. 39-50; N. Shoval: “Commodification”. 55 On Evangelical authenticity, see Yaniv Belhassen/Kellee Caton/William P. Stewart: “The Search for Authenticity in the Pilgrim Experience”, in: Annals of Tourism Research 35/3 (2008), pp. 668–689. 56 D. M. Hostetler: Interview with Amos S. Ron, April 27, 2005. 165

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Pottery lamps are placed on small shelves high upon the wall, to illustrate Jesus’ parable of displaying one’s ‘light’ by “placing the lamp on a lamp stand” rather than under a bushel measuring vessel. The process of pressing olives is described at the oil press and linked with Jesus-aspressed-olive at the Garden of the Oil Press at Gethsemane. The focus on parables eliminates the need for pointing to a particular ‘here’ as the site of a specific event in the life of Jesus, while anchoring the words of Scripture in material objects on display. The parables are also theologically ‘safe’; by hedging the claims to authenticity (“Jesus might have been right near here”, “places like this might have inspired the parable of…”), the site appeals to Protestants without alienating Catholics and others.57 Fig. 4: Staged authenticity at Nazareth Village

57 This strategy is typical of many Protestant sites in the Holy Land and possibly elsewhere. The Protestants construct sites ‘in their own image’, and then they ‘invite’ others. At the Garden Tomb, for example, although onsite signs and the guiding/devotional literature cite Biblical verses referring to the resurrection, in guided explanations, they often say that they don’t really know for sure where it was (emphasizing locational authenticity) or how it looked (emphasizing visual authenticity), “but it is a marvelous visual aid”. The tactic of displaying small measures of ‘scholarly’ doubt is often used in heritage sites to delineate ‘facts’ and affirm the honesty of the interpreter (see R. Handler/E. Gable: New History, pp. 50-59). In another case, one veteran Garden Tomb guide often ends his speech on the authenticity of the Garden Tomb (as opposed to the Holy Sepulchre) with, “well, it’s not so important if it’s here or there; the main thing is, the tomb is empty! Praise the Lord!” 166

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The entire project relies, if not explicitly, on films and other representations, probably such as the Holy Land Experience in Florida, that shape the pilgrim’s experience of place,58 as well as the authority of scientist discourse as presented in popular renditions of archaeology.59 As one visitor said: “For the first time I could really envision what archaeological ruins must have looked like. Entering that synagogue is like traveling thru time.”60 While the argument of the Nazareth Village founder is meant to stake out a claim for the ‘real thing’, its reliance on authenticity of place may actually further strengthen visitors’ orientalizing gaze. Many Protestant groups complete their tour of the site with a prayer service in the heritage site’s synagogue. The walls there are bare, the space is of the right size for a bus group, the acoustics accommodate hymn-singing or speaking in tongues… Why look for a modest corner in a Catholic Church courtyard, when one can praise the Lord in a place that looks right and is “as close as they can get to what Jesus had known”? In a seven-day, type A see-it-all tour of the Holy Land, some Protestants replace their visit to the traditional churches in town with a visit to Nazareth Village,61 thus avoiding all contact with the Oriental Christians – and Muslims – in the marketplaces and churches of the Arab city of Nazareth. Consequently, the improvisation and uncontrolled nature of the marketplace, “pregnant with [the] possibility”62 and open to crisscrossing flows of people, noises and smells (as well as improvised contact with local Christians, rare enough in most Christian group tours) is eliminated.

58 See the parallel claim with respect to Monument Valley in J. Baudrillard: America, pp. 69-70. 59 Cf. Nadia Abu el-Haj: Facts on the Ground: Archaeological Practice and Territorial Self-Fashioning in Israeli Society, Chicago: University of Chicago Press 2001. 60 http://www.nazarethvillage.com/research/content/synagogue, accessed on January 3, 2010. 61 On the other hand, some churches have promoted virtual practices as replacement for voyaging and being there. Thus, in 1985, the Vatican announced that Catholics could receive indulgences by listening to the Pope’s annual Christmas benediction on TV or radio, rather than travel to Rome (George Ritzer: The McDonaldization of Society. New Century Edition, Boston: Pine Forge Press 2000, p. 55). The attitude of various religions and religious officials towards virtualization of religious practices merits comparative study. 62 Dipesh Chakrabarty: “Open space/public place: Garbage, modernity and India”, in: South Asia: Journal of South Asian Studies 14/1 (1991), pp. 15-31 at p. 26. 167

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Fig. 5: The synagogue at Nazareth Village

Given the power of the Protestant orientalizing gaze, the best way for Palestinian Christians to find a place in conservative American Protestant itineraries may be by confirming Western prejudices and portraying themselves (including what visitors expect Oriental tradition to be) as ‘living stones’ in a heritage site! In the words of the Nazareth Village website: “Come meet the people and experience first-century hospitality. Step through a stone doorway into the dim interior, and smell the smoke from the oil lamps. You will begin to imagine life in another time, when Jesus lived here in Nazareth”.63 Thus, by providing ‘native’ Oriental hospitality in a ‘primitive’ heritage setting, Palestinian Christians are seen to reassert their identification with their illustrious native son, Jesus.

Strategic Orientalizing – ‘Living Stones’ On the other hand, the power of the orientalizing Western gaze can be internalized and channeled to strategic ends. Thus, after the outbreak of the second Intifada in 2001, when tourist traffic slowed to a trickle, the

63 http://www.nazarethvillage.com/village.php (Emphasis by the author), accessed on January 3, 2010. 168

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site was opened to Palestinian Israeli Muslim school groups. They were presented with displays of how their grandparents lived and worked the land. At the same time, the Palestinian Christian youth of Nazareth could present Jesus as prophet and Palestinian peasant, thus legitimizing their own autochthonous nature as veterans of a glorious 2000-year history, which had been disputed by Palestinian Muslims – in part due to growing influence of the Islamic Movement, which gained force in Nazareth in response to the Christian (and Israeli-promoted) celebrations of Nazareth 2000. Thus, the tourist infrastructure and visits by American pilgrims generated new artifacts which, in turn, became sources of social capital in an intra-Palestinian struggle.64 Incidentally, the Islamic Movement recognized the combined power of Western tourists’ legitimation,65 sensory experience and archaeological discourse. According to the site’s founder, Nakhle Beshara, they opposed the construction of a synagogue at Nazareth Village, claiming it would lend credence to Zionist claims to an ancestral Jewish presence in Palestine. As a fallback measure, they requested that a cross be placed over the synagogue entrance – a move rebutted by the project organizers: “I told them, the New Testament says Jesus was Jewish and preached in the synagogue. If you can show me scientific evidence of a cross on a first-century synagogue, I’ll put one there”.66 In guiding Muslim school groups, however, one of the guides explained that he avoids conflict by referring to the synagogue of Jesus’ day as a majmaÝ (place of gathering), while contemporary synagogues are designated by a different Arabic word, kanÐs. Science is right; but so is the customer.

Conclusions American Protestant viewing of the Bible Land, like all ways of seeing, is not natural, but is historically, socially and ideologically conditioned by Orientalism, disneyization, commercialism and the changing hierarchy of senses.67 The elements of the American Protestant gaze direct pilgrims’ expectations in many informal and unrecognized ways. The ability to attract Protestant pilgrims is, to no small extent, dependent on

64 Cf. D. Michael Hostetler: Interview with Amos S. Ron, April 27, 2005. 65 See Jeremy Boissevain on Maltese festas: “Ritual, Tourism and Cultural Commoditization in Malta: Culture by the Pound?”, in: Tom Selwyn (ed.), The Tourist Image: Myths and Myth Making in Tourism, Chichester: John Wiley & Sons 1996, pp. 105-120. 66 Nakhle Beshara, tour of Nazareth Village, July 8, 2009. 67 Cf. J. Feldman: “Constructing a shared Bible Land”. 169

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agents’ capacity to construct sites to accommodate this gaze. Thus, this gaze will continue to be a powerful transformative force of the sacred space of the Holy Land, especially given the Israeli government’s earmarking of Protestant – particularly American Evangelical – pilgrims as an important market.68 The construction of such new sites (re)produces the Orientalist and disneyfied American Protestant gaze as facts on the ground – for others as well. The popularity of the existing sites has led the Israeli government as well as private groups to consider opening additional Christian theme sites in the future.69 Yet local agents – whether Jewish Israeli or Palestinian Christian – may employ strategic Orientalism as a means of empowerment: enjoying tourist or pilgrim dollars without opening up their homes and lives to the intrusion of the pilgrim/tourist gaze, and, in other cases, even casting themselves as Biblical Hebrews or Living Stones in order to rally Western Christian support for the settler or Palestinian cause.70 Some scholars have seen disneyization as a sign of moral decline: Annabel Wharton derides the move from relic to replica to theme park, claiming that with the theme park, “images no longer seem to bear moral responsibility for their actions”.71 She claims that “the progressive abstraction or commodification of sacred space – from a physical presence to a dangerously deceptive illusion – can be understood as the cultural counterpart to the evolving market.”72 Yet the American Protestant gaze, like all religious phenomena, evolves in accordance with historical and social circumstances. Since the mid-twentieth century, America has witnessed a decline in the authority of the written word and a rise in media68 While there may be a variety of Protestant gazes, it is the Evangelicals, identified as the largest potential market for Israel tours, that are most influential as potential consumers of Christian theme sites. Thus, even if at some point there arises a demand for alternative themed environments for other Protestants, the Evangelicals will set the tone. In recent conversations over the construction of an Evangelical theme park near Bethsaida, Uri Dagul, liaison between Evangelicals and the State of Israel, claims that while ‘they’ would rather construct an Evangelical theme park, the authorities prefer one suitable to the preferences of all Christians (Uri Dagul, Interview, Jan 7, 2009). 69 U. Dagul: Interview, Jan 7, 2009; Ilene R. Prusher: “A theme park for the Holy Land?”, in: The Christian Science Monitor, Nov. 10, 2005, http://www.csmonitor.com/2005/1110/p06s01-wome.html accessed on January 3, 2010. 70 Cf. Jackie Feldman: Abraham the Settler, Jesus the Refugee: Contemporary Conflict and Christianity on the Road to Bethlehem. History and Memory (forthcoming 2011). 71 Annabel Jane Wharton: Selling Jerusalem: Relics, Replicas, Theme Parks, Chicago: University of Chicago Press 2006, pp. 231-232. 72 Ibid., p. 235. 170

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tized images as a source of knowledge73 as well as multi-sensory experience, including experience while on the move, in identity formation in general, and in American Protestant worship in particular.74 Identities (including religious identities) are increasingly mediated through cultural productions, including organized travel75 and theming in a wide variety of everyday contexts.76 Looking at the history of the Holy Land, the medieval Latin word for the discovery and sanctification of a site or object was inventio. Those who would fault American Protestants for preferring to worship in more sanitized, ‘natural’, ‘authentic’ heritage sites have only to look at the imposition of imperial interests on the Holy Land by Constantine77 or the medieval European marking of the Via Dolorosa on the Holy Land, in accordance with models made in Regensburg or Leuven. If authenticity, as Bruner argues,78 is largely a question of authority, the major difference between traditional pilgrimage sites and the new Protestant ones may be that the Israeli government and the academic archaeologist, rather than the Vatican or the local priesthood, serve as supreme authority. The website and postcard replace the tableau vivant, the icon and the replica. The theming rejected in its Catholic form as ‘smells and bells’, becomes acceptable when it enters through the portals of mass culture. Simulation and the invention of seamless religious worlds have always been part of organized religion. The disdain for such representation79 may be merely part of a larger phenomenon of disparaging American superficiality in comparison with ‘authentic’ European high culture.80

73 Cf. J. Baudrillard: Simulacra; Marshall MacLuhan: The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man, Toronto, Ontario: University of Toronto Press 1962. 74 Cf. Tanya M. Luhrmann: “Metakinesis: How God Becomes Intimate in Contemporary U.S. Christianity”, in: American Anthropologist 106/3 (2004), pp. 518-528. 75 Cf. Dean MacCannell: The Tourist: A new theory of the leisure class, New York: Schocken Books 1976, pp. 39-56. 76 Cf. S. A. Lukas: “Politics”. 77 Cf. R. L. Wilken: The Land Called Holy. 78 Cf. E. M. Bruner: “Abraham Lincoln”, p. 400. 79 Cf. U. Eco: Travels. 80 Cf. Michael Harkin: “Modernist Anthropology and Tourism of the Authentic”, in: Annals of Tourism Research 22/3 (1995), pp. 650-670. 171

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Spielraum ‚Neu-ORIENT-ierung‘ bzw. ‚Neuorientierung‘ JOACHIM GANZERT

Der vorliegende Beitrag versucht, Architekturbefunde aus Regionen des sogenannten Alten Orients vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in hellenistische Zeit und deren der Legitimation dienende Rezeptionen1 bis in unsere Zeit in den Blick zu nehmen; damit wird einerseits ‚Neu-ORIENTierung‘, mit dem Einbezug des Legitimationsaspektes andererseits ‚Neuorientierung‘ angestrebt. Wie wir sehen werden, ist der hier ins Blickfeld genommene, scheinbar allzu große Zeitraum der Tatsache geschuldet, dass eben kein Zeit1

Die Begriffe ‚Befunde‘ und ‚Rezeptionen‘ werden hier insofern unscharf verwendet, als die sogenannten ‚Befunde‘ aus dem Alten Orient z. T. natürlich auch bereits in einem legitimierenden Rezeptionsverhältnis zueinander standen; es handelt sich also bei den ‚Befunden‘ auch um ‚Rezeptionen‘. Im Sinne der dem Tagungstitel entsprechenden ‚Neu-ORIENT-ierung‘ versucht vorliegender Beitrag aber – u. a. der hier gebotenen Kürze wegen, aber auch um der desorientierenden Vernachlässigung dieser Befunde/Rezeptionen nicht nur in der allgemeinen, sondern auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung zu begegnen, also um der Konsistenz der neu orientierenden Aussage willen –, den altorientalischen Anteil (bzw. den des östlichen Mittelmeerraumes) an der hier zur Diskussion gestellten ‚Spielraum‘-These dadurch deutlicher und kompakter in den Vordergrund zu rücken, dass er die altorientalischen Befunde mit ihren altorientalischen Rezeptionen zusammen als einen ‚Befund‘-Komplex behandelt. Damit müssen wir einen gewissen Schematismus in der ‚Befunde-Rezeptionen‘-Unterscheidung bewusst in Kauf nehmen, was aber letztlich der Konsistenz dieses ‚Befunde-Rezeptionen-Komplexes‘, unseres Erachtens und wie wir zu verdeutlichen hoffen, nicht unangemessen sein dürfte. 177

JOACHIM GANZERT

raum, kein geographischer Raum und kein Orient-Okzident-Dualismus zu groß ist für legitimierende Bezugnahmen, ja diese durch jene eben Bedeutung gewinnen bzw. in jenen als solche überhaupt erst sichtbar werden. Den Wahrnehmungshorizont auf ein solch Gesamtes zu weiten, lässt Orientierung bzw. eben Neuorientierung gewinnen.

‚Befunde‘ Bei den Architekturbefunden aus altorientalischer Zeit beziehen wir uns auf Tempel, Paläste und Residenzen/Häuser, wobei auf sie hier natürlich nur überblickshaft und nur schematisierend eingegangen werden kann. Abb. 1: Grund-/Aufriss-Konzeption für altorientalische Tempelbauten (Kernbereiche; schematische Skizze)

[T = Turm bzw. turmartiger Mauervorsprung; TR = Treppe; H = Hof; VR = Vorraum; HR = Hauptraum; NR = Nebenraum; KN = Kultnische; gepunktete Linien = Erschließungswege]

Tempel: Das Grund-(/Auf-)riss-Schema (Abb. 1) vereint die wichtigsten Charakteristika, die den unterschiedlichen Tempel-Befunden ca. vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in hellenistische Zeit स mehr oder weniger ausgeprägt bzw. mit jeweiligen Variationen – eigen sind; es sind dies folgende Elemente: 1. Turmflankierte, bogenüberwölbte Eingangs- bzw. Durchgangstore, zumeist mit zurückgestuften Leibungen.

178

SPIELRAUM ‚NEU-ORIENT-IERUNG‘ BZW. ‚NEUORIENTIERUNG‘

2. Die Kult- bzw. Prozessionsachse verläuft vom Eingangstor über den Torraum, einen oder mehrere Höfe und das Tempelinnere bis zur bogenüberwölbten Kultnische bzw. umgekehrt; damit beherrscht die ‚Erscheinung‘ des Kultbildes in der Kultnische die gesamte Prozessionsachse; häufig jedoch ist das Tempelinnere auch über geknickte Achsen indirekt erschlossen, so dass direkter Einblick normalerweise ausgeschlossen bzw. eben nur Prozessionen vorbehalten ist; die sogenannte ‚Knickachsen‘- bzw. indirekte Erschließung ist also für den Alltag, den Normalfall bestimmt. 3. Die Grundrissanordnung des Tempelinneren besteht bei fast allen größeren Tempelbauten aus: Vorraum, Hauptraum, (zumeist) bogenüberwölbte Kultnische (häufig mit mehrfach zurückgestuften Leibungen) mit ‚bühnenartigem‘ Postament und einem oder mehreren Nebenräumen als Kultvorbereitungsräumen. Es handelt sich also um eine Bedeutung steigernde Konzeption, wobei kleinere Anlagen eine jeweils entsprechend reduzierte Version aufweisen. 4. Weiterhin finden sich sehr häufig Treppen- bzw. Rampenverbindungen für Kulthandlungen auf der Dachterrasse, teilweise direkt mit dem Hauptraum oder dem Vorraum verbunden. Zur Veranschaulichung dieses Schemas seien hier exemplarisch nur zwei Beispiele angeführt: • Ešnunna/Tell Asmar, Šušintempel und Palastkapelle2 (Ur-III-Zeit): es kommen hier alle genannten Elemente vor; indirekte Erschließung findet sich jedoch nur beim Palast; einen Vorraum hat nur die Palastkapelle, beim Tempel diente der Hof als Vorraum (zusätzlich kommt der Torraum hinzu); Großanlage des Inanna-Kititum-Tempels (Abb. 2) in Neribtum-Išga• li3 (altbabylonische Zeit): es finden sich alle genannten Elemente; der Prozessionseingang mit axial-direkter Erschließung war nur für Prozessionen geöffnet, der normale Eingang zur Gesamtanlage lag weiter östlich, von dem man über indirekte Erschließung in den großen Hof gelangte, an dessen Westseite das monumentale TempelOst-Tor, wiederum über indirekte Erschließung, in den Tempelhof führte, und darin, wiederum nach rechts abknickend, waren die Tem-

2

3

Vgl. Henri Frankfort/Seton Lloyd/Thorkild Jacobsen: The Gimilsin Temple and the Palace of the Rulers at Tell Asmar. The University of Chicago Oriental Institute Publications XLIII, Chicago: The University of Chicago Press 1940, S. 9ff.; Abb. 2. Vgl. H. Frankfort: Stratified Cylinder Seals from the Diyala Region. The University of Chicago Oriental Institute Publications LXXII, Chicago: The University of Chicago Press 1955, Taf. 96. 179

JOACHIM GANZERT

pelräume zu erreichen: Vorraum, Hauptraum (beide mit Nebenraum), Kultnische (hier wohl mit horizontalem Sturz) mit Postament. Abb. 2: Neribtum (Išgali), Inanna-Kititum-Tempel (Kernbereiche; schematische Skizze)

[T = Turm/-artiger Mauervorsprung; H = Hof; VR = Vorraum; HR = Hauptraum; NR = Nebenraum; KN = Kultnische; gepunktete Linien = Erschließungswege]

Auf die Vielzahl der sonstigen Ausprägungen sei hier in Auswahl und chronologisch mit folgenden Beispielen nur verwiesen:4 Tutub/Hafagi, Sintempel (frühdynastisch): seitliche Erschließung vom Hof aus, Einraum mit bühnenartig höher liegendem Raumteil, dort Postament vor Nische, Nebenraum und Treppenraum;5 Ešnunna/Tell Asmar, Abu-Tempel (frühdynastisch): seitliche Erschließung mit doppelt gestuften Leibungen zwischen Türmen/Pfeilern, Langraum mit Nische und Altarpostament, Nebenraum;6 Assur, Ištartempel G (frühdynastisch): seitliche, indirekte Erschließung vom Hof aus, Cella mit Nebenräumen, Adyton mit büh-

4

5

6

Zu den folgenden Beispielen s. a. Ernst Heinrich: Die Tempel und Heiligtümer im Alten Mesopotamien. Typologie, Morphologie und Geschichte, 2 Bde., Berlin: Walter de Gruyter & Co 1982. Vgl. Pinhas Delougaz/Seton Lloyd: Pre-Sargonid Temples in the Diyala Region. The University of Chicago Oriental Institute Publications LVIII, Chicago: The University of Chicago Press 1942, Abb. 10. Vgl. P. Delougaz/S. Lloyd: Pre-Sargonid Temples in the Diyala Region, Taf. 23A.

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SPIELRAUM ‚NEU-ORIENT-IERUNG‘ BZW. ‚NEUORIENTIERUNG‘

nenartigem Postament;7 Mari/Tell Hariri, Palasttempel (frühdynastisch): seitliche Erschließung vom Hof aus, Hauptraum und Adyton mit Postament, Leibungen der Wandöffnung dazwischen sind zurückgestuft;8 Saduppum/Tell Harmal, Doppeltempel (altbabylonisch): turmflankierte, axiale Erschließung mit zurückgestuften Leibungen, Torraum, Hof, Vorraum mit zurückgestuften Tür-Leibungen, Hauptraum, Kultnische; quer zu dieser Kult-Achse die zum zweiten Tempel mit Vorraum-HauptraumKultnische;9 Karana/Tell ar-Rimah, Ziqqurat und Tempel (altassyrisch): turmflankierter, axialer Eingang mit zurückgestuften Leibungen, Hof = Vorraum, Hauptraum mit Kultraum und Nebenräumen; seitliche, indirekte Hoferschließungen; Treppe zum Dach und zur hinter dem Kultraum liegenden Ziqqurat;10 Ur/Tell Muqaiyir, Ningal-Tempel (mittelbabylonisch): turmflankierter, indirekter Eingang mit zurückgestuften Türleibungen, Torraum, Hof (?) = Vorraum, sowohl rechts als auch quasiaxial Hauptraum mit Kultnische und Postament und Nebenraum (neben kleinerem Kultraum);11 Kar Tukultininurta/Tulul al-‘Aqar, Assur-Tempel und Ziqqurat (mittelassyrisch): Ziqqurat mit vorgelegtem und in sie eingreifenden Tempel, indirekte Erschließung über turmflankierten Eingang mit zurückgestuften Leibungen, Hof, Zugang zum Hauptraum wiederum mit Türmen flankiert und zurückgestuften Leibungen, Hauptraum mit Kultpostament und dahinter liegendem kleinen Kultraum mit in die Ziqqurat eingreifender Nische;12 Dur Šarrukin/Horsabad, Tempel des Nabu (Zeit Sargons II.; 8. Jahrhundert v. Chr.): Doppeltempel; gemeinsamer Vorraum für beide Tempel, jeweils Hauptraum mit hochgestuftem Adyton und nischenartiger Rückwandbetonung, im einen Adyton ein Postament davor;13 Zama/Tell ar-Rimah, Adad-Tempel (neuassyrisch): turmflankierter, axialer Eingang, Hauptraum, hoch gestuftes Adyton mit Nische und Postament davor;14 Uruk/Warka, Eannabezirk Ningizzida7 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Walter Andrae: Die archaischen Ischtar-Tempel in Assur. WVDOG 39, Leipzig: J. C. Hinrichs 1922, Taf. 2, 11a und b. Vgl. André Parrot: „Les fouilles de Mari. Vingtième campagne de fouilles (Printemps 1972)“, in: Syria 49 (1972), S. 281-302, hier S. 285, Abb. 2. Vgl. Taha Baqir: Tell Harmal: the Republic of Iraq, Baghdad: Ar-Rabita Pr. 1959, S. 5, Abb. 1,3. Vgl. David Oates: „The excavations at Tell al Rimah, 1966“, in: Iraq XXIX (1967), S. 70-96, Taf. XXX. Vgl. Leonard Woolley: The Ziggurat and Its Surroundings. Ur-Excavations V, Oxford: University Press 1939, S. 53ff.; Taf. 73. Vgl. Walter Andrae: Das wiedererstandene Assur, München: C. H. Beck 1977, S. 136, Abb. 117. Vgl. Gordon Loud/Chales B. Altman, Khorsabad II, Oriental Institute Publications 40, Chicago: University of Chicago Press 1938, S. 56f.; Taf. 84. Vgl. David Oates: The excavations at Tell al Rimah, 1967, in: Iraq XXX (1968), S. 115-138, Taf. XXXIII. 181

JOACHIM GANZERT

Tempel (neu- bis spätbabylonisch): Hof, Vorraum, Hauptraum und Kultnische mit zurückgestuften Leibungen, davor gelegtes Postament;15 Babilu/Babylon, Tempel der Ninmah (spätbabylonisch): turmflankierter Eingang mit zurückgestufter Leibung, Torraum, Hof, turmflankierter Eingang (mit zurückgestufter Leibung) zum Vorraum mit Nebenraum, Hauptraum mit Kultnische, Postament und Nebenraum, Rampen zum Dach;16 ähnlich auch der ‚Tempel Z‘, der Tempel der Ištar von Agade und der Ninurta-Tempel in Babylon (spätbabylonisch); Uruk/Warka, Anu-Antum-Tempel im Res-Tempelbezirk (seleukidisch): turmflankierter Eingang, Torraum, Hof, Vorraum, Hauptraum mit Kultnische und Nebenraum, alle Eingänge und die Kultnische auf einer Achse liegend und mit zurückgestuften Leibungen.17 Paläste: Diesen für Tempel typischen Konzeptionen begegnen wir in ähnlicher, aber weniger gesteigerter bzw. ausgestatteter Form auch in den Palästen; statt eines eigenen Vorraumes dienen zumeist der Hof und die indirekte Erschließung als Bedeutung steigerndes Element. Als besonders anschauliches Beispiel mögen uns die gut erhaltenen Befunde des sehr aufwändig konzipierten Palastes Königs Zimrilim in Mari/Mitteleuphrat (altbabylonisch-altassyrische Zeit) dienen18 (Abb. 3). Dazu betrachten wir hier nur die uns interessierenden Kernbereiche des Palastes (Abb. 3 oben): die Erschließung der Bereichseinheiten erfolgte über Vorräume bzw. Höfe und fast ausschließlich über mehrfach gewinkelte, also indirekte Erschließungswege, so dass weder direkte Zugänge noch direkte Einblicke möglich waren. Und auf enge Türen oder Korridore folgten weite Räume bzw. Höfe und umgekehrt, so dass sich eine stets überraschende, durch gegensätzliche Momente rhythmisierte Zugangsführung ergab. Diese Hinleitung zu den repräsentativen Bereichen lässt sich als Bedeutung steigernde, ‚zeremonielle Erschließung‘ erkennen. Sie begann am Palasteingang im Norden, wo man über den Torraum, einen folgenden Hof und daran anschließenden Warteraum 15 Vgl. Heinrich Lenzen/Adam Falkenstein/W. Ludwig: Vorläufiger Bericht über die … Ausgrabungen in Uruk-Warka 12/13. Abhandlungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 1, Berlin: Gebr. Mann 1956, S. 20ff.; Taf. 4. 16 Vgl. Robert Koldewey: Das wieder erstehende Babylon. Die bisherigen Ergebnisse der deutschen Ausgrabungen, Leipzig: J. C. Hinrichs 41925, S. 56, Abb. 38. 17 Vgl. Julius Jordan/Conrad Preusser: Uruk-Warka nach den Ausgrabungen durch die deutsche Orient-Gesellschaft. WVDOG 51, Leipzig: J. C. Hinrichs 1928, S. 8ff.; Taf. 22. 18 Vgl. André Parrot: Le Palais I. Architecture. Mission archéologique de Mari II, BAH (Institut Français d’Archéologie de Beyrouth. Bibliothèque archéologique et historique) LXVIII, Paris: Paul Geuthner 1958, beigelegter Plan. 182

SPIELRAUM ‚NEU-ORIENT-IERUNG‘ BZW. ‚NEUORIENTIERUNG‘

den zentralen Erschließungshof des Palastes betrat. Audienzen ohne feierlichen Staatsakt konnten in der sich auf diesen Hof öffnenden Audienzhalle durchgeführt werden. Abb. 3: Mari, Palast des Königs Zimrilim (Rekonstruktionsversuch (unten) und Kernbereiche; schematische Skizze)

[T = Turm bzw. turmartiger Mauervorsprung; H = Hof; AH = Audienzhalle; TS = Thronsaal; FS = Festsaal; KT = Kulttribüne; Kreise mit Kreuz = ThronStandorte; gepunktete Linien = Erschließungswege] 183

JOACHIM GANZERT

Durch eine der vielen, in den Hofeckbereichen angeordneten Türen ließ sich durch die nordwestliche und über weitere, dreifach abgewinkelte Zugangskorridore der zweitgrößte, wohl aber wichtigste Hof, nämlich der vor dem Thronsaal, von Norden her erreichen. Im Gegensatz zur bis hierher indirekt geführten Erschließung mit geknickten Achsen herrschte hier nun, innerhalb der bedeutungsvollsten Einheiten, strikteste Symmetrie mit geraden Erschließungs- (d. h. auch Blick-/Vergegenwärtigungs-/ ‚Schau‘-) -Achsen, die vornehmlich auf den königlichen Thron-Standort ausgerichtet waren; dabei ging es einerseits um das ‚Zur-Schau-stellen‘, also um die Erscheinung/Epiphanie bzw. Vergegenwärtigung des Königs, andererseits um das ‚Anschauen‘/‚Anstaunen‘ bzw. die ‚Ver-Gegenwärtigung‘ vonseiten der Audienzteilnehmer. Dem Hofzugang auf der ‚Schau-Achse‘ direkt gegenüber lag also das Thronsaal-Portal, durch das man auf den königlichen Thron, auf einem Podest mittig vor der Rückwand des Breitraumes positioniert, blickte. Den gegen die Südsonne in den Hof eintretenden Audienz-Teilnehmern muss sich der im kühleren Schattenbereich bzw. im Halbdunkel des Thronsaales stehende Königsthron erst nach und nach erschlossen haben, so dass man sich die Erscheinung/Vergegenwärtigung des Königs in effektvoller Steigerung vorzustellen hat. Auf einem über zwei seitliche Treppen zugänglichen Podest stand der Thron unter einem Baldachin. Auf der zu dieser Schau-Achse quer liegenden Thronsaal-Längsachse befand sich rechts ein weiterer Thron-Standort. Ähnlich wie hier im Thronsaal befand sich auch im hinter dem Thronsaal folgenden großen sogenannten ‚Festsaal‘ auf dessen Längsachse rechts der Königsthron, ebenfalls unter einem Baldachin, und links, gegenüber, eine über eine Treppe erschlossene, hoch liegende Tribüne, wohl für Kultaufführungen. Die Portal-Leibungen zur Tribüne waren mehrfach zurückgestuft, und rechts und links davor standen auf Podesten wohl Götterbilder.19 Da die Kult-Tribüne ganz offensichtlich sakralen Funktionen diente, indem dort die Erscheinung der Gottheit aufgeführt wurde, dürfte sich die Position des Königs, auf dem Königsthron gegenüber, von dem des sonst in ‚Erscheinung Tretenden‘ nun in die des die Epiphanie der Gottheit ‚Schauenden‘ umgekehrt haben; das Schauen also auch hier als Akt der Vergegenwärtigung . Werfen wir einen kurzen, ergänzenden Blick auf den Palast Nebukadnezars II. in der Südburg von Babylon20 aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. (Abb. 4). Dort liegt der Thronsaal, wiederum über abgewinkelte 19 Dazu s. a. Ernst Heinrich: Die Paläste im Alten Mesopotamien, Berlin:

Walter de Gruyter & Co 1984, S. 68ff. 20 Vgl. Robert Koldewey: Die Königsburgen von Babylon. 1. Teil: Die Süd-

burg. WVDOG 54, Leipzig: J. C. Hinrichs 1931, Taf. 2. 184

SPIELRAUM ‚NEU-ORIENT-IERUNG‘ BZW. ‚NEUORIENTIERUNG‘

Achsen indirekt erschlossen, als Breitraum im Süden eines Hofes, und dem zentralen Thronsaal-Portal gegenüber an der Thronsaal-Rückwand stand vor bzw. in einer mit zweifach zurückgestuften Leibungen versehenen, bogenüberwölbten Nische der Thron. Abb. 4: Babylon (Südburg), Palast Nebukadnezars II. (Thronsaalbereich; schematische Skizze)

(T = Turm bzw. turmartiger Mauervorsprung; H = Hof; TS = Thronsaal; Kreis mit Kreuz = Thron-Standort; gepunktete Linien = Erschließungswege)

Dem Thronsaalhof östlich vorgelagert waren zwei weitere Höfe, wobei hier das Portal am Übergang vom ersten (Osthof) zum zweiten Hof (Mittelhof) offenbar der Rechtsprechung bzw. Rechtsverkündung diente. So wie auch die anderen wichtigen Tore war es von Türmen flankiert. Ob diesem ersten Hof tatsächlich die Bezeichnung „Haus des Staunens der Leute“21 zukam, die in einer Königsinschrift genannt wird, ist nicht gesichert, doch ist es der Ausdruck als solcher. Damit wird die Bedeutung des ‚Anschauens‘ bzw. ‚Anstaunens‘ in semi-sakralen Zusammenhängen unterstrichen. Residenzen/Häuser: Inwieweit die betrachteten, konzeptionellen Elemente nicht nur die Tempel und Paläste bestimmten, sondern, auf bescheidenerem Niveau, auch die Residenzen der Würdenträger des Rei21 Stephen Langdon: Die neubabylonischen Königsinschriften, Leipzig: J. C.

Hinrichs’sche Buchhandlung 1912, S. 137. 185

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ches, kann ein Blick auf die Residenz L22 innerhalb der Zitadelle Sargons II. in Dur Šarrukin/Horsabad aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. verdeutlichen (Abb. 5): indirekte Erschließung über Torraum, Vorhof, Übergangsraum zum Hof vor dem Empfangssaal (= Thronsaal im Palast) mit seinen drei Eingangstoren. An der Schmalseite des Empfangssaals trat der Hausherr stehend (nicht auf einem Thron sitzend, das kam nur dem König zu) in Erscheinung; den königlichen Palast-Thronsälen jedoch in vielen Fällen ähnlich befindet sich links neben dem Erscheinungsort ein Raum für rituelle Waschungen und dem Erscheinungsort gegenüber an der anderen Schmalseite der Zugang zu Vorraum und Treppenhaus für Kulthandlungen auf der Dachterrasse.23 Der Empfangssaal trennte den vor ihm liegenden öffentlichen babanu-Bereich vom dahinter liegenden, privaten bitanu-Bereich, der mit seinem zentralen Hof über einen Übergangsraum und wiederum indirekte Erschließung zu erreichen war. Abb. 5: Dur Šarrukin (Horsabad), Zitadelle Sargons II., ‚Residenz L‘ (Kernbereiche; schematische Skizze)

(H = Hof; ES = Empfangssaal; WR = Waschraum; TR = Treppe; Kreis mit Kreuz = ‚Erscheinungs‘-Standort; gepunktete Linien = Erschließungswege)

22 Vgl. G. Loud/Ch. B. Altman: Khorsabad II, Taf. 72. 23 Dazu s. a. E. Heinrich: Paläste, S. 155ff.

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Zwei Beispiele sollen abschließend und in Ergänzung zur ‚Residenz L‘ in Dur Šarrukin/Horsabad die Übernahme angesprochener Konzeptionen, auf noch einmal reduziertem Niveau, nämlich in Wohnhäusern zeigen (Abb. 6, links): das sogenannte ‚Rote Haus‘ in Assur24 wies indirekte Erschließung des babanu-Bereiches über Vorraum und Hof auf; nach links abknickend folgte das Portal zum Empfangssaal. Der als Breitraum gestaltete Empfangssaal zusammen mit einem Übergangsraum und indirekter Erschließung bildete auch hier die Trennung zwischen babanuund bitanu-Bereich; im Privatbereich diente der zentrale Hof der Erschließung der beiden Tagesräume. Auch das Haus I in Babylon25 (Abb. 6, rechts) wies eine indirekte, mehrfach abgewinkelte Erschließung des Hofes über Vorräume auf; nach links abknickend der Wohnbereich und das mittig liegende Portal zum Haupt-Wohnraum. Abb. 6, links: Assur, sog. ‚Rotes Haus‘ (Kernbereiche; schematische Skizze) Abb. 6, rechts: Babylon, Haus I (Kernbereiche; schematische Skizze)

(H = Hof; ES = Empfangssaal; HW = Haupt-Wohnraum; gepunktete Linien = Erschließungswege)

24 Vgl. Conrad Preusser: Die Wohnhäuser in Assur. WVDOG 64, Berlin:

Gebr. Mann 1954, Taf. 11a. 25 Vgl. Joachim Ganzert/Stephan Albrecht/Dietrich Neumann/Hansjörg Schmid:

Der Turmbau zu Babel. Maßstab oder Anmaßung?, Biberach: Biberacher Verlagsdruckerei 1997, S. 27, Abb. 15. 187

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Tempel, Palast und Residenz/Wohnhaus miteinander verglichen (Abb. 7) weisen, zusammenfassend, konzeptionelle Parallelen auf, die sich im Wohnhaus durch seine reduzierte Ausgestaltung umso deutlicher als Kern-Konstanten erkennen lassen: Abb. 7: Vergleich Tempel-, Palast-, Residenz-/Haus-Konzeptionen (schematische Skizzen)

(H = Hof; VR = Vorraum; HR = Hauptraum; NR = Nebenraum; KN = Kultnische; TS = Thronsaal; TN = Thronnische; ES = Empfangssaal/ HW = HauptWohnraum; gepunktete Linien = Erschließungswege)

1. Der durch die komplex-indirekte (also oft mehrfach abgewinkelte) Erschließung verwehrte direkte Einblick verweist auf die semi-sakrale Konnotation des ‚Erscheinen-Schauen-Verhältnisses‘, das das sakrale Zeremoniell in den Tempeln und Palästen dominiert, aber eben auch Residenz und Wohnhaus bestimmt; beides, die Erschließung und das ‚Erscheinen-Schauen‘ sind als Teile des Vergegenwärtigungsaktes zu verstehen. 2. Der Hauptraum zeichnet sich durch seine nur über die gesamte Hofdistanz erreichbare Lage und seinen zentral gelegenen Eingang aus. In Palast und Tempel wird der Standort des Thrones bzw. des Kultbildes vor oder in einer Nische mit Postament, dem Eingang gegenüber, zusätzlich akzentuiert bzw. mit vorgelegten Räumen in seiner sakralen Bedeutung gesteigert.

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3. Der durch die genannten Elemente gekennzeichnete bzw. mit dem Hof oder Empfangsaal/Hauptwohnraum beginnende private Bereich ist Familien- und Frauenteil und verdeutlicht seine semi-sakrale Stellung. Die Unterscheidung von babanu- und bitanu-Bereich (s. Abb. 5 und 6) bzw. die Grenze, der ‚Schleier‘, zwischen beiden Teilen, setzt sich im islamischen Wohnen und Residieren mit der Einteilung in Diwan-i-Am und Diwan-i-Khas bzw. in selamlik und haramlik fort (dem sogenannten ‚Kopftuchstreit‘ ist solcher ‚Schleier‘ schleierhaft).26 Altorientalische und das heißt z. T. auch alttestamentarische Weltanschauung hat sich mit dem Verhältnis von Himmel zu Erde, von himmlisch-göttlicher zu irdisch-menschlicher Sphäre, von Makrokosmos zu Mikrokosmos, mit dem Verhältnis von Gottheit zu Mensch und z. B. mit der Position des (Gott-)Königs als Mittler zwischen Himmel und Erde sehr grundlegend auseinandergesetzt; also mit ‚Herrschaftsverhältnissen‘. Und dies manifestiert sich, in unterschiedlich deutlicher Ausprägung, in den Sakral-, Palast- und Residenz-/Wohnbauten. Das Herrschaftsverhältnis zwischen göttlicher und irdischer Sphäre lässt sich als ‚hierarchisch‘, im Sinne von hieráe-archáe = ‚Heil wirkende Herrschaft‘, bezeichnen. Dieser der göttlichen Sphäre axiomatisch zugeschriebenen bzw. ihr entstammend verstandenen ‚Heilsherrschaft‘ Zugang in die irdische Sphäre zu verschaffen, darum geht es dieser ‚KULTur‘ und ihren Bauten, wobei die göttliche Sphäre und die Gottheit selbst als derart universal dimensioniert gesehen werden, dass die Gottheit niemals in Realpräsenz,27 also im Sein, zu fassen wäre, sondern immer nur im Schein. Die Erscheinung der Gottheit also wird in ihrer sie vergegenwärtigenden Kultstatue gefeiert bzw. vielmehr spielend aufgeführt – im sakralen ‚Theaterspiel‘. Für diese erscheinungsreligiöse Aufführung stellt die Architektur die notwendige Infrastruktur bereit. Die Epiphanie der Gottheit wird in einem bogenüberwölbten Portal ‚vorgestellt‘, das als Scheinportal, also als bogenüberwölbte Nische ausgeführt ist – die Bogenüberwölbung als Himmelsgewölbe konnotiert. Im sakralen ‚Erscheinung-Schau-Spiel‘ versuchen die Menschen ihr Verhältnis zum universalen Ganzen ‚spielend-schauend‘ zu begreifen bzw. zu vergegenwärtigen, und das heißt im eigentlichen Sinne des Wortes: zu re-präsentieren. Für dieses ‚Schau-Spiel‘ ist weiterhin ein bühnenartiges Podest/Postament vonnöten, ein Vorbereitungsraum (Nebenraum) und weitere, zum sakralen ‚Schau-Spiel‘ Distanz schaffende Räumlich26 Dazu s. a. Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit.

Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau 2007. 27 Dazu s. a. Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Alt-

ägypten, Israel und Europa, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 43. 189

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keiten, die dem Geschehen angemessene Bedeutung verleihen bzw. es zu steigern vermögen, durch die Distanz aber zugleich auch verdeutlichende Anschauung ermöglichen. Innerhalb dieses zeremoniellen Rahmens herrscht zumeist strikte Axialsymmetrie, die Erschließung ist jedoch häufig durch indirekte, oft mehrfach abgewinkelte Wegeführung gekennzeichnet und trägt zur Bedeutungssteigerung bei. Damit war eine Grundkonzeption (Vorraum, Hauptraum, bogenüberwölbte Kultnische mit Postament und Nebenraum) für Sakralbauten geschaffen, die unterschiedlich bzw. auch mit zusätzlichen Räumlichkeiten ausgestattet sein konnte; doch dies sind Variablen, die an der Grundkonzeption nichts ändern. Die Tempel-Kultnische, auf der Grenze zwischen himmlischer und irdischer Sphäre positioniert (Abb. 8) und angemessene Kommunikation zwischen beiden Sphären gewährleistend, symbolisiert bzw. manifestiert als Scheinportal also 1. ‚Erschließungs- und damit Kommunikationsmöglichkeit‘; 2. die in der ‚Erschließungs-/Kommunikationsmöglichkeit‘ angelegte bzw. zum Ausdruck kommende Bindung an ein den universalen Kontext betreffendes und ihm verpflichtetes Herrschaftsverhältnis; stellt aber 3. als nur scheinbare Erschließung auch die un-umgänglichen ‚Schein-Sein-Proportionen‘ dieses Herrschaftsverhältnisses klar; ‚umgänglich‘ wird es jedoch durch Vermittlung, d. h. durch anstaunendes Anschauen dieses Herrschaftserscheinens, also durch ‚Welt-Anschauung‘, und der entsprechenden, spielend-interpretierenden Vergegenwärtigung. Im sakralen ‚Spielraum Tempel‘ verschafft der sakral-spielerische Vergegenwärtigungsakt gewissermaßen ‚Spielraum‘ für die Teilhabe an dieser Herrschaft. Abb. 8: Tempel-Kultnische auf der Grenze zwischen himmlischer und irdischer Sphäre (schematische Skizze)

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Teilhabende ‚Stellvertretung‘ bzw. ‚Ver-Gegenwärtigung‘ (also ‚RePräsentation‘) bilden demnach die qualitativen Schlüsselbegriffe für die Kommunikation zwischen den beiden Sphären und für die sie ermöglichende Architektur; Repräsentationsarchitektur also als Vergegenwärtigungsarchitektur. In dem sich ‚hierarchisch‘ offenbarenden und so auch vergegenwärtigten Verhältnis zwischen den beiden Sphären, das das heilsherrschaftliche Verhältnis ‚Gottheit-Mensch‘ in fundamental-gültiger Weise und als archetypische Definition von ‚Herrschaftsverhältnis‘ schlechthin manifestiert, dürfte nicht nur ein gewissermaßen universal-maßgebender Grund für anerkannte Gültigkeit und Attraktivität dieser Konzeption zu finden sein, sondern auch für ihre verbindliche Vorbild- und Beispielfunktion. Deshalb lässt sich diese Konzeption auch im Kontext königlicher Paläste finden, in denen dem ‚Gott-König‘, als ‚Schau-Spieler‘, die Rolle des ‚Ver-Gegenwärtigers‘ einer jeweils das Herrschaftsverhältnis symbolisierenden Gottheit auf Erden aufgetragen ist. Im Thron- bzw. Audienzsaal seines Palastes erscheint er den Menschen, wie die Gottheit in ihren Sakralbauten, nun allerdings in personam, auf einem Podest unter einem Baldachin in einer bogenüberwölbten Nische thronend, wo er ‚Heil wirkende, d. h. gerechte Herrschaft‘ auszuüben, Recht zu sprechen und damit für Gerechtigkeit zu sorgen hatte; das bogenüberwölbte Scheinportal oder aber, wie offenbar in Babylon, z. B. eines der PalastHoftore wird damit auch zum Rechtsprechungsportal.28 Hier hatte sich u. a. gerechte Herrschaft zu verwirklichen. Im Gegensatz zum Tempel waren im Palast Bedeutung und Vergegenwärtigungszeremoniell räumlich weniger intensiv gesteigert, allerdings stellt auch hier die Nische ein Scheinportal als Rahmen für das Erscheinungs-, d. h. Stellvertreterritual dar; Konzeption und Zeremoniell verdeutlichen die sakrale, Gott vergegenwärtigende (stellvertretende) Funktion des königlichen Amtes. Grundsätzlich ähnlich, aber, wie wir gesehen haben, auf weniger bedeutungsgesteigerter, einfacherer Ebene lässt sich dies auch in den Residenzen und Wohnhäusern finden, worin die allgemein verbindliche, verbindende Gültigkeit dieses Vergegenwärtigungskonzeptes zum Ausdruck kommt.

28 Vermutung Koldeweys und Heinrichs (E. Heinrich: Paläste, S. 209). 191

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‚Rezeptionen‘ Dieses sehr grundsätzliche Vergegenwärtigungskonzept wurde nicht nur in unendlich vielen Varianten ausgeformt und entwickelt, sondern durch seine archetypische Gültigkeit kompatibel für unterschiedliche Kulturen und zum verpflichtenden Vergleichsmaßstab; jenseits staatsgebilde- bzw. theologien-/konfessionen-abhängiger bzw. formaler Variablen wurde dieses Konzept für das Zeremoniell und die Vergegenwärtigung ‚Heil wirkender Herrschaft‘ bzw. für erscheinungsreligiöse Re-Präsentation ‚hier-archischer‘ Herrschaftsverhältnisse als Legitimationskonstante ganz generell unumgängliches, gewissermaßen rechtfertigendes (d. h. Legitimation verleihendes) Vermächtnis für die Zukunft. Unterschiedliche Kulturen heißt, dass der Re-Präsentant der Gottheit ‚Gottkönig‘ sein konnte oder im späteren Hellenismus z. B. gottähnlicher Herrscher bzw. Heros oder im folgenden römischen Reich vergöttlichter Kaiser oder in der folgenden christlichen Ära Papst, Kaiser oder König; und dementsprechend wurde diese Konzeption auch übernommen, weitertradiert bzw. akkulturiert. Wenige Beispiele – in chronologisch großen Schritten – mögen dies verdeutlichen: Das Andron B in Labraunda am Latmos (Abb. 9, links) aus der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. steht mit seiner ungewöhnlichen, dorischjonischen Mischordnung in der Fassade und der großen Kultnische im inneren Bankettraum unter dem Einfluss sowohl griechischer Architektur als auch östlicher Ideen.29 Ähnliches gilt auch für das hellenistische Heroon von Kalydon30 (Abb. 9, rechts) mit seinem gewissermaßen als ‚Vorraum‘ dienenden Peristylhof, dem Kultsaal als Hauptraum und seiner bogenüberwölbten Kultexedra.31

29 Vgl. Pontus Hellström: „Hellenistic architecture in light of late classical

Labraunda“, in: Akten des XIII. Internationalen Kongresses für Klassische Archäologie, Berlin 1988, Mainz: Verlag Philipp von Zabern 1990, S. 243-252, hier S. 243f. 30 Vgl. Ejnar Dyggve/Frederik Poulsen/Konstantinos Rhomaios: Das Heroon von Kalydon, Kopenhagen: Levin & Munksgaard 1934, S. 384, Abb. 104; als weitere Beispiele s. a. das Attaleion beim Theater von Pergamon (Wolfgang Radt: Pergamon. Geschichte und Bauten, Funde und Erforschung einer antiken Metropole, Köln: Du Mont 1988, S. 218ff.) oder das Heroon für den Herrscherkult (Erich Boehringer/Friedrich Krauss: Das Temenos für den Herrscherkult. Altertümer von Pergamon 9, Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1937, S. 81f.), etc. 31 Die Umwandlung der eckigen Nische in eine rund geformt-apsidiale in römischer Zeit ließe sich z. B. am Diodoreion in Pergamon illustrieren (vgl. W. Radt: Pergamon, S. 280, Abb. 138, 139). 192

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Abb. 9, links: Labraunda (am Latmos), Andron B (schematische Skizze) Abb. 9, rechts: Kalydon, Heroon (Kernbereiche; schematische Skizze)

(VR = Vorraum; HR = Hauptraum; KN = Kultnische; H = Hof = Vorraum; gepunktete Linien = Erschließungswege; jonische Säulen mit dorischem Gebälk)

Mit der Übernahme persischen Hofzeremoniells im römischen Kaiserreich32 wird angesprochenes Verehrungskonzept als maiestas-, d. h. Würde-Konzeption auch in römischen Tempeln, Kaiserkultstätten, in den Thronsälen und Aulae römischer Kaiserpaläste ebenso rezipiert wie in den Mehrzweckhallen an den römischen Fora, den basilicae, die nicht nur in Dimension und Würde ‚königlich‘ (basiliké) waren, sondern mit ihren Tribunalen33 u. a. auch der Rechtsprechung dienten. Einer der ersten römischen Tempel mit apsidialer, bogenüberwölbter Kultnische ist der augusteische Mars-Ultor-Tempel auf dem Augustusforum in Rom (Abb. 10). Diese auch hier aus Vorraum, Hauptraum, bogenüberwölbtem Kultnischenabschluss (apsidial rund geformt) mit Postament und Nebenraum bestehende Konzeption setzt sich durch ausgewählte Buntmarmorsorten vom überwiegend weißmarmornen Tempeläußeren deutlich ab.34 Das Podium in der weit geöffneten Apsis, das in voller Breite durch einen mit wertvollem Alabaster verzierten Trep32 Dazu s. Andreas Alföldi: „Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremo-

niells am römischen Kaiserhofe“, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Roemische Abteilung 49 (1934), S. 1-118. 33 S. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur [lateinisch-deutsch], Übersetzung Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, V, 1, 8. 34 Dazu s. die Simulationen in: Joachim Ganzert: Im Allerheiligsten des Augustusforums. Fokus „oikoumenischer Akkulturation“, Mainz: Zabern 2000, S. 97 und 99. 193

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penprospekt gegliedert war und von dessen Höhe aus ein Kultvorbereitungsraum, eine Art Sakristei, erschlossen wurde, stellte die das gesamte Tempelinnere beherrschende Kultbühne dar; auf ihr wurden die aus den römischen Orientfeldzügen heimgeführten römischen Feldzeichen, wie in einem Fahnenheiligtum, und die damit zusammenhängende Siegesund Friedenstheologie zur ‚Erscheinung‘ gebracht.35 Abb. 10: Rom (Augustusforum), Mars-Ultor-Tempel (schematische Skizze)

(H = Hof = Forum; VR = Vorraum = Antecella; HR = Hauptraum = Cella; KN = Kultnische = Penetrale; NR = Nebenraum; gepunktete Linien = Erschließungswege)

35 Ausführlicher dazu vom Verfasser: „Der Mars-Ultor-Tempel auf dem

Augustusforum in Rom. Ein Bericht über die laufenden Bauforschungsarbeiten und Beitrag zur Sakralbau-Entwicklung“, in: Antike Welt 3 (1988), S. 36-59; Der Mars-Ultor-Tempel auf dem Augustusforum in Rom, Mainz: Zabern 1996; Im Allerheiligsten des Augustusforums; „Zum Verhältnis von ‚Erscheinung und Wirklichkeit‘: Annäherungen an entsprechende Befundhinweise aus der Augusteischen Architektur“, in: Gregor Weber/Martin Zimmermann (Hg.), Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. Chr. Historia-Einzelschrift 164, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, S. 275-296; „‚Hier-archische‘ Herrschaftsverhältnisse und ihr Repräsentationsritual als Legitimationskonstante? Zur architektonischen Kult-Infrastruktur“, in: Inge Nielsen (Hg.), Zwischen Kult und Gesellschaft. Kosmopolitische Zentren des antiken Mittelmeerraumes als Aktionsraum von Kultvereinen und Religionsgemeinschaften, Akten Symposion Archäologisches Institut Universität Hamburg 2005, Hephaistos Themenband 24, Augsburg: Camelion 2006, S. 15-29. 194

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Auf die entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung von Triumphbögen sei hier nun nicht weiter eingegangen, doch verdeutlichen sie als Epiphanie-Rahmen ebenfalls die trennende Schwelle zwischen den beiden Sphären, nämlich der gottähnlich-triumphalen und der irdischen Welt.36 Fortsetzung findet diese Konzeption dann auch im christlichen Sakralbau, indem seit Konstantin Kaiserverehrung und Christuskult verschmolzen. Alt-St. Peter in Rom setzt die angesprochene Konzeption mit Atrium, Kirchenlanghaus und Transept mit Apsis um.37 Dementsprechend erscheint dann ja auch in der Apsiskalotte nicht nur byzantinischer Kirchen das Bild des Weltherrschers bzw. Pantokrators. Auf den Einsatz bzw. die Übernahme der turmflankierten, von einem Bogen bzw. Spitzbogen überwölbten Eingangstore, zumeist mit zurückgestuften Leibungen, in den Doppelturmfassaden z. B. gotischer Kathedralen sei hier wiederum ebenso nur hingewiesen wie auf die Akkulturation der Rechtsprechungsportale z. B. in den Brauttoren/-portalen an mittelalterlichen Kirchen bzw. in den Gerichtslauben der Rathäuser. Abschließend soll dazu anhand zweier Beispiele aus dem 17. und 19. Jahrhundert noch die durchgehend legitimierende Gültigkeit dieser Konzeption auch für stellvertretende Rechtsprechung verdeutlicht werden. Abb. 11: Lüneburg, Niedergericht an Nordost-Ecke des Rathauses (schematische Skizze): Holzgestühl mit Baldachin unter Rundbogengewölbe, davor Marktplatz

36 Dazu s. J. Ganzert: Im Allerheiligsten des Augustusforums, S. 94f. 37 Vgl. Achim Arbeiter: Alt-St. Peter in Geschichte und Wissenschaft, Ber-

lin: Gebr. Mann 1988. 195

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An der Nordost-Ecke des Lüneburger Rathauses befindet sich das sogenannte ‚Niedergericht‘ (wohl aus dem 17. Jahrhundert). Unter einem zum Marktplatz hin laubenartig-offenen Kreuzrippengewölbe (Bogenüberwölbung) ist ein Gestühl eingebaut, dessen Rückwand in die Horizontale hochgeklappt eine Art Baldachin bildet (Abb. 11), auf dessen Plafond die heilige Trinität abgebildet ist. Weitere Bilddarstellungen und inschriftliche Zitate aus dem Alten Testament an den Wänden dahinter bzw. daneben verweisen auf Rechtsprechung im Namen Gottes: der unter dem Baldachin sitzende Richter sprach in Stellvertreterposition Recht. Form und Funktion des Niedergerichts ließe sich mit der Überwölbung seines Gestühls also gewissermaßen als ‚bogenüberwölbter Gerechtsprechungsort‘ zusammenfassen. Dass es im Rathaus, wie in den Kommunalbauten allgemein, um gerechte Herrschaft gehen sollte, wird u. a. auch in der ehemaligen ‚Großen Ratsstube‘ des Lüneburger Rathauses durch Bilderzyklen und Schnitzereien bestätigt. Neben Darstellungen des ‚Himmlischen Jerusalem‘ oder des ‚Jüngsten Gerichts‘, als dessen weltlichem Pendant die richterlichen Handlungen der städtischen Obrigkeit angesehen wurden, oder Bildern von Vertretern der heidnischen, jüdischen und christlichen Welt wird auch auf die Vision der großen Weltreiche der Babylonier, Perser, Griechen und Römer verwiesen und damit auf die ‚translatio imperii‘, die kontinuierliche Übertragung der Herrschaft von einem Reich auf das nächste. In dieser sakralen Ikonographie äußert sich der Anspruch, Herrschaft und Rechtsprechung der Lüneburger Obrigkeit einzubetten in die große ‚Universal-Enzyklopädie‘ zur Geschichte ideal angesehener Herrschaft und gerechter Rechtsprechung zum Zwecke ihrer Legitimation.38 Das zweite Beispiel stammt aus dem 19. Jahrhundert: Es geht um das Schloss Neuschwanstein, für das der bayerische König Ludwig II. im Jahre 1869 den Grundstein legen ließ. Wichtig für unseren Zusammenhang sind der Thronsaal und seine Bogen bzw. Halbkuppel überwölbte Apsis. Da das Schloss eine ‚romantische Unvollendete‘ geblieben ist, also nie wirklich fertig gestellt wurde, fehlte schlussendlich der Thron in der Apsis. Doch betrachten wir kurz das Bildprogramm im Thronsaal:39 • In der Apsiskuppel ist Christus auf einem Regenbogen sitzend dargestellt, neben ihm Maria und Johannes und anbetende Engel; 38 Dazu s. Maike G. Haupt: Die Große Ratsstube im Lüneburger Rathaus

(1564-1584). Selbstdarstellung einer protestantischen Obrigkeit. Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland 26, Marburg: Jonas 2000. 39 Dazu s. Julius Desing: Königsschloss Neuschwanstein. Schlossbeschreibung, Baugeschichte, Sagen, Lechbruck: Kienberger 1998, S. 16ff. 196

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links und rechts neben der Apsis-Treppe: die zwölf Apostel als Träger der göttlichen Gesetze; am obersten Bogen über der Eingangswand: der römische Kaiser Augustus, auf die Lex Romana verweisend, links neben ihm Zarathustra, rechts Solon; an der Wand gegenüber: Moses mit den Gesetzestafeln, die alttestamentarische Gesetzgebung verdeutlichend; an der Wand der Apsis gegenüber: der Stern der Weisen mit den Heiligen Drei Königen als Symbol der christlichen Moralgesetze des Neuen Testamentes; weitere Abbildungen zeigen Gerechtigkeits- bzw. Barmherzigkeitsdarstellungen; der Mosaikfußboden zeigt den Erdenkreis mit seinen Tieren und Pflanzen; die Kuppel darüber bildet den Himmel mit Sonne und Sternen ab; der Kronleuchter hat die Form einer (byzantinischen) Krone: Symbol für den König als Mittler zwischen Himmel und Erde.

Auch hier, im Thronsaal von Schloss Neuschwanstein, wird also das gesamte kulturgeschichtliche Beispiele-Kompendium für Herrschaftsausübung und Rechtsprechung zum Zwecke der Legitimation in Erinnerung gerufen.

Spielräume Die ‚Medaille‘ Welt-Wahrnehmung/-Anschauung hat – so die These – im Lauf der Zeit40 die zwei Prägeseiten ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ angenommen. Wer sich nur in den Klüften der Prägereliefs aufhält, verliert leicht die Orientierung und die eigentliche Medaille aus dem Blick. Diese Situation scheint das Orient-Okzident-Verhältnis generell zu charakterisieren und macht Neuorientierung nötig, die aber nur dadurch zu erreichen ist, dass nicht nur beide Seiten der Medaille vergleichend in den Blick genommen werden, sondern vor allem die ‚Währung/Gewährleistung‘, die die Medaille als Ganzes angemessen legitimiert. Im Gegensatz zum modernistischen Mythos von der möglichen Trennung einer himmlischen von einer irdischen Sphäre, die sich z. B. in einer vermeintlichen Trennung von Religion und Staat/Politik Ausdruck zu verleihen versucht, geht es, wie wir gesehen haben, bei den genann-

40 Spätestens seit der Einführung des Begriffs ‚barbaros‘ im 6. Jahrhundert v. Chr. 197

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ten Befunden/Rezeptionen um einen ganz offensichtlich das gesamte Leben und die gesamte Welt-Wahrnehmung umfassenden Vergegenwärtigungsversuch angesprochener Herrschaftsverhältnisse, der sich auf unterschiedlich ausdifferenzierten Stufen einer langen Möglichkeitsskala vollziehen konnte; vom Tempel über den Palast bis zu Residenz/Wohnhaus; und vom Sakralbau über den Kommunal- und Schlossbau bis zu Rechtsprechungskontexten. Gewissermaßen unabhängiger Gesamtmaßstab – also die ‚Währung/ Gewährleistung‘ der Medaille – ist ein enzyklopädisch-universelles Ganzes und die sich daraus ableitenden Herrschafts- und Gerechtigkeitsverhältnisse. Daran hatte man sich durch Vergegenwärtigungsdenken und -handeln zu orientieren und zwar beständig neu zu orientieren: ‚Vergegenwärtigung des Gesamten‘ also als stete Neuorientierung bzw. die eingeprägte Medaillen-‚Währung‘ also bei jeder ‚Zahlung‘ bewusst spürbar vergegenwärtigt. In den realen ‚Spielräumen‘ (im Sinne ‚sakralen/semi-sakralen Theaterspiels‘ bzw. im Sinne von ‚Ritualräumen‘) von Tempel, Palast und Residenz/Haus (und ihren Rezeptionen) wurde der Vergegenwärtigungs-, sprich: Neuorientierungsakt in jeweils unterschiedlicher Intensität, aber unter alltäglich-realen Konditionen angesichts von, in und mit ‚Weltund Lebensrealitäten‘ spielend-interpretierend und real-authentisch vollzogen. Das bedeutete ‚ernsthaft-spielerische‘ Teilhabe an bzw. spielendes Eingreifen in universale Herrschafts- und Gerechtigkeitsverhältnisse. Das verschaffte ‚Spielraum‘ in den ‚scheinbaren‘ Unumgänglichkeiten dieser Verhältnisse. Durch den sich am universalen Ganzen orientierenden Maßstab (also durch die Gewährleistung des Ganzen) und durch das Element der ‚ernsthaft-spielerischen‘ Auseinandersetzung unter realauthentischen Lebensbedingungen (also nicht vor illusionistischen/fiktionalen Kulissen als nur schauspielender Schauspieler, sondern als gewissermaßen unter ‚Lebensgefahr‘ real existierender, lebender und ‚spielender‘, d. h. sich im Ritual äußernder und zurecht findender Mensch) wurde dieses Modell real-authentisch brauchbar und damit zum ‚Brauch‘, also zum Rezeptions- und Legitimationstopos. Außer den bereits angesprochenen, legitimierenden Rezeptionen in hellenistischen, römischen und christlichen KULTuren mag hier ergänzend und zusätzlich auf das theatrum mundi, das ‚große Welttheater‘, hingewiesen sein, das z. B. noch das Lebensgefühl des Barock charakterisierte und dem das Konzept des ‚Gesamtkunstwerks‘ zugrunde lag: der königliche Hof also im Sinne eines Spiegelbildes des Kosmos und die barock-höfische Kultur mit ihren gesellschaftlichen Schauspielen in ihrer symbolischen Bedeutung gesehen – von ähnlichen Rezeptionen übri-

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gens im Herrscherzeremoniell der Paläste islamischer Kulturen mit ihrer Antike-Neuzeit-Vermittlung ganz zu schweigen.41 In der Neuzeit scheint man sich all dessen dann durch Diskreditierung als oberflächlichen Schein bzw. durch Versachlichung weitgehend zu entfremden und zu entledigen versucht zu haben. Nun darf dabei die Notwendigkeit versachlichender, aufklärerischer Reaktionen auf nicht zu negierende, nicht nur barock-formalistische Übertreibungen im inhaltlich leeren Schein natürlich keinesfalls unterschätzt werden.42 Doch inwieweit, so wäre zu fragen, hat sich z. B. in den nachbarocken Jahrhunderten eben das ‚Schein-Sein-Verhältnis‘ oder die Verhältnisse ‚Rationales-Metarationales‘ bzw. ‚Subjekt-Metasubjekt‘ dualistisch dergestalt verhärtet, dass es sich zugunsten sachlichen Seins, nackter, rationalistischer Tatsachen und exaltierter Subjektivierung ganz unangemessen verschoben hat. Und dies wäre die entscheidende Frage nach der Angemessenheit! Im ‚Schein‘ mehr als nur ‚Unreines‘ zu sehen, fällt noch heute äußerst schwer. Von der Aufklärung kräftig gefördert, in der Romantik bis zur völligen Entgrenzung getrieben, orientiert sich das aufgeklärte Subjekt am irdischen Sein, in dessen Zentrum es sich gesetzt hat. Und daran macht sich sein Begriff von Identität fest. Das ließe sich z. B. auch an der Bedeutungsumkehrung solcher Begriffe wie ‚Repräsentation‘,43 worunter man heute praktisch nur ‚Selbstdarstellung‘, also ‚Ostentation‘, versteht, oder am Begriff ‚Hierarchie‘ aufzeigen. Letzterer wird fast ausschließlich im Sinne einer durch ein ‚Hohes‘ und ein ‚Niedriges‘ bestimmten Rangordnung gebraucht und dabei zumeist mit unheilvoll-despotischen, oft genug orientalischen Herrschaftsverhältnissen pejorativ in Verbindung gebracht (z. B. im AntiOrientalismus). ‚Heilsherrschaft‘ (‚Hier-archie‘) etwa als positiven Begriff zu sehen, verbietet sich geradezu angesichts der radikalen Verkehrungen, die z. B. besonders das 20. Jahrhundert in dieser Hinsicht vollzogen hat. Erinnern wir dazu nur z. B. an jenen Bau, den Albert Speer 1939 als martialisch-gigantischen, 320 m hohen Endpunkt für die geplante NordSüd-Achse in ‚Berlin-Germania‘ entworfen hat, die sogenannte ‚Große

41 Nur z. B. der Palast Medinat ez-Zahra bei Córdoba (Henri Stierlin: Islam. I: Frühe Bauwerke von Bagdad bis Còrdoba, Köln et al.: Benedikt Taschen Verlag 1996, S. 102ff.). 42 Hier wäre auf ähnliche Auseinandersetzungen auch in früheren Zeiten, z. B. in der griechischen Antike, u. a. auch mit dem Orient, hinzuweisen, wie nur z. B. die des griechischen ‚Rationalismus‘, wobei die eklatanten Unterschiede zwischen griechischem und heutigem Rationalismus-Verständnis zu beachten wären. 43 Also: ‚Ver-Gegenwärtigung‘. 199

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Halle‘,44 deren 28 m breite und 50 m hohe Kultnische mit Goldmosaik ausgekleidet werden sollte. Trotz Goldgrund wäre diese bogenüberwölbte Nische kein Scheinportal mehr gewesen, in dem eine Kultstatue zur Vergegenwärtigung des Verhältnisses von himmlischer und irdischer Sphäre erschienen wäre; diese Nische hätte vielmehr eine gigantische, hermetisch verschlossene Tür dargestellt, die alles Augenmerk nur noch auf ein irdisches Subjekt gelenkt hätte, das von sich selbst und seiner Kultgemeinde zum Allein-Herrscher, zum Ersatz-Gott, zum ‚Führer‘Götzen, gemacht wurde. Dieser Spielraum hätte/hatte keinen ‚Spielraum‘ mehr gelassen, denn wir kennen das dahinter stehende ‚Herrschafts-, Heils- und Gerechtigkeitsverständnis‘ bzw. die ihm entsprechende ‚Weltanschauung‘ und die daraus folgenden Konsequenzen. Dass dieser Weltanschauungsexzess des 20. Jahrhunderts seine massiv aufklärerisch-romantische Vorgeschichte hat, macht es mehr als unwahrscheinlich, dass er keine Nachgeschichte in der sogenannten Nachkriegszeit gehabt hätte bzw. dass sich solche Weltsicht von heute auf morgen etwa geändert hätte allein durch angebliches Um- oder Abwenden (nach der sogenannten ‚Stunde Null‘), durch Tabuisieren oder durch Flucht in ein Leben und in ein Anschauen von nicht-authentischen, also unechten oder manipulierten Welten, wie z. B. durch ‚Auftritt‘ auf virtuellen Bühnen. Die fortschreitende Subjektivierung scheint in digitalisiert-virtuellen Endlos-Spiegelbildern vielmehr überhaupt erst zu ihrem eigentlichen (und endlichen) Höhepunkt zu finden. Damit sind Kontinuitäten hinsichtlich allzu begrenzter Spiel-Raum-Dimensionen und mangelnder Vergegenwärtigungsauthentizität gemeint, die die erste und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überwölben. Mag zwar die Bühnenapparatur und -architektur nicht mehr so martialisch-gigantisch aussehen wie in ‚Berlin-Germania‘, ja geradezu klein, handlich und zum praktischen ‚notebook‘ geworden sein – und sie wird fast täglich noch handlicher und flacher –, der digitalisiert-illusionistische Spielraum unseres Hier und Jetzt jedoch ist in seinen endlichen Dimensionen gewissermaßen exponentiell explodiert und steht in reziprokem Verhältnis zur ebenso gestiegenen Undurchschaubarkeit seiner Wahrnehmungshermetik, Kulissenhaftigkeit, seiner Fiktionalität und seiner Manipulierbarkeit. Die Relevanz von Fragen nach Herrschaftsverhältnissen und nach der Verortung bzw. dem Bezug eines solch illusionistischen Spielraumes zu – ja wozu eigentlich? – scheint sich in euphemistisch-fragloser Propaganda/Manipulation auflösen zu wollen. Sind das Sein und der Schein hier

44 Dazu s. z. B.: Hans J. Reichhardt/Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Ger-

mania. Über die Zerstörungen der „Reichshauptstadt“ durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen, Berlin: Transit 1998, S. 109ff. 200

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also dergestalt eins geworden, dass für eine dem universalen Ganzen verpflichtete Erscheinungs-/Anschauungs-/Vergegenwärtigungspraxis, also für eine ernsthaft-spielerische Auseinandersetzung mit dem Ganzen unter real-authentischen Lebensbedingungen gar kein Bedarf, geschweige denn Bedürfnis, mehr besteht? Hat sich das illusionistische Spiel also mittlerweile zum massenhaft virtuell-rationalistischen derart gesteigert, dass es zum Surrogat für ein Ganzes und dieses Surrogat zu einem ganz eigenen, rein irdischen ‚Universum‘, allerdings mit berauschendem Totalitätsanspruch, geworden ist? Es ist kein kleiner Unterschied, ob Menschen als Schauspieler auf einer Theaterbühne vor und angesichts von Kulissen, also fiktional, ‚Welt-Realitäten‘ spielen oder ob Menschen als reale Menschen (als nicht nur schauspielernde Schauspieler also) angesichts von, in und mit Welt-Realitäten authentisch ‚spielen‘; also gewissermaßen unter ‚Lebensgefahr‘. Mit ‚Welt-Realitäten‘ seien hier eben z. B. Herrschafts-/Gerechtigkeits-Verhältnisse wie ‚universales Ganzes zu irdischem Teil‘ bzw. ‚Welt/Natur zu Mensch‘ angesprochen, in die der Mensch, ganz allgemein und grundsätzlich, hineingestellt ist. Beide Spielräume mögen vielleicht menschlicher Auseinandersetzung/Orientierung mit bzw. in solchen Realitäten dienen. Doch im ersten Fall führt der Mensch Regie, steht im Vordergrund und spielt letztlich illusionistisch, utopisch, fiktional (weil als Schauspieler vor Kulissen); er macht gewissermaßen ‚Regietheater‘. Im anderen Fall führen Realitäten (zumindest auch) Regie, der Mensch steht mittendrin und muss authentisch ‚spielen‘ (weil als Mensch in und mit der Realität). Der eine ‚Spiel-Raum‘ ist ein hermetisch-zentripetaler Teil-Raum, der andere ein offen-zentrifugaler Gesamt-Raum. Es könnte sein, dass diese beiden ‚Spiel-Raum‘-Varianten die Unterschiede von ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ bzw. ihrer beiden Prägeseiten in der Medaille ‚Welt-Wahrnehmung/-Anschauung‘ ausmachen, besonders hinsichtlich des damit zusammenhängenden realen Einbezugs bzw. NichtEinbezugs des universalen Ganzen/Gesamt-Raumes. Ob also eine Medaillenseite – um bei diesem Vergleich zu bleiben – auf den Einbezug des Ganzen z. B. durch Einprägung der Währung verweist und damit also entsprechend geprägt, d. h. ‚charakterisiert‘ ist oder nicht, könnte den entscheidenden Unterschied, nämlich den zwischen Realität/Authentizität und Fiktion, ausmachen. Ob der eine oder der andere Spielraum mehr ‚Spielraum‘ und Orientierung bietet, wird damit wohl zur Frage nach Fiktion oder nach Authentizität. Will eine Neuorientierung also nicht illusionistisch/utopisch/fiktional sondern authentisch sein, muss sie sich mit dieser – ganz aktuell – mehr als virulenten Problematik wohl grundsätzlich-fundamental auseinandersetzen. 201

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Es wäre allerdings weiter zu fragen, wie sehr uns das alles nicht insoweit beherrscht – und das wäre z. B. eine Frage nach Herrschaftsverhältnissen –, dass wir zu wirklicher Neuorientierung gar nicht in der Lage sind, obgleich eine solche doch gerade dem Denk- und GestaltAnsatz der Moderne entspräche, der eben ein grundsätzlich-fundamentaler ist. Dazu müsste man aber aus dem ‚illusionistischen Spielraum‘, aus der Fiktion, herausfinden zu einer authentischen Gesamtperspektive, also zur Frage nach der ‚Währung/Gewährleistung‘ der Medaille; und zwar ohne Sorge und Furcht vor solch tabuisierten Fragen wie z. B.: ob der Mythos von der möglichen Trennung einer irdischen von einer himmlischen Sphäre bzw. der Profan-Sakral-Trennung überhaupt aufrecht zu halten wäre? Hat es diese Trennung denn jemals wirklich gegeben bzw. gibt es sie, und wäre/ist dies dem Menschen überhaupt möglich? Widerspricht solche Trennung bzw. Einseitigkeit nicht nur seiner anthropologischen Grundkonstitution, sondern auch authentischer Wirklichkeit? Ist derartiges Trennen also etwa einem solch fortschrittsphilosophischen Mythos wie dem vom ‚neuen Menschen‘ geschuldet, wie er gerade im 20. Jahrhundert inbrünstig gepflegt wurde und z. T. noch wird? Die hier angesprochenen Befunde/Rezeptionen – will man sie nicht weiterhin desorientierender Vernachlässigung überlassen, und damit wären sie auch zu Auseinandersetzung auffordernde Autorität an die Wissenschaften und ihren Wahrnehmungshorizont – scheinen solchen Mythen zu widersprechen. Immerhin zeugen sie von einer Vergegenwärtigungs- und Legitimationsgeschichte über einen mehrtausendjährigen Zeitraum hinweg und künden von einer Zeit-Raum-Beziehung, die nicht nur rein physikalischem Interesse gerecht wird, sondern komplexen Herrschafts- und Gerechtigkeitsfragen universalen Raum gibt. Authentisches Spiel angesichts von, in und mit ‚Welt-Realitäten‘ bedeutet Ritual (im Unterschied eben zu illusionistischer Fetischisierung). Rituale sind Handlungen mit Zeichencharakter und bedürfen architektonischer Zeichen als Infrastruktur; insofern lassen sie sich in Befunden der Sakral-, Palast- und Residenz-/Wohnhaus-Architektur und ihren Rezeptionen zeichenhaft ablesen und wohl nur schwerlich negieren. Deshalb wäre weiter zu fragen: Worin läge die Legitimation für angesprochenes illusionistisches Spiel, für solche Fiktion, woran macht sie sich fest? Inwieweit lässt sich solch fiktionales Tun innerhalb angesprochenen, enzyklopädisch-universalen Ganzen und hinsichtlich ausgewogener Herrschafts- und Gerechtigkeitsverhältnisse überhaupt rechtfertigen; inwieweit eine derart Subjekt zentrierte Wahrnehmung also legitimieren? Fehlt ihr vielleicht die Legitimation? Und geht es uns heute etwa gar nicht um Legitimation, sondern deshalb umso eifriger um Identität?

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Identität verhält sich aber zu Legitimation wie der Teil zum Ganzen und Legitimation ist Identität mit dem Ganzen. Die Neuorientierung müsste also nicht aus einem ganz Neuen – also wiederum nur aus einem neuen Teil –, sondern aus einem neuen Ganzen und dessen steter Vergegenwärtigung bestehen; das wäre die Währung angesprochener Medaille, nämlich die Gewährleistung des Ganzen. Andernfalls, so lässt sich folgern, bliebe uns nur wenig real-authentischer ‚Spielraum‘. Vielleicht kann bei solch notwendiger Neuorientierung der Blick gerade auf die altorientalischen Befunde und die sich darauf beziehenden Rezeptionen hilfreich sein – insoweit würde es sich um Neu-ORIENTierung handeln, ‚Orient‘ mit Majuskeln geschrieben und im Sinne eines in den Geographiebüchern so genannten Herkunftsraumes verstanden. Wenn wir uns aber eben klar machen – und das sollten wir tun –, dass es um die Gesamt-Medaille ‚Welt-Wahrnehmung‘ geht, dann wäre ‚Orient‘ bei der hier gemeinten ‚Neuorientierung‘ in Minuskeln zu schreiben, denn es handelte sich eben nicht um eine etwa speziell nur den Orient, sondern alle Richtungen betreffende Neuorientierung hinsichtlich eines universalen Ganzen. Beim ‚Spielraum Neuorientierung‘ steht nicht mehr und nicht weniger als das Ganze, also die ‚Währung/Gewährleistung‘ der Medaille auf dem Spiel und eben nicht allein irgendwelche ‚Orient‘-/‚Okzident‘-Prägeunterschiede – oder eben doch: nämlich in der bei jeder ‚Zahlung‘ spürbaren, weil eingeprägten, also vergegenwärtigten Währung auf einer der Prägeseiten!? Dies gälte es weiter zu untersuchen.

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Verdis Aida und die Orientalisierung des Ägyptenbildes im 19. Jahrhundert KARL-HEINZ KOHL

Napoleons Ägyptenfeldzug und die Folgen Am 1. Juli 1798 landete Napoleon Bonaparte mit einer Invasionsarmee von über 38.000 Soldaten in Alexandrien, um durch die Eroberung Ägyptens das britische Kolonialimperium an einer seiner empfindlichsten Stellen zu treffen. Nach anfänglichen Erfolgen endete der ägyptische Feldzug des nachmaligen französischen Kaisers bekanntlich in einem militärischen Desaster. Seine historische Bedeutung sollte denn auch auf einem anderen Gebiet liegen: nicht auf dem der imperialen Eroberungen der Epoche, sondern auf dem ihrer großen kulturwissenschaftlichen Leistungen. Bonapartes Expedition wurde von zahlreichen französischen Gelehrten und Zeichnern begleitet, die sich die Dokumentation der ägyptischen Altertümer zur Aufgabe setzten.1 1809 erschien der erste Band der Description de l’Ÿgypte, eines umfangreichen Werkes von zehn Quart- und elf Bildbänden, das erst knapp zwanzig Jahre später abgeschlossen wurde. Es sollte auch noch für Verdis Oper Aida (Uraufführung 1871) eine der wichtigsten Informationsquellen zur Geschichte des Niltals darstellen. Das Alte Ägypten war freilich nicht erst durch Napoleons Gelehrte entdeckt worden. Es hatte die europäische Imagination schon seit über 1

Im Verlauf des Napoleonischen Feldzugs wurde auch der dreisprachige Stein von Rosetta gefunden, mit dessen Hilfe Champollion im Jahre 1822 die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift gelang. 207

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zwei Jahrtausenden beherrscht. Dass es „mehr wunderbare Dinge und erstaunliche Werke enthält, als alle anderen Länder“ hatte bereits Herodot festgestellt, der seine umfangreiche Schilderung der Ägypter in seinen Historien mit der Bemerkung beginnt, dass ihre Sitten und Gebräuche „fast in allen Stücken denen der übrigen Völker entgegengesetzt“2 seien. So gingen bei ihnen die Frauen auf den Markt, um Handel zu treiben, während die Männer zuhause säßen und webten; die Männer trügen die Lasten auf dem Kopf, die Frauen aber auf den Schultern; selbst beim Verrichten ihrer Notdurft verhielten sich die beiden Geschlechter in Ägypten ganz anders als in Griechenland.3 Die Beschäftigung mit Ägypten war auch das Mittelalter hindurch nie wirklich abgerissen: In den Schriften des Alten und des Neuen Testaments kam ihm ein fester Platz zu. Ägypten war das Land, in dem Joseph seine Brüder empfangen und freundlich aufgenommen hatte, es war das Land aus dessen Knechtschaft Moses sein Volk befreite, nach dessen Fleischtöpfen sich die Israeliten bei ihrem langen Marsch durch die Wüste sehnten und in das die Heilige Familie floh, um den Nachstellungen des Königs Herodes zu entgehen.4 Eine weniger an christlichen als an paganen Traditionen gebundene Ägyptomanie5 begann sich in der Renaissance mit der Wiederaufnahme neoplatonischer Spekulationen zu entwickeln. Marsilio Ficino und andere Gelehrte seiner Zeit begeisterten sich für die Weisheit der alten Ägypter. Hermes Trismegistos, der als eine Verkörperung der ägyptischen Weisheitsgottheit Thot galt, spielte in der Astrologie und der Alchemie des 15. und 16. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. 1651 legte der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher in unmittelbarer Nähe des Vatikans sein berühmtes Museum ägyptischer Altertümer an. Mumienstücke wurden auf den Märkten und in den Apotheken als wunderwirksame Heilmittel verkauft. Ägyptische Sujets spielten in den Opern des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, während sich Freimaurer, Rosenkreuzer und andere aufgeklärte Geheimbünde der hermetischen Traditionen und Rituale bemächtigten.6 2 3 4

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6

Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, Übers. A. Horneffer, Hg. H. W. Haussig, Stuttgart: Alfred Kröner 41971, S. 114 (2:35). Vgl. ebd. Vgl. Dirk Syndram: „Das Erbe der Pharaonen: Zur Ikonographie Ägyptens in Europa“, in: Sievernich/Budde (Hg.), Europa und der Orient (1989), S. 18-57. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt am Main: S. Fischer 2000, S. 38, spricht in diesem Zusammenhang von einem ausgesprochen ägyptophilen Bild des Landes, das er in einen Gegensatz zum ägyptophoben der Bibel stellt. Vgl. zum Ägyptenbild allgemein Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte, München, Wien: Carl Hanser 1996.

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VERDIS AIDA UND DIE ORIENTALISIERUNG DES ÄGYPTENBILDES

Das neue Ägyptenbild, das sich infolge des Napoleonischen Expeditionskorps in Europa verbreitete, nahm zwar zahlreiche dieser älteren Züge in sich auf, war aber im Grunde anders konnotiert. Als die Kornkammer Roms hatte Ägypten von seiner endgültigen Eroberung durch Augustus bis in die Spätantike hinein einen integralen Bestandteil des Imperium Romanum gebildet. Seit der Expansion des Islams aber war es für europäische Reisende nahezu unzugänglich geworden. In der Mitte des 7. Jahrhunderts von den Arabern erobert, war das Land im frühen 16. Jahrhundert in den Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches eingegliedert worden. Nur wenige Europäer hatten Ägypten seither besucht. Politisch wie kulturell gehörte es fest zum arabisch-islamischen Raum. Erst mit seiner gewaltsamen Öffnung durch Napoleon wurde der Blick auf ein Land wieder möglich, das, obgleich es immer noch voll war von Überresten des Altertums, faktisch längst zu einem Teil der Gegenwelt des Abendlands geworden war. Das Bild des alten Wunderlands mit seinen Pyramiden, verfallenen Tempeln und Obelisken, seinen Grabstätten und Tiergottheiten ging im europäischen Bewusstsein eine Synthese mit dem zeitgenössischen Bild des Morgenlands ein, den Imaginationen einer von Sinnengenuss, von Rausch und ekstatischen Visionen geprägten Welt. Die Orientbegeisterung datierte in Europa indes schon ein gutes Jahrhundert früher. Als ihr Beginn kann die Übersetzung der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht durch Antoine Galland zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelten. Doch neuerlich angefacht werden sollte sie erst wieder durch die reiche Ausbeute an Antiquitäten, Artefakten, Schriftquellen und neuen Bildern, die im Gefolge des gescheiterten ägyptischen Abenteuers nach Frankreich, England und in andere Länder Europas gelangten. Ihren Höhepunkt erreichte sie schließlich, als die Franzosen 1830 Algier besetzten, nur zwei Jahre, nachdem die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse von Napoleons Ägyptenexpedition in der voluminösen Description de l’Ÿgypte zum Abschluss gebracht worden war. Der Orientalismus wurde bald zu einem paneuropäischen Phänomen, für das in der Dichtung Namen wie Lord Byron, Johann Wolfgang Goethe, Gérard de Nerval oder auch Gustave Flaubert stehen. Doch nicht nur in Literatur und Wissenschaft, sondern auch im Alltagsleben hinterließ die Orientbegeisterung ihre Spuren. Orientalische Attribute wie der Perserteppich, die exotische Zierpflanze und das arabische Mobiliar fanden ihren Eingang in das Interieur der Salons. Orientalisierende Stilelemente belebten die klassische Architektur. So errichtete etwa in Stuttgart der württembergische König Wilhelm I. zwischen 1842 und 1864 seine „Maurische Villa“ nach dem Vorbild der spanischen Alhambra. An den europäischen Kunstakademien begann die Orientmalerei sich als eigene 209

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Schulrichtung zu etablieren. Der einsame arabische Wüstenreiter und die gefahrvolle Löwenjagd, der pittoreske Sklavenmarkt, das türkische Bad mit seinen nackten Odalisken und Blicken auf das Treiben in den verschlossenen Serails – diese und andere bevorzugte Sujets der Vertreter des Genres zeigen, dass der Orient im 19. Jahrhundert zu einer Projektionsfläche vor allem männlicher Sehnsüchte und Phantasien geworden war. In seiner Sinnenlust, Zügellosigkeit und vermeintlichen Dekadenz stellte er das Gegenbild zu dem von Prüderie und strenger Selbstdisziplinierung gekennzeichneten Zeitalter der frühen Industrialisierung und des Bürgertums dar.

Die Feminisierung des Orients Ereignisgeschichtlich wurde die Orientbegeisterung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Wiederaufnahme der kolonialen Expansion nach dem Ende der Napoleonischen Kriege begleitet. Großbritannien gelang es, seinen zunächst auf den nördlichen Teil Indiens beschränkten Herrschaftsbereich auf den ganzen Subkontinent auszudehnen. Frankreich setzte seine alten Eroberungspläne in Nordafrika mit Erfolg in die Tat um. Nach der Besetzung Algiers dehnte sich der Einfluss der französischen Kolonialmacht bald auch auf Marokko aus. In Ägypten hatte die Invasion Napoleons dazu geführt, dass sich das Land unter der Führung Mohammed Ali Paschas von der Herrschaft der Mamluken befreien konnte und der Oberhoheit der Hohen Pforte in Istanbul bald nur noch nominell unterstand. Doch nicht nur in Nordafrika, sondern auch im Westen musste das Osmanische Reich infolge des griechischen Befreiungskampfes, an dem sich auch Lord Byron beteiligt hatte, erhebliche territoriale Einbußen hinnehmen. Die türkische Gefahr, vor der seit den Belagerungen Wiens im 17. Jahrhundert noch ganz Europa gezittert hatte, schien endgültig gebannt. Der Islam hatte an kriegerischer Expansionskraft eingebüßt, sein Machtzentrum in Kleinasien an innerer politischer Stabilität verloren. Die Eroberer waren selbst zu Eroberten geworden. Das Bild eines zwar exotischen, aber doch gleichwertigen männlichen Gegners wurde durch das Bild eines mehr oder weniger passiven Objekts der Expansion Europas ersetzt. In demselben Maße, in dem sich männliche Phantasien an den Sinnesreizen des Orients, am Harem, am Sklavenmarkt, am Tanz und am Türkischen Bad entzündeten, brach sich auch in der Bestimmung des Verhältnisses von Abendland und Morgenland eine exquisit männliche Sichtweise die Bahn. Je ohnmächtiger sich der Orient gegenüber den Expansionsbestrebungen des Okzidents er-

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wies, desto eher schien man dazu geneigt, die Beziehung zwischen den beiden Hemisphären nach dem Modell von schwachem und starkem Geschlecht aufzufassen. Der Orient wurde mit dem Weiblichen assoziiert. Das Morgenland schien dazu bestimmt, vom Abendland erobert zu werden.7 Eine seiner bizarrsten Blüten hat das Gegensatzpaar männlicher Okzident-weiblicher Orient in dieser Zeit in der religiös-sozialistischen Bewegung der französischen Saint-Simonisten getrieben. Vor allem in seinem Spätwerk, dem Nouveau Christianisme von 1825, hatte SaintSimon, der Gründer dieser Sekte, eine neue Religion gefordert, die den Anforderungen des sich anbahnenden industriellen Zeitalters gerecht werden und den Zusammenhalt der von sozialen Konflikten zerrissenen frühindustriellen Gesellschaft dienen sollte.8 Nach Saint-Simons Tod (1825) schlossen sich die Anhänger seiner Lehre zu einer streng hierarchisch strukturierten Gemeinschaft zusammen, an deren Spitze die beiden Pères Suprêmes oder „Obersten Väter“ Bazard und Enfantin standen. Eine heftige Debatte über die Frauenfrage führte wenig später zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden. Nachdem Bazard ausgeschieden war, übernahm Enfantin zwar die Führung der Bewegung, ließ den Platz seines Rivalen aber für die noch zu findende „Oberste Mutter“ oder Mère Suprême frei, die in Zukunft an seiner Seite thronen sollte. Er wie seine Anhänger waren davon überzeugt, dass die Inkarnation der Femme Messie im Orient zu suchen sei, erwartete man sich aus der mystischen Vereinigung von Orient und Okzident doch das zukünftige Weltenheil. Für die Saint-Simonisten wurde die Idee schnell zur Obsession. Einige von ihnen schlossen sich unter Enfantin zu einer Reisegruppe zusammen, die sich Les Compagnons de la Femme nannte und den wiedergekehrten weiblichen Messias im Vorderen Orient aufzufinden hoffte. 1833 brach die Gruppe von Paris aus nach Ägypten auf.9 Ihr gehörte u. a. der damals dreiundzwanzigjährige Komponist Félicien David an, der auf den beschwerlichen Kamelrouten durch die nordafrikanischen Wüsten stets sein Klavier mit sich führte, auf dem er bei den verschiedenen Zwischenstationen in Smyrna, Jaffa, Alexandria und Kairo zur Unterhaltung

7 8

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Vgl. hierzu ausführlicher: Karl-Heinz Kohl: „Cherchez la femme d’Orient“, in: Sievernich/Budde (Hg.), Europa und der Orient (1989), S. 356-367. Vgl. hierzu wie zum Folgenden: Robert Alun Jones/Robert M. Anservitz: „Saint-Simon and Saint-Simonism: A Weberian View“, in: The American Journal of Sociology 80/5 (1975), S.1095-1123. Vgl. Peter Gradenwitz: „Félicien David (1810-1876) and French Romantic Orientalism“, in: The Musical Quarterly 62/4 (1976), S. 471-506, hier S. 475. 211

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aufspielte.10 Inspiriert von den Eindrücken seiner Orientreise, komponierte er Jahre später die symphonische Ode Le Désert, in die zahlreiche orientalische Musikelemente Eingang fanden. Sie wurde zu seinem größten Erfolg. Als das musikalische Werk 1845 in Mailand aufgeführt wurde, befand sich im Publikum auch der junge Giuseppe Verdi. Musikwissenschaftler nehmen an, dass Verdi bei der Komposition der Aida noch einige Versatzstücke von Davids orientalistischen Impressionen im Kopf gehabt hatte.11 Als Enfantin, Félicien David und andere Mitglieder der Gemeinschaft sich am 15. August 1834 in Alexandria trafen, um dort ihren Sektengründer Saint-Simon zu feiern, gesellte sich ihnen ein anderer, damals noch keine dreißig Jahre alter Mann hinzu, der es später zu großem Ruhm bringen sollte: Ferdinand de Lesseps, der Konstrukteur des Suezkanals.12 Wie viele andere Mitglieder der Gemeinschaft war auch er von seiner Ausbildung her Ingenieur, denn Wissenschaftler sollten nach der Vorstellung Saint-Simons die künftigen Priester der Gesellschaft sein. Die Idee, die Lesseps gut drei Jahrzehnte später mit dem Bau des Suezkanals realisierte, verdankte er seiner Zugehörigkeit zu dieser religiösen Vereinigung. Ursprünglich ging sie auf Enfantin zurück. Denn neben der Suche nach der Mère Suprême war ein weiteres Ziel seiner Gemeinde, deren Mitglieder religiöse Schwärmerei mit durchaus praktischen Bewegungen verbanden, den ägyptischen Khediven für den Plan zu gewinnen, durch die Anlage eines solchen maritimen Verkehrsweges Okzident und Orient, die Hemisphäre des „Obersten Vaters“ und die der „Obersten Mutter“, durchaus real und dauerhaft miteinander zu verbinden. Dass die Feminisierung des Orients keineswegs nur eine Marotte der Saint-Simonisten war, sondern gerade in den folgenden Jahrzehnten immer stärker hervortrat, beweisen zahlreiche literarische und wissenschaftshistorische Belege der Zeit. Während in Erzählungen und Theaterstücken biblische Heroinnen wie Judith, Delilah und Salome ihre erotische Ausstrahlung selbstbewusst als Mittel eines tödlich endenden Geschlechterkampfes einsetzen, wird in Gustave Flauberts historischem Roman Salammbô (1862) die karthagische Muttergottheit Tanit als selbstbewusste Fürstentochter und Hohepriesterin porträtiert. Die Zuwendung zum historischen Orient, zur Welt der alten Hebräer, Phönizier oder 10 Vgl. ebd., S. 476. Das Klavier wurde auf der Rückreise zwischen Gaza und Sidon von einer Gruppe Beduinen zerschlagen. David hatte sich von ihnen Lieder vorsingen lassen, die er auf dem Piano begleiten wollte. Die Beduinen waren von den Tönen aber so erschreckt, dass sie es für Teufelswerk hielten und zertrümmerten; vgl. ebd., S. 480. 11 Vgl. ebd., S. 502f. 12 Vgl. ebd., S. 477. 212

VERDIS AIDA UND DIE ORIENTALISIERUNG DES ÄGYPTENBILDES

Ägypter – möglicherweise stellte sie nur eine Lösung jenes offensichtlichen Widerspruchs dar, dass die neugeschaffene Vision eines weiblichen Orients den wirklichen Verhältnissen in den islamischen Ländern mit ihrer strengen Geschlechtersegregation und ihrem ausgeprägten Patriarchalismus kaum entsprach. Denn gerade die Schriftsteller, die sich von dieser Vision leiten ließen und sich selbst aufgemacht hatten, um die Geheimnisse des Orients zu ergründen, kehrten von ihren Reisen meist enttäuscht zurück. So warnte etwa Gérard de Nerval seinen Freund Gautier davor, den Orient ihrer gemeinsamen Träume mit dem realen Orient zu verwechseln und bekannte sich selbst zu dem alten Ägypten als dem eigentlichen Wunschland seiner Phantasie.13 Kairo würde sich eher an der Opéra als in Ägypten finden lassen, so schrieb er in Anspielung auf die orientalistischen Inszenierungen der Pariser Weltausstellung von 1867, während das Kairo, von dem sie gemeinsam geschwärmt hätten, heute unter Schutt und Asche begraben sei.14 Tatsächlich hatten die großen archäologischen Funde des 19. Jahrhunderts in Kleinasien, im Zweistromland und in Nordafrika eine faszinierende Welt versunkener Reiche, heidnischer Fruchtbarkeitskulte und geheimnisvoller Mutterkulte ans Licht gebracht, die in das imaginäre Bild des Orients weit besser zu passen schienen als die ernüchternde Gegenwart. Unter den Gelehrten der Zeit hat sich die Vision eines in seinen Grundzügen weiblichen Orients vermutlich kaum ein anderer ähnlich lebhaft ausgemalt wie der Baseler Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen. Bei seinen Studien antiker Quellen war Bachofen auf den bei Plutarch wiedergegebenen Mythos von Isis und Osiris gestoßen, jener beiden altägyptischen Gottheiten, in denen sich seiner Überzeugung nach die fruchttragende Erde und der befruchtende Nil, das weibliche Stoffprinzip und die männliche Zeugungskraft verkörperten. In seinem 1861 veröffentlichten Hauptwerk Das Mutterrecht, aus dem später Auszüge unter dem bezeichnenden Titel „Der Mythos von Orient und Okzident“ veröffentlicht wurden,15 suchte Bachofen den Nachweis dafür zu erbringen, dass nicht nur dieser Mythos, sondern auch zahlreiche andere antike Überlieferungen Erinnerungen an eine historische Realität dar13 Vgl. Friedrich Brie: Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Band XI, 3. Abhandlung, Heidelberg: Carl Winter 1920, S. 58. 14 Vgl. Timothy Mitchell: „Die Welt als Ausstellung“, in: Sebastian Conrad/ Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main, New York: Campus, 2002, S. 171. 15 So der Titel der von Alfred Bäumler 1926 besorgten und von W. Schröter herausgegebenen Auswahlausgabe aus Bachofens Schriften. 213

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stellten, in der es die Frauen waren, die über die Männer herrschten. Anhand zahlloser Belegstellen aus der antiken Literatur entwarf er ein Bild der menschlichen Gattungsgeschichte, die sich ihm als ein steter Kampf des männlich-geistigen mit dem weiblich-stofflichen Prinzip darstellte. Erst im Griechentum habe das apollinische Lichtprinzip über die dunklen Erd- und Mondgöttinnen der Vergangenheit gesiegt. Kein endgültiger Sieg freilich, denn die welthistorische Auseinandersetzung des Okzidents mit dem tellurischen Hetärismus des Orients hielt seiner Auffassung nach auch in der Gegenwart noch an. In der zu seiner Zeit aufkommenden frühen Frauenbewegung sah er nicht weniger als eine die paternalistische Ordnung erneut bedrohende Wiederkehr des orientalischen Isis-Prinzips.16

Geschlechterkonstellationen in Verdis Aida Den großen Filmproduktionen des 20. Jahrhunderts ähnelten die klassischen Opern des 19. Jahrhunderts darin, dass sie weniger die Schöpfungen einzelner Künstler als vielmehr kollektive Kunstwerke waren. Mochten die Komponisten auch die wichtigste Rolle spielen, so waren Librettisten, Auftraggeber und Regisseure, die Sänger, der Chor und das übrige Bühnenpersonal bei der Hervorbringung und Gestaltung eines solchen Gesamtkunstwerks doch nicht weniger beteiligt. In welchem Ausmaß bestimmte Vorstellungen, Bilder und Phantasien die Bewusstseinslandschaft einer Epoche prägten, lässt sich daher an Opern in aller Regel weit besser ablesen als an den Werken individueller zeitgenössischer Künstler. Das gilt auch für Verdis Aida, wenn man sie als ein Gemeinschaftswerk auffasst, das aus der Zusammenarbeit unterschiedlichster Künstler hervorgegangen war.17 Das Libretto der Oper stammte von Antonio Ghislanzoni, der auch für Verdis La forza del destino das Textbuch verfasste. Doch hatte Ghislanzoni die Handlung der Aida nicht selbst erfunden. Sie ging vielmehr auf einen Entwurf Auguste Mariettes zurück, eines der führenden Ägyptologen seiner Zeit, den der ägyptische Vizekönig Said Pascha 1858 zum Leiter des „Service des Antiquités de l’Ÿgypte“ ernannt hatte und der später mit dem türkischen Titel eines

16 Vgl. Hartmut Zinser: Der Mythos des Mutterrechts. Verhandlung von drei aktuellen Theorien des Geschlechterkampfes, Berlin, Wien: Ullstein 1981, S. 28ff. 17 Zur Entstehungsgeschichte der Aida vgl. Uwe Schweikert: „Aida“, in: Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hg.), Verdi Handbuch, Stuttgart: Metzler 2001, S. 461-474. 214

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Bey ausgezeichnet wurde. Eigentlicher Initiator des Unternehmens aber war Ismael Pascha, der Saids Amt 1863 übernahm und als Erbauer des Suezkanals und Modernisierer Ägyptens in die Geschichte eingehen sollte, obgleich am Ende seiner Regentschaft der Staatsbankrott stand, durch den das Land in die Abhängigkeit der beiden großen europäischen Kolonialmächte geriet. Ismael Pascha, der an theatralischen Auftritten großen Gefallen fand und während seines Besuchs der Pariser Weltausstellung des Jahres 1867 im nachgebauten königlichen Palast des ägyptischen Pavillons in orientalischer Manier Hof hielt,18 hatte die Oper Aida in Auftrag gegeben, die zwei Jahre nach der Eröffnung des Suezkanals in Kairo aufgeführt wurde. Die politische Absicht des von Ismael Pascha mit Hilfe eines der führenden Komponisten Europas19 inszenierten großen Spektakels lag auf der Hand: Der Glanz der ruhmreichen Geschichte des alten Ägyptens sollte auch auf den Staat des Khediven abfärben, der sich vom Osmanischen Reich weitgehend unabhängig gemacht hatte und mit Hilfe seiner Reformen Anschluss an die Errungenschaften der Moderne zu finden hoffte. Verdi verfolgte mit dem Stoff der Oper indes seine eigenen Pläne. Das Kairoer Opernhaus, das 1869 aus Anlass der Einweihung des Suezkanals errichtet worden war, lag unmittelbar auf der Grenze zwischen der orientalischen Altstadt und der europäisch geprägten Neustadt, die zum Teil gleichzeitig mit dem Suezkanal entstanden war.20 Wie der Kanal selbst das Abend- und das Morgenland miteinander verband, so war auch das Opernhaus innerhalb der Stadt auf einer Schnittstelle zwischen deren beiden Hemisphären platziert: Die Front des Gebäudes war dem Westen, der Moderne und der Zukunft, seine Rückseite aber dem Osten, der Tradition und der Vergangenheit zugewandt.21 Die Personenkonstellationen des Stückes folgen einer ähnlichen Symmetrie. Rada18 Vgl. Katherine Bergeron: „Verdi’s Egyptian spectacle: On the colonial subject of Aida“, in: Cambridge Opera Journal 14 (2002), S. 149-159. 19 Zeitweise war von Ismael Pascha und Mariette in Erwägung gezogen worden, mit dem Werk nicht Giuseppe Verdi, sondern Richard Wagner zu beauftragen. Verdi hatte zunächst gezögert, konnte dann der hohen Summe aber offensichtlich nicht widerstehen, die ihm für das Werk geboten worden war. 20 Die europäisierte Neustadt war Teil eines modernistischen urbanen Reformprogrammes. Wie auch das Opernhaus selbst waren weite Teile für eine Ausstellung aus Anlass der Eröffnung des Suezkanals gebaut worden. Vgl. Timothy Mitchell: Colonising Egypt, Berkeley, Los Angeles, London: University of Berkeley Press 1991, S. 17. 21 Vgl. Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994, S. 186; zu den „orientalistischen“ Implikationen der Stadtanlage sowie der Oper vgl. ferner K. Bergeron, „Verdi’s Egyptian spectacle“, S. 151. 215

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mes, der Hauptmann der Wache, repräsentiert die ambivalenteste Person des Stücks – einen unheroischen Heerführer, der siegt und sich den Sieg selbst wieder nimmt. Er bildet gewissermaßen die Grenze zwischen zwei Vater-Tochter-Paaren: auf der einen Seite dem Pharao und dessen Tochter Amneris, auf der anderen Seite dem äthiopischen König Amonasro und dessen Tochter Aida. Ramphis, der oberste Isispriester, muss bezüglich seines Alters ebenfalls der Generation der Väter zugeordnet werden. Rein strukturell gesehen steht er zu Radames in einer ähnlichen Beziehung wie die beiden Könige zu ihren Töchtern. Sofern er die überlieferte Ordnung verkörpert und über die Einhaltung der Gesetzte wacht, könnte man ihn in der Terminologie Freuds als dessen Über-Ich bezeichnen. Allerdings repräsentiert er, und das macht gerade diese Figur im Blick auf das zeitgenössische Orientbild so aufschlussreich, mit seiner Sanktionsgewalt nicht das männliche, sondern das weibliche Prinzip. Denn ein Punkt scheint in den gängigen Deutungen des Stückes weitgehend übersehen worden zu sein: Der Oberpriester Ramphis ist ein Diener der Isis. Zusammen mit dem Chor der Priesterinnen und Priester steht er für den ägyptischen Mutterkult. Nimmt man ihn also als Vertreter der Isis, dann wird damit die symmetrisch-triadische Konstellation erst wirklich komplett. Die beiden Vater-Tochter-Paare gruppieren sich um ein MutterSohn-Paar, das aus der durch ihre Priesterschaft repräsentierten Isis und aus dem jugendlichen Ramades besteht.22 Und tatsächlich ist es denn auch Isis, die durch ihr Orakel Ramades zum Heerführer gegen die Äthiopier bestimmt. In diesem Punkt weichen Verdi und sein Librettist sicher nicht zufällig von der Vorlage Auguste Mariettes ab, in dessen Entwurf die Muttergottheit nämlich gar nicht vorkommt. Betrachten wir vor dem Hintergrund dieses triadischen Strukturmodells nun die Aktionen der einzelnen Personen. Hierbei fällt vor allem die Rollenverteilung auf. Denn vorangetrieben wird die Handlung nahezu ausschließlich durch die beiden weiblichen Protagonisten. Sie sind die eigentlichen Akteure. Radames und der Pharao übernehmen dagegen den passiven Part. Radames ist nur auf dem Feld siegreich. Am Hof sieht er sich dagegen als Spielball der beiden Frauen, die ihn mit unterschiedlichen Strategien umwerben: die sanfte Aida mit ihrer Ergebenheit, die stolze Amneris mit ihrem Versprechen der Macht. Auch der König greift in den Handlungsverlauf kaum ein. Vielmehr fügt er sich ganz den Wünschen der Tochter, wenn er Radames nach dessen Sieg zu ihrem Gatten bestimmt. Gängelt die selbstbewusste, hochmütige und dominante Pharaonenprinzessin ihren Vater, so verkehrt sich dieses

22 Nach den Regieanweisungen Verdis sollen sich die Besucher Ramades als einen jungen Mann im Alter von 24 Jahren vorstellen. 216

VERDIS AIDA UND DIE ORIENTALISIERUNG DES ÄGYPTENBILDES

Verhältnis beim zweiten Vater-Tochter-Paar in sein genaues Gegenteil. Aida ist nicht nur am Königshof Sklavin. Mit derselben Ergebenheit, die sie gegenüber ihrer Herrin an den Tag legt, unterwirft sie sich auch dem Willen des Vaters. Er appelliert an sie nicht von ungefähr im Namen der Liebe zu ihrem Vaterland, eben der Patria. Indem er seinen Willen durchsetzt, stürzt er sie ins Verhängnis. Aida überredet Radames nach der Intervention ihres Vaters zum Verrat, und das tragische Schicksal nimmt seinen Lauf. Mezzosopran und Bariton, die Tochter des Pharao und der äthiopische König Amonasro, erweisen sich so als die eigentlichen Gegenspieler des Stückes. Dem entspricht nicht zuletzt die große Sorgfalt, die auch musikalisch auf die Gestaltung der Gesangspartien dieser beiden Personen gelegt worden ist. Wofür aber stehen sie über die bloße Geschlechterkonstellation hinaus, und auf welcher Seite stand Verdis Sympathie? In einem vielzitierten Aufsatz mit dem Titel „The Imperialist Spectacle“ hat Edward Said Verdis Aida als eine „orientalistische Oper“ bezeichnet.23 Sie sei ein Werk nicht nur über den Imperialismus, sondern auch des zeitgenössischen europäischen Imperialismus.24 In der Auseinandersetzung zwischen Ägypten und Äthiopien habe die Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich, den beiden großen zeitgenössischen Kolonialmächten, ihren Niederschlag gefunden.25 Diese These ist von dem Musikhistoriker Paul Robinson allerdings dahingehend eingeschränkt worden, dass Verdi selbst sich nicht mit dem ägyptischen Königshaus und seiner imperialen Unterwerfungspolitik identifizierte, sondern vielmehr mit den unter der kriegerischen Expansion des Pharaonenreiches leidenden Äthiopiern.26 Ägypten stehe aus Verdis Sicht für das Reich der Habsburger, Äthiopien aber für das von ihnen unterdrückte und beherrschte Italien. Im Patriotismus Amonasros und seiner Tochter spiegle sich die Vaterlandsliebe des Risorgimento wider. Robinson ist in diesem letzten Punkt sicher recht zu geben. Die „unsträflichen Äthiopen“, wie es idealisierend schon bei Homer hieß, eigneten sich aufgrund ihrer Jahrtausende alten christlichen Traditionen auch noch im 19. Jahrhundert gut als Projektionsfläche eigener Heimat- und Zugehörigkeitsgefühle. Robinsons Behauptung, dass Verdi das Pharaonen- mit dem Habsburgerreich identifiziert habe, erscheint dagegen ent23 Der Aufsatz ist unter dem Titel „Das Imperium am Werk: Verdis ‚Aida‘“ leicht überarbeitet als eigenes Kapitel in E. W. Said: Kultur und Imperialismus, S. 165-189, aufgenommen worden. 24 Vgl. ebd., S. 169. 25 Vgl. ebd., S. 182. 26 Vgl. Paul Robinson: „Is Aida an orientalist opera?“, in: Cambridge Opera Journal 5/2 (1994), S. 133-140. 217

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schieden problematischer. Auch Edward Saids These, dass Verdis Ägypten für eine der beiden imperialen Großmächte stehe, ist eher schwach und überdies schwer mit seiner eigenen Interpretation der Aida als einer orientalistischen Oper in Einklang zu bringen. Vielmehr entspricht die Zeichnung des Alten Ägyptens weitgehend dem Bild vom weiblichen Orient, wie es von Bachofen und anderen in Kraft gesetzt worden war: Das Alte Ägypten als Land der Isis, der großen Muttergottheit, der Mère Suprême der Saint-Simonisten. Die Feminisierung des historischen Reiches am Nil äußert sich nicht zuletzt in den Konzipierungen des Geschlechterverhältnisses. Die Charakterisierung der Aida folgt – wie bereits angedeutet – ganz dem konventionellen Frauenbild des 19. Jahrhunderts. Sie ist bescheiden und ergeben, liebevoll, gehorsam und treu. Wie der männliche Held des Stückes zwischen den beiden Frauen, so steht Aida zwischen zwei Männern, dem Liebhaber und dem Vater, deren Forderungen sie gerecht zu werden versucht. Die romantische Leidenschaft, die Radames in ihr erweckt, findet ihre Grenze in der Pflichterfüllung gegenüber Vater und Vaterland. Die Pharaonentochter Amneris verkörpert dagegen alle Eigenschaften, mit denen ein Flaubert oder ein Bachofen den weiblichen Orient ausgestattet hatten.27 Amneris versucht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und bleibt weit davon entfernt, sich dem Willen des Mannes zu unterwerfen. Ihre eigenen Triebziele verfolgt sie rücksichtslos. Die leidenschaftliche Liebe schlägt schließlich in Hass um, als Ramades sie verschmäht. Vor die Alternative gestellt, sich entweder für die ihn vorbehaltlos liebende äthiopische Sklavin oder die machtbewusste ägyptische Königstochter zu entscheiden, trifft Ramades selbst eine eindeutige Wahl. Es ist Aida und mit ihr das paternalistische Geschlechterverhältnis, dem seine Präferenz gilt. Der Verstoß gegen die ältere Ordnung rächt sich. Als Statthalter des Mutterrechtsprinzips verurteilt ihn der Isis-Priester Ramphis zu Tode. Die Zeit des Sieges des paternalistisch-apollinischen Prinzips – um hier einen Begriff aus dem Werk von Verdis Zeitgenossen Bachofen aufzugreifen – scheint noch nicht gekommen. Das Lebendigbegrabenwerden des Liebespaares hat im Blick auf diese Version des

27 Ergänzend sei bemerkt, dass die Orientalisierung des Alten Ägypten auch in der musikalischen Gestaltung Ausdruck findet. Paul Robinson hat darauf hingewiesen, dass die nur knapp 10 Prozent orientalisierenden Musikelemente der Oper vornehmlich dort platziert sind, wo Frauen auftauchen, so zum Beispiel in den Balletteinlagen der maurischen Sklavinnen und beim Auftritt der Priesterinnen, daneben auch bei der Weiheszene im IsisTempel und schließlich bei der Grabszene im letzten Akt; vgl. ebd., S. 137. 218

VERDIS AIDA UND DIE ORIENTALISIERUNG DES ÄGYPTENBILDES

Verhältnisses von Orient und Okzident so durchaus auch symbolische Bedeutung. Verdis Aida reiht sich also trotz der Bemühungen des Librettisten, der historischen Realität des ägyptischen Pharaonenreiches gerecht zu werden, und trotz der insgesamt sehr komplexen, von Ambivalenzen keineswegs freien Behandlung des Stoffes in die zeitgenössischen Phantasmagorien über den Alten Orient ein. Amneris und Ramphis stehen für das ältere mutterrechtliche Regime, Radames und Aida aber für eine neue paternalistische Ordnung, für die die Zeit damals noch nicht reif war. Aida folgt dem Mann, und zwar bis in den gemeinsamen Tod hinein. Nun hat sich aber das Geschlechterverhältnis, dem die Sympathie der Produzenten des Bühnenwerks zweifellos galt, in den knapp anderthalb Jahrhunderten seit seiner Uraufführung von Verdis Werk im neuerbauten Opernhaus von Kairo entschieden gewandelt. Der zeitgenössische Theaterbesucher kann mit den leidenschaftlichen Liebes- und patriotischen Vaterlandsbeschwörungen, der Ergebenheit und Unterwürfigkeit der Titelfigur nicht mehr allzu viel anfangen. Auch jene Form der romantischen Liebe, die ihre Erfüllung letztlich in der Entsagung findet, ist uns heute fremd geworden. Die selbstbewusste und selbstbestimmte Königstochter Amneris steht gegenwärtigen Erfahrungen und Empfindungen zweifellos näher als ihre sanfte Antagonistin. In musikalischen Werken sind Umdeutungen des Stoffes bekanntlich weit engere Grenzen gesetzt als in reinen Sprechstücken. Umso größer wäre indes die Herausforderung, die Aida einmal so zu inszenieren, dass sich die in ihr durchaus angelegten alternierenden Konfigurationen des Geschlechtsverhältnisses für uns neu entdecken ließen.28

Literatur Assmann, Jan: Ägypten. Eine Sinngeschichte, München, Wien: Carl Hanser 1996. Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt am Main: S. Fischer 2000. Bergeron, Katherine: „Verdi’s Egyptian spectacle: On the colonial subject of Aida“, in: Cambridge Opera Journal 14 (2002), S. 149-159.

28 Eine erste Fassung des vorliegenden Aufsatzes trug ich im November 2008 in der Stuttgarter Staatsoper aus Anlass einer Neuaufführung von Verdis Aida in der Inszenierung von Karsten Wiegand vor. Für die freundliche Einladung und die anregenden Diskussionen möchte ich an dieser Stelle Angela Beuerle herzlich danken. 219

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Brie, Friedrich: Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Band XI, 3. Abhandlung, Heidelberg: Carl Winter 1920. Gradenwitz, Peter: „Félicien David (1810-1876) and French Romantic Orientalism“, in: The Musical Quarterly 62/4 (1976), S. 471-506. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, Übers. A. Horneffer, Hg. H. W. Haussig, Stuttgart: Alfred Kröner 41971. Jones, Robert Alun/Anservitz, Robert M.: „Saint-Simon and Saint-Simonism: A Weberian View“, in: The American Journal of Sociology 80/5 (1975), S. 1095-1123. Kohl, Karl-Heinz: „Cherchez la femme d’Orient“, in: Sievernich/Budde (Hg.), Europa und der Orient (1989), S. 356-367. Mitchell, Timothy: Colonising Egypt, Berkeley, Los Angeles, London: University of Berkeley Press 1991. Mitchell, Timothy: „Die Welt als Ausstellung“, in: Sebastian Conrad/ Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main, New York: Campus, 2002. Robinson, Paul: „Is Aida an orientalist opera?“, in: Cambridge Opera Journal 5/2 (1994), S. 133-140. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994. Schweikert, Uwe: „Aida“, in: Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hg.), Verdi Handbuch, Stuttgart: Metzler 2001, S. 461-474. Sievernich, Gereon/Budde, Hendrik (Hg.): Europa und der Orient. 8001900. Ausstellungskatalog, Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1989. Syndram, Dirk: „Das Erbe der Pharaonen: Zur Ikonographie Ägyptens in Europa“, in: Sievernich/Budde (Hg.), Europa und der Orient (1989), S. 18-57. Zinser, Hartmut: Der Mythos des Mutterrechts. Verhandlung von drei aktuellen Theorien des Geschlechterkampfes, Berlin, Wien: Ullstein 1981.

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Musik zwischen den Welten. Zur Entwicklung des modernen Musiklebens in arabischen Staaten INES WEINRICH

„Das erste Konzert, das ich als kleiner Junge (Mitte der vierziger Jahre) besuchte, war ein mich völlig überforderndes, nicht enden wollendes, aber gleichwohl eindrucksvolles Konzert von Umm Kalthoum, die in dieser Zeit bereits die wichtigste Vertreterin des klassischen arabischen Gesangs war. Ich konnte damals nicht wissen, daß ihre schwer verständliche Musik von einer Ästhetik herrührte, deren Hauptmerkmal eine Variationstechnik in ständiger Wiederholung war, eine Art meditativer Fixierung auf ein oder zwei kurze Schemata fast ohne jegliche Spannungssteigerung durch einen Entwicklungsgedanken (im Sinne Beethovens). Erst später begriff ich, daß der Sinn der Musik eben nicht darin lag, sich bis zum Abschluß einer logisch aufgebauten Struktur vorzuarbeiten, sondern darin, Seitenwege einzuschlagen, sich den Details und minimalen Veränderungen zu widmen, abzuschweifen und von jeder Abschweifung nochmals abzuschweifen. Und weil ich aufgrund meiner vorwiegend abendländischen Erziehung an ein Ethos der Produktivität, eines ständigen Hürdennehmens gewohnt war, konnte ich mit der von Umm Kalthoum praktizierten Kunstrichtung damals wenig anfangen. Aber sie grub sich unter der Oberfläche meines Bewußtseins ein und schlummerte dort in Vergessenheit, bis in den letzten Jahren mein Interesse an der arabischen Kultur wiedererwachte.

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INES WEINRICH

Ich entdeckte die Sängerin für mich wieder und konnte jetzt ihre Musik zum Teil auch mit der abendländischen Musik in Zusammenhang bringen.“1

An diesem Zitat ist mehreres bemerkenswert. Es vergleicht arabische Musik, hier vertreten durch Umm Kul×Ùm (eingedeutscht u. a.: Umm Kalthoum), eine der erfolgreichsten, wenn nicht die erfolgreichste arabische Sängerin des 20. Jahrhunderts, mit abendländischer (im englischen Original: „Western classical“2) Musik, vertreten durch den deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven (1770-1827). Für den Autor handelt es sich dabei um zwei einander entgegen gesetzte Musikkulturen, die anscheinend nichts gemeinsam haben, ja sogar jeweils das gegensätzlich Andere verkörpern. Erst nach langer Zeit – es handelt sich um mehrere Jahrzehnte – gelingt es dem Autor, eine Verbindung zwischen beiden Musikkulturen herzustellen. Autor des Zitats ist kein geringerer als Edward Said. Es stammt aus einer Reihe von Vorlesungen, die er 1989 auf Einladung eines Kollegen an der University of California in Irvine gehalten hat. Edward Said hat sich immer wieder mit Musik beschäftigt, sowohl als praktizierender Musiker – die besagten Vorlesungen hat er durch Musikbeispiele illustriert, die er teils selbst auf dem Klavier realisierte – als auch in zahlreichen Schriften. Die Vorlesungen erschienen 1991 in Buchform: Musical Elaborations (deutsch: Der wohltemperierte Satz, 1995).3 Schauen wir uns seine Beschreibung genauer an. Der übergeordnete Eindruck ist der einer Ambivalenz: die Konzerterfahrung ist ästhetisch unbefriedigend, gleichwohl hat sie etwas Faszinierendes. Diese Kombination bei der Beschreibung von Fremdem ist häufig anzutreffen. Said gibt zu, dass er die Musik nicht verstanden hat, dass sie ihn überforderte. Auch das ist ein Hinweis, dass die Musik ihm fremd war. Die Erwähnung des Zeitpunktes bzw. seines jungen Alters (im englischen Original: „very small boy“) – Said ist damals etwa zehn Jahre alt gewesen – mag die Erklärung nahelegen wollen, das Alter sei ein Grund gewesen, dass die Musik (noch) nicht verstanden werden konnte. Dies ist in zweierlei Hinsicht nicht plausibel. Zunächst finden wir Hinweise in arabischen Biographien, dass Jungen in demselben Alter die Art von Musik, wie sie Umm Kul×Ùm vertrat, durchaus zu schätzen wussten, ja sich sogar von zu Hause wegschlichen, um Konzerte zu

1

2 3

Edward W. Said: Musical Elaborations, New York: Columbia University Press 1991; dt. Übersetzung (Christine Mrowietz), Der wohltemperierte Satz. Musik, Interpretation und Kritik, München, Wien: Hanser 1995, S. 128f. E. W. Said: Musical Elaborations, S. 98. Alle folgenden Verweise auf die englische Fassung des Zitats beziehen sich auf dieselbe Seite. S. Anmerkung 1.

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MUSIK ZWISCHEN DEN WELTEN

hören.4 Said selbst schreibt in seiner Biographie, im Alter von sechs Jahren Klavierunterricht erhalten zu haben. Seine große Leidenschaft aber war die Oper, und er erschloss sich als Kind eine neue Welt durch das Hören von westlicher Klassik – v. a. Opern – im Radio und durch die Schallplatten seiner Eltern, während er sich im Klavierunterricht eher zu wenig gefordert fühlte.5 Diese Art von Musik war ihm also nicht zu schwer zu verstehen. Daher ist die Überforderung auf die Fremdartigkeit zurückzuführen und nicht auf einen Grad von Komplexheit, der erst ab einem bestimmten Alter begriffen werden kann. Vielsagend, ja fast schon verräterisch sind die Begriffe, die Said zur Beschreibung der jeweiligen Musikkulturen verwendet. „Meditativ“ ist eine geläufige dem Orient zugeschriebene Eigenschaft. Das Attribut gehört in dasselbe Wortfeld wie „spirituell“ oder „sinnlich“. „Kurze Schemata“ verweisen auf eine wenig komplexe Kunstform, die mehr Natur als Kunst ist. Auch das finden wir zuvor an prominenter Stelle: Claude Debussy (1862-1918) war von indonesischer Gamelanmusik, die er bezeichnenderweise auf Weltausstellungen in Europa hörte, fasziniert – hielt diese Art von Musik aber trotz aller Wertschätzung für „Natur“.6 Die Formulierungen Saids legen darüber hinaus nahe, dass das musikalische Geschehen sich in einem reinen Neben- bzw. Hintereinander erschöpft, ohne innere Zusammenhänge. „Entwicklungsgedanke“ dagegen bedeutet Fortschritt, „Logik“ ebenfalls. Darüber hinaus sind beide Begriffe mit „Rationalität“ konnotiert, während „Natur“ bzw. die „meditative Fixierung auf ein oder zwei kurze Schemata“ dem musikalischen Geschehen eine bewusste Gestaltung abspricht. „Abschweifung“ stellt vielmehr das Gegenteil von „Entwicklung“ und „Logik“ dar und ist damit ein Hindernis für die allein der westlichen Kultur zugeordnete „Produktivität“. Die Schlüsselworte werden im Folgenden tabellarisch einander gegenübergestellt:

4

5 6

Ein prominentes Beispiel ist der ägyptische Musiker MuÎammad ÝAbd alWahhÁb, vgl. RatÐba al-ÍifnÐ: MuÎammad ÝAbd al-WahhÁb. ÍayÁtuhÙ wafannuhÙ, Kairo: DÁr aš-šurÙq 1991, S. 16. Vgl. Edward W. Said: Out of Place. A Memoir, New York: Alfred A. Knopf 1999, S. 35, 96, 97. Vgl. Hans Oesch: „Was bedeutet asiatische Musik heute in westlichen Stilkreisen?“, in: Dieter Rexroth (Hg.), Zwischen den Grenzen. Zum Aspekt des „Nationalen“ in der Neuen Musik, Mainz: Edition Schott 1979, S. 128-139, hier S. 129f. 223

INES WEINRICH

arabisch Variationstechnik in ständiger Wiederholung meditative Fixierung auf 1-2 kurze Schemata Seitenwege einschlagen, sich Details widmen abschweifen und von jeder Abschweifung nochmals abschweifen

europäisch Spannungssteigerung durch einen Entwicklungsgedanken

logisch aufgebaute Struktur Ethos der Produktivität und des ständigen Hürdennehmens

Kondensiert tauchen hier nicht nur sich gegenseitig ausschließende Gestaltungsprinzipien auf, sondern auch negative respektive positive Konnotationen derselben. Streicht man den Gegenstand, um den es hier konkret geht – die Musik –, so bleiben bemerkenswert bekannte binäre Zuordnungen zu „Orient“ und „Okzident“ stehen. Auf der einen Seite finden wir einen Orient, der in Unproduktivität verharrt, zu keiner kraftvollen schöpferischen Leistung fähig, weil er zu kleinschrittig und orientierungslos sich in Bedeutungslosigkeiten verliert. Ihm gegenüber steht der rationale Okzident, der durch geistige logische Durchdringung ein Höchstmaß an Produktivität zu erreichen in der Lage ist. Dies ist in besonderer Weise verstörend, da es sich weder um einen besonders alten Text, der vor dem Aufkommen der postkolonialen Studien geschrieben wurde, noch um einen unverbesserlichen Autor handelt, der von den Erkenntnissen jüngerer Entwicklungen der Kulturwissenschaften unberührt geblieben ist. Wie kommt es also, dass ein Autor, der sich so vehement für eine Befreiung des „Orients“ aus der Definitionshoheit der Mächtigen einsetzte, bei dieser Beschreibung selbst in den von ihm anderswo so scharf kritisierten Kategorien feststeckt? Es soll an dieser Stelle nicht um eine Entlarvung Saids gehen, die darauf abzielt, sein Wirken zu diskreditieren. Es geht auch nicht darum, ihm aufs Neue Ungenauigkeiten und Überzogenheit vorzuwerfen – dies wurde in genügender Weise getan, denn Said zu kritisieren ist ebenso beliebt (gewesen), wie ihn zu verehren. Ein Großteil der deutschen Rezeption konzentrierte sich vor allem darauf, ihm Fehler und Inkonsequenzen in Orientalism nachzuweisen und spätere Entwicklungen in seinen Schriften auszublenden, ein Phänomen, das Andrea Polaschegg pointiert dessen „konsequente Erstlektüre“ nennt.7 Hier interessiert viel7

Zur unterschiedlichen Rezeption Saids im deutschem und anglo-amerikanischem Wissenschaftsbetrieb vgl. Birgit Schäbler: „Post-koloniale Konstruktionen des Selbst als Wissenschaft: Anmerkungen einer Nahost-Historikerin zu Leben und Werk Edward Saids“, in: Alf Lüdtke/Reiner Prass (Hg.), Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln, Weimar,

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MUSIK ZWISCHEN DEN WELTEN

mehr der Rahmen, der eine solche Beschreibung möglich macht: was sind die politischen, intellektuellen und sozialen Bedingungen, unter denen Schreiben über Musik geschieht? Wie wird arabische Musik wahrgenommen, wie haben sich Muster in ihrer Beschreibung entwickelt? Wie stehen diese im Verhältnis zur konkreten Produktion von Musik?

Wahrnehmung: Musik hören Hören, Einordnen und Beurteilen von Musik hängen in erster Linie von Hörerfahrungen und Hörgewohnheiten ab. Menschen sind in ihrer Umgebung ständig Tönen ausgesetzt, die meiste Zeit überwiegend unbewusst. Dennoch speichern sie diese Hörerfahrungen; und auch Menschen, die von sich behaupten, gänzlich unmusikalisch zu sein, haben einen reichen Vorrat an Melodien und Rhythmen im Langzeitgedächtnis gespeichert. Sie können beispielsweise Melodien mitsummen oder erkennen, wenn jemand einen Ton durch einen anderen ersetzt. Abgesehen von konkreten Rhythmen und Melodien haben Menschen auch allgemeine musikalische Prinzipien gespeichert wie Tonleitern und die Strukturen eines Tonsystems, z. B. des europäischen Tonsystems mit seinen Tonabständen und Harmoniefolgen, ohne diese im Einzelnen benennen oder erklären zu können. All diese kulturell erworbenen musikalischen Vorerfahrungen werden genutzt, um neu Gehörtes zu strukturieren und einzuordnen. Neben musikalischen Prinzipien werden auch Ordnungsmechanismen wie Abläufe und Schemata im Gedächtnis behalten und abgerufen. Dabei kann es sich um die Struktur einer Symphonie oder auch eines Popsongs handeln. Diese sind mit geringfügigen Veränderungen immer gleich. Das Verhältnis zwischen Gewohntem und Ungewohntem ist ausschlaggebend dafür, wie viel Aufmerksamkeit ein Musikstück erfährt und wie hoch es geschätzt wird. Das gesamte kommerzielle Musikgeschäft fußt heute auf diesen Prinzipien.8 Kann ein Mensch beim Hören nicht auf vorgespeicherte bekannte Strukturen zurückgreifen, wird das Hörerlebnis als unbefriedigend oder gar störend empfunden. Im positivsten Falle entsteht keine Reaktion, und das Gehörte wird sofort wieder vergessen. Es fehlen Koordinaten, die eine Orientierung und Einordnung erlauben. Nichts anderes belegen

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Wien: Böhlau 2008, S. 88-91; Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S. 28-30; zur „konsequenten Erstlektüre“ ebd., S. 29. Vgl. Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart: Schattauer 2008, S. 132ff., 166. 225

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auch frühe Zeugnisse über die gegenseitige Wahrnehmung von europäischer und arabischer Musik. Zu glatt, reizlos, mit zu wenigen Nuancen, überladen und zu wuchtig, lauteten oft frühe arabische Reaktionen auf europäische Musik.9 Dies hängt damit zusammen, dass das arabische Tonsystem mehr Abstände zwischen zwei Tonstufen kennt als die Ganzund Halbtonschritte, die in Europa verwendet wurden und werden. Eine melodische Linie entfaltet sich langsam und in kleinen Schritten, über viele Stationen hinweg, die Begleitung ist filigran und spielt leicht versetzt, so dass Reibungen entstehen. Diese musikalische Textur wurde umgekehrt von Europäern als dissonant empfunden, das gesamte Klangbild erschien ihnen armselig, während alles, was für sie eine gelungene Darbietung ausmachte, fehlte: eine überschaubare Melodie, Mehrstimmigkeit durch funktionsharmonische Begleitung oder polyphone Technik, ein runder satter Klang durch die Gleichzeitigkeit verschiedener instrumentaler Klangfarben. Zum herausragenden Merkmal jeglicher „orientalischer“ Musik avancierte in Europa dann auch die ihr zugeschriebene „Monotonie“. Viele der in europäischen Kompositionen eingesetzten Stilmittel, die etwas „Orientalisches“ ausdrücken sollten, versuchten diesen Höreindruck herzustellen: häufige Wiederholungen, Melodien mit kurzen Motiven, die Begleitung spielt unisono, oder Oktave und Quinte werden verstärkt.10 Dass es aber bei längerer Beschäftigung, Offenheit und Interesse nicht unmöglich ist, einen Zugang zu einer zunächst fremden Musik zu entwickeln, zeigt das Beispiel von Edward William Lane. Der englische Gelehrte hielt sich zwischen 1825 und 1835 zu Studienzwecken fünf Jahre in Ägypten auf und ist einer der wenigen Reisenden, der zwischen verschiedenen musikalischen Stilen unterscheidet. In seinem bekannten Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians schreibt er: „I must confess that I generally take great delight in the more refined kind of music which I occasionally hear in Egypt ; and the more I become habituated to the style, the more I am pleased with it ; though, at the same time, I must state that I have not met with many Europeans who enjoy it in the same degree as myself.“11

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Vgl. Peter Gradenwitz: Musik zwischen Orient und Okzident, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1977, S. 245ff. 10 Vgl. dazu auch ebd., S. 193ff., 301. 11 Edward William Lane: An Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians. The Definitive 1860 Edition, Cairo, New York: The American University in Cairo Press 2003, S. 354. Die erste Fassung des Buches erschien 1835; Lane verbrachte später weitere sieben Jahre in Ägypten und ließ für die Ausgabe von 1860 einige Änderungen vornehmen. 226

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Eine Musik mit ihrem Bedeutungssystem ist somit „lernbar“ wie eine Sprache. Umgekehrt haben ab dem späten 19. Jahrhundert viele Araber europäische Musik erlernt, sei es durch europäische Lehrerinnen und Lehrer, die in arabischen Ländern unterrichteten, oder durch Studienaufenthalte in Europa.12 Etwa zeitgleich zeichnet sich ein neuer Trend ab: es wird die Wahrnehmung dominant, dass von arabischer Seite aus europäische Musik durchaus geschätzt wird, während umgekehrt arabische Musik von Europäern als defizitär deklariert wird. Es kommt also zu einem Ungleichgewicht, dessen Gefälle weiter verstärkt wird durch den Umstand, dass es von arabischer Seite aus Stimmen gibt, die sich dem europäischen Urteil anschließen. Sie stellen Forderungen an die arabische Musikkultur, die deren angebliche Defizite im Vergleich zur europäischen Musikkultur ausgleichen sollen. So wie Lane arabische Musik schätzen lernte, lernten viele Araber europäische Musik schätzen und mehr: Sie internalisierten die von außen zugeschriebenen Beurteilungen ihrer Musikkultur und bemühten sich in der Folge entsprechend, ihre Musik dem vermeintlich höher stehenden Modell anzupassen. Dieser Vorgang wurde durch die intellektuellen und politischen Rahmenbedingungen mitbestimmt. Die Beurteilung arabischer Musik durch die meisten europäischen Reisenden, die diese nach Europa kommunizierten, beruhte auf der ausbleibenden Erfüllung einer Erwartungshaltung. Sie vermissten das, was sie als Angehörige der Oberschicht aus ihrer eigenen Musikkultur kannten. Diese Haltung war den Europäern durchaus selbstverständlich, entsprach sie doch den als natürlich empfundenen kulturellen Entwicklungen. Bestimmt wurden diese durch den im 19. Jahrhundert vorherrschenden Evolutionsgedanken, der andere Kulturen und deren Spielarten immer nur als Vorstufen der eigenen sehen konnte. So urteilt Philip Bohlman über den intellektuellen Hintergrund, vor dem viele Musikstudien in Europa erfolgten: „The preoccupation with stages led to a belief among many writers that theirs, that is the music of early 19th-century European civilization, was a culmination of all that came before and could not be surpassed by any music to follow. The rationale behind this belief was the equation of the three stages of civi-

12 Vgl. Ali Jihad Racy: Musical Change and Commercial Recording in Egypt 1904-1932, Ph.D. Dissertation, University of Illinois 1977, S. 34-39; allein im Jahr 1923 wurden über 3.000 Klaviere nach Kairo importiert (vgl. Scott Marcus: Arab Music Theory in the Modern Period, Los Angeles: Ph.D. Dissertation, University of California 1989, S. 22). Ohne hier im Einzelnen näher darauf eingehen zu können, sei auf die Militärmusikschulen (in Ägypten ab den 1820er Jahren) und auf Missionsschulen hingewiesen, die beide ebenfalls europäische Musik lehrten. 227

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lization, referred to by a number of rubrics, such as Comte’s theological, me13 taphysical, and scientific […], with melody, polyphony, and harmony.“

Die so historisch gebundene Bewertung arabischer Musik ist ein Fakt, der also nicht weiter verwundern sollte. Erstaunlich sind aber die Wirkungsmächtigkeit dieser Bewertung und die konkreten Resultate, die sie nach sich zog.

Anpassung: Musik organisieren Wie sahen die Rahmenbedingungen am Ende des 19. Jahrhunderts für die Neuorganisation weiter Teile des Musiklebens im Nahen Osten aus, die wohlgemerkt nicht allein von innermusikalischen Entwicklungen oder ästhetischen Überlegungen geleitet waren? Die ökonomische und politische Überlegenheit Europas ließ es in den Augen vieler im Nahen Osten als Modell erscheinen; ökonomische und soziale Umwälzungen schufen Freiräume für Umgestaltungen. Eine Reihe von europäischen Institutionen wurde übernommen, während alte Institutionen – beispielsweise Gilden, in denen auch Musiker organisiert waren – sich auflösten und eine Neuorganisation des Lehrsystems insgesamt stattfand. Private Musikschulen entstanden, und die Anfangsstrukturen einer öffentlichen formellen Musikausbildung bildeten sich heraus.14 All dies wurde von zahlreichen Diskussionen begleitet. Im Vergleich mit europäischer Musik wurde von einem Teil der arabischen Gesellschaft – v. a. in der Oberschicht – das vermisst, was man in der eigenen Musikkultur offensichtlich nicht fand: ein schriftliches Korpus als „klassisches musikalisches Erbe“, eine handliche Musiktheorie, möglichst in Buchform, die zu didaktischen Zwecken verwendet werden kann,15 und schließlich Mehrstimmigkeit in Form von Harmonie. Auch das Fehlen bestimmter Genres wie programmatische Musik, Oper oder Musiktheater wurde

13 Philip V. Bohlman: „R. G. Kiesewetter’s Die Musik der Araber: A Pioneering Ethnomusicological Study of Arabic Writings on Music“, in: Asian Music 18 (1986), S. 168. 14 Der Hinweis auf strukturelle Änderungen ist mir wichtig. Es soll keinesfalls der Eindruck einer Klage um den missglückten „Artenschutz“ einer Musikkultur entstehen. Musik ist immer Veränderungen unterworfen. Allein die Richtung der Entwicklung und deren Motivation sind in diesem Rahmen Gegenstand. 15 Arabische Musiktheorie war über Jahrhunderte zwar in schriftlichen Traktaten niedergelegt, doch die konkrete Musik und das unmittelbar zur Musikpraxis gehörende Regelwerk waren bis ins 19. Jahrhundert oral tradiert worden. 228

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thematisiert. Scott Marcus hat die Transformationen in der modernen arabischen Musiktheorie im Detail untersucht. Seine Beobachtungen zum frühen 20. Jahrhundert fangen die Situation anschaulich ein: „A large percentage of the well-to-do classes were so taken with the idea of Western cultural superiority that they avoided their own musical heritage. […] Accepting as fact the perception that Western music represented a more highly evolved form of cultural expression, they agreed that Arab music needed to adopt many of the features that contributed to Western music’s more ‚advanced‘ state. We find this idea expressed as one of the main objectives of numerous music clubs, institutes, conferences, and publications from the 1920s to the present day.“16

Musikalische Fragen wurden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in den neu entstandenen Zeitschriften diskutiert, später bildeten sich spezialisierte Musikzeitschriften und -organisationen heraus, vor allem in Kairo, Damaskus und Aleppo. Katalysatorische Wirkung und Vorbildcharakter hatte die erste gesamtarabische Konferenz für Arabische Musik, die 1932 unter Schirmherrschaft von König Faruk in Kairo einberufen wurde und an der Delegationen aus verschiedenen arabischen Regionen sowie ausländische Wissenschaftler teilnahmen. Die Kongressakten dokumentieren damals verwendete und bekannte Skalen und Rhythmen und haben in vielen heutigen Staaten die Curricula beeinflusst.17 Mit ihnen wurde der Versuch unternommen, eine Bestandaufnahme und gegebenenfalls Vereinheitlichung der Musiktheorie vorzulegen. Es hat unzählige Nachfolgekonferenzen gegeben, die sich immer wieder ähnlichen Themenstellungen widmeten.18 Die Vorläufer der heutigen in fast allen arabischen Staaten existierenden staatlichen Konservatorien für Musik waren die Musikclubs und -schulen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf private Initiativen hin entstanden.19 Teilweise wurden diese Gründungen mit Hilfestellung oder Beratung europäischer Experten durchgeführt. Unterrichtet wurde zum großen Teil bereits mit einer leicht modifizierten 16 S. Marcus: Arab Music Theory, S. 30f. Vgl. für weitere und frühere Beispiele auch ebd., S. 21, 24; A. J. Racy: Musical Change, S. 36, 42ff. 17 Vgl. KitÁb muÞtamar al-mÙsÐqÁ l-Ýarabiyya, Kairo: al-MaÔbaÝa al-amÐriyya 1932. 18 AbÙ š-ŠÁmÁt, NabÐla: „al-BuÎÙ× wa-t-tawÒiyÁt. Íawla mahraÊÁn wa-muÞtamar al-mÙsÐqÁ l-Ýarabiyya a×-×ÁnÐ fÐ l-QÁhira“, in: TišrÐn, 23.11.1993. 19 Vgl. für Ägypten A. J. Racy: Musical Change, S. 34ff.; S. Marcus: Arab Musical Theory, S. 26ff.; für Syrien ÝAdnÁn Ibn Åurayl: al-MÙsÐqÁ fÐ SÙriyya. al-BaÎ× al-mÙsÐqÐ wa-l-funÙn al-mÙsÐqiyya 1887-1987, Damaskus: ÓlÁsdÁr 1989, S. 189ff. 229

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europäischen Notenschrift und mit Solmisationssilben. Europäische Musiktheorie war häufig ganz selbstverständlich Teil der Ausbildung, so auch bei der Einführung von formellem Musikunterricht in den Schulen in Kairo 1931.20 Von offizieller Seite – oft Komitees in Radiostationen, später von Kulturministerien – wurden Handlungsanreichungen veröffentlicht, in welcher Weise komponiert werden sollte: beispielsweise empfahl der Kairoer Rundfunk in den 1940er Jahren u. a. die Komposition von Instrumentalgenres, kürzeren Liedern und die Verwendung von Harmonisierung.21 Gleichzeitig ging die Organisation des Musiklebens immer stärker in staatliche Hände über, und hier wechselten die kulturpolitischen Ausrichtungen mit den politischen und ideologischen Umstürzen der kommenden Jahrzehnte.

Wandel: Musik praktizieren Mit diesen Reformen ist ein Wandel in der Aufführungspraxis verbunden. Das arabische Orchester (taÌt) des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestand aus vier jeweils einfach besetzten Melodieinstrumenten (Geige, Laute, Zither, Rohrflöte) und Trommel. Der Sänger oder die Sängerin hatte die führende Rolle inne, die Begleitung geschah auf Absprache bzw. in ständiger nonverbaler Kommunikation zwischen den einzelnen Instrumentalisten. Die typische musikalische Begleitung ist heterophon. Dies manifestiert sich auf zweierlei Arten: überlappend oder gleichzeitig. Die erste Art ist v. a. bei der Gesangsbegleitung zu hören: die Instrumente spielen die Melodie, doch nicht exakt zusammen, sondern leicht zeitversetzt. Spielen die Instrumente gleichzeitig die melodische Linie, dann spielen sie nicht exakt dasselbe, sondern erzeugen Reibung und Spannung durch subtile Veränderungen der Melodie. Dazu gehören Auslassungen von Tönen oder deren Antizipierung, Verzögerungen oder Synkopisierung. Zusätzliche Nuancen werden durch Verzierungen erzielt. Einige Techniken sind nicht unähnlich denen, die man in manchen Jazzaufführungen beobachten kann. „[…], the performers produce interlocking melodic structures and intricate heterorhythms. A musical ‚note‘ may be deliberately dropped out by one instru-

20 KitÁb muÞtamar, S. 368ff. 21 Vgl. Salwa El-Shawan Castelo-Branco: „Modernes Ägypten“, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume, zweite neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 1, Kassel u. a.: Bärenreiter, Stuttgart: Metzler 1994, Sp. 307. 230

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ment to be provided by another, or sometimes an instrument may play a certain portion of it, thus leaving it for another instrument to ‚pick up‘ the other portion. Realized spontaneously in actual performance, heterophony is a highly coordinated process rather than a mere confluence of isolated musical rendi22 tions or a collection of simultaneous variations of one fixed tune.“

Diese Spielweise erfordert Konzentration, gute Kenntnis des Tonsystems und eine hohe Kommunikationsfähigkeit. Von einigen Sängerinnen und Sängern des 20. Jahrhunderts ist beispielsweise bekannt, dass sie nur mit bestimmten Musikern zusammen auftraten, mit denen sie nahezu blind auf der Bühne interagieren konnten. Verglichen mit den großen europäischen Orchestern und dem leicht entstehenden Vorwurf des „ungeordneten Zusammenspiels“ ausgesetzt, wurde die nahezu kammermusikalische Qualität des traditionellen arabischen Ensembles als Manko empfunden. Im Zuge der Erneuerungen wurde das Ensemble sukzessive erweitert. Diese Entwicklung nahm in Ägypten ihren Anfang und wurde anschließend auch in anderen arabischen Regionen nachvollzogen.23 Zunächst wurden nur die Geigen verdoppelt, dann auch die restlichen Instrumente; hinzu kamen eine weitere Trommel, ein bis zwei Celli, Kontrabass, Flöte und Akkordeon. Gab es in den 1930er Jahren ein bis zwei Geigen, so waren es in den 1940ern drei bis fünf und in den 1960ern bereits 15 Geigen.24 In den 1960ern wurden je nach Geschmack auch elektrische Instrumente eingesetzt. Mit der neuen Besetzung hielt auch ein neuer Name für das Ensemble Einzug: firqa (wörtl.: Gruppe, Abteilung). Die hergebrachte Art der Begleitung war nicht mehr möglich, dafür gibt es nun präskriptive Notenschrift und einen Dirigenten. Meist wird ein Chor eingesetzt, und viele zuvor solistisch ausgeführte Stücke werden chorisch aufgeführt. Die heutigen in fast allen Ländern vorhandenen Staatsensembles für arabische Musik haben in der Regel keine elektrischen Instrumente. 22 Ali Jihad Racy: Making Music in the Arab World. The Culture and Artistry of Óarab, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 80; ausführlich zum gesamten Komplex des musikalischen Zusammenspiels vgl. ebd., S. 76-96. 23 Vgl. für ähnliche Entwicklungen in Musikorganisation, -ausbildung und -praxis in anderen Regionen beispielsweise Jürgen Elsner: „Modernisierungen in der Musikkultur des Jemen in unserem Jahrhundert“, in: Doris Stockmann/Jens Henrik Koudal (Hg.), Historical Studies on Folk and Traditional Music, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 1997, S. 177-190; Ruth Davis: Ma’luf. Reflections on the Arab Andalusian Music of Tunisia, Lanham, MD: Scarecrow Press 2005. 24 Vgl. Salwa El-Shawan: „Traditional Arab Music Ensembles in Egypt since 1967: ‚The Continuity of Tradition within a Contemporary Framework‘?“, in: Ethnomusicology 28 (1984), S. 271-288, hier S. 275. 231

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Laute, Zither und Rohrflöte sind oft nur zwei- bis dreifach vorhanden, dafür gibt es einen ausgedehnten Streichapparat und mehrere Schlaginstrumente. Bei der Entwicklung dieser Einrichtung hat durchaus das sowjetische Modell Pate gestanden. Die zum kulturellen Erbe (turÁ×) gehörige Musik wurde für einen orchestralen Satz arrangiert, zeitweise wurde dafür Harmonisierung empfohlen. Der Musiker und langjährige Leiter des ägyptischen Ensembles für arabische Musik ÝAbd al-ÍalÐm Nuwayra (1916-1975) gibt außergewöhnlich detaillierte Anweisungen, wie die Stücke für eine Orchesteraufführung zu behandeln seien.25

Zeitgenössisches Musikleben Neben den Ensembles für arabische Musik unterhalten viele Staaten heute ein Symphonieorchester. Die staatlichen Musikkonservatorien sind so aufgebaut, dass sie in der Regel auch eine fundierte Ausbildung in westlicher Musiktheorie bieten. Viele sind zweigeteilt in einen qism ÈarbÐ/šarqÐ (wörtl.: eine östliche/westliche Abteilung). Dies ist bemerkenswert, denn eine parallele Abteilung für chinesische, arabische oder indische Musik wäre in Deutschland kaum durchsetzungsfähig an den Musikhochschulen. Nur die Perzeption der europäischen Musik als eine Art internationale Musiksprache, losgelöst von regionaler Herkunft, und als Zielvorgabe für künftige musikalische Entwicklungen kann dies erklären oder rechtfertigen. Der ägyptische Konzertpianist und Musikkritiker Selim Sednaoui will die europäische Musik etwa dreier Jahrhunderte als eine universale Technik verstanden wissen.26 Beispielhaft soll im Folgenden das staatlich organisierte Kulturleben in drei Ländern näher beschrieben werden. In Ägypten, wo viele Änderungen und Neuerungen der arabischen Musik ihren Anfang nahmen, existieren heute mehrere Ensembles und Orchester nebeneinander. Ihr Zentrum ist das Kairoer Opernhaus mit mehreren Theater- und Konzertsälen. Dabei handelt es sich aber nicht um das von dem Khediven Ismail erbaute und 1869 mit Rigoletto von Guiseppe Verdi (1831-1901) eingeweihte Opernhaus. Dieses wurde 1971 durch einen Brand zerstört, und 1988 wurde das mit Geldern der japanischen Regierung errichtete heutige Opernhaus eingeweiht. Auf 25 Vgl. ÝAbd al-ÍalÐm Nuwayra: „QawÁlib wa-tarkÐbÁt fÐ t-taÞlÐf al-mÙsÐqГ, in: al-MaÊalla al-mÙsÐqiyya 55/56 (1987), S. 34-42. 26 Vgl. Selim Sednaoui: „Western Classical Music in Umm Kulthum’s Country“, in: Sherifa Zuhur (Hg.), Images of Enchantment. Visual and Performing Arts of the Middle East, Cairo: The American University in Cairo Press 1998, S. 123-134, hier S. 123. 232

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dem Programm stehen Symphonie- und Kammerkonzerte, Oper, Ballet und arabische Musik sowie Gastspiele ausländischer Ensembles. Die wichtigsten Orchester sind das Nationale Ensemble für Arabische Musik (al-Firqa al-qawmiyya al-Ýarabiyya li-l-mÙsÐqÁ) sowie das Kairoer Symphonieorchester (ØrkistrÁ l-QÁhira as-sÐmfÙnÐ). Das Nationalkonservatorium sowie das Opernhaus unterhalten darüber hinaus jeweils eigene Orchester. Das Nationalkonservatorium wurde 1959 durch den Musiker AbÙ Bakr Ëayrat (1910-1963) gegründet.27 Westliche Musiktheorie und Instrumentalausbildung wird dort ebenso gelehrt wie arabische Musik. Die Gründung des Symphonieorchesters geht auf dasselbe Jahr zurück. Im Opernhaus treten heute genauso private Ensembles europäischer und arabischer Musik auf.28 Auch in Syrien hat es nach temporären privaten Musikgesellschaften in den 1920ern und Gründungen von Musikinstituten und Symphonieorchestern in den 1940ern sukzessive staatliche Initiativen gegeben. Das heutige Höhere Institut für Musik (al-MaÝhad al-ÝÁlÐ li-l-mÙsÐqÁ) stammt aus dem Jahr 1990 und hat zwei Abteilungen – eine für westliche und eine für orientalische Musik – mit den entsprechenden Orchestern. Aus ihm ging unter dem damaligen Leiter ÑulÎÐ l-WÁdÐ 1993 das Nationale Symphonieorchester (al-Firqa as-sÐmfÙniyya al-waÔaniyya as-sÙriyya) hervor. Zehn Jahre später entstand in der Nähe des Musikinstituts, in dem auch die Theater- und Schauspielschule untergebracht ist, am Umayyadenplatz ein großzügig angelegter Gebäudekomplex: das AsadHaus für Kultur und Kunst (DÁr al-Asad li-×-×aqÁfa wa-l-funÙn). Mit mehreren Theater- und Konzertsälen, einer Galerie und mit einer eigenen Publikationsreihe ausgestattet, erfüllt es die Funktion eines Opernhauses und Kulturinstituts. Zahlreiche Gastspiele ausländischer Ensembles aus der gesamten Welt ergänzen das Programm von zeitgenössischer und traditioneller arabischer Musik, Kammer- und Symphonieor-

27 AbÙ Bakr Ëayrat gehört zur ersten Generation ägyptischer Musiker, die arabische Symphonien nach europäischen Vorbildern schrieben, häufig ägyptische Melodien und Rhythmen mit europäischer Orchestermusik verbindend. Zu seiner Person s. Zayn NaÒÒÁr: al-MÙsÐqÁ l-miÒriyya al-mutaÔawwira, Kairo: al-HayÞa al-miÒriyya al-ÝÁmma li-l-kitÁb 1990, S. 49-59. Der Institution strukturell vorausgegangen sind private Gründungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, später teils unter Schirmherrschaft des Königs. 28 Vgl. S. Sednaoui: „Western Classical Music“; S. El-Shawan Castelo-Branco: „Ägypten“, Sp. 315f. Sednaoui siedelt irrtümlich die Gründung des Symphonieorchesters 1956 an (S. 126). S. auch die Webseiten des Opernhauses und des Symphonieorchesters (http://www.cairoopera.org und http://www.cairo-symphony.com vom 5. Juni 2009). 233

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chestern und Tanzaufführungen.29 Daneben existieren diverse Folkloregruppen und Ensembles arabischer Musik. Das Libanesische Nationale Symphonieorchester (L’Orchestre Symphonique National du Liban)30 existiert seit 1998 und ist dem Nationalkonservatorium für Musik zugeordnet. Das Nationalkonservatorium geht auf eine Gründung durch den Musiker WadÐÝ ÑabrÁ 1910 zurück und wurde 1959 dem libanesischen Bildungsministerium zugeordnet. Viele Musikerinnen und Musiker des Orchesters haben ihren Abschluss am Konservatorium gemacht, und sein Dirigent, WalÐd Çulmiyya, ist gleichzeitig Direktor des Konservatoriums. Das Orchester beherbergt wie auch das ägyptische oder syrische viele ausländische Mitglieder, doch die Internationalität von Symphonieorchestern ist ein weltweites Phänomen und kein arabisches Spezifikum. Daneben existiert seit 2000 das Nationale Orchester für Arabisch-Orientalische Musik (al-ØrkistrÁ l-waÔaniyya li-l-mÙsÐqÁ š-šarq-Ýarabiyya [sic!]),31 ebenfalls unter der Leitung von WalÐd Çulmiyya. Beide Orchester geben monatlich Konzerte in Beirut, sowohl unter WalÐd Çulmiyya als auch unter Gastdirigenten. Auf dem Programm stehen arabische und nicht-arabische Komponisten, symphonische Werke und Kammermusik. Dafür besteht ein eigenes Kammerorchester, dessen Besetzung wechselt. Da es keine eigene Konzerthalle gibt, finden die Konzerte derzeit entweder in der Jesuitenkirche Saint-Joseph oder im Auditorium der gleichnamigen Jesuitenuniversität32 statt; der Eintritt ist in der Regel frei. Der staatliche Fernsehkanal Télé Liban sendet regelmäßig sonntagabends Aufzeichnungen von Kon-

29 Vgl. Ibn Åurayl: al-MÙsÐqÁ fÐ SÙriyya, S. 189, 192, sowie die Webseite des Orchesters (http://www.syriansymphony.org vom 17. Dezember 2009). Das Konservatorium unterhält keine eigene Webseite, zusätzliche Informationen können aber dem arabischen Part der Seite des Orchesters entnommen werden. Im Studienjahr 1993/94 war ich Gaststudentin in der Abteilung für orientalische Musik. Das Asad-Haus unterhält eine eigene Webseite: http://www.opera-syria.org. 30 Umbenannt im Dezember 2009 in L’Orchestre Philharmonique du Liban. Die Konzertankündigungen sind in französischer Sprache. 31 Der Ausdruck „arabisch-orientalisch“ wird statt „arabisch“ bevorzugt; im libanesischen Kontext kann dies ideologisch interpretiert werden als Abgrenzung gegenüber einer als vereinnahmend empfundenen arabischen Kultur und Seitenhieb gegen panarabische Strömungen. 32 Die weitgehend französischsprachige Université Saint-Joseph wurde 1875 durch Jesuiten gegründet. Ihr alter Campus inklusive der traditionsreichen Bibliothèque Orientale liegt neben der großen Kirche, die für Konzerte genutzt wird, im Beiruter Stadtteil Achrafieh. Der neue Campus liegt an der Damaskus-Straße (Rue de Damas) und hat in einem seiner Gebäude ein großes Auditorium integriert, das als Konzertsaal genutzt wird. 234

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zerten. Im Libanon kommen zu privaten Ensembles auch einige an Musikinstituten der Universitäten angeschlossene (arabische) Ensembles.33 Im öffentlichen Musikleben vieler arabischer Länder hat sich ein Dualismus etabliert, der wiederum in Europa schwer vorstellbar wäre. Von offizieller Seite aus wird ein zweispuriges System gefahren, mit Ausbildung in europäischer Musik, Symphonieorchestern und regelmäßigen Aufführungen aus dem Kanon der sogenannten „klassischen Musik“ (hier im populären Gebrauch des Wortes „klassisch“) auf der einen und Ausbildung in arabischer Musik, Staatsensembles für arabische Musik und entsprechenden Aufführungen auf der anderen Seite. In Europa werden Konzerte nicht-europäischer Musik eher als exotische Tupfer im Programm begriffen, in vielen arabischen Ländern sind die Konzerte nicht-arabischer Musik dagegen staatstragend.

Edward Said, Umm Kulଥnjm und die Länge der Lieder Kehren wir zu Edward Said und seinem Konzertbesuch zurück. Anscheinend dasselbe Konzert, das er in der eingangs zitierten Vorlesung erwähnt, wird zehn Jahre später in seiner Autobiographie nochmals beschrieben. „[…] his [seines Vaters, I. W.] answer came a few weeks after an excruciating evening at the Diana Cinema attending a concert by the singer Om Kulthum that did not begin until nine-thirty and ended well past midnight, with no breaks at all in a style of singing that I found horrendously monotonous in its interminable unison melancholy and desperate mournfulness, like the unen34 ding moans and wailing of someone enduring an extremely long bout of colic.“

Der Kontext ist hier sein erster Opernbesuch, der einige Wochen nach dem offensichtlich verstörenden Ereignis liegt. Die Konzerterfahrung dient allein als Kontrast zu den zeitgleich weitaus positiver wahrgenommenen Opernaufführungen. Die später in Rückschau entstandene Beschreibung ist weitaus weniger höflich35 im Vergleich zu den in der 33 Interview der Autorin mit WalÐd Çulmiyya, 16.04.1997 und eigene Beobachtungen während der Saison 2009/2010; http://www.conservatoire.org.lb vom 5. Juni 2009. 34 E. W. Said: Out of Place, S. 99. Hier erwähnt er, er sei zwölf Jahre gewesen. 35 Dies kann indirekt als Reaktion auf an ihn – real oder eingebildet – herangetragene Erwartungen gedeutet werden, als Araber müsse er Umm Kul×Ùm lieben und verehren. Er schreibt an anderer Stelle über die Sängerin: „Her secret power has eluded me, but among Arabs I seem to be quite 235

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Vorlesung verwendeten Formulierungen. Das Konzert gerät hier zu einem nahezu traumatischen Ereignis. Schauen wir uns genauer an, was den Gesang von Umm Kul×Ùm so herausfordernd macht. Virginia Danielson beschreibt in ihrer ausgezeichneten Studie über das Wirken Umm Kul×Ùms die Ästhetik, die diesem Gesang zugrunde liegt. Die 1940er Jahre, von denen hier die Rede ist, gelten als die „Goldenen Jahre“ in der Karriere Umm Kul×Ùms.36 Sie arbeitete mit unterschiedlichen Komponisten zusammen, experimentierte mit poetischen und musikalischen Ausdrucksmitteln, nutzte neue Medien und war eine fest etablierte Größe, wenn nicht gar ein Machtfaktor im öffentlichen Musikleben Kairos geworden. Ihre Konzerte hatten eine Standardform erreicht, die sie bis 1966 beibehielt: drei Lieder, unterbrochen durch zwei Pausen von 30 bis 60 Minuten. Die Zeitangaben bei Danielson decken sich mit dem, was Said schreibt – Beginn 21.30 Uhr und Ende weit nach Mitternacht –, allein die Erwähnung der Pausen sind ein Widerspruch.37 Konzertlänge und damit verbunden der Umgang mit dem zu singenden Text waren ein Markenzeichen geworden, mit dem Umm Kul×Ùm eine kulturelle Positionierung verband: „The timing and length of her performances reflected old and important ideas associated with good singing and Ôarab:38 the pleasure of listening to a wonderful singer all night; the excellence of the singer who could enchant her audience until dawn; the marvelous strength of the voice that could sing until daybreak. The dispersement of time in her performances as a whole was a significant factor in her association with Arab tradition. She insisted on this schedule even when she sang in Paris in 1967, to the amazement of French offi39 cials and the non-Arab audience.“

Zu einem der herausragendsten Kennzeichen der Konzerte Umm Kul×Ùms geriet ihre Interaktion mit dem Publikum. In einer typischen ÔarabAufführung reagiert das Publikum an bestimmten Stellen auf die Musik

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alone in this feeling.“ (Edward W. Said: „Farewell to Tahia“, in: Sherifa Zuhur (Hg.), Colors of Enchantment. Theater, Dance, Music, and the Visual Arts of the Middle East, Cairo, New York: The American University in Cairo Press 2001, S. 228-232, hier S. 230). Vgl. Virginia Danielson: The Voice of Egypt. Umm KulthÙm, Arabic Song, and Egyptian Society in the Twentieth Century, Chicago, London: The University of Chicago Press 1997, S. 100ff. Ebd., S. 136. Óarab ist ein zentraler Begriff in der arabischen Musikkultur und wird zeitweise synonym für (eine bestimmte Art von) Musik verwendet. Er bezeichnet einen herausgehobenen emotionalen Status als Reaktion auf Musik. Ausführlich zu Ôarab s. A. J. Racy: Making Music in the Arab World. V. Danielson: The Voice of Egypt, S. 137.

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mit Gesten und/oder Ausrufen. Ein Schlüssel hierzu liegt im Text bzw. im Umgang mit dem Text. Für das arabische Publikum ist der Text die Grundlage für eine gelungene Aufführung – ein ansprechender Text, der korrekt und ansprechend dargeboten wird –, und gute Sängerinnen und Sänger bemühen sich, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Die Wiederholungen von Zeilen sind keine reinen Wiederholungen, sondern immer wieder neue Darbietungen mit minimalen Veränderungen und überraschenden Wendungen, die vom Publikum geschätzt und belohnt werden, so dass manche Zeilen zwanzig Mal oder öfter gesungen werden können. „She never sang a line the same way twice“, heißt es anerkennend über Umm Kul×Ùm.40 Danielson beschreibt ihre Technik folgendermaßen: „To formulate her multiple iterations of lines, she relied primarily on the techniques she used for her delivery in general: her point of departure was the text, which she divided, sometimes truncated, to present partial or different meanings. Melodic excursions first occurred on the individual words; eventually the entire line became fragmented and subjected to variations, often very small ones: slight rhythmic displacement, the introduction of unexpected silences, the addition of ornaments, and the extension of cadences.“41

Umm Kul×Ùm beherrschte zahlreiche vokale Verzierungstechniken und setzte unterschiedliche Stimmfärbungen ein, um Bedeutungen hervorzuheben. In der Zeile „Denk an mich, immer wenn die Morgendämmerung am Horizont leuchtende Strahlen auffächert“ benutzt sie eine nasale Einfärbung für das Wort „auffächert“. Nasalität wird hier eingesetzt als Markierung einer wichtigen Textstelle durch hervorgehobene Stimmfärbung und soll die starke emotionale Stimmung widerspiegeln, in der sich das lyrische Ich – der zurückgelassene Liebhaber – befindet.42 Da Said den Text nicht verstand, blieben solche Nuancen für ihn nicht nachvollziehbar, die Wiederholungen und emotional stark eingefärbten Passagen langweilten oder quälten ihn sogar: „Not only did I comprehend nothing of what she sang but I could not discern any shape or form in her outpourings, which with a large orchestra playing along with her in jangling monophony I thought was both painful and boring.“43

40 Vgl. ebd., S. 146. Diese Art von Konzerten ist heute insgesamt seltener geworden; ein zeitgenössischer Vertreter dieser Technik ist der Aleppiner Sänger ÑabÁÎ FaÌrÐ. 41 Ebd., S. 147. 42 Die Zeile stammt aus dem Lied UÆkurÐnÐ (Text AÎmad RÁmÐ, Musik RiyÁÃ as-SunbÁÔÐ, 1939). Vgl. dazu V. Danielson: The Voice of Egypt, S. 48. 43 E. W. Said: Out of Place, S. 99. 237

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Edward Said hört das Konzert mit den Ohren eines Europäers, dem der Zugang zum semantischen System der Musik verschlossen bleibt. Damit greift er, auch oder gerade in der Rückschau, auf ein Beschreibungsinstrumentarium zurück, das von europäischer Seite in der Beschreibung arabischer Musik verwendet wurde und wird.44 Von früher Reiseliteratur bis in die heutige Zeit sind die von ihm benutzten Begriffe Teil eines Musters in der Beschreibung, das wiederum nur auf der Folie der Gegenüberstellung mit europäischer orchestraler Musik und ihrer Struktur – überschaubare Melodie, harmonischer Satz, Kontraste durch Sprünge in der melodischen Linie, Dynamik45 und verschiedene Klangfarben – funktioniert. An der Spitze seiner Bestandteile stehen „die drei ‚M‘“: monoton, melancholisch, monophon (hier: „monotonous“, „melancholy“, „monophony“). Nahezu ebenso häufig tritt der Vergleich des Gesangs mit „Weinen“, „Jammern“ oder gar „Quietschen“ auf (hier: „mournfulness“, „moans“, „wailing“). Heterophonie wird als missglücktes Unisono gedeutet („unison“/„jangling“).

Schreiben zwischen den Welten Dass Beurteilung von Musik abhängig ist von Hörgewohnheiten und daraus resultierenden Hörerwartungen, wird eindrücklich illustriert durch Lane und Said. Edward William Lane konnte der arabischen Musik nach langer Zeit eine ästhetische Qualität abgewinnen, weil er ein Ohr für die Nuancen entwickelte und die Struktur nachvollzog. Edward Said kann dies mit europäischer Musik, weil er sich von klein auf mit ihr beschäftigte. Dagegen blieben ihm weite Teile der arabischen Musik verschlossen. Er hat auch nie versucht, analytisch über arabische Musik zu schreiben, da ihm hierfür das Instrumentarium fehlte. Said ist in erster Linie mit europäischer Klassik aufgewachsen und hat arabische Musik nur marginal wahrgenommen. Seine Schriften ha44 Es irritiert, dies ausgerechnet bei Said zu lesen, da es der Erwartungshaltung widerspricht, die sich gemeinhin mit Said verbindet. Viel stimmiger erscheint es, seine Wortwahl hier und im Eingangszitat als rhetorische Figur zu interpretieren, die westliche Beschreibungen arabischer Musik persifliert und damit entlarvt. Doch Said hat nichts über Stereotype in der Beschreibung von Musikkulturen veröffentlicht, was einer solchen Interpretation einen Rahmen geben und sie damit als solche erkennbar machen würde. Es zeigt vielmehr, wie erlernt Wahrnehmungen sind, und Said ist hier durchaus repräsentativ für weite Kreise von in der Entwicklung des modernen Musiklebens aktiven Personen. 45 Hier als Fachterminus im Sinne von Tonstärkegrade, d. h. Wechsel in der Lautstärke. 238

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ben nahezu ausschließlich die Werke europäischer Komponisten zum Thema. Musical Elaborations (1991) ist das erste Buch von Said über Musik. Einige Jahre zuvor hatte er begonnen, regelmäßig Konzertkritiken für amerikanische Zeitschriften zu verfassen. Kurz vor seinem Tod erschien Parallels and Paradoxes. Explorations in Music and Society.46 Es enthält Aufzeichnungen von Gesprächen Saids mit Daniel Barenboim, zusammengestellt durch den künstlerischen Leiter der Carnegie Hall in New York, Ara Guzelimian, und die Nachdrucke einiger Presseartikel, darunter Saids Essay „Barenboim and the Wagner Taboo“,47 der ursprünglich in der arabischen Tageszeitung al-ÍayÁt (15. August 2001) erschienen war. Said hatte Barenboim in den frühen 1990er Jahren getroffen, und seitdem hatten die beiden immer wieder ausführliche Diskussionen über Musik, teils privat, teils öffentlich. Ende 2000 stieß Guzelimian als Moderator zu ihren Gesprächen, der mit Said die Erfahrung teilt, in Kairo aufgewachsen zu sein und dessen Familie damals teils dieselben Konzerte besuchte wie Said. Gemeinsam mit Barenboim hatte Said großen Anteil an der Initiative, die 1999 arabische und israelische Musiker zum gemeinsamen Musizieren nach Weimar brachte.48 2006 erschien On Late Style. Music and Literature Against the Grain,49 an dem Said bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hatte. Ebenfalls posthum erschien Music at the Limits,50 eine Auswahl von Musikkritiken, die Said vor allem für The Nation, aber auch andere Presseorgane verfasst hatte. Alle diese Bücher sind inzwischen in mehreren Auflagen erschienen und teilweise in mehrere Sprachen übersetzt. Said hat aber seine Kenntnisse und seine Leidenschaft für das Thema Musik immer wieder auch in seine allgemeinen kulturtheoretischen Schriften einfließen lassen. Dass Musik eine große Rolle in seinem Leben spielte, wird nicht zuletzt aus seiner Autobiographie deutlich. Fast jede Beschreibung einer neuen Lebensstation enthält auch eine Beschreibung seiner musikalischen Entwicklung: wer ihn auf dem Klavier unterrichtete, welchen bedeutenden Musiker er traf oder welches Musikstück/welcher Komponist ihn in jener Zeit beeindruckte. Lange Zeit trug er sich sogar mit dem 46 Daniel Barenboim/Edward W. Said: Parallels and Paradoxes. Explorations in Music and Society, New York: Pantheon Books 2002; dt. Übersetzung (Burkhardt Wolf), Parallelen und Paradoxien. Über Musik und Gesellschaft, Berlin: Berlin Verlag 2004. 47 Vgl. ebd., S. 175-184. 48 Ebd., S. 6-12. 49 Edward W. Said: On Late Style. Music and Literature Against the Grain, New York: Pantheon Books 2006. 50 Edward W. Said: Music at the Limits, New York: Columbia University Press 2007. Eine deutsche Übersetzung ist für 2010 angekündigt: Musik ohne Grenzen, Übers.: Hainer Kober, München: C. Bertelsmann. 239

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Gedanken, die Musik zu seinem Beruf zu machen.51 Die westliche Kunstmusik stellte ein rares und damit kostbares Kontinuum in seinem ansonsten von so vielen Wechseln geprägten Leben dar. Doch Liebe macht bekanntlich blind, und seine Liebe zur Musik ließ ihn unachtsam werden gegenüber den verborgenen Machtmechanismen, die auch in musikalischen Konstellationen wirken. Die Internationalität des Musiklebens in vielen arabischen Ländern kann heute theoretisch positiv gedeutet werden als neue Durchlässigkeit, als Möglichkeiten der gleichzeitigen Teilhabe an verschiedenen kulturellen Traditionen im Gegensatz zu krampfhaft gepflegten „Nationalkulturen“. Doch historisch ist sie zunächst einmal das Resultat eines Denkens gewesen, das europäische Musik als Norm und (in diesem Fall) arabische Musik als Devianz begreift. Auch ist in rezenteren Statements eine solche Haltung herauszuhören.52 Die „Internationalität“ beschränkt sich darüber hinaus zu weiten Teilen auf europäische Musik. Chinesische oder japanische Musik ist beispielsweise nicht in gleicher Weise repräsentiert – in beiden Staaten ist aber die europäische Musik ebenfalls in höchstem Maße präsent. Said scheint davon auszugehen, dass Musik universal ist und daher auch universal über sie geschrieben werden kann. Bei seinem Schreiben über Umm Kul×Ùm kommt er aber über eine rein intuitive Betrachtungsweise nicht hinaus. Hinter der Gesangstechnik von Umm Kul×Ùm steht durchaus eine Logik. Es gibt Regeln in der Ausführung der Musik und Gründe für ihre Entscheidungen, etwas so und nicht anders zu singen – beispielsweise welchen Modus sie für welche Textstelle verwendet. So wie im europäischen funktionsharmonischen System Dominante und Tonika in einem definierten Verhältnis stehen, so stehen auch im arabischen modalen System die Modi in Beziehung. In Saids Urteil im Eingangszitat hingegen ist die Abwesenheit von Logik ein wesentliches Merkmal arabischer Musik. Sie gehöre zum essentiellen Wesen der Musik. Dass sich ihm keine Logik erschließt, wird dadurch erklärt, dass sie nicht existiert. Was er für eine allgemeine universale Herangehensweise hält, ist tatsächlich das Herantragen der eigenen Erwartungshaltung – die in diesem Falle eine an der europäischen Musik geschulte ist – an die zu

51 Vgl. E. W. Said: Out of Place, S. 291. 52 Vgl. beispielsweise Toufic Succar: „Problèmes de la musique arabe“, in: Les conférences du cénacle 8 (April 1954), S. 289-302; Emmanuelle Ricard: Influences des la politique culturelle sur la pratique et l’enseignement de la musique arabe savante (Damas, XXème siècle), Université Michel de Montaigne-Bordeaux III, Département des langues vivantes étrangères, mention Arabe, Diplôme d’Études Approfondies, Octobre 1997, besonders S. 65ff. 240

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beschreibende Musik. Damit verfestigt er den Blick der Mächtigen auf den „Rest der Welt“. Edward Said hat einen scharfen Blick für die Asymmetrien in Feldern der kulturellen Produktion besessen. Er hat aber seinen Blick vor allem auf den Westen gelenkt, wo er den größten Teil seines Lebens wirkte und lehrte. Die Entwicklung von kulturellen Produktionen oder den Institutionen kultureller Produktion in arabischen Ländern war nicht sein Thema. Vor allem die Institutionalisierung von kultureller Produktion in den postkolonialen Staaten kann jedoch nicht losgelöst von der kolonialen Vergangenheit gelesen werden. Die diskursive Ebene im Bereich von Musik hat die Ästhetik und Klangproduktion in höchstem Maße beeinflusst. Die Entstehungsbedingungen der in vielen Bereichen vorherrschenden europäisch geprägten Perspektiven können nicht einfach ausgeblendet werden. Die Annahme orientalistischer Zuschreibungen wirkt in vielen Bereichen der offiziellen Ideologien in den postkolonialen Staaten. Said ist aktiv in der Kritik derselben gewesen, gleichzeitig ist er aber selbst ein Produkt der postkolonialen kulturellen Entwicklungen. Wie sich künstlerische Produktionen in einem globalen (und damit durchlässigen) Raum deuten und analysieren lassen, wird immer stärker auch die Wissenschaft beschäftigen. Hier ein Analyseinstrumentarium zu entwickeln, das keine dominante Erwartungshaltung an den Gegenstand heranträgt, sondern der Durchlässigkeit und Eigenständigkeit gewachsener künstlerischer Traditionen gleichermaßen gerecht wird, darin wird eine Herausforderung für die unterschiedlichen Disziplinen in den Kulturwissenschaften liegen.

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MUSIK ZWISCHEN DEN WELTEN

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Über die Notwendigkeit, zeitgenössisch zu sein: Die islamische Kunst im Schatten der europäischen Kunstgeschichte 1 AVINOAM SHALEM

„The Moslem empire in Spain was but a brilliant exotic, that took no permanent root in the soil it embellished“

Das Zitat, das aus Washington Irvings Buch Bracebridge Hall, Tales of a Traveller, The Alhambra2 stammt, illustriert die besondere Anziehungskraft, die Spanien – oder besser gesagt, al-Andalus – für das kollektive Gedächtnis des Westens in der Vormoderne und Moderne gewonnen hat. Es versteht sich von selbst, dass ein amerikanischer Autor wie Washington Irving (1783-1857) als Vertreter der romantischen Geschichtsschreibung einer Zeit gelesen werden will, als Europa auf der Suche nach seiner durch die Industrialisierung verlorenen ‚alten Seele‘ und ‚verlorenen Zeit‘ war. Freilich: da er ein wirklicher Gelehrter war, der in den Jahren 1825-1826 das Archivmaterial in den Bibliotheken von Madrid studieren konnte – Irving hielt sich auf Einladung des amerikani-

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Dieser Artikel ist die überarbeitete Version des Vortrags „On the Importance of Being Contemporary“, gehalten auf dem Deutschen Orientalistentag in Freiburg, September 2007, in der Sektion Islamische Kunstgeschichte – wohin? Wege und Perspektiven. – Mein Dank gilt Gunnar Brands und Hanne Schönig, die den Beitrag für die vorliegende Ausgabe formal und sprachlich überarbeitet haben. Washington Irving: Bracebridge Hall, Tales of a Traveller, The Alhambra. Hg. Herbert F. Smith et al., New York: Viking Press 1992, S. 777. 245

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schen Botschafters in Madrid, Alexander Hill Everetts, in Spanien auf –, und auch weil er, als er sein Buch Tales of a Traveller schrieb, den halb zerstörten Alhambra-Palast tatsächlich bewohnte, entspricht er nicht unbedingt dem typischen amerikanischen Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts; und das veranlasst uns, auf sein eigenwilliges, wenn nicht provokatives Diktum einiges Gewicht zu legen. Der Gebrauch des Begriffs ‚exotisch‘ bei der Charakterisierung des muslimischen Reiches in Spanien könnte leicht als eine Folge der romantischen Einstellung des 19. Jahrhunderts gegenüber Spanien sowie der Kunst und Kultur des Islams überhaupt verstanden werden. Doch dass Irving im selben Atemzug darauf hinweist, dass jenes exotische und prächtige muslimische Reich auf der iberischen Halbinsel keine dauerhaften Wurzeln schlagen konnte, ist es wert, über seine Einschätzung etwas intensiver nachzudenken. Denn es scheint, dass Exotik und Kurzlebigkeit des muslimischen Spaniens in Irvings Vorstellung miteinander verbunden waren. Anders gesagt: ist al-Andalus ein Exotikum, weil es nicht auf der iberischen Halbinsel verwurzelt war, oder umgekehrt: weil ein ‚Exotikum‘ per definitionem keine Wurzeln schlagen kann? Unabhängig davon mutet die Betonung der Unfähigkeit der Muslime, in den 700 Jahren ihrer Herrschaft eine solide, dauernde Tradition in Spanien zu etablieren, befremdlich an. Die komplizierte Herausbildung einer Vorstellung von al-Andalus im kollektiven Gedächtnis des Westens ist freilich viel zu verwickelt, als dass ich darauf in diesem kurzen Artikel ausführlich eingehen könnte. Es bleibt festzuhalten, dass die Vorstellung von einem nur temporären muslimischen Spanien nicht zuletzt von den Muslimen selbst propagiert worden ist, hauptsächlich in Form eines nostalgischen ‚Exil-Tons‘, der für das umayyadische Spanien charakteristisch ist, aber auch in der arabischen Literatur nach der Reconquista-Zeit noch angeschlagen wird, welche – verständlicherweise – dazu neigte, das islamische Spanien als eine Idylle zu porträtieren: auch dies trug dazu bei, die Vergänglichkeit von al-Andalus zu thematisieren.3 Allerdings scheint es, dass die Einschätzung Washington Irvings durchaus auch von einer gewissen anti-muslimischen Propaganda gefärbt ist, die auf der Idee eines reinen und christlichen Spaniens beruht. Unter diesem Gesichtspunkt wird die legendäre Stellung, die al-Andalus 3

Zu dieser Problematik s. Avinoam Shalem: „The ‚Golden Age‘ in Al-Andalus as remembered, or how nostalgia forged history?“, in: Jaynie Anderson (Hg.), Crossing Cultures: Conflict, Migration, and Convergence. Proceedings of the 23rd International Congress of the History of Art, Melbourne 2008, Melbourne: Miegunyah Press, Melbourne University Publishing 2009, S. 184-189.

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DIE ISLAMISCHE KUNST IM SCHATTEN DER EUROPÄISCHEN KUNSTGESCHICHTE

im kollektiven Gedächtnis Europas einnimmt, zugleich zu einer unwiederbringlichen Vergangenheit erklärt.

Im Schatten der europäischen Renaissance Was können wir aus derartigen Überlegungen lernen? Dürfen wir Irvings ‚westliche‘ Wahrnehmung von al-Andalus verallgemeinern und sie auf andere Gebiete und Epochen der muslimischen Welt ausweiten? Handelt es sich um einen Einzelfall, oder ist seine Sichtweise vielleicht archetypisch für die islamische Welt?4 Um derartige Fragen zu behandeln, bedürfte es einer umfassenden Studie über die Rezeption der islamischen Kunst und Kultur im ‚Westen‘ während des 19. und 20. Jahrhunderts. Wir müssen uns im vorliegenden Beitrag – gewissermaßen als Prolegomenon zu einer solchen Studie – damit begnügen, einen kurzen Blick auf die Rezeption islamischer Kunst und Architektur in allgemeinen kunstgeschichtlichen Sammelwerken aus dem deutschsprachigen Raum zu werfen. Die Art, in der islamische Kunst in solchen Weltkunstgeschichten behandelt wird, liefert wichtige Aufschlüsse über ihre Rezeption: schon die Gliederung eines Buches ist ein Ausweis der ‚Weltanschauung‘ seines Autors und des herrschenden Zeitgeistes.5

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Zur Analogie zwischen Palästina und al-Andalus s. Angelika Neuwirth: „‚Kein Wächter wird mich fragen, wie ich heute heisse‘. Mahmud Darwish zwischen hebräischem und arabischem Literaturkanon“, Neue Zürcher Zeitung, 14. März 2009. Zum Stand des Faches „Islamische Kunstgeschichte“ vgl. Oleg Grabar: „Reflections on the Study of Islamic Art“, in: Muqarnas 1 (1983), S. 1-14; ders.: „The Study of Islamic Art: Sources and Promises“, in: Journal of the David Collection, 1 (2003), S. 9-22; Sheila S. Blair/Jonathan M. Bloom: „The Mirage of Islamic Art: Reflections on the Study of an Unwieldy Field“, in: The Art Bulletin 85/1 (March 2003), S. 152-184; Robert Nelson: „The Map of Art History“, The Art Bulletin 79/1 (1997), S. 28-40, besonders S. 34; Finbarr Barry Flood: „From the Prophet to Postmodernism? New World Orders and the End of Islamic Art“, in: Elizabeth Mansfield (Hg.), Making Art History: A Changing Discipline and Its Institutions, London, New York: Routledge 2007, S. 31-53. Für islamische Architektur s. Robert Hillenbrand: „Studying Islamic Architecture: Challenges and Perspectives“, in: Architectural History 46 (2003), S. 1-18; Nasser Rabbat: „Islamic Architecture as a Field of Historical Enquiry“, in: Architectural Design 74/6 (2004), S. 18-23; s. auch Stephen Vernoit (Hg.): Discovering Islamic Art. Scholars, Collectors and Collections, 1850-1950, London, New York: I.B. Tauris Publishers 2000, S. 1-61; Wijdan Ali: „The Status of Islamic Art in the Twentieth Century“, in: Muqarnas 9 (1992), S. 186-188; Avinoam Shalem: „What do we mean when we say Islamic 247

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An den Anfang sei ein Zitat gestellt, mit dem einer der Gründerväter der Disziplin Kunstgeschichte, Jacob Burckhardt (1818-1897), die islamische Kultur zu charakterisieren versucht: „Der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, ist mit dieser seiner Trockenheit und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als nützlich gewesen, und wäre es auch nur, weil er die betreffenden Völker gänzlich unfähig macht, zu einer andern Kultur überzugehen. Die Einfachheit erleichterte sehr seine Verbreitung, war aber mit derjenigen höchsten Einseitigkeit verbunden, welche der starre Monotheismus bedingt, und aller politischen und Rechtsentwicklung stand und steht der elende Koran entgegen; das Recht bleibt halbgeistlich.“6

Diese Einschätzung findet sich in einem überaus einflussreichen Buch, den Weltgeschichtlichen Betrachtungen, das acht Jahre nach Burckhardts Tod, im Jahr 1905, herausgegeben wurde. Ähnlich harsch ist Burckhardts Haltung gegenüber der islamischen Kunst; sein Tonfall erinnert an die Rede Papst Benedikts XVI. an der Universität in Regensburg im Sommer 2006 und an die von ihm zitierten Worte des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos aus dem Jahre 1391: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat […]“.7 Burckhardt schreibt: „In der bildenden Kunst ist nur die Architektur ausgebildet, zuerst durch persische Baumeister, dann mit Benützung des byzantinischen und überhaupt jedes vorgefundenen Stiles und Materials. Skulptur und Malerei existieren so gut wie gar nicht, weil man die Vorschrift des Korans nicht nur innehielt, sondern weit über den Wortlaut übertrieb. Was dabei der Geist überhaupt einbüßte, läßt sich denken.“8

Jacob Burckhardts abendländisch geprägte Einstellung zur Welt des Islams und zur islamischen Kunst wird besonders deutlich in dem Abschnitt seiner Weltgeschichtlichen Betrachtungen, in dem er sich zur arabischen Kultur in Spanien äußert:

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Art? Urgent Plea for Critical Re-Writing of the History of the Arts of the Islamic Lands“ [in Vorbereitung]. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart: Alfred Kröner 1978, S. 100. Ansprache von Benedikt XVI. Aula Magna der Universität Regensburg, Dienstag, 12. September 2006. http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20060912_ university-regensburg_ge.html. J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 101f.

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„Daneben besteht freilich das täuschende Bild von blühenden, volkreichen, gewerblichen islamitischen Städten und Ländern mit Dichterfürsten, edelgesinnten Großen u. s. w. wie z. B. in Spanien unter und nach den Ommayaden. Aber über jene Schranken hinaus, zur Totalität des Geistigen, drang man auch hier nicht durch, und Unfähigkeit zur Wandelung, zur Einmündung in eine andere, höhere Kultur war auch hier das Ende,9 wozu dann noch die politisch-militärische Schwäche gegen Almoraviden, Almohaden und Christen kam.“10

Es ist interessant zu beobachten, dass auch Burckhardt die islamische Kunst in al-Andalus als ein vorübergehendes Phänomen in der Kunstgeschichte Spaniens wertet und, wie Irving, ihr unvermeidliches Ende beschwört. Für Burckhardt ist das Ende jener ‚blühenden‘ Epoche nicht nur ein Ergebnis politischer Veränderungen, sondern hängt ursächlich mit der Unfähigkeit des Islams zusammen, die Kultur von al-Andalus mit der der mitteleuropäischen Renaissance zu verknüpfen. Burckhardt folgt damit der gängigen Einschätzung islamischer Kunst in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. Es ist denkbar, dass das im Jahr 1842 erschienene Handbuch der Kunstgeschichte von Franz Kugler Burckhardts Denken und seine Rezeption islamischer Kunst und Architektur beeinflusst hat. Kugler hat in diesem Buch erstmals die ‚außer-europäische‘ Kunst mit einem scheinbar objektiven Blick gewürdigt und sie in die Geschichte der Kunst integriert.11 Obwohl Kugler in der ersten Auflage seines Buches der Kunst des Islams immerhin 20 Seiten widmete, sind seine Vorstellungen von den künstlerischen Fähigkeiten des Islams, und besonders der Araber, doch sehr begrenzt. Er betrachtete die Araber als Volk ohne künstlerische Kultur und maß, wie es teilweise bis heute üblich ist, die Kunst des Islams an dem Parameter ‚Mimesis und Naturwiedergabe‘; ihr fehle es „[...] an den Elementen einer organisch gegliederten Bildung, an dem Ausdrucke und

9 Burckhardt meint hier die Synthese mit der Antike in der Renaissance. 10 J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 102 (Hervorhebung im Original). 11 Vgl. Franz Kugler: Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart: Ebner & Seubert 51872 (1842). S. auch Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 208-266; Thomas DaCosta Kaufmann: „Eurocentrism and Art History? Universal History and the Historiography of the Arts before Winckelmann“, in: Wessel Reinink/Jeroen Stumple (Hg.), Memory and Oblivion. Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art, Amsterdam 1996, Dordrecht: Kluwer 1999, S. 35-42; Ulrich Pfisterer: „Origins and Principles of World Art History – 1900 (and 2000)“, in: Kitty Zijlmans/Wilfried van Damme (Hg.), World Art Studies: Exploring Concepts and Approaches, Amsterdam: Valiz 2008, S. 69-89. 249

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den Formen individueller Lebenskraft.“12 Noch klarer formuliert er seine Gedanken über die „muhammedanische“ Architektur in seinem Buch Geschichte der orientalischen und antiken Baukunst. Kugler schreibt: „Eine organische Gliederung, eine Bildung der Einzeltheile, welche sich als die Fixirung eines Lebensprocesses, als der Ausdruck einer bewegten und bewegenden Kraft im Verhältniss zu grösseren Theilen des architektonischen Werkes und zur Gesammtmasse desselben bekundete, erstrebt die muhammedanische Architektur nicht. Was sie an solcher Gliederung hat, beruht theils [..] auf der baulichen Ueberlieferung, in welche sie eintrat, bildet theils – in wenigen günstigen Fällen und nicht durchaus ohne den Einfluss der weiterstrebenden occidentalischen Kunst – nur einen unvollkommenen Ansatz zu einer derartigen Entwickelung, gehört theils – und in sehr überwiegendem Maasse – der Willkür des Dekorativen an.“13

Diese Passage zeigt sehr deutlich die Wahrnehmung der islamischen Architektur im 19. Jahrhundert, die ohne nennenswerte eigene Wurzeln stark von den künstlerischen Einflüssen anderer Völker und Kulturen, darunter der klassischen antiken Kunst, beeinflusst ist. Kuglers Bemerkung über die „Willkür des Dekorativen“ bezeugt, wie früh bereits das Ornament als das Charakteristikum der islamischen Kunst und Ästhetik gilt und wie ihr im Vergleich zur rationalen westlichen Architektur gleichzeitig ein geringerer Stellenwert zuerkannt wird. Auch Carl Schnaase äußert in seinem 1869 erschienenen Buch Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter ähnliche Überlegungen über die Kunst des Islams: „Es sind dies die Völker, bei denen sinnliches und geistiges Leben sich wie durch eine scharfe Kluft trennen, wo dann die Phantasie, statt die Sinnlichkeit zu gestalten und zu veredeln, sich des geistigen Lebens bemächtigt […]. Für die bildenden Künste sind diese Völker weniger geschaffen, das ruhige Bild ist dieser Wunder nicht fähig, und erscheint der heissglühenden Phantasie matt und kalt.“14

12 F. Kugler: Handbuch der Kunstgeschichte, S. 339. 13 Franz Kugler: Geschichte der orientalischen und antiken Baukunst, Stuttgart: Verlag Ebner & Seubert 1859, Band I, S. 491f. (Hervorhebung im Original). 14 Carl Schnaase: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter. Band 1: Altchristliche, byzantinische, muhammedanische, karolingische Kunst, Düsseldorf: Verlagshandlung von Julius Buddeus 1869, S. 375 (Hervorhebung im Original). 250

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In diese Einschätzung mischen sich zudem verschiedene völkerkundliche bzw. Rassetheorien des 19. Jahrhunderts, wie sie auch in Heinrich Springers (1825-1891) Werk zum Ausdruck kommen.15 Das Resümee, dass „diese Völker“ unfähig sind, Künste zu schaffen, beinhaltet ein anderes, weit verbreitetes Klischee, nämlich dass die islamische Kunst, auch wenn sie ‚Geist‘ hat, doch sehr stark von anderen Kulturen geprägt ist. Nach heutigen Maßstäben würde man den amalgamierenden Charakter der islamischen Kunst ‚hybrid‘ nennen, wie es in der Tat jede Kunst war und ist. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Einschätzung weiterhin proklamiert. In Johannes Emmers Illustrierte Kunstgeschichte von 1906 definierte der Autor, im Kapitel über islamische Kunst, die Architektur als: „[…] Vermischung von verschiedenen, bereits vorhandenen gewesenen Richtungen und Formen.“16 Der islamischen Architektur wird keine Entstehung aus eigenen Wurzeln und keine eigenwertige Entwicklungsgeschichte zugebilligt; sie wird vielmehr als „Assemblage“ bezeichnet, in der Ready Made-Kunstformen imitiert und nachgeahmt werden. Emmers Formulierung grenzt an ein Verständnis der islamischen Architektur als ‚Falsifikat‘. Emmer betont zugleich die Stagnation dieser Kunst, die keine wirkliche Entwicklung kenne. Islamische Kunst erscheint somit als eine Reliquie der Vergangenheit, als ein Bildatlas des Mittelalters, als eine Kunst, die, wenn auch gegenwärtig, doch die visuellen Formen und die Sehpraxis der Vergangenheit bewahrt. Die Stagnation der islamischen Kunst und ihre fehlende Entwicklungskraft spiegele, so Emmer, den Stillstand des Geistes des muslimischen Volkes: „Die islamische Kunst ist auf den bezeichneten Gebieten des Morgenlandes bis in unsere Zeit ziemlich unverändert geblieben und wird sich wohl noch längere Zeit in ihren wesentlichen Eigenheiten erhalten, da sie dem Volksgeiste entspricht.“17

15 S. die Diskussion über Heinrich Springer in Annette Hagedorn: „The Development of Islamic Art History in Germany in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries“, in: S. Vernoit (Hg.), Discovering Islamic Art, S. 117-127, hier S. 119; Doris Behrens-Abouseif/Stephen Vernoit (Hg.): Islamic Art in the 19th Century. Tradition, Innovation, and Eclecticism, Leiden, Boston: Brill 2006. 16 Johannes Emmer: Illustrierte Kunstgeschichte, Berlin: Deutsche Volksbibliothek 1906, S. 215. 17 Ebd., S. 219. 251

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Vergangenheitskunst Das Ende der muslimischen Hegemonie in al-Andalus am Ausgang des 15. Jahrhunderts und die Geburt der Renaissance in Europa werden als der Zeit-Raum empfunden, in dem die islamische Kunst, zumindest im Westen, unterging. So ist es denn auch kein Wunder, dass die islamische Kunst und Architektur von der Mehrzahl der Weltkunstgeschichten als Teil des Mittelalters kategorisiert wird. Hier erscheint sie, der byzantinischen Kunst benachbart, zumeist zwischen Spätantike und romanischer Kunst. Während die Bedeutung der islamischen Kunst und Architektur für die Entwicklung der europäischen Kunst des Mittelalters gewöhnlich betont wird, scheint ihre Bedeutung mit der Etablierung der Renaissance in Europa zu enden oder doch wenigstens zu schwinden. In der Kulturgeschichtsschreibung ist die europäische Renaissance so wirkmächtig, dass andere progressive Erscheinungen außerhalb der europäischen Domäne darüber ins Abseits geraten, wie z. B. die künstlerische und wissenschaftliche ‚Renaissance‘ zur Zeit der Herrschaft von Ulughbek (1394-1449) in Samarkand. Die europäische Renaissance ist also gewissermaßen eine Wegscheide in der Bewertung der islamischen Kunst als kultureller Kraft. Daran konnte auch die kurze ‚Renaissance‘ der islamischen Kunst und das Interesse, das sie im 19. Jahrhundert in der europäischen Grand Histoire fand, nichts ändern; spätestens mit der Geburt der Moderne um 1920 kommt die Bedeutung der islamischen Kunst in der Kunstgeschichtsschreibung zu einem Ende. Wie Isenstadt und Rizvi kürzlich gezeigt haben, betrachtet Sir Banister Fletcher in seiner History of Architecture, die erstmals 1896 aufgelegt wurde, die islamische Architektur als einen Zweig am „Baum der Architektur“,18 der keine architektonischen Nachwirkungen auf die Weltkunst zeitigte und keinen Raum in der Vormoderne und Moderne beansprucht. So erscheint die „sarazenische“ (d. h. islamische) Architektur neben der byzantinischen, und zeitlich ist sie eine episodale künstlerische Erscheinung zwischen der römischen und der romanischen Architektur. Für die europäische Kunstgeschichte bleibt sie folgenlos.19

18 Vgl. Sir Banister Fletcher: A History of Architecture, London, New York: B. T. Batsford 1896, Frontispiz (s. u.). 19 S. die Diskussion über Banister Fletcher’s Tree of Architecture in Sandy Isenstadt/Kishwar Rizvi: „Introduction. Modern Architecture and the Middle East: The Burden of Representation“, in: dies. (Hg.), Modernism and the Middle East. Architecture and Politics in the Twentieth Century, Seattle, London: University of Washington Press 2008, S. 3-36, hier S. 11-13, Abb. I.3. 252

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Tree of Architecture of Sir Banister Fletcher

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Ernst Gombrichs The History of Art (1950) ist in der Behandlung islamischer Kunst konventionell: sie findet sich auch hier im Abschnitt über das Mittelalter, zwischen Früh- und Hochmittelalter, eingebettet zwischen byzantinischer und romanischer Kunst. Gombrich wendet sich gleichzeitig und ähnlich flüchtig der Kunst des Ostens und des Fernen Ostens, d. h. Chinas und Japans, zu und nennt das Kapitel „Looking eastwards“.20 Er eröffnet seine Ausführungen zur islamischen und fernöstlichen Kunst mit dem Satz: „Before we return to the Western world and take up the story of art in Europe, we must at least cast a glance at what happened in other parts of the world during these centuries of turmoil.“21 Seine Behandlung der islamischen Kunst reicht bis in die Zeit um 1500 und wird bezeichnenderweise mit dem Löwenhof der Alhambra in Granada illustriert.22 Darüber hinaus schreibt Gombrich – doch das ist etwas, was einen anderen interessanten Forschungsgegenstand eröffnen könnte, nämlich die Islamisierung oder besser: die Muhammadisierung der islamischen Kunst in dem Sinn einer betont religiösen Deutung: „Ultimately we may owe their subtle designs and rich colours schemes to Mohammed, who directed the mind of their artist away from the real world to this dreamworld of lines and colours.“23 In Horst W. Jansons History of Art wird die islamische Kunst zusammen mit der romanischen und gotischen Kunst in der Sektion „Das Mittelalter“ besprochen. Eine islamische Kunst zur Zeit der Renaissance sowie in Vormoderne und Moderne gibt es bei ihm nicht.24 Der englischen Tradition der kunsthistorischen Weltsicht folgen außer Gombrich auch Hugh Honour und John Fleming in ihrer Weltgeschichte der Kunst (1992): bei ihnen steht das Kapitel 8 „Kunst des frühen Islam“ zwischen Byzanz und dem europäischen Mittelalter.25 Auch in der deutschsprachigen Propyläen-Kunstgeschichte steht der Band Die Kunst des Islam von Janine Sourdel-Thomine und Bertold Spuler zwischen den Bänden Byzanz und der christliche Osten und Das Mittelalter I. Auch in diesem Band macht sich der eurozentrische bzw. eurozentristische Blick bemerkbar. In der Einleitung lesen wir: 20 Ernst H. Gombrich: The Story of Art, Oxford: Phaidon 1984, S. 102-112. 21 Ebd., S. 102. Gombrich bezieht sich dabei auf die Jahrhunderte, die dem Untergang des Römischen Reiches und dem Ende der klassischen Welt folgten. 22 Ebd., Abb. 91. 23 Ebd., S. 103. 24 Vgl. Horst W. Janson: History of Art: The Western Tradition, New Jersey: Prentice Hall 82010. 25 Hugh Honour/John Fleming (Hg.): Weltgeschichte der Kunst, München: Prestel-Verlag, 1983. 254

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„Die islamische Kunst entspricht in allen ihren Äußerungen dem geschichtlichen Werden und der geographischen Ausbreitung einer Weltreligion. In ihren Techniken und Ausdruckformen trat diese Kunst das Erbe der Antike an, und als im westlichen Teil des Römischen Reiches das Wissen um die Überlieferungen des Altertums allmählich erlosch, kam es in der islamischen und der in wesentlichen Zügen mit ihr verwandten byzantinischen Kunst zu einer ersten Renaissance.“26

Über eine mögliche Renaissance oder gar Renaissancen in der islamischen Kunst, beispielsweise durch die Begegnung mit und unter dem Einfluss der Kunst Chinas oder Indiens, schweigen die Autoren des Bandes in ihrer Einleitung. Der Band Die Welt des Islam von Du Ry, der in der achtzehnteiligen Reihe Kunst im Bild publiziert wurde, findet seinen Platz in der Ausgabe des Naturalis Verlages zwischen den Bänden Völker des Alten Orient (13) und Afrika und Ozeanien (15).27 Danach folgen die letzten drei Bände der Reihe: Das Alte Amerika, Der Ferne Osten und Der Indische Raum. Diese Ordnung der Kunstgeschichte – oder um mit dem Motto dieser Reihe zu sprechen: „Der neue Weg zum Verständnis der Weltkunst“ – zeigt den eurozentrischen Blick der Herausgeber und die vornehmlich anthropologische Betrachtungsweise der Kunst des außereuropäischen Raums. Man darf vermuten, dass westliche intellektuelle Paradigmen der Ordnung der Weltgeschichte, in denen immer eine klare Trennung zwischen Kulturräumen und der Zivilisationsdomäne herrscht, die Ordnung der Epochen in dieser Reihe diktieren. Es scheint demnach, als sei die islamische Kunst nur eine Epoche der mittelalterlichen Kunst: Doch ist sie wie die byzantinische Kunst als abgeschlossen zu betrachten? Oder pendelt sie zwischen zwei Kategorien der Kunstgeschichte, der zivilisations- und der kulturräumlichen? Diesen Eindruck könnte die Anordnung des Bandes Welt des Islam zwischen dem Band Völker des Alten Orient und den vier Bänden zu den außereuropäischen Kulturräumen hinterlassen: einerseits steht die islamische Kunst mit ihren vielfältigen Einflüssen dem europäischen Zivilisationsraum besonders nahe, andererseits wird sie als eine kulturraumübergreifende Erscheinung angesehen. Dass die Kunst des Islams üblicherweise dem Mittelalter zugeordnet wird, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ‚Weltkunstgeschichten‘ von Historikern und Kunsthistorikern mit einer besonderen Experti26 Janine Sourdel-Thomine/Bertold Spuler: Die Kunst des Islam. (PropyläenKunstgeschichte [4]), Berlin: Verlag Ullstein GmbH 1990, S. 11. 27 Vgl. Carel J. Du Ry: Die Welt des Islam, München: Naturalis Verlag [1988]. 255

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se auf dem Gebiet der europäischen Kunst geschrieben oder herausgegeben worden sind. Dazu beigetragen haben mag auch die herrschende Meinung, dass die islamische Kunst, insbesondere die Kunst der Umayyaden, eine Fortsetzung der spätantiken Kunst ist und sich damit aus originär europäischem Gedanken- und Formengut speist. Ein anderes Phänomen ist weitaus schwerer erklärlich: warum ist die Kunst des Islams in den Augen vieler Historiker der europäischen Kunst ein abgeschlossenes Kapitel? Was hat es mit dieser Vergangenheitsmetapher auf sich? Es ist naheliegend, dass europäische Kunsthistoriker wie Burckhardt, für die die Entwicklung der westlichen Kunst wesentlich an griechischrömische/antike Wurzeln gebunden ist, in der islamischen Kunst in erster Linie einen Bruch mit der klassischen Tradition sehen und sie deshalb in einem Zeitraum verorten, in welchem die islamische Kunst entweder als Fortsetzung des klassischen Stils erscheint oder als Stichwortgeber für den Westen, die klassische Tradition wieder zu entdecken. Unabhängig davon hat der Zweig der islamischen Kunst keinen Platz im Tree of Architecture, der ganz von der europäischen Tradition dominiert ist. Auf diese Weise steht sie außerhalb der Hauptströmungen lebendiger und sich dynamisch entwickelnder nationaler ‚Kunststile‘. Die weit verbreitete Ansicht, die islamische Kunst sei als „abgeschlossen“ zu betrachten, hat wahrscheinlich mehrere Gründe: einer ist der evidente Zusammenhang der islamischen Kunst mit der klassischen, griechisch-römischen Tradition, die üblicherweise, wenn auch nicht notwendigerweise zu Recht, auf die früheste Periode der islamischen Kunst, die umayyadische Epoche, begrenzt wird. Doch wie jeder Anthropologe bestätigen kann, ist eine solche Argumentationsweise ein typischer Herrschaftsakt im Umgang mit dem Fremden und Anderen. Indem man den Anderen – und sei es auch nur kulturell – gewissermaßen in die Vergangenheit versetzt, mutet die eigene Kultur gegenwärtig, reif und fortgeschritten an, während das Gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes ‚zurückgeblieben‘ erscheint.28

28 Vgl. Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York: Columbia University Press 1983; ders.: „Presence and Representation: The Other and Anthropological Writing“, in: Critical Inquiry 16 (1990), S. 753-772. Vgl. unter philosophischen Gesichtspunkten: Emmanuel Levinas: Time and the Other, Übers.: Richard A. Cohen, Pittsburgh: Duquesne University Press, Pennsylvania, 1987. 256

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Im Schatten der Moderne? Seit den Ereignissen des 11. September neigen zahlreiche Journalisten, aber auch Wissenschaftler, verstärkt dazu, den Islam im Gegensatz zur westlichen Gesellschaft für rückständig und rückwärtsgewandt zu erklären.29 Erst kürzlich hat Dan Diner in seinem Buch Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt argumentiert, dass die Muslime den Anschluss an die Moderne verpasst hätten.30 Der Islam und seine Kunst seien unfähig, sich an die ‚Moderne‘ anzupassen, heißt es seither immer häufiger. Es scheint, dass diese Ansicht stark von dem europäischen und nordamerikanischen Wunsch nach exklusivem Besitz der ‚Moderne‘ geprägt ist. Dennoch ist die Ausgliederung des 20. Jahrhunderts als Teil der Geschichte der islamischen Kunst ein Phänomen, das auch von der Fachwelt selbst oft unkritisch akzeptiert wird. Abgesehen von der bereits thematisierten Frage nach der Position der islamischen Kunst in der mittelalterlichen Epoche ergibt sich also noch ein weiteres Problem: Wann endet die Geschichte der islamischen Kunst? Dieser Frage, die erneut stark von westlichen Kunsthistorikern dominiert wird, soll im folgenden Kapitel am Beispiel wichtiger deutschsprachiger Überblickswerke der islamischen Kunst nachgegangen werden. Eines der einflussreichsten Bücher zur islamischen Kunst war der im Jahr 1912 zur Ausstellung Meisterwerke muhammedanischer Kunst, die 1910 in München gezeigt wurde, erschienene dreibändige Katalog. Er gilt als das erste Buch, das die Kunst des Islams in einem fast vollständigen Überblick präsentierte, der von den Umayyaden (7./8. Jahrhundert) bis zur Zeit der Kadjaren um 1800 reichte. Das etwa zehn Jahre später erschienene Buch Das Kunstgewerbe des Ostens von Ernst Cohn-Wiener umfasst islamisches Kunsthandwerk von der Mitte des 7. Jahrhunderts bis zur Kunst der Osmanen im 17. Jahrhundert.31 Cohn-Wiener betrachtet diesen Kunstzweig als religiöses Phänomen. Er schreibt: „Das glänzendste Kunsthandwerk der Erde, das

29 Vgl. in erster Linie das berühmte Buch von Samuel Phillips Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. Simon & Schuster, New York 1998; s. auch Bernard Lewis: What Went Wrong? Western Impact and Middle Eastern Response, Oxford, New York: Oxford University Press 2002. 30 Vgl. Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin: Propyläen 2005. 31 Vgl. Ernst Cohn-Wiener: Das Kunstgewerbe des Ostens. Ägypten, Vorderasien, Islam, China und Japan. Geschichte, Stile, Technik, Berlin: Verlag für Kunstwissenschaft [1923], S. 100-178. 257

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islamische, ist keine nationale Schöpfung, wie der Islam selbst nicht ruhende Staatskraft, sondern mitreißende religiöse Bewegung war.“32 Ernst Kühnel skizziert in Die Kunst des Islam von 1962 den künstlerischen Kulturraum des Islams durch seine einzelnen Stilbildungen vom „omayadischen“ bis zum „osmanischen Stil“, das heißt vom 7. bis ins 19. Jahrhundert.33 In der Einleitung schreibt er: „Die Gemeinsamkeit des religiösen Bekenntnisses hat hier stärker als in der christlichen Welt auf die kulturellen Leistungen der Völker eingewirkt; sie hat Rassenunterschiede und nationale Überlieferungen überbrückt und nicht nur die geistigen Interessen, sondern auch Sitten und Gebräuche der verschiedensten Länder in eine erstaunlich klare und einheitliche Richtung gezwungen. Entscheidend für diesen Prozeß der Angleichung war die Bedeutung des Koran über Dinge des Glaubens hinaus für alle Lebensfragen; das Postulat seiner Verbreitung in der Ursprache vollends schuf mit der Alleinherrschaft der arabischen Schrift ein Band, das die ganze islamische Welt zusammenhielt und einen wesentlichen Faktor bildete bei jeglichem Kunstschaffen.“34

Hat die Kunst des Islams ihre Einheitlichkeit im 20. Jahrhundert verloren? In dem 1964 erschienenen Buch Kunst des Islam von Katharina Otto-Dorn wird die islamische Kunst bis etwa ins 17. Jahrhundert behandelt. Das mag mit einem Gedanken Otto-Dorns zusammenhängen, den sie in der Einleitung folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Stellen wir die Kunst des Islams vergleichend der des Abendlandes gegenüber, so erscheint sie uns als eine absolut gegensätzliche und zugleich einheitliche Welt, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt.“35 Man könnte daraus schließen, dass die Welt des Islams ihre Einheit am Beginn des 18. Jahrhunderts verloren hat. In dem schon erwähnten Band von Sourdel-Thomine und Spuler in der Propyläen Kunstgeschichte wird die Kunst des Islams von der Zeit Muhammads bis etwa 1800 behandelt. Im Hinblick auf die Betrachtung des Fremden und ihrer Beziehung zur Rezeption der islamischen Kunst muss betont werden, dass die Autoren die Rezeption islamischer Kunst im Westen in der Einleitung des Bandes kritisch diskutieren. Sie schreiben: „Der Platz des Einmaligen und Fremdartig-Ungewöhnlichen, den man der islamischen Kunst im Abendland zuwies, trug in etwa das glei32 Ebd., S. 100. 33 Vgl. Ernst Kühnel: Die Kunst des Islam, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1962. 34 Ebd., S. 9. 35 Katharina Otto-Dorn: Kunst des Islam, Baden-Baden: Holle-Verlag 1964, S. 8. 258

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che Vorzeichen des Exotismus, mit dem man die Kunst des Fernen Ostens versah […]“.36 Auch Alfred Renz, Geschichte und Stätten des Islam von Spanien bis Indien lässt die islamische Kunst vom 7. Jahrhundert bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts reichen.37 Erwähnenswert ist der Umstand, dass der Autor das Buch mit der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis, eröffnet; er begründet dies folgendermaßen: „Wer versuchen will, die Bauwerke betrachtend zu verstehen, die sie im Lauf von zwölf Jahrhunderten im Dienst und für die Bedürfnisse ihres Glaubens errichtet haben, wird von dieser Religion wenigsten das Nötigste wissen müssen. Auch etwas (Hervorhebung A. S.) von Ihrem Stifter und den Voraussetzungen ihres Werdens.“38

Ähnliche Epochengrenzen der islamischen Kunst finden sich in den Büchern von Ernst Kühnel, Miniaturmalerei im islamischen Orient,39 oder in Volkmar Enderlein’s Islamische Kunst,40 aber durchaus auch in anderen Überblickswerken über islamische Kunst, die in den vergangenen 10 bis 15 Jahren erschienen sind.41 Über den Zeitpunkt der Geburt der islamischen Kunst gibt es kaum einen Zweifel. In fast allen zitierten Werken beginnt sie mit Muhammad, mit dem Bau der Kaaba in Mekka oder mit der Entstehung der dritten monotheistischen Weltreligion in Medina. Auf jeden Fall ist es eher ein historischer Moment, der die Geburt der islamischen Kunst markiert als ein ästhetisches Moment, das einen neuen Stil entstehen lässt. Weitaus schwieriger zu beantworten ist die Frage nach dem Ende der islamischen Kunst; endet sie mit der osmanischen Keramik, mit der Kunst der Safawiden, der Kadjaren in Iran, der Moghul in Indien oder erst mit dem 1. Weltkrieg und dem Fall des Osmanischen Reiches?

36 J. Sourdel-Thomine/B. Spuler: Die Kunst des Islam, S. 12. 37 Vgl. Alfred Renz: Geschichte und Stätten des Islam von Spanien bis Indien, München: Prestel-Verlag 1977. 38 Ebd., S. 15. 39 Vgl. Ernst Kühnel: Miniaturmalerei im islamischen Orient, Berlin: Bruno Cassirer Verlag 1922. 40 Volkmar Enderlein: Islamische Kunst, Dresden: VEB Verlag der Kunst 1990. 41 S. z. B. Robert Hillenbrand: Islamic Architecture. Form, function and meaning, Edinburgh: Edinburgh University Press 1994; ders.: Islamic Art and Architecture, London: Thames and Hudson 1999; Jonathan Bloom/Sheila Blair: Islam: a Thousand Years of Faith and Power, New York: TV Books 2000; Barbara Brend: Islamic Art, Cambridge: Harvard University Press 1991; Robert Irwin: Islamic Art, London: Laurence King 1997. 259

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Wie auch immer die Antwort auf diese Frage in der zitierten Literatur ausfällt, es ist offensichtlich, dass die islamische Kunst im 20. Jahrhundert an ihren Endpunkt gelangt ist. Warum aber wird das letzte Jahrhundert gar nicht betrachtet? Ist es ein ‚Lost Century‘ der islamischen Kunst? Diese Frage wird, wie zum Beispiel von Dan Diner, oft mit dem Hinweis auf Begriffe wie ‚Stagnation‘, Mangel an ‚Kunstwollen‘ und ‚Dekadenz‘ zu beantworten versucht.42 In anderen Studien wird betont, dass die ästhetische und formale Einheit der islamischen Kunst ihr Ende zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden hat. Deshalb wird in den wenigen Untersuchungen, die sich dieser jüngsten Epoche widmen, die islamische Kunst des 20. Jahrhunderts als ein postkoloniales Phänomen angesehen und als eine schlechte Kopie der modernen westlichen Kunst betrachtet. Es scheint, dass mit der positiven Konnotation des Begriffs der ‚Moderne‘ im Westen und der ideologischen Nutzung des Begriffes ‚modern‘ als exklusiv westlichem Kennzeichen die islamische gegenüber der westlichen Kunst in einen Gegensatz geriet und die islamische Kunst des 20. Jahrhunderts im Westen mit anderen Begriffen assoziiert wurde wie z. B. ‚traditionell‘ und ‚konservativ‘. Sourdel-Thomine drückt den Sachverhalt so aus: „Der unübersehbare politische und wirtschaftliche Aufschwung, den die westlichen Länder bei der Begegnung mit den islamischen Völkern nahmen, veränderte das über lange Zeit hin ausbalancierte Gleichgewicht zugunsten des Westens und erzeugte hier ein Gefühl der Überlegenheit, das zusammen mit dem wachsenden Vernunftkult den Blick auf das künstlerische Schaffen der als barbarisch und rückständig erachteten Völker verstellte.“43

Das vom abendländischen aufgeklärten Humanismus verschiedene Denken der Orientalisten hat unsere Vorstellung von der Geschichte des Orients entscheidend geprägt. ‚Modernism‘ und ‚Democracy‘ sind Begriffe, die die Identität Europas und des Westens im 20. Jahrhundert geformt haben und als Gegenbegriffe zu den im Orient sowie im osteuropäischen Kommunismus herrschenden Prinzipien gewissermaßen in westlichen Besitz übergegangen sind. So bleibt die islamische Kunst bis heute ‚gestrig‘, als lebe sie nicht im Heute, und Adjektive wie ‚zeitgenössisch‘ werden ausschließlich mit dem ‚modernen Westen‘ verbunden.44 Es bleibt Aufgabe der Historiker, 42 Vgl. D. Diner: Versiegelte Zeit. 43 J. Sourdel-Thomine/B. Spuler: Die Kunst des Islam, S. 12. 44 Einige Handbücher und Ausstellungskataloge, die in den vergangenen fünf Jahren publiziert wurden, versuchen diese Lücke zu schließen. Leider blei260

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‚The Lost Century‘ der islamischen Kunst zu entdecken und das Bild von der islamischen Kulturwelt zu revidieren. Andernfalls wird die Kunst des Islams am Beginn des 20. Jahrhunderts einst genauso betrachtet werden wie die Kunst von al-Andalus zum Zeitpunkt der Geburt der europäischen Renaissance durch Jacob Burckhardt, nämlich als unfähig „zur Einmündung“ in den ‚Fluss‘ der Kunstgeschichte.45

Literatur Behrens-Abouseif, Doris/Vernoit, Stephen (Hg.): Islamic Art in the 19th Century. Tradition, Innovation, and Eclecticism, Leiden, Boston: Brill 2006. Blair, Sheila S./Bloom, Jonathan M.: „The Mirage of Islamic Art: Reflections on the Study of an Unwieldy Field“, in: The Art Bulletin 85/1 (March 2003), S. 152-184. Bloom, Jonathan/Blair, Sheila: Islam: a Thousand Years of Faith and Power, New York: TV Books 2000. Brend, Barbara: Islamic Art, Cambridge: Harvard University Press 1991. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart: Alfred Kröner 1978. Cohn-Wiener, Ernst: Das Kunstgewerbe des Ostens. Ägypten, Vorderasien, Islam, China und Japan. Geschichte, Stile, Technik, Berlin: Verlag für Kunstwissenschaft [1923]. DaCosta Kaufmann, Thomas: „Eurocentrism and Art History? Universal History and the Historiography of the Arts before Winckelmann“, in: Wessel Reinink/Jeroen Stumple (Hg.), Memory and Oblivion. Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art, Amsterdam 1996, Dordrecht: Kluwer 1999, S. 35-42.

ben ihre Diskussionen der Moderne in der islamischen Kunst sehr oberflächlich, so dass es nicht gelingt, das 20. Jahrhundert als intellektuelle und künstlerische Epoche begreifbar zu machen. Um die moderne islamische Kunst in das 20. Jahrhundert zu integrieren, fokussieren die Autoren auf die islamische Kalligraphie und benutzen sie gewissermaßen als Rettungsanker. Der islamischen Kalligraphie wird auf diese Weise in der zeitgenössischen Kunstgeschichtsschreibung eine ähnliche Rolle zugewiesen wie dem Ornament im 19. Jahrhundert: beide gelten einerseits als Identitätsstifter für die islamische Kunst und andererseits als Impulsgeber für die westliche Moderne. Vgl. dazu im deutschen Sprachraum: Lorenz Korn: Geschichte der islamischen Kunst, München: Verlag C. H. Beck 2008, S. 130; Annette Hagedorn/Norbert Wolf (Hg.): Islamische Kunst, Köln et al.: Taschen 2009, S. 25. 45 Vgl. das Zitat oben S. 249. 261

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Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin: Propyläen 2005. Du Ry, Carel J.: Die Welt des Islam, München: Naturalis Verlag [1988]. Emmer, Johannes: Illustrierte Kunstgeschichte, Berlin: Deutsche Volksbibliothek 1906. Enderlein, Volkmar: Islamische Kunst, Dresden: VEB Verlag der Kunst 1990. Fabian, Johannes: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York: Columbia University Press 1983. Fabian, Johannes: „Presence and Representation: The Other and Anthropological Writing“, in: Critical Inquiry 16 (1990), S. 753-772. Fletcher, Sir Banister: A History of Architecture, London, New York: B. T. Batsford 1896. Flood, Finbarr Barry: „From the Prophet to Postmodernism? New World Orders and the End of Islamic Art“, in: Elizabeth Mansfield (Hg.), Making Art History: A Changing Discipline and Its Institutions, London, New York: Routledge 2007, S. 31-53. Gombrich, Ernst H.: The Story of Art, Oxford: Phaidon 1984. Grabar, Oleg: „Reflections on the Study of Islamic Art“, in: Muqarnas 1 (1983), S. 1-14. Grabar, Oleg: „The Study of Islamic Art: Sources and Promises“, in: Journal of the David Collection 1 (2003), S. 9-22. Hagedorn, Annette: „The Development of Islamic Art History in Germany in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries“, in: S. Vernoit (Hg.), Discovering Islamic Art, S. 117-127. Hagedorn, Annette/Wolf, Norbert (Hg.): Islamische Kunst, Köln et al.: Taschen 2009. Hillenbrand, Robert: Islamic Architecture. Form, function and meaning, Edinburgh: Edinburgh University Press 1994. Hillenbrand, Robert: Islamic Art and Architecture, London: Thames and Hudson 1999. Hillenbrand, Robert: „Studying Islamic Architecture: Challenges and Perspectives“, in: Architectural History 46 (2003), S. 1-18. Honour, Hugh/Fleming, John (Hg.): Weltgeschichte der Kunst, München: Prestel-Verlag 1983. Huntington, Samuel Phillips: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster 1998. Irving, Washington: Bracebridge Hall, Tales of a Traveller, The Alhambra. Hg. Herbert F. Smith et al., New York: Viking Press 1992. Irwin, Robert: Islamic Art, London: Laurence King 1997. Isenstadt, Sandy/Rizvi, Kishwar: „Introduction. Modern Architecture and the Middle East: The Burden of Representation“, in: dies. (Hg.), 262

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The Turks of Prague: The Mundane and the Sublime IVAN DAVIDSON KALMAR

In the western imagination during and after the colonial period, the West appears as knowing and the Muslim East as ignorant; the West as rational and the East as not.1 But before the late eighteenth century, when western hegemony began to assert itself across the Mediterranean, this was not so. The earlier image of the Muslim world was derived from the fact that in previous times, science and philosophy had been much more advanced in the East. The heritage of antiquity was appropriated by Renaissance Europe largely through Arabic and Hebrew translations of, and commentaries on, ancient Greek manuscripts that had disappeared in the West, but survived in the former heartland of Hellenism in the Orient. Accordingly, one of the stereotypes of the scholar was the turbaned Islamic savant. Though it is true for most of the modern period that, as Gil Anidjar puts it, “Orientalism is secularism” and “religion is the Orient,”2 the situation was once the opposite. To the extent that one can speak of “secular” then, secular knowledge was associated with the Orient, and religion with the West. The scientific method as it was maturing in the sixteenth and seventeenth centuries insisted on observation, experiment, and quantification – none of which necessitate reference to God – and so made possible, and indeed demanded, a radical separation between the mundane and the 1 2

Cf. Edward W. Said: Orientalism, New York: Vintage Books 2003, p. 49. Gil Anidjar: Semites: Race, Religion, Literature, Stanford, California: Stanford University Press 2008, p. 48, 51 (Emphasis in the original). 265

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ultramundane. By studying the world as if there were no sign of the divine in it, scientists posed a potential threat to Christianity, if not by encouraging atheism then certainly by appearing to make theology irrelevant to worldly learning. It is not irrelevant that a radical divorce of heaven and earth is the essence of what Hegel would later call the “religion of the sublime” (Religion der Erhabenheit): Judaism and Islam. This made the Muslim scholar even more suitable as an imagined prototype of the scientist who studies the world without resorting to religion. Fig. 1: Raphael, The School of Athens, fresco, 1510-1511, Museo di Vaticano. Detail: Averroes and Pythagoras

It was a threatening figure. Because the worldliness of science was felt to be excessive, because it threatened to undermine the authority of Christian religion, there was a felt need to stress the limitations of science compared to the higher truth of faith. Often the lesson was taught by identifying the overconfident scientist with the Muslim infidel. The Orient was seen as the region where God first spoke to Man, but also as the place where Man rejected God. Consequently, the center of Man’s contact with God was felt to move to the Christian West. The imaginary move is neatly symbolized by the story of the Holy House of Nazareth, the birthplace of Jesus. According to a version still accepted by the Vatican, angels bore the house first to Greece and then to the Italian town of

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THE TURKS OF PRAGUE: THE MUNDANE AND THE SUBLIME

Loreto.3 This left the Orient, the source of Light, as the land of the blind, where the Light was no longer seen. In an age of increasing yet hesitant confidence in Science and Reason, the figure of the oriental savant was quite commonly used as a representation of Knowledge blind to Faith. Such an interpretation was, to be sure, always contested. Many artists and intellectuals were greatly influenced by their interest in Muslim and Jewish readings of both the Bible and of the ancients. In a fellowship of scholars and artists such as the Neoplatonic Academy in fifteenth century Florence, we see the beginnings of both orientalist scholarship and of a spirit of relative respect and tolerance for non-Christians.4 In Raphael’s “School of Athens” (fig. 1), Averroes (AbÙ’l-WalÐd MuÎammad ibn AÎmad ibn Rušd, 1126-1198), the famous interpreter of Aristotle, takes his place with Pythagoras and the other revered ancient philosophers. Such anachronism is a kindness offered to the memory of Averroes. Ignorance of Christianity was excused in personalities that lived before Christ and as such could not of course follow his teachings. Averroes, who lived over a thousand years after Christ, could not of course use the same excuse as the ancient Greeks who lived before him, but showing Averroes in the company of the ancients symbolically absolves him of the charge of theological blindness and perhaps heresy. Here Raphael was contradicting an artistic tradition expressed in numerous depictions of Thomas Acquinas’ alleged triumph over Averroes, such as Giovanni di Paolo’s “St. Thomas Acquinas Confounding Averroës” (fig. 2). In the late Renaissance and the Age of Reason, the influence of Muslim scholarship was still palpable. It made an all-important contribution to the development of the scientific method in the West, conventionally associated with Francis Bacon (1561-1626). Bacon himself, however, felt a strong need to assert his faith: “For if we should believe only such things as are agreeable to our reason, we assent to the matter, and not to the author: which is no more than we do to a suspected witness. But the faith imputed to Abraham for righteousness consisted in a particular, laughed at by Sarah, who, in that respect, was an image of the natural reason. And, therefore, the more absurd and incredible any di3

4

Although the departure of the Holy House from Nazareth is said to have been in 1294, there is no record of the event that dates to before 1472. The first pope to officially recognize the miracle as genuine was Julius II in 1511. Cf. Erwin Panofsky: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York et al.: Harper & Row 1962; Arthur Field: The Origins of the Platonic Academy of Florence, Princeton, N. J.: Princeton University Press, 1988. 267

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vine mystery is, the greater honor we do to God in believing it; and so much the more noble the victory of faith.”5

Fig. 2: Giovanni di Paolo, St. Thomas Acquinas Confounding Averroës, tempera and gold leaf on panel, 24.7 x 26.2 cm, 1445-1450, St. Louis Art Museum

The Prague Orloj A fine example of Muslim (or “Turk”) scholars used to symbolize the futility of science without faith, is the famous Orloj of Prague. It is a large astronomical clock whose origins are shrouded in mystery. The figurines of the “Turks” I will be commenting on are replicas of midseventeenth century originals, which had replaced earlier “Turks”.6 The Orloj takes up most of one of the outside walls of the city’s Old City Hall. It has two clock faces, the one on top showing time (as well as 5

6

Francis Bacon: Advancement of Learning and Novum Organum. Introduction by James Edwin Creighton, rev. ed., New York: The Colonial Press 1899, p. 298. Cf. ZdenČk Horský: Pražský Orloj, Prague: Panorama, 1988, p. 108. My information on the history of the Orloj is taken from Horský’s book, who states that the original figurines were placed in the Orloj composition in 1659. The nineteenth century replicas now on exhibit aimed to reproduce the earlier figurines faithfully. The message of the Orloj remains the same even if some of Horský’s dates should turn out to be wrong.

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astronomical models of the universe) and the one at the bottom the calendar. The upper clock face includes the figures of vices, including Vanity (a form of Pride) holding a mirror and of Luxury holding a mandolin-like instrument,7 both of which wear a hat that recalls an Ottoman turban (figs. 3 and 4). There is also Avarice, represented before the postWorld-War II renovation by the hooked-nosed figure of a Jew. Finally, there is a skeleton representing Death. Since an ingenious nineteenth century remodeling, every hour on the hour when the clock tolls, Death pulls on a string setting in motion a procession of Jesus’ disciples. He also makes Vanity, Avarice, and Luxury shake their heads, deliberately rejecting the message about the limits of Time. Fig. 3: Vanity

7

Fig. 4: Death and Luxury

Tour guides often describe this figure as the “infidel Turk”, ignoring the fact that Vanity wears the same turban, and that the two scholars at the bottom part of the Orloj composition, who are to be mentioned shortly, are also “Turks”. The tour guides’ point is that Avarice is represented (to the right of Vanity) as a Jew, and this alleged “infidel Turk” is meant to join the Jew as another representation of the people’s enemies. Among the failings of such a reading is that it ignores the instrument in the hands of the “infidel Turk”, and does not explain why the same line-up should also include Vanity. 269

IVAN DAVIDSON KALMAR

The message was to oppose the eternity of Heaven to the fleeting character of earthly existence. The theme became extremely popular in the late Renaissance. In painting, it may be considered to have had its heyday in North European work of the sixteenth century. In the famous Ambassadors of Hans Holbein the Younger (fig. 5), the two men’s wealth may be considered an allegory of Avarice, the mirror of Vanity, and the considerable girth of the men perhaps as Gluttony. But the focus here is not on these medieval categories of sin as much as on worldly pleasures and worldly knowledge: both are condemned as futile in the face of religious truth. Worldly pleasure is symbolized, as it would be frequently also in the next century (including by the figure of Luxury on the Orloj) by music: here, a lute and pipes.8 The carpets, like the rich garments, of the men stand for wealth and prestige, and they also bring in the sense of touch. The most important signs of worldliness, however, are those of scientific knowledge. One of the men holds a telescope. There are globes, scientific instruments and an open book. But although the two men are obviously competent in science, they are completely unaware of the foreshortened skull that flies by, as if in a different dimension, at the bottom of the scene. It reminds us but not them, that neither worldly knowledge nor pleasure will save us at the Day of Judgment approaches, and are not worth much compared to Faith. That was and remains the standard interpretation of the opening verse of the biblical book of Ecclesiastes, which warns about all human endeavor being in vain: “Vanity of vanities, all is vanity”, vanitas vanitatum […], et omnia vanitas9 – hence “vanity painting”, “vanity device”, the name given to works with this message, including Prague’s astronomical clock. Although the hourly parade of the figures on the Orloj’s upper-clock face dates in its present form only to a nineteenth century renovation, it captures this spirit of stressing the limits of the world, which the much older clock has no doubt long represented. Clocks themselves were a worldly achievement of what we now call technology and science, and one of the greatest inventions of the secular scientific spirit. They became the appropriate site to inscribe a message about the limits of science without faith. Clocks were a common “vanitas device”. The bourgeois interior design of the nineteenth and twentieth centuries quotes an earlier tradition when it places a skull and the inscription tempus fugit or “time is running (out)” on the face of the ubiquitous upright 8

9

Music, apart from being widely considered a particularly fleeting pleasure, helped to represent sensuality by invoking the sense of hearing. It also represented scientific/mathematical knowledge, since it was still believed that the universe consisted of celestial orbs whose motion produced music. Eccl. 1:2.

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chiming clock. In the case of the Orloj, a magnificent technological masterpiece is forced to pay obeisance to religion and so proclaims its own limitations. Fig. 5: Hans Holbein the Younger, The Ambassadors, oil on oak, 1533, National Gallery, London

What concerns us here, however, is not so much the more spectacular upper clock face just described (although, as I said, Vanity and Luxury are represented with Turkish turbans), but the more modestly decorated bottom of the Orloj composition. Under the calendar face there are two statues of “Turks”. Like one of Holbein’s Ambassadors, one of the Turks holds a telescope and is popularly known as The Astronomer (fig. 6). The other Turk is holding a book, an item also found in the Holbein picture, and is popularly known as The Philosopher (fig. 7).10 Next to the 10 The Astronomer-Astrologist is accompanied by a figurine that is not, without a stretch of the imagination, a “Turk”. Dressed in what seems like a medieval European robe, this statuette is probably the one added by Anton Schumann in 1787, who noted that one of the figurines, though its pedestal was still present, had been lost. It is popularly described as “The Chronicler”. If so then it is perhaps understandable that he is not a Turk. 271

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Philosopher stands the imposing, oversized figure of an angel. The angel holds a drawn sword in one hand and in the other (hidden behind a shield decorated with a cross) a pointer aimed at the calendar. No doubt it is the Archangel Michael, the heavenly warrior whom Christian tradition expects to appear on Judgment Day to lead our souls to judgment. He points to the calendar to remind us that tempus fugit. Prepare for the Day of Judgment! But the two Turks, calmly staring ahead just like Holbein’s ambassadors, are as unaware of the archangel’s presence as the ambassadors are of the skull that whizzes by them. Fig. 6: The Astronomer

Fig. 7: The Philosopher and the Archangel St. Michael

Wisely, the nineteenth century designers of the upper face’s mechanical show did not make these Turks’ heads shake in denial along with those of Avarice, Vanity, and Luxury. For the scholarly Turks’ failing is not, that they willingly contradict the supremacy of God over human science and pleasure, but that they are ignorant of it. What the Orloj is saying to us is that worldly knowledge is really disguised ignorance if it is not coupled with religion. If you have worldly wisdom but not the Holy Faith, then you might as well be a Turk. Speculative and natural philosophy (the latter we now call science) were known to owe much to Muslims; history writing not quite so. 272

THE TURKS OF PRAGUE: THE MUNDANE AND THE SUBLIME

Yet the vogue for vanitas devices should not be misread as a reassertion of medieval faith, where “this world”, the source of vice and repository of pain, was but a way-station to the other. Scientific and technological discoveries, and the intense interest in ancient pre-Christian thought that was aided by the importation of Arabic translations of and commentaries on Greek philosophy, had caused, during the Reformation, a reevaluation of the meaning and value of “the world”, that is, of the world conceived of independently of God. Hegel located in the Reformation “the recognition of the Secular as capable of being an embodiment of Truth; whereas it had been formerly regarded as evil only, as incapable of Good – the latter being considered essentially ultramundane.”11 The suggestion that before the Reformation the world was not thought of as capable of Good is strange, considering that at the very beginning of the Bible God surveys his creation and notes to his satisfaction that “it was good”. But even if Hegel exaggerates (as I think he does), it is indeed the case that in the Reformation the possible goodness and truth of this world became a topic of intense debate and contemplation. The point is not that the telescope and the book of the Orloj’s Turks, like those in Holbein’s Ambassadors, like indeed the sensuous textiles and carpets often present in such works, represent evil or falsehood. The artists of the Renaissance and Baroque periods, as much as the scholars, felt that researching the world was morally and religiously not only justifiable but deeply desirable. It is just that they were advised to pursue worldly knowledge not for its own sake alone, but in order to discover in it the imprint of Divine Providence. This is true both of the Protestant Reformation and of the Catholic Reformation, also known as “CounterReformation”.

Turks, Catholics and Protestants Both Protestants and Catholics liked to liken the other to the Turks. Counter-Reformation Prague is a good example of Catholics aiming their criticism at Muslims, but hoping to strike Protestants as well. Prague is the capital of Bohemia, a region that, in spite of its ancestral Czech tongue, was an electoral state of the “Holy Roman Empire of the German Nation”, and an important center in the religious ferment that pitted Catholics and Protestants against each other in Germany and 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: The Philosophy of History. With Prefaces by Charles Hegel and the Translator, J. Sibree, and a New Introduction by C. J. Friedrich, [New Dover Ed.] New York: Dover Publications 1956, p. 422. 273

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beyond. In 1620, the Catholic party won a decisive victory in the Battle of the White Mountain in 1620, a few decades before the Orloj Turks were installed. The Catholic Habsburgs who thus secured their power in Bohemia (against the Protestant forces, some of whom were vaguely allied with the Turks)12 gave full reign to the Catholic nobles and bishops to rebuild Prague with the architectural and artistic pomp that was fostered by the Catholic Reformation in its battle for Europe’s souls. In this urban renewal, dominated by the Baroque style, the figure of the “Turk” played a role beyond the Orloj. On Charles Bridge, another famous tourist attraction, one limestone composition celebrates a hero who converted thousands of “Jews” and “Turks” (presumably by force); another bemoans the fate of Christian captives in Syria. In the Church of St. Nicholas, the statuary of the nave is dominated by the figures of Christian saints active in the Orient. Fig. 8: St. Wilgefortis (Svatá Starosta, die Heilige Kümmernis), Church of Loreto, Prague, c. 1730-1740

12 The Ottomans had been aided in the battle by Magyar Protestant allies, whose leaders hoped to establish Calvinist rule in Transylvania, Hungary, Austria, and Bohemia with the support of the Turks. 274

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Not far off, at the Church of Loreto, there is a statue of a crucified woman in an oriental costume wearing an oriental woman’s slippers, and sporting a rich, bushy beard. The work, bordering on the ludicrous, represents the martyr St. Wilgefortis (fig. 8). She was a legendary Christian woman promised to a Muslim by her father, some say in Portugal, others in Syria. Wilgefortis prayed to God to disfigure her body so the Muslim would not marry her, especially since she had vowed chastity as a bride of Christ. Her wishes were granted: she grew a beard (a very bushy one if her Prague statue is to be trusted), and it scared off her fiancé. In retribution, her father had her crucified “like Him you adore”.13 With a naïve ignorance of its psychoanalytical and gender-political complexity, the story was meant to praise the heroism of a Christian girl who would rather die than be possessed by a Muslim. The placement of St. Wilgefortis in a chapel of a church recalling the miraculous flight of the birth house of Jesus from Nazareth to the Italian Loreto, and thus from Asia to Europe, is completely understandable. There was more to the imagined link between the “Turk” and the Protestant than that they had both been defeated by true Christians in war. The idea of the Muslim scholar who has knowledge without faith was matched with one aspect of the Protestant believer that was deeply disturbing to official Catholicism. This was the trust that Protestants placed in the individual’s own ability to read the Bible, without the necessary interposition of Church authority. The daily reading of Scripture in private or in a family setting was an important feature of religious practice for many Protestant sects. To call religious practice “secular” is certainly a contradiction in terms. However, individual, relatively independent reading and interpretation of the Bible represented a kind of trust in individual, innate human mental ability. Like Reason, the ability to read and interpret the founding oriental document of Christianity was a this-worldly endowment, and as such was an example of how “the recognition of the Secular was capable of being an embodiment of Truth.” The ability to interpret the word of God was, it must be added, understood to be a gift of God; of this world but originating in the Divine. But 13 Eva March Tappan (ed.): The World’s Story: A History of the World in Story, Song, and Art, 14 vols., Boston, MA: Houghton Mifflin 1914, vol. VI: pp. 398-400. The cult of Wilgefortis usually represents her father and her intended as “pagan” rather than Muslim. But in Prague the crucified Wilgefortis wears clothes and golden slippers unambiguously recalling the Muslim Orient. The artist has understood “pagan” as “Muslim” (a frequent confusion then as before and, perhaps, a correction since a Portuguese ruler who knew Christianity could well have been a Muslim). See also I. E. Friesen: The Female Crucifix: Images of St. Wilgefortis Since the Middle Ages, Waterloo, Ontario: Wilfrid Laurier University Press 2001. 275

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then, so was Reason for most early modern thinkers in the West. And so, in the Turks of the Orloj, we see a complex cautionary parody that does not condemn worldly, scientific knowledge, but condemns it if it forgets its divine origin by sacrilegiously offering its own authority in place of the authority of God. To Catholics, that meant ignoring the authority of the Church. Protestants, in bypassing the Church were, in this context, equated with the “blind” Muslim savants.

God and the World The effect of the emergence of “this world” as the possible site of the True and the Good, caused a crisis in the way that the world’s relationship to God was imagined. The elevation of the world and of worldly knowledge to a worthy object of thought and investigation went hand in hand with changes in the social structure of the West: it indexed the appearance of capitalist modernity. Modern advances in worldly human knowledge and ingenuity that began in the Renaissance produced a sense of achievement, at least among the rich burghers who sponsored them. But the pursuit of prosperity gained from earthly wisdom and labor did not fit easily the values inherited from feudal society, and least of all the values of the Christian church. So the affirmation that the science of the world confirmed the religion of God was plagued by doubt. We see this in the agonized, ecstatic affirmation of the divine over the mundane in the preaching and writing from early on in the Reformation: in this case both the Protestant and the Catholic, from Savonarola to Calvin. Martin Luther, far from being an advocate of the Secular as the locus of the true or the good, frequently used the phrase “prince of this world” (John xii.31) to refer to Satan. The Reformers’ near-pathological fear of “the world” can still be heard reverberating awesomely in Bach’s cantatas. His music for Luther’s famous poem Ein feste Burg ist unser Gott (“A Mighty Fortress is Our God”) exhorts us to fight for Jesus “in the war against Satan’s host, and against the world and sin”.14 Such affirmations of God over “the world” do not hide, but rather express, an evident insecurity as to what the relationship between God and the world really was. Does the world really show evidence of being created by God? Do the affairs of the world show that it is ruled by 14 The libretto by Salomo Franck included direct quotes from Luther. Given here is Joshua Rifkin’s translation from his notes for L’oiseau lyre CD 417 250-2, a 1987 recording of Ein feste Burg and Herz und Mund und Tat und Leben, with himself conducting the Bach Ensemble. 276

THE TURKS OF PRAGUE: THE MUNDANE AND THE SUBLIME

God? Is the structure of the physical universe and of the body, of which the western world was learning so much that was new, a reflection of the mind of God? The unspeakable and so largely unspoken dread was that world was actually not connected to God. The loss of a naïve faith in the divine government of the world as taught by the Church led to the possibility that the world was either completely random or ruled by a God who was neither good nor rational but simply a capricious tyrant. As opposed to this nightmare scenario (which was always raised, if at all, only to be rejected), the fervent hope was that the world did make sense, that it was still the site of divine revelation and divine care. In Protestantism especially, the distrust of “this world” was coupled with a longing for divine grace, for a recovery of the sublime. “This world” was, of course, experienced as the familiar, western world. Christianity’s “abduction from Asia”, paradoxically, left the imagined Orient outside both familiar space and time. It was there, the Bible taught, in that exotic region, half imagined and half real, that God had proven his willingness to enter a godless world. The Orient inspired as the imagined place where the mundane met the sublime, though, as in the Turks of the Orloj, seventeenth century western Christians imagined the Orient’s inhabitants as blind to the fact.

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IVAN DAVIDSON KALMAR

Tappan, Eva March (ed.): The World’s Story: A History of the World in Story, Song, and Art, 14 vols., Boston, MA: Houghton Mifflin 1914.

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Riding the Turns: Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte BIRGIT SCHÄBLER

Edward W. Said (1935-2003), Literaturwissenschaftler und -kritiker, Pianist (und Musikkritiker), Palästinenser und Protestant, gehört zu den ganz Großen in der Branche der Kulturwissenschaften. Sein Name ist weltweit berühmt, seine Bücher wurden in Sprachen aller Kontinente übersetzt. Er war ein „öffentlicher Intellektueller“, vielleicht am besten zu verstehen als eine Art Gesamtkunstwerk. Dass er bis zu seinem Tod im Jahre 2003 heftig umstritten war, tat seinem Bekanntheitsgrad keinen Abbruch. Im Gegenteil. Seine Rezeption jedoch unterscheidet sich gravierend je nach Land, akademischer Kultur und Disziplin. Begründet hat diesen Ruhm sein 1978 erschienenes Hauptwerk Orientalism,1 übersetzt in mehr als 36 Sprachen, das nun, mehr als 30 Jahre später, auch in einer lesbaren und adäquaten Übersetzung auf Deutsch vorliegt,2 nachdem die bereits 1981 erschienene erste Übersetzung sehr viele Mängel aufgewiesen hatte. Orientalism ist dabei erster Teil einer Trilogie mit den beiden außer in Fachkreisen weitgehend unbekannten Werken The Question of Palestine und Covering Islam. How the Media

1 2

Edward W. Said: Orientalism, New York: Vintage Books 1979. Edward W. Said: Orientalism; dt. Übersetzung (Hans Günter Holl), Orientalismus, Frankfurt: S. Fischer Verlag 2009. Ich werde im Folgenden aus dieser Übersetzung zitieren, den Titel des Buches im Text aber im englischen Original, also Orientalism statt Orientalismus, wiedergeben, wenn das Buch gemeint ist. Als Orientalismus bezeichne ich das Konzept. 279

BIRGIT SCHÄBLER

and the Experts Determine How We See the Rest of the World.3 Weitere Hauptwerke sind: • Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography (Dissertation), 1966 • The World, the Text, and the Critic, 1983 • Culture and Imperialism, 1993 • Representations of the Intellectual, 1994 • Out of Place. A Memoir, 1999 • Posthum: On Late Style: Music and Literature Against the Grain, 2003 Edward Saids Orientalism ist eindeutig eine Erfolgsgeschichte. Auch 30 Jahre nach Erscheinen des Buches wird Orientalism diskutiert, dekonstruiert, kritisiert. Doch wie ist diese Erfolgsgeschichte zu erklären? Ein Buch, das vor allem eine im Zeitgeist der 1970er Jahre geschriebene Polemik ist, mit Anleihen beim populären Marxismus (trotz Kritik an Marx’ Eurozentrismus), mit anti-imperialistischer Stoßrichtung – wie konnte sich solch ein Buch über 30 Jahre lang nicht nur behaupten, sondern immer wieder neue Erfolge feiern, also ein Klassiker werden? Denn zum Klassiker wird bekanntlich, wer alle Kritik überlebt und immer wieder neu aufgelegt wird. Und Kritik hagelte es in nicht unbeträchtlichem Maße. Doch auch die schärfsten Kritiker mussten zugeben, dass dieses Buch eine „elektrifizierende Wirkung“ hatte und wie eine „Bombe“ einschlug.4 Orientalism ist nicht von der Art Klassiker, der sich im Ledereinband und mit Goldschnitt in die Vitrine stellen lässt, sondern eher von der Art eines populären Taschenbuchs, dem jede neue StudierendenGeneration mit dem Textmarker zu Leibe rückt, eben weil es für eine bestimmte Positionierung steht, die immer wieder neu aufgenommen werden kann. Der etwas populär klingende Titel dieses Beitrags erschien vor diesem Hintergrund passend. Auch wenn Edward Said sich eindeutig mit der literarischen Hochkultur beschäftigte, ist er doch auch weit über die akademische Welt hinaus populär geworden. Er hat sich nicht nur wis3

4

Edward W. Said: The Question of Palestine, New York: Vintage Books 1980; ders.: Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, London et al. 1981. Vgl. Aijaz Ahmad: „Orientalism and After: Ambivalence and Metropolitan Location in the Work of Edward Said“, in: ders., In Theory. Classes, Nations, Literatures, London, New York: Verso 1992, S. 159-219; Roger Owen, „The Mysterious Orient“, in: Monthly Review 31 (1979), S. 58-63, zitiert nach Zachary Lockman: Contending Visions of the Middle East. The History and Politics of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 184. Dabei ist Aijaz Ahmads marxistische Kritik wesentlich schärfer als die von Roger Owen.

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EDWARD SAIDS BUCH ORIENTALISM ALS ERFOLGSGESCHICHTE

senschaftlich betätigt, sondern hat sich zudem durch sein politisches Engagement für Palästina und die Palästinenser in die Niederungen schärfster politischer Auseinandersetzungen und Anfeindungen begeben, hat eben kein ehrwürdiges Gelehrtenleben im Elfenbeinturm der Wissenschaft geführt und als wohl berühmtester „Orientale“ in den USA in gewisser Weise auch „den Kopf hingehalten“ für das Recht der Palästinenser, als Vertriebene wahrgenommen zu werden. All dies und seine Passion für Musik,5 die er ebenfalls in den Dienst der Sache stellte, machten ihn zum Star.6 Doch hier soll es um sein Hauptwerk gehen, um Orientalism, das es in spektakulärer Weise geschafft hat, bis heute erfolgreich auf den intellektuellen Wellenkämmen der (Kultur)wissenschaften zu reiten und dabei über drei Jahrzehnte hinweg „oben zu bleiben“. Dies ist die These dieses Beitrags, die im Folgenden weiter ausgeführt wird, und die der These, der Erfolg des Buches beruhe auf „seiner Affinität zu den Debatten um ‚politisch korrekte‘ Umgangsformen in den ‚multikulturellen‘ Gesellschaften des Westens“ widerspricht.7 Ich übernehme dabei Doris Bachmann-Medicks Konzept der cultural turns8 und deren Bezeichnungen, begründe die Stellung von Edward Saids Orientalism (ein für Bachmann-Medick zentrales Werk) aber anders, vor allem in Bezug auf die postkoloniale Wende.

Ein Produkt der 1970er Jahre: Orientalism als benutzerfreundliches Handbuch des linguistic turn Zunächst heißt es aber, Orientalism als Kind seiner Zeit, also der ausgehenden 1970er Jahre zu verstehen. Orientalism war bekanntlich nicht die erste Auseinandersetzung mit der europäischen wissenschaftlichen Dar5 6

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S. die Beiträge von Ines Weinrich und Karl-Heinz Kohl in diesem Band. Ausführlicher hierzu Birgit Schäbler: „Postkoloniale Konstruktionen des Selbst als Wissenschaft: Anmerkungen einer Nahost-Historikerin zu Leben und Werk Edward Saids“, in: Alf Lüdtke/Reiner Prass (Hg.), Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 87-100. Thomas Scheffler: „Exotismus und Orientalismus“, in: Kulturrevolution: Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 32/33 (1995), S. 105-111, hier S. 110. Ich bestreite nicht, dass Fragen der Political Correctness bei „Saidianern“ eine Rolle spielen können. Doch können sie den Erfolg des Buches allein nicht erklären. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt Verlag 2006. 281

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stellung des Orients. Im Gegenteil konnte sich Said auf Vorläufer berufen, die gewissermaßen das Terrain für ihn bereitet hatten.9 Aber es war die erste Auseinandersetzung dieser Art, die die Geschichte der Orientalistik und der europäischen Orientvorstellungen in einen allgemeineren, wissens- und gesellschaftspolitischen Rahmen stellte. Dabei scheint Said gegen zwei Hauptströmungen der damaligen Zeit angeschrieben zu haben. Zum einen bekämpfte er eine konservative, unkritisch positivistische, aus der Philologie herkommende Wissenschaft über den Orient: „Gleichwohl stehen heute im Westen (womit ich hauptsächlich die Vereinigten Staaten meine) die meisten Wissenschaften unter dem Anspruch, unpolitisch zu sein, das heißt sachlich, akademisch wertfrei, unparteiisch, über Machtinteressen oder engstirnig doktrinäre Überzeugungen erhaben.“10 Said nahm sich Noam Chomsky zum Vorbild, der „am Beispiel des Vietnamkriegs gezeigt hat, dass der Begriff wissenschaftlicher Objektivität instrumentalisiert worden ist, um die staatlich finanzierte Rüstungsforschung zu kaschieren.“11 Zum anderen wandte er sich gegen ökonomistische marxistische Vorstellungen der Linken, die Kultur im Allgemeinen und westliche kulturelle Diskurse im Besonderen als „Überbauphänomen“ abtaten, mit dem sich zu befassen Zeitverschwendung sei, da allein die ökonomische Basis zähle. Dies galt natürlich auch für die Linke außerhalb der Metropolen. Vor allem den Völkern der sogenannten Dritten Welt wollte er ein „Verständnis, weniger der westlichen Politik und der Rolle der nichtwestlichen Welt darin, als der Stärke des westlichen kulturellen Diskurses, der oft als bloß dekoratives ‚Überbauphänomen‘ missverstanden wird“, vermitteln und „die perfide Struktur kultureller Herrschaft und, gerade für ehemals kolonisierte Völker, die Gefahren und Versuchungen ihrer Übernahme“ veranschaulichen.12 Gegen diese Fronten zog er zum einen mit Michel Foucault und zum anderen mit Antonio Gramsci ins Feld. Von Michel Foucault entlehnte er den Diskurs-Begriff, den er allerdings sehr eigenwillig interpretierte: „[I]m Unterschied zu Michel Foucault […] glaube ich an den prägenden 9

Vgl. Anouar Abdel-Malek: „Orientalism in Crisis“, in: Diogenes 44 (1963), S. 103-140; Abdel-Latif Tibawi: „English-Speaking Orientalists“, in: Islamic Quarterly 8 (1964), S. 25-45; Raymond Schwab: La renaissance orientale, Paris: Editions Payot 1950; Jean-Jacques Waardenburg: L’Islam dans le miroir de l’Occident, Den Haag: Mouton 1962; Maxime Rodinson: La fascination de l’Islam, Paris: Maspero 1980. 10 E. W. Said: Orientalismus, S. 19. 11 Ebd., S. 20; er zitiert hier Noam Chomsky: Amerika und die neuen Mandarine. Politische und zeitgeschichtliche Essays, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, und ders.: Aus Staatsräson, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. 12 E. W. Said: Orientalismus, S. 36 (Hervorhebungen im Original). 282

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Einfluss einzelner Schriftsteller auf den ansonsten anonymen kollektiven Fundus von Texten, die eine Diskursformation wie jene des Orientalismus begründen.“13 Von Antonio Gramsci übernahm er den Begriff der „kulturellen Hegemonie“, den auch dieser gegen ökonomistische BasisÜberbau-Marxisten entwickelt hatte, und den Imperativ, das „Bewusstsein“ des Autors durch ein „Erkenne-Dich-selbst“ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses an den Anfang des Erkenntnisprozesses zu stellen.14 Damit bekennt er sich entschieden zur Rolle des Autors nicht nur im Erkenntnisprozess, sondern auch als selbstverantwortlich und politisch Handelnder (und nicht als Medium des Diskurses à la Foucault). Said stellt damit einen Zusammenhang zwischen Wissen/Wissenschaft und Macht am Beispiel des Orientalismus her. Er beschreibt ein „Herrschaftswissen“, folgt der Maxime „Das Private ist politisch“, um im Jargon der Zeit zu bleiben, und verbindet somit Wissenschaftskritik mit Imperialismuskritik. Damit traf er in doppelter Weise den Nerv der 1970er Jahre. Vor allem die bis dato Marginalisierten westlicher Gesellschaften, die nun mit Macht in deren Zentrum drängten, fühlten sich angesprochen: Frauen, sexuelle und soziale Minderheiten aller Couleur. Das Buch schlug ein, vor allem in den USA. Saids Anwendung von Foucaults Diskurstheorie trug massiv zur Verbreitung des französischen Poststrukturalismus in der akademischen Welt der USA bei, eine Entwicklung, die in den Literaturwissenschaften schon eine Weile im Gange gewesen war, nun aber auch in anderen Disziplinen und Feldern großes Gewicht erlangte. Orientalism erschien zu einem Zeitpunkt, als feministische Theorien und Geschlechterstudien die amerikanische Wissenschaft transformierten, und wurde selbst maßgeblich in einer Reihe von Disziplinen, vor allem natürlich den Literary Studies, aber eben auch den Gender und sogenannten Queer Studies (obwohl weder Frauen noch Homosexuelle selbst darin vor-, und die „Orientalen“ überhaupt nicht zu Wort kamen).15 In gewisser Weise trug Saids Orientalism entscheidend dazu bei, Foucaults Diskursanalyse zu „amerikanisieren“. 13 Ebd., S. 34. 14 Ebd., S. 37. 15 Auf die feministische Kritik kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Hauptsächlich: Billie Melman: Women’s Orients: English Women and the Middle East, 1718-1918. Sexuality, Religion and Work, Ann Arbor: University of Michigan Press 1992, Meyda YeÊenoÊlu: Colonial fantasies. Towards a feminist reading of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 1998; s. auch Isolde Kurz: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Würzburg: Ergon Verlag 2000, S. 185-193. 283

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Orientalism fiel also genau in den Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, in die sprachphilosophische und epistemologische Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die heute unter dem Schlagwort linguistic turn bekannt ist. Im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre kulminierte diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften in neueren Ansätzen vor allem der französischen Philosophie – der Diskurstheorie Foucaults, der Dekonstruktion Derridas und postmodernen Theorien. Im Laufe der 1970er/ 1980er Jahre blieb kaum eine Geistes- und Sozialwissenschaft vom linguistic turn unbeeinflusst. Die Frage nach der Repräsentation, Darstellung und Ordnung der Dinge stand im Zentrum des Denkens, verbunden mit Fragen nach den Auswirkungen dieser Repräsentations-, Darstellungs- und Ordnungsverfahren auf die soziale Realität. Gerade bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialen Realitäten, die als hierarchisch und repressiv wahrgenommen wurden, hatte dieser Paradigmenwechsel Folgen. Said machte am Beispiel des Orients mit großer Anschaulichkeit klar, dass es nicht nur darum ging, die Darstellungen einer normativ als „repressiv“ und „zu verändern“ wahrgenommenen Wirklichkeit als Mittel zum Zweck, als sekundäres „Reden über“ aufzufassen, sondern dass die sprachlichen Darstellungen selbst, der „Text“, ins Zentrum der Analyse gerückt werden müssten. Was die verschiedenen Grade von Radikalität (auf einer Skala von „Texte handeln“ versus „Menschen handeln“) betrifft, stand Said allerdings eher „rechts“: Bei ihm handelten immer noch Menschen, Autoren durch ihre Texte, nicht die Texte selbst. Trotz (oder gerade wegen?) dieser Unterschiede zu Foucault und anderen exemplifizierte Said dieses neue Programm auf sehr eingängige Weise am Orient. Orientalism wurde so etwas wie ein (benutzerfreundliches) Handbuch des linguistic turn. Doris Bachmann-Medick hat die „Mega“wende des linguistic turn zu Recht in eine Vielzahl von cultural turns, die sich seit den 1970er Jahren in seinem „Schlepptau“ herausbildeten, ausdifferenziert.16 Edward Saids Orientalism spielte in mehreren von ihnen eine Rolle. Doch zunächst noch einmal eine Rekapitulation seiner wichtigsten Thesen: Said argumentierte hauptsächlich, dass Europa seit der Antike, besonders aber die westlichen Großmächte England und Frankreich im 19. Jahrhundert bzw. deren Wissenschaften vom Orient, diesen durch selbst-referenzielles Wissen gleichsam erst nach ihrem Gegen-Bilde erschaffen hätten als das ewig „Andere“, das Unterlegene. Die Orientalisten des 19. Jahrhunderts konstruierten, so Said, den Westen als rational, 16 Vgl. D. Bachmann-Medick: Cultural Turns. 284

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geordnet, modern und säkular und den Osten als irrational, chaotisch, traditionell und fanatisch religiös. Diese Konstruktionen erfolgten, so der zweite Teil seines Argumentes, eindeutig mit dem Ziel der Beherrschung. Damit wird der Orient zum einen als soziale Konstruktion mit genuin imaginärem Charakter analysiert, die hierarchische Strukturen produziert oder stützt. Eben weil der Orient dem Westen auf machtpolitischer Ebene unterlegen ist, eignet er sich als Projektionsfläche für westliche Imaginationen. Darüber hinaus ist der Orient auch „das Andere“ des Westens. Diese Alterisierung des Orients dient der Konstruktion westlicher Identitäten und produziert oder stützt somit ebenfalls hierarchische Strukturen. Und nur, weil der Orient dem Westen auf machtpolitischer Ebene unterlegen ist, kann er zu dessen „Anderem“ gemacht werden. Die Parallelen zur Gender-Forschung der 1970er/1980er Jahre werden hier evident. Die Probleme einer solchen Argumentation füllen Bände, wie Said teilweise selbst zugegeben hat, und können unter die Stichworte Ahistorizität, Essentialisierung, Totalisierung, Widersprüchlichkeiten in der Methodik, Intentionalismus und zu starke Eingrenzungen sowie zu viele Lücken des Phänomens Orientalismus ebenso wie ein zu moralischer, anklagender Impetus und Ton gefasst werden.17 Es ist eine zutiefst ahistorische Verfahrensweise, eine Linie von Aeschylus bis Kissinger zu ziehen. Said zeichnet ein völlig essentialistisches Bild des Westens: seine ausgewählten französischen und britischen Quellen repräsentieren ganz „Europa“. Der Orient wird einerseits als soziale Konstruktion dargestellt, nicht als „essentialistisches Ding“, das existiert. Gleichzeitig legt Said großen 17 Für eine theoretisch luzide und sehr kritische Zusammenfassung der vielfach geäußerten Kritikpunkte s. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2005, die auch die Verortung im linguistic und cultural turn vornimmt, diese jedoch etwas anders fasst als ich unter Bezug auf Bachmann-Medick. Polaschegg vernachlässigt m. E. jedoch die asymmetrischen Machtverhältnisse, unter denen der Orient historisch operiert hat und noch immer operiert. Auch lokalisiert sie den Text nicht in den spezifischen historischen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit, also Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonisierung. Ihr geht es um die „Regeln der Imagination“. Eine konzise Zusammenfassung von Thesen und Kritik der ersten 20 Jahre aus historischer Sicht findet sich bei Jürgen Osterhammel: „Edward W. Said und die ‚Orientalismus‘-Debatte. Ein Rückblick“, in: Asien Afrika Lateinamerika 25 (1997), S. 597-607; für eine neuere Zusammenfassung s. auch María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 37-46. 285

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Wert auf die außerdiskursive Existenz des Orients, die als implizite Instanz der Analyse dient, an der die orientalistischen Repräsentationen gemessen und auf ihre Korrektheit hin überprüft werden.18 Der imaginäre Charakter des Orients ist Ergebnis und Stütze eines hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisses.19 Die Macht der Repräsentation des Orients liegt nach Said auch darin, dass sie seinen Platz einnimmt. Der orientalistische Schein im europäischen Bewusstsein wandelt sich so in orientalisches Sein – unter dem Foucaultschen Kleid steckt also die alte marxistische Abbild-Theorie.20 Saids Widersprüche lassen sich zu einem großen Teil auf die Verwendung zweier einander widersprechender Theorie- und Methodenversatzstücke zurückführen, nämlich Foucaults Diskursanalyse einerseits und Gramscis Hegemoniekonzept andererseits. Saids bedingungsloser Intentionalismus lässt keine anderen Motive europäischer Orientforschung zu als den Willen zur Macht und Beherrschung. Auch seine Überlegungen zu Alterität und Macht sind widersprüchlich. Said nimmt eine Kausalbeziehung an zwischen westlicher Identitätsfindung, verzerrender Darstellung des Anderen und Macht. Eine der ersten und pointiertesten Kritiken am Konzept des Orientalismus kam von dem syrischen Philosophen Sadiq Jalal al-Azm, der bis heute in Damaskus und Beirut lebt, damals Marxist und heute noch ein Verfechter des Säkularismus. Er wies darauf hin, dass die verzerrende Darstellung einer anderen Kultur und ihre Einordnung in Schemata der eigenen kein charakteristischer Bestandteil eines imperialistischen Diskurses oder ein Spezifikum des Westens sei. Auch Verstehensprozesse im Osten können genauso ablaufen.21 Außerdem bedient sich Said eines moralischen Impetus, der sich auf „Wahrheit“ und Humanismus beruft, was wiederum im Widerspruch zu Foucaults Denken steht. Doch trotz aller Probleme und Widersprüchlichkeiten – Edward Said hatte zentrale theoretische Fragen verschiedener Disziplinen angeschnitten und wurde durch ihre kritische Diskussion weiter rezipiert.

18 „Erstens wäre es gewiss falsch, den Schluss zu ziehen, dass der Orient im Wesentlichen eine Idee oder eine Erfindung ohne Realitätsgehalt war“ (E. W. Said: Orientalismus, S. 13, Hervorhebung im Original). 19 Vgl. ebd., S. 15. 20 Andrea Polaschegg geht mit ihrer Kritik noch weiter und sieht hier eine zentrale Aporie, die das Buch entwertet (A. Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 34). 21 Vgl. Sadiq Jalal al-‘Azm, „Orientalism and Orientalism in Reverse“, in: Khamsin: Revue des Socialistes Révolutionnaires du Proche-Orient 8 (1981), S. 5-26. Al-Azm warf Said darüber hinaus überzogene Kritik an Marx und Ahistorizität vor. 286

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Wiederaufnahme und Kritik im reflexive turn der 1980er Jahre Es waren genau die Probleme der Repräsentation des Anderen, von denen Said gesprochen und die er selbst reproduziert hatte, die sein Buch zehn Jahre nach Erscheinen für eine weitere Wende interessant machten. Seine Entlarvung des Orientalismus traf ins Nervenzentrum einer weiteren großen intellektuellen Welle der Kritik an einer als kolonialistisch empfundenen Wissenschaft: die Selbstkritik der Ethnologie/Anthropologie22 an den kolonialen Wurzeln ihres Faches. Die Ethnologie/Anthropologie war ja neben den philologischen Fächern wie der Orientalistik die Disziplin, die sich gewissermaßen von Berufs wegen mit nicht-westlichen Gesellschaften auseinander gesetzt hatte. Auch die Ethnologen arbeiteten an den großen Themen der Machtbeziehungen von Repräsentationen und der sozialen Wirklichkeiten als Texte. Auch sie stellten die Frage, ob europäisches Wissen über den Rest des Planeten von einem westlichen Willen zur Macht gestaltet wurde. Schon bei Clifford Geertz, der eine selbstreflexive Textanalyse forderte und den Anthropologen auch als Schriftsteller sah, ist das Vertrauen in die objektive Repräsentierbarkeit fremder Kulturen durch wissenschaftliche Darstellung erschüttert.23 Noch stärker aber nimmt die „Writing Culture“-Bewegung, die mit dem Namen James Clifford verbunden ist, die ethnographischen Texte selbst ins Visier und propagiert die Selbstreflexion wissenschaftlichen Schreibens nicht nur für Ethnologen.24 Doris Bachmann-Medick identifiziert diesen turn als den „reflexive turn/literary turn“.25 Es ist wenig verwunderlich, dass von den Vertretern dieses turns die vielleicht differenzierteste Kritik und Weiterentwicklung von Saids Orientalism-Text stammt. In einem viel beachteten Kapitel seines Buches The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art, überschrieben einfach mit „On Orientalism“, stellt Clifford Saids Text in den Kontext der nunmehr rund fünfzigjährigen Dekolonisation ehemals kolonisierter Völker und damit in den globalen, vielstimmigen Zusammenhang des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er preist Edward

22 Die Bezeichnungen Anthropologie/Anthropologen meinen hier vor allem die social anthropology und ihre Vertreter im anglo-amerikanischen Raum. 23 Vgl. Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München: Carl Hanser Verlag 1990 (Originalausgabe: 1988). 24 Vgl. James Clifford: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1988. 25 Vgl. D. Bachmann-Medick: Cultural Turns. 287

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Said als den Interpreten französischer Theorie für amerikanische Leser,26 aber er enthüllt auch die Aporien des Said’schen Denkansatzes. Er diagnostiziert luzide die Authentizitätsfalle, in die leicht tappen kann, wer „authentischere“ oder „humanere“ Darstellungen anderer Kulturen fordert. Er sieht, wie Said die essentialisierenden Diskurse, die er so stark kritisiert, manchmal fast kopiert. Er stellt fest, wie die humanistische Perspektive, die Said für sich reklamiert, mit der radikalen Humanismus-Kritik von Foucault zusammen prallt. Auch Saids (widersprüchliche) Aneignung von Foucault geschieht mit einer moralischen Anreicherung, wenn er ihn positiv von Derrida absetzt.27 Seine Darstellung von Marx kritisiert Clifford als ebenfalls stark moralisierend. Doch trotz aller Kritik sieht Clifford in Said einen Verbündeten, dessen methodische Verdächtigungen aller Schreibprozesse, die das Andere erst erschaffen, für die anthropologische Praxis produktiv gemacht werden können, dessen Fragen immer noch zentral und dessen methodische Ambivalenzen eben auch charakteristisch für eine zunehmend allgemeine globale Erfahrung seien. Said wird als jemand gesehen, der seiner Zeit voraus war, als einer der Ersten, der das ausgehende 20. Jahrhundert in seiner globalen Polyphonie nicht nur voraus gesehen, sondern quasi mit herauf beschworen hat. Ungleich kritischer fällt der Befund von George E. Marcus und Michael M. J. Fischer aus. In ihrem programmatischen Buch Anthropology as Cultural Critique positionieren sie sich als anthropologische Kulturkritiker (und zugleich kulturkritische Anthropologen), die einer selbstreflexiven Anthropologie eine wichtige Funktion für westliche Gesellschaften, nämlich eben die der Kulturkritik, zuschreiben.28 Vor allem die Praxis des „Fremdmachens“ wird als Erkenntnismittel und Medium der Kulturkritik genutzt. Bereits auf der ersten Seite ihrer Einleitung erwähnen sie Orientalism als „einen Angriff auf diejenigen Literaturgenres, die im Westen entwickelt wurden, um nicht-westliche Gesellschaften darzustellen“, ein Angriff, der sich durch einen „breiten und undifferenzierten Pinselstrich“ auszeichne.29 Saids Buch entwickle keine Alternative, wie man die Stimmen und Standpunkte anderer Kulturen besser repräsentieren könne und nehme dem Leser alle Hoffnung, dass dies überhaupt möglich sei. Mit seinem „rhetorischen Totalitarismus“ lasse er den Anderen selbst überhaupt keinen Platz. Er erkenne kein Motiv für das 26 Vgl. J. Clifford: The Predicament of Culture, S. 255-276, hier S. 259. 27 Vgl. ebd., S. 265. 28 Vgl. George E. Marcus/Michael M. J. Fischer: Anthropology as Cultural Critique. An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago, London: The University of Chicago Press 1986. 29 Ebd., S. 1 (Übersetzung der Verfasserin). 288

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Interesse am Orient außer den Willen zu seiner Beherrschung an ebenso wie er interne Debatten oder Differenzen im Westen völlig vernachlässige. Historischer Wandel komme bei ihm auch nicht vor.30 Das Argument von Marcus und Fischer, dass die Kontroverse um sein Werk jedoch nur innerhalb der Wissenschaft geführt werde, während die Kontroverse um Margaret Meads Bücher es auf die Titelseiten der großen US-amerikanischen Zeitungen schaffte31 (da hier die US-amerikanische Gesellschaft selbst zur Debatte stand, B. S.), ist keine ganz angemessene Charakterisierung der Kontroversen um Edward Said. Doch die Parallelsetzung mit Margaret Mead, die zu dieser Zeit ungleich berühmter war, als erster Aufhänger für die These von der kulturkritischen Kompetenz, die der Sozialanthropologie inne wohne, ist ein Indikator für den weiteren Verlauf der Orientalismus-Rezeption – und Edward Saids steigenden Bekanntheitsgrad.

Nachträgliche Anerkennung: Orientalism wird ex post zum „Gründungsbuch“ des postcolonial turn Edward Saids Orientalism sprach aber noch eine andere intellektuelle Bewegung an, die das Buch ex post (!) als einen Gründungstext adoptierte: die Postkolonialen Studien.32 Die Fackel werde nun nicht mehr von der Ethnologie/Anthropologie getragen wie im reflexive turn, sondern von der Literaturwissenschaft, argumentiert Doris Bachmann-Medick.33 Doch sind die Postkolonialen Studien vielfältiger Natur und schließen selbst wiederum an frühere Bewegungen an – bzw. schließen diese ein –, die nicht von Literaturwissenschaftlern getragen wurden. Die Begriffe „postkolonial“, „Postkolonialismus“ und „Postkoloniale Studien“ (oftmals mit Bindestrich differenziert: „post-kolonial“) sind mehrschichtig. Zum ersten Mal taucht das Begriffspaar wohl 1977 tatsächlich im Titel eines Sonderhefts einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift auf, der New Literature Review 2: Post-colonial literature.34 30 Vgl. ebd., S. 2. 31 Vgl. ebd., S. 3. 32 Dass Orientalism „das Gründungsdokument postkolonialer Theorie“ sei, ist zu einem Gemeinplatz geworden (M. Castro Varela/N. Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 31; D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 188, 189). 33 Vgl. D. Bachmann-Medick: Cultural Turns. 34 Vgl. W. D. Ashcroft/M. Cotter/J. Docker/S. Nandan: New Literature Review 2, Special issue: Post-colonial literature, zitiert nach Bill Ashcroft et al.: Key concepts in Post-Colonial Studies, London, New York: Routledge 1989, S. 244. 289

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Dort ging es um die neuen Literaturen des Britischen Commonwealth. Der Begriff wurde jedoch bald ausgeweitet und umfasste sowohl die Dimensionen des „Antikolonialen“ und „Neokolonialen“ als auch den Bezug auf die intellektuellen Strömungen des Poststrukturalismus und der Postmoderne. Die enorme Spannweite des Begriffs sorgt für anhaltende Kritik, doch haben sich die Postcolonial Studies vor allem in den USA, Australien und Großbritannien durchgesetzt (nur in eingeschränkterem Maße auch in Indien).35 Orientalism erschien 1978 also auch am Ende eines Jahrzehnts, das die Anstrengungen der Gesellschaften des Trikont erlebt hatte, um im Jargon der Zeit zu bleiben, der ehemals kolonisierten Kontinente also, zuerst das koloniale Joch abzuwerfen und dann das Erbe des Kolonialismus gerade auch im mentalen, psychologischen Bereich zu bewältigen. Neben Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor, Albert Memmi, Roberto Fernandez Retamar und C. L. R. James war es vor allem der in Martinique geborene Frantz Fanon (1925-1961), ein Psychiater, der am algerischen Befreiungskrieg gegen Frankreich teilnahm und vielleicht das wahre Gründungsbuch der Bewegung schrieb, Die Verdammten dieser Erde (1961).36 Dieses Buch über die psychologische, kulturelle Befindlichkeit des postkolonialen Subjekts (und nicht mehr über seine ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung) war in hohem Maße anschlussfähig an die sich herausbildende poststrukturalistische Wende und wurde später von Homi Bhabha rezipiert.37 (Edward Said schrieb erst in Kultur und Imperialismus über Fanon und James.) Bei Fanon standen, ganz im Gegensatz zu Saids Orientalism, die Kolonisierten selbst im Mittelpunkt. Trotzdem war es Orientalism, das zum Gründungsbuch der Postkolonialen Studien erklärt wurde. Diesen Akt vollzog 1988 Gayatri Chakravorti Spivak, eine indisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin. Spivak war als Übersetzerin von Derridas Grammatologie ins Englische bekannt geworden, mit der sie den französischen Philosophen in die US-amerikanische Wissenschaft einführte. 1982 und 1984 hatte sie an den Symposien einer Gruppe von Literatursoziologen in Essex „The

35 Eine hervorragende Zusammenschau der Kritik am Konzept findet sich bei Ella Shohat: „Notes on the ‚Post-Colonial‘“, in: Social Text 31/32, Third World and Post-Colonial Issues (1992), S. 99-113. 36 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt: Suhrkamp 1966 (Original 1961). 37 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London: Routledge 1994, Kapitel „Interrogating identity: Frantz Fanon and the postcolonial prerogative“, S. 40-65. 290

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Politics of Theory“ and „Europe and its Others“ teilgenommen,38 zusammen mit Edward Said und Homi Bhabha. Homi Bhabha war zwei Jahre zuvor in Essex mit einem Papier hervor getreten, das mit kritischsympathisierendem Bezug auf Edward Saids Orientalism eine der ersten Ausformulierungen der kolonialen Diskurstheorie („colonial discourse theory“) war und in dem er die Kernthesen von Orientalism gewissermaßen mit der Psychoanalyse Jacques Lacans „anreicherte“.39 Orientalism wurde zentral in den theoretischen Diskussionen um Alterität und Macht. Bald waren Said, Bhabha und Spivak als die „Heilige Dreifaltigkeit“ (Young) zunächst der kolonialen Diskurstheorie, dann der „postkolonialen Theorie“ bekannt (von der auf den beiden Essex Symposien interessanterweise aber noch nicht die Rede war).40 Dieser Strang der postkolonialen Kritik (ich bevorzuge „Kritik“ vor „Theorie“, weil es sich beim Postkolonialismus eben in keiner Weise um ein einheitliches Theoriegebäude handelt) in den 1990er Jahren war in der Tat ein literaturwissenschaftlicher. Gayatri Chakravorty Spivak nahm jedoch noch eine andere strategische Intervention in eine weitere intellektuelle Bewegung von Tragweite vor: in die geschichtswissenschaftliche Schule der Subaltern Studies, die vom Kollektiv gleichen Namens seit Beginn der 1970er Jahre betrieben wurden. Dieses Kollektiv umfasste ursprünglich sechs südostasiatische Historiker unter der Führung von Ranajit Guha, der 1982 den ersten Band der sechsbändigen, massiven Intervention der Subaltern Studies in die traditionelle Geschichtsschreibung der „Cambridge School“ herausgab.41 Diese Historiker beriefen sich auf Antonio Gramsci und seine Definition des Subalternen, mit der sie nicht nur die koloniale Geschichtsschrei-

38 Vgl. Francis Barker (Hg.): Europe and Its Others, Colchester: University of Essex Press 1985; Spivak erwähnt dies (und ihre Unzufriedenheit mit dem Titel des Symposiums, der ihrer Meinung nach besser „Europe as an Other“ hätte heißen sollen) in ihrem Buch: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge: Harvard University Press 1999, S. 199. 39 Vgl. Francis Barker/Peter Hulme/Margaret Iversen (Hg.): Colonial discourse, postcolonial theory, Manchester, New York: Manchester University Press 1994, Einleitung. Homi Bhabha erkannte Edward Saids Orientalism in seinem Buch The Location of Culture bereits im Vorwort als Pionierarbeit an (H. K. Bhabha: The Location of Culture, IX); ebenso im Kapitel „The other question: Stereotype, discrimination and the discourse of colonialism“, S. 66-84, hier S. 71f. 40 Vgl. F. Barker/P. Hulme/M. Iversen (Hg.): Colonial discourse, S. 2; Robert J. C. Young: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London: Routledge 1995, S. 163. 41 Vgl. Ranajit Guha (Hg.): Writings on South Asian History and Society. Subaltern Studies No. 1, Delhi: Oxford University Press 1982. 291

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bung, sondern auch die der indischen Eliten herausforderten, die beide den Subalternen keine eigene Handlungsmacht zugestanden. Ziel des Historikerkollektivs war es, die verlorenen Stimmen der subalternen Gruppen durch unorthodoxe Leseweisen in den Quellen der Archive zum Sprechen zu bringen. Dagegen veröffentlichte Gayatri Chakravorti Spivak 1985 zum ersten Mal ihre berühmte Kritik an den Subaltern Studies, ihren Aufsatz „Can the Subaltern speak?“, den sie 1988 und 1990 noch einmal in geänderter Form publizierte.42 Darin kritisiert sie den Ansatz des (männlichen) Kollektivs als essentialistisch und im Grunde selbstgerecht und kommt zu dem Schluss, vor allem die Subalterne könne nicht sprechen – was sie später abschwächte. Das Historikerkollektiv hatte Edward Saids Orientalism trotz dessen Berufung auf Gramsci ausgeblendet – sie schrieben außerhalb der USamerikanischen Diskussionen, und ihr Ziel war es ja, den Stimmen der Kolonisierten Raum zu geben und sie eben nicht im Gefängnis der westlichen Texte gefangen zu halten. Spivak jedoch berief sich auf Edward Said, zwar nicht auf Orientalism, sondern auf sein späteres Buch The World, the Text and the Critic und seine Kritik am Machtbegriff Foucaults, der es diesem erlaube, „die Rolle von Klassen, von Ökonomie sowie von Aufstand und Rebellion zu ignorieren“.43 In einem vielzitierten Subaltern Studies Reader, der auf Initiative von Spivak44 eine Auswahl der Texte aus den sechs Bänden der Subaltern Studies zum ersten Mal einem breiteren Publikum in den USA nahebringen sollte und der von Guha und Spivak gemeinsam herausgegeben wurde, schrieb Edward Said das Vorwort. In ihm stellte er das Subaltern Studies Kollektiv in eine Reihe mit Frantz Fanon, Salman Rushdie, Mahmud Darwish, Ali Shariati, Abdallah Laroui, Eqbal Ahmad und zahlreichen anderen, die er so als postkoloniale Autoren mit etablierte.45 42 Die allererste Fassung erschien in: Wedge 7/8 (1985), die gewöhnlich zitierte Fassung des Aufsatzes in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana: University of Illinois Press 1988, S. 271-313; zur editorischen Geschichte des Aufsatzes s. Gayatri Chakravorti Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation; dt. Übersetzung (Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny). Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia und Kant 2008. 43 Vgl. ebd., S. 39. 44 Vgl. G. Ch. Spivak, Critique, S. 271, Anmerkung 118, wo sie konzediert, der auf ihre Initiative zustande gekommene Band habe den Begriff „subaltern“ in der amerikanischen Rezeption verwässert. 45 Ranajit Guha/Gayatri Chakravorty Spivak (Hg.): Selected Subaltern Studies, Oxford/New York: Oxford University Press 1988, S. V-XII, hier S. IX/X. 292

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1993 ernannte Spivak Edward Said in ihrem Buch Outside in the Teaching Machine endgültig zum Gründervater, Orientalism zum Gründungsbuch der kolonialen Diskursanalyse und der Postkolonialen Studien. Nachdem sie auch Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde zu den „großen Texten der arabischen Welt“ gezählt hatte, schrieb sie im Kapitel „Marginalität“: „In diesem allgemeinen Kontext finden wir das Gründungsbuch (source book) unserer Disziplin: Edward Saids Orientalism. […] Es war eine Studie über die Konstruktion eines Objekts, zum Zwecke der Befragung und Beherrschung.“46 Spivak beruft sich auch heute noch auf Said als „ihren Freund und Alliierten, den Gründer der Postcolonial Studies.“47 Edward Said würdigt in einem Rückblick auf Orientalism sowohl Subaltern Studies als auch Postkolonialismus als eine brillante Konzentration auf das Lokale, Regionale und Kontingente, das mit den großen Fragen der Emanzipation, revisionistischen Ansätzen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften und der Kritik an Eurozentrismus und Patriarchat verbunden sei.48 Jüngere Historiker der Gruppe schrieben die Subaltern Studies in die (breitere) postkoloniale Kritik ein. Gyan Prakash beispielsweise eröffnet seinen Aufsatz „Subaltern Studies as Postcolonial Criticism“ mit der These: „Wenn man das Gärmittel, das die Subaltern Studies in so verschiedenen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Anthropologie, und der Literaturwissenschaft geschaffen haben, erkennt, erkennt man damit gleichzeitig die Kraft der jüngsten postkolonialen Kritik an.“49 Und auch der Historiker Dipesh Chakrabarty, der ebenfalls aus dem Subaltern Studies Kollektiv kam, hat sich mit seinem Buch Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, einem einflussreichen Statement zur Frage der Differenz von europäischem Denken und außereuropäischer Erfahrung mit diesem Denken, wohl als derzeit wichtigster kritischer Vertreter des Postkolonialismus etabliert.50 46 Gayatri Chakravorty Spivak: Outside in the Teaching Machine, New York, London: Routledge 1993, S. 53-76, hier S. 56 (Übersetzung der Verfasserin). 47 Gayatri Chakravorty Spivak: „In Memoriam: Edward W. Said“, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 23/1-2 (2003), S. 6-7, hier S. 6 (Übersetzung der Verfasserin), und in ihren Vorträgen. 48 Edward W. Said: „Orientalism revisited“, in: The Times Literary Supplement 4792 (1995), S. 3-6, hier S. 5. 49 Gyan Prakash: „Subaltern Studies as Postcolonial Criticism“, in: American Historical Review 99/5 (1994), S. 1475-1490, hier S. 1475 (Übersetzung der Verfasserin). 50 Vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2000; zu seiner Sicht seiner eigenen Verwurzelung im Subaltern Studies Kollektiv s. das Vorwort zur Ausgabe von 2008 sowie Birgit Schäbler im Gespräch 293

BIRGIT SCHÄBLER

Die fortwährende Kritik sowohl an den Subaltern Studies selbst als auch an ihrem Aufgehen in den Postkolonialen Studien bleibt dabei nicht aus.51 Und in der Tat besteht die Gefahr, dass diese in allgemeinen Globalisierungs-Studien (wie z. B. in einigen Varianten der Globalgeschichte) untergehen, die die soziale Welt und vor allem die Praktiken der Verlierer der Globalisierung nicht mehr im Blick haben und damit ihr kritisches Potential verspielen. Man hat auch für diese Entwicklung Edward Saids Orientalism als Urtext zumindest mit verantwortlich gemacht, denn er trug entscheidend zur Durchsetzung der Konzentration auf Diskurse bei, in einer Zeit, als andere, wie z. B. Roger Owen (1979), eine sozialwissenschaftliche Re-Orientierung der Orientwissenschaften als Ausweg aus der Orientalismus-Falle propagiert hatten.52

Orientalism als Spalter der Middle East Studies und Stichwortgeber für andere Area Studies Die harte Kritik, die Edward Said nicht nur am Orientalismus der Briten und Franzosen, sondern auch der US-amerikanischen Orientforscher übte, spaltete zwar das Feld der Middle East Studies in den USA, regte aber die Kritik in anderen Area Studies an. Orientalism unterschied zwischen der „harten“ Linie der amerikanischen Orientalistik alter Schule und der „weichen“ Linie der modernen Middle East Studies. Als einen der Hauptschurken der harten Linie identifizierte Said Bernard Lewis, einen Orientalisten von der Universität Princeton. Dieser reagierte empfindlich. Seine Antwort auf das Buch erschien vier Jahre nach dessen Erscheinen in The New York Review of Books.53 Darin warf er Said vor, alle Wissenschaftler des Islams und des Orients einer „üblen Verschwörung“ im Dienste westlicher Beherrschung bezichtigt zu haben.54 Er warf ihm weiterhin schwere Fehler in der Sa-

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mit Dipesh Chakrabarty: „Das Wissen der Weltregionen“, in: dies., Area Studies und die Welt (2007), S. 252-258. Zwei aussagefähige Beispiele sind Meera Nanda: „We are All Hybrids Now: The Dangerous Epistemology of Post-Colonial Populism“, in: Journal of Peasant Studies 28/2 (2001), S. 162-186, und Vinay Bahl: „Subaltern Studies: Was ist schief gelaufen?“, in: Sozial.Geschichte 20/2 (2005), S. 61-84. Vgl. Roger Owen: „The Mysterious Orient“, in: Monthly Review 31 (1979), S. 58-63. Zachary Lockman versucht mit seinen Contending Visions auch, diese sozialwissenschaftliche Vision wieder zu beleben. Vgl. Bernard Lewis: „The Question of Orientalism“, in: The New York Review of Books June 24 (1982), S. 49-56. Ebd., S. 49.

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che vor und einen rücksichtslosen, gewalttätigen Ton, in dem er wichtige mit unwichtigen Texten und Wissenschaftler mit Politikern in einen Topf geworfen habe. Edward Said antwortete hitzig, und die Fehde der beiden Männer, die das Feld der Middle East Studies spaltete, dauerte bis zum Tod von Edward Said. In einem seiner letzten Texte, 25 Jahre nach dem Erscheinen von Orientalism, machte Said Bernard Lewis als einen der hauptverantwortlichen Berater für George W. Bushs Pentagon und Nationalen Sicherheitsrat bei der Planung des Irakkriegs von 2003 aus.55 Andere Vertreter der Orientalischen Studien, die mehrheitlich nicht in der Politikberatung engagiert waren (und sind), haben sich durchaus auf die eine oder andere Weise mit der These von Orientalism auseinander gesetzt.56 Die „weiche“ Linie kritisierte Orientalism unter anderem an Hand einer Ansprache des Sozialwissenschaftlers Leonard Binder auf dem Middle East Studies Kongress 1974. Die Area Studies, so Binder, postulierten, „dass sich wahre Erkenntnis grundsätzlich auf Dinge [die existieren (things that exist)] beziehen muss, wohingegen Methoden und Theorien etwas Abstraktes sind, das Beobachtungen verlangt und Erklärungen anbietet, die nichtempirischen Kriterien entsprechen.“57 Dem hielt Said entgegen, dass die „Dinge, die existieren“, durch den Erkennenden erst konstituiert würden, und dass solche „naiven“ Äußerungen auf der Ideologie beruhten, „dass der Beobachter keinen Einfluss auf die Konstitution des Stoffes und den Erkenntnisvorgang hat, dass es so etwas wie eine statische, ‚konkrete‘ Realität des Orients gibt“ – was eine „absurde These“ sei.58 Diese Passage ist eines der Beispiele dafür, wie Said über das Ziel hinaus schießt: Denn dass der Beobachter einen Einfluss auf die Konstitution des Stoffes und den Erkenntnisvorgang hat, ist richtig. Das bedeutet aber nicht, dass es keine konkreten Realitäten des Orients gebe, die sich nicht untersuchen und beschreiben ließen. Gleichzeitig sind nicht

55 Vgl. Edward Said: „Orientalism 25 Years Later. Worldly Humanism v. the Empire-builders“, in: Counterpunch, August 4, 2003, http://www.counterpunch.org/said08052003.html vom 10. Juni 2009, S. 4. 56 In Nancy Elizabeth Gallagher (Hg.): Approaches to the History of the Middle East: Interviews with Leading Middle East Historians, New York: Ithaca Press 1994, wurden z. B. alle der insgesamt acht Interviewten nach ihrer Haltung zur Orientalismus-These befragt. 57 Leonard Binder: „1974 Presidential Address“, in: MESA Bulletin 9/1 (1975), S. 1-11, hier. S. 2. Holl übersetzt die „things that exist“ als ‚konkrete Dinge‘ (E. W. Said: Orientalismus, S. 344). Da der Ausdruck „Dinge, die existieren“ aber in bestimmten Debatten bekannt ist, bleibe ich bei der wörtlichen Übersetzung. 58 E. W. Said: Orientalismus, S. 344. 295

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alle seine Realitäten durch westlichen Einfluss geschaffen worden.59 Andererseits gab es aber durchaus die Tendenz in den US-amerikanischen Area Studies, sich von intellektuellen Fragestellungen zu entfernen oder sie zugunsten eines unkritischen Positivismus abzuwerten.60 Doch trotz dieser Widersprüche wurde Orientalism wiederum auch in anderen Area Studies einflussreich. Maria Todorova grenzt sich in ihrem Konzept des Balkanismus von Saids Orientalismus ab, erkennt ihn aber ausdrücklich als wichtig an.61 Auch in den Lateinamerika-Studien wird auf Orientalism kritisch Bezug genommen.62 In den Versuchen, Area Studies zu entgrenzen und transregional und transnational neu aufzustellen, spielt seine Kritik immer wieder eine Rolle, ein Muster, das sich ja auch in den großen kulturwissenschaftlichen Wenden gezeigt hat.

Ausblick Die Rezeption von Orientalism in den Wissenschaften des Orients selbst muss hier bis auf den Verweis auf Sadiq Jalal al-Azm außen vor bleiben.63 Nur noch erwähnt werden sollen Versuche in jüngster Zeit, Orientalism mit gewichtigen „Gegenbüchern“ zu dekonstruieren. Nicht recht glücken will dieser Ansatz dem Kritiker Ibn Warraq, der mit dem programmatischen Titel Defending the West und der These antritt, die europäischen Orientalisten seien überwiegend von uneigennütziger intellektueller Neugier getrieben gewesen. Seine Kritik bringt nicht viel Neues.64 Interessanter ist Robert Irwins For Lust of Knowing. The Orientalists and their Enemies.65 Auch er ist in keiner Weise an erkenntnistheoretischen Überlegungen interessiert. Trotzdem bringt er interessante Details über einzelne Orientalisten. In einen anderen Rahmen, nämlich den

59 So auch Said selbst, vgl. Anmerkung 18. 60 Ausführlich: Birgit Schäbler: „Einleitung. Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdisziplinen und der Öffnung zum Globalen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung“, in: dies., Area Studies und die Welt (2007), S. 11-44. 61 Vgl. Maria Todorova: Imagining the Balkans, Oxford: Oxford University Press 1997, S. VIII-IX. 62 Vgl. z. B. Walter D. Mignolo: Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton: Princeton University Press 2000, S. 57-66. 63 Ausführlich bei I. Kurz: Vom Umgang mit dem anderen. 64 Vgl. Ibn Warraq: Defending the West. A Critique of Edward Said’s Orientalism, New York: Prometheus Books 2007. 65 Robert Irwin: For Lust of Knowing. The Orientalists and their Enemies, London: Penguin Books 2006. 296

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historischen des deutschen Kaiserreiches, stellt Suzanne Marchand, eine hervorragende Wissenschaftshistorikerin, ihre Studie über German Orientalism in the Age of Empire, eine Gesellschaft, Kultur und Politik einbeziehende Wissenschaftsgeschichte der deutschen Studien über den Orient.66 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, würde er die Rezeption von Orientalism in Deutschland in den einzelnen Disziplinen darstellen wollen. Hier soll der Hinweis genügen, dass Orientalism in den orientalistischen Fächern in Deutschland ganz im Gegensatz zu den USA wenig aufgegriffen wurde, vielleicht auch, weil Said die deutsche Orientalistik weitgehend ausgeblendet, sie gar ausgenommen hatte. Baber Johansen war einer der wenigen, der sich in einem vielzitierten Beitrag dem Vorwurf des Orientalismus stellte, diesen jedoch flugs an die deutsche Geschichtswissenschaft weiter reichte.67 Isolde Kurz verortete Orientalism in den zentralen Diskursen Alterität und Interkulturalität, verarbeitete ihr Material aber oft recht deskriptiv.68 In der deutschen Geschichtswissenschaft setzte sich immerhin Jürgen Osterhammel mit Orientalism in zwei Beiträgen auseinander.69 Die Literaturwissenschaft hat mit dem bereits zitierten Werk von Andrea Polaschegg ein Standardwerk erhalten.70 Zunehmend entstehen Magister- und Doktorarbeiten zum Thema in den Politik- und Sozialwissenschaften.71 66 Vgl. Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge: Cambridge University Press 2009. 67 Vgl. Baber Johanson: „Politics and Scholarship: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany“, in: Tareq Y. Ismael (Hg.), Middle East Studies. International Perspectives on the State of the Art, New York: Praeger 1990, S. 71-130; zur Kritik dieser These s. Birgit Schäbler: „Historismus versus Orientalismus? Oder: Zur Geschichte einer Wahlverwandtschaft“, in: Abbas Poya/Maurus Reinkowski (Hg.), Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 51-70. 68 Vgl. I. Kurz, Umgang mit dem anderen. 69 Vgl. J. Osterhammel: „Edward W. Said und die ‚Orientalismus‘-Debatte“; ders.: „Wissen als Macht: Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said“, in: Eva-Maria Auch/Stig Förster (Hg.), „Barbaren“ und „Weiße Teufel“. Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh 1997, S. 145-169. 70 Vgl. A. Polaschegg: Der andere Orientalismus. 71 Vgl. z. B. Stefan Hoffmann: Der Kulturbegriff in der Orientalismusdebatte, Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Magister Artium an der Freien Universität Berlin 2006; Nicole Hänel: Orientalismusbegriff – Edward Said’s Buch „Orientalismus“ (Studienarbeit), München: GRINVerlag 2007. 297

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Was bleibt also zu sagen über die Zukunft von Orientalism? Wenn die vergangenen 30 Jahre ein Indiz sind, so wird es der erkenntnistheoretisch aufstachelnden Polemik Saids, als die Orientalism gelesen werden sollte, auch in Zukunft gelingen, in den Diskussionen um Repräsentation anderer (und eigener) Kulturen und Gesellschaften, Alterität, Macht und Wissen/Wissenschaft und in weiteren potenziellen turns präsent zu sein. Dies umso mehr, als es in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage gerade in den USA zu einer Re-Orientalisierung (ganz im Said’schen Sinne) des Nahen Ostens in Medien und Politik kommt, die der Wissenschaft auf Jahre hinaus zu tun geben wird.72 Und weil es andererseits Wissensund Wissenschaftskulturen gibt, die wie beispielsweise die deutsche – zumindest in einigen Schlüsseldisziplinen – an der Rezeption von Orientalism (und den damit verbundenen Fragen und turns) verspätet teilgenommen und deshalb einiges aufzuholen haben.

Literatur Abdel-Malek, Anouar: „Orientalism in Crisis“, in: Diogenes 44 (1963), S. 103-140. Ahmad, Aijaz: „Orientalism and After: Ambivalence and Metropolitan Location in the Work of Edward Said“, in: ders., In Theory. Classes, Nations, Literatures, London, New York: Verso 1992, S. 159-219. Al-‘Azm, Sadiq Jalal: „Orientalism and Orientalism in Reverse“, in: Khamsin: Revue des Socialistes Révolutionnaires du Proche-Orient 8 (1981), S. 5-26. Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: Key concepts in PostColonial Studies, London, New York: Routledge 1989. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt 2006. Bahl, Vinay: „Subaltern Studies: Was ist schief gelaufen?“, in: Sozial.Geschichte 20/2 (2005), S. 61-84. Barker, Francis (Hg.): Europe and Its Others, Colchester: University of Essex Press 1985. Barker, Francis/Hulme, Peter/Iversen, Margaret (Hg.): Colonial discourse, postcolonial theory, Manchester, New York: Manchester University Press 1994. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London: Routledge 1994.

72 Vgl. Mervat Hatem: „MESA 2008 Presidential Address: Power and Knowledge Revisited in Middle East Studies“, in: Review of Middle East Studies 43/1 (2009), S. 3-10. 298

EDWARD SAIDS BUCH ORIENTALISM ALS ERFOLGSGESCHICHTE

Binder, Leonard: „1974 Presidential Address“, in: MESA Bulletin 9/1 (1975), S. 1-11. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2005. Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2007. Chomsky, Noam: Amerika und die neuen Mandarine. Politische und zeitgeschichtliche Essays, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Chomsky, Noam: Aus Staatsräson, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. Clifford, James: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1988. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt: Suhrkamp 1966 (Original 1961). Gallagher, Nancy Elizabeth (Hg.): Approaches to the History of the Middle East: Interviews with Leading Middle East Historians, Reading: Ithaca Press 1994. Geertz, Clifford: Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München: Carl Hanser Verlag 1990 (Originalausgabe: 1988). Guha, Ranajit (Hg.): Writings on South Asian History and Society. Subaltern Studies No. 1, Delhi: Oxford University Press 1982. Guha, Ranajit/Spivak, Gayatri Chakravorty (Hg.): Selected Subaltern Studies, New York: Oxford University Press 1988. Hänel, Nicole: Orientalismusbegriff – Edward Said’s Buch „Orientalismus“ (Studienarbeit), München: GRIN-Verlag 2007. Hatem, Mervat: „MESA 2008 Presidential Address: Power and Knowledge Revisited in Middle East Studies“, in: Review of Middle East Studies 43/1 (2009), S. 3-10. Hoffmann, Stefan: Der Kulturbegriff in der Orientalismusdebatte, Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Magister Artium an der Freien Universität Berlin 2006. Ibn Warraq: Defending the West. A Critique of Edward Said’s Orientalism, New York: Prometheus Books 2007. Irwin, Robert: For Lust of Knowing. The Orientalists and their Enemies, London: Penguin Books 2006. Johanson, Baber: „Politics and Scholarship: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany“, in: Tareq Y. Ismael (Hg.), Middle East Studies. International Perspectives on the State of the Art, New York: Praeger 1990, S. 71-130. Kurz, Isolde: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Würzburg: Ergon Verlag 2000. 299

BIRGIT SCHÄBLER

Lewis, Bernard: „The Question of Orientalism“, in: The New York Review of Books June 24 (1982), S. 49-56. Lockman, Zachary: Contending Visions of the Middle East. The History and Politics of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 2010. Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge: Cambridge University Press 2009. Marcus, George E./Fischer, Michael M. J.: Anthropology as Cultural Critique. An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago, London: The University of Chicago Press 1986. Melman, Billie: Women’s Orients: English Women and the Middle East, 1718-1918. Sexuality, Religion and Work, Ann Arbor: University of Michigan Press 1992. Mignolo Walter D.: Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton: Princeton University Press 2000. Nanda, Meera: „We are All Hybrids Now: The Dangerous Epistemology of Post-Colonial Populism“, in: Journal of Peasant Studies 28/2 (2001), S. 162-186. Osterhammel, Jürgen: „Edward W. Said und die ‚Orientalismus‘Debatte. Ein Rückblick“, in: Asien Afrika Lateinamerika 25 (1997), S. 597-607. Osterhammel, Jürgen: „Wissen als Macht: Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said“, in: EvaMaria Auch/Stig Förster (Hg.), „Barbaren“ und „Weiße Teufel“. Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh 1997, S. 145-169. Owen, Roger: „The Mysterious Orient“, in: Monthly Review 31 (1979), S. 58-63. Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2005. Prakash, Gyan: „Subaltern Studies as Postcolonial Criticism“, in: American Historical Review 99/5 (1994), S. 1475-1490. Rejwan, Nissim: Arabs in the Mirror. Images and Self-Images from PreIslamic to Modern Times, Austin: University of Texas Press 2008. Rodinson, Maxime: La fascination de l’Islam, Paris: Maspero 1980. Said, Edward W.: Orientalism, New York: Vintage Books 1979; dt. Übersetzung (Hans Günter Holl), Orientalismus, Frankfurt: S. Fischer Verlag 2009. Said, Edward W.: The Question of Palestine, New York: Vintage Books 1980. 300

EDWARD SAIDS BUCH ORIENTALISM ALS ERFOLGSGESCHICHTE

Said, Edward W.: Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, London et al. 1981. Said, Edward W.: „Orientalism revisited“, in: The Times Literary Supplement 4792 (1995), S. 3-6. Said, Edward: „Between Worlds“, in: London Review of Books 20/9 (1998), S. 3-7. Schäbler, Birgit (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien: mandelbaum Verlag 2007. Schäbler, Birgit: „Einleitung. Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdisziplinen und der Öffnung zum Globalen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung“, in: dies., Area Studies und die Welt (2007), S. 11-44. Schäbler, Birgit im Gespräch mit Dipesh Chakrabarty: „Das Wissen der Weltregionen“, in: dies., Area Studies und die Welt (2007), S. 252258. Schäbler, Birgit: „Postkoloniale Konstruktionen des Selbst als Wissenschaft: Anmerkungen einer Nahost-Historikerin zu Leben und Werk Edward Saids“, in: Alf Lüdtke/Reiner Prass (Hg.), Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 87-100. Schäbler Birgit: „Historismus versus Orientalismus? Oder: Zur Geschichte einer Wahlverwandtschaft“, in: Abbas Poya/Maurus Reinkowski (Hg.), Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 51-70. Scheffler, Thomas: „Exotismus und Orientalismus“, in: Kulturrevolution: Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 32/33 (1995), S. 105-111. Schwab, Raymond: La renaissance orientale, Paris: Editions Payot, 1950. Shohat, Ella: „Notes on the ‚Post-Colonial‘“, in: Social Text 31/32, Third World and Post-Colonial Issues (1992), S. 99-113. Spanos, William V.: The Legacy of Edward Said, Urbana, Chicago: The University of Illinois Press 2009. Spivak, Gayatri Chakravorti: „Can the Subaltern Speak?“, in: Wedge 7/8 (1985), in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana: University of Illinois Press 1988, S. 271-313. Spivak, Gayatri Chakravorty: Outside in the Teaching Machine, New York, London: Routledge 1993. Spivak, Gayatri Chakravorty: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge: Harvard University Press 2003.

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BIRGIT SCHÄBLER

Spivak, Gayatri Chakravorti: „In Memoriam: Edward W. Said“, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 23/1-2 (2003), S. 6-7. Spivak, Gayatri Chakravorti: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation; dt. Übersetzung (Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny). Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia und Kant 2008. Tibawi, Abdel-Latif: „English-Speaking Orientalists“, in: Islamic Quarterly 8 (1964), S. 25-45. Todorova, Marija: Imagining the Balkans, Oxford: Oxford University Press 1997. Waardenburg, Jean-Jacques: L’Islam dans le miroir de l’Occident: comment quelques orientalistes occidentaux se sont penchés sur l’Islam et se sont formé une image de cette religion, Den Haag: Mouton 1962. YeÊenoÊlu, Meyda: Colonial fantasies. Towards a feminist reading of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 1998. Young, Robert J. C.: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London: Routledge 1995.

Internetquellen Said, Edward: „Orientalism 25 Years Later. Worldly Humanism v. the Empire-builders“, in: Counterpunch, August 4, 2003, http://www.counterpunch.org/said08052003.html, vom 10. Juni 2009.

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Abbildungsverzeichnis

Conte Abb. 1: Adams Lösung (Édouard Conte) Abb. 2: badal: Bruder-Schwester-Tausch (Édouard Conte: „Mariages arabes. La part du féminin“, in: L’Homme, 154-155 (2000), S. 279307, hier S. 282) Abb. 3: Eine Permutation von Cousins (Édouard Conte nach Emrys L. Peters: The Bedouin of Cyrenaica. Studies in Personal and Corporate Power. Hg. Jack Goody/Emanuel Marx, Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 219) Abb. 4: Der nasab des Saddam Hussein (Édouard Conte in: Amatzia Baram: „La ,maison‘ de Ñaddâm Íusayn“, in: Pierre Bonte/Édouard Conte/Paul Dresch (Hg.), Émirs et présidents. Figures de la parenté et du politique dans le monde arabe, Paris: CNRS Éditions 2001, S. 302-329, hier S. 305) Abb. 5: Saddams Heiratspolitik (Amatzia Baram: „La ,maison‘ de Ñaddâm Íusayn“, in: Pierre Bonte/Édouard Conte/Paul Dresch (Hg.), Émirs et présidents. Figures de la parenté et du politique dans le monde arabe, Paris: CNRS Éditions 2001, S. 302-329, hier S. 318, Zeichnung: Édouard Conte)

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ORIENT – ORIENTALISTIK – ORIENTALISMUS

Klemm QalÝat MaÒyÁf in Syrien, im 12. Jahrhundert Sitz von RašÐd ad-DÐn SinÁn, dem „Alten vom Berge“ der Kreuzfahrer (Photo Dr. Rüdiger Kuhn)

Escher Abb. 1: Die geographische Gliederung der Erdoberfläche (Ewald Banse: „Geographie“, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt 58 (1912), I. Halbband, Tafel 1) Abb. 2: Der Orient, die Jungfrau Morgenland als Bauchtänzerin (E[wald] Banse: Der arabische Orient (Orient II), Leipzig: B. G. Teubner Verlag 1910, S. 5). Im Original nicht gedreht. Abb. 3: Die zehn Kulturerdteile (Jürgen Newig, Arbeitskarte zum freien Download, http://www.newig.geographie.uni-kiel.de/) Abb. 4: Die Arabischen Staaten (Anton Escher: „Arabische Welt, Islamische Welt oder Orient? Ein Plädoyer für ‚Arabische Welt‘ und ‚Islamische Welt‘ gegen ‚Orient‘“, in: Praxis Geographie 35 (2005), S. 4-11, hier S. 8)

Feldman/Ron Fig. 1: Madaba Mosaic Map showing pilgrim places in Israel/Jordan (6th century), detail (Rainer Warland: Die Mosaikkarte von Madaba und ihre Kopie in der Sammlung des Archäologischen Instituts der Universität Göttingen, in: GEORGIA AUGUSTA, Nov. 1999, S. 41-48, Karte S. 44. – Mit freundlicher Genehmigung: Archäologisches Institut der Universität Göttingen, Photo Stephan Eckardt) Fig. 2: Yardenit, the relatively new baptismal site on the upper Jordan River, near the Sea of Galilee (Photo Amos S. Ron) Fig. 3: A guided tour along the Parable Walk, Nazareth Village (Photo Amos S. Ron, April 2007). Fig. 4: Staged authenticity at Nazareth Village (Photo Amos S. Ron, October 2005) Fig. 5: The synagogue at Nazareth Village (Photo Amos S. Ron, October 2005)

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Ganzert (alle Abbildungen schematische Skizzen des Verfassers) Abb. 1: Grund-/Aufriss-Konzeption für altorientalische Tempelbauten (Kernbereiche) Abb. 2: Neribtum (Išgali), Inanna-Kititum-Tempel (Kernbereiche) Abb. 3: Mari, Palast des Königs Zimrilim (Rekonstruktionsversuch (unten) und Kernbereiche) Abb. 4: Babylon (Südburg), Palast Nebukadnezars II. (Thronsaalbereich) Abb. 5: Dur Šarrukin (Horsabad), Zitadelle Sargons II., ‚Residenz L‘ (Kernbereiche) Abb. 6, links: Assur, sog. ‚Rotes Haus‘ (Kernbereiche) Abb. 6, rechts: Babylon, Haus I (Kernbereiche) Abb. 7: Vergleich Tempel-, Palast-, Residenz-/Haus-Konzeptionen Abb. 8: Tempel-Kultnische auf der Grenze zwischen himmlischer und irdischer Sphäre Abb. 9, links: Labraunda (am Latmos), Andron B Abb. 9, rechts: Kalydon, Heroon (Kernbereiche) Abb. 10: Rom (Augustusforum), Mars-Ultor-Tempel Abb. 11: Lüneburg, Niedergericht an Nordost-Ecke des Rathauses: Holzgestühl mit Baldachin unter Rundbogengewölbe, davor Marktplatz

Shalem Tree of Architecture of Sir Banister Fletcher (Sir Banister Fletcher: A History of Architecture, London, New York: B. T. Batsford 1896, Frontispiz)

Kalmar Fig. 1: Raphael, The School of Athens, fresco, 1510-1511, Museo di Vaticano. Detail: Averroes and Pythagoras (Wikipedia: public domain) Fig. 2: Giovanni di Paolo, St. Thomas Acquinas Confounding Averroës, tempera and gold leaf on panel, 24.7 x 26.2 cm, 1445-1450, St. Louis Art Museum (Wikipedia: public domain) Fig. 3: Vanity (Photo Ivan D. Kalmar) Fig. 4: Death and Luxury (Photo Ivan D. Kalmar) Fig. 5: Hans Holbein the Younger, The Ambassadors, oil on oak, 1533, National Gallery, London (Wikipedia: public domain) Fig. 6: The Astronomer (Photo Ivan D. Kalmar) 305

ORIENT – ORIENTALISTIK – ORIENTALISMUS

Fig. 7: The Philosopher and the Archangel St. Michael (Photo Ivan D. Kalmar) Fig. 8: St. Wilgefortis (Svatá Starosta, die Heilige Kümmernis), Church of Loreto, Prague, c. 1730-1740 (Wikipedia: public domain)

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Gunnar Brands, Klassischer Archäologe, ist Professor am Institut für Orientalische Archäologie und Kunstgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Siedlungsgeschichte, Architektur und Kunst des hellenistischen, römischen und byzantinischen Nahen Ostens sowie Rezeptions- und Forschungsgeschichte. Édouard Conte ist Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bern und directeur de recherche am französischen CNRS (Centre national de la recherche scientifique). Zur Zeit widmet er sich einem Forschungsprojekt zum Thema „Kinship, Gender, and Reproduction in Southwest Asia and Beyond“ am Institut Français du Proche-Orient in Amman (Jordanien). Anton Escher ist Professor am Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind vor allem „Arabische Altstädte“, „Globale Arabische Gemeinschaften“ sowie „Medien und Lebenswelt“. Seine jüngsten Buchpublikationen sind Tausendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech (mit S. Petermann, 2009) und Trockenräume. Entwicklungsbedingungen in Nordafrika und Vorderasien (mit S. Zimmermann, 2009). Er ist Mitherausgeber der Reihe Erdkundliches Wissen. Jackie Feldman ist Professor für Ethnologie an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva. Seine Forschungsinteressen sind die Ethnologie der Pilgerschaft und des Tourismus, kollektive Erinnerung sowie Religionsund Museumsethnologie. Er ist Autor des Buches Above the Death-Pits, 307

ORIENT – ORIENTALISTIK – ORIENTALISMUS

beneath the Flag: Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli National Identity (2008). Joachim Ganzert ist Professur für Bau-/Stadtbaugeschichte an der Leibniz Universität Hannover. Von 1982 bis 1992 leitete er das DFG-Projekt „Der Mars-Ultor-Tempel auf dem Augustusforum in Rom“. 1990/91 hatte er eine Gastprofessur am Institut für Klassische Archäologie der Universität Wien inne, von 1992 bis 2002 eine Professur für Baugeschichte und Bauaufnahme am Fachbereich Architektur der Fachhochschule Biberach/Riß. Ivan Davidson Kalmar ist Professor am Department of Anthropology der Universität Toronto. Seine Veröffentlichungen behandeln Themen der anthropologischen Linguistik und Kulturgeschichte. Seine aktuelle Forschung befasst sich mit der Kulturgeschichte der abendländischen Vorstellungen von Juden und Muslimen als gemeinsame semitische Volksgruppe. Kalmar ist Mitherausgeber von Orientalism and the Jews (2005). Verena Klemm ist Professorin für Arabistik und Orientalische Philologie am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Ihr Lehrgebiet beinhaltet die Bereiche Kultur, Literatur und Geschichte, ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den schiitischen, insbesondere ismailitischen Islam und die moderne arabische Literatur. Sie leitet Projekte zur Erschließung und kulturwissenschaftlichen Erforschung von islamischen Handschriften an der Universitätsbibliothek Leipzig. Karl-Heinz Kohl ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor des Frobenius-Instituts sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er studierte Religionswissenschaft, Ethnologie, Geschichte und Philosophie. Ethnographische Forschungsaufenthalte verbrachte er in Ost-Indonesien und Neuguinea. Fritz W. Kramer lehrte als Professor für Ethnologie von 1979 bis 1983 an der FU Berlin sowie als Professor für Kunstbezogene Theorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1989-2007). Er publizierte u. a. Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts (1977), Der rote Fes (1987), Bikini, atomares Testgebiet im Pazifik (2000) und Schriften zur Ethnologie (2005). Reimund Leicht ist Senior Lecturer am Department for Jewish Thought sowie im Program for the Philosophy, History and Sociology of Sciences 308

AUTORINNEN UND AUTOREN

an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte sind die jüdische Kulturgeschichte der Spätantike, die Geschichte der Philosophie und Wissenschaften im mittelalterlichen Judentum und das Werk des christlichen Hebraisten und Kabbalisten Johannes Reuchlin. Amos S. Ron wurde an der Hebräischen Universität von Jerusalem in Kulturgeographie promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of Tourism and Hospitality Studies des Kinneret College on the Sea of Galilee in Israel. Seine Forschungsinteressen beinhalten Tourismus und Freizeitstudien, Kulturgeographie und Religionsgeographie. Birgit Schäbler ist Professorin für die Geschichte Westasiens (Vorderer Orient) an der Universität Erfurt. Sie forschte und lehrte fünf Jahre lang in den USA (an den Universitäten Duke, Harvard und Georgia). Ihre Forschungsinteressen sind die Verflechtungsgeschichte zwischen Europa und der islamischen Welt, die Wissenschaftsgeschichte der Orientalischen Studien und die Gesellschaftsgeschichte des Vorderen Orients. Burkhard Schnepel ist Professor für Ethnologie an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Regionalstudien. Seine regionalen Interessen gelten Indien und dem Indischen Ozean. Seine thematische Interessen sind: Diaspora, Rituale, sakrales Königtum, die Ethnohistorie von Hafenstädten und kleinen Inseln sowie die Tourismusforschung. Seine jüngste Publikation ist Tanzen für Kali: Ethnographie eines ostindischen Ritualtheaters (2008). Hanne Schönig, Arabistin und Islamwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien – Vorderer Orient, Afrika, Asien der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind orientalische Alltagskultur und traditionelle Medizin im Jemen. Avinoam Shalem ist Professor für Islamische Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Max-Planck Fellow am Kunsthistorischen Institut in Florenz. Seine Forschungen gelten hauptsächlich der Kunst und Kultur des Mittelmeerraumes in islamischer Zeit und der mittelalterlichen Ästhetik. Er leitet das Projekt „Crossing Boundaries, Creating Images: In Search of the Prophet Muhammad“ und ist Co-Kurator der Ausstellung „The Future of Tradition: the Tradition of Future“ (2010/11) im Haus der Kunst in München.

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ORIENT – ORIENTALISTIK – ORIENTALISMUS

Ines Weinrich ist wissenschaftliche Referentin am Orient-Institut Beirut der Stiftung Deutscher Geisteswissenschaftlicher Institute im Ausland (DGIA), wo sie an einem Forschungsprojekt zur Dimension von Klang in islamischen Ritualen arbeitet. Sie hat Arabistik, Musikethnologie und Islamkunde studiert und wurde mit einer Arbeit über Musik, Moderne und Nation im Libanon promoviert.

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Postcolonial Studies Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900 März 2011, ca. 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-807-0

Kien Nghi Ha Unrein und vermischt Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1331-5

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Postcolonial Studies Wulf D. Hund (Hg.) Entfremdete Körper Rassismus als Leichenschändung 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1151-9

Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention 2009, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-906-0

Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation 2008, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-975-6

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