Orient - Okzident: Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild 9783110811872, 311014607X, 9783110146073

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Orient - Okzident: Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild
 9783110811872, 311014607X, 9783110146073

Table of contents :
Vorwort
Erster Teil. Nietzsches philologische Lektüren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches“
Vorbemerkung zum ersten Teil
I. Kapitel: Basel, Herbst 1875: Nietzsches Kolleg über den „Gottesdienst der Griechen“
1. Die Antike und die „Universalmenschen“ der Zukunft
2. Gegen die den Staatsgötzen anbetenden Philologen
3. Boettichers Theorie des agonalen Festtempels
4. Die Mentalität der Primitiven und die „Don Quixoterie“ der Philologen
5. Das „Wiederaufleben in der Geschichte“
6. Marseille, September 1865: das Bild der Cholera wird verbrannt
7. Tylors Begriff des „Überlebsel“
8. Die „Philosophie der Urgeschichte“, eine ganz neue Disziplin
9. Die Stufenleiter der Kultur
10. Naturzustand als Illusion
11. Nicht moralische Selbstbeobachtung, sondern Historie und Völkerkunde
Anhang zum I. Kapitel: Nietzsche und das Problem der Vererbung in der damaligen Biologie
II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren zur Beherrschung der Natur
1. Die Tyrannei der Sitte in vorhistorischen Zeitaltern
2. Die ursprüngliche Bedeutung religiöser Kulte
3. Die Zauberkünste unterworfener Stämme
4. Magie und natürliche Kausalität
5. Das religiöse Symbol als Unterpfand
6. Die magische Kraft des Rhythmus
7. Die Gewalt der Schutzbilder
8. Gottesdienstliche Rituale als Machtäußerungen
9. W. Mannhardt über Reinigungszeremonien
10. Nachahmende Handlungen
11. C. Boetticher: „Geheime Sacra“ im Hellenentum
12. Zur Deutung des Aphorismus 222 der „Vermischten Meinungen und Sprüche“
III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung
1. Die ältesten Schichten der griechischen Religion: Schlangen-, Stein- und Baumkult
2. Die Vertrautheit der Hellenen mit der „asiatischen Masslosigkeit“
3. Asiatische Gestirnanbeter in Hellas
4. Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit
5. Die „greisenhafte Kurzsichtigkeit“ der Europäer und ihre Überwindung
Anhang zum III. Kapitel: „Preßreptilien“ und öffentliche Meinung
Zweiter Teil. Macht und Religion in Nietzsches Schriften der 80er Jahre
Vorbemerkung zum zweiten Teil
IV. Kapitel: Kannibalische Götter, Teufelsverehrung, Askese: Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer
1. Wissenschaft als Vorurteil
2. Das Nützliche und das Überflüssige am Anfang der Zivilisation
3. Der Wille als magisch wirkende Kraft
4. Askese und religiöse Abtötung
5. Animistische Weltsicht
6. Die Lust an der Grausamkeit
7. Die verkehrte Welt der moralischen Werte
8. Der Eurozentrismus der Ethnologen
Anhang zum IV. Kapitel: Der nachsichtige Gott der Wahhabiten
V. Kapitel: Der allmächtige Gläubiger. Zur Debatte (1860–90) über den Ursprung der Religion
1. Die Furcht vor den Geistern der Vorfahren
2. Animisten und Mythologen
3. Der vormoralische Ursprung des Begriffs „Sünde“
4. Unendliche Geschlechter-Ketten
5. Die Entwicklung vom Schuldrecht zum religiösen Gefühl in der Urzeit
Dritter Teil. Die Griechen als Gegenbild zur modernen Dekadenz
Vorbemerkung zum dritten Teil
VI. Kapitel: Die „linguistische Archäologie“ und die geschichtliche Entwicklung des Farbensinnes: ein Kommentar zum Aphorismus 426 der „Morgenröthe“
1. Uralte farblose Zeiten
2. Das Farbenempfinden der Griechen
VII. Kapitel: Die Naivität der Griechen und das Ressentiment der Modernen
1. Wundt, Nietzsche und Scheler als Leser von L. Schmidt
2. Sprachliche Wandlungen und konkrete Interaktionsformen
3. Die Ehrfurcht, das Fehlen von Mißtrauen und der Sinn für das rechte Maß
4. Vornehmheit als Naivität und Verachtung des Nachtragens
5. Der Vorrang des Individuums vor dem ethischen Werte der Handlung
6. Der Schlechte als Unglücklicher, die Sünde als Form göttlicher Blendung
Vierter Teil. Nietzsches Auseinandersetzung mit den „großen Worten“ der Antisemiten Vorbemerkung zum vierten Teil
VIII. Kapitel: Südländische Skepsis und „heidnisches“ Urchristentum
1. Die katholische Kirche und die antike Freisinnigkeit des Geistes
2. W. Leckys Betrachtungen über das Urchristentum
3. Die mehrdeutige Sprache des neuen Glaubens
4. Die Armen-Vereine in römischer Kaiserzeit
5. J. Lippert zur Barbarisierung des Christentums
6. E. Renan: petites communautés, confréries, tièdes atmosphères, bonheur
7. Latentes Christentum
8. Das „arische Christentum“ der Antisemiten
Anhang zum VIII. Kapitel: F. Overbecks Sicht des Urchristentums und sein Hinweis auf den heuristischen Wert der Paradoxe
IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum um 1888. Einige philologische Anmerkungen
1. Julius Wellhausen und sein Bild des vorexilischen Judentums
2. Gottesdienst und Jahreskreislauf
3. Über den Begriff „Volksgott“
4. Der stolze Heidengott, der Zorn und Rache kennt
5. Antisemitische „Kindereien“
6. Die Etablierung der jüdischen Theokratie
7. Die Juden und das christliche Jenseits
X. Kapitel: Zur Debatte über die vorarische Bevölkerung Deutschlands
1. Der Niedergang der Arier
2. Die Deutschen als Ferment-Rasse
3. Rassenkreuzung und Kulturentwicklung
XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart und das Reformationszeitalter
1. Überspanntheit und Servilität
2. Der Bauernkrieg des Geistes
3. Wunderzeichen, Monstra, Portenta
4. Der rachsüchtige Mönch
5. Schleichwege zum Chaos
Nachwort
Siglenverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Andrea Orsucci Orient — Okzident

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel

Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon

Band 32

1996

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Orient — Okzident Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild

von

Andrea Orsucci

1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Α der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn

Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin

Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einheitsaufnahme Orsucci, Andrea: Orient — Okzident: Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild / von Andrea Orsucci. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 32) ISBN 3-11-014607-X NE: GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

In memoriam Federico Gerratana (16.6.1958-15.3.1994)

Vorwort Wie alte sinnreiche religiöse Zeremonien zuletzt als abergläubische unverstandene Prozeduren übrigbleiben, so wird die Geschichte überhaupt, wenn sie nur noch gewohnheitsmäßig fordebt, dem magischen Unsinn oder carnevalistischen Verkleidung ähnlich [...]. Jetzt bewegte sich in Neapel ein katholischer prunkhafter Leichenwagen mit Gefolge in einer der Nebengassen, während in unmittelbarer Entfernung der Carneval tobte: alle die bunten Wagen, welche die Kostüme und den Prunk früheren Culturen nachmachten. Aber auch jener Leichenzug wird irgendwann einmal ein solcher historischer Carnevalszug sein; die bunte Schale bleibt zurück und ergötzt, der Kern ist entflohn oder es hat sich wie in den Kunstgriffen der Priester zur Erweckung des Glaubens die betrügerische Absicht hinein versteckt.1 Wer es kann, der folge mir in der Gerechtigkeit gegen verschiedene Culturen.2 Das Nachsinnen über einige Grundzüge der europäischen Geistesgeschichte, deren innere Zusammenhänge und Wechselwirkungen ist eine Konstante in Nietzsches philosophischen Reflexionen. Stets war er bemüht um „eine große, immer größere Loslösung, ein willkürliches In-die-Fremde-gehen, eine .Entfremdung', Erkältung, Ernüchterung"3. Vermöge eines „übereuropäischen Auges"4 wollte er Einsicht in das gemeinsame Gedankengut der Europäer gewin-

1 2

' «

23 [147] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 456 f. 21 [45] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 373. 40[65] (August-September 1885); KSA 11, S. 664. KGB III/5, S. 222. (F. Nietzsches Brief an P. Deussen vom 3. Januar 1888). Vgl. dazu JGB 56. Siehe hierzu M. Sprung: Nietzsche's Trans-European Eye, in: G. Parkes (Hrsg.): Nietzsche andAsian Thought, Chicago u. London 1984, S. 76-90.

VIII

Vorwort

nen. Ein beredtes Dokument dieses Bedürfnisses nach „Wanderschaft" und Abstand ist der Brief, den er im März 1881, als er sich in Genua aufhielt, seinem Freund H. Köselitz zukommen ließ: Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff, ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zugehen [...]. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen. 5

Die vorliegende Arbeit untersucht Studien und Lektüren, die Nietzsche ab 1875 in der Absicht betreibt, jenen distanzierten Standpunkt zu erreichen und „unsrer europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden Moralitäten zu messen" (FW 380). Das Ringen nach „Freiheit von allem ,Europa', letzteres als eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind" (FW380), bedeutet für Nietzsche vor allem, „den historischen Instinkt" (GM II 4) zu schärfen und sich ständig mit .Tatsachen' und kulturgeschichtlichen Vorgängen auseinanderzusetzen, die im vielschichtigen Weltbild der „Europäer von Heute", d. h. der „Spätgeborenen" (M 9) Niederschlag gefunden haben. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, die er im Rahmen immer wieder aufgegriffener Themenkomplexe führt (das Verhältnis von vorgeschichtlichen Zeiten und Zivilisation, das Judentum, das Griechentum und seine Beziehungen zu früheren Kulturen, die antike Skepsis und das Christentum der Anfänge, Luther und die Reformation), werden in der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht, auch anhand noch unveröffentlichten Materials im „Goethe- und Schiller-Archiv" zu Weimar. Darüber hinaus zielt unsere Arbeit auf die Klärung der Frage, inwiefern Nietzsche bei dem Projekt, zeitweilig „auch ,übereuropäisch' [zu] denken" 6 und sich mit der abendländischen Kulturtradition kritisch auseinanderzusetzen, den Einbezug von Fachdisziplinen wie Ethnologie, Biologie, Altertumskunde, Mythenforschung und Religionswissenschaft als unumgängliche Vorbedingung ansah. Der intensive interdisziplinäre Dialog zwischen Fachwissen und philosophischer Spekulation, d. h. die Durchbrechung des festen Rahmens der .Fakultätsunterschiede' ist ohne Zweifel das interessanteste Phänomen der deutschen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Ineinandergreifen von Sachkenntnissen, naturwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion eröffnet einer ganzen Generation neue Perspektiven und Interessengebiete. Der rasche Fortschritt der sinnesphysiologischen Forschungen (J. Müller, Fechner, Helmholtz, Wundt) rief nicht nur ein neues Interesse für die philosophische Behandlung erkenntnistheoretischer Fragen hervor, sondern veranlaßte auch Philosophiehistoriker (u. a. Dilthey und Tönnies) dazu, von den Ergebnissen der neuesten

' 6

KGB III/l, S. 68. (F. Nietzsches Brief an H. Köselitz vom 13. März 1881). 35[9] (Mai-Juli 1885); KSA 11, S. 512.

Vorwort

IX

Naturwissenschaft her sich gründlich mit Anthropologie und Affektentheorien des 16. Jahrhunderts sowie mit Hobbes, Spinoza und Descartes zu beschäftigen 7 . Begriffe und Fragestellungen der damaligen Biologie wurden in moralphilosophischen Untersuchungen der Zeit aufgegriffen und weiterentwickelt 8 . Auch Hypothesen und Modelle der Psychiatrie und Neurophysiologie wirkten sich in der deutschen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts richtungweisend aus9. Auf die Verflechtung von Spekulation und Erfahrungswissenschaften, die Übertragung von Begriffen und Methoden von einem Wissensgebiet auf das andere, richtete insbesondere Dilthey seit den 60er Jahren seine Aufmerksamkeit, indem er in seinen Schriften wiederholt die Bedeutung des „kombinatorischen Drangs" herausarbeitete, der „die Grenzpfähle der bisherigen Einzelwissenschaften des Geistes" beseitige und der „Kleinstaaterei auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften" ein Ende bereite10. Die Förderung „fruchtbarer Kombinationen" und das Niederreißen der Barrieren, „welche ein eingeschränkter Fachbetrieb zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften errichtet hat" 11 , bedeutete für Dilthey in erster Linie, sich mit dem grandiosen Beispiel der Naturwissenschaft auseinanderzusetzen, welche sich damals vor allem „in dem umfassenden Genie von Helmholtz" zu verkörpern schien, „welches Mathematik, Physik, Physiologie und Philosophie mit gleicher Leichtigkeit wie Instrumente zur Lösung seiner Probleme handhabte und kombinierte"12. Neben diesen Äußerungen Diltheys ist wohl auch eine Bemerkung Jherings aus den 80er Jahren in Erinnerung zu rufen, daß die „vereinte Mitwirkung" verschiedener Disziplinen (in erster Linie Sprachwissenschaft und mythologische Forschungen), die als „Paläontologie der Ethik"13 zu bezeichnen seien, bei der Diskussion moralphilosophischer Fragen immer mehr an Gewicht gewinne. Die vorliegende Studie geht vornehmlich der Frage nach, ob es möglich sei, den Niederschlag eines „kombinatorischen Drangs" im Sinne Diltheys in den Schriften 7 8 9

10

11 12 13

Vgl. A. Orsucci: Tra Helmholtz e Dilthey: filosofia e metodo combinatorio, Napoli 1992, S. 45-86. Siehe A. Orsucci: Dallabiologiacellulareallescienzedellospirito.Aspetti del dibattitosull'individualitä nell'Ottocento tedesco, Bologna 1992. Vgl. A. Orsucci: „,Ein ineinandergreifendes Zusammenarbeiten, wie es in den Naturwissenschaften besteht...': Anmerkungen zu Diltheys Arbeitsweise", in: Dilthey-]ahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 9 (1994-95), S. 92-114. W. Dilthey: Frühe Pläne und Entwürfe (ab ca. 1865/66), in: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenscbaften (1865-1880) (= Gesammelte Schriften, Bd. 18), Göttingen 1977, S. 7. In einer Schrift aus dem Jahre 1868 (Adolf Bastian, ein Anthropolog und Ethnolog als Reisender, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, Leipzig u. Berlin 1936, S. 204) stellt Dilthey weiter fest: „Nun hat sich der Gesichtskreis der Forschung ins unermeßliche erweitert; Geschichte, Ethnologie, Anthropologie bieten einen ungeheuren Stoff für wahre Induktion." W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), Stuttgart u. Göttingen 1959, S. 112 u. 117. W. Dilthey: Anna von Helmholtz, in: Vom Auf gang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen (= Gesammelte Schriften, Bd. 11), Leipzig u. Berlin 1936, S. 263. R. v. Jhering: Der Zweck im Recht, 2. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1886, S. 126 f.

χ

Vorwort

Nietzsches, dieses modernen „Odysseus des Geistes"14, zu finden, und inwiefern Disziplinen, die als „Paläontologie der Ethik" angesehen werden können, seine Betrachtungsweise bestimmten, wo es sich für ihn darum handelte, Abstand zu gewinnen und mit den Augen eines .unbeteiligten Zuschauers' religiöse Empfindungen und „moralische facta" (JGB 186) zu analysieren, die für das Verständnis der europäischen Geistesgeschichte, ihrer Entstehung und ihres Werdeganges, von Bedeutung sind. Die Grenzen unserer Untersuchung sind also eng gesteckt, ihre Ergebnisse mögen von beschränkter Reichweite scheinen: Der ,Philosoph' Nietzsche, der „Mensch des Morgens und Ubermorgens" (JGB 211) und die spekulativen Aspekte seines Nachdenkens werden hier absichtlich bei Seite gelassen. Statt dessen ist das Augenmerk primär auf solche Motive der in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts besonders regen interdisziplinären Debatte gerichtet, die auch in seinen Werken und nachgelassenen Aufzeichnungen deutliche Spuren hinterlassen haben. An dieser Stelle möchte ich Marie-Luise Haase, Marco Brusotti (Berlin), Barbara von Reibnitz, Hubert Thüring (Basel), Sandro Barbera, Giuliano Campioni und Paolo D'Iorio (Pisa) für vielfältige Anregung und freundliche Anteilnahme danken. Besonders fühle ich mich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter (Berlin) für das beständige Interesse, das er meiner Arbeit entgegengebracht hat, verpflichtet. Herrn Prof. Aldo Venturelli (Urbino) sei an dieser Stelle für seine Bereitschaft gedankt, den finanziellen Rahmen zu schaffen, durch den die Veröffentlichung dieses Buches erst ermöglicht wurde, Frau Dr. Roswitha Wollkopf („Goethe- und Schiller-Archiv", Weimar) für die Genehmigung, die in Weimar aufbewahrten, unveröffentlichten Manuskripte Nietzsches zitieren zu dürfen. Eine ausdrückliche Erwähnung verdient die ständige Hilfe von Axel Landfried (Lucca), dem ich nicht nur eine sorgfältige stilistische Überarbeitung, sondern auch viele scharfsinnige Hinweise verdanke, die meine Studie bereichert haben. Abschließend möchte ich einen besonderen Dank Herrn Prof. Dr. Eugenio Garin (Florenz) aussprechen, dessen Betrachtungen über Aufgabe und Arbeitsmethoden der Philosophiegeschichte für mich seit je her vom größten Wert sind. Der Anhang des ersten Kapitels ist die umgearbeitete Fassung des Vortrage, den ich im Mai 1994 zu Weimar im Rahmen der Tagungsreihe „Entdecken und Verraten" gehalten habe. Teile des vierten Kapitels habe ich auf dem Basler Nietzsche-Kongreß (9.-11. Juni 1994) vorgetragen und diskutiert. Das sechste Kapitel ist bereits in den „Nietzsche-Studien" (Bd. 22, 1992), das siebte auf italienisch unter dem Titel „Nietzsche, Wundt e il filosofo Leopold Schmidt. A

14

R. M. Lonsbach: Friedrich Nietzsche und die Juden, Stockholm 1939, S. 7 f. Die Bezeichnung geht, wie Lonsbach in Erinnerung bringt, auf H. Köselitz zurück.

Vorwort

XI

proposito di una fonte della Genealogia della morale" in der Zeitschrift „Giornale critico della filosofia italiana" (Jg. 70, Mai-August 1991) erschienen. Die vorliegende Arbeit ist nicht zuletzt aus meiner Mitarbeit an dem Projekt „La biblioteca e le letture di Nietzsche" hervorgegangen, an dem mehrere Forscher der Universitäten Florenz, Pisa und Urbino tätig sind. Beim Zitieren der von Nietzsche benutzten Werke habe ich an einigen Stellen die Interpunktion modernisiert, um dem Leser die Lektüre zu erleichtern. Was die Werke von G. F. Schoemann, K. O. Müller und H. Martensen betrifft, so mußte ich auf andere als die von Nietzsche benutzten Ausgaben zurückgreifen, da diese mir nicht zugänglich waren. Lucca, Oktober 1995

Andrea Orsucci

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Erster Teil Nietzsches philologische Lektüren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches" Vorbemerkung zum ersten Teil

3

I. Kapitel: Basel, Herbst 1875: Nietzsches Kolleg über den „Gottesdienst der Griechen" 1. Die Antike und die „Universalmenschen" der Zukunft 2. Gegen die den Staatsgötzen anbetenden Philologen 3. Boettichers Theorie des agonalen Festtempels 4. Die Mentalität der Primitiven und die „Don Quixoterie" der Philologen 5. Das „Wiederaufleben in der Geschichte" 6. Marseille, September 1865: das Bild der Cholera wird verbrannt 7. Tylors Begriff des „Überlebsel" 8. Die „Philosophie der Urgeschichte", eine ganz neue Disziplin 9. Die Stufenleiter der Kultur 10. Naturzustand als Illusion II. Nicht moralische Selbstbeobachtung, sondern Historie und Völkerkunde

8 8 11 12 14 20 30 33 35 40 45 49

Anhang zum I. Kapitel: Nietzsche und das Problem der Vererbung in der damaligen Biologie

53

11. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren zur Beherrschung der Natur 1. Die Tyrannei der Sitte in vorhistorischen Zeitaltern 2. Die ursprüngliche Bedeutung religiöser Kulte 3. Die Zauberkünste unterworfener Stämme 4. Magie und natürliche Kausalität 5. Das religiöse Symbol als Unterpfand 6. Die magische Kraft des Rhythmus 7. Die Gewalt der Schutzbilder 8. Gottesdienstliche Rituale als Machtäußerungen 9. W. Mannhardt über Reinigungszeremonien

58 58 62 64 65 71 77 87 91 94

Inhaltsverzeichnis

XIV

10. Nachahmende Handlungen 11. C. Boetticher: „Geheime Sacra" im Hellenentum 12. Zur Deutung des Aphorismus 222 der „Vermischten Meinungen und Sprüche"

96 101 104

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung 1. Die ältesten Schichten der griechischen Religion: Schlangen-, Stein- und Baumkult 2. Die Vertrautheit der Hellenen mit der „asiatischen Masslosigkeit" 3. Asiatische Gestirnanbeter in Hellas 4. Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit 5. Die „greisenhafte Kurzsichtigkeit" der Europäer und ihre Uberwindung

109

Anhang zum III. Kapitel: „Preßreptilien" und öffentliche Meinung

141

109 116 121 130 138

Zweiter Teil Macht und Religion in Nietzsches Schriften der 80er Jahre Vorbemerkung zum zweiten Teil

153

IV. Kapitel: Kannibalische Götter, Teufelsverehrung, Askese: Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer 1. Wissenschaft als Vorurteil 2. Das Nützliche und das Uberflüssige am Anfang der Zivilisation 3. Der Wille als magisch wirkende Kraft 4. Askese und religiöse Abtötung 5. Animistische Weltsicht 6. Die Lust an der Grausamkeit 7. Die verkehrte Welt der moralischen Werte 8. Der Eurozentrismus der Ethnologen

155 155 162 166 171 177 181 185 189

Anhang zum IV. Kapitel: Der nachsichtige Gott der Wahhabiten

199

V. Kapitel: Der allmächtige Gläubiger. Zur Debatte (1860-90) über den Ursprung der Religion 1. Die Furcht vor den Geistern der Vorfahren 2. Animisten und Mythologen 3. Der vormoralische Ursprung des Begriffs „Sünde" 4. Unendliche Geschlechter-Ketten 5. Die Entwicklung vom Schuldrecht zum religiösen Gefühl in der Urzeit

205 205 208 213 220 225

Inhaltsverzeichnis

XV

Dritter Teil Die Griechen als Gegenbild zur modernen Dekadenz Vorbemerkung zum dritten Teil

235

VI. Kapitel: Die „linguistische Archäologie" und die geschichtliche Entwicklung des Farbensinnes: ein Kommentar zum Aphorismus 426 der „Morgenröthe" 236 1. Uralte farblose Zeiten 236 2. Das Farbenempfinden der Griechen 242 VII. Kapitel: Die Naivität der Griechen und das Ressentiment der Modernen 1. Wundt, Nietzsche und Scheler als Leser von L. Schmidt 2. Sprachliche Wandlungen und konkrete Interaktionsformen 3. Die Ehrfurcht, das Fehlen von Mißtrauen und der Sinn für das rechte Maß 4. Vornehmheit als Naivität und Verachtung des Nachtragens 5. Der Vorrang des Individuums vor dem ethischen Werte der Handlung 6. Der Schlechte als Unglücklicher, die Sünde als Form göttlicher Blendung

248 248 254 256 262 266 270

Vierter Teil Nietzsches Auseinandersetzung mit den „großen Worten" der Antisemiten Vorbemerkung zum vierten Teil

279

VIII. Kapitel: Südländische Skepsis und „heidnisches" Urchristentum 1. Die katholische Kirche und die antike Freisinnigkeit des Geistes 2. W. Leckys Betrachtungen über das Urchristentum 3. Die mehrdeutige Sprache des neuen Glaubens 4. Die Armen-Vereine in römischer Kaiserzeit 5. J. Lippert zur Barbarisierung des Christentums 6. E. Renan: petites communautes, confreries, tiedes atmospheres, bonheur 7. Latentes Christentum 8. Das „arische Christentum" der Antisemiten

281 281 284 286 292 294 298 303 310

Anhang zum VIII. Kapitel: F. Overbecks Sicht des Urchristentums und sein Hinweis auf den heuristischen Wert der Paradoxe 314 IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum um 1888. Einige philologische Anmerkungen 1. Julius Wellhausen und sein Bild des vorexilischen Judentums 2. Gottesdienst und Jahreskreislauf 3. Über den Begriff „Volksgott"

318 318 320 322

XVI

Inhaltsverzeichnis

4. Der stolze Heidengott, der Zorn und Rache kennt 5. Antisemitische „Kindereien" 6. Die Etablierung der jüdischen Theokratie 7. Die Juden und das christliche Jenseits

325 326 330 335

X. Kapitel: Zur Debatte über die vorarische Bevölkerung Deutschlands ... 1. Der Niedergang der Arier 2. Die Deutschen als Ferment-Rasse 3. Rassenkreuzung und Kulturentwicklung

341 341 346 348

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart und das Reformationszeitalter 1. Überspanntheit und Servilität 2. Der Bauernkrieg des Geistes 3. Wunderzeichen, Monstra, Portenta 4. Der rachsüchtige Mönch 5. Schleichwege zum Chaos

351 351 352 356 358 361

Nachwort

365

Siglenverzeichnis

369

Quellen Verzeichnis

371

Literaturverzeichnis

382

Personenregister

399

Sachregister

405

Erster Teil Nietzsches philologische Lektüren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches"

Vorbemerkung zum ersten Teil Mit „Menschliches, Allzumenschliches" (1878-1880) untersuchte Nietzsche unter anderem die „primitiven Formen des Schliessens" und die „herkömmlichen Schätzungen der Dinge", wie sie im Laufe der Geschichte immer wieder zum Vorschein kommen. Damit war es ihm um den Fortgang jenes ,,stetige[n] und mühsame[n] Process [es] der Wissenschaft" zu tun, dank dessen allmählich „die Entstehungsgeschichte des Denkens" geschrieben werden könnte1. In der kleinen „ unsichtbaren Kirche", dem Freundeskreis des „Pontifex maximus " Nietzsche2 rief der erste Teil des Werkes „Entfremdung" und Verwirrung3, ja „schmerzliches Erstaunen"4 hervor. Seine Freunde hatten kein Verständnis für die Grundstimmung der Schrift, welche sie auf den „geradezu unheimlichen Einfluß" Rees5 und auf die Beschäftigung mit den „französischen Sensualisten" zurückführten. Im Juni 1878 gab E. Rohde in einem Brief seinem Verdruß („so muß es sein, wenn man direct aus dem caldarium in ein eiskaltes frigidarium gejagt wird!") und seiner Ratlosigkeit („Statt Nietzsche nun plötzlich Ree werden? ich stehe noch immer erstaunt vor diesem Mirakel") Ausdruck6. Nietzsche antwortete ihm unverzüglich, indem er entschieden auf die Eigenständigkeit seiner Betrachtungen hinwies: Beiläufig: suche nur immer mich in meinem Buch und nicht Freund Ree. Ich bin stolz darauf, dessen herrliche Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben, aber auf die Conception meiner ,Philosophia in nuce' hat er nicht den allergeringsten Einfluss gehabt: diese war fertig und zu einem guten Theile dem Papier anvertraut als ich im Herbste 1876 seine nähere Bekanntschaft machte. 7

Nietzsches Antwort war ganz und gar gerechtfertigt. Der Kern des 1878-80 veröffentlichten Werkes geht in der Tat, was die Freunde freilich nicht wissen konnten, auf Notizen und Aufzeichnungen des Jahres 1875 zurück. Nietzsche arbeitete damals u. a. an der schließlich nicht zu Ende geführten „Unzeitgemäßen Betrachtung" mit dem geplanten Titel „Wir Philologen" und bereitete seine ι 2 3 4

' 6

1

Siehe MA 16 u. 18; 23[125] (Ende 1876-Sommer 1877), KSA 8, S. 447 f. Brief von P. Ree an F. Nietzsche vom Ende November 1877; KGB II 6/2, S. 769. Brief von F. Nietzsche an P. Ree vom 12. Mai 1878; KGB II/5, S. 325. Brief von E. Rohde an F. Overbeck vom 16. Juni 1878, in: Franz Overbeck - Erwin Rohde. Briefwechsel, de Gruyter, Berlin u. New York 1989, S. 25. Ebd., S. 26. Brief von E. Rohde an F. Nietzsche vom 16. Juni 1878; KGB II 6/2, S. 895 f. Brief von F. Nietzsche an E. Rohde, Juni 1878; KGB II/5, S. 333.

4

Vorbemerkung zum ersten Teil

Vorlesungen „Gottesdienst der Griechen" (GDG) und „Geschichte der griechischen Litteratur" (GGL), 3. Teil, vor. Einige Partien dieser Kollegien, in denen umfangreiche und für sein weiteres Denken wegweisende Studien Niederschlag finden, übernahm Nietzsche in sein 1878-80 veröffentlichtes Werk, teilweise sogar in spätere Schriften. Aphorismus 5 („Missverständniss des Traumes") von „Menschliches, Allzumenschliches" geht auf den „Gottesdienst der Griechen" zurück 8 . Dagegen ist Aphorismus 88 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" („Wie man stirbt, ist gleichgültig") die Umschrift einer Passage des dritten Teils der „Geschichte der griechischen Litteratur" 9 . Dasselbe Kolleg enthält außerdem die Ausführungen, aus denen die Aphorismen 2 1 9 („Vom erworbenen Charakter der Griechen"), 2 2 1 („Ausnahme-Griechen") 10 und 222 („Das Einfache nicht das Erste, noch das Letzte der Zeit nach") 11 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" hervorgehen. Die Betrachtungen über den Rhythmus, die Nietzsche in Aphorismus 84 der „Fröhlichen Wissenschaft" („Vom Ursprung der Poesie") anbringt, haben ebenso ihren Ursprung in G G L 1 2 wie der Aphorismus 158 von „Menschliches, Allzumenschliches" („Verhängniss der Grösse") 1 3 . Aphorismus M A 1 1 4 („Das Ungriechische im Christenthum") stimmt mit Ausführungen des GottesdienstKollegs überein 14 , das gleiche gilt für die Aphorismen MA 1 1 0 („Die Wahrheit in der Religion") und 111 („Ursprung des religiösen Cultus'") 15 sowie W S 74 („Das Gebet") 16 und 77 („Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der Körper?") 17 . Die These, mit der Nietzsche seine Gottesdienst-Vorlesung eröffnet hatte („Auf diesem

Vgl. GDG, S. 11: „Der Todte lebt fort, denn er erscheint in Träumen und Hallucinationen der Lebenden; so begründet sich der Glaube an Geister, getrennt vom Körper; so ward sein Grab Gegenstand abergläubischer Betrachtung." 9 Vgl.GGL,S. 193: „Nicht die letzten Augenblicke, aber wohl die ganze Art, wie der Mensch während seines Lebens, seiner Kraft an den Tod denkt, ist für ihn charakteristisch: auch für ein Volk [...]. Im Allgemeinen habe ich nun bemerkt, dass eben deshalb der geistige Grieche Etwas mehr fürchtet als den Tod, das ist das Alter [...]." 10 Vgl. GGL, S. 164-166 (für VM 221) u. 171 f. (für VM 219). Siehe hierzu Abschnitt 2 des dritten Kapitels der vorliegenden Arbeit. 11 Zu den Passagen aus GDG, die in diesen Aphorismus übergehen, siehe Abschnitt 12 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. 12 Siehe hierzu Abschnitt 6 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. 13 Vgl. GGL, S. 164: „Im Allgemeinen möchte es mir aber mehr scheinen, dass die Entartung auch in Hellas überwiegend, das Gute selten ist [...]." " Vgl. GDG, S. 9. 15 Siehe hierzu die Abschnitte 1 -5 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. 16 Zu der in diesem Aphorismus gebrauchten Formulierung („es müsste möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen") siehe die Abschnitte 2 u. 5 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. 17 Siehe hierzu Abschnitt 2 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. Weitere Textübereinstimmungen zwischen Aufzeichnungen der Jahre 1875-76 und Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches werden in KSA 14 und in einer kürzlich erschienenen Studie von H. Cancik (Nietzsches Antike, Stuttgart u. Weimar, 1995, S. 105 f.) angegeben. Zu Recht arbeitet Cancik in seiner Schrift (S. 95 f. u. 105) die Kontinuität zwischen Nietzsches philologischen Studien sowie 8

Vorbemerkung zum ersten Teil

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Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Kultus")18, findet einen Nachklang in MA292 („Vorwärts"), wo Nietzsche dem „freigesinnten Menschen" zuruft, auf der „Bahn der Weisheit" voranzuschreiten, ohne doch abschätzig auf Kunst und Religion, auf die „Wüste der Vergangenheit", welche die Menschheit durchquert habe, sowie die persönlichen „Irrwege" zurückzublicken: Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheueren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen?

Die Textübereinstimmungen zwischen den Vorlesungsmanuskripten und den später veröffentlichten Schriften zeigen in aller Deutlichkeit, daß Nietzsches Beschäftigung mit der „Entstehungsgeschichte des Denkens" auf den 1875 angestellten Studien über das Religionswesen „des älteren Hellenenthums" fußt, bei denen er geschickt Altertumswissenschaft und Ethnologie miteinander verbindet. Eine systematische Freilegung dieser Wurzeln von „Menschliches Allzumenschliches", wie sie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit versucht wird, steht bisher aus, obwohl Otto Crusius schon 1912, anläßlich der Herausgabe von Nietzsches philologischen Schriften, die enge Beziehung zwischen dessen akademischen Fachstudien und den „selbständigen Schriften" herausgestellt hatte: W e r [...] die Vorlesungen durchgeht, wird auf Schritt und Tritt halt machen und einen Fund mitzunehmen haben [...]. Die Abhängigkeit der Werke von den Heften ist oft mit Händen zu greifen. Der Text wird leicht umgestaltet, hier erweitert, dort zusammengefeilt [...]. In den Vorlesungen über den Gottesdienst der Griechen sind einige Blätter religionswissenschaftlichen Inhalts von späterer Hand Zeile für Zeile so durchkorrigirt, dass sie wörtlich in .Menschliches, Allzumenschliches' aufgenommen werden konnten 19 .

Nietzsches Lektüren zwischen Sommer und Winter 1875 können anhand des Verzeichnisses der von ihm aus der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Bücher20 sowie der noch heute in Weimar (Stiftung Weimarer Klassik) aufbewahrten Rechnungen über solche, die er damals erwarb, weitgehend rekonstruiert werden. Ε. B. Tylors Hauptwerk „Die Anfänge der Cultur" (Leipzig 1873) lieh sich

seinen Reflexionen über den Wert und die Aufgaben der klassischen Philologie aus den Jahre 1874 76 und dem 1878-80 veröffentlichten philosophischen Werk heraus, ι» GDG.S.4. 19 GA 18, S. X f. In seinen Kommentaren zu Nietzsches Texten beschränkt sich Crusius auf die Feststellung, daß ΜΑ 111 e222 auf die Gottesdienst-Vorlesungen (GA 19, S. 6 u. 393 -394) und FW 84 auf den dritten Teil des Kollegs über die „Geschichte der griechischen Litteratur" (GA 18, S. 329) zurückgehen. In KSA 14 (S. 132) wird lediglich MA 111 als Umarbeitung von Teilen des Gottesdienst-Kollegs ausgewiesen. 2 0 L. Crescenzi: „Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879)", in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 388-442.

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Vorbemerkung zum ersten Tel]

Nietzsche am 29. Juni aus ,J. Lubbocks Schrift „Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes" (Jena 1875) erwarb er am 28. Juli. Am 20. Oktober wiederum griff Nietzsche auf zwei völkerkundliche Werke aus dem Bestand der Universitätsbibliothek zurück: W. Mannhardts „Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme" (Berlin 1875) und A. Wuttkes „Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart" (Berlin 1869). In denselben Monaten entlieh er auch bedeutende Werke der damaligen Altertumswissenschaft: am 9. Juli und am 21. September C. Boettichers „Der Baumkultus der Hellenen" (Berlin 1856), am 25. September J. A. Hartungs „Religion und Mythologie der Griechen" (Leipzig 1865), am 19. Oktober C. Boettichers „Tektonik der Hellenen" (Potsdam 1844-52), am 20. Oktober H. Nissens „Das Templum" (Berlin 1869), am 24. Oktober den ersten Band von K. Müllenhoffs „Deutsche Altertumskunde" (Berlin 1870) und am 11. November F. C. Movers' „Die Phönizier" (Bonn 1841-56). Weitere Werke, die ebenfalls für die Gottesdienst-Vorlesungen und die Studien im Sommer-Herbst 1875 wichtig sind, befanden sich 1875 vermutlich schon in Nietzsches Privatbibliothek, ζ. B. G. F. Schoemanns „Griechische Alterthümer" (Berlin 1861-63) und die von J . A. Härtung herausgegebene Sammlung „Die griechischen Lyriker" (Leipzig 1855-57). Mit all diesen Autoren, die zu den angesehensten ihrer jeweiligen Disziplin gehörten, setzte sich Nietzsche intensiv auseinander. Die Werke Tylors und Lubbocks sind geradezu Meilensteine der ethnologischen Forschung jener Jahrzehnte. Auch Nissen, Boetticher, Müllenhoff, Härtung, Roscher und Mannhardt, die durch ihre philologischen und mythologischen, archäologischen und kunstgeschichtlichen Studien Nietzsche zu seiner Betrachtung der Griechen als ,menschlich-allzumenschlich' anregten, waren keineswegs Randfiguren in der deutschen Wissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Desto überraschender ist die Tatsache, daß Nietzsches Beziehung zu diesen Autoren, die er um 1875, in einer für seine philosophischen Reflexionen offenbar entscheidenden Zeit, mit dem größten Interesse las, bis heute noch nicht mit der gehörigen Aufmerksamkeit erforscht worden ist. Karl Müllenhoff (1818-84) war seinerzeit einer der angesehensten Vertreter der germanischen Philologie. Er wurde im September 1858, als Nachfolger von Friedrich Heinrich von der Hagen, zum ordentlichen Professor in Berlin ernannt, an der Universität, wo er ab Oktober 1839 bei Karl Lachmann studiert und Vorlesungen von Ranke, Böckh, Droysen und Wilhelm Grimm gehört hatte. Im Februar 1864 wurde seine wissenschaftliche Karriere mit der Aufnahme in die preußische Akademie - als Nachfolger Jakob Grimms gekrönt. Aber auch Carl Boetticher (1806-89), Archäologe und Kunsthistoriker, Schüler von K. F. Schinkel (ihm und K. O. Müller ist der erste Band der „Tektonik der Hellenen" gewidmet), ab 1844 Professor an der Bauakademie, 1854 Direktorialassistent, 1868 Direktor der Skulpturen- und Abgußsammlung des Berliner Museums, war in seinem Fach eine unbestrittene Autorität, deren Studien für lange Zeit als grundlegend galten. Wilhelm Mannhardt (1831-80), der sich 1855 in Berlin niederließ, die Herausgabe der „Zeitschrift für deutsche Mythologie und

Vorbemerkung zum ersten Teil

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Sittenkunde" übernahm und mit Jakob und Wilhelm Grimm in persönlichem Kontakt stand, trug in den 60er und 70er Jahren beträchtlich zur wissenschaftlichen Erforschung der germanischen Mythologie bei. Auch Heinrich Nissen, Historiker und Archäologe, ab 1870 ordentlicher Professor für Alte Geschichte und Philologie in Marburg (später in Göttingen, Straßburg und Bonn), Franz Karl Movers, Forscher auf dem Gebiet des phönizischen und jüdischen Altertums, ab 1842 Ordinarius für alttestamentarische Theologie in Breslau, Adam Johann Härtung, Direktor des Gymnasiums in Schleusingen und später in Erfurt, sowie Wilhelm Heinrich Roscher, ein Schüler von J. Overbeck und, wie Nietzsche, von F. Ritsehl, waren hervorragende Gelehrte, die Bedeutendes zur Altertumswissenschaft jener Zeit beitrugen. Zu Nietzsches Lektüre von Sommer bis Winter 1875 sei abschließend bemerkt, daß diese Forscher, deren Arbeiten sich „die bereitwilligkeit, mit der man [in den 60 und 70er Jahren] den einfluss der fremde auf Griechenland anerkennt"21 in hohem Maße verdankte, sich vielfach aufeinander beziehen. In seiner ersten Studie (1873) geht Roscher ausdrücklich von einer Methode aus, die in Mannhardts „vergleichender Mythologie" ihr Vorbild hat. Andererseits verweist Mannhardt in seinem Werk (1875), das Karl Müllenhoff gewidmet ist, oft auf Boettichers bahnbrechende Forschung über den Baumkultus der Hellenen. Müllenhoff (1870) führt an vielen Stellen seiner Untersuchungen Movers Ergebnisse an, während Tylor sowohl von Nissen als auch von Mannhardt zitiert wird. Eine detaillierte Betrachtung der Studien und Lektüren Nietzsches im Jahre 1875 soll im folgenden Teil helfen, die Entwicklung nachzuzeichnen, durch die der „philologus inter philologos"22 zur „bete philosophe"23 wurde.

21 K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, Berlin 1870, Bd. 1, S. 71. 22 Brief von F. Nietzsche an E. Rohde vom 23. Februar 1886; KGB III/3, S. 153. « Brief von F. Nietzsche an R. von Seydlitz vom 12. Februar 1888; KGB III/3, S. 153.

I. Kapitel: Basel, Herbst 1875: Nietzsches Kolleg über den „Gottesdienst der Griechen" 1. Die Antike und die „ Universalmenschen" der Zukunft Gegen die „Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, [...] alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns" (VM 10), tritt Nietzsche Ende der 70er Jahre für ein „historisches Philosophiren" ein. Die Auseinandersetzung mit dem „Erbfehler aller Philosophen", mit deren „Mangel an historischem Sinn" (MA 2), geht auch von jenen Argumenten aus, mit denen F. A. Lange auf den kurzsichtigen „Stolz des Empirikers" aufmerksam gemacht hatte. Der schwungvolle Fortschritt der Naturwissenschaften trage nämlich zu einer „Geringschätzung der Vergangenheit" bei. Die „philisterhafte Ueberschätzung" der allerletzten Errungenschaften, heißt es in Langes „Geschichte des Materialismus", lasse die Erkenntnis nicht zu, wie verschlungen die Wege waren, die zu ihnen geführt haben, wie es oft Irrtümer oder Täuschungen seien, die neuen Wahrheiten vorangehen. „Nächst der Verachtung der Philosophie ist ein materialistischer Zug in dem ungeschichtlichen Sinn zu finden, welcher sich mit unserer exacten Forschung so häufig verbindet." 1 Zur Erklärung dieser Ansicht bedient sich Lange einer Metapher, die auch Nietzsche später besonders treffend findet, denn dasselbe Bild wird in „Menschliches, Allzumenschliches" angeführt: [Nietzsche] Glockenguss der Cultur.—Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten, nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster

[Lange] Es ist durch Feuerbach in Deutschland und durch Comte in Frankreich die Anschauung aufgekommen, als sei der wissenschaftliche Verstand weiter nichts, als der nach Verdrängung der hindernden Phantasien zu seiner natürlichen Geltung gekommene gesunde Menschenverstand [...]. Die Geschichte zeigt uns keine Spur von einem solchen plötzlichen Hervorspringen des gesunden Menschenverstandes nach blosser Beseitigung einer störenden Phantasie; sie zeigt uns vielmehr überall, wie die neuen Ideen sich trotz des entgegenstehenden Vorurtheils Bahn brechen, wie

F. A. Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung 1866, S. 333 u. 335.

in der Gegenwart,

Iserlohn

Die Antike und die „Universalmenschen" der Zukunft

Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk? 2

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sie mit dem Irrthum selbst, den sie beseitigen sollen, sich verschmelzen oder zu irgend einer schiefen Richtung zusammenwirken, und wie die völlige Beseitigung des Vorurtheils in der Regel nur die letzte Vollendung des ganzen Processes ist, gleichsam das Putzen der fertig gearbeiteten Maschine. Ja — um der Kürze wegen beim Bilde zu bleiben — der Irrthum erscheint historisch oft genug als der Mantel, in welchem die Glocke der Wahrheit gegossen wird, und der erst nach Vollendung des Gusses zerschlagen wird. Das Verhältniss der Chemie zur Alchemie, der Astronomie zur Astrologie mag dies erläutern.3

Auch in einem anderen Kontext, mit einer teilweise veränderten Bedeutung, tritt die Metapher der Glocke auf. Die Gegenwart sei, so heißt es im Aphorismus 179 der „Vermischten Meinungen und Sprüche", eine „glückliche" Zeit, denn tatsächlich „erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheuere Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele", während frühere Culturen nur sich selbst zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren: aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurch drang.

Das bevorstehende „Glück der Zeit", das Heranrücken einer Epoche, in der „ökumenische Ziele" verwirklicht werden können, bedeutet für Nietzsche, wenn er es auch nirgendwo explizit ausspricht, daß die Europäer wieder vor jenen Aufgaben stehen, vor denen schon die alten Griechen standen. Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung soll gezeigt werden, auf welchen Wegen Nietzsche in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zu dem Schluß kommt, daß zwischen den Hellenen und den „Universalmenschen" der Zukunft eine wesentliche Ähnlichkeit bestehe. In der Tat finden sich die Leitgedanken des 1878-80 veröffentlichten Werkes schon in vielen, um Mitte 1875 verfaßten Fragmenten und in dem Kolleg-Manuskript über den „Gottesdienst der Griechen", stammen also aus einer Zeit, in der Nietzsche wiederholt betont, daß die Griechen keiner „gewölbten Glocke" (so die erst später verwandte Metapher) bedurften, um solchermaßen abgesondert ihre 2

3

M A 245. Das zwischen Ende 1 8 7 6 und Sommer 1877 geschriebene Fragment 2 3 [ 1 6 7 ] (KSA 8, S. 465), das von der Auseinandersetzung mit Tylor und Lubbock zeugt, enthält eine ähnliche Auffassung: „Die Aufgaben, welche der Mensch sich auf G r u n d falscher Annahmen stellte (z.B. Seele loslösbar vom Leibe) haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die,Wahrheiten' vermögen solche Motive nicht zu geben." Vgl. dazu auch V M 90. F. A. Lange: Geschichte des Materialismus, a.a.O., S. 3 3 6 f.

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

Kultur hervorzubringen. Sie waren vielmehr unaufhörlich darauf bedacht, durch regen Austausch von Fremden zu lernen. Sie zeigten ihre Überlegenheit eben darin, daß sie „Vollender, nicht Erfinder" 4 , „geniale", „freudige Dilettanten" waren, die alles, was sie um sich herum vorfanden, geschickt nachahmten und vervollkommneten, ein Volk von „Lernenden" 5 schlechthin. Hier liegt ein Schwerpunkt der Überlegungen Nietzsches um 1875: Die Modernen müssen erst einmal beginnen, frei von nationalen Vorurteilen zu denken, den ,Alten' dagegen sei jegliche „bornierte Autochtonie" 6 von vornherein fremd gewesen. Zu einer solchen Anschauung kommt Nietzsche, so die These der vorliegenden Untersuchung, durch das Zusammentreffen seiner philologischen Lektüren zwischen Frühling und Winter 1875, in Vorbereitung des Kollegs über den „Gottesdienst der Griechen" 7 , mit dem in denselben Monaten gründlich betriebenen Studium der ethnologischen Literatur. Klassisches Altertum und „unreines Denken" der Primitiven, Gottesdienst und Zauberei, Philologen und Schamanen — diese merkwürdigen Verbindungen charakterisieren sowohl das Vorlesungsmanuskript des Jahres 1875 wie auch zahlreiche Aphorismen in „Menschliches, Allzumenschliches". Eine kleine Gruppe von Fragmenten aus der Zeit Frühling-Sommer 1875 zeigt deutlich, was eine solche Verzahnung verschiedener Interessen bedeutet. Im Fragment 5 [164] geht Nietzsche von dem der Ethnologie entlehnten Begriff des „Überbleibsels" aus, er spricht sogar von „unsern metaphysischen Ueberbleibseln". Im folgenden Fragment 5 [165], in dem Aufzeichnungen gesammelt sind, die auch die GottesdienstVorlesungen betreffen, heißt es: „Im griechischen Götterwesen und Cultus findet man alle Anzeichen eines rohen und düstern uralten Zustandes, in dem die Griechen etwas sehr verschiedenes geworden wären, wenn sie drin verharren mussten". Im Fragment 5[162] werden aus derselben Perspektive Kunst und Religion betrachtet: „Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten [...]. Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie vorläufige Beruhigungen geben und etwas Palliativisches haben". Und im Fragment 5[163] wird festgestellt: Die Mittel gegen Schmerz, welche die Menschen anwenden, sind vielfach Betäubungen. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der niedrigen Heilkunst seelischer Schmerzen. Beseitigung der Ursache des Leidens durch eine Annahme, z.B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, es lebe noch schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung.

* 5 6 7

5[155] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 83. 5[65] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 59. 5[114] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 70. C. P. Janz: „Friedrich Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in Basel 1869-1879", in: NietzscheStudien 3 (1974), S. 192-203. Die Bedeutung dieser Vorlesungsreihe war seinerzeit hervorbehoben worden von C. Andler: Nietzsche. Sa vie et sapensee, Paris 1958, Bd. 1, S. 530-535; Bd. 3, S. 82-85.

Gegen die den Staatsgötzen anbetenden Philologen

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Das Hervortreten dieser Themen, die durch die Begriffe „Überbleibsel", gottesdienstliche Zeremonien als Kristallisationen uralter Gesittungen, Religion und Kunst als „Stufe der niedrigen Heilkunst" umrissen sind, ist ohne weiteres auf Nietzsches Interesse an einer Verbindung von Altertumswissenschaft und Ethnologie zurückzuführen. Hier hat auch die Bezeichnung der Griechen als „freudige Dilettanten" ihren Ursprung. Sie gelten als „Universalmenschen", da sie noch im Zustande des primitiven, des „unreinen Denkens" befangen sind. Gegenstand des ersten Teils meiner Arbeit sind die Studien, die dem Gottesdienst-Manuskript zugrunde liegen, und denen die größte Bedeutung im Hinblick auf das drei Jahre später veröffentlichte philosophische Werk beizumessen ist. 2. Gegen die den Staatsgötzen anbetenden Philologen

Um das „Erlösungsbedürfnis" zu verstärken, ziele das Christentum vor allem daraufhin, die „Sinnlichkeit" und das „Natürliche" am Menschen „zu lästern, zu geissein, zu kreuzigen". Ein ganz entgegengesetztes Bestreben, so führt Nietzsche im Aphorismus 141 von „Menschliches, Allzumenschliches" aus, habe in der „antiken Welt" geherrscht, in der „eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe" verwendet worden sei, „um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren". Dasselbe Motiv steht auch im Mittelpunkt der ersten der im Wintersemester 1875-76 gehaltenen Vorlesungen, die mit einer Eloge der „festfeiernden Griechen" beginnt. Dort stützt sich Nietzsche (ohne seine Quelle zu erwähnen) auf G. F. Schoemanns „Griechische Alterthümer", ein bekanntes Repertorium jener Zeit: [Nietzsche] Sie [die Griechen] haben gerade auf die Entwicklung der gottesdiensdichen Gebräuche eine ungeheure Kraft verwendet, eingerechnet Zeit und Geld; wenn bei den Athenern der sechste Theil des Jahres aus Festtagen bestand (Schol. Aristoph. Vesp. v. 663), die Tarentiner sogar mehr Festtage hatten als Werkeltage, so ist dies nicht nur ein Zeichen von Ueppigkeit und Faulenzerei, es war nicht hinausgeworfene Zeit. Das erfinderische Denken, Vereinigen, Ausdeuten, Umbilden auf diesem Gebiete ist die Grundlage ihrer πόλίς, ihrer Kunst, ihrer ganzen bezaubernden und weltbeherrschenden Macht gewesen. 8

[Schoemann] Solche Feiertage sind die eigentlich sogenannten Feste, έορταί: und auch ihrer gab es in Athen eine beträchtliche Anzahl, nach einem alten Zeugen doppelt soviel als in irgend einem andern Staate [Xenoph. Staat v. Athen c. 3, 9]. Eine bestimmte Zahl anzugeben setzen freilich unsere Quellen uns nicht in den Stand, gewiss aber ist es nicht zuviel, wenn wir etwa fünfzig bis sechzig solcher Feiertage [Vgl. Schol. Aristoph. Vesp. v. 683 (661). Att. Proc. S. 152], an denen die Geschäfte ruhten, annehmen [...]. Von den Tarentinern heisst es bei Strabo V I p. 280, dass sie zur Zeit ihrer Blüthe mehr öffentliche Feste (πανδήμους eoprds·) als Werktage gehabt hätten (ή τάς· άλλας· ήμέρας). Vgl. Corai u. Grosk. 9

s 9

GDG, S. 3. G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, Bd. 2: Die internationalen Verhältnisse und das Religionswesen, Berlin 1859, S. 392. Die zweite, 1861-63 erschienene Auflage dieses Werkes gehört zu Nietzsches Bibliothek.

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

Bei der Beschreibung des Erfindungsreichtums der Griechen, die immer „Schönheit, Pracht, Mannichfaltigkeit [...] in Aufzügen, Tempeln, Cultusgeräthschaften" zu zeigen wußten, ergreift Nietzsche die Gelegenheit, eine auf die Gegenwart gerichtete polemische Anmerkung in seine Rede einzuflechten: Es fragt sich, ob eine Zeit wie die unsere, die in Maschinenwesen und Ausbildung des Krieges ihre Stärke hat, ihre Kraft auf eine allgemein nützlichere Weise anlegt. 10

Der Professor der klassischen Philologie, der sich vor seinen Studenten solchermaßen vernehmen läßt, ist derselbe, der in seinen privaten Aufzeichnungen die vor dem „Staatsgötzen" knienden Altertumswissenschaftler schmäht: Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen. 11

Auch im Fragment 23 [148] wird das Altertum ein „Zeitalter des Talents zur Festfreude" genannt und (wie schon in den Gottesdienst-Vorlesungen) ein Vergleich mit der Gegenwart angeschlossen: Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet.

In der schroffen Gegenüberstellung von Festfreude der Hellenen und „Maschinenwesen" und Militarismus der Modernen manifestiert sich Nietzsches Absicht, „volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen ,Cultur' und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen"12. 3. Boettichers Theorie des agonalen Festtempels In der Verherrlichung des „festfeiernden Griechen", aus der in Nietzsches Vorlesung eine unverschleierte Kritik der dürftigen politischen Verhältnisse der Gegenwart spricht, klingen manche heftige Diskussionen nach, die in der klassischen Philologie der 60er und 70er Jahre geführt wurden. Boetticher, der die Ansicht vertrat, daß das griechische Altertum nicht nur Kulttempel kannte, sondern auch „agonale Festtempel", denen eine völlig „unheilige" und „profane" Bestimmung zugekommen sei, hatte schon 1852 in seiner „Tektonik der Hellenen" GDG, S. 3 f. Über „unser modernes Militärwesen", das bloß ein „lebendiger Anachronismus, [...] ein posthumes Werk der Vergangenheit" sei, vgl. WS 279. Zur politischen Einstellung Nietzsches im Sommer 1875 vgl. auch die Erinnerung von Louis Kelterborn, in: S. L. Gilman: Begegnungen mit Nietzsche, Bonn 1981, S. 237 f. 11 5[177] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 91. 12 3[68] (März 1875); KSA 8, S. 33. 10

Boettichers Theorie des agonalen Festtempels

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b e h a u p t e t , d a ß g e r a d e d e r P a r t h e n o n in A t h e n u n d d e r Z e u s t e m p e l in O l y m p i a „ganz eigentlich n u r Festheiligthümer [ w a r e n ] , w e l c h e zur F e i e r kyklischer F e s t e dienten u n d a u ß e r d e m b l o ß b e n u t z t w u r d e n , die k o s t b a r e n A n a t h e m a t a , a u c h w o h l d e n beweglichen Staatsschatz a u f z u n e h m e n . " 1 3 A u c h in N i e t z s c h e s V o r l e s u n g e n wird e i n g e h e n d v o n „agonalen F e s t t e m p e l n " für „cultuslose F e s t l i c h k e i t e n " g e s p r o c h e n 1 4 . U n d B o e t t i c h e r s Ü b e r z e u g u n g , d a ß d e r P a r t h e n o n nicht „die geringste spur von [...] cultusweihe u n d cultusheiligkeit" aufweise, w i r d v o n N i e t z s c h e ( d e r diesmal seinen Z u h ö r e r n die H e r k u n f t seiner K e n n t n i s s e nicht verschweigt) geteilt: [ N i e t z s c h e ] D a z u k o m m t , dass d e r Parthenon, weil er in dorischer Kunstform gebaut ist, kein Cultustempel einer attischionischen Nationalgottheit sein kann. Die nationale Bauweise der ionischen Athener für ihre vaterländischen Heiligthümerist die altionische [...]. Eine Bauweise wie die dorische ist dem religiösen Bewusstsein der Athener fremd, ein Dorer durfte nicht einmal das Nationalheiligthum der Athener betreten. 15

13

[Boetticher] Die national eigne bauweise der ionischen Athener für ihre väterlichen heiligthümer ist die alt-ionische [...]; eine bauliche kunstform dagegen wie die dorische, w e l c h e dem n a t i o n a l e n religiösen bewusstsein des Atheners als eine fremde, seinem väterlich heiligen sogar als feindliche von abkunft gerade zu entgegensteht, kann er nicht zum baue des cultustempels einer seiner Stammgottheiten verwenden. Denn wie feindlich entgegendstehend dem väterlichen cultus der Athener das dorische wesen sich verhalten hat, wie ein fürst dorischen stammes nicht einmal das nationalheiligthum der Athener betreten durfte, weil dies stets nur aus gefahrbringender absieht in bezug auf das heilige geschehen konnte, beweist die geschichte des Kleomenes mit der priesterin der Athena-Polias und die worte

C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, Bd. 2, Viertes Buch, Potsdam 1852, S. 3. Nietzsches Interesse für Boettichers Theorie wird auch durch die Tatsache bezeugt, daß er im OktoberDezember 1875 einige Bände der Zeitschrift Philologus (Bde. 17 und 19 am 26. Oktober, Bd. 18 am 7. Dezember) entleiht, in denen Boettichers langer Beitrag „Ueber agonale festtempel und thesauren, deren bilder und ausstattung" erschienen war: Philologus 17 (1861), S. 385-408,577-605; 18 (1862), S. 1-54,385-417,577-603; 19 (1863), S. 1-74. Zur gleichen Zeit liest Nietzsche auch einen Beitrag von B. Stark (vgl. dazu GDG, S. 57), in dem die Theorie des „agonalen Festtempels" kritisiert wird (B. Stark: „Carl Bötticher's ansichten über die Agonaltempel, den Parthenon zu Athen und den Zeustempel zu Olympia", in: Philologus 16,1860, S. 85-117). Ebenso kennt er zwei weitere, dieselbe Frage betreffende Abhandlungen von C. Boetticher (siehe hierzu GDG, S. 56): „Über den Parthenon zu Athen und den Zeus-Tempel zu Olympia, je nach Zweck und Benutzung", in: Zeitschrift für Bauwesen 2 (1852), S. 198-210, 498-520; 3 (1853), S. 35-44, 127-142,270-292; Der Zophorus am Parthenon hinsichtlich der Streitfrage über seinen Inhalt und dessen Beziehung auf dieses Gebäude, Berlin 1875. Das letztgenannte Werk entlieh Nietzsche am 20. Oktober 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek.

i" GDG, S. 56 ff. 15 GDG, S. 57 f.

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

derselben an den könig πάλιν χώρει, μηδ' έσιθι ές- τό ίράν όν γάρ θβμιτόν Δωριηα τταριέναι ένθαϋτα: das beweist auch der raub, den Kleomenes damals im tempel begangen hatte [Herodot. 5, 72-90] [...]. Der Parthenon dagegen, weil er in dorischer kunst-form gebaut ist, konnte kein cultustempel einer attisch-ionischen nationalgottheit sein.16 Indem Nietzsche Boettichers Schlußfolgerungen übernimmt, bezieht er, unausgesprochen, auch gegen Grundansichten der damaligen Altertumswissenschaft Stellung, da viele Philologen, und unter ihnen auch anerkannte Autoritäten wie Welcker, die „Theorie der Agonaltempel" als völlig unhaltbar und „mit bedenklicher Willkür in der Ausdeutung der Quellen" verbunden bekämpft hatten 17 . Mit der Behauptung, daß der Parthenon kein „heiligthum" sei, mit dem Hinweis auf Tempel, die nur als „donaria" oder als Sammlungs- und Aufbewahrungsstätten der „schatzstücke [galten], welche zum apparate der grossen feste des staates, zur ausrüstung der pompen agonen theorien gehörten", wird demnach die Symbolik der „profanen" Festlichkeit im Hellenischen hervorgehoben, in der „die blosse politische und bürgerliche geschäftsverwaltung" 18 ganz ohne Verquickung mit den religiösen Darstellungsformen zum Ausdruck komme. Boetticher sagt ausdrücklich, daß seine Arbeit „zur erkenntniss der grandiosen weise [beitrage], mit welcher bei den alten alle kräfte der bildenden kunstthätigkeit in ihren höchsten leistungen aufgewendet wurden, um auch die bedürfnisse zu erfüllen, welche ausserhalb der beengenden schranken des hieratischen liegen, um auch den zwecken des profanen staatlichen bedürfnisses zu genügen" 19 . 4. Die Mentalität der Primitiven und die „Don Quixoterie" der Philologen Schon in dieser ersten Vorlesung über den „Gottesdienst der Griechen" ist Nietzsche mit Nachdruck bemüht, seine Zuhörer davon abzubringen, das Griechentum als etwas absolut Einmaliges, als einen mit anderen Kulturen nicht zu vergleichenden Sonderfall anzusehen. Zwar sei ihre „anhaltende Energie des Nachdenkens", ihr ,,gute[r] Wille, sich mit nichts Mittelmässigem genügen zu lassen" charakteristisch, aber nicht die „Logik des Denkens", die sich in ihren „gottesdienstlichen Gebräuchen" ausspreche: „Original zwar sind [ihre religiösen Zeremonien], im Sinne eines ganz autochthonen und unberührt gebliebenen Cultus, nicht; im Gegentheil, die Elemente ihres Cultus finden wir überall wieder, 16 17

18 19

C. Boetticher: „über agonale festtempel und thesauren", a.a.O., 17 (1861), S. 402 f. C. Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, Bd. 2, München u. Leipzig 1883, S. 110 f. C. Boetticher: „über agonale festtempel und thesauren", a.a.O., 17 (1861), S. 604. C. Boetticher: „über agonale festtempel und thesauren", a.a.O., 18 (1862), S. 54.

Die Mentalität der Primitiven

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es ist gar nicht zu sagen, warum nicht die Phönizier oder die Phryger oder die Germanen oder die Römer es hätten ebensoweit bringen können" 20 . Die Griechen seien wohl vertraut gewesen mit jenem „unreinen Denken" (ein Begriff, der auch in „Menschliches, Allzumenschliches" in bedeutenden Zusammenhängen gebraucht wird), das „mit der Logik des Aberglaubens, aber auch mit der der Poesie" eng verwandt sei. Leider seien die Philologen, so gibt Nietzsche seinen Studenten zu verstehen, am wenigsten geeignet, die Besonderheiten des „unreinen Denkens" zu begreifen, da ihnen gemeinhin die Mentalität der Primitiven, der rohen Stämme, die sich „auf niederen Culturstufen" befinden, gänzlich fremd sei: Ueberall, w o m a n jetzt n o c h V ö l k e r s c h a f t e n auf niederen C u l t u r s t u f e n f i n d e t , u n d e b e n s o überall in den niederen, schlecht unterrichteten Volksklassen d e r civilisierten Nationen, f i n d e t man die gleiche A r t zu denken. A u f diesem B o d e n des unreinen D e n k e n s e r w u c h s d e r griechische Cultus. 2 1

Das Erstaunen des Publikums, als es solches vernehmen mußte, dürfte beträchtlich gewesen sein. Gewiß wollte Nietzsche in seiner ersten Vorlesung die Erwartungen des akademischen Nachwuchses auf Fühlung „mit dem Humanen" zunichte machen. Auch in dem im März 1875 niedergeschriebenen Fragment 3 [12] heißt es: D a s Menschliche, das uns das A l t e r t h u m zeigt, ist nicht zu v e r w e c h s e l n mit d e m H u m a n e n . Dieser G e g e n s a t z ist sehr stark h e r v o r z u h e b e n , die Philologie k r a n k t daran, dass sie das H u m a n e unterschieben möchte; n u r deshalb f ü h r t man junge L e u t e hinzu, damit sie h u m a n w e r d e n [...]. D a s M e n s c h l i c h e der Hellenen liegt in einer gewissen Naivetät [...]; es ist genau das Menschliche, das sich überall bei allen V ö l k e r n zeigt, aber bei ihnen in einer Unmaskirtheit u n d Inhumanität, dass es zur Belehrung nicht zu e n t b e h r e n ist.

Nicht also die Überlegenheit der ,Alten' betont Nietzsche in der Einleitung zu seinen Gottesdienst-Vorlesungen, sondern die Verwandtschaft ihres Denkens und Schließens mit dem der „Wilden", ja sogar mit dem der „niederen, schlecht unterrichteten Volksklassen" der modernen Gesellschaft. Primitive und Hellenen

20

21

G D G , S. 4. Ahnliches behauptet Nietzsche in der zur gleichen Zeit gehaltenen Vorlesung über die „Geschichte der griechischen Litteratur" (GA 18, S. 157): „Die Griechen waren in Betreff der Originalität nicht peinlich, das ist bekannt, sie nahmen das Gute, woher es kam, und schätzten überhaupt mehr das Vollenden als das Erfinden." G D G , S. 4. Zur Verwendung des Begriffs „ unreines Denken " in „Menschliches, Allzumenschliches " vgl. MA 3 2 , 3 3 u. 292, deren Vorstufen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1875 sind. (Vgl. dazu die Vorbemerkung zum ersten Teil dieser Arbeit). Der Begriff erscheint auch in mehreren nachgelassenen Aufzeichnungen der Zeit 1875-77 (KSA 8): 9[1], 15[27], 17[1], 17[79], 18[34], 18[58], 18[61], 19[120], 22[26], Vgl. dazu auch das Fragment 23[4] (Ende 1876-Sommer 1877; KSA 8, S. 404): „Dieselbe Manier zu denken, welche noch jetzt die große Masse bestimmt, ja auch den gebildeten Einzelnen, falls er sich nicht sehr besinnt, hat den sämmtlichen Phänomenen der Cultur zum Fundamente gedient. Diese partie honteuse hat die ungeheuersten und herrlichsten Folgen nach sich gezogen, auch die Cultur hat ein pudendum zum Geburtsschooß, wie der Mensch."

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teilen die „Ungenauigkeit der Beobachtung", d. h. beide verwechseln zufällige „Aehnlichkeiten" mit wesenhaften Affinitäten, beide lassen sich in gleicher W e i s e nur v o m Erstaunlichen, „Aussergewöhnlichen" beeindrucken 2 2 . V o r allem aber haben sie, u n d darauf kommt es Nietzsche besonders an, keinen Begriff der Kausalität, sie deuten Handlungen und Naturvorgänge phantastisch und willkürlich aus. Zur Veranschaulichung der „Naivetät", die auch den Griechen eigen sei, führt Nietzsche eine Beobachtung an, die er aus Lubbocks „Entstehung der Civilisation" entnimmt, einem W e r k e , das soeben, 1 8 7 5 , in deutscher Ubersetzung erschienen war: [Nietzsche] Falscher Begriff der Causalität, Verwechselung des Nacheinander mit dem Begriff der Wirkung. [...] Der König der Coussa-Kaffern hatte ein Stück von einem gestrandeten Anker abgebrochen und starb bald darauf. Sämmtliche Kaffern hielten nunmehr den Anker für ein lebendes Wesen und grüssten ihn ehrfurchtsvoll, sobald sie in seine Nähe kamen.23

[Lubbock] Wir dürfen nicht vergessen, daß der Gottesbegriff der wilden Rassen sich wesentlich von dem der höheren Völker unterscheidet. Ihre Gottheit ist nicht überirdisch; sie ist nur ein Theil der Natur. Dies erklärt in hohem Grade die uns auf den ersten Blick so fremdartig erscheinende Neigung, leblose Dinge zu vergöttern [...]. Der König der Koussa-Kaffern hatte ein Stück von einem gestrandeten Anker abgebrochen und starb bald darauf. Sämmtliche Kaffern hielten nunmehr den Anker für ein lebendes Wesen und grüssten ihn ehrfurchtsvoll, sobald sie in seine Nähe kamen.24

W e r sich, so behauptet Nietzsche, mit der Vorstellungswelt von Stämmen „niederer Culturstufen", wie den Koussa-Kaffern, vertraut mache, wer, mit anderen W o r t e n , die ethnologische Forschung nicht ignoriere, der werde die Griechen 22

23

24

„Ausschliesslichkeit des Gedächtnisses für absonderliche Fälle: während der Philosoph und der wissenschaftliche Mensch gerade das Gewöhnliche, Alltägliche als Problem fasst und interessant findet. Das Unregelmässige, Aussergewöhnliche beschäftigt fast allein die Phantasie der unwissenschaftlichen Menschen, auch der Gemüthsmenschen." (GDG, S. 5) GDG, S. 5. Schon F. A. Wolf hatte die Meinung vertreten, daß „der arme Kamtschadale" und „die Denkungsart wilder Völkerschaften" ein wichtiger Vergleichsgegenstand für die klassische Philologie seien. 1785 behauptete er, daß „es schon an sich eine angenehme und interessante Beschäftigung [ist], in der ursprünglichen Denkungsart noch ungebildeter Nationen den Grund von Gebräuchen und Gewohnheiten aufzusuchen, die sich in der Folge oft weit ausgebreitet [...] und unter sehr veränderten Umständen sich lange Zeit aufrecht erhalten haben [...]. Die ersten Begriffe, die sich ein Volk von höhern oder göttlichen Wesen macht, dürfen wir auf keine Weise nach einem Massstabe messen, den unsere erleuchtete Vernunft uns dazu an Hand gibt." (F. A. Wolf: Ueber den Ursprung der Opfer, in: Kleine Schriften, Bd. 2, Halle 1869, S. 644-648) Nietzsche entlieh dieses Werk am 18. Februar 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek. J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes Jena 1875, S. 236. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Lubbock vgl. D. S. Thatcher: „Nietzsche's Debt to Lubbock", in: Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 293-309, wo jedoch diese Stelle unberücksichtigt bleibt. Vgl. auch M. Brusotti: „Beiträge zur Quellenforschung", in: NietzscheStudien 21 (1992), S. 396 f.

Die Mentalität der Primitiven

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desto besser verstehen. So versucht er dem entgegenzuarbeiten, was er im Fragment 7[1] als „Don Quixoterie" der Philologen beschreibt: Die Verehrung des klassischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten, [...] ist ein grossartiges Beispiel der Don Quixoterie: und so etwas ist also Philologie besten Falls [...]. Man ahmt etwas rein Chimärisches nach, und läuft einer Wunderwelt hinterdrein, die nie existirt hat [...]. Allmählich ist das ganze Griechenthum selber zu einem Objecte des Don Quixote geworden.

Schon während der ersten Gottesdienst-Vorlesung mußten Nietzsches Zuhörer die Bedeutung seiner Worte klar erkennen: Hellas sei keineswegs „ein heiliges Land", wie F. G. Welcker meint, die Griechen mitnichten „die Bezwinger der Kentauren und der Barbarei" 25 . Der Ansatz, der in dieser ersten Vorlesung zutage tritt, weicht auch von demjenigen ab, den in denselben Jahren J. Burckhardt in seinem Unterricht an der Basler Universität entwickelt hatte: „Auch die Kunde der jetzigen Naturvölker und Halbkulturvölker und ihrer Götterwelt", so schreibt dieser in seiner „Griechischen Kulturgeschichte", „lehrt uns nicht viel über den Hergang bei diesem ganz einzig begabten Griechenvolk"26. Nietzsches Bestreben, wie es in dieser Vorlesung besonders deutlich zutage tritt, geht auf eine tiefgreifende Umwandlung der „allmählich ganz wirkungslos gewordenen]" Philologie27, die nurmehr die „Flucht aus der Wirklichkeit" befördere28. Eine altphilologische Forschung, aus der Bezugspunkte zu gewinnen seien, die auch bei der Auseinandersetzung mit der Tendenz der Zeit zur „Ausbildung des

25

F. G. Welcker: „Über die Bedeutung der Philologie", in: Kleine Schriften zur griechischen Litteratur, 3. Teil, Bonn 1861, S. 4 f. In dieser Rede Welckers, die auf der vierten „Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner" in Bonn 1841 gehalten wurde, wird weiterhin behauptet (S. 15 f.): „Man wird sehn, ob nicht dann sich noch entschiedener für Jedermann bewährt, daß den Germanen das Hellenische näher angeht als alles Asiatische, daß die unermeßlichen Flächen und Steppen ermüden, die Hochgebirge der Cultur immer von Neuem anziehen, und daß Geisteswerke, denen alle jetzt gebildeten Völker ihre Bildung zum großen Theil verdanken, darum unvergänglicher Wirkung gewiß sind, daß eine verbreitete Kenntniß des Chinesischen uns mit dem Chinesischen anstecken würde, und daß Kawi, Mandschu, Tamuli durch einige wenige Forscher zureichend für den Zweck des geistigen Fortschritts im Allgemeinen ergründet werden möchten." Zu Welcker siehe E. Curtius' Urteil: „Er hatte [...] noch zuviel von jener Eifersucht, mit welcher die älteren Humanisten die Autochthonie der griechischen Göttergestalten hüten zu müssen glaubten." („Die griechische Götterlehre vom geschichtlichen Standpunkt", in: Preußische Jahrbücher36,1875, S. 2). Zu F. G. Welcker vgl. ferner R. Pfeiffer: History of Classical Scholarship from 1300 to 1830, Oxford 1976,S. 179ff.;W. M.Calder.A. Köhnken, W.Kullmann ,G. Pflug (Hrsg.): Friedrich Gottlieh Welcker. Werk und Wirkung, Stuttgart 1986.

26

J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Basel u. Stuttgart 1978, Bd. 1 (=Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 31. Was Nietzsches Beziehung zu diesem Werk anbetrifft, siehe H. Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie. Nietzsche, ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, S. 127-133, 263-265. 5[124] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 73. 3[16] (März 1875);KSA8,S. 19.Vgl.auchdasFragment3[18] (März 1875);KSA8,S. 19: „Nurauf einem ganz castrirten und verlogenen Studium des Alterthums kann unsere Bildung sich erbauen."

ν 28

18

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Krieges" oder bei der Diskussion über das „unreine Denken" richtungweisend zu wirken vermögen, zeige sich wiederum imstande, auch in Fragen von rein politischem' Charakter ihren Beitrag zu leisten und zu einer Aufgabe zurückzufinden, die ihr durchaus fremd geworden sei: .Klassische Bildung'! Was sieht man darin! Ein Ding, das nichts wirkt außer—Befreiung von militärischen Lasten und Doktortitel! 29 Nietzsche glaubt, daß eine neue Betrachtung der Antike, mit der er seine Zuhörer vertraut machen will, um so leichter zum Durchbruch komme, je mehr sie auch anhand philosophischer Argumentationen begründet werde. In der Tat vermittelt er den Studenten, die das Gottesdienst-Kolleg besuchen, sofort philosophische Inhalte, die zwar auf wenige Sätze zusammengedrängt, doch sehr präzise sind. Nietzsche behauptet nämlich: Auf diesem Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Cultus; wie auf dem Boden des Rachegefühls das Rechtsgefühl erwachsen ist.50 U n d fügt sogleich hinzu: So wie man gesagt hat:, Die besten Dinge und Handlungen haben unappetitliche Eingeweide.' 31 Die zuerst zitierte Äußerung spielt auf E. Dührings „Werth des Lebens" an, eine Schrift, die Nietzsche im Sommer 1875 mit besonderem Interesse las: Die Conception des Rechts und mit ihr alle besondern Rechtsbegriffe haben ihren letzten Grund in dem Vergeltungstriebe, der in seiner höhern Steigerung Rache heisst. Das Rechtsgefühl ist wesendich ein Ressentiment, eine reactive Empfindung, d. h. es gehört mit der Rache in dieselbe Gefühlsgattung [...]. Wenn man den Göttern Opfer bringt, um die vermeinten Unthaten der Menschen zu sühnen, so ist es ganz offenbar, dass man sich vorstellt, ihre Rache befriedigen und ihren Zorn durch das eigne Uebel und den eignen Verlust versöhnen zu müssen. Steigen wir von den Göttern, die das menschliche Wesen in abstracten Zügen und in grössern Dimensionen an sich tragen, zu den Menschen herab, so finden wir die Blutrache als die ursprünglichste Gestalt der Gerechtigkeitsübung vor. Erst in einem spätem Stadium der Volksentwicklung kommen die öffendichen Beilegungen der aus den Verletzungen entstandenen Feindschaften zur Geltung, und das Rechtsgefühl der Einzelnen beruhigt sich, wenn dem Verletzer ein angemessener Eigenthumsverlust als Strafe auferlegt wird. Stets bleibt aber das Rachegefühl der Grund des Strebens, dass den Verletzer ein Uebel treffe [...]. Die gewöhnliche Ansicht, welche eine äusserliche Abstraction von entwickelten Rechtszuständen ist, wird stets verleitet, das wahre Verhältniss umzukehren und einen fertigen Rechtsbegriff als Grund des Vergeltungsbedürfnisses vorzustellen. 32 29 5[132] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 74. 30 GDG, S. 5 f. GDG, S. 6. 52 E. Dühring: Der Werth des Lebens, Breslau 1865, S. 219-221. Siehe dazu V. Gerhardt: „Das .Princip

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Dührings Studie, die nicht zufällig L. Feuerbach, „jenen feuerigen Philosophen", ehrfurchtsvoll erwähnt, will demonstrieren, „dass es im Felde der praktischen Urteile und Wertschätzungen keine reine, d.h. bloss theoretische Erkenntniss geben könne."33 Die Rechtsphilosophie habe aber „den Gerechtigkeitsbegriff [...] in den leeren Raum trascendenter Dichtung" versetzt, sie lasse „Triebe", „ Gefühle" und „Bedürfnisse", die selbst für die,abstrakten' Rechtsnormen grundlegend seien, gänzlich außer acht: „Man hat vergessen zu untersuchen, wie tief die Wurzeln der sinnlichen Empfindungen in die höheren Functionen eingreifen [...]; was man [...] im gemeinen Sprachgebrauch als geistig bezeichnet, ist nur der letzte Ursprung und die abstracte Form des Sinnlichen."34 Diese Auffassung, nach der jede Form „metaphysischer Uebertragung" unzulässig ist, mußte die Zustimmung Nietzsches finden, dem es damals darum ging, Irreführungen und Trugbilder der Altphilologen zu desavouieren. Die Kritik am Mythos der „humanen" Antike lasse sich, so geht aus der eben zitierten Stelle von Nietzsches Kolleg implizit hervor, durch eine Verkoppelung mit Dührings Absage an die Schopenhauersche Philosophie und an ihre „Abstraktionen"35 philosophisch untermauern. Das Zitat dagegen, das Nietzsche der Anspielung auf Dühring folgen läßt, ist Rees 1875 erschienenen „Psychologischen Beobachtungen" entnommen, wo es zum Abschluß des Kapitels über „die menschlichen Handlungen und ihre Motive" in aller Kürze heißt: „Die besten Handlungen haben oft unappetitliche Eingeweide."36 Die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte, anhand deren Nietzsche seine Studenten an die Thematik des „unreinen Denkens" heranführte, läßt die Bedeutung

33 34 35

des Gleichgewichts'. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 111-133; A. Venturelli: „Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring", in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 107-139; M. Brusotti: „Die .Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne", in -.Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 98 ff. E. Dühring: Oer Werth des Lehens, a.a.O., S. 5. Ebd., S. 100-102. Vgl. dazu: „Man setzt bisweilen voraus, dass die Freude des Erkennens von wesentlich anderer Natur als die Lust des praktischen Gelingens sei. Man spricht sogar von reinen ungetrübten Freuden des Gedankens. Man scheint anzunehmen, das menschliche Wesen verleugne seine Natur, sobald es sich in der Sphäre blosser Theorie ergehe. Das reine Anschauen der Ideen wird als ein Act dargestellt, welcher von jeglicher Affection, in der sich auch nur eine Spur von Analogie der gemeinen Bestrebungen verrathe, völlig frei sei. So entsteht die Chimäre eines blossen Subjects der Erkenntniss, welches sich unabhängig von dem Subject des Wollens und Strebens solle denken lassen. Gegen diese Meinung, welche besonders von Schopenhauer vertreten worden ist, hat man nur die Thatsache geltend zu machen, dass sämmtliche Aeusserungen des menschlichen Wesens, mögen sie in Thaten oder Gedanken bestehen, eine gemeinschaftliche Grundform haben [...]."

(Ebd., S. 164) 36

P. Ree: Psychologische Beobachtungen, Berlin 1875, S. 64. Zu den Ubereinstimmungen zwischen Rees Schrift und Menschliches, Allzumenschliches siehe H. M. Wolff: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, Bern 1956, S. 102 u. 302. Zu Rees philosophischer Ausbildung siehe H. Treiber: „Wahlverwandtschaften zwischen Nietzsches Idee eines .Klosters für freiere Geister' und Webers Idealtypus der puritanischen Sekte", in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 326-362.

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erkennen, die er diesem Kolleg beimaß, so wie die Verschiedenartigkeit der von ihm angeführten Autoren, unter denen Ethnologen, Philosophen und Altertumswissenschaftler gleichermaßen vertreten sind, die Bandbreite seiner Interessen und seiner Lektüre im Sommer und Herbst 1875 verrät. Aus dieser ersten Vorlesung, aus dem für die Zuhörer wahrscheinlich höchst überraschenden Ubergang von den Griechen zu den Koussa-Kaffern, wird deutlich, daß Nietzsche schon begonnen hatte, über jene tiefgreifende Umwälzung („Alle Grundlagen der Cultur sind hinfällig geworden: also muß die Cultur zu Grunde gehen")' 7 nachzudenken, aus der sich das „Verschwinden des Nationalen", die „Erzeugung des europäischen Menschen"38 ergeben sollte.

5. Das „Wiederaufleben in der Geschichte" Die Fragestellung, die die Abkehr vom verklärten Bilde des Griechentums ermöglichen soll, veranschaulicht Nietzsche in einer Vorlesung anhand einiger Beispiele aus verschiedenen historischen Epochen. Sie zeigen (und zwar besonders deutlich, wenn wir die von Nietzsche benutzten, doch nicht genannten Quellen in ihrer ganzen Ausführlichkeit berücksichtigen), daß er den Mythos der „humanen Griechen" durch die Verbindung der Altertumswissenschaft mit Ethnologie und .Kulturgeschichte' glaubte widerlegen zu können, also mit Disziplinen, die den Begriff des „Nationalen" in Frage stellen und aufzeigen, wie auch jene historischen Prozesse, bei denen es sich um autonome Entfaltungen von Stammeseigenarten zu handeln scheine, meistens aus „Amalgamierungen" mit „Uberresten" älterer Kulturen resultieren. Im folgenden soll gezeigt werden, aus welchen Quellen Nietzsche für diesen Teil des Gottesdienst-Kollegs geschöpft, und auf welch unerwartete Weise er die Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften miteinander kombiniert hat. Als Ausgangspunkt legt Nietzsche seinen Zuhörern eine Stelle aus Nissens „Templum" vor, in der, in Auseinandersetzung mit Mommsen, gezeigt wird, daß es in der Altertumswissenschaft wichtig sei, die Beziehungen zwischen wandernden, erobernden Stämmen und den Rassen „älterer Ansiedlung und geringerer Culturfähigkeit" genau zu untersuchen: [Nietzsche] Die Hellenen haben gleich Indern, Italikern, Deutschen ihr Land mit den W a f f e n in der Hand erobert und sich eine ältere Race botmässig gemacht: doch so, dass die urälteste Sitte... 39

37 38

«

[Nissen] Mommsen I 4 , 71 statuirt in der vollkommenen Rechtsgleichheit der Bürger ,eine der bezeichnendsten und der folgenreichsten Eigenthümlichkeiten der latinischen Nation; und', fährt er fort, ,wohl mag man dabei sich erinnern, dass in Italien k e i n e den l a t i n i s c h e n E i n w a n d e r e r n

19Γ76] (Oktober-Dezember 1876); KSA 8, S. 348. 19Γ75] (Oktober-Dezember 1876); KSA 8, S. 348. GDG, S. 34.

Das „Wiederaufleben in der Geschichte"

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botmässig gewordene Race älterer Ansiedlung und geringerer Culturfähigkeitrbegegnet und damit die hauptsächlichste Gelegenheit mangelte, woran das indische Kastenwesen, der spartanische und thessalische und wohl überhaupt der hellenische Adel und vermuthlich auch die deutsche Ständescheidung angeknüpft hat'. Aber es leuchtet ein, wenn die Italiker gleich Indern, Hellenen und Deutschen ihr Land mit den Waffen in der Hand erobert haben, dass dann auch unter analogen Verhältnissen sich analoge Erscheinungen bilden mussten und dass von vollkommener Gleichheit aller Bürger als einem Fundamentalsatze italienischer Politik schwerlich die Rede sein kann.40 Unmittelbar darauf geht Nietzsche zu allgemeineren Betrachtungen über und verbindet Nissens Beobachtungen mit denen, die Tylor in einem der ersten Paragraphen („Höhere Rassen schreiben niedreren magische Kräfte zu") des vierten Kapitels seines Werkes wiedergibt: [Nietzsche] ...doch so, dass die urälteste Sitte zum Theil wieder auf die Einwanderer übergeht, namendich durch die Angst, welche höher entwickelte Völker vor der magischen Kraft der niedrigeren haben, in deren Nähe sie wohnen. Hierher...'"

40

«i

H. Nissen: Das Templum. Antiquarische GDG.S.34.

[Tylor] Die Malayen der Halbinsel, welche die mohamedanische Religion und Civilisation angenommen haben, [haben Angst vor] den niederem Stämmen des Landes, Stämmen, welche mehr oder minder ihrer eigenen Rasse angehören, aber in ihremfrühesten Zustande verblieben sind. Die Malayen haben ihre eigenen Zauberer, aber sie halten sie für schwächer als die Zauberer oder poyangs der rohen Mintiras; zu diesen nehmen sie ihre Zuflucht, wenn es sich um Heiligung von Krankheiten, um Erzeugung von Missgeschick, und um Tod ihrer Feinde handelt. Es ist in der That der beste Schutz, den die Mintiras gegen ihre stärkern malayischen Nachbarn besitzen, dass diese aus Furcht vor ihren magischen Rachekräften sich hüten, ihnen etwas anzuthun. Die Jakunen sind femer eine rohe und wilde Rasse, welche die Malayen als Ungläubige und wenig über den Thieren stehend be-

Untersuchungen,

Berlin 1869, S. 103.

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trachten, obgleich sie dieselben gleichzeitig aufs Aeusserste fürchten. Den Malayen erscheinen die Jakunen als übernatürliche Wesen, geschickt in Wahrsagekunst, Zauberei und Beschwörung [...], deren Fluch die furchtbarsten Folgen bringt [...]. In Indien schilderten in längst vergangenen Zeiten die herrschenden Arier die rohen Eingebornen des Landes mit den Epithetis: ,νοη magischen Kräften erfüllt', ,ihre Gestalt nach Belieben verwandelnd'. 42 Nach diesen einführenden Betrachtungen kommt Nietzsche zum Kern des Problems und verdeutlicht durch Beispiele aus verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen, wie die scheinbar kompakte Hegemonie einer neuen Kultur in einem eroberten, zuvor von einheimischen Stämmen beherrschten Lande immer Risse aufweise, durch die Elemente eines älteren, autochthonen und ,roheren' Brauchtums ans Licht treten. Um dies aufzuzeigen, greift er zunächst wieder auf den Altertumswissenschaftler Nissen zurück: [Nietzsche] Hierher gehört ζ. B. bei den Römern das Opfer der Fetialen, die mit dem heiligen Stein des Diespiter das Thier erschlagen, der Schwur bei diesem Stein, der bei den Römern als der heiligste galt; die Bedeutung dieses Ritus bei dem völkerrechtlichen Italiker, sein Vorkommen bei stammfremden Nationen weisen auf seine Entstehung in der endegensten Zeit hin: Zeichen der metallosen Zeit. Bis auf den heutigen Tag...43

[Nissen] Man hatte bereits seit Langem erkannt, dass die Cultur Nordeuropas sich in drei grossen Perioden bewegt, je nachdem das Gerät des täglichen Lebens aus Stein, Bronce oder Eisen gebildet ward. Aber für die Länder, auf welche ein Jahrtausend früher das Licht der Uberlieferung fällt, war ein gleiches Gesetz nicht nachgewiesen worden. Noch Mommsen, Rom. Gesch. 14, 9 konnte schreiben: ,Es ist bisher nichts zum Vorschein gekommen, was zu der Annahme berechtigt, dass in Italien die Existenz des Menschengeschlechts älter sei, als die Bebauung des Ackers und das Schmelzen der Metalle; und wenn wirklich innerhalb der Grenzen Italiens das Menschengeschlecht einmal auf der primitiven Culturstufe gestanden hat, die wir den Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon doch jede Spur schlechterdings ausgelöscht' [...]. Die Untersuchungen, welche mit besonderer Sorgfalt in der römischen Campagna von Michele de Rossi und dem

42

E . B . Tylor: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Bd. 1, Leipzig 1873, S. 112 f.

«

GDG, S. 34.

Das „Wiederaufleben in der Geschichte"

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Geologen Ponzi geführt worden sind [Berichtdergen. Gelehrten Ann. dell'Inst. 1867 p. 5-72], haben eine Bronce-, eine jüngere und ältere Steinepoche klar nachgewiesen und damit auch zugleich die Existenz des Menschengeschlechts in Italien vor aller Ueberlieferung in unabsehbare Ferne hinaufgerückt [...]. In der That lag jener Urzustand, in dem die Vorfahren der Italiker und Griechen der Kunst das Erz zu schmelzen und zu bearbeiten noch untheilhaft waren, aller Erinnerung weit entrückt [...]. Auch das reiche Repertorium, das Sitte und Glauben für Völkergeschichte darbieten, ist ziemlich arm an Reminiscenzen einer metallosen Zeit. Einzelnes wie ζ. B. das Opfer der Fetialen, die mit dem heiligen Stein des Diespiter das Thier erschlagen, und der Schwur bei diesem Stein, der den Römern als der heiligste galt, wird hierher zu ziehen sein. Die Bedeutung dieses Ritus im völkerrechtlichen Verkehr der Italiker, aber noch mehr das Vorkommen desselben bei stammfremden Nationen gestatten ohne Bedenken, seine Entstehung in entlegenste Zeit zurückzuversetzen. DieThatsache, dass die Italiker bei ihrer Einwanderung ein anderes, niedriger organisirtes Volk auf der Halbinsel vorfanden, hat für die römische Geschichte eine weiter reichende Bedeutung, als der erste Anschein lehrt.44 An diese auf Nissen zurückgehenden Ausführungen schließt Nietzsche eine Betrachtung an, die er wiederum aus Tylors Werk übernimmt: [Nietzsche] Bis auf den heutigen Tag giebt es im südlichen Asien Distrikte, wo die Verehrung der Bäume herrscht, trotzdem die Gegenden buddhaistisch sind. Offenbar war es nicht möglich, diese Culte auszurotten: man bildete Ubergangs-Legenden und liess ζ. B. Buddha selber dreiunddreissigmal in Baumgenien verwandelt gewesen sein. Die Skulpturen des Tope von Sanchi in Centraiasien beweisen (nach Fergusson, 44

H . Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 101-103.

[Tylor] Von besonderem Interesse ist die Stellung der Baumverehrung im südlichen Asien in ihrer Beziehung zum Buddhismus. Bis auf den heutigen Tag giebt es in dieser Gegend Districte, die buddhistisch sind oder unter streng buddhistischem Einflüsse stehen, wo die Baumverehrung, in Theorie wie in Praxis klar ausgebildet, herrschend ist [...]. Ehe die Taleins von Birma einen Baum niederschlugen, beteten sie zu seinem ,Kaluk'

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

,Baum- und Schlangenverehrung'), dass um das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung heilige Bäume in buddhistischen Religionssystemen sehr viel Bedeutung haben. Man sieht die Nagas, d. h. die Repräsentanten der eingeborenen Rasse und Religion, den heiligen Baum anbeten, inmitten einer buddhistischen Umgebung, mit schützenden Schlangen um Schultern und Kopf, ebenso andere Stämme, die als Affenmenschen gezeichnet sind. Auch die phönizische Legende...45

45

[...], dem Geiste oder der Seele, die ihn bewohnte. Die Siamesen bieten dem Takhienbaume Kuchen und Reis dar, ehe sie ihn fällen [...]. Diese Stämme haben somit, was die Grundzüge des niederen Animismus anbetrifft, von irgend einer anderen Rasse, wie wild sie auch sein möge, wenig zu lernen. Es erhebt sich nun die Frage, ob diese Baumverehrung zu den Lokalreligionen gehört, unter denen sich später der Buddhismus festsetzte, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dies der Fall war. Der philosophische Buddhismus, wie er uns aus seinen theologischen Büchern bekannt ist, zählt die Bäume nicht zu den geistbegabten empfindungsfähigen Wesen, aber er geht wenigstens so weit, die Existenz des ,Dewa' oder Baumgenius anzuerkennen [...]. Buddha selbst war im Laufe seiner Verwandlungen dreiunddreissig Mal ein Baumgenius. Die Legende sagt, dass während einer solchen Existenz ein Brahmane den Baum um Schutz zu bitten pflegte, in welchem Buddha sich befand; aber der verwandelte göttliche Lehrer tadelte den Baumanbeter, dass er sich so an ein lebloses Wesen wende, welches Nichts sehe und höre. Was den berühmten Bobaum anbetrifft, so ist sein wunderbarer Glanz nicht auf die alten buddhistischen Annalen beschränkt geblieben; denn sein überlebender Sprössling, aus dem Zweige des mütterlichen Baumes erwachsen, der im dritten Jahrhundert v. Ch. von König Asoka aus Indien nach Ceylon gesandt wurde, empfängt noch bis auf den heutigen Tag die Verehrung der Wallfahrer, welche zu Tausenden herbeiströmen, um ihm Ehre zu erweisen und vor ihm zu beten. Ausser diesen Andeutungen und Ueberresten der alten Verehrung haben indessen die neuen Untersuchungen Fergusson's, in seiner ,Baum- und Schlangenverehrung' veröffentlicht, einen alten Zustand der Dinge ans Licht gezogen, von dem die orthodoxe buddhistische Literatur kaum eine Vorstellung giebt. Aus den

GDG, S. 34 f. Über Fergussons Untersuchungen berichtet auch J. Lubbock, Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 222 f. und 240.

Das „Wiederaufleben in der Geschichte"

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Skulpturen des Tope von Sanchi in CentraiIndien geht hervor, dass um das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung heilige Bäume als Gegenstände autorisirter Verehrung keine geringe Stelle im buddhistischen Religionssystem einnahmen. Es ist besonders bemerkenswerth, dass man die Repräsentanten der eingeborenen Rasse und Religion in Indien, die Nagas, durch ihre schützenden Schlangen, die von Rücken ausgehend sie zwischen den Schultern hindurchwinden und über dem Kopfe krümmen, charakterisirt, und ebenso andere Stämme, die augenscheinlich als Affenmenschen gezeichnet sind—dass man diese den heiligen Baum inmitten einer unzweifelhaft buddhistischen Umgebung anbeten sieht. Offenbar wurde die Baumverehrung, die noch jetzt bei den eingeborenen indischen Stämmen deutlich ausgeprägt ist, nach der Bekehrung zum Buddhismus nicht ausgerottet. Im Gegentheil scheint sich die neue philosophische Religion, wie dies neue Religionen immer thun, mit älteren eingeborenen Vorstellungen und Gebräuchen amalgamirt zu haben.46 Die Baumverehrung, von der die Ethnologen berichten, ist in Nietzsches Augen ein signifikantes Beispiel jener uralten Anschauungsformen, die auf den verschiedensten Kulturstufen immer wieder zum Durchbruch kommen. In dem weiteren Ablauf der Argumentation stützt er sich wiederum auf Tylor: [Nietzsche] Auch die phönizische Legende hat die Vorstellung, dass die ersten Menschen die Pflanzen der Erde heiligten und sie zu Göttern machten. Die Baumverehrung ist überall vorgefunden worden und findet sich dann als Bestandtheil der höheren, siegreichen Religionen wieder. Es ist der natürliche Glaube der Jägervölker; er ist so mächtig, dass er die ganze Religion des Alterthums überdauert, als deren zähestes

46

[Tylor] In dem merkwürdigen Document, das von Eusebius unter der angeblichen Autorschaft des phönicischen Sanchoniathon aufbewahrt ist, findet sich folgende Stelle: .Aber diese ersten Menschen heiligten die Pflanzen der Erde und machten sie zu Göttern, und verehrten die Dinge, von denen sie selbst und ihre Nachkommenschaft und alle ihre Vorfahren lebten, und brachten ihnen Libationen und Opfer dar' [Euseb.

Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 218-220.

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Element er auch zuletzt bekämpft werden muss. Die Concilien...47

Praep. Evang. 1.10]. Aus Beispielen, wie sie hier aufgezählt sind, scheint danach hervorzugehen, dass die directe und unbeschränkte Baumverehrung dieser Art in der That in der Urgeschichte der Religion tief eingewurzelt und weit verbreitet ist. [...] Diese Baumtheologie, wie sie einemJägervolke zukommt, ist auch unter den turanischen Stämmen Sibiriens noch heute in ebenso hohem Grade herrschend, wie sie es vor Alters in Lappland war.48

Die Perspektive, die sich aus der Zusammenstellung Nissens und Tylors ergibt, wird dann anhand von Beispielen weiterentwickelt, die der Altertumswissenschaftler C. Boetticher 1856 im „Baumkultus der Hellenen" anführt: [Nietzsche] Die Concilien verlangen von den Kaisern namentlich Vernichtung der heiligen Haine und Bäume; derjenige, in dessen Presbyterium Lampen und Kerzen entzündet, Bäume, Quellen und Steine verehrt werden, mache sich zum Mitwisser solchen sacrilegiums, wenn er es zu rügen unterlasse. Theodosius im 4. Jahrhundert verbietet mit bedeutenden Strafen die Verehrung der heiligen Bäume mit Weihebinden, Rasenaltären und Räucherwerk: Verlust von Habe und Gut. Das Gesetz des Langobarden Luitprand bei Paulus Diakonus: ,Wer etwa einen Baum, den die Landleute einen heiligen nennen, verehren oder mit Weihegesängen feiern wird, der soll unserem heiligen Fiscus mit dem halben Werthe seiner Habe büssen'. Der Gegensatz ist stark: das

[Boetticher] Aber noch viel weiter hinab zieht sich der Baumkultus [...]. Selbst das Verbot des Theodosius im vierten Jahrhundert, welches die Verehrung der heiligen Bäume mit Weihebinden Rasenaltären und Räucherwerk durch den Verlust von Gut und Habe des Übertreters untersagte [...], selbst dieses Verbots war mit nichten der letzte Erweis dieses Kultus und erreichte auch seinen Zwekk nur sehr unvollkommen [...]. Auch Concilien verlangen von den Kaisern, dass alle Hinterlässe des Heidenthums, und zwar nicht allein die Götterbilder, sondern auch die Haine aller Orte, wie die Bäume insgesamt vernichtet würden; derjenige aber, in dessen Presbyterium Lampen und Kerzen entzündet, Bäume Quellen oder Steine verehrt

GDG, S. 35. 48 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 222-225. Charles Andler meint (Nietzsche, sa vie et sa pensee, a.a.O., Bd. 1, S.531), daß Tylors Werk von Nietzsche „avec soin" gelesen worden sei. D. S. Thatcher („Nietzsche's Debt to Lubbock", a.a.O., S. 295) bemerkt dazu, daß es sich um eine „plausible contention" handelt, „but not one for which Andler provides any evidence. In fact, Nietzsche seems far more indebted to Lubbock than to Tylor, the consequence, perhaps, of owning a book as opposed to borrowing one for a short period". Mit einer solchen Feststellung wird man Nietzsches Arbeitsweise jedoch nicht gerecht, denn sie bestand zum größten Teil in einem ständigen Zurückgreifen auf Exzerpte und in einem Umschreiben früherer Aufzeichnungen, so daß für ihn der Unterschied zwischen erworbenen (wie dem von Lubbock) oder nur einmal bei einer Bibliothek ausgeliehenen, doch sorgfältig exzerpierten Büchern (wie dem von Tylor) nicht so relevant gewesen sein muß, wie von Thatcher behauptet. Dazu siehe auch G. Ungeheuer: „Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit und Traum„, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 141.

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Das „Wiederaufleben in der Geschichte"

göttliche und menschliche Recht der Hellenen erkannte es als sakrileg, wenn jemand einen geweihten Baum entheiligt oder gar vernichtet, es strafte mit Tod oder Exil, wenigstens mit Verlust von Hab und Gut. 49

würden, mache sich zum Mitwisser solches Sacrilegiums sobald er es zu rügen unterlasse [...]. Einen bündigen Beweis noch von der Fortdauer dieses Kultus aber liefert viertehalb hundert Jahre nach jenem Edicte des Theodosius das Gesetz des Longobarden Luitprand bei Paulus Diakonus: wer etwa einen Baum, den die Landleute einen heiligen nennen, verehren oder mit Weihegesängen feiern wird, der soll unserm heiligen Fiscus mit dem halben Werthe seiner Habebüssen. In der That tritt hier eine recht wunderbare Verkehrung der Gegensätze vor Augen. Das göttliche und menschliche Recht bei den Hellenen erkannte es als ein Sacrilegium, wenn jemand einen geweihten Baum entheiligte oder gar vernichtete, und strafte dies Verbrechen mit Tod und Exil, wenigstens mit dem Verluste von Gut und Habe, also mit Armuth und Noth [...].50

Das Opfer der Fetialen, die heiligen Bäume in buddhistischen Gegenden, die Baumverehrung noch in der christlichen Ära — allesamt sonderbare Erscheinungen, in denen nach einer tiefgreifenden Umwälzung die Spuren vorangegangener, verdrängter und verschwunden geglaubter Anschauungen unerwartet im neuen Brauchtum wieder auftauchen. Solche Phänomene von „Wiederaufleben", mit denen die Ethnologen wohl vertraut sind („Bisweilen brechen alte Gedanken und Gewohnheiten von neuem hervor zum Erstaunen einer Welt, welche sie für längst gestorben oder sterbend hielt")51 erregten um 1875 Nietzsches Aufmerksamkeit. Wenige Jahre später untersucht Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches" wie auch in seinen folgenden Schriften manches „Stück rohen Alterthums" (MA 64) in der modernen Gesellschaft. Dem arbeiten die hier zu besprechenden Vorlesungsexzerpte vor, in denen sich Nietzsche zum ersten Mal mit geschichtlichen Prozessen befaßt, die durch eine komplexe Koexistenz von Elementen verschiedener Epochen gekennzeichnet sind. Doch ein weiteres sei hervorgehoben: Mit dieser Vorlesung versuchte Nietzsche, seinen Studenten jene Reform der klassischen Bildung zu veranschaulichen, aus der endlich eine ganz neue Denkungsart erwachsen sollte, deren Verkörperung der „zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur" 52 sei. Skeptisch werde der Altertumswissenschaftler sein, insofern er jenen .einheitlichen' Begriff von

50

31 52

G D G , S. 3 5 f. C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen. Nach den gottesdienstlichen überlieferten Bildwerken dargestellt, Berlin 1856, S. 5 3 1 - 5 3 4 . Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 17. 5 [ 5 5 ] (Frühling-Sommer 1875); K S A 8, S. 56.

Gebräuchen

und den

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

Kultur, der traditionell den klassischen Studien zugrunde liegt, ganz aufgebe, um (im Sinne Tylors und Boettichers) auch in der Antike ein wirres Aneinanderliegen von Überresten und Rissen zu erkennen und damit jeglicher Verklärung entgegenzutreten („Die griechische Geschichte ist immer bisher optimistisch geschrieben worden")53. Wie wir gesehen haben, nimmt Nietzsche, indem er schon in der ersten dieser Vorlesungen von den „festfeiernden Hellenen" und von dem modernen Militarismus spricht, auf wichtige Gegenwartsfragen Bezug. Auch aus den Materialien, die den Arbeiten von Nissen, Tylor und Boetticher entnommen sind und an dieser Stelle des Kollegs Verwendung finden, kann ein gegenwartsbezogenes Motiv gewonnen werden, und zwar die Infragestellung des Begriffes der nationalen Eigenart'. Die im Gottesdienst-Kolleg vorgebrachten Anschauungen sind insofern auch mit anderen Überlegungen in Zusammenhang zu bringen, die Nietzsche damals niederschrieb. Die „außerordentlicheUnsicherheit alles Unterrichtswesens", so wird in einem Fragment von 1876-77 festgestellt, habe ihre Ursache darin, daß „der Nationalstaat eine,nationale' Kultur" schaffen wolle. Damit jedoch bringe er nur „die Unklarheit auf den Gipfel [...] — denn national und Kultur sind Widersprüche"54. In dieser Aufzeichnung wird behauptet, daß die Ansprüche auf eine „nationale Kultur" hinfällig seien, und damit ein Gedanke vorweggenommen, der später, im Fragment 30 [70] des Sommers 1878, zu einer allgemeineren Formulierung gelangt: „National ist das Nachwirken einer vergangenen Cultur in einer ganz veränderten, auf anderen Grundlagen gestützten Cultur. Also das logisch Widerspruchsvolle im Leben eines Volkes." An dem „im höheren Sinne des Wortes Nationalen und Idealen des griechischen Volksglaubens"55 halten hingegen Philologen wie Preller und Welcker fest, deren Beiträge Nietzsche bekannt waren. Und auch Altertumswissenschaftler wie H. D. Müller, der die Meinung vertritt, daß der griechische Polytheismus „aus einer Anzahl ursprünglich gesonderter Culte [...] entstanden" sei, und sich damit K. O. Müllers grundlegender Untersuchung anschließt, kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Ohne leugnen zu wollen, dass Berührungen mit den Orientalischen Völkern auf die Bewohner Griechenlands vielfach eingewirkt haben, [...] ohne überhaupt für ein reines und unvermischtes Hellenenthum zu schwärmen, müssen wir doch gegen die Annahme protestiren,

'3 5[12] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 43. 54 23[43] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 419. In diesem Zusammenhang ist auch Nietzsches Geständnis aus dem Sommer 1878 heranzuziehen: „Nach dem Kriege missfiel mir der Luxus, die Franzosenverachtung, das Nationale [..,]" (30[164]; KSA 8, S. 551). 55 L. Preller: Besprechung von E. Gerhard: Griechische Mythologie (Berlin 1854), in: Jahrbücher für classischePhilologie 1 (1855), S.27. Zu Prellers Werk vgl.J.E. Sandys: Ahistory ofclassical scholarship,

vol. III: The eighteenth

century in Germany, and the nineteenth century in Europe and the United

States of America, New York 1958, S. 239 f.

Das „Wiederaufleben in der Geschichte"

29

dass eine so lebenskräftige, alle Aeusserungen des nationalen Lebens durchziehende und denselben durchaus conforme Religion, wie die hellenische, jemals von aussen gleichsam importirt worden wäre. 56

Dank der Anregungen aus dem Studium der modernen Ethnologie werde der „skeptische" Zukunftsphilolog, der auch „als Vernichter des Philologen-Standes" auftrete, behaupten können, daß es irreführend sei, auf dem „im höheren Sinne Nationalen" der Hellenen (Preller), der Geschlossenheit ihres „nationalen Lebens" (H. D. Müller) zu bestehen. Mit solchen Feststellungen hat sich der „philologische Dämon", von dem machmal bei Nietzsche die Rede ist, schon auf einen Weg begeben, der direkt zu „Menschliches, Allzumenschliches" führt. Die Vorarbeiten zu diesen Vorlesungen, ein Komplex von Studien und Lektüren, die Nietzsche außerordentlich fesselten, ihn ganz in Anspruch nahmen und dazu anspornten, an langfristige Arbeitspläne zu denken57, drehen sich also um das Problem, inwiefern es möglich ist, Methoden und Resultate der vergleichenden Völkerkunde in die klassische Philologie einzuführen. Damit sind Fragen aufgeworfen, wie etwa das Problem der „nationalen Kultur", die die engen Grenzen der philologischen Forschung sprengen müssen. Der im Gottesdienst-Kolleg entwickelte Ansatz, sich beim Studium des Griechentums ethnologischer und kulturgeschichtlicher Begriffe („Uberreste", „Amalgamierungen" usw.)58 zu bedienen, läßt eine Orientierung erkennen, die mit der Berufung des jungen Wagner auf ein „urhellenisches Wesen", auf die „ureigenen

36

57

58

H. D. Müller: Mythologie der griechischen Stämme, Erster Teil: Die griechische Heldensage in ihrem Verhältnis zur Geschichte und Religion, Göttingen 1857, S. 116 f. und 125. Dieses Werk lieh Nietzsche am 15. November 1875 aus. Gegen Welcker und K. O. Müller, bei dem H. D. Müller studiert hatte, bezieht Nietzsche im Fragment 5 [114] aus Frühling-Sommer 1875 Stellung: „Wie fern muss man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten!" (KSA 8, S. 70) „Ich habe einen Cyclus von Vorlesungen für 7 Jahre begonnen, jetzt im Winter lese ich daraus .religiöse Alterthümer der Griechen'. Es sind lauter neue Collegien; die nehmen mich denn auch ganz in Anspruch. Unzeitgemässe Betrachtungen erwarte nicht, das ist mein Rath. Mich ekelt vor allem Veröffendichen!" (KGB II/5, S. 116. Brief an H. Romundt vom 26. Okt. 1875). Siehe hierzu GDG, S. 53: „Wird eine Stadt, ein Land erobert, so bringt der Sieger Culte mit, die einheimischen werden verdunkelt. Oft waren es nicht neue Gottheiten, aber neue Auffassungen, neue Mythen: da wurden Verschmelzungen, mythologische Fiktionen nöthig. Herodot II, 171 sagt, dass früher im Peloponnes der Dienst der Demeter δΐσμοφόρος weit verbreitet war; durch die eingedrungenen Doner sei er unterdrückt. Nur die Arkadier und wahrscheinlich die Messenier bewahrten ihn [...]. Auswanderer nehmen die heimischen Culte mit; da dies aber häufig sehr gemischte Leute waren, ζ. B. bei den äolischen und ionischen Colonien, so traten Vervielfältigungen oder Amalgamirungen der Culte ein. Häufig wurden die am Orte urheimischen Culte noch hinzugenommen." Vgl. dazu G. F. Schoemann, Griechische Alterthümer, Bd. 2, a.a.O., S. 151-154: „Nicht ohne grossen Einfluss auf den Cultus mussten nothwendig in der älteren Zeit die vielfachen Wanderungen der Völkerschaften sein, und wie sie [...] neue Stämme zur Herrschaft brachten, so auch in den Gottesdiensten vielfache Veränderungen bewirken. Die Siegerbrachten ihre Götter und Culte mit, die einheimischen wurden unterdrückt oder verdunkelt. Waren es auch nicht neue Gottheiten [...], die die Eroberer ins Land brachten, so waren es doch verschiedene Auffassungen,

I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

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Sitten" einer „geschlechtlich-natürlichen Nationalgemeinsamkeit"' 9 nichts m e h r gemein hat. I m Unterschied zur Geschichtsphilosophie von „ O p e r und D r a m a " ( „ D u r c h das Christenthum waren alle Völker, die sich zu ihm bekannten, von dem B o d e n ihrer natürlichen Anschauungsweise losgerissen") 6 0 geht aus Nietzsches Vorlesungen hervor, daß auch im vorchristlichen Zeitalter nicht v o n einem „wahrhaften Volkstümlichen", von einer „natürlichen Anschauungsweise" die R e d e sein könne. 6. Marseille,

September

1865: Das Bild der Cholera wird

verbrannt

Als Nietzsche um 1 8 7 5 eine Verbindung zwischen dem Studium der Antike und der Völkerkunde herzustellen sucht, steht er mit diesem Anliegen nicht allein. A u c h die E t h n o l o g e n weisen ausdrücklich darauf hin, daß nach den Ergebnissen ihrer F o r s c h u n g e n viele Aspekte des griechisch-römischen Altertums nur in größeren Zusammenhängen zu verstehen sind. E r s t in diesen Jahren beginnt man zu fragen, was es eigentlich bedeute, daß Vorstellungen, die dem Charakter nach denen der niederen Rassen ähnlich sind und mit ihnen an Lebendigkeit wetteifern, [...] in der griechischen und römischen Mythologie hervor[treten]. Die heilige Palme von Negra in Yemen, deren Dämon durch Gebete und Opfer günstig gestimmt und zu Orakelantworten veranlasst wurde, oder die grossen von den Göttern bewohnten Eichen, vor denen die alte slavische Bevölkerung Fragen zu stellen und die Antwort darauf zu hören pflegte, finden ihr Analogon in der prophetischen Eiche von Dodona, in welcher die Gottheit wohnte, ,vaiev S' evi πυθμένι φηγοΐι' [Homer. Odyss. XIV. 327. X I X . 2 9 6 ] . "

andere Mythen, andere Gebräuche. Das Neue wurde möglichst mit dem Alten verschmolzen, und die wechselseitigen Einwirkungen des einen auf das andere bewirkten eine Menge theils mythologischer Fictionen theils religiöser Institutionen. Wie alte Gottesdienste durch die Wanderungen zurückgedrängt worden sind, bezeugt unter Andern Herodot: im Peloponnes, sagt er, war vormals der Dienst der Demeter Thesmophoros weit verbreitet, durch die eingedrungenen Dorier aber wurde er unterdrückt, und nur die Arkadier bewahrten ihn [...]. Die Auswanderer nahmen natürlich ihre alten heimathlichen Culte auch in die neue Heimath mit sich, aber ganz so wie sie gewesen waren konnten diese selten bleiben. Meist waren die Auswanderer aus verschiedenen Staaten und Völkerschaften gemischt, wie es ζ. B. von den äolischen und ionischen Colonien namentlich bezeugt wird. Nahm nun jeder Bestandteil seine Culte mit, so konnte es nicht fehlen, dass dadurch in den neuen Niederlassungen bald eine Vervielfältigung, bald eine Verschmelzung und Amalgamirung der Culte entstehen musste." 59 R. Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Berlin-LeipzigWien-Stuttgart, o. D., Bd. 3, S. 105 u. 133. 60 R. Wagner: Oper und Drama, in: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 4, S. 41. Vgl. dazuG. Campioni („Von der Auflösung der Gemeinschaft zur Bejahung des .Freigeistes'", in: Nietzsche-Studien 5,1976, S. 95): „Aber der (ästhetisch mystifizierte) Drang zur Gemeinschaft ist das Thema Wagners, das bei dem jungen Nietzsche vorherrscht." 61 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 220.

Das Bild der Cholera wird verbrannt

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Der Mythenforscher W. Mannhardt, mit dem sich Nietzsche in Sommer und Herbst 1875 eingehend beschäftigt, kommt zu der Feststellung, daß sich in vielen ländlichen Gegenden bis heute Sitten erhalten haben, die schon den Hellenen eigen waren. Die von den heutigen Bauern nach einem alten Brauche aufbewahrte und geschmückte letzte Korngarbe der Ernte entspricht in allen Stücken, Ausrüstung mit Bändern, Früchten, Backwerk oder Gefäßen [...], Aufpflanzung vor dem Hause [...], Verbleib an diesem Orte bis zur nächsten Ernte, Verbrennung nach Jahresfrist so genau [...] der griechischen, schon von Aristophanes bezeugten Eiresione, daß man an dessen vorchrisdicher Entstehung nicht zweifeln darf. Die dem Maibaum und Palmsonntagsstrauß gemeinsamen Züge begegnen ebenfalls schon im italischen und hellenischen Altertum. 62

Die Beständigkeit der von Tylor als „Überlebsel" bezeichneten Phänomene wird auch von einigen Philologen anerkannt, wenn sie ζ. B. die zähe Aufrechterhaltung oder das plötzliche Aufleben eines uralten Rituals in der heutigen Welt konstatieren. So Boetticher in seiner „Tektonik der Hellenen", in der er Reinigungszeremonien im griechisch-römischen Zeitalter bespricht: „Durch das Bad des Bildes der Argivischen Hera im Quelle Kanathos verbildlichte man [...] die Erneuerung der ewigen Jugend dieser Gottheit [...]. Das Bad des Cybelebildes zu Rom ging im Almo vor sich." Spätere Epochen haben an solchen Bräuchen festgehalten: „Für die Erhaltung dieser Sitte in der römisch-katholischen Kirche ist es interessant, daß nach Niebuhr noch im vorigen Jahrhundert ein hölzernes Madonnenbild in Rom jährlich nach dem Almo gebracht und dort gebadet wurde." 63 In diesem Zusammenhang ist ein zweiter Fall aufschlußreich. Der klassische Philologe G. F. Schoemann berührt in seinen „Griechischen Alterthümern", die Nietzsche 1875 ebenfalls liest, einige Fragen, die auch in ethnologischer Hinsicht relevant sind. Vermutlich nimmt Nietzsche von diesen Überlegungen Notiz (auf derselben Seite werden auch andere Behauptungen aufgestellt, die bei Nietzsche an anderer Stelle wortwörtlich wiederzufinden sind)64, denn ein Nachklang davon ist in „Menschliches, Allzumenschliches" deutlich spürbar: [Nietzsche] Aehnliche Gewaltmaasregeln [ζ. B. Beschimpfungen und von Zornausbrächen begleitete Mißhandlungen] gegen 62

63

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[Schoemann] Endlich wenn es wahr ist, dass in Neapel der heilige Januarius, wenn er nicht thut was das Volk von ihm erwartet, als

W . Mannhardt: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen, Berlin 1875, S. 295. Auch bei G. F. Schoemann (Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 2 0 1 ) wird die Eiresione erwähnt, ein „mit Wolle umwundener Oelzweig, an welchen man theils Früchte jeder Art, theils Backwerk, theils Gefässe mit Honig, Oel und W e i n anhing", und die in Prozession zum Tempel getragen wurde, „ungefähr wie es in unserer Gegend zur Pfingstzeit die Knaben der Ackerarbeiter [...] auf den Dörfern zu thun pflegen." Vgl. dazu auch G D G , S. 121 f. C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 187. Hier zitiert Boetticher eine Stelle aus B . G . Niebuhr: Vorträge über römische Geschichte bis zum Untergangdes abendländischen Reichs, Bd. 3: Von Pompejus' erstem Consulat bis zum Untergang des abendländischen Reichs, Berlin 1 8 4 1 , S . 114. Vgl. hierzu das folgende 2. Kap., § 11.

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. 65

vecchio ladrone, birbone, scellerato gescholten, auch wohl geschlagen wird, in Spanien das Bild der Virgen ins Wasser geworfen und Schimpfreden gegen sie ausgestossen werden [Meiners, Gesch. aller Relig., I, S. 182], so dürfen wir uns nicht wundern, dergleichen auch im Heidenthum zu finden. 66

Der Altertumswissenschaftler Nissen, mit dessen Werk sich Nietzsche um 1875 vertraut macht, verweist in seinen Beiträgen auf die ethnologischen Forschungen von Tylor und Waitz 67 , und Hartungs Untersuchung zur „Religion und Mythologie der Griechen", eine wichtige Quelle, wie wir sehen werden, für Aphorismus 1 1 1 von „Menschliches, Allzumenschliches", zielt ebenfalls darauf, Ethnologie und Altertumskunde zu verknüpfen. Das knappe Vorwort, das dem zweiten Band seines Werkes vorangestellt ist, bekundet dieses Bestreben in signifikanter Weise. Es besteht aus der bloßen Anführung eines Zeitungsartikels: In Marseille starben am Freitag (22. Sept.) 32 Personen an der Cholera. Diese Stadt bot in der Nacht vom Donnerstag bis auf den Freitag in Folge der Feuer, die man in allen Strassen angezündet hatte, einen höchst merkwürdigen Anblick dar. Auf einem Raum von zwei Quadratstunden brannten Tausende und Tausende von ungeheueren Feuern [...]. Um die brennenden Scheiterhaufen herum tanzten, wie auch in Toulon, junge Mädchen und junge Burschen. An mehreren Orten verbrannte man die Cholera in effigie; eine hässliche Puppe mit kohlschwarzem Gesicht repräsentirte sie.68 Lapidar, doch vielsagend, ähnlich wie Nietzsches Hinweis auf die Denkungsart der Koussa-Kaffern, ist Hartungs Kommentar zu diesem sonderbaren Vorfall: Die Menschen in Marseille, Toulon u. s. w. glauben an Dämonen [...], und glauben, daß durch Sympathie Alles, was man diesem Bild anthue, dem Dämon selbst angethan werde [...]. Solche nicht etwa bloss bei den Wilden in Afrika, Amerika und Australien, sondern häufig genug mitten in den Pflanzstätten europäischer Cultur und Aufklärung vorkommende Erscheinungen bitte ich zu bedenken, wenn man etwa meine Art und Weise, die Entstehung der Culte und der Mythen zu erklären, ablehnen und an der beliebten allegorischen Art, als einer vornehmeren, festhalten wollte. 69

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MA 111. G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 167 f. Auch bei Tylor (Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 172) konnte Nietzsche den „südeuropäischefn] Landmann [erwähnt finden], der seinen besonderen Fetisch-Heiligen abwechselnd liebkost und misshandelt und die Jungfrau oder St. Petrus unter Wasser taucht, um sich Regen zu verschaffen".

H. Nissen: „UeberTempel-orientirung",Teil l,in: Rheinisches 523 u. 529 f. J. A. Härtung: Die Religion

und Mythologie

der Griechen,

Werk vgl .J. E. Sandys: A History of Classical Scholarship, 69

Museum für Philologie

28 (1873), S.

Teil 2, Leipzig 1865, S. III. Zu Hartungs

Bd. 3, New York 1958, S. 146.

J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a. a. Ο., Teil 2, S. III f. Ähnliche Phänomene, wie ζ. B. Mythen und „Erzählungen, in denen die Pest in leibhaftiger Gestalt hin und her [...]

Tylors Begriff des „Überlebsel"

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7. Tylors Begriff des „Überlebsel" Es seien nun jene Überlegungen vergegenwärtigt, die Nietzsche, von dem Begriff „Überbleibsel" ausgehend,in den Jahren 1875-78 anstellt, also in der Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches". In diesem Werk, in dem auch von „Ueberresten" und „Urzuständen" die Rede ist 70 , spielt der Begriff, im Zusammenhang mit der Kritik an Wagner und an der „Kunstmetaphysik", eine bedeutende Rolle. Zu beachten ist zuerst Aphorismus 223: Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechische Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können [...]. Darüber hinaus wird der Begriff „Überbleibsel" an einer zweiten Stelle dieses Werkes, und zwar im Aphorismus 614, verwandt: Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. — Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt [...] und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauen ist, — das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschliches Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wüthet und heult. Auch in dem Ende 1876-Sommer 1877 geschriebenen Fragment 23 [18] taucht der Begriff auf:

wandelt" oder durch „schwarze Männer ohne Kopf" repräsentiert wird, werden einige Jahre später in Tylors Werk ausführlich behandelt: „Der in der ganzen niedreren Cultur herrschende Glaube, dass die Krankheiten, welche die Menschheit heimsuchen, durch individuelle persönliche Geister verursacht werden, ist einer von denen, welche auffallende Beispiele von Mythenentwicklung hervorgebracht haben." (Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 291 f.) ™ Siehe dazu MA 8, VM 223 und WS 22.

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Selbst bei den freisinnigsten Denkern schleicht sich Mythologie ein, wenn sie von der Natur reden. Da soll die Natur das und das vorgesehen, erstrebt haben, sich freuen oder: ,die menschliche Natur müßte eine Stümperei sein, wenn sie — W i l l e , Natur sind Überbleibsel des alten Götterglaubens. Dieser Übersicht von Stellen, in denen der Begriff „Überbleibsel" vorkommt, wollen wir noch zwei im Frühling-Sommer 1875 niedergeschriebene Bemerkungen hinzufügen. Im Fragment 5[164] heißt es: Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsieht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur. Welche nur im ,Hülfreich- und Gutsein' ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist! — Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Hässlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen usw. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mässige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild. Schließlich sei besonders auf jenes Fragment 5 [ 155 ] hingewiesen, in dem Nietzsche den Begriff das erste Mal, allerdings in einer abweichenden Form, in seine Überlegungen einführt: Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind ,Überlebsel'. Die Zeiten, welche ihn feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden. Der Gegensatz ist oft sehr bunt. Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesendich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. — Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung. Dieses Fragment ist in mehrerer Hinsicht von Bedeutung. Es zeigt, daß der Begriff „Überbleibsel", der in den folgenden Monaten in ganz anderen Zusammenhängen Anwendung finden sollte, anfänglich von Nietzsche übernommen wird, um seinen Ideen über den „griechischen Cultus" (ein weiterer Beweis für die Tragweite dieser seiner Studien) eine schärfere Formulierung zu geben. Er erscheint an dieser Stelle, die eigentlich als eine Art Zusammenfassung der Gottesdienst-Vorlesungen zu lesen ist, in einer modifizierten Form: „Überlebsel", und nicht in der später bevorzugten Form „ Überbleibsel". Der Ausdruck ist weder ein Schreibfehler noch ganz und gar zufällig, sondern ein von Tylor geprägter und in den ethnologischen Studien geläufiger Terminus. In seinem Werk beschreibt Tylor nämlich „allerhand Vorgänge, Sitten, Anschauungen [...], welche durch Gewohnheit in einen neuen Zustand der Gesellschaft hinübergetragen sind, der von demjenigen, in welchem sie ursprünglich ihre Heimat hatten, verschieden ist", und jene zahlreiche und mannigfaltige „Gruppe

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von Erscheinungen [bilden], für die ich für gut befunden habe, den Ausdruck .Ueberlebsel' einzuführen" 71 . Es ist also Tylors Begriff „Überlebsel", ein als Äquivalent des englischen Terminus „survival" eingeführter Neologismus 72 , den Nietzsche zuerst im Frühling-Sommer 1875 übernimmt, um danach jedoch, auch in „Menschliches, Allzumenschliches", die geläufigere Form „Ueberbleibsel" vorzuziehen 73 . Indem Nietzsche diesen Begriff übernimmt, lernt er, wie die Ethnologen, jene „Vorstellungen, Sitten, Einrichtungen" mit besonderer Aufmerksamkeit betrachten, die — wie Stein thai in seiner Besprechung des Werkes von Tylor bemerkt — „den .Rudimenten' in der Entwicklungs-Geschichte der Organismen" entsprechen, da sie „heute noch leben, aber bei Seite, ohne im Zusammenhange unserer heutigen Cultur zu stehen, auf einer viel niederen Stufe der Cultur erzeugt und in das heutige Leben nur unfolgerecht mit hereingezogen" 74 . Interessant ist, wie Nietzsche — so im Fragment 5 [155] und auch an schon besprochenen Stellen der Vorlesungen — sich diesen von den Ethnologen verfolgten Ansatz zu eigen macht, um fundamentale Aspekte der griechischen Kultur genauer zu interpretieren. Seine Verfahrensweise, die darauf gerichtet ist, zwischen Ethnologie und Altertumswissenschaft Verbindungen herzustellen, tritt ganz deutlich in einem Fragment zutage, in dem ein eigenartiger Vergleich angestellt wird: „Unsre Philologen verhalten sich zu wirklichen Erziehern, wie die Medizinmänner der Wilden zu wirklichen Ärzten. Welche Verwunderung wird eine ferne Zeit haben!" 75 8. Die „Philosophie der Urgeschichte", eine ganz neue Disziplin Mehrmals wird in „Menschliches, Allzumenschliches" postuliert, daß, „um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse" 76 . Die „freizügigen Geister" der Zukunft, die „im Gegensatz zu den g e b u n d e n e n und festgewurzelten Intellecten" zu einem „geistigen 71

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E.B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1,S. 16. Tylor, der die deutsche Ubersetzung seines Werkes persönlich durchsieht, bedient sich auch solcher Termini wie „Überlebungsfälle", „Rudimente" und „Uberreste". W. Bagehot: Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwesen, Leipzig 1874, S. 159. Zum Thema vgl. Μ. T. Hodgen: The Doctrine ofSurvivals. A Chapter in the History of Scientific Method in the Study of Man, London 1936; M. Harris: The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture, New York 1968, S. 164 if. Auch vom Terminus „survival" macht Nietzsche Gebrauch. Vgl. dazu ΜΑ 64 und 24[2] (Herbst 1877); KSA 8, S. 477. Η. Steinthal: Besprechung von Ε. Β. Tylor: Die Anfänge der Cultur (Leipzig 1873), in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 8 (1875), S. 474 f. 5[160] (Frühling-Sommer 1875);KSA 8, S. 84 f. Der Terminus „Medizinmann", den Nietzscheauch in MA 243 benutzt, wird sowohl von Tylor wie auch von Lubbock geläufig gebraucht. VM 223. Zu diesem Aphorismus siehe man G. Campioni: „.Wohin man reisen muss'. Über Nietzsches Aphorismus 223 aus .Vermischte Meinungen und Sprüche'", in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 209-226.

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Nomadenthum" neigen77 und weit über die Grenzen der europäischen Tradition hinausstreben, sollten wissen, daß „man reisen müsse [...] zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften [...], dorthin wo der Mensch das Kleid Europa's [...] noch nicht angezogen hat" und wo „ältere Culturstufen" gedeihen oder fortbestehen. Denn nur die Bekanntschaft mit Gewohnheiten, Ritualien und Denkweisen, die von denen der modernen Europäer abweichen, vermöge die Emanzipation aus einer sonst kritiklos hingenommenen Uberlieferung zu fördern: Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen. 78

„Der Weg zur geistigen Freiheit", der verschiedene „Stufen der Erziehung" einschließe, führe auch über die Vertiefung in die „Völker-geschichte"79. Nur dadurch sei ein Befreiungsprozeß, eine Loslösung vom eigenen Herkommen möglich: Der Vorzug unserer Cultur ist die Vergleichung. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; dies gut zu machen ist unsere Aufgabe. 8 0

Man kann solche Behauptungen Nietzsches, wie auch seine Arbeitspläne dieser Zeit zur „Sammlung eines ungeheuren empirischen Materials der Menschenkenntniss"81 kaum verstehen, ohne die rasche Entwicklung, ja den Aufschwung zu berücksichtigen, den Anthropologie und Ethnologie in den 60er und 70er Jahren in Deutschland genommen hatten. Diesen Fachgebieten gaben um die Mitte der 50er Jahre die Marburger Vorlesungen des Philosophen T. Waitz, eines Vertreters der Herbartschen Schule, bedeutenden Anstoß: In Sommer 1855 und 1856 las er [...] Anthropologie — nach Blumenbach wohl der erste deutsche Professor, welcher diese Wissenschaft als ein selbständiges Ganzes und vom ethnologisch vergleichenden Standpunkte aus las. 82

Fast gleichzeitig wurden der erste Band von T. Waitz' „Anthropologie der Naturvölker" (Leipzig 1859) und A. Bastians „Der Mensch in der Geschichte" (Berlin 1860) veröffentlicht. Ab 1860 gaben die Herbartianer M. Lazarus und H. VM 211. Der Terminus „geistiges Nomadenthum" wird von R. W. Emerson übernommen (vgl. dazu G. Campioni: „.Wohin man reisen muss'", a.a.O.). 78 41 [65] (Juli 1879); KSA 8, S. 593. ™ 17[21] (Sommer 1876); KSA 8, S. 300. «ο 23 [85] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 433 f. 81 8[4] (Sommer 1875); KSA 8, S. 129. 82 G. Gerland: „Die neue Ausgabe der Waitz'schen Anthropologie", in: Archiv für Anthropologie 10 (1878), S. 329. Vgl. dazu E. Zeller: „Theodor Waitz", in: Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung, Leipzig 1877, insbesondere S. 366 f. 77

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Steinthal die „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" heraus, in der viele Beiträge zu ethnologischen Problemen erschienen. Zu Beginn der 60er Jahre vollzog sich auch „eine erste Einbürgerung der Menschenkunde auf deutschem Boden [...], seit der auf K. von Baer's Veranlassung zusammengetretenen Anthropologen-Versammlung in Göttingen (1861)" 83 . Zur selben Zeit fand die Völkerkunde auch in der Zeitschrift „Ausland" ein Organ, das zur Verbreitung der neuen Wissenschaft bedeutend beitrug, besonders nachdem der Ethnologe O. Peschel im Dezember 1854 die Leitung des Wochenblattes übernommen hatte84. Nicht weniger wichtig waren allerdings die Periodika „Unsere Zeit" des Leipziger Verlages Brockhaus und das von W. His, L. Rütimeyer, K. Vogt und Κ. E. von Baer seit 1866 herausgegebene „Archiv für Anthropologie". 1869 endlich wurde beim Verlag Wiegan dt und Hempel (Berlin), in Verbindung mit der gleichzeitig konstituierten ethnologischen Sektion der Berliner Gesellschaft für Erdkunde, von A. Bastian und R. Hartmann die „Zeitschrift für Ethnologie" ins Leben gerufen85. Ein Jahr darauf wurde, auch dank des Engagements von K. Vogt, die „Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" in Berlin gegründet, mit R. Virchow als erstem Vorsitzenden86. 1873 erschien, auf Bastians Betreiben87, die deutsche Ausgabe von Tylors „Primitive Culture", und zwei Jahre später wurde eine Ubersetzung der dritten Auflage von John Lubbocks „The Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man" (London 1870) veröffentlicht. In die rege Debatte um die neue Disziplin, die nach Tylor als „Philosophie der Urgeschichte" oder „Naturwissenschaft des menschlichen Lebens" bezeichnet werden kann88, griffen auch deutsche Autoren ein. O. Caspari („Die Urgeschichte der Menschheit", Leipzig 1873), kurz danach O. Peschel („Völkerkunde", Leipzig 1874) und F. von Hellwald („Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart", Augsburg 1875) boten nicht nur reiches empirisches Material, sondern prägten und diskutierten auch die Grundbegriffe, von denen Anthropologen, Ethnologen und „Culturhistoriker" in

A. Bastian: Die Vorgeschichte der Ethnologie, Berlin 1881, S. 33. F. von Hellwald: Oscar Peschel. Sein Lehen und Schaffen, Augsburg 1876, S. 8 ff. 85 Vgl. Κ. H. Ciz: Robert Hartmann (1831-1893). Mitbegründer der deutschen Gelsenkirchen 1984, S. 19 ff. Zur deutschen Ethnologie jener Jahre siehe ferner A. Fiedermutz-Laun: Oer kulturhistorische Gedanke hei Adolf Bastian, Wiesbaden 1970; M. Gothsch: Die deutsche Völkerkunde und ihr Verhältnis zum Kolonialismus, Baden-Baden 1983; Κ. P. Koepping: Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind. The Foundations of Anthropology in Nineteenth Century Germany, St. Lucia, London, New York 1983. 86 A. Bastian: Die Vorgeschichte der Ethnologie, a.a.O., S. 36 f. 8? Ebd., S. 42. 88 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 24 f. Die Begriffe .Ethnologie', .Ethnographie', .Völkerkunde' und .Anthropologie' bezeichnen in den 70er und 80er Jahren noch keine streng von einander abgegrenzten Disziplinen. Zur zeitgenössischen Debatte über diese Termini siehe G. Gerland: Anthropologische Beiträge, Leipzig 1875, S. 6; F. v. Hellwald: „Bedeutung und Aufgabe der Völkerkunde", in: Kosmos, Bd. 1 (April-September 1877), S. 45-52 u. 173 -178; Α. H. Post: Bausteine für eine allgemeineRechtswissenschaft aufvergleichend-ethnologischer Basis, Bd. 1, Oldenburg 1880, S. 15-17; W. Wundt: Logik, Bd. 2: Methodenlehre, Stuttgart 1883, S. 566-572. 8}

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ihren Untersuchungen ausgehen sollten. Schließlich w u r d e 1 8 7 7 von B. Vetter der erste B a n d von Spencers „Principien der Sociologie" herausgegeben, ein T e x t , in dem n o c h einmal eine reiche Sammlung ethnologischer Forschungsergebnisse vorgelegt und erörtert wird. Ebenfalls um die Mitte der 7 0 e r J a h r e w u r d e die F o r d e r u n g nach der „öffentlichen Anerkennung und Einführung der Anthropologie in den Kreis selbständiger Universitätswissenschaften" 8 9 erhoben. A n der Diskussion, in der wichtige Fragen, wie ζ. B . Sinn und Tragweite der „Stufenleiter der Cultur", das Verhältnis von „Wilden" zu „civilisierten Mens c h e n " , die Bedeutung des Begriffs „Rasse" für Anthropologie und Ethnologie, aufgeworfen wurden, zeigte sich auch Nietzsche stark interessiert. 1 8 7 5 beschäftigte er sich nicht nur mit Tylor, L u b b o c k und Mannhardt, sondern auch mit A. W u t t k e s Studie über den Volksglauben 9 0 . Damals befaßte sich Nietzsche, stets auf der Suche nach Materialien zu einer künftigen „Philosophie der C u l t u r " 9 1 , auch mit F . von Hellwalds eben erschienenem B u c h 9 2 , und zugleich erwarb er Abhandlungen von W . Bagehot und H . Spencer 9 3 , in denen ebenfalls ethnologische Überlegungen angestellt werden. Später nahm sich Nietzsche vor, ein Standardwerk wie Pescheis „Völkerkunde" zu lesen 9 4 . Ähnliche Interessen wurden auch von seinen

G. Gerland: Anthropologische Beiträge, a.a.O., S. 16. Weiter heißt es dort: „Nur an wenigen Hochschulen und auch da keineswegs ununterbrochen werden anthropologische Vorlesungen gehalten: bei der Wichtigkeit aber der Anthropologie ist es ein dringendes Bedürfnis, dass Lehrstühle für sie begründet werden [...]. Bis jetzt ist sie nur geduldet, als Nebenbeschäftigung bei verwandten Disciplinen, der Medizin, der Philosophie, der Geographie." A. v. Frantzius stellt 1874 (Besprechung von O. Peschel: Völkerkunde, in: Archiv für Anthropologie 7,1874, S. 147) fest, daß „die Anthropologie heutigen Tags auch in Deutschland eine Modewissenschaft geworden ist". Bei L. Gumplowicz heißt es einige Jahre später (Grundriß der Sociologie, Wien 1885, S. 50), Pescheis Werk sei „ein jedem Gymnasisten bekanntes Compendium". 90 A. Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1869. Am 20. Okt. 1875 entlieht Nietzsche das Werk aus der Basler Universitätsbibliothek. In Wuttkes Arbeit wird „der geschichtlich mit dem alten deutschen und slavischen Heidenthum zusammenhängende Volksaberglaube" behandelt, der noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts „in der von der Zeitbildung am wenigsten berührten ländlichen Bevölkerung und in den unteren Ständen der Städte" weiterbestand und gedieh (ebd., Bd. 2, S. 455). Noch heute, stellt Wuttke fest, lebe „der Volksglaube in Tirol und Kärnten [fort], daß ,arme Seelen' in Krötengestalt auf der Erde herumirren und so ihre Sündenschuld abbüssen müssen" {ebd., Bd. 2, S. 397). Das ganze Werk besteht aus einer Sammlung solcher Atavismen und Überbleibsel: „Sobald Jemand gestorben ist, müssen alle Schlafenden im Hause geweckt werden, weil es sonst ein Todesschlaf wird; [...] und wenn der Hausvater stirbt, muß auch alles Vieh im Stalle geweckt, aufgejagt und umgebunden werden, sonst geht es ein." (Ebd., Bd. 2, S. 429 f.) Wahrscheinlich folgt Nietzsche beim Ausleihen des Werkes im Oktober 1875 dem Hinweis Tylors, denn Wuttkes Arbeit wird in den Anfängen der Cultur wiederholt zitiert. 91 25[3] (Herbst 1877); KSA 8, S. 485. 92 Vgl. dazu 5[58] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 57. 93 W. Bagehot: Oer Ursprung derNationen, a.a.O.; H. Spencer: Einleitung in das Studium der Sociologie, 2 Bde., Leipzig 1875. Die letztgenannte Schrift wird von Nietzsche am 13. Aug. 1875 erworben. Zur Beziehung Bagehot-Nietzsche siehe D. S. Thatcher: „Nietzsche, Bagehot and the morality of custom", in: Victorian Newsletter 62 (1982), S. 7-13. 9" 39[8] guli 1879); KSA 8, S. 577. 89

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Freunden geteilt. Im August 1 8 7 7 schrieb ζ. Β. P. Ree ihm von seinem Bemühen, sich in die ethnologische Literatur der Zeit einzuarbeiten: Meine Studien sind bis jetzt hauptsächlich auf die Naturvölker gegangen; doch glaube ich mit den Sammelwerken (Waitz, Peschel etc. etc.) mich begnügen zu können. Unangenehm, daß deren Verfasser sich niemals auch nur Einen eigenen Gedanken erlauben. 95 Tatsächlich aber bieten die neuen ethnologischen und anthropologischen Forschungen nicht nur, wie Ree meint, reiches Material, das es erlaubt, den „Gross- und Kiemverkehr der Cultur und Gesellschaft" aus ungewohnten Perspektiven zu betrachten. Sie tragen auch, wie sich Nietzsche 1 8 7 5 bewußt wird, zur Entstehung einer neuen Sichtweise bei, deren Vertreter jene „Wanderer" sein werden, die mit bindungslosem Blick („Jenes freie, furchdose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen") 96 erkennen, wie das Neue stets mit Atavismen und „Ueberbleibseln" durchwachsen ist. Lubbock schreibt: Das Studium der niederen Religionen erleidet überdies eine Erschwerung durch den Umstand, daß ein Mensch, der sich entweder in Folge einer naturgemäßen Entwickelung oder durch den Einfluß eines civilisirten Volkes einer höheren Religion zuwandte, seine früheren Glaubensansichten beizubehalten pflegt. Diese behaupten ihren Platz unmittelbar neben der reineren Anschauung, und stehen doch in vollem Gegensatze zu derselben. Der neue mächtige Gott ist eine Bereicherung des alten Pantheons [...]. Der Glaube an Hexen erhielt sich bis zum heutigen Tage unter unsern Bauern und den tiefsten Schichten der Stadtbevölkerung; und die alten Götter unserer Vorfahren fristen ihr Dasein in den Ammenmärchen, denen unsere Kinder lauschen.97 A u c h nach Tylor, den Nietzsche um 1 8 7 7 als eine der „Größen Englands" 9 8 bezeichnet, ist in der „Stufenleiter der Civilisation" nicht eine Folge von 95

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KGB II 6/1, S. 667. Brief aus Stibbe vom 6. August 1877. Das gemeinsame Interesse für die ethnologische Literatur, welches bei Nietzsche schon 1875 recht lebhaft ist, begründet den Dialog und die Ubereinstimmung zwischen Ree und Nietzsche in den Jahren 1876-78. Vgl. hierzu MA 5 („Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen") mit dem folgenden Passus bei Ree: „Die Annahme [...] einer vom Leibe trennbaren Seele ist ursprünglich durch die Träume entstanden (vergleiche die Werke von Tylor und Lubbock). Die Wilden glauben nämlich, das Geträumte wirklich erlebt, ζ. B. eine Person, die sie im Traume besuchen, wirklich besucht zu haben. Da ihr Körper nun aber, wie sie beim Aufwachen sehen und ihnen von andern bestätigt wird, seinen Platz nicht verlassen hat, so muss wohl ein vom Körper trennbares Ding jene Wanderung unternommen haben." (P. Ree: Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz 1877, S. 68) Von Ethnologie ist auch in Rees Die Entstehung des Gewissens, Berlin 1885, insbesondere S. 13 ff. u. 47 ff., wie auch in seinem nachgelassenen Werk Philosophie, Berlin 1903, S. 187, ausführlich die Rede. Zu Nietzsches Ausführungen über den Traum vgl. H. Treiber: „Zur,Logik des Traumes' bei Nietzsche. Anmerkungen zu den Traumaphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches'in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 1-41. ΜΑ 1 u. 34. J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 171. KGB II/5, S. 266. Brief an Paul Ree, Anfang August 1877. Vgl. dazu, was Nietzsche über Englands „ausgezeichnetsten Gelehrten" in VM 184 schreibt.

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Aufhebungen, sondern eine Schichtung von Sedimenten zu erkennen. Besonders beredt ist das Beispiel, anhand dessen Tylor das Verhältnis der „christlichen Heiligen" zu den „heidnischen Gottheiten" veranschaulicht: Es ist wohl bekannt, dass Romulus, in Erinnerung an seine abenteuerliche Kindheit, nach dem Tode zu einer römischen Gottheit wurde, die der Gesundheit und Sicherheit kleiner Kinder günstig war, so dass Ammen und Mütter ihre schwächlichen Kinder brachten und sie in seinem kleinen runden Tempel am Fusse des Palatinus darstellten. In späten Zeiten wurde an Stelle des Tempels eine Kirche des heiligen Theodorus errichtet und Dr. Conyers Middleton, der die öffendiche Aufmerksamkeit auf ihre eigenthümliche Geschichte lenkte, sah bei seinen Besuchen dort gewöhnlich zehn bis zwölf Frauen, jede mit einem kranken Kinde auf ihrem Schoosse, in stiller Verehrung vor dem Altar des Heiligen sitzen. Die Ceremonie des Kindersegnens, besonders nach der Impfung, kann dort noch jetzt an Donnerstagen des Morgens gesehen werden.' 9

Die Werke Tylors und der Ethnologen im allgemeinen enthalten mithin die Aufforderung an die Gelehrten, einzusehen, „dass .Wiederaufleben in der Cultur' etwas mehr als eine leere pedantische Phrase ist" 10°. In dieser neuen Disziplin, die darauf gerichtet ist, „alle Völker der Erde zu umfassen, insbesondere auch diejenigen, für die es keine Geschichte giebt", wird die Forderung gestellt, über die „historischen Verhältnisse" hinaus die „Naturgrundlage der Geschichte", so lautet die 1859 von Waitz geprägte Formulierung, nicht außer acht zu lassen101. Diese Betrachtungsweise, nach der „was vor aller Geschichte liegt" im Laufe der „historischen Entwickelung" keinesfalls verlorengeht102, wird in den ausgehenden siebziger Jahren auch von Nietzsche geteilt. Am Anfang von „Menschliches, Allzumenschliches" wird eine Behauptung aufgestellt, in der ein Nachklang seiner Lektüre ethnologischer Werke unverkennbar ist: „Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben." (MA 2)

9. Die Stufenleiter der Kultur „Alles wiederholt sich mit wunderbarer Gleichförmigkeit in den Schränken des Museums, welche uns ein Bild von dem Leben der Naturvölker von Kamtschatka bis Tierra del Fuego, von Dahome bis Hawaii geben sollen."103 Daß Werkzeuge oder Amulette einer ethnographischen Sammlung immer ähnlich, fast identisch ausseΕ. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 120 f. 100 Ebd., Bd. 1,S. 141. Vgl. auch S. 136: „Denn der Strom der Civilisation windet und dreht sich vielfach, und was in einem Zeitalter ein klarer, vorwärts eilender Strom zu sein scheint, kreist im nächsten in wirbelndem Strudel herum oder verliert sich in einen trüben, pesthauchenden Sumpf." 101 T. Waitz: Anthropologie der Naturvölker, Bd. 1, Leipzig 1859, S. 8. 102 Ebd. 103 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 6.

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hen, obwohl ihre Herkunft durchaus verschieden ist, stellt einen wichtigen Ansatzpunkt für den „Culturhistoriker" dar. Aus Tylors, Bastians und Lubbocks Forschungen ergibt sich, daß die verschiedenen Kulturen als nacheinanderfolgende „Stadien der Civilisation", als bestimmte Etappen einer und derselben „Stufenleiter" zu betrachten sind. In der Monotonie der Ausstellung wiederholt sich im kleinen die unverkennbare Gleichartigkeit der Wege, die die Völker in ihrer Entwicklung gegangen sind. Uberall finden die Ethnologen dieselben Sitten, dieselben Glaubensinhalte. Die Irokesen z.B. pflegten in alter Zeit in dem Grabe eine Oeffnung für die sich nach ihrem Leibe sehnende Seele zu lassen, und manche von ihnen bohren noch jetzt zu diesem Zwecke Löcher in den Sarg. Die malagasischen Zauberer pflegten zur Heilung eines Kranken, der seine Seele verloren hatte, ein Loch in das Leichenhaus zu machen, um einen Geist herauszulassen, den sie in ihrer Mütze fingen und so in den Kopf des Patienten überführten. Die Chinesen machen ein Loch in das Dach, um beim Tode die Seele hinauszulassen. Und endlich ist die Sitte, ein Fenster oder eine Thür für die Seele zu öffnen, wenn sie den Leib verlässt, bis auf den heutigen Tag ein sehr häufiger Aberglaube in Frankreich, England und Deutschland. 104

Die Erkenntnis dieser grundsätzlichen Uniformität bewirkt eine tiefgreifende Veränderung in den anthropologischen Ansichten. Die Völkerkunde der 60er und 70er Jahre, eine Wissenschaft, welche „die merkwürdige, zwischen verschiedenen Völkerschaften herrschende Gleichartigkeit"105 entdeckt, kommt rasch zu der Schlußfolgerung, daß „der menschliche Geist bei fortschreitender Entwicklung überall die nämlichen oder wenigstens sehr gleichartigen Phasen durchschreitet"106. Bei gründlicher Betrachtung des „europäischen Bauern", seiner Bräuche und Ansichten, so Tylor, „würden wir ein Bild bekommen können, welches kaum eine Hand breit Unterschied zwischen einem englischen Ackersmann und einem Neger Centraiafrikas zeigt"107. Davon ausgehend wird nun die Ethnologie zu jener „Culturwissenschaft", die die äußeren Rassenmerkmale völlig außer acht läßt, da sie keinerlei Einfluß auf die „Stufenleiter der menschlichen Entwicklung" haben: Für den gegenwärtigen Zweck ist es offenbar sowohl möglich als auch wünschenswerth, Betrachtungen über erbliche Varietäten und Rassen des Menschen auszuschliessen, und die Menschheit als von Natur homogen, wenn auch auf verschiedenen Stufen der Civilisation stehend, zu betrachten. Die Einzelheiten der Untersuchung werden, denke ich, zeigen, dass

Ebd., S. 447. J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 9. 106 Ebd., S. 240. An einer anderen Stelle schreibt Lubbock: „Ich werde im Gegentheil nachzuweisen suchen, daß sämmtliche Religionen der niederen Rassen, trotz ihrer verschiedenen Namen, in den Grundzügen übereinstimmend sind und als Phasen einer einzigen Reihenfolge betrachtet werden müssen." {Ebd., S. 169 f.) ">7 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 7. 105

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man Culturstadien vergleichen kann, auch ohne zu berücksichtigen, wie weit Menschen, welche dieselben Geräthe gebrauchen, nach denselben Sitten leben oder dieselben Mythen glauben, in ihrer körperlichen Gestaltung und in der Farbe der Haut und des Haares verschieden sein können.108 Wie Nietzsche bei Tylor die „angeborene Gleichartigkeit der Menschennatur in geistiger Beziehung" behauptet findet, welche „in ganz entfernten und unabhängigen Rassen eine so grosse Gleichförmigkeit der Entwicklung" hervorbringe 109 , so trifft er auf ähnliche Meinungen auch in Lubbocks Werk: Obgleich die Rassenunterschiede in Folge der geographischen Lage und der ganzen Umgebung natürlicher Weise eine beträchtliche Abweichung in dem socialen und geistigen Entwickelüngsgange der verschiedenen Stämme herbeiführten, so habe ich mich doch zu zeigen bemüht, daß die Entfaltung der höheren und edleren, die Ehe, die Verwandtschaft, das Recht und die Religion betreffenden Begriffe in ihren Anfangsstadien selbst bei den entlegensten Völkern einen sehr gleichartigen Verlauf genommen hat, und finden wir bei fern von einander wohnenden, auf der nämlichen Stufe stehenden Familien scheinbar absurde, widersinnige Sitten, so dürfen wir daraus mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß dieselben trotz ihrer Ungereimtheit keine sinnlosen, unbedeutenden Zufälligkeiten sind, sondern in Charaktereigenthümlichkeiten wurzeln, die dem Menschengeschlechte angeboren wurden.110 Die damals unter den Ethnologen herrschende Ansicht („wenn wir auf der Stufenleiter der Cultur abwärts steigen") 111 bringt die Prägung einer bestimmten Terminologie mit sich. Man spricht von „Culturstufen" 112 , von Gliedern einer „fortlaufenden Reihe", die die gesamte „Stufenleiter der Civilisation" 113 ausmacht — und aus dieser Perspektive werden Rassenmerkmale und Nationalcharaktere belanglos, da sie keine Konsistenz und Ausschließlichkeit mehr besitzen und nur mehr transitorisch, als bloße Durchgangspunkte im Rahmen eines komplexen Prozesses Geltung haben.

108 Ebd. Siehe dazu auch C. Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Bd. 1, Stuttgart 1871, S. 205: „Wer Mr. Tylor's und Sir J. Lubbock's interessante Werke aufmerksam liest, wird kaum umhin können, einen tiefen Eindruck von der grossen Aehnlichkeit zwischen den Menschen aller Rassen in ihren Geschmäcken, Dispositionen und Gewohnheiten zu erhalten." Ε. Β. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1 . S . 4 0 1 . 110 J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 2 f. In dieser Hinsicht ist auch jene Stelle bedeutend, wo Lubbock behauptet, „daß einander fremde, auf der nämlichen Entwickelungsstufe stehende Völkerschaften oftmals mehr gemeinsame Züge zur Schau tragen, als ein und dasselbe Volk in seinen verschiedenen geschichtlichen Phasen aufzuweisen hat." (Ebd., S. 9) Hierzu siehe auch J. W . Draper: Geschichte der geistigen Entwickelung Europas, Leipzig 1871, S. 14: „Nationen sind nur vorübergehende Formen der Menschheit. Sie müssen erlöschen, wie die vorübergehenden Formen im Thierreich." Nietzsche erwarb Drapers Buch, wie eine noch heute in Weimar aufbewahrte Buchhändlerrechnung erweist, am 17. Februar 1875. i n Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 239. 112 J, Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 217. i" Ebd., S. 133 f.

Die Stufenleiter der Kultur

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Die Schriften der Ethnologen liefern somit auch Elemente zu einer Kritik der Begriffe „Rasse" und „Nationalität". Im Aphorismus 323 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" („Die Wendung zum Undeutschen") konkretisiert Nietzsche diese Konsequenz der ethnologischen Forschungen mit Bezug auf die Gegenwart: Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen. — Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Culturstufen und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). Deshalb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für Den, welcher an der Umschaffung der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur arbeitet [...]. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab: bleibt es bestehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängniss herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpuncte an das Aegypterthum war.

Noch prägnanter ist eine Vorstufe zu diesem Aphorismus, die hier anzuführen ist, da sie die gegenwartsbezogenen Folgerungen der ethnologischen Erkenntnisse zum Ausdruck bringt: Was man Nationale Unterschiede nennt, sind gewöhnl verschiedene Culturstufen, auf welchen das eine Volk früher, das andere später steht. Hauptsatz.114

Bedeutsam ist, wie diese Überlegungen um den in der Ethnologie geläufigen Begriff der „Culturstufen" kreisen, einen Ausdruck, der in Nietzsches Vokabular dieser Jahre eine wichtige Rolle spielt. So schreibt er: „Es leben zu gleicher Zeit Menschen der verschiedensten Culturstufen selbst in den hochentwickelten Nationen neben einander fort." 1 " In einer anderen Notiz heißt es weiter, daß der „Universalmensch" der Zukunft in seiner Bildung die „ganze Stufenleiter" durchlaufe. Haeckels „biogenetisches Grundgesetz" scheint auf dem Gebiet der Kultur eine glänzende Bestätigung zu finden: „Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der Reife, insofern er verschiedene Culturen durchlebt [...]. — So hat er auch mehrenmal den Zustand der Unreife, der perfecten Blüthe, der Überreife: diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher Mensch durch."116 114

KSA 14, S. 180. Im Fragment 23 [25] gibt Nietzsche zu, daß, wenn der „Socialismus den Menschen als vorwiegend gleich" annimmt, „er übrigens in Hinsicht auf das Bild des Menschen, welches ferne Pfahlbauten-Zeiten gewähren, jedenfalls Recht hat: wir Menschen dieser Zeit sind im W gleich" (KSA 8, S. 412). Zu Nietzsches Thematik der „Culturstufen" vgl. P. Wotling: Nietzsche et

le Probleme de la civilisation,

Paris 1995, S. 245 ff. u. 266 ff.

» 5 23 [100] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 439. In diesem Zusammenhang siehe auch 23 [169] (KSA 8, S. 465) und MA 43, 1 9 5 , 6 1 4 , 632. 1 1 6 23[145] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 455 f. Die ganze „Stufenleiter" kann aber auch rückwärts gegangen werden: „Der Verbrecher nöthigt uns zur Nothwehr auf frühere Stufen der Cultur zurück, der Dieb macht uns zum Gefängnißwärter, der Mörder zum Todtschläger usw. Das

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Nietzsches Eintreten für Voltaire und die Philosophie der Aufklärung gegen Ende der 70er Jahre rührt zum größten Teil vom Nachdenken über die neuen Perspektiven her, die sich mit der Idee einer „Stufenleiter der Cultur", einer „Reihenfolge von Culturstufen" eröffnen. „Freigeist", „ungebundener Geist", sei derjenige, der einsehe, daß „die verschiedenen Culturen [...] verschiedene geistige Klimata" seien, und demnach „eine Summe von Gesundheits-Stationen"117,auf denen er sich nach Belieben aufhalten kann, ohne sein ganzes Leben immer an demselben Ort, in derselben Atmosphäre verbringen zu müssen. Je mehr sich der „Freigeist" Nietzsche davon überzeugt, daß „die allmählich übermächtig gewordene Sanktion des Herkommens"118 zu bröckeln beginne, desto mehr sieht er sich dazu veranlaßt, die zeitgenössische Völkerkunde in seine Betrachtungen einzubeziehen. In dieser neuen Situation sei der „Zukunftsmensch", der „europäische Universalmensch"119, für den nationale Unterschiede und Besonderheiten keine Bedeutung mehr haben, schon dabei, das Auftreten einer neuen „Culturstufe" zu fördern, nämlich eines „Zeitalters der Vergleichung", das „seine Bedeutung dadurch [bekommt], dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können" (MA 23). Der „europäische Universalmensch" könne also gar nicht anders als die neuen ethnologischen Studien begrüßen, deren Bestreben darauf gerichtet sei, „an einer idealen Skala den Fortschritt oder Rückschritt der Cultur von Stufe zu Stufe zu messen" 12°, ohne auf Rassenunterschiede oder auch nur auf vermeintliche Eigenarten verschiedener nationaler Prägungen zu sehen. Nietzsches „Cosmopolitismus des Geistes" (VM204) und die „Stufenleiter der Kultur", von der die Ethnologen sprechen, sind also durchaus verwandte Begriffe. Die Ethnologie als Disziplin, die von transitorischen „Culturstufen", statt von wesensverschiedenen Rassen und nationalen Charakteren spricht, trägt zu jener Wendung zum „Uber-Nationalen", zur Kritik der Sehnsucht nach der ,,verlorne[n] Volkstümlichkeit" bei, die Nietzsche zur Zeit von „Menschliches, Allzumenschliches" vollzieht: „Man soll gar nicht mehr hinhören, wenn Menschen über die verlorne Volkstümlichkeit klagen (in Tracht Sitten Rechtsbegriffen Dialecten Dichtungsformen usw.). Gerade um diesen Preis erhebt man sich ja zum UberNationalen, zu allgemeinen Zielen der Menschheit, zum gründlichen Wissen, zum Verstehen und Geniessen des Vergangnen, nicht Einheimischen. — Kurz, damit eben hört man auf, Barbar zu sein."121

117

us U9 120 121

Strafgesetz ist die Reihenfolge von Culturstufen abwärts." (Vorstufe zu WS 186, KSA 14, S. 194) WS 188. W. Ε. H. Lecky spricht wiederholt in seiner Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa (2 Bde., Leipzig u. Heidelberg 1873) von „Klimata der Meinungen" (Bd. 1, S.87), „geistiger Temperatur" (Bd. 1,S. 105), „Klima der Meinungen" (Bd. 1,S. 116) und „sittlicher Athmosphäre" (Bd. 1, S. 265). Siehe dazu K. Braatz: Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der öffentlichen Meinung, Berlin u. New York 1988, S. 193. 23[79] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 430. 5[15] (Frühling-Sommer 1875) u. 17[49] (Sommer 1876); KSA 8, S. 44 u. 305. Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 28. 23 [111] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 442.

Naturzustand als Illusion

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10. Naturzustand als Illusion Eine der bedeutsamsten Erkenntnisse, die sich in den 70er Jahren im Gefolge von Völkerkunde, Anthropologie und „Culturwissenschaft" durchsetzen, formuliert Lange in der zweiten, 1875 veröffentlichten Ausgabe seines Hauptwerkes: „Wo man früher, bei oberflächlicher Betrachtung, nur ,Wilde' oder harmlose Naturkinder sah, da findet man jetzt die Beweise einer Geschichte, einer alten, raffinierten Cultur und oft schon die deutlichen Spuren des Verfalls und Rückganges [...]. Der Naturzustand, dessen Verlust ein Rousseau und Schiller beklagten, zeigt sich nirgend."122 Als Ergebnis vieler ethnologischer Forschungen — Lange verweist hier auf Waitz, Gerland, Bastian, Lubbock und Tylor — scheint sich nun der Abstand zwischen Urzustand und Zivilisation drastisch zu verkleinern. Man beginnt zu verstehen, daß selbst die sogenannten .Wilden' über äußerst komplexe Rituale und differenzierte Umgangsformen verfügen, daß nicht einmal die „rohesten Menschenstämme" „uncivilirte Menschen" sind. Entsprechend formuliert Peschel mit Bezug auf Lubbock: Freilich hat uns die nähere Bekanntschaft mit den Bewohnern ferner Erdräume völlig den Begriff des sogenannten wilden Mannes entzogen. Aus Vorsicht sprechen wir seitdem nicht mehr von Wilden, sondern von Naturvölkern, ohne daß es aber gelungen wäre, für den neuen Taufnamen irgend einen scharfen Begriff festzustellen oder die Grenzen zu finden, wo die Naturvölker aufhören und das Culturvolk beginnt. 123

Das veränderte Bewußtsein verlangt nach einer entsprechenden ethnologischen Terminologie. Wie Peschel in seinem damals viel beachteten Werk konstatiert, „dürfen wir [nicht] von Naturvölkern, höchstens von Halbculturvölkern sprechen, denn sicherlich ist der Naturzustand des Menschengeschlechtes unserer Beobachtung, ja sogar unserer Ahnung entrückt"124. Peschel berichtet, an einer anderen Stelle seines Werkes, von jenen Fällen, in denen nur die Neugierde der Europäer, ihre Selbstherrlichkeit, das Zerrbild des „Urmenschen", des „Wilden" hervorbringe: Die Buschmänner oder San [...] dienten bisher dazu, um das fehlende Glied in der Kette zwischen Affen und Menschen auszufüllen und der Verfasser bekennt gern, dass er im Jahre

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F. A. Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2. Aufl., Iserlohn 1875, Bd. 2, S. 392. An anderer Stelle sagt F. A. Lange (Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, Winterthür 1875, S. 264), daß „der gesetzlos lebende Wilde [...] mehr in der Phantasie der Theoretiker [...] existirt als in der Wirklichkeit." O. Peschel: „Uber die Anfänge der geistigen und sittlichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes", in: Das Ausland, 1870, S. 1033 f. O. Peschel: Völkerkunde, Berlin 1874, S. 147. Einige Jahre später stimmt G. Roskoff (Das Religionswesen der rohesten Naturvölker, Leipzig 1880, S. 23) mit Peschel dahingehend überein, daß „die Bezeichnung .Wilde' für irgendeine Bevölkerung sowenig als die von ,Naturvölkern' passt."

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1852 zu London Buschmänner gesehen hat, die durch ihr thierisches Aeussere wohl jeden von dem guten Wahn geheilt haben würden, dass alle Menschen das Ebenbild eines erhabnen Wesens vertreten sollten. Livingstone hat aber bald darauf seine Landsleute gewarnt, in jenen zur Schau gestellten Jammergestalten echte Typen eines Zweiges der afrikanischen Menschheit zu erblicken, da nur auserlesen Hässliche zur Befriedigung der Neugierde nach Europa gebracht werden. 125

Je weiter die ethnologischen Forschungen voranschreiten und zeigen, daß die „niederen Völkerschaften" weder Horden noch undifferenzierte Gruppen von „harmlosen Naturkindern" sind, desto mehr drängt sich die Frage auf, ob nicht aus der Erfoschung ihrer Lebensformen ein „theoretisches Wissen" zu gewinnen sei, das auch beim Studium der „Culturvölker" von Bedeutung sein könnte. Gerade um „ das Problem [der] Verwandtschaft des barbarischen mit civilisirtem Leben" 126 entwickelt sich in der damaligen Ethnologie eine lebhafte Diskussion. Diese Auseinandersetzung, in der Tylor und Lubbock entgegengesetzte Standpunkte einnehmen, verdient Beachtung, denn sie erweist sich als einflußreich auch für Nietzsches Reflexionen um 1875, und hinterläßt in verschiedenen Aphorismen von „Menschliches, Allzumenschliches" deutliche Spuren. Tylor legt seine Leitidee an mehreren Stellen seines Werkes dar: Das „Ueberleben in der Cultur [...] errichtet selbst jetzt noch in unserer Mitte uralte Denkmäler barbarischen Denkens und Lebens" 127 , denn „in der bestehenden Psychologie der civilisirten Welt" seien „mancherlei Erbstücke aus uralten Zeiten zu erkennen"128. Durch solche Behauptungen wird zugleich der Völkerkunde die Aufgabe zugewiesen, aus der Bekanntschaft mit „niederen Stämmen" Begriffe und Bezugspunkte zu gewinnen, die ein besseres Verständnis wichtiger Aspekte der gegenwärtigen Gesellschaft ermöglichen sollen. „So werden sogar die verachteten Ideen wilder Rassen ein praktisch wichtiges Beweismittel für die moderne Welt." 129 Erst durch die Beschäftigung mit den „Urzeiten" werde, so paradox dies scheine, die Fähigkeit erworben, in die Gestaltung der Zukunft aktiv einzugreifen: Die Auffindung eines Zusammenhangs zwischen dem, was die uncivilisirten Menschen der Vorzeit dachten und thaten, und dem, was civilisirte Menschen in unsern Tagen denken und thun, gewährt nicht bloss eine unanwendbare, theoretische Kenntniss, denn es erhebt sich auch die Frage, wie weit moderne Meinungen und Handlungen auf den festen Boden der gesundesten modernen Forschung gegründet sind und wie weit nur auf ein Wissen, welches in jenen älteren und roheren Stadien der Cultur maassgebend war, in denen ihre Typen sich bildeten. E s verdient ausdrücklich hervorgehoben zu werden, dass die Urgeschichte des

O. Peschel: Völkerkunde, a.a.O., S. 148 f. D. Livingstone hatte über diese Angelegenheit in seinem Werk Missionsreisen und Forschungen in Süd-Afrika währendeines sechzehnjährigen Aufenthaltes im Innern des Continents, Bd. 1, Leipzig 1858, S. 64 gesprochen. 126 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 21. 127 Ebd. 128 Ebd., Bd. 1, S. 423. 129 Ebd., Bd. 2, S. 109. 125

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Menschen, obwohl gerade denjenigen, die sie am nächsten angeht, fast unbekannt, sich von ungeahnter Tragweite auf die tiefsten und wesentlichsten Probleme, auf die eigentlichen Lebensfragen unserer intellectuellen, industriellen und socialen Zustände erweist. 130 W ä h r e n d Tylor sich bemüht, die durch den Fortschritt errungene Überlegenheit, die Vorrangstellung (und zugleich das stolze Selbstbewußtsein) der m o d e r n e n Europäer zu relativieren, kommt Lubbock ideologisch zu diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen. Jenem liegt daran, aufzuzeigen, „in wie nahem und direktem Zusammenhange die moderne Cultur und der Zustand des rohesten W i l d e n stehen können" 1 3 1 , dieser dagegen versäumt keine Gelegenheit, die A b stände zwischen dem „socialen Zustand" der „niederen Rassen" und dem der „gebildeten Nationen" zu markieren. Ja, L u b b o c k wirft sogar die Frage auf, o b es überhaupt angebracht sei, in bezug auf die W i l d e n und ihre Riten von dem W o r t „Religion" G e b r a u c h zu machen: Ich habe anfangs geschwankt, ob ich nicht [...] das Wort .Religion' durch .Aberglaube' ersetzen sollte [...]. Ich leugne [...] keineswegs, daß die sogenannte Religion der niederen Rassen wesendich von der unsrigen verschieden, ja, eigentlich das gerade Gegentheil derselben ist. So sind z.B. die Götter der Wilden nicht gut, sondern böse. Sie können gezwungen werden, den Wünschen der Menschen nachzukommen; sie lechzen nach Blut und haben ihre Freude an Menschenopfern; auch sind sie sterblich und besitzen kein ewiges Leben. Ferner bilden sie einen Theil der Natur und gelten nicht als Schöpfer derselben. Ihre Verehrer nahen sich ihnen mehr durch Tänze, als durch Gebete, und gar oftmals billigen sie Handlungen, welche uns schlecht erscheinen, und tadeln solche, die wir tugendhaft nennen.152 Vielleicht denkt Lubbock gerade an Tylor, wenn er in seiner Schrift den Schluß zieht, daß „der sittliche Zustand der W i l d e n in Wahrheit viel tiefer steht, als man in der Regel annimmt" 1 3 3 . Mit einem solchen, wiederholt ausgesprochenen W e r t Ebd., Bd. 2, S. 445 f. Wenn Kulturhistoriker, Politiker oder „wissenschaftlich gebildete Theologen" — darauf macht Tylor aufmerksam — auf eine „hinlängliche Bekanntschaft mit den niederen Rassen" verzichten, sei dies „für ebenso unsinnig [zu] halten [...], wie wenn ein Physiologe mit der Verachtung von fünfzig Jahren früher auf Beweise sähe, die von den niedrigem Formen des Lebens hergeleitet sind, als ob der Bau wirbelloser Geschöpfe ein seines wissenschafdichen Studiums unwürdiger Gegenstand sei." (Ebd., Bd. 1, S. 24) »1 Ebd., Bd. 1,S. 159. 132 J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 169. Siehe auch J. Lubbock: Die vorgeschichtliche Zeit, erläutert durch die Ueberreste des Alterthums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden, Bd. 2, Jena 1874, S. 273 ff. 133 J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 333. W. Bagehot behauptet in seinem Werk (Der Ursprung der Nationen, a.a.O., S. 60): „Es ist irgendwo gesagt worden, dass man sich den Unterschied zwischen civilisirten und uncivilisirten Menschen nicht gross genug denken kann." Und „ein so fähiger vorsichtiger Kritiker wie Herr Bagehot" wird auch von Lubbock am Anfang seiner Untersuchung (S. 1) zitiert. Dagegen warnt O. Peschel schon 1870 („Uber die Anfänge der geistigen und sitdichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes", a.a.O., S. 1064) „vor vielen leichtfertigen Schlüssen" Lubbocks, die „von der Begierde getrieben" werden, „den .wilden' Menschen im Zustande ungemilderter Rohheit noch jetzt irgendwo auftreten" lassen zu können. 130

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urteil distanziert er sich scharf von der Definition der Völkerkunde als derjenigen „Wissenschaft, welche das Leben der civilisirten Völker mit dem der Wilden und Barbaren in Verbindung zu setzen sucht"134. Für Lubbock (und mit ihm Bagehot) steht fest, daß der .Primitive' ganz amoralisch sei, und er bemüht sich, die These zu erhärten, daß der Mensch in sitdicher Beziehung größere Fortschritte gemacht habe als in materieller und geistiger; denn während selbst die niedrigsten Wilden materielle und geistige Fähigkeit erlangten, so fehlt es ihnen doch fast jede Spur von Sittlichkeitsgefühl; freilich bin ich mir sehr wohl bewußt, daß ich durch diese Aeußerung gar vielen bedeutenden Autoritäten widerspreche. 1 »

Wie schon zum Teil gezeigt, ist Tylor diesbezüglich ganz anderer Meinung. Ansichten, -wie sie Lubbock vertritt, können für ihn nur dadurch aufkommen, daß man über die „ungleichen Lebensverhältnisse" hinwegsieht: Die behauptete Existenz von so niederen Wilden, daß sie noch kein Sittengesetz besäßen, entbehrt zu sehr aller Grundlage, als daß wir darauf einzugehen brauchten [...]. W i r sehen nämlich, daß die Unterschiede zwischen den Sittenregeln niederer und höherer Racen zum großen Theil weniger von abstracten ethischen Vorstellungen als von den ungleichen Lebensverhältnissen bei wilden und civilisirten Menschen abhängen. 136

Lubbocks Einstellung ist wohl auch auf den Einfluß zurückzuführen, den Darwins und Haeckels Abstammungslehre in jenen Jahren auf die Studien der Ethnologen ausübten. Wie es den Biologen durch die Auffindung der ersten Lebensstufen (Haeckels „Urschleim", amorphe „Monere" usw.) gelungen war, einen „Stammbaum", eine einheitliche Darstellung der organischen Entwicklung zu entwerfen, so streben auch die Ethnologen danach, ihre „Stufenleiter" einer graduellen Entwicklung der Kultur durch die Rekonstruktion der ersten Anfänge zu komplettieren und mithin den unwiderlegbaren Beweis zu liefern, „daß es Rassen giebt, die aller religiösen Anschauung entbehren" 137 . Erst durch die Auffindung der „niedrigsten Formen", der elementaren Ausgangspunkte, werde die Ethnologie, wie zuvor die Biologie, das Ansehen einer methodisch strengen

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Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. IV. J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 330. Im folgenden führt Lubbock weitere Elemente zur Bestätigung seiner These an: „Ridley [...] erzählt uns, daß es ihm ungemein schwer geworden sei, ,den australischen Völkerschaften den Begriff der Sünde klar zu machen' [...]. ,Das Wort Gewissen' sagt Burton [...] ,ist im östlichen Afrika unbekannt; der Ausdruck ,Reue' bedeutet nichts Anderes als das Bedauern wegen einer nicht zur Ausführung gelangten Missethat." (Ebd., S. 333 f.) Ε. B. Tylor: „Aus der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft", in: Das Ausland, 1874, S. 15 f. Was die in diesem Zusammenhang gegen Lubbock gerichtete Kritik betrifft, siehe auch Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 416 ff. J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 174.

Historie und Völkerkunde

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Disziplin erwerben. Nach Lubbock ist die Logik der Wissenschaft auch in diesem Falle ganz rigoros: Irgendwo müssen ganz amoralische Wilde entdeckt werden. Wenn aber die Ethnologen, so Tylors diesbezüglicher Kommentar, „zur Erklärung der Civilisation nach einer Entwicklungstheorie suchen", „würden sie gewiss jeden Bericht von Volkstämmen ohne alle Religion mit besonderem Interesse aufnehmen."158

11. Nicht moralische Selbstbeobachtung, sondern Historie und Völkerkunde... Nietzsche hatte mit den Werken von Tylor und Lubbock die bedeutendsten Dokumente dieser Auseinandersetzung innerhalb der Ethnologie zur Hand, kannte die entgegengesetzten Standpunkte, und man darf annehmen, daß diese Kenntnis einen wichtigen Hintergrund zu „Menschliches, Allzumenschliches" abgibt, einer Schrift, mit der er just in den Jahren in die Debatte eingreift, in denen es vorrangig um die Fragwürdigkeit der Abgrenzungen zwischen „ Naturvölkern " und „Culturvölkern" ging. Nietzsche bezieht Position gegen die Annahme eines grundsätzlichen Unterschiedes. Die Idee, daß in „Anfängen" und „Urzuständen" Schlüssel zum Verständnis der Moderne liegen, wird von ihm an mehreren Stellen unter philosophischem Gesichtspunkt behandelt. Tylors Ansatz, dem Lubbock und Bagehot widersprechen, daß „das Geistesleben der civilisirten Völker noch manche, und zwar keineswegs unbedeutende Spuren eines vergangenen Zustandes an sich trägt, von dem die Wilden sich am wenigsten [...] entfernt haben"139, durchzieht als Leitfaden Nietzsches Überlegungen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Er geht davon aus, daß die Kenntnis jener „großen Irrthümer" und „falschen Vorstellungen", die der Ethnologe in den „zurückgebliebenen Völkerschaften" auffindet, für die Interpretation von Verhaltensweisen in einer fortgeschrittenen Gesellschaft überaus nützlich sein können: Die moralische Selbstbeobachtung genügt jetzt keineswegs, Historie und die Kenntniß der zurückgebliebenen Völkerschaften gehört dazu, um die verwickelten Motive unseres Handelns kennen zu lernen. In ihnen spielt die ganze Geschichte der Menschheit ab, alle ihre großen Irrthümer und falschen Vorstellungen sind mit eingeflochten; weil wir diese nicht mehr theilen, suchen wir sie auch nicht mehr in den Motiven unserer Handl, aber als Stimmung Farbe Oberton erklingen sie mit darin. 140

Die in der damaligen Ethnologie aufgekommene Methode, die „Wilden" und „unsere modernen Anschauungen" in Relation zu setzen, wird auch von Nietzsche häufig angewandt. Als Atavismus, der freilich nur als „Stimmung" oder „Oberton" im modernen Menschen überdauere, deutet er in „Menschliches, Allzumenschliches"

138 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 412. Ebd., Bd. 1, S. 69. "0 23 [48] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 421.

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die Verachtung der „nächsten Dinge", die Bindung an die von dem „metaphysischen Bedürfnisse" erzeugten Trugbilder und Phantasien: Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächdich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter bedeckten Himmeln — da hat der Mensch als auf den Culturstufen ganzer Jahrtausende allzulange gelebt, und dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst verachten gelernt — und wir, wir Bewohner der lichteren Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen jetzt noch, durch Erbschaft, Etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das Nächste in unser Blut mit.141 Mit der Verachtung der „nächsten Dinge" hänge die E r w a r t u n g der „Glückszeiten" zusammen, das Streben nach Erlösung von den Bedrängnissen des Daseins — e b e n f a l l s ein Überbleibsel, das besonders unter modernen Menschen weiterlebe: Das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet — jedes Leben hat solche — , aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als ,das Jenseits der Berge' in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben, als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Begriff des Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hört. 142 D e r Sehnsucht n a c h dem „Jenseits der B e r g e " , der Verklärung des F r e m d e n , Fernstehenden und Unbekannten, ist, nach Nietzsche, ein weiterer Mechanismus eng verwandt. U n t e r die „Fehlschlüsse", die „Verwöhnungen des Intellects", in denen sich hartnäckige Atavismen manifestieren, sei auch die Verwirrung zu rechnen, die das plötzliche V o r k o m m e n von etwas Vollkommenem gewöhnlich

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WS 16. Siehe auch 40[22](Juni-Juli 1879): „Gegen die geheuchelte Verachtung der nächsten Dinge und deren wirkliche Vernachlässigung (rohe Auffassung)" (KSA8, S.583). Selbst im Lachen, in der Empfänglichkeit für das Komische, so Nietzsche in MA 169, komme die Erbschaft einer uralten Vergangenheit zum Ausdruck: „Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess [...], so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde, zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, — der Mensch lacht." MA 471. Als „Erbstücke der Urväter" werden in Menschliches, Allzumenschliches auch Metaphysik und Religion bezeichnet. In MA 5, von dem schon in Anmerkung 95 die Rede war, macht sich Nietzsche jene physiologische Deutung des „Gottesglaubens" zu eigen, die er in Lubbock und Tylor gefunden hatte. Er behauptet nämlich, daß „im Traume [...] der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen" meinte. Freilich „ohne den Traum hätte [der Wilde] keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden" und „Metaphysik" und „Geisterglaube" wären ihm fremd geblieben. Mit solchen Behauptungen folgt Nietzsche, wie D. S. Thatcher gezeigt hat („Nietzsche's Debt to Lubbock", a.a.O. ,S. 297 ff.),J. Lubbock: DieEntstehung der Civilisation, a.a.O., S. 179 f. Vgl. hierzu T. Achelis: „Die Theorie der Seele auf ethnologischer Basis", in: Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 9 (1885), S. 302-323.

Historie und Völkerkunde

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verursache. Dabei trete ein Erstaunen ein, das uns in die seit langem überwundene Epoche des Animismus zurückwerfe („als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei"), und zugleich entstehe der Glaube „an eine [...] wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung" dessen, was uns überrasche. Noch heute, bemerkt Nietzsche, seien „wir [...] gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung" 143 . . In diesem Zusammenhang denkt Nietzsche auch über die Idealisierung der Kindheit nach — wiederum eine alte „Mythologie", welche, wie Tylors „uralte Denkmäler barbarischen Denkens", andauernde Spuren in der Verhaltensweise der Zeitgenossen hinterlassen hat: Das Kinder-Himmelreich. — Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus, wie das Glück der Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. Wenn das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiss möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wenn der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiss möglichst fern von unserem Alter, an den Gränzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der Anblick der Kinder, durch den Schleier dieses Mythus' hindurch, das grösste Glück, dessen er theilhaftig werden kann [...], 144

Die Mentalitäten aller Epochen seien allenthalben mit „Nachklängen" (MA 342) vorgeschichtlicher Zeiten durchwoben. In seiner Sehnsuchtnach der Kindheit (fast ein Äquivalent der „verlornen Volkstümlichkeit") oder nach einer zukünftigen Glückseligkeit, unterscheide sich der „cultivirte Mensch" nicht von dem „Wilden", da er noch immer jenem „allzuscharfen Accentuiren" anhänge, das seit je die Mentalität der Primitiven auszeichne. Nur aus Bedrängnis und Dürftigkeit entstehe die Neigung, „dem Leben die tiefste Bedeutung [zu] geben", ein Atavismus, an dem der ,moderne Mensch' zähe festhalte: „Es giebt eine starke Neigung, uralt angeboren, die Abstände zu übertreiben, die Farben zu stark aufzutragen, das Glänzende als das Wahrscheinlichere zu nehmen."145 Dem „allzuscharfen Accentuiren" stellt Nietzsche die „Nüchternheit aus Mässigung", d. h. eine „strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit [...], überhaupt An-sich-halten des Gefühls und Schweigsamkeit" gegenüber 146 . In „Menschliches, Allzumenschliches" wird, beiläufig bemerkt, der Gedanke der „Mässigung" als des Gegensatzes zu einer noch zurückgebliebenen „Stufe der

MA 145. Zur „Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung", die die moderne Wissenschaft „nicht wesendich zu brechen vermag", siehe auch 23[150], MA 16 u. 271, VM 9. 1 4 4 W S 265. In einer Vorstufe zu 17 [30] (Sommer 1876) bemerkt Nietzsche: „Es ist zu erklären, weshalb die Kindheit und Jugend idealisirt wird. Die Menschen werden meistens unfreier" ( K S A 1 4 , S. 587). 1 « 23[133] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 451. "6 MA 195 u. 244, V M 326. 143

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I. Kapitel: Basel, Herbst 1875

Cultur", die bloß „das Große und E x t r e m e zu schätzen" wisse 1 4 7 , auch anhand literarischer Bezüge entwickelt. Im Aphorismus 3 0 0 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" greift Nietzsche nämlich (ohne Hinweis auf seine Quellen) nicht nur auf Hesiod zurück ( π λ έ ο ν ήμισυ

παντός)148,

sondern wahrscheinlich auch auf jene

Stelle, in der Gracian (Aph. 170) „jenes pikante P a r a d o x o n " aus „ W e r k e und T a g e " übernimmt: [Nietzsche] Inwiefern auch im Guten das Halbe mehr sein kann als das Ganze. — Bei allen Dingen, die auf Bestand eingerichtet werden und immer den Dienst vieler Personen erfordern, muss manches weniger Gute zur Regel gemacht werden, obschon der Organisator das Bessere (und Schwerere) sehr gut kennt: aber er wird darauf rechnen, dass es nie an Personen fehle, welche der Regel entsprechen können, — und er weiss, dass das Mittelgut der Kräfte die Regel ist. — Diess sieht ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer, Wunder wie sehr er im Rechte und wie seltsam die Blindheit der Andern sei.

[Gracian] Bei allen Dingen stets etwas in Reserve haben. Dadurch sichert man seine Bedeutsamkeit. Nicht alle seine Fähigkeiten und Kräfte soll man sogleich und bei jeder Gelegenheit anwenden. Auch im Wissen muß es eine Arriergarde geben, man verdoppelt dadurch seine Vollkommenheiten. Stets muß man etwas haben, wozu man bei der Gefahr eines schlechten Ausganges seine Zuflucht nehmen kann. Der Entsatz leistet mehr als der Angriff, weil er Wert und Ansehen hervorhebt. Der Kluge geht stets mit Sicherheit zu Werke, und auch in der hier betrachteten Rücksicht gilt jenes pikante Paradoxon: .Mehr ist die Hälfte als das Ganze'.

„Es ist eine Stufe der Cultur, das Große und Extreme zu schätzen, den großen Menschen, die stärkste Produktivität, das wärmste Herz. Aber um die Welt zu begreifen, muß man zur höheren Stufe kommen, daß das Kleine und Unscheinbare wichtiger in seinen Wirkungen ist ζ. B. die gebundenen Geister usw." (23[169], Ende 1876-Sommer 1877; KSA 8, S. 465). 148 "Werke und Tage, 40. Siehe hierzu F. Seiler: Das deutsche Lehnsprichwort, Halle 1921, S. 156. Zu Gracian vgl. F. Overbecks Brief an Nietzsche vom 13. Oktober 1878 (KGB II 6/2, S. 982) und F. Nietzsches Brief an H. Köselitz vom 20. September 1884 (KGB III/l, S. 535). 147

Anhang zum I. Kapitel: Nietzsche und das Problem der Vererbung in der damaligen Biologie Das Interesse an Überbleibseln und Rudimenten wurde in der deutschen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch durch die Schriften Darwins und Haeckels und die Forschungen über Anpassung, Vererbung und die Beziehungen zwischen Ontogenese und Phylogenie geweckt. In der Biologie der 60er und der frühen 70er Jahre herrschte fast unangefochten die auch von Haeckel vertretene Uberzeugung vor, daß erworbene Eigenschaften vererbbar seien (Theorie der „progressiven Vererbung"). Unhaltbare Behauptungen („So sind ζ. B. in gewissen Familien sechs Finger an jeder Hand erblich vorhanden ") 1 und abwegige Theorien („nicht blos die normalen Zustände", sondern auch „Monstrositäten [können] durch mehrere Generationen" sich erhalten)2 waren in Umlauf—Vorstellungen, die schon in der Biologie der 80er Jahre, welche sich bereits dem Studium von Protoplasmastruktur und Zellkernteilung zuwandte, jede Glaubwürdigkeit verloren. Nietzsche empfing die Anregung, philosophisch über Atavismen und „Ueberreste" (MA 8, VM 223) nachzudenken, nicht nur von Seiten der Ethnologen, deren Werke er damals las, sondern ebenso durch die Beschäftigung mit einer Biologie, die die Idee einer erblichen Übertragung von psychischen Überbleibseln und atavistischen Sittenregeln vertrat und sogar vom „unbewußten Gedächtniss der Lebensmoleküle" sprach. Aphorismus 43 („Grausame Menschen als zurückgeblieben") von „Menschliches, Allzumenschliches" handelt von „Menschen, welche [...] uns als Stufen früherer Culturen gelten", und in denen eine Phase der Gattungsentwicklung sichtbar werde, die ansonsten „im Verlaufe der Vererbung" seit langem überwunden sei, wenngleich ihre Spuren weiterhin latent vorhanden sind. An dieser Stelle macht Nietzsche deutlich, in welchem Sinne „Physiologie" und „Entwickelungsgeschichte der Organismen" (MA 10) zur Analyse der moralischen Phänomene beizutragen vermögen:

1

2

E. Haeckel: „Ueber die Entwicklungstheorie Darwins", in: Gesammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, 1. Heft, Bonn 1878, S. 12. O. Schmidt: Descendenzlebre undDarwinismus, Leipzig 1873, S. 152 f. Vgl. A. Orsucci: Dalla biologia cellulareallescienzedellospirito. Aspettideldibattito sull'' individualitä nell'Ottocento tedesco, Bologna 1992, S. 127-138.

54

Anhang zum I. Kapitel

Grausame Menschen [...] zeigen uns was wir Alle waren, und machen uns erschrecken [...]. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen.

Als Nietzsche an „Menschliches, Allzumenschliches" arbeitete, las er auch O. Schmidts Werk „Descendenzlehre und Darwinismus", das größtenteils in einer Darstellung von Haeckels Theorien und vor allem seines „biogenetischen Grundgesetzes" besteht, dem zufolge „der Embryo der höhern Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere durchlaufe."3 In Schmidts Monographie findet er die in „Menschliches, Allzumenschliches" übernommenen Ausführungen über die „Ontogenie" als Rekapitulation des phylogenetischen Prozesses: Indessen besteht die Thatsache des Parallelismus der individuellen Entwickelung mit der systematischen Reihe, der das Individuum angehört [...]. Obwohl die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse entsprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie zurückzuführen usw. 4

In den 80er Jahren kam es in der Biologie zu einer tiefgreifenden Wende. Dank der von E. Strasburger und W. Flemming, von O. Hertwig und W. Roux durchgeführten Untersuchungen über Protoplasma und Kernteilung begann man zu verstehen, „dass die Substanz der Zelle nicht homogen ist, sondern Structurverhältnisse haben [...] muss."5 Viele Biologen behaupteten nun gegen Haeckel, daß die Zelle nicht länger als „eine bloße Summe individualisirter Theile wie der Krystall oder [...] jedwede anorganische Masse" aufgefaßt werden könne 6 . Mit seiner „Generellen Morphologie der Organismen" (Berlin 1866) hatte Haeckel in erster Linie „das weitverbreitete Dogma [abwerfen wollen], dass das Leben etwas ganz Besonderes, absolut von der leblosen Natur Verschiedenes und

3 4

5 6

O. Schmidt: Descendenzlehre und Darwinismus, a.a.O., S. 49. Ebd., S. 50-52. Vgl. dazu auch S. 196. Auch der Terminus „Erinnerung" in dem Sinne, wie er in MA 43 erscheint, gehört zu Schmidts Vokabular, der ζ. B. schreibt: „Wir dürfen [die] frühesten Entwickelungsvorgänge am Amphioxus als eine Erinnerung an die Wurzel des Wirbelthierstammes ansehen" (ebd., S. 233). Auf das in MA 43 behandelte Thema kommt Nietzsche in der Notiz2[146] (Herbst 1885-Herbst 1886; KSA 12, S. 139) zurück, wo vom „Werden des Organismus als einfem] Aus- und Fortdenken, als ein[er] Rückerinnerung" die Rede ist. Die Ontogenie sei eine „RückVergegenwärtigung". Mit diesem Begriff folgt Nietzsche ebenfalls O. Schmidt, bei dem es heißt, „dass die Entwicklungsgeschichte des Individuums die Geschichte der Art vergegenwärtige." (Descendenzlehre und Darwinismus, a.a.O., S. 173) W. Flemming: Zellsubstanz, Kern undZelltheilung, Leipzig 1882, S. 11 f. L. Dressel: Der belebte und der unbelebte Stoff nach den neuesten Forschungs-Ergebnissen, Freiburg i. Β. 1883, S. 91. Zu diesem Thema im allgemeinen vgl. A. Orsucci: Dalla biologia cellularealle scienze dello spirito, a.a.O., S. 138-202; ders.: „Ethik und Biologie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Anmerkungen zu Simmeis,Einleitungin die Moralwissenschaft'u, in: Simmel Newsletter 3, 1 (1993), S. 54 ff.

Anhang zum I. Kapitel

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von ihr Unabhängiges sei"7. Die „Molecularphysiologie" der 80er Jahre arbeitete dagegen die Besonderheit der Lebensprozesse heraus, d. h. die Eigenart jener Anlagen, die Wachstum und phylogenetische Vervollkommnung der Organismen bewirken. Ein Werk, in dem die Anschauungen der neuen Forschungsrichtung dargelegt werden, ist C. Nägelis gegen Darwins Selektionstheorie gerichtete „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre" (München und Leipzig 1884). Nägeli setzt der Ansicht Haeckels und Darwins, „dass ein Organismus bloss unter dem Einfluss von äusseren Ursachen sich verändern könne" 8 , seine „Idioplasma" Theorie entgegen, nach der das Entscheidende in der Evolution der Lebewesen die zunehmende Komplexität von „strangförmigen Structuren" und „Gruppen von Micellreihen" ist, die im Zellplasma enthalten seien: Wir müssen uns also vorstellen, dass das Idioplasma die Anlagen für verschiedene Organe in ähnlicher Weise zur Entfaltung bringe, wie der Klavierspieler auf seinem Instrument die auf einander folgenden Harmonien und Disharmonien eines Musikstückes zum Ausdruck bringt. Derselbe schlägt für [...] jeden [...] Ton immer wieder die nämlichen Seiten an. So sind im Idioplasma neben einander liegenden Gruppen von Micellreihen gleichsam Saiten, von denen jede eine andere elementare Erscheinung darstellt [...]. Ich denke mir also die Merkmale, Organe, Einrichtungen, Functionen, die alle uns nur in sehr zusammengesetzter Form wahrnehmbar sind, im Idioplasma in ihre wirklichen Elemente zerlegt. 9

Mit dem die Biologie der 80er Jahre beherrschenden Thema der Molekularstrukturen, die als „innere Ursachen" die stammesgeschichtliche Entwicklung leiten, setzte sich 1886 auch Nietzsche auseinander, als er auf Nägelis Werk stieß. Dessen gegen Darwin gerichtete Hypothese und Spekulationen finden, wie einem Brief an Overbeck zu entnehmen ist, seinen Beifall10. Spuren dieser Lektüre sind in Abschnitt 230 von „Jenseits von Gut und Böse" nachweisbar, wo Nietzsche eben von „Physiologen" spricht: Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem ,Grundwillen des Geistes' gesagt habe [...]. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu

7

8

E. Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 1, Berlin 1866, S. 164. Siehe dazu J . Sandmann: Der Bruch mit der humanitären Tradition. Die Biologisierungder Ethik bei Ernst Haeckel und anderen Darwinisten seinerZeit, Stuttgart u. New York 1990. C. Nägeli: Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München u. Leipzig 1884, S.

118. 9

Ebd., S. 4 4 f. In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts „übten Nägelis Theorien großen Einfluß auf das Denken der Biologen aus." (E. Rädl: Geschichte der biologischen Theorien, Bd. 2, Leipzig 1909, S. 377) 10 K G B III/3, S. 204. Brief vom 14. Juli 1886.

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Anhang zum I. Kapitel

übersehen oder wegzustossen [...]. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer .Erfahrungen', auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, — auf Wachsthum also [...]. Nietzsches Ausdrucksweise („Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen") ist offensichtlich von der wissenschaftlichen Terminologie Nägelis inspiriert: Alle Zunahme des Idioplasmas ist ein Wachsthum seiner Reihen und geschieht dadurch, dass die Reihe durch Zutritt neuer Micelle zu den schon vorhandenen sich verlängert.11 Die specifische Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch die Configuration des Querschnitts der Stränge ausgedrückt, in welcher die ganze Ontogenie mit allen ihren Eigenthümlichkeiten als Anlage enthalten sein muss [...]. Die Configuration des idioplasmatischen Systems ist [...] der feste Zusammenhang ihrer Micellreihen unter einander. Diese Annahme ist [...] nothwendig, damit bei den ontogenetischen Wachsthumsprocessen einer sich nicht verändernden Abstammungsreihe keine Micelle zwischen den Reihen sich bilden können, weil dadurch die Configuration des Querschnittes gefährdet würde.12 Wir können also die Zunahme und Veränderung des Querschnittes im allgemeinen als eine Vermehrung der Längsreihen betrachten, wobei die neu eingelagerten Reihen allein oder mit älteren Reihen vermischt die neue Anlage bilden [...]. Das Idioplasma besteht also eigendich aus strangförmigen Körpern, welche während jeder ontogenetischen Periode mit dem Wachsthum des Individuums stetig sich verlängern.13 Nietzsche hat, wie es scheint, die Entwicklung der Biologie zwischen den 60er und 80er Jahren genau verfolgt: den Ubergang von der Theorie der Selektion als eines vom Zufall bestimmten Prozesses und von dem Axiom der Gleichartigkeit „der organischen und anorganischen Gestalten" zu der entgegengesetzten Auffassung von der Spezifität der „Protoplasmastrukturen" und Zellanlagen. In „Menschliches, Allzumenschliches" denkt er, u. a. anhand einer Darstellung von Haeckels „biogenetischem Grundgesetz", über Atavismen und Überbleibseln nach. Acht Jahre später erkennt er, wie Aphorismus 2 3 0 von „Jenseits von Gut und Böse" zeigt, daß die Biologen nunmehr auf ganz andere Fragen ihr Augenmerk lenken, und daß in ihren Schriften, die von „idioplasmatischen Anlagen" und „Vervollkommnungstrieb", von „inhärentem Fortschritt zur Complication" und „inneren Ursachen" der Evolution 14 handeln, naturwissenschaftliche Argumente

C. Nägeli: Mechanisch-physiologische Theorie, a.a.O., S. 34. 12 Ebd., S. 42 f. Ebd., S. 40 f. Zu Nietzsches Nägeli-Lektüre vgl. A. Orsucci: Dalia biologia cellulare alle scienze dello spirito, a.a.O., S. 172-180; ders.: „Beiträge zur Quellenforschung" in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 378-383. In beiden Texten bleibt jedoch JGB 230 unberücksichtigt. 14 „Die phylogenetische Entwicklung besteht also darin, dass das Idioplasma durch die inneren Ursachen stetig complicirter wird" (C. Nägeli: Mechanisch-physiologische Theorie, a.a.O., S. 181). Und ferner: „Die Lagerung der Micelle in dem [...] primordialen Plasma ist ganz ungeordnet [...]. Mit dem Wachsthum durch Einlagerung von Micellen beginnt die Veränderung durch innere 11

Anhang zum I. Kapitel

57

zu finden sind, die sich gegen die „utilitarischen E n g l ä n d e r " ( J G B 2 2 8 ) und die „modernen I d e e n " ins F e l d führen lassen. Die verschiedenen Problemstellungen und Forschungsrichtungen, die in der Biologie jener J a h r e nacheinander ins Zentrum des Interesses rücken, finden in Nietzsches Aufzeichnungen und Veröffentlichungen nachweisbaren Niederschlag.

Ursachen. Die Micelle ordnen sich in Gruppen, deren Configuration mehr und mehr durch ihre eigene Natur bedingt ist, und dienothwendig zu immer grösseren, aus zahlreicheren und mannigfaltiger geordneten Schaaren bestehenden Micellgruppen führen müssen. Dies ist die Vervollkommnung oder die Steigerung der Zusammensetzung im Idioplasma durch innere Ursachen." (Ebd., S. 116) Nietzsche bezieht sich hierauf auch in der 1886 niedergeschriebenen Notiz 2[92] (KSA 12, S. 106 f.): „dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt."

II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren zur Beherrschung der Natur 1. Die Tyrannei der Sitte in vorhistorischen

Zeiten

Die ethnologischen Forschungen, die das Fortbestehen von Atavismen und Überresten in der modernen Zivilisation nachweisen, verkürzen die Abstände zwischen „Wilden" und „Culturmenschen" auch in einer weiteren Hinsicht. Wenn Tylor die „Ethik oder Moral [als] die Fügung eines Menschen unter die Sitten (ήθο?, mores) der Gesellschaft, zu der er gehört", bezeichnet, folgt daraus, daß die Handlungen der Primitiven ganz und gar nicht unsittlich sein können: Civilisirte Menschen sind geneigt, die Macht der Sitte in der Gestalt des Lebens der Wilden zu unterschätzen, die ihrer Meinung nach ein [...] ungebundenes Leben führen [...]. Es ist aber thatsächlich gerade umgekehrt, so, daß dem Wilden Hände und Füsse in jeder wichtigen Handlung seines Lebens durch die Sitte gebunden sind; was er thun und lassen soll, bestimmt eine traditionelle Regel, die einen so wesentlichen Bestandtheil seiner Natur bildet, daß er nicht einmal auf den Gedanken kommt, anders zu handeln. 1

In dem von Nietzsche gelesenen Werke „Die Anfänge der Cultur" entwickelt Tylor solche Überlegungen allerdings nicht, doch wird das Thema ausführlich von Lubbock behandelt. Dieser stellt nämlich fest, daß „die bei den Wilden üblichen Begrüßungsformeln [...], Verträge und Unterhandlungen nicht nur nicht formlos, sondern im Gegentheil sehr umständlich und cerimoniös" seien. In ihren „Sitten, Gebräuchen und Gesetzen" zeigen sie sich äußerst streng an festgelegte Formen gebunden, denn „jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahllose Regeln beschränkt, die freilich ungeschrieben, aber darum nicht minder bindend sind". Es sei also ganz irrig, zu behaupten, wie es „Culturmenschen" oft tun, daß „der Wilde vor seinen civilisirten Brüdern wenigstens den einen Vorzug einer ungleich größeren persönlichen Freiheit genieße". Tatsächlich sei er „nirgends frei. Ueberall [...] sehen wir ihn im täglichen Leben durch eine Reihe von umständlichen und häufig höchst unbequemen, mit Gesetzeskraft ausgestatteten Sitten, eigenthümlichen Vorrechten und widersinnigen Verboten beeinflußt"2. 1 2

Ε. B. Tylor: Aus der Entwicklungsgeschichte J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, Debt to Lubbock", a.a.O., S. 303 ff.

der Gesellschaft, a.a.O., S. 18. a.a.O., S. 374. Siehe auch D. S.Thatcher: „Nietzsche's

Die Tyrannei der Sitte in vorhistorischen Zeiten

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Auch zu dieser Frage nimmt Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches" Stellung. In den Aphorismen MA 96 und 97 wird gezeigt, wie aus dürftigen Existenzbedingungen, aus einem Zustand von Ohnmacht und Unkenntnis unausbleiblich das stärkste „Gebundensein" an eine Sitte, an ein Herkommen herrühre: Da „die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe", und auch wenn „die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt". Einen ähnÜchen Gedanken finden wir auch im Aphorismus 111, und zwar an einer Stelle, bei der es sich um eine fast wortwörtliche Übernahme der folgenden Passage des Gottesdienst-Manuskripts handelt: Nun beachte man: je reicher der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, umsomehr imponirt ihm das Gleichmass der Natur [...]. Umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern oder sehen wir die jetzigen Wilden, so sehen wir sie auf das stärkste durch das Gesetz, das Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden. Ihm muss die Natur als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als höhere Menschheitsstufe: Gott. 3

Die erste Formulierung der Feststellung, wie geradezu ängstlich sich die „Wilden" an Sitten und Gesetze ihrer Gemeinschaft halten, datiert aus der zweiten Hälfte des Jahres 1875, jener Zeit also, in der Nietzsche seinen ethnologischen Studien nachgeht. In den zitierten Sätzen des Gottesdienst-Manuskripts klingt deutlich jener Abschnitt aus Lubbocks Werk nach („Die bei den Wilden herrschende Tyrannei der Sitte"), worin beschrieben wird, wie die „Wilden" auf den niedrigsten Kulturstufen „beim gegenseitigen Verkehr eine außerordentliche Förmlichkeit" beachten, wie ihre „Begrüßungsformeln, Festlichkeiten [...] und Unterhandlungen [immer] sehr umständlich und ceremoniös" seien4. In diesen Gedankengang kann Nietzsche auch andere Hinweise Lubbocks einbezogen haben. J e mehr die „Wilden", so wird in den Gottesdient-Vorlesungen und später in Aphorismus 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" behauptet, in Naturereignissen nicht eine Gesetzmäßigkeit, sondern vielmehr ein unberechenbares, von launischen und streitlustigen Geistern geführtes Spiel erblicken, desto mehr verschanzen sie sich hinter komplizierten, oft unsinnigen, doch starren und somit beruhigenden Ritualien. Die Auffassung der,Primitiven', wonach „die Natur eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, von Willkürlichkeiten"5 ist, wurde damals von den Ethnologen eingehend behandelt. Bei Lubbock findet Nietzsche unter anderem folgende, in seinem Exemplar markierte Bemerkung:

J 4 5

GDG, S. 7. J. Lubbock -.Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 378. GDG, S. 7. In MA 111 erscheint dieser Satz leicht abgewandelt.

60

II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Wie gering [ein Wilder] von Geistern denkt, zeigt sein Benehmen beim Eintreten einer Sonnen- oder Mondfinsterniß. Der Glaube, daß beide Gestirne lebende Wesen seien, ist sehr verbreitet, daher ist die Annahme begreiflich, daß dieselben bei einer Verfinsterung mitsammen kämpfen oder von bösen Luftgeistern angegriffen werden. Diese Idee erweckt in der Brust des Wilden den uns höchst kindisch erscheinenden Wunsch, der Sonne oder dem Monde seinen Beistand zu leihen. 6 Andere Betrachtungen, deren Gegenstand ebenfalls die .animistische Naturauffassung' ist, entnimmt Nietzsche Hartungs W e r k über die griechische Mythologie. In der Urzeit, als „die ganze Vorstellung vom .natürlichen Hergang' fehlt", habe man, so wird im Abschnitt 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" ausgeführt, jegliche Erscheinung als Auswirkung des Handelns eines unsichtbaren Wesens aufgefaßt: [...] versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. Die Vorstufe zu diesem Passus findet sich im Gottesdienst-Kolleg und lautet, leicht abweichend: [...] bleiben Quellen aus, so sind es wohl Drachen, die das Wasser im Erdboden zurückhalten. Einen Menschen, den plötzlich ein Schlag trifft, hat ein Gott mit dem Pfeil niedergeschossen.7 Diese erste Version, in der von „Drachen" und nicht, wie in „Menschliches, Allzumenschliches", von „unterirdischen Dämonen" die Rede ist, stimmt mit einem Passus bei Härtung überein, dem Nietzsche 1875 wichtige Anstöße für seine Thesen über das „unreine Denken" verdankt: Der Mensch findet sich hier auf diese Erde hergesetzt, machdos gegenüber den Mächten, die von aussen und von innen ihn gewaltsam beherrschen. Er empfindet zwar die Wirkungen, erkennt aber in den seltensten Fällen die Ursachen, welche oft nach vielen Jahrhunderten erst die Wissenschaft zu entdecken vermag. Da steht denn die Phantasie keinen Augenblick an, für jede Wirkung nicht allein eine Ursache, sondern auch einen Urheber zu erfinden, an dessen Existenz nicht gezweifelt werden kann, weil ja der thatsächliche Beweis, die Wirkung, vor Augen liegt [...]. Wenn einen Menschen plötzlich, wie wir sagen, der Schlag trifft, so hat ihn ein Gott mit einem Pfeile todtgeschossen [...]. Und wiederum, weil man das Ausbleiben der Quellen bei anhaltender Dürre nicht erklären konnte, dichtete man Drachen, die das Wasser im Erdboden zurückhalten [...]. So wird die Welt mit Geistern und Göttern bevölkert, und kann der Mensch keinen Gedanken hegen und keinen Finger rühren, ohne dass unsichtbare Mächte entweder anregen oder mitwirken. 8 6

7 8

J. Lubbock: Die Entstehung der Civilisation, a.a.O., S. 192. GDG, S. 7.

J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, Bd. 1: Naturgeschichte

der

heidnischen

Die Tyrannei der Sitte in vorhistorischen Zeiten

61

Sowohl Lubbocks Betrachtungen über Komplexität und äußerste Formalisierung der primitiven Sitten wie auch Hartungs Ausführungen über den Glauben an unberechenbare „Naturmächte" führen Nietzsche um 1875 zu seiner Überlegung, daß ursprünglich „der Mensch [...] die Regel [ist], die Natur die Regellosigkeit"9. Seit dieser Zeit betrachtet Nietzsche die Zivilisation als einen Prozeß, in dessen Verlauf „die Gebundenheit der Geister abnimmt, [...] die Moralität (die vererbte, überlieferte, instincthafte Handlungsweise nach moralischen Gefühlen) ebenfalls in Abnahme" begriffen sei10. Mit der oben angeführten Passage des GottesdienstManuskripts („denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern..."), in der die niedrigsten „Menschheitsstufen" als diejenigen bezeichnet werden, in denen das Individuum „fast automatisch" dem Herkommen unterworfen sei, werden schon 1875 die Reflexionen über die „gebundenen Geister" (mithin über das ganze Problem der „Freigeisterei") eingeleitet. Daneben ist ein Fragment aus dem Herbst 1876 zu erwähnen, in dem der Zusammenhang von ethnologischem Wissen (von der Anerkennung der Bedeutung, die den streng festgelegten Sitten und Konventionen unter den ,Primitiven' zukomme) und dem Thema der „Freigeisterei" definiert wird: „Vorhistorische Zeitalter werden unermeßliche Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte macht." 11 Die zunehmende Erkenntnis der „wirklichen Causalität" habe einen doppelten Effekt. Sie trage einerseits zur Auflösung der Natur-„Mythologien" bei12, bewirke aber andererseits ein Nachlassen der Sittenstrenge, die als feste Barriere gegen das Walten dämonischer Mächte überflüssig werde. In dieser neuen Situation entstehen, nach Nietzsche, die Voraussetzungen für das Auftreten einer neuen Gattung von „Menschen, welche sich in hervorragender Weise vom Ererbt-Sittlichen loslösen, ,gewissen'-los sind", und zugleich „die Natürlichkeiten des Daseins [...] einfach [...], ohne viel reden und falsche Verschönerung" abtun, wodurch der menschliche Verkehr „formloser" und „vor allem viel Energie gespart, Zeit gespart [...] und der ganze Sinn nicht auf diese Äusserlichkeiten gerichtet" werde13. Wenn daher an den Anfängen der Zivilisation die „Wilden" nur „Tyrannei der Sitte" und, um auf Lubbocks Begriff zurückzugreifen, äußerste „Förmlichkeit" im Umgang kennen, werden, so Nietzsche, den „hochentwickelten Menschen" der Zukunft Ernüchterung und „Formlosigkeit" charakterisieren. Religionen, besonders der griechischen, Leipzig 1865, S. 51 -53. Wiederholt weist Härtung darauf hin, daß die Griechen in „eine[r] seltsame[n] Welt ohne natürliche Ursachen und nothwendige Wirkungen" gelebt haben (ebd., S. 147). ZuJ. A. Härtung siehe E. Buchholz: Rede zum Gedächtniss des verstorbenen Direktors Härtung, Erfurt 1868. 9 GDG, S. 7; MA 111. WS 212. Zum „gebundenen Denken" siehe auch 17[98] u. 19[107] (KSA 8, S. 312 u.356). 11 19[89] (Oktober-Dezember 1876); KSA 8, S. 352. Zum Thema des 'Herkommens' vgl. 19[96], 19[97], 23[6], 23[14], 30[69] (KSA 8, S. 353,405,408 u. 534). 12 23[18] (Ende Sommer 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 409. i> 23 [59] u. 23 [129] (Ende 1876-Sommer 1877); KSA 8, S. 424 u. 449.

62

II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

2. Die ursprüngliche

Bedeutung

religiöser

Kulte

Von einigen der Fragen, mit denen sich Nietzsche im Sommer-Herbst 1875 auseinandersetzt und die er sodann in „Menschliches, Allzumenschliches" wieder aufgreift, war schon die Rede. Im folgenden soll ein Aspekt näher betrachtet werden, den Nietzsche in seinem Kolleg über den „Gottesdienst der Griechen" in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, und zwar die Erfassung der ursprünglichen Grundbedeutung religiöser Zeremonien. Vermittels magischer Prozeduren habe der Mensch Macht über die Naturkräfte zu gewinnen sowie Autonomie und Selbstvertrauen zu erlangen versucht. Ein Grundsatz der Ethnologen, die sich für den Sinn von Kulthandlungen interessieren, ist, daß Riten und Zeremonien die ältesten Schichten einer Religion darstellen, die zwar im großen und ganzen unverändert überliefert werden, doch im Laufe der Zeit die verschiedensten Auslegungen erfahren. In den Augen der „Ethnographen" ist es eine unbestrittene Tatsache, dass gewisse religiöse Ceremonien eine erstaunliche Beständigkeit besitzen, indem sie dieselbe Form [...] durch lange Zeiten hindurch festhalten und weit über das Gebiet der historischen Ueberlieferung hinausreichen [...]. In dem langen und wechselvollen Entwicklungsgange, in welchem sich die Religion neuen intellectuellen und ethischen Bedingungen anpasste, hat sich an durch die Zeit geheiligten religiösen Gebräuchen einer der bemerkenswerthesten Processe vollzogen, indem die Form derselben treu und oft sogar sklavisch erhalten blieb, während ihre Natur und Bedeutung die tiefgehendsten Umgestaltungen erfuhr. 1 4

Den methodischen Ansatz, zwischen der „Form" eines Ritus, in welcher sich der religiöse Kern verberge, und den später hinzutretenden Deutungen zu unterscheiden, macht sich Nietzsche 1875 zu eigen. In einer Aufzeichnung, in der einige zentrale Punkte des Gottesdienst-Kollegs festgehalten sind, heißt es: Was die Geschichte eines Cultus innerhalb der Religion betrifft, so steht fest, Ceremonien halten sich zäher als Vorstellungen; so stellen die religiösen Culte der Griechen im Allgem die älteren und ältesten religiösen Vorstellungen dar. W e r von Culten berichtet, erzählt meist von älteren Dingen als wer von Vorstellungen berichtet: Pausanias mehr als Homer selbst. Die Ceremonien bleiben meistens, aber werden nun umgedeutet. J e mehr der Glaube an Naturgesetze überhandnimmt, um so mehr müssen sich die Religionen moralisch-philosophisch sublimiren, und um so mehr müssen die Ceremonien symbolisch umgedeutet werden."

14 15

Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 364. Vor.K. Aus dieser Aufzeichnung geht WS 77 („Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der Körper?") hervor: „In den [...] religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten Dauer [...]. Der Cultus wird wie ein fester WortText immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte."

Die ursprüngliche Bedeutung religiöser Kulte

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Eine Auseinandersetzung mit den religiösen Riten der Hellenen bedeutet also, im Sinne von Nietzsches Unterscheidung von „Ceremonienwesen" und „religiösen Vorstellungen", einerseits archaische Manifestationen der griechischen Kulturgeschichte (Baum-, Steinverehrung usw.) in Betracht zu ziehen, sowie andererseits das allgemeinere Problem der .Urreligion' anzugehen und sich zu fragen, welche Bedürfnisse und Erfordernisse in den ältesten religiösen Formen zum Ausdruck kommen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1875 konzentriert sich Nietzsche immer mehr auf die Ergründung dieser Zusammenhänge. Dank der zu Rate gezogenen Ethnologen und Altertumswissenschaftler kommt er zu einer Einsicht von großer Tragweite: Ursprünglich sei Religion nichts anderes als eine Technik der Beherrschung, ein grandioser Versuch, .Ordnung' in die Natur zu bringen und sich von ihrer Willkür und ihren Zwängen zu befreien. Um die offenkundige Sinnlosigkeit des Naturgeschehens zu bannen, sind unzählige Ceremonien in's Leben gerufen. Allmählich bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den günstigen Verlauf des Naturganges sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Prozeduren-Systems zu garantiren meint. Der Sinn des religiösen Cultus ist, die Natur zu unserem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat [...]. 16

Dieselbe Auffassung des Religiösen erscheint auch in einer anderen Aufzeichnung aus derselben Zeit: Nicht Erkenntniss der Naturgesetze zur Einordnung und Benützung, so wie wir jetzt zur Natur stehen, sondern Bestimmung und Bannung der Natur zu unserem Vortheil ist der Sinn des religiösen Cultus. 17

In einer weiteren, in denselben Monaten niedergeschriebenen Notiz, in der Nietzsche den Ausgangspunkt seiner Überlegungen präzisiert, wird festgestellt: „Die Natur ist willkürlicher als der Mensch, in alten Zeiten. Mittel, ihr beizukommen".18 Ein Schema der in den Gottesdienst-Vorlesungen behandelten Gegenstände macht Nietzsches Interesse für die älteste Bestimmung der Religion, „Ordnung" in die Natur zu bringen, deutlich: So die Religion selbst eine Neigung hat, in Philosophie überzugehen, so verwandelt sich das Ceremonien- und Bilderwesen in Kunst. W o die Kunst zur Herrschaft gekommen ist, ist es gewöhnlich mit der Religion vorbei. Das Gefühl von Symbolischem ist dem Glauben an das Magische feindlich: es macht die Phantasie frei, deutet nur an, denkt absichtlich nicht zu Ende, während die religiöse Ceremonie streng bindend, peinlich genau ist und wenn sie nicht ganz exakt ausgeführt wird, schädlich wirkt. 16 GDG, S. 9. Ähnliche Aussagen finden sich in MA 111. " Vor.K. ι» Vor.K.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Darnach mache ich diese Hauptabtheilungen: A. Mittel und Mittelpersonen zur Kenntniss des Geisterreichs. B. Mittel, die Geister zu binden oder günstig zu stimmen. C. Geschichte des religiösen Cultus.19

3. Die Zauberkünste unterworfener Stämme Unter den Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des Jahres 1875, den .Vorstufen' und ersten Notizen zur Gottesdienst-Vorlesung, befinden sich auch solche, die auf die Lektüre von Tylors Werk zurückgehen. An einer Stelle20 vermerkt Nietzsche: Man glaubte bei den mänadisch Feiern auf dem Parnass tanzte Dionysos im Chore mit, man glaubte die Stimmen der Satyrn und des Tympanon zu vernehmen. Man traut den niederen Schichten, den wildesten u. rohesten Stämmen die Kraft der Zauberer mehr zu, die höheren Kasten fühlten sich darin schwächer. Wem trauen die Griechen den wirksamsten Verkehr mit den Göttern zu? Die Orpheotelesten sind ein verachtetes Volk, aber man braucht sie, die unzählige Bettelpriester. Mysterien sind die abergläub Culte der unterworfenen Schichten, welche die herrschenden mit Angst erfüllen u. allmählich zu sich herüber ziehen. Tylor 113 Das Interessante an dieser Notiz ist, wie Nietzsche, von seinen Quellen ausgehend, zu völlig neuartigen Gedankenverbindungen kommt. An der von Nietzsche angeführten Stelle befaßt sich Tylor nicht mit den Griechen, er berichtet vielmehr von der primitiven „Zauberkunst", von „der symbolischen Magie der niederen Rassen", und schildert, wie verschiedene Völker des Orients gerade den elendsten und verachtetesten Stämmen, die in ihrer Umgebung leben, einen magischen „Verkehr mit Geistern", eine fürchterliche „Geheimkunst" zuschreiben. Es kommt, nach Tylor, nicht selten vor, daß Völker, welche mit der aufrichtigsten Furcht an die Wirklichkeit der magischen Kunst glauben, sich gleichzeitig der Thatsache nicht verschliessen können, dass sie mehr den weniger civilisirten Rassen, als sie selbst sind, angehört und dort mehr zu Hause ist. Die Malayen der Halbinsel, welche die mohamedanische Religion und Civilisation angenommen haben, besitzen diese Vorstellung von den niederen Stämmen des Landes, Stämmen, welche mehr oder minder ihrer eigenen Rasse angehören, aber in ihrem frühesten Zustande verblieben sind [...]. Im südlichen Indien hören wir ferner aus vergangenen Zeiten von hinduisirten Dravidiern, den Sudras von Canara, welche in beständiger Furcht vor den dämonischen Kräften der unter ihnen stehenden Sklavenkaste lebten. In unsern eigenen Tagen leben die dravidischen Stämme des Nilagiri-Distriktes, die Todas und Badagas in Todesfurcht vor den Kurumbas, verachteten und elenden, im Walde lebenden Ausgestossenen, welche aber, wie man glaubt, die Gabe haben, Menschen und Thiere und Schätze durch Zauberei zu vernichten.21 ι» Vor.K. 20 Vor.K. 21 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 112 f.

Magie und natürliche Kausalität

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Nietzsches Bezug auf diese Stelle Tylors ist aufschlußreich. Der klassische Philologe muß, seiner Ansicht nach, bei den Ethnologen in die Schule gehen, um Begriffe, Fragestellungen und Interpretationsmodelle kennenzulernen, die, obschon ursprünglich ganz anderen Forschungsgebieten entnommen, auch für das Studium der Antike von Bedeutung sind. Jene Stelle in Nietzsches Aufzeichnungen, an der von den Orpheotelesten, den berüchtigten „Bettelpriestern", die Rede ist (und bei der es sich möglicherweise um eine Reminiszenz an Piaton, De Republ. II 364 BC handelt), enthält einen Rückgriff auf Tylors Versuch, das Nebeneinander zweier auf verschiedenen Kulturstufen stehender Bevölkerungen zu erklären. Von dem, was Nietzsche bei Tylor findet („die abergläubischen Culte der unterworfenen Schichten, welche die herrschenden mit Angst erfüllen"), geht er vermutlich auch bei weiteren Überlegungen aus. In den einleitenden, später in Aphorismus 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" aufgenommenen Betrachtungen des Gottesdienst-Kollegs wird behauptet, daß das Verhältnis der „Wilden" zur Natur aus einer Übertragung der Beziehungen hervorgehe, die sich in der Koexistenz zweier Stämme ergeben, die an Macht und Kulturentwicklung beträchtliche Unterschiede zeigen: Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz aufzulegen —: und kurz gesagt, der religiöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten?22

Gegen die „unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle Natur", die sich dem Blick des Primitiven „als das Reich der Freiheit, der Willkür der höheren Macht" darstelle, werden dieselben Schutz- und Angriffstechniken angewandt, die sich schon im zwischenmenschlichen Umgang („So wie nun der Mensch den Mensch bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist") als wirksam und zuverlässig bewährt haben: „Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält [...], so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können." 2 ' 4. Magie und natürliche

Kausalität

In ältesten Zeiten habe man die Gewalt des Naturgeschehens („Es fehlt überhaupt jeder Begriff der natürlichen Causalität")24 mit Magie beantwortet. Anfänglich sei also Religion „Zauberei" und bestehe aus einem System von rituellen 22

MA 111; GDG, S. 8 (mit geringfügigen Abwandlungen). 23 Ebd. GDG, S. 6.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Handlungen, durch die man versuche, den Naturkräften den menschlichen Willen aufzuzwingen. Die Aufgabe, immer neue ,Techniken' zu erdenken, um in den Verlauf der Naturprozesse einzugreifen, treibe den .Primitiven' zur Vervollkommnung seines höchst „erfinderischen Denkens". Diese uralten Denkmechanismen, die dem Verständnis der Naturphänomene dienen sollten, indem auch geringfügige Analogien mit Bedeutung belegt und allenthalben Umwandlungen und Metamorphosen aufgespürt wurden, werden nun von Nietzsche mit dem größten Interesse analysiert. Uber die primitive „Unreinheit des Denkens", die sich in der ständigen Suche nach „magischen Causalitäten" manifestiere, schreibt er 1875: „Ähnlichkeit in einem Punkt verbürgt Gleichheit".25 Derselbe Gedanke wird in dem zwischen Ende 1876 und Sommer 1877 niedergeschriebenen Fragment 23 [2] ausgesprochen: Die Menschen setzen das Ahnliche hin als das Gleiche, ζ. B. den Priester gelegentlich als den Gott; den Theil gleich dem Ganzen ζ. B. in der Magie.

Dieser Nachlaß-Text faßt die Ergebnisse einiger von Nietzsche 1875 gelesener Werke zusammen, in denen es um „unreines Denken" und den Glauben an magische Verwandlungen geht. Daß die vage Ähnlichkeit zwischen Priester und Gott sich für den .Primitiven', wie Fragment 23 [2] erklärt, in volle Identität verwandelt, wird von Nietzsche schon in der Gottesdienst-Vorlesung behauptet, und zwar an einer Stelle, in der auch Ausführungen des Orientalisten C. F. Koeppen übernommen werden: [Nietzsche] Aus allem ergiebt sich die ursprüngliche Auffassung des Priesters als einer zeitweiligen Incarnation des Gottes [...]; so wie die tibetanischen Oberpriester in continuirlicher Reihe als Incarnationen Buddhas gelten.26

25

[Koeppen] Es giebt nämlich zwei höchste Priester, zwei oberste Bischöfe der gelben Religion, zwei lamaische Päpste [...]. Mit ihnen beginnt [die] hierarchische Praxis der stätigen ununterbrochenen Incarnation [...]. Dagegen ist Avalökite?vara [...] der geistliche Schirmer und Patron der athmenden Wesen, der Lenker und Regierer der buddhistischen Kirche [...]. Der Oberpriester, in welchem er sich fortwährend verkörpert und welcher demgemäss die Aufgabe und den Anspruch hat [...], die lamaische Kirche zu leiten [...], gewinnteben

Vor.K. Vgl. dazu das folgende Beispiel, das Nietzsche in G D G anführt: „Stärke im Erfassen von Aehnlichkeiten und Hang dazu. W i e bringt man wohl die Göttin des Oelbaums und eine Nachtgöttin zusammen und hält sie dann für eins?—wie es in Attika geschehen sein muss. Die Nachtgöttin hat den Mond als Auge, sie sieht und leuchtet im Finstern — die Göttin des Oels auch, weil sie auch im Nachtlicht, als Oel vorhanden ist." (GDG, S. 5 f.) G D G , S. 87.

Magie und natürliche Kausalität

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dadurch eine viel nähere Beziehung zur Creatur, zur Wirklichkeit [...], als der incarnirte Buddha der Beschauung [...].27 Im Fragment 23 [2] ist sodann die Rede vom magischen Denken und seiner Tendenz, den Teil mit dem Ganzen zu verwechseln. Nietzsches Interesse an diesem Thema ist durch eine beachtenswerte Notiz aus dem Jahre 1875 dokumentiert: Einfluss auf entfernte Personen übt man, indem man auf etwas mit ihnen nah Zusammenhängendes wirkt — Kleider, abgeschnitt Stücke Haar, Nägel. Man verbindet 2 Dinge mit einer Schnur, der Doktor sich mit dem Patienten. Die Bürger von Ephesus ein Seil 7 Stadien lang, von ihrer Mauer bis zum Tempel der Artemis, um sich dadurch unter ihren Schutz gegen den Angriff des Croesus zu begeben. Die Kylonier, welche eine Schnur an die Statue der Göttin banden, als sie ihr Asyl verliessen und sich zum Schutz daran klammerten, als sie unheiligen Boden überschritten Omina: im kläglichen Ton der Eule liegt Ahnung des Unheils, im Flug des stolz dahinschiessenden Habichts Ahnung des Sieges.28 Die Stelle ist ein Resümee des Abschnitts bei Tylor, in dem die „symbolische Magie" und die „Zauberkünste" geschildert werden, durch welche die .Primitiven' auf abwesende Personen und auf den Lauf der Dinge einzuwirken trachten: Der Hauptschlüssel zum Verständnis der schwarzen Kunst besteht darin, dass wir sie als beruhend auf der Ideenassociation betrachten, einer Fähigkeit, welche die Grundlage für die menschliche Vernunft, aber auch [...] für die menschliche Unvernunft bildet. Der Mensch, der auf einer noch unentwickelten geistigen Stufe gelernt hat, in Gedanken jene Dinge zu verbinden, von denen ihm die Erfahrung gezeigt hat, dass sie wirklich in Zusammenhang stehen, ist weiter gegangen und hat irrthümlich diese Verrichtung umgekehrt und den Schluss gezogen, dass eine Verbindung in Gedanken nothwendig einen ähnlichen Zusammenhang in der Wirklichkeit bedinge [...]. Durch eine ungeheure Menge von Zeugnissen aus dem wilden, barbarischen und civilisirten Leben sind wir in den Stand gesetzt, magische Künste, welche daraus entstanden sind, dass man einen ideellen Zusammenhang für einen reellen hielt, aus der niederen Cultur, der sie entstammen, bis hinauf in die höhere Cultur, in der wir sie finden, zu verfolgen. Dahin gehören die Kunstgriffe, durch welche man auf entfernte Personen einen Einfluss üben kann, indem man auf etwas mit ihnen in nahem Zusammenhang Stehendes wirkt — ihr Vermögen, Kleider, welche sie getragen haben, und namentlich abgeschnittene Stücke des Haars und der Nägel.29 Die beschriebenen Abwehrtechniken, die Selbsterhaltung und Schutz gegen das ungünstige Fatum und die Gewalt der Natur gewährleisten sollen, sind sowohl den geringgeschätzten primitiven Völkern wie den allgemein gepriesenen Hellenen vertraut. Nietzsches Aufzeichnung fußt auch hinsichtlich dieses Aspektes auf Tylors Darstellung: 27 C. F. Koeppen: Die Religion des Buddha, Bd. 2, Berlin 1859, S. 119-128. 28 Vor.K. 29 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 115.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Der einfache Gedanke, zwei Gegenstände mit einer Schnur zu verbinden, und dann anzunehmen, dass diese Vereinigung einen Zusammenhang herstelle oder einen gegenseitigen Einfluss herbeiführe, ist in verschiedener Weise in der Welt verarbeitet worden. In Australien befestigt der eingeborne Doctor ein Ende eines Strickes an das schmerzende Glied des Patienten und behauptet dann durch Saugen an dem andern Ende zur Erleichterung desselben Blut zu saugen [...]. Die griechische Geschichte zeigt eine ähnliche Vorstellung, wenn die Bürger von Ephesus ein Seil sieben Stadien lang von ihrer Mauer bis zum Tempel der Artemis führten, um sich dadurch unter ihren Schutz gegen den Angriff des Croesus zu begeben, und in der noch merkwürdigem Erzählung von den Kyloniern, welche eine Schnur an die Statue der Göttin banden, als sie ihr Asyl verliessen, und sich zum Schutze daran klammerten, als sie unheiligen Boden überschritten; aber durch einen unglücklichen Zufall zerriss die Sicherheitsschnur, und sie verfielen erbarmungslos dem Tode [...]. Die Zahl der magischen Künste, bei denen der Zusammenhang nur auf Analogie oder Symbolismus beruht, ist endlos im ganzen Verlaufe der Civilisation [...]. Die Kunst, aus dem Anblicke oder dem Begegnen von Thieren Omina zu entnehmen, wozu auch das Augurium gehört, ist solchen Wilden wie den Tupis in Brasilien und den Dajaks auf Borneo geläufig, und erstreckt sich aufwärts durch die Zeiten der classischen Civilisation hindurch. Die Maoris mögen eine Probe von dem Charakter ihrer Satzungen geben: sie halten es für unglücklich, wenn eine Eule während einer Berathung schreit, während ein Kriegsrath in seiner Aussicht auf Sieg bestärkt wird, wenn ein Habicht über seinen Köpfen hinfliegt; ein Vogelflug nach der rechten Seite des Kriegsopfers ist günstig, wenn die Dörfer des Stammes in jener Richtung liegen, aber wenn das Omen in die Richtung des Feindes zeigt, so muss man den Krieg aufgeben [...]. So bedeutet für den Neger in Altcalabar der Schrei des grossen Königsfischers Glück oder Unglück, je nachdem er ihn von rechts oder links hört. Hier haben wir [...] die Ankündigung eines Unheils durch den kläglichen Ton der Eule, und die Ahnung des Sieges aus dem Fluge des stolz dahinschiessenden Habichts, ein Gedanke, welcher im alten Europa den Raubvogel für den Krieger zum Vorzeichen einer Eroberung machte.30 Das „unreine Denken" des Magiegläubigen mißt belanglosen Analogien die größte Bedeutung bei, stellt phantastische Äquivalenzen fest, deutet die ganze Realität als immerwährende Metamorphose, als großartiges und furchterregendes Schauspiel, das unzählige „Naturgeister" mit ihren Verkleidungen und Transformationen inszenieren: „Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, — dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross."31 30

31

Ebd., Bd. 1,S. 116-120. Daß die Griechen, mit „allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen" (VM 220), auch sehr abergläubisch waren, wird Nietzsche auch durch W. A. Becker vermittelt. In einer nachgelassenen, bisher unveröffentlichten Aufzeichnung heißt es: „Zauberei 2. Char. 1325. 245. III 60" (Vor.K.) An der ersten der hier von Nietzsche vermerkten Stellen schreibt Becker: „Es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass der Glaube an einen schädlichen Zauber gewisser Blicke sich bis auf unsere Zeit vererbt hat und der όφθαλμός βάσκανος der Griechen als mal-occbio und mauvais-oeil noch immer seine Rolle spielt." (W. A.Becker: Charikles, Leipzig 1854, Bd. 1,S. 325). An der letztgenannten Stelle heißt es: „Allgemeiner war der Aberglaube, dass es Leute gebe, welche durch allerhand geheime Künste, durch Zaubergesänge, Knüpfung magischer Knoten u. dgl. Anderen zu schaden und namentlich auch Krankheiten hervorzubringen vermöchten [...]" (Ebd., 3. Bd., S. 59 f.). Beckers Werk befindet sich in Nietzsches Bibliothek. MA 111; GDG, S. 8. Zu der „Einkörperung" des „Geistes desTodten" in den „Weihebaum" siehe auch GDG, S. 11.

Magie und natürliche Kausalität

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Auf diese Weise illustriert Nietzsche im Aphorismus 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" (und in der Gottesdienst-Vorlesung) die Thesen über die Verwandlung der „Geister", die „Einkörperungen" und die „Baumverehrung", von denen er 1875 durch Tylor und Boetticher Kenntnis erhält. Dem „unreinen Denken " gemäß, so eine auf den Ergebnissen der zeitgenössischen Ethnologie fußende Stelle aus dem Gottesdienst-Kolleg, haben sich die „Seelen" der Vorfahren in bestimmten Bäumen „eingekörpert" (dieser auch in MA 111 vorkommende Ausdruck ist der von Tylor gebrauchte Terminus technicus): [Nietzsche] Der Übergang ist leicht gemacht, man darf nämlich nicht alle Baumverehrung der Welt in die eine Kategorie bringen: dass ein heiliger Baum einen Geist habe, der in ihm eingekörpert ist oder ihm anhaftet. Eine weitere Stufe ist die: der Baum kann der Wohnsitz, das Obdach des Geistes sein; unter diesen Begriff fallen die Bäume, welche man mit Gegenständen behängt, die für die Gefässe von Krankheitsgeistern gelten. Zwischen dem heiligen Baum und dem heiligen Hain giebt es, wenn man sie als Aufenthaltsort von Geistern betrachtet, keinen Unterschied. Dann ist der Baum als Opferstätte oder als Altar ein deutlicher Platz, wo man die Gaben für ein geistiges Wesen aussetzt, das ein Baumgeist sein kann, aber vielleicht auch eine Lokalgottheit. Der Schatten eines einzelnen Baums oder das geheiligte Gehege eines Haines bildet einen natürlichen Ort der Verehrung, für manche Stämme den einzigen Tempel, den sie kennen, für viele den ältesten Tempel. Endlich kann der Baum auch bloss ein geheiligter Gegenstand sein, der von einer Gottheit beschützt wird, mit ihr in Verbindung steht, sie symbolisch darstellt: es ist ein bloss idealer Zusammenhang.'2

«

GDG, S. 36.

[Tylor] Aber keineswes darf die ganze Baumverehrung der Welt ohne Unterschied in diese eine Kategorie geworfen werden. Nur auf so bestimmte Zeugnisse hin, wie wir sie beigebracht haben, darf man annehmen, dass ein heiliger Baum einen Geist habe, der in ihm eingekörpert ist, oder ihm anhaftet. Ueber diese Grenze hinaus giebt es aber noch eine weitere Stufe von animistischen Vorstellungen, die mit der Baum- und Waldverehrung verknüpft sind. Der Baum kann auch der Wohnsitz, das Obdach oder der Lieblingsaufenthalt des Geistes sein, und unter diesen Begriff fallen die Bäume, die man mit Gegenständen behängt, welche für die Gefässe von Krankheitsgeistern gelten. Zwischen dem heiligen Baum und dem heiligen Hain herrscht, wenn man sie als Aufenthaltsort von Geistern betrachtet, kein eigendicher Unterschied. Der Baum ist als Opferstätte oder Altar ein deutlicher und geeigneter Platz, wo man die Gaben für irgend ein geistiges Wesen aussetzt, das ein Baumgeist sein kann oder vielleicht auch eine Lokalgottheit, die dort lebt, gerade wie ein Mensch leben würde, der seine Hütte und ein Stück Land darum besitzt. Der Schatten eines einzelnen Baums oder das geheiligte Gehege eines Haines bildet einen Ort, der von der Natur selbst zur Verehrung bestimmt zu sein scheint, für manche Stämme der einzige Tempel, den sie kennen, für viele andere wahrscheinlich wenigstens der älte-

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

ste. Endlich kann der Baum auch blos ein geheiligter Gegenstand sein, der von irgend einer Gottheit beschützt wird, mit ihr in Verbindung steht oder sie symbolisch darstellt.33 Das magische Denken der .Primitiven', das überall Metamorphosen und Verwandlungen im Gange sieht, besteht auch bei den Hellenen fort, die keine Schwierigkeiten bei der Vorstellung haben, daß aus den Toten „Baumgeister" werden. Auch über diesen Aberglauben wird in den Gottesdienst-Vorlesungen, unter Rückgriff auf Boettichers Betrachtungen, berichtet: [Nietzsche] Ebenfalls sind natürlich die Verwandlungen in Bäume, d. h. in Baumgeister, uralte Vorstellungen, die die Griechen keineswegs mitzubringen brauchten. Dies hängt mit dem Grabesbaum zusammen.34

33

34

[Boetticher] Lebte Gottes Geist und Wesen im Baum, war dieser Bild und Wohnhaus desselben zugleich, so ist die Verwandlung eines Sterblichen in die Gestalt des Baumes wie die Aufnahme seiner Seele in dieses Gotteshaus nichts weiter als ein jener Phase des Baumkultus ursprüngliches und ihr angehörendes Bild der Transfiguration, der Verwandlung in die Gottesgestalt [...]. Die Seelen der Reinen Abgeschiedenen [...] dauern in dem Baum, der durch Samen und Pflänzlinge in seiner Gattung ein ewig lebender ist, als Baumseelen auch ewig-lebend weiter [...]. Empedokles noch glaubte, dass es für einen Menschen von hohen Tugenden nur zwei selige Loose nach dem Tode gebe: entweder in einen Lorbeerbaum oder in einen Löwen transfigurirt zu werden [...]. Setzt der hochalte Glaube aber den Baum in solche Verbindung mit dem Leibe und Leben des Menschen, dass er die entseelte Hülle nicht in Staub vergehen, sondern in ein ewig lebendes, den nachkommenden Geschlechtern Segen spendendes Gewächs aufnehmen lässt, oder geradezu aus dem Grabe und Leibe des Bestatteten einen Baum aufspriessen [...] lässt, so erklärt es sich,

Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 223. Zu den „Vorstellungen von der Seeleneinkörperung" bei den Primitiven vgl. auch ebd., Bd. 2, S. 1 5 3 , 1 6 0 u. 222. G D G , S. 38. Vgl.dazu Μ 31: „In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) [...]."

Das religiöse Symbol als Unterpfand

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warum von Urzeit an kein Grab ohne Baum [...] zu denken ist, wie es ein Staatsgesetz in Hellas ward, jedes Grab mit solcher Pflanzung zu versehen und als Schutz derselben den Gottesfluch auf den Verletzer zu setzen.35

5. Das religiöse Symbol als Unterpfand „Der religiöse Cultus ist auf das Erkaufen oder das Erbetteln der Gunst der Gottheiten zurückzuführen." Diesem Fragment 5[150] aus Frühling-Sommer 1875 sind die fast gleichzeitigen Reflexionen über den Symbolbegriff im Manuskript der Gottesdienst-Vorlesung an die Seite zu stellen. Ursprünglich, wird hier behauptet, entstehen religiöse Bräuche und Zeremonien keinesfalls aus dem Bedürfnis, sich zu läutern und der Allmacht der Götter zu unterwerfen, sondern vielmehr aus dem Streben, ihrer Willkür eine Grenze zu setzen, sie gleichsam zu zwingen, sich wohlwollend und hilfsbereit zu zeigen. In dem Versuch, das unberechenbare und fürchterliche Walten der Götter durch den viel weniger mächtigen Willen der Menschen zu binden, liege das Wesen der Religion und ihrer „magischen" Rituale. Die Erfahrung des Alltagslebens diene den „Wilden" als Grundlage, wenn es darum gehe, den Verkehr mit den Göttern zu regeln. Es sei immer möglich, die Führer eines benachbarten und feindseligen Stammes zu empören und sie zu einem unbedachten, für sie schädlichen Angriff zu provozieren, indem man gefangengehaltene Geiseln verletzt oder sonstige Pfänder eines Friedensvertrages mißhandelt, die für die Fremden einen hohen „Affektionswerth" besitzen. Eine bloß symbolische Handlung könne also beachtliche Auswirkungen haben: „Jemand Pfänder, bei einem Vertrage, geben heisst ihm etwas in die Hand geben, woran er uns schädigen kann, ohne dass er uns selber in der Hand hat."36 Die Einbehaltung eines Pfandes sei also geeignet, Reaktion und Verhalten des Feindes zu beeinflussen. Diese Erfahrung führe den „Wilden" zu der Frage, ob es nicht möglich sei, durch ähnliche Prozeduren, die eine solche „Wirkung in der Ferne" hervorrufen, auch den Willen unsichtbarer „Naturgeister" unter Kontrolle zu halten. Gottesdienstliche Zeremonien seien also Handlungen, durch die Götter gezwungen werden sollen, den von ihnen eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen: Es finden Verträge statt, und als Zeichen derselben hinterlassen die Götter Unterpfänder in den Händen der Menschen: Stücke Holz, Steine u.s.w. Alles Gute, was man diesen erzeigt, erzeigt man den Göttern; darin, dass sich die Menschen zu einem bestimmten Cultus der Unterpfänder verpflichten, verpflichten sie nun wiederum den Gott, der es gab, ihnen hülfreich zu sein.37 C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen, a.a.O., S. 21 f. GDG, S. 12. In MA 111 wird diese Feststellung, wenn auch in anderer Form, wiederholt. 37 Ebd. 55

36

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Der Kern dieser Betrachtungen liegt in der Idee, daß für die Primitiven (oder die Alten) religiöse Symbole wirkungsreiche wirksame Unterpfänder seien: Aber die grosse Gefahr besteht immer darin, dass man das Unterpfand, σύμβολον, verlieren könnte: damit verlöre man die Hülfe und Macht des verbündeten Gottes. 38 Die Behauptung einer ursprünglichen Gleichsetzung religiöser Symbole mit machtverleihenden Unterpfändern findet Nietzsche jedoch nicht in den ethnologischen Werken von Lubbock, Tylor und Mannhardt, sondern in der Schrift des klassischen Philologen J. A. Härtung, der im ersten Band seiner mythologischen Untersuchungen, der den bezeichnenden Titel „Naturgeschichte der heidnischen Religionen, besonders der griechischen" trägt, an verschiedenen Stellen die Ansicht erläutert und auseinandersetzt, daß im Altertum „Seher und Wahrsager" nicht „müssige, das Uebersinnliche in Bildern schauende Betrachter" gewesen seien. Die gottesdienstlichen Zeremonien seien von ihnen nicht als sinnbildliche Handlungen [verrichtet worden], sondern als wirkungskräftige, Geister bewegende, mitunter sogar bindende, und Gewähr leistende Symbole. Denn Geistern kann man nur mit Geisterkraft begegnen, und das Symbol unterscheidet sich von jedem anderen Bild oder Zeichen eben dadurch, dass es eine Bürgschaft gewähret und ein Unterpfand ist des Bundes, welchen der Gott mit dem Menschen geschlossen hat: dadurch aber gewinnt es im Aberglauben magische Kraft gleich einem Amulet, indem der Geist oder Gott mit seiner Gegenwart und seinen Wirkungen an dasselbe gebunden scheint. Das sind die sogenannten Heilthümer oder Heiligthümer [...]. So wenig aber all diese Symbole, d. h. Unterpfänder, jemals für blosse Bilder gegolten haben, so wenig sind die Götter jemals blosse Allegorien [...] gewesen, sondern von Anfang an lebende Wesen, waltende Dämonen und Geister". So wie an dieser Textstelle, und auch an vielen anderen, das ,Symbol' als „Gewährleistung der Gemeinschaft des Gottes mit der ihn verehrenden Gemeinde", d. h. als Unterpfand bezeichnet wird, dem „eine magische [...] wunderwirkende Kraft" innewohne, definiert Härtung in den einleitenden Abschnitten seiner Studie den Kern der primitiven Religion als eine Art Vertrag: Nun ist [...] die Religion ein Bund mit dem Gott oder ein Vertrag mit unsichtbaren Mächten, und alles was zum Gottesdienste gehört, sei es nun Bild, Reliquie, Fetisch u. s. w. oder Verheissung (Omen) oder heilige, von dem Gott selbst oder seinen Mitdern eingesetzte Ceremonie (Sacrament), oder Gebetsformel, alles das, sag' ich, vertritt die Stelle eines σύμβολον, so dass es demjenigen, welcher daran Theil hat [... ] und es gläubig gebraucht [...], den Schutz des treuen Gottes, mit welchem der Bund geschlossen ist, unter den dabei bedungenen Opfern verbürgt.'10

38 Ebd. 59 J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 57 f. 40 Ebd., S. 10 f. Vgl. GDG, S. 8 f.: der religiöse Kult sei einem „Vertrag zwischen Feinden" analog.

Das religiöse Symbol als Unterpfand

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Zwischen Hartungs mythologischen Studien und den Gottesdienst-Vorlesungen sind auch andere Berührungspunkte nachweisbar. Die antike Religiosität beinhalte, so Nietzsche, kein Streben nach moralischer Vervollkommnung, nach Läuterung der Gesinnung. Sie besteht für ihn (der die ,interpretatio christiana' des Griechentums schroff ablehnt) hauptsächlich aus einem Komplex magischer Rituale, aus der ängstlichen Observanz des ,,Verlauf[s] eines Prozeduren-Systems": „Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter als der Priester."41 In „Religion und Mythologie der Griechen" wird behauptet, religiöse Kulte seien „dynamisch" zu interpretieren, gleichsam als Zeichen eines Konfliktes zwischen widerstreitenden Kräften. „Geister oder Dämonen oder Götter offenbaren sich durch ihr Eingreifen in das Leben der Menschen handelnd, nicht lehrend."42 Ebenso stellen gottesdienstliche Zeremonien, was schon die Ableitung von religio aus ligare deutlich mache45, wirkungskräftige Handlungen, „magische" Machtäußerungen dar. Die Culturgeschichten der Völker liefern genug Beispiele, wie die gottesdienstlichen Ceremonien und Symbole als Zaubermittel gebraucht zu werden pflegen und ihnen eine gleiche Kraft in Bezug auf die Götter zugetraut wird wie der Zauberer seinen Sprüchen (carmina) und Mitteln (medicamenta oder venena) zutraut. Dann ist das Zaubermittel ein Fetisch, in dem gewissermassen ein Dämon steckt, welcher über andere Dämonen Gewalt hat, und der Priester ist nicht besser als ein Schamane oder Hexenmeister, der mit seinen Verrichtungen [...] selbst die Teufel zwingen kann. Da kommt es nun auf ganz genaue Beobachtung alles Vorgeschriebenen an: denn eine einzige Sylbe falsch gesprochen oder ein Versehen in der Verrichtung der Ceremonien macht das Ganze ungiltig oder kann auch Unglück bringen. Darum waren die alten Römer, als Schüler der abergläubischen Etrusker, so peinlich im Sprechen ihrer Gebetsformeln und im Verrichten ihrer Ceremonien. Auf die Gesinnung aber kommt es gar nicht an, mehr darauf, dass der Opfernde oder Betende keinen Schmutz am Leibe habe oder sonst keinen Fehler, durch welchen die Unglücksgeister Eingang finden.44

Das Symbol als Unterpfand, die Gläubigkeit als bloßes Einhalten eines Vertrages, mitnichten als „Gesinnungs"-Tatsache, gar der Priester als „Schamane" — alle diese Thesen bestärken Nietzsche in seinem Bemühen, durch ethnologische Studien ein neues Bild der Antike zu gewinnen. Auch für Härtung hatten, wie etliche Passagen seines Werkes zeigen, Völkerkunde und klassische Philologie viel mehr miteinander zu tun als man damals gewöhnlich würde akzeptiert haben. In religiösen Symbolen in erster Linie Unterpfänder sehen, heiße die Tatsache anzuerkennen, daß in Hellas „die Götterbilder [...] die Bedeutung von Fetischen, Talismanen

ti GDG, S. 9; MA 111. 42 J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie « Ebd., S.3. 44 Ebd., S. 66. Siehe auch S. 70 f.

der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 138-140.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

oder Amuletten, [und] die Ceremonien die Kraft der Magie" haben 45 . Diese Einsicht sei jedoch von „unseren Gelehrten" nicht zu erwarten, welche gewohnt seien, „ein christliches Ellenmass an alles Classische anzulegen"46. Im ganzen gesehen läßt sich behaupten, daß Hartungs Anliegen, in religiösen Verrichtungen vorrangig das Streben nach Machterweiterung, nach Bändigung der Naturkräfte nachzuweisen („Denn was ist Magie anders als wunderbares Einwirken auf Geister, die dazu gezwungen werden, dem Magier zu willen zu handeln?") 47 , den Gedanken sehr nahe kommt, die Nietzsche in Fragmenten aus Frühling-Sommer 1875 entwickelt. In einem wird polemisch behauptet: .Aufklärung' und alexandrinische Bildung ist es — besten Falls! — , was Philologen wollen. Nicht Hellenenthum. 48

Eine Abkehr von der,aufklärerischen' Philologie wird von Härtung schon in den 50er und 60er Jahren befürwortet. Seine Definition des Symbols als Unterpfand gründet auf einer scharfen Auseinandersetzung mit Creuzer und Schelling, mit Welcker und Preller, Männern, denen die Hegemonie einer einseitigen „rationalistischen Behandlung" der Mythen in den Altertumsstudien zuzuschreiben sei. Heyne hat zuerst die Ansicht aufgestellt, dass die Mythologie eine bildliche Sprache sei, in welcher die ersten Lehrer der Menschheit ihre Ideen über Gott und götdiche Dinge, ihre Weisheit und Erkenntniss überhaupt, ausgeprägt hätten. 49

Härtung richtet seine Kritik gegen die mit der Identitäts-Philosophie herrschend gewordene Ansicht von einer reineren Urreligion und einem erleuchteten Urvolke, sodann von einer geschehenen Trübung und Zertrümmerung jener Urweisheit, die sich in den Asiatischen Priesterschaften, in den Mysterien u.s.w. fortgepflanzt habe' 0 .

Ein Beispiel aus Creuzer wird herangezogen, um zu zeigen, daß eine rationalistische Auffassung der wirkungsauslösenden und direkt handlungsbefördenden Symbolik der Antike nicht gerecht werde:

Ebd., S. 85. F. von Hellwald pflichtet Hartungs Meinung bei und stützt sich auf dessen Werk, wenn er zu dem Schluß kommt: „Wir haben uns also die hellenische Religion nicht etwa als einen idealen Cultus der reinen Natur vorzustellen — frei, rein, heiter und kraftvoll" (Culturgescbichte in ihrer natürlichen Entwickelung, Augsburg 1875, S. 251). 46 J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 91. Ebd., S. 68 f. « 5[136] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 75. 49 J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 9. '0 Ebd., S. 9 f. 45

Das religiöse Symbol als Unterpfand

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Das Wort σύμβολου kann nur missbräulich zuweilen für ein beweisendes Zeichen (argumentum, σημεϊον) gebraucht werden: sonst bedeutet es immer ein Recht- und Anspruch-sicherndes Unterpfand, und bezieht sich (wie schon seine Abstammung zeigt) auf einen Vertrag oder BundodereinaufTreuund Glauben beruhendes Verhältniss Zweier [...]. So war auch die tessera hospitalis, welche man σύμβολου nannte, kein blosses Zeichen, womit man das Gastverhältniss nachweisen konnte, sondern zugleich ein Unterpfand, welches dem Reisenden die Aufnahme in dem fremden Haus verbürgte: und von gleicher Art war die tessera der Soldaten in der Schlacht und alles, was nur immer von den Griechen σύμβολου genannt wird.51 Die romantische Ansicht, daß „ der Mythus [...] im Grunde nicht verschieden von der Allegorie", also bloße Abwandlung einer „Uroffenbarung" sei52, habe zu den „missrathenen Versuchen, aus der Religion Philosophie und aus der Philosophie Religion zu machen"53, dem Gemeingut einer ganzen Generation, geführt: Die Schelling, die Creuzer, die Görres, die Schubert u.s.w. waren es, von denen auch alle die weiteren Behauptungen [...] aufgestellt worden sind, von einer ursprünglichen gottähnlichen, sogar auch mit Wunderkraft begabten Menschheit und einer höheren Offenbarung, die mit dem Sündenfall verloren ging, von der aber die Trümmer sich erhalten haben in den Asiatischen Priesterschaften, in den Ueberlieferungen der Pelasger und in den Mysterien, von einer vorhellenischen Zeit symbolischer Dichtung, in welcher noch Poesie, Philosophie und Theologie ungetrennt beisammen lagen.54 Tatsächlich hatte Creuzer die Meinung vertreten, daß in der Symbolbildung eine „alterthümliche bildliche Rede" und „Lehrart", eine Vorstufe des „diskursiven Denkens", des „demonstrativen Vortrages"5' zu erblicken sei: Das reinste Licht der lautersten Erkenntniss muss sich zuvor in einem körperlichen Gegenstande brechen, damit es nur im Reflex, und im gefärbten, wenn auch trüberen Schein, auf das ungeübte Auge falle [...]. Dass vorerst die ältesten Religionstifter ihre Dogmen in wirklichen Bilderwerken hinstellten, dafür sprechen die bestimmtesten Zeugnisse [...]. Jene gesammte Spruchweisheit des alten Orients, und die dem morgenländischen Charakter getreue Lehrweisheit der Griechen, was ist sie anders als ein beständiges Ausprägen inhaltsreicher Bilder?56 Ebd., S. 10. Zur tessera hospitalisv^. F. Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen,Bd. 1, Leipzig u. Darmstadt 1810, S. 34-35. Aber auch andere von Creuzer behandelte Symbole haben nach Härtung (Bd. 1, S. 11) keinesfalls nur eine Zeichenfunktion: „wenn ζ. B. der Epheukranz σύμβολου νίκης Ίσθμιάδος genannt wird, so ist nicht bloss ein beweisendes, sondern auch, gleich einem empfangenen Orden, ein auf gewisse Ehrenrechte Anspruch gebendes Zeichen gemeint: und so ist auch bei Sophokles Phil. 404 σύμβολου λύπης nicht ein Zeichen der Trauer, sondern ein Unterpfand erlittener Kränkung gemeint, welches die damit Begabten dem Philoktet zu Bundesgenossen macht." 52 J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 12 u. 27. » Ehd, S. 13. « Ebd., S. 12 f. 55 F. Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1. Bd, a.a. O., S. 5,20 u. 30. ' Ebd., S. 4 u. 17-19. 51

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Nach Härtung ist der Nachklang dieser Art Mytheninterpretation noch in den grundlegenden Werken Prellers und Welckers aus den 50er und 60er Jahren spürbar. Auch sie seien Verfechter einer „analogischen Deutung", einer rationalistisch-philosophischen Auffassung der mythologischen Bildungen, die Götter und Dämonen in bloße Allegorien verwandele, und nicht im Stande zu erkennen sei, daß „das Bedürfniss die Religions-Symbole geschaffen hat, und nicht ein poetisches Spiel" 57 . Hartungs Ausführungen, die in den Gottesdienst-Vorlesungen beträchtliche Spuren hinterlassen haben, schlagen sich auch in Aphorismus 110 von „Menschliches, Allzumenschliches" nieder, der ζ. T. aus dem im Oktober-Dezember 1876 geschriebenen Fragment 19[100] hervorgeht: „Die Religionen drücken nicht irgend welche Wahrheiten sensu allegorico aus, sondern gar keine Wahrheiten — das ist gegen Schopenhauer einzuwenden [...]. Nicht eine uralte Priesterweisheit, sondern die Furcht vor dem Unerklärlichen ist der Ursprung der Religion."58 Auch hier, wie bei Härtung, wird gegen die romantische Verklärung des Religiösen, die Nietzsche noch in Schopenhauer wirksam findet, behauptet, daß nicht „ein tieferes, ja das allertiefste Verständniss der Welt" in den Religionen allegorisch enthalten sei, die nur richtig zu deuten wäre, um „in unmythischer Form die ,Wahrheit' zu besitzen" (MA 110). Nietzsches Feststellung („Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede [Religion] geboren")59 ist mithin als Reminiszenz an Härtung zu verstehen, dessen Kritik in „Religion und Mythologie der Griechen" gegen Preller und Welcker gerichtet ist: Man könnte [...] glauben, dass auch die gottesdienstlichen Ceremonien [...] bildliche oder allegorische Handlungen seien, und könnte dafür sehr sprechende Beweise anführen, wenn ζ. B. der todte Adonis unter Trauerklagen von den Frauen in's Wasser getragen wird, [um] anzudeuten, dass der von der Sommergluth getödtete Frühling durch die Feuchtigkeit der aus dem Meer aufsteigenden Regenwolken wieder belebt werden soll [...]. Indessen, wenn

57

J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 128-129. Nach Welcker sind Symbole „diejenige [...] Figuren und mythischen Erzählungen, vermittelst deren gewisse Vorstellungen oder Wahrheiten einem Zeitalter, das allein auf diese Art sie zu fassen im Stande war, als Entdeckungen sich aufgeschlossen haben und klar geworden sind. Symbol und Mythus sind [...] gewisse Formen innerer Wahrnehmung, genialer Erkenntniß, Mittel und Werkzeuge zum sinnlichgeistigen Verständniß religiöser Dinge." (F. G. Welcker: Griechische Götterlehre, Bd. 1, Göttingen 1857, S. 57 f.) In einem Werk, das auch Nietzsche bekannt war (er entlieh es im November 1875), hält noch H. D. Müller an einer Definition des Symbolbegriffes fest, die der Creuzers und Welckers eng verwandt ist: „Wir schließen uns [...] ganz der gemeinen Sprechweise an, welche unter Symbol ein der Anschauung nahe liegendes Sinnlich-Concretes versteht, das ein schwieriger fassbares Allgemeineres, Nichtsinnliches, Abstractes vertritt." (H. D. Müller: Mythologie der griechischen Stämme, 2. Teil, 1. Abt., Göttingen 1861, S. 8) Das Symbol sei also „dem Tropus nahe verwandt" (ebd., S. 12). Auch für M. Müller (Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Straßburg 1874) sind die Mythen als „erster Anfang aller Reflexion", als „erste Offenbarung" zu betrachten. Nietzsche entlieh das Werk aus der Basier Universitätsbibliothek am 22. Oktober 1875.

'8

19[100] (Oktober-Dezember 1876); KSA 8, S. 354 f. ΜΑ 110. Eine sehr ähnliche Äußerung Hartungs ist oben zitiert worden.

59

Die magische Kraft des Rhythmus

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das bildliche Nachahmungen des Geschehenen sein sollten, so würde [man] sich doch vor allem fragen, zu welchem Zweck sie geschehen? Kinder, wenn sie von einem Erlebnisse besonders stark aufgeregt werden, beginnen über kurz oder lang das Erlebte spielend nachzuahmen. Wollte man der nachahmenden Ceremonie einen ähnlichen Charakter zuschreiben, so würde man sie für eine Kunstübung erklären, was sie doch nimmermehr gewesen ist. Oder soll die nachahmende Handlung eine sinnbildliche Belehrung sein über die Vorgänge in der Natur? Bedarf es auch wohl einer solchen Belehrung über solche Ereignisse?60

Aus all diesen Ubereinstimmungen läßt sich entnehmen, daß Nietzsche 1875-78 von der Beschäftigung mit Härtung, deren Spuren in den Abschnitten 110 und 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" zu ermitteln sind, einen mächtigen Anstoß zur Revision seiner Ansichten über Ursprung und Sinn der Religion empfängt. Ausgehend von Hartungs gegen die „rationalistische" Mythenforschung gerichteter Konzeption — der Auffassung der religiösen Zeremonien als Herstellung eines Rechtsanspruchs gegenüber „Naturgeistern", der Gleichsetzung von Symbol und Unterpfand — kommt Nietzsche dazu, unter .Religion' primär das Streben nach Macht und nach Beherrschung der Natur zu verstehen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Nietzsches Anschauungen über die ursprüngliche Bedeutung gottesdienstlicher Handlungen, die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels behandelt wurden, in erster Linie auf Härtung zurückgehen. Doch die „wunderlichen Einfalle"61 des Altphilologen Härtung sind für Nietzsche auch in einer anderen Hinsicht richtungweisend. Seine zwischen 1875 und 1883 entwickelten Betrachtungen über Rhythmus, Poesie und Musik sind eine wortwörtliche Übernahme Hartungscher Thesen. Dem ist jetzt Punkt für Punkt nachzugehen.

6. Die magische Kraft des Rhythmus Der Aphorismus 84 der „Fröhlichen Wissenschaft" („Vom Ursprung der Poesie"), wo von der „magischen" Kraft gehandelt wird, die die Griechen dem Rhythmus zuschrieben, scheint das im Aphorismus 111 von „Menschliches, Allzumenschliches" dargelegte Grundmotiv weiterzuentwickeln. In der Tat gehen auch diese Ausführungen der „Fröhlichen Wissenschaft" auf die von Nietzsche um 1875 betriebenen Studien zurück, denn „Vom Ursprung der Poesie" ist die wörtliche Übernahme von Ideen, die zum ersten Mal im dritten Teil der Vorlesung „Geschichte der griechischen Litteratur" (Wintersemester 1875/76)62 erläutert und dann ohne nennenswerte Veränderungen im Kolleg über die „Griechischen Lyriker"

60 61

62

J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 134 f. C. Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, a.a.O., Bd. 2, S. 879: „Reich an willkürlichen und haltlosen Aufstellungen, an mehr oder weniger geistreichen, zum Theil wunderlichen Gedanken und Einfallen sind [Hartungs] Arbeiten über die Religion und Mythologie der Griechen." GGL, S. 133 ff. u. 139-45.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

(Wintersemester 1878/79)63 wieder aufgenommen werden. Sowohl in der „Fröhlichen Wissenschaft" als auch in den vorhergehenden Vorlesungen macht sich Nietzsche Ansichten zu eigen, die Härtung in seiner „Geschichte der Rhythmenschöpfung" formuliert hatte, die dem fünften Band (1856) seiner Sammlung „Die griechischen Lyriker" vorangestellt war. Zu Beginn seiner Erörterungen vertritt Härtung die Meinung, die Erfordernisse der Deklamation und der Mnemonik hätten bei den Griechen den Vorrang der gebundenen Rede vor der ungebundenen bedingt. Der Vers sei die geeignete Form mündlicher Uberlieferung, er könne am leichtesten erinnert werden. In den Basler Vorlesungen geht Nietzsche, indem er von der „unlitterarischen Bildung" der Hellenen spricht, von demselben Standpunkt aus: [Nietzsche] Die klassische Litteratur der Griechen ist nicht mit Hinsicht auf den Leser entstanden: das ist ihr Eigenthümlichstes [...]. Nun ist aber die klassische Litteratur der Griechen, wie die Kunst des Mimen, für den Augenblick gemeint, für den gegenwärtigen Hörer [...].64 [Nietzsche] Hauptunterschied moderner u. griechischer Lyrik: Die griech. Lyrik richtet sich nicht an ein lesendes Publikum, sondern, wie d. ganze gr. klass. Poesie, an den Hörer (u. Zuschauer); der Hörer ist Hörer des gesungenen Textes; die gr. Lyrik wurde gesungen. Wir lesen mit den Augen [...]. Uns fehlt das Gesammtgefühl; wir genießen das Musikalische oder Dichterische Element für sich, bald mehr das Eine, bald das Andere. Hören wir ein unbekanntes Gedicht vorlesen, so trauen wir unserm Urtheil nicht, bevor wir es sehen [...].65

[Härtung] So unbegreiflich es einem Menschen unserer Zeit vorkommen muß, zu hören, daß in der Welt die Dichtkunst eher sei erfunden worden als das Prosa-Schreiben, so natürlich ist dennoch dieser Entwicklungsgang. Man würde sich über diesen Erfahrungssatz schon weniger verwundern, wenn man bedächte [...] welchen Unterschied es [...] mache, ob ein Volk mehr an das Lesen oder mehr an das Zuhören gewöhnt ist [...]. Was wir lesen nennen, hieß bei den Alten hören, und die Gewohnheit zuzuhören war allein genügend, das Aufkommen einer Romanliteratur zu verhindern. Prosa ist schon zum Vorlesen ungeeignet, geschweige zum Vortragen oder Declamiren. Aber der Zuhörer, welcher das Buch nicht besitzt, um jeden Augenblick nachschlagen zu können, verlangt, daß das, was ihm verbleiben soll, in einer festen geschlossenen Form ausgeprägt sei, an der sich keine Sylbe verrücken lasse: so kann er dasjenige, was ihm besonders zusagt, leichter und sicherer behalten, er verlangt orationem numeris modisque clausam, d.h. Verse nicht Prosa.66

ö Gr.L., S. 372-374. 64 GGL, S. 133 f.Daß „die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte", wird auch im Fragment 5 [ 114] aus Frühling-Sommer 1875 gesagt. 65 Gr.L., S. 369. Vgl. dazu B. v. Reibnitz: „Vom .Sprachkunstwerk' zur .Leseliteratur'. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als Gegenentwurf zur aristotelischen Poetik ", in: T. Borsche, F. Gerratana, A. Venturelli (Hrsg.): ,Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin u. New York 1994, S. 55 f. 66 J. A. Härtung: Geschichte der Rhythmenschöpfung, in: Die griechischen Lyriker, Bd. 5, Leipzig 1856, S.Vf.

Die magische Kraft des Rhythmus

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Das Metrum, das die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen und sich in ihrem Gedächtnis leicht einzuprägen vermöge, sei, so führt Härtung weiter aus, für die Griechen auch das beste Mittel gewesen, mit den „Geistern" in Kontakt zu treten und auf ihre Handlungen einzuwirken. Ebenso spricht sich Nietzsche aus: [Nietzsche] Daher die rhythm, musikal. Sprache angewendet 1) wenn man Sprüche magisch bindend machen will 2) wenn man Gott nahe haben will [...]. In der Urzeit verdankte man die größten Segnungen den rhythmischen Worten. Der Hang, Instinkt blieb und ist noch so mächtig, daß wir [nur] noch einen Gedanken für wahr halten, wenn er rhythmisch ausgedrückt ist.67 [Nietzsche] Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher an's Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, — wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um.69

« 68

69

[Härtung] Gehen wir aber noch weiter zurück, in die Zeit wo die Poesie noch blos dem religiösen Glauben diente, so begegnen uns hier zuerst die Gebete oder (was für jene Zeit Eins ist) Zaubersprüche, carmina (Carmenta, Casmenae) έπαοιδαί.Diese Beschwörungsformeln wollen eine bindende, ja sogar zwingende Kraft über die Geister oder Götter ausüben. Wenn sie aber diese bindende Kraft haben sollen, so müssen sie auch selbst in einer gebundenen Form ausgeprägt sein, und gerade in dem Rhythmus und dem Versmaß, dem Reime, liegt diese magische Kraft.68

Gr.L., S. 373 f. J. A. Härtung: Geschichte der Rhythmenschöpfung, a.a.O., S. VI. Vgl. hierzu auch J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 74-78. FW 84. Zu Nietzsches Betrachtungen über Gedächtnis und Mnemotechnik vgl. H. Thüring: „Friedrich Nietzsches mnemotechnisches Gleichnis. Von der .Rhetorik' zur .Genealogie'", in: J. Kopperschmidt, H. Schanze (Hrsg.): Nietzsche oder ,Die Sprache ist Rhetorik', München 1994, S. 63-84.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

In diesem Sinne versäumt es Härtung nicht hervorzuheben, daß selbst die Orakelsprüche „Beschwörungsformeln" seien. Die Mantik habe mithin nicht allein den Zweck, die Zukunft vorherzusehen, sondern hauptsächlich den, einen Zwang auf Dämonen und Götter auszuüben: Nicht die Erkenntnis, sondern die Herrschaft sei ihre primäre Bestimmung. Auch Hartungs diesbezügliche etymologische Hinweise übernimmt Nietzsche: [Nietzsche] Der Zuhörer wünscht die geschlossene Form, die poetische, damit ihm etwas fest bleibe [...]. Die Zaubersprüche sollen ursprünglich die Götter binden und zwingen, in der metrischen Form fühlt man das Bindende und Magische. Ebenso ist das Orakel ursprünglich ein Mittel die Götter zu bestimmen, daher metrisch. So rein und buchstäblich ausgesprochen wurde, so bindet es die Götter. Sie umgehen es gerne, bei einer Zweideutigkeit, aber sie können nicht gegen den Buchstaben, χρησμοί, Notwendigkeiten'; fata Aussprüche, richtig von Härtung erklärt. Von den Zaubersängern (Orpheus) und den Orakeln leitet der Grieche die Poesie ab. Mittel die Götter zum Erschein zu bringen sind fast alle Hymnen ursprünglich. Musik ist ebenfalls ein Mittel zur Gewinnung guter omina. Misslaut Fluch jedes böse Wort ist dirum omen, zieht Unglück herbei. Mit Musik übertönt man alle bösen Geräusche. So ist der Orakelgott auch der Musikgott. 70 [Nietzsche] Bei Weihungsformeln, Zaubersprüchen, Orakeln kommt es auf den Buchstaben an, sonst stiften sie Unheil [...]. Die Orakelpoesie glaubt durch den Rhythmus die Zukunft zu erzwingen; so wie das Wort buchstäblich ausgesprochen wurde, bindet es die Zukunft, χρησμοί ,Nothwendigkeiten', fata ,Aussprüche'. Der Hexameter soll in Delphi erfunden sein, pythischer Vers. 71 [Nietzsche] [...] durch Rhythmus des Orakels will man die Zukunft binden;

™ Vor.K. GGL, S. 137-142.

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[Härtung] Mit den Beschwörungsformeln sind die Orakel gleichartig, von deren Bedeutung man in der jetzigen Zeit gewöhnlich eine falsche Vorstellung hat. Sie sind nicht Vorausverkündigungen, sondern Vorausbestimmungen der Zukunft, und das Wort des Augurs oder der Pytho, so wie es immer erst nach Verrichtung gewisser Ceremonieen an geweihten Orten innerhalb der gezogenen Linien oder Kreise, durch welche die Götter gleichsam gebannt werden, ausgesprochen wird, so ist es auch ein Omen, keine Vorhersagung, und hat als Omen bindende Kraft für die Götter, in deren Schooß die Gestaltung der Zukunft liegt [...], und zwar bindet es buchstäblich so wie es ausgesprochen ist. Können die Dämonen den Empfänger des Omens oder Orakels durch eine Zweideutigkeit betrügen, so thun sie's gerne: nur von den Buchstaben abzugehen, ist ihnen nicht erlaubt. Eine feste geschlossene Form ist also auch für diese Sprüche {χρησμούς d. h. Nothwendigkeit oder Schicksale = fata d. h. Aussprüche) nöthig. Darum ist es gewiß richtig, was die Griechen melden, daß die ersten Verse von der Pytho gemacht und die erste Poesie von den Zaubersängern (Orpheus u. s. w.) geübt worden sei. Bei den Germanen gieng es eben so: das beweisen die Merseburger Zaubersprüche, in den schönsten Stabreimen verfaßt. Gleichfalls zur Gewinnung guter Omina und Abhaltung ungünstiger wird die Musik zum Götterdienst verwendet [...]. Ein Mißlaut oder Fluch und jedes böse Wort, welches hiebei bewußt oder unbewußt verlautet, zieht

Die magische Kraft des Rhythmus

χρησμός heißt eigtl. .Notwendigkeit, Zwang', fatum eig. der .Ausspruch', dann das dadurch erzwungene .Schicksal'.72 [Nietzsche] Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde — die Griechen sagten, der Hexameter sei in Delphi erfunden —, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben [...]. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apollo's, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann.73

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als dirum omen Unglück herbei. Darum heißt es εύφημεϊτε favete linguis! und darum läßt man den Wohlklang der Musik ertönen um alles übeltönige Geräusch, Knarren, widerwärtiges Gepfeife oder Geächze u. s. w., das aus der Nähe oder Ferne kommen könnte, zu übertönen. Und darum ist der Orakelgott Apollo zugleich auch der Musikgott, der Sänger und Lautenschläger zumal, und führt er den Reigen der Musen so wie der religiöse Sänger bei den Opfern den Reigen der Jungfrauen führt. Auf solche Weise wird der Gottesdienst zur Wiege der Kunst, namentlich der Poesie.74

Die ganze Argumentation Hartungs zielt letztlich, wie die zitierte Textstelle deutlich macht, auf die Veranschaulichung der ursprünglichen Einheit von Poesie und Magie. Diese Betrachtungsweise macht Nietzsche sich zu eigen. In Abschnitt 84 der „ F r ö h l i c h e n W i s s e n s c h a f t " spricht er die V e r m u t u n g a u s , Beschwörungsspruch und „Zauberlied [...] scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein". Diesen Zusammenhang stellt Nietzsche 1875 vor seinen Basler Studenten sehr deutlich heraus: Also dies sind die ursprünglichen Anlässe zu dem, was man später Litteratur nennt: wenn man eine Handlung durch einen rhythmischen Spruch magisch fördern will, wenn man einen Gott nöthigen will, zu erscheinen und uns nahe zu sein [...], wenn man die Zukunft zwingen will, wenn man seinen Spott und Hohn einmal unter religiösem Schutze auslassen will [...].75 Die Theorie, wonach „metrische Form" im älteren Hellenentum magische „Überwältigung" bedeute, wird von Nietzsche vorbehaltlos bejaht. Seine Zustimmung geht so weit, daß er 1875,1878/79 und 1883 Ritschis Studie über die „Ode der Griechen" anführt, und zwar nicht nur im Sinne einer Bestätigung, sondern

72 Gr.L., S. 373. " FW 84. 74 J. A. Härtung: Geschichte der Rhythmenschöpfung, a.a.O., S. VI f. Auf dieser Passage fußt auch ein in G D G , S. 14, entwickelter Gedanke: „Ebenso dient die Musik zur Reinigung, insofern ihr Geräusch feindselige Stimmen, alles Klappernde, Klirrende, alle bösen omina bei der religiösen Handlung übertäubt, unschädlich macht und so einen reinen Verkehr mit der Gottheit, ohne Missverstehen, ermöglicht." 75 G G L , S. 143. Ganz anders spricht sich K. O. Müller in seiner von Nietzsche am 3. April 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexander's (3. Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1875, S. 26) über die „älteste Poesie der Griechen" aus: „Die ersten Ergiessungen der poetischen Begeisterung sind ohne Zweifel kurze Lieder gewesen, welche Erscheinungen, die das Gefühl mächtig berührten, in wenigen Versen mit unbeholfener Einfalt darstellten." (Nietzsche hatte allerdings die 1841 erschienene Ausgabe dieses Werkes entliehen).

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

sogar einer Verallgemeinerung von Hartungs Auffassung. Alle griechischen Lieder seien, so seine Schlußfolgerung, ihrem Ursprung nach nichts anderes als magische Versuche, die Geister zu zwingen: [Nietzsche] Und nicht nur im Cultuslied, auch bei dem weldichen Liede der ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, —jede Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft [... ] .76

[Ritsehl] Fast alle Beschäftigungen des täglichen Lebens riefen ihre Lieder hervor: Epimylien έπιμύλιοί ώδαί, gesungen beim Mahlen [...]; Ιμαιος·, Lied der Frauen beim Brunnenziehen [...]; έρετικά, Schifferlieder, gesungen von den Ruderern [...]. Endlich die Schnitter-, Drescher- und Erntelieder der Landleute [...]. 77

Das breite Fundament von Nietzsches antiklassizistischem Griechenbild erweitert sich dank Härtung um ein signifikantes Motiv. Seine Rhythmustheorie, wonach die Musik ein uraltes .magisches' Instrument zur Erlangung von Macht und Schutz ist, läßt sich zugleich gegen die Auffassung von der Wirkungsbestimmung der Musik in der Schopenhauerschen Philosophie verwenden. Kurz, die gründliche Beschäftigung mit Härtung bringt Nietzsche in Sommer-Herbst 1875, also gerade in den der Abkehr von Wagner unmittelbar vorangehenden Monaten, dazu, sich von einem neuen Blickpunkt aus auf die Diskussion über die ursprüngliche Bedeutung des Rhythmus einzulassen. Auch andere, in denselben Monaten gelesene Werke lenken seine Aufmerksamkeit auf diese Thematik. In einer bisher unveröffentlichten Eintragung aus der gleichen Zeit heißt es: Im Heben u. Sinken des Tones liegt eine Veränderung der Bedeutung bei den Südostasiaten ha = suchen, ha = Seuche usw. Daher weicht die musikal Behandlung der Poesie von Grund aus ab. Bei den Griechen müssen die Accentgesetze zuerst viel intensiver noch die Bedeutung beeinflußt haben, später wurden sie fest u. nun konnte man Melodien mit freier Veränderung der Tonhöhe singen, man verstand es schon. Beim Lesen ist der Gefühlston nicht in Buchstaben bezeichnet, sondern erst zu errathen. ,Ich verkaufte dir niemals ein Pferd' ändert die Bedeutung des ganzen Satzes, je nachdem man 1 Wort betont. Wie man ein Wort musikalisch expressiv macht Tylor 174., auf Wagner anzuwenden. Musik ist ein uraltes Mittel deutlicher zu sprechen: und deshalb gebraucht man sie im Verkehre mit den Göttern.78

FW 84. Das Manuskript zur Vorlesung über die „Geschichte der griechischen Litteratur" (GGL, S. 141), auf welchem diese Betrachtung von FW 84 fußt, enthält einen ausdrücklichen Verweis auf Ritschls Artikel. 7 7 F. Ritsehl: „Ode (Volkslied) der Griechen", in: Opuscolapbilologica, Bd. 1: hdlitterasgraecasspectantia, Leipzig 1866, S. 250 f. 7® Vor.K. 76

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In einem wichtigen Abschnitt seines Werkes (Kap. V-VI des ersten Bandes) erstellt Tylor, indem er die ersten Grundsätze einer „generativen Philologie" erläutert, ein Verzeichnis der „verschiedenen Elemente, aus denen alle gesprochenen Sprachen zusammengesetzt sind". Er versucht den Entwurf einer „Lautsymbolik", einer „Symbolik der gesprochenen Sprache", und rechnet dabei unter die Faktoren, die der verbalen Mitteilung im täglichen Verkehr der Menschen die „expressive Kraft" verleihen, „die Geberde, de[n] Ausdruck der Gesichtszüge, de[n] Gefühlston, die Wärme, Stärke, Eile [...] einer Äußerung, de[n] musikalische[n] Rhythmus, die Betonung [...] der Vokale und Consonanten"79. So betrachtet erweise sich Sprache als „Gefühlsprache", als „linguistische Musik", als Folge „musikalischer Schwingungen": Was Vokale sind, hat man vor einigen Jahren gelernt. Es sind zusammengesetze musikalische Töne [...]. Wenn Europäer eine Modulation in der musikalischen Tonhöhe anwenden, um die Stärke eines Wortes in einem Satze zu beeinflussen, wissen sie dabei nichts von einer Veränderung des Sinnes eines Wortes. Dies Verfahren ist jedoch anderswo ganz bekannt, besonders in Südostasien, wo Heben und Sinken des Tones, in gewissem Grade wie wir es zur Bezeichnung von Emphase, Frage und Antwort u. s. w. gebrauchen, thatsächlich dem Wort eine verschiedene Bedeutung verleiht. So ist im Siamesischen ha = suchen, hä = Seuche, hä = fünf. Die Folge [...] ist, dass das System der musikalischen Behandlung der Poesie von Grund aus von dem unsrigen abweicht; wollte man einen siamesischen Gesang nach einer europäischen Melodie singen, so würde man die vom Sinken oder Steigen ihrer Tonhöhe abhängige Bedeutung der Wörter verändern und dadurch ihren Sinn in den schrecklichsten Unsinn verwandeln [...]. Für praktische Zwecke ist diese linguistische Musik schwerlich zu empfehlen, aber theoretisch ist sie interessant, indem sie zeigt, dass der Mensch nicht knechtisch einem unmittelbar gegebenen oder ererbten Sprachschema folgt, sondern in verschiedener Weise die Hülfsquellen des Schalles als Mittel zum Ausdruck ausbeutet.80 Weitere Überlegungen Tylors, die Nietzsche in seiner Notiz paraphrasiert, zielen auf den „Gefühlston", den „musikalischen Accent", der einem geschriebenen Text beim Vorlesen zu geben sei: Denken wir uns nun, ein Buch sei mit einem leidlich correcten Alphabet geschrieben [...]. Wenn nun also das Buch mit einem genügenden Alphabet geschrieben ist und man es einem Leser in die Hand giebt, so ist seine Aufgabe keineswegs damit erfüllt, dass er die Vokale und Consonanten, die er vor sich hat, in articulirten Lauten wiedergiebt, wie wenn er Correcturbögen für den Druck durchsähe. Denn der Gefühlston, von dem wir eben gesprochen haben, ist ausgefallen, als wir die Worte in Buchstaben niederschrieben, und die Pflicht des Lesers ist, aus dem Sinn der Worte den erforderlichen Ton zu errathen [...]. Er muss ausserdem durch den Accent oder durch stärkere Betonung auf gewisse Silben oder Wörter den Nachdruck legen und dadurch ihre Wirkung im Satze verstärken; wenn er ζ. B. sagt: ,Ich verkaufte Dir niemals dies Pferd', so verändert ein Nachdruck auf irgend eines dieser sechs Worte jedesmal den Inhalt des ganzen Satzes. Nun hat man bei einer nachdrück™ Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 1, S. 163. 80 Ebd., Bd. 1, S. 167-169.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

liehen Aussprache zwei getrennte Vorgänge zu beachten. Die durch Veränderungen in der Stärke und Dauer der Wörter erzielte Wirkung ist direkt imitativ [...]. Auch der musikalische Accent (accentus, musikalischer Ton) wird als ein Mittel des Nachdrucks gebraucht, wenn wir ζ. B. eine besondere Silbe oder ein einzelnes Wort in einem Satze dadurch hervorheben, dass wir unsere Stimme um einen halben Ton oder mehr steigen oder sinken lassen. Der Leser muss seine Sätze durch Pausen abtheilen, wobei ihn in gewissem Grade Interpunktionszeichen leiten; das rhythmische Mass, in welchem er Poesie sowie Prosa vorträgt, bleibt nicht ohne Einfluss; und wiederum muss er Musik einführen, indem er jeden Satz mit einer Art unvollkommner Melodie spricht [...]. Die Regeln dieser unvollkommen musikalischen Betonung in der gewöhnlichen Unterhaltung sind bisher noch wenig studirt worden. 81 In dieser Passage, in der die These erläutert wird, daß in der Sprache der „musikalische Rhythmus" zu einer schärferen Bestimmung der Bedeutung beiträgt und folglich auch „als Mittel zum Ausdruck von Gedanken" eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, findet Nietzsche auch Argumente für seine Auseinandersetzung mit Wagner. Denn wenn der Rhythmus ursprünglich Eindeutigkeit und Schärfe der mündlichen Mitteilung erhöht und die Alten gerade deshalb, wie Nietzsche, über Tylor hinausgehend, behauptet, den Gesang bevorzugten („Musik ist ein uraltes Mittel deutlicher zu sprechen"), dann ist der „Cultus der Musik", dem sich die ,Modernen' hingeben, ganz und gar überspannt. In diesem Sinne sind Tylors Ausführungen über die „linguistische Musik" und Hartungs Rhythmustheorie durchaus miteinander vereinbar. Im Sommer 1878 stellt Nietzsche in einer Aufzeichnung fest: [...] Daraus neue Gefahren: das Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen [...]. Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Rohheit neben überreizter Sensibilität. Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern.82 In derselben Zeit wird im Aphorismus 215 von „Menschliches, Allzumenschliches " bemerkt: An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom .Willen', vom,Dinge an sich'; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musikalische Symbolik erobert hatte.83 Wahrscheinlich schließt sich diese Betrachtung an den von E. Hanslick in seiner Schrift „Vom Musikalisch-Schönen" vertretenen Standpunkt an, den Nietzsche 81 Ebd., Bd. 1, S. 173-175. 82 30[166] (Sommer 1878); KSA 8, S. 552. 83 Siehe auch Fragment 23[52] (Ende 1876-Sommer 1877): „Die Musik ist erst allmählich so symbolisch geworden, die Menschen haben immer mehr gelernt, bei gewissen Wendungen und Figuren seelische Vorgänge mitzuverstehen. Von vorn herein liegen sie nicht darin. Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so erscheinen." (KSA 8, S. 422)

Die magische Kraft des Rhythmus

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schon in den sechziger Jahren kannte. In unserem Zusammenhang verdient die Tatsache Beachtung, daß die Ausführungen des Musikwissenschaftlers Hanslick den Thesen des klassischen Philologen Härtung mitnichten zuwiderlaufen, ja sogar dessen Rhythmustheorie bestätigen mögen. Zu Beginn des Aphorismus 215 heißt es: Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhytmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie [...] käme aus dem Inneren. Hanslicks Untersuchung geht in dieselbe Richtung, sie ist von dem Anliegen geleitet, die irrige Voraussetzung abzuwehren [...], daß das Schöne der Musik in dem Darstellen von Gefühlen bestehen könne [...]. Nichts hat die wissenschaftliche Entwicklung dermusikalischen Aesthetik so empfindlich gehemmt als der übermäßige Werth, welchen man den Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte.84 Ursprünglich spreche die Musik, so M A 2 1 5 weiter, nicht den „Intellect" an, sie sei „Form an sich" und keineswegs „mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen". Um die Eigenart ihrer Wirkung zu verstehen, so Nietzsche weiter, müsse man sich in jenen „rohen Zustand der Musik" zurückversetzten, „wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht". Ähnlich spricht sich auch Hanslick aus, wo er gegen Hegel und die „Musik-Ethiker" Stellung bezieht, indem er „ein specifisch Musikalisches" als „das Schöne der Tondichtung" definiert: Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, — dies ist, was [...] als schön gefällt. Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus [...]. Der wirkliche Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen [...]. Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Aesthetiken zu Gunsten der Moral und des Gemüths, in Hegel zu Gunsten der ,Idee' begegnen.· Jede Kunst geht vom Sinnlichen aus und webt darin. Die .Gefühlstheorie' verkennt dies, sie übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar an's Fühlen. Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr sei ein triviales Ding.85

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E. Hanslick: VomMusikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst, 3. Aufl., Leipzig 1865, S. 44 u. 96. Zu weiteren Aspekten der Beziehung Hanslick-Nietzsche vgl. C. P. Janz: „Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit", in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 315 ff.; K. Kropßnger: „Wagners Musikbegriff und Nietzsches .Geist der Musik'", in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 3 ff. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, a.a.O., S. 44-47. Gegen Wagner spricht sich Hanslick an

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Das „Musikalisch-Schöne" bestehe nicht in der Hervorbringung und Vermittlung .geistiger Inhalte', sondern in unmittelbar „ überwältigenden Eindrücken ", die eine „körperliche Erregung" auslösen. Die Musik werde „nicht im Entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als rohe Naturgewalt empfunden [...], die bis zu besinnungslosem Handeln treibt"86. Diese Tatsache lasse sich empirisch nachweisen, denn „die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde" 87 . Tylors Ausführungen über die Beziehung Sprache-Musik, Hartungs Rhythmustheorie und die letztzitierten, wahrscheinlich von Hanslicks Darstellung des „Elementarischen" in der Musik beeinflußten Erörterungen in „Menschliches, Allzumenschliches" sind als Elemente eines einheitlichen Diskurses zu betrachten. Unter Berufung auf Härtung, Tylor und Hanslick kann Nietzsche mit umso größerem Rechte behaupten, daß die Musik nicht aus „überreizter Sensibilität", aus Gefallen an „Deuteln und Symbolisiren" entstehe. Von Tylor empfängt er die Auffassung, daß sie eng mit dem Bestreben, die „expressive Kraft" der Rede und die Schärfe der Begriffe zu erhöhen, verbunden sei. Härtung zeigt ihm, daß den Alten die „ rhythmische Gewalt" ein Mittel gewesen sei, den Willen der Götter zu brechen und die Natur dem Menschen gefügig zu machen. Durch Hanslick wird er darauf aufmerksam, daß die Ästhetik auch das „Elementarische" in der Musik zu berücksichtigen habe, was all diejenigen übersehen, „welche der Musik eine Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen Geistes vindiciren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird"88. Die genannten Autoren trugen gleichermaßen, ein jeder unter einem anderen Gesichtspunkt, zu Nietzsches Anschauungen über die ursprüngliche Funktion des Rhythmus bei, wie sie ihm vor der „Entsinnlichung der höheren Kunst" (MA 217)

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dieser Stelle wie folgt aus: „Für unsren Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der Hauptgrundsatz Wagner's, wie er ihn im ersten Band von ,Oper und Drama' ausspricht: ,Der Irrthum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird,' — gänzlich auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer und wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebracht wird, ist ein musikalisches Unding." (Ebd., S. 42) Zu Hanslick und Wagner siehe S. Barbera, G. Campioni: IIgenio tiranno. Ragione e dominio nell'ideologia dell'Ottocento, Milano 1983, S. 75. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, a.a.O., S. 100. Von „jener elementaren Ueberwältigung [...], welche der Mensch [...] beim Hören der Musik erfährt", ist auch in FW 84 die Rede. E.Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, a.a.O.,S. 102. Nietzsche befaßte sich mit Hanslicks Schrift auch zu der Zeit, da er an der Morgenröthe arbeitete. In Μ 142 („Mitempfindung") bedient er sich einer Episode („Man erzählt von einem dänischen König [...]"), die Hanslick zur Illustration des „Elementarischen" in der Musik angeführt hatte: „So ließ der [...] König von Dänemark Ericus bonus, um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musikus spielen, und zuvor alles Gewehr entfernen. Der Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen alle Gemüther zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn. Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern. .Selbst der König brach durch die Thür, griff zum Degen und brachte von den Umstehenden vier uns Leben.' [...] Und das war noch der,gute Erich' [...]. Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung äußerte wie gegenwärtig." ( V o m Musikalisch-Schönen, a.a.O., S. 101 f.) Ebd., S.58.

Die Gewalt der Schutzbilder

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zugekommen sei. „Willens-Bändiger", nicht müßige „Entfesseier des Willens" (VM172) seien die griechischen Künstler und Dichter gewesen, so Nietzsche 1879, ihre Kunst keine Erfindung gegen „Selbstverdruss" und zu dem Zwecke, auf kurze Augenblicke "das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen [zu] verscheuchen" (VM 169). 7. Die Gewalt der Schutzbilder

Der erste Teil von Nietzsches Gottesdienst-Manuskript gipfelt in der These: „Der Bilderdienst in Griechenland ist nie an Bedeutung dem Symbolen dienst gleichgekommen"89. In seiner Erläuterung der Bedeutung des griechischen „Symbolendienstes" kombiniert Nietzsche Ansichten Hartungs mit Überlegungen aus Boettichers „Tektonik der Hellenen" (1852), einem Standardwerk der damaligen Altertumswissenschaft. Härtung hatte unterschieden zwischen allegorischen, „belehrenden" Sinnbildern und „wunderwirkende Kraft" besitzenden Unterpfändern, die als Symbole einer tatsächlichen, schon errungenen Machtstellung galten; Boetticher hatte seinerseits gezeigt, daß Heiligtümer in Hellas symbolisch auch in dem Sinne waren, daß sie Macht und Einheit der „politischen Gemeinschaft" repräsentierten: [Nietzsche] Mit dem Dasein des Schutzbildes ist das Bestehen des Stammes unlösbar verknüpft, mit seinem Dasein und Kultus ist der Stamm erst geworden, es ist ihm vom Himmel zugesandt oder seinem Ahnherrn bei einem Besuch der Gottheit selbst geschenkt. Es ist das heilige Unterpfand göttlichen Schutzes; mit der Entführung oder Vernichtung des Bildes löst sich die Staatsgesellschaft.90

GDG.S. 13. *> Ebd.

[Boetticher] Es ist ein Grundgedanke des altem Hellenischen Kultes, daß mit dem Dasein des Schutzbildes das Bestehen des Stammes, die Wohlfahrt der ganzen Staatsgesellschaft unlösbar verknüpft sei; denn weil mit ihm und seinem Kulte Stamm und Staat erst als solche geworden, weil ein solches Bild ihm der Sage nach oft unmittelbar vom Himmel zugesandt oder dem Ahnherrn seiner Fürsten von der Gottheit selbst zur Aufbewahrung übergeben worden war, so betrachtete man es auch als das heiligste Unterpfand göttlichen Schutzes, und eine Menge Göttersprüche bezeichnen ausdrükldich dies Bild nebst seinem Kulte als Bürgschaft für die Erhaltung der Herrschaft oder sichern sie dem zeitigen Besitzer zu: illic imperium fore, ubi est Palladium [Serv. Virg. Aen. II, 166]; mit der Entführung oder Vernichtung des Bildes, mit welcher zugleich sein Kult erlischt, löst sich daher

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

auch die Staatsgesellschaft als solche, wenigstens als freie und selbständige auf, alle übrigen Sacra und Tempel des Staates verlieren damit ihren Halt und Bestand.91 An einer weiteren Stelle des Kollegs spricht Nietzsche noch einmal von der „Gewalt der Schutzbilder" im griechischen Kult, von jenen oft verborgengehaltenen Symbolen, die für Prosperität und Unabhängigkeit der Gemeinde Gewähr leisteten. Auch diese späteren Überlegungen stützen sich auf Boetticher, einen Autor, mit dessen Hilfe Nietzsche den Leitgedanken weiterentwickelt, den er schon unter Rückgriff auf Härtung dargelegt hatte. Dabei interessiert ihn besonders der Abschnitt aus der „Tektonik der Hellenen", in dem von den „bürgerlichen", „politischen" Funktionen der heiligen Symbole, von der Bedeutung des Gottesdienstes unter dem Aspekt der Machtverhältnisse, die Rede ist: [Nietszche] Die Grundvoraussetzung der politischen Einheit eines δήμος und weiterhin der πόλις ist die Schutzgottheit, deren Cult über dem aller Geschlechter steht, auf den sie sich eben vereinigt haben: wie nachher die Schutzgottheit der πόλιςwieder über den Culten aller Demen steht; es ist das Bindemittel aller dieser kleinen Centren. Der Altar und die Sacra des Schutzbildes sind für die gottesdienstliche Verbindung aller Einzelkulte dasselbe, was die Hestia für die politische Gemeinschaft der einzelnen Familien, die Gesetzestafeln des Prytaneion für den einzelnen Demos sind; jede Hand, die diesen Mittelpunkt der religiösen Gemeinschaft aufhob, hob auch den Staatsverband auf. Jeder kleinere bis dahin unabhängige Staat, wenn er sich als δήμος· an einen grösseren freiwillig anschloss, wurde genöthigt, sein väterliches Schutzbild neben dessen Sacra nach der Hauptstadt überzusiedeln und gab damit seine Selbständigkeit auf; auch bei erzwungener Staatsgenossenschaft trat dasselbe ein, so dass das Schutzbild jedes in feindlichem Kampfe vernichteten Ortes in das Heiligthum des Siegers versetzt wurde. So wurden Städte, die eine grosse Anzahl umliegender Städte unterwarfen, mit neuen Tempeln und auswärtigen Culten gefüllt;

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C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen,

[Boetticher] Man würde in der That sehr irren, wollte man glauben, es beruhe jene Ansicht vom Verhältnisse des Schutzbildes zu seinem Stamme oder seiner Gemeinde auf einer bloßen mythologischen Fiktion oder frommen Superstition der Alten, während es doch ein Verhältniß ganz realer Natur ist. Denn darin besteht eben das eigenthümliche Wesen der Landesschutzgottheit, daß ihr Kult Staats- und Landeskult ist, welcher über dem Kulte jeder Familie, über dem Kulte jedes einzelnen Demos des Staates steht und diesen in sich aufnimmt; indem er aber auch umgekehrt allen einzelnen Familien, allen einzelnen kleinen Demen, die eben wegen ihrer verschiedenen Sacra sonst für sich getrennt und ohne Verband neben einander bestehen würden, gemeinsam theilhaftig wird, so ist er das mächtige Bindemittel, diese einzelnen Glieder zu einer gemeinsamen Kultfeier wie zu einem Staatsganzen zu vereinigen. Es sind im eigendichsten Sinne der Altar und die Sacra des Schutzbildes für die gottesdiensdiche Verbindung aller Einzelkulte des Staates dasselbe, was die Hestia und die Gesetzestafeln des Prytaneion für politische Gemeinschaft der einzelnen Familien und Demen eines Staates sind; indem aber die

a.a.O., Bd. 2, S. 133 f.

Die Gewalt der Schutzbilder oder schon bestehende Tempel wurden mit eroberten Götterbildern bereichert. Die Hand, welche...92

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Politeia durchaus nur im Kulte der Schutzgottheit ihre Form gewinnt, so löste jede Hand, die mit Gewalt diesen Mittelpunkt der religiösen Gemeinschaft aufhob, thatsächlich die Opfergemeinsamkeit, mithin auch den Staatsverband auf [...]. Schon die Thatsache, daß ein jeder kleinere unabhängige Staat, wenn er sich als Demos an einen größern freiwillig anschloß, genöthigt wurde, sein väterliches Schutzbild nebst dessen Sacra nach der Hauptstadt dieses letztern zu übersiedeln und damit seine Selbständigkeit aufzugeben; die andre Thatsache, daß auch bei einer gezwungenen Staatsgenossenschaft dasselbe stattfand, daß endlich das Schutzbild jedes in feindlichem Kampfe vernichteten Ortes in das Heiligthum des Siegers wenigstens als heiliges Tropaion versetzt wurde, mußte Städte, die nach und nach eine große Anzahl umliegender Städte gewannen, mit neuen Tempeln und auswärtigen Kulten füllen, mußte schon bestehende Tempel mit eroberten Götterbildern bereichern.93

Nicht zu übersehen ist, daß bei Boetticher das religiöse „Schutzbild" tatsächlich den Charakter eines Fetischs (gerade wie die heiligen „Symbole" Hartungs) aufweist, dessen Besitz Macht und Ansehen verleiht, und dessen Verlust Elend und Knechtschaft bedeutet. Die Auffassung, die Boetticher in seiner „Tektonik der Hellenen" mehrfach zum Ausdruck bringt, mußte Nietzsche in seiner Uberzeugung bestärken, daß in den Bräuchen der .Primitiven' der Schlüssel zu wichtigen Aspekten der griechischen Kultur liege: [Nietzsche] Die Hand, welche das Schutzbild des Stammes und sein Heiligthum gewann, gewann den Hort des Stammes mit allem auf ihm ruhenden Segen, von ihr ging die Leitung der unumgänglichen Gemeindeopfer aus, sie ordnete die Festpompen und die Spiele und war so moralisch Herr über das ganze Gemeinwesen. Da der Feind die Existenz eines Staates vernichtete, wenn er mit List oder Gewalt die Schutzheiligthümer entführte, so voll«

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[Boetticher] Die Hand, welche also das Schutzbild des Stammes in seinem Heiligthume gewann, gewann den Hort des Stammes mit allem auf ihm ruhenden Segen, sie war im Besitze seines Kultes und dessen Machtvollkommenheit, von ihr ging die Leitung der heiligsten und unerläßlichsten Gemeindeopfer aus, sie ordnete die Festpompen der Gottheit und deren Spiele, war mithin moralisch Herr über das ganze Gemeindewesen des Stammes [...]. Da also

GDG, S. 46 f. C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 135 f.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

endete auch jeder Sieger die Unterjochung oder Wegführung eines Stammes thatsächlich erst durch Entrückung des Schutzbildes: uralte Sitte. Wie nothwendig für die Rücksiedelung des Stammes die Wiedergewinnung der ursprünglichen Sacra war, bezeugt die Geschichte von den vergrabenen Heiligthümern der Messenier, in Folge deren Auffindung ihre Nachkommen Messene erst neu gründen können. Die Rücksicht auf Sicherung der Schutzbilder gegen Gewalt oder heimliche Entwendung sehr wichtig: daher erklären sich Gebräuche wie das Belegen der Bilder mit Banden, das Anfesseln derselben an ihren Thronsitz, die flügellose Darstellung von Gottheiten, die gewöhnlich mit Schwingen gebildet werden. Es ist phönizisch-tyrisch, sich die Bilder der Götter durch Fesselung zu erhalten: aber auch die Nike άπτepos· zu Athen, die Fesseln an den Füssen der Aphrodite Morpho und des Enyalios zu Sparta, das mit Ketten gefesselte Bild der Artemis Eurynome gehört hierher. In Orchomenos wurden die Leute durch das umgehende Eidolon des Aktaion erschreckt: auf Befehl des delphischen Orakel bildeten sie es in Erz nach und schlossen es an seiner Stätte mit Ketten fest.94

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GDG, S. 47

der Feind die Existenz eines Staates vernichtete, wenn er mit List oder durch Gewalt im Siege die Schutzheiligthümer desselben entführte, so vollendete auch jeder Sieger die Unterjochung oder Wegführung eines Stammes thatsächlich und stets erst durch Entrükkung des Schutzbildes und der Sacra (άπάγειν άναθήματα καΐ έδη θεών παρά των κρατηθέντων), und dies ist nach der Versicherung des Pausanias [VIII, 46, 2] uralte hellenische Sitte gewesen [...]. Wie nothwendig aber für die Rükksiedlung des Stammes die Wiedergewinnung der ursprünglichen Sacra war, bezeugt schon jene Geschichte mit den vergrabenen Heiligthümern der Messenier, in Folge deren Wiederauffindung ihre Nachkommen Messene erst neu wieder gründen konnten [Paus. IV, 26, 6] [...]. Die Rükksicht auf Sicherung der Schutzbilder gegen offene gewaltthätige Entführung oder heimliche Entwendung, was beides eben wegen der auf dem Bild ruhenden Bedeutung in den altern Zeiten so oft vorkommt, wie überhaupt das Bestreben andre sehr bedeutungsvolle Götterbilder deren Entfernung man zu fürchten hatte festzuhalten, ist nicht allein Veranlassung zu allerlei eigenthümlichen kunstsymbolischen Bräuchen und Vorkehrungen gewesen, durch welche man mit dem Bilde zugleich sein Numen auf dem Sitze zurückzuhalten glaubte, sondern hat auch auf die besondere bauliche Einrichtung der Tempel einen durchaus maaßgebenden Einfluß geübt. Zu jenen seltsamen Kunstbräuchen gehörte das Belegen der Bilder mit Banden, das Anfesseln derselben an ihren Thronsitz, die flügellose Darstellung von Gottheiten die ihrem Wesen nach und gewöhnlich auch mit Schwingen gebildet werden; alles nur als Schutzmittel gegen freiwillige Entweichung gedacht [...]. Wenn Plutarch aber sagt, daß überhaupt die Tyrier sich die Bilder ihrer Götter durch Fesselung zu erhalten glaubten [Plutarch. Quaest. Rom.

Gottesdienstliche Rituale als Machtäußerungen

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61], so ist dies mit nichten bloß den Phönikern eigenthümlich, sondern ebenfalls ein uralter hellenischer Glaube; denn die Ansicht des Pausanias von der Flügellosigkeit der Nike Apteros zu Athen [III, 15,7 u. 11], den Fesseln an den Füßen der Aphrodite Morpho und des Enyalios in Sparta [Paus. VIII, 41, 4], wozu noch das mit Ketten gefesselte Bild der Artemis Eurynome [Paus. IX, 3 8 , 4 ] zu ziehen ist, ist gradezu die: daß man durch solche symbolischen Mittel das Entweichen der Gottheiten verhüten wolle; es scheint mithin diese Ansicht in der Superstition der Alten fest begründet gewesen zu sein und findet endlich ihre volle Bestätigung in der Orchomenischen Geschichte von dem umgehenden Eidolon des Aktaion, welches die Leute erschrekkte und nicht eher festgebannt werden konnte, bis die Orchomenier dasselbe auf Befehl des Delphischen Orakels in Erz nachbildeten und an seine Stätte mit Ketten festschlossen [Paus. IX, 38, 4]. 9 5

8. Gottesdienstlicbe Rituale als Machtäußerungen Aus den Schriften von Ethnologen wie Lubbock und Tylor, von Mythologen wie Mannhardt, und von klassischen Philologen und Kunsthistorikern wie Härtung und Boetticher gewinnt Nietzsche die Bestätigung für seine Überzeugung, daß

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C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 136-138. Auch andere Passagen der Tektonik, in denen von Schutzbildern die Rede ist, werden von Nietzsche übernommen. Wo er in der Vorlesung (GDG, S. 48) die Kunstgriffe bespricht, mit denen im Falle einer Niederlage oder einer Gefahr „die Schutzbilder in Sicherheit" gebracht wurden, hat er Boetticher genau abgeschrieben (Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 139 f.) In unmittelbar anschließenden Sätzen (GDG, S. 48 f.) werden abermals einige Seiten der Tektonik (Bd. 2, S. 141 ff.) übernommen und zusammengefaßt, u.a. der folgende Passus: „Ein gewiß merkwürdiges Zeugniß von der Macht dieses Glaubens der Hellenen an die Schutzbilder, wie von der religiösen Scheu, an dem Staatsheiligthume eines andern Stammes ein Sacrilegium zu begehen, spricht sich aber darin aus: daß jeder siegende eindringende Feind, noch ehe er es wagte, sich an der ihm bereits in die Hand gefallenen Hauptstadt oder deren Burg und dem Heiligthume der Schutzgottheit als Oberherr zu vergreifen, jedesmal erst die Zustimmung der letztern zu solchem Beginnen zu erhalten trachtete und Opfer und Anfrage vor ihr that, ja man knüpfte oft die Möglichkeit der Eroberung einer unnehmbaren Feste an diese Verrichtung; und zwar geschah dies noch in einer Zeit, in der das starre Band der altern Religionsbegriffe längst schon gelokkert worden war." Auch die Fortsetzung von Nietzsches Darstellung („deshalb war die Verheimlichung des Namens der Schutzgottheit in Rom streng verboten") ist gänzlich auf Boettichers Handbuch zurückzuführen: vergleiche G D G (S. 49 f.) mit der Tektonik (Bd. 2, S. 144-146).

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Religion ursprünglich mit ,Gewissen' oder Jnteriorität' gar nichts zu tun habe. Viele der Werke, sowohl aus dem Fachgebiet der Ethnologie wie dem der Altertumswissenschaft, die er in Frühling-Sommer 1875 liest, stimmen darin überein, daß gottesdienstliche Rituale als ,Machtäußerungen', als Handlungsweisen zu verstehen seien, durch welche der Mensch entweder die Naturkräfte zu beschwören trachte, oder die Gunst der Götter zu erzwingen suche. Das Resümee der Vorlesungen ist unzweideutig: „In Wahrheit hat die griechische Religion mit der inneren Gesinnung und den Vorstellungen wenig zu thun." % Diesbezüglich ist es höchst instruktiv zu sehen, wie Nietzsche, was die antike Religiosität und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit betrifft, sich mit den Ideen Schoemanns kritisch auseinandersetzt. Er wirft dem Altphilologen vor, die Hellenen an einem allzu modernen Maßstab zu messen: [Nietzsche] Es steht fest, dass alle Gesetzgebungen nur das äusserliche Verhalten des Menschen zu den Göttern erwähnen. Es giebt nichts Unächteres als das Prooemium des lokrischen Gesetztgebers Zaleukos, wo es heisst, dass man den Göttern nicht mit kostbaren Gaben und prunkendem Aufwende dient, sondern mit Tugend: zu den Heiligthümern solle man seine Zuflucht nehmen, um den Versuchern zu entrinnen. Die Götter wollten das Rechte und bestraften das Unrechte: zuletzt Hinweisung auf zukünftige Vergeltung im Jenseits. Schömann meint, man habe den Staat unter die Obhut der Götter gestellt, weil man die Religion als die sicherste Stütze der Moralität betrachtet.97

* G D G , S. 51 97 Ebd., S. 50 f.

[Schoemann] Der lokrische Gesetzgeber Zaleukos soll seinen Gesetzen eine Vorrede vorangeschickt haben [...]. ,Ein Jeder [...] muss sich bestreben, seine Seele von allem Bösen rein zu halten, denn von bösen Menschen wird den Göttern keine Ehre erwiesen. Man dient ihnen nicht mit kostbaren Gaben und prunkendem Aufwand, sondern durch Tugend und redlichen Willen zum Rechten und Guten. Deswegen muss ein Jeder [...] bedenken, dass die Götter den Ungerechten strafen, und sich erinnern, dass eine Zeit kommt, wo er aus dem Leben abgerufen wird, und wo er dann zu spät seine bösen Thaten bereuen [... ] wird. Wenn aber Einem der Versucher naht und ihn zum Bösen verlocken will, so muss er seine Zuflucht zu den Tempeln, Altären und Heiligthümern nehmen und die Göttern anrufen [...]'. Es ist nun zwar gewiss, dass dies Proömium, wie Alles, was sonst von den Gesetzen des Zaleukos berichtet wird, ihm erst in späterer Zeit—wenn auch schon vor Cicero — untergeschoben ist; aber ebenso gewiss ist es auch, dass ähnliche Ansichten, wie wir sie hier ausgesprochen finden, weder dem Sinne der alten Gesetzgeber noch überhaupt der Religion des Alterthums fremd gewesen sind [...]. Nur aus der Über-

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zeugung, dass die Gebote der Sittlichkeit Gebote der Götter seien [...], lässt sich ja erklären, dass man den Staat und die staatliche Ordnung unter die Obhut der Götter stellte [...]. Betrachtete man nun aber wirklich die Religion als die sicherste Stütze der Sittlichkeit [...].98 An dieser Stelle, in der eine Überlegung Schoemanns angeführt, aber zugleich in ihrer Bedeutung umgekehrt wird, nimmt Nietzsches Polemik gegen „Betrüger oder Betrogene", Philologen und Altertumswissenschaftler, die die Antike in einer „Verquickung mit Christenthum "99 betrachten, genauere Umrisse an. Hier zeigt er, wie Philologen, die ein verklärtes Bild des Hellenentums zeichnen, die Vergangenheit verfälschen, indem sie deren weiten Abstand von der Gegenwart ignorieren. Die antike Welt mit dem Rüstzeug der Ethnologen wiederzuentdecken, heißt für Nietzsche, Entstellungen wie die Schoemanns unmöglich zu machen. In seinem Leitgedanken, daß in der Antike keine Spur eines Zusammenhanges von Religion und Innerlichkeit, Kultus und moralischer Läuterung aufzuweisen sei, kann sich Nietzsche auch auf Nissens Forschung beziehen, in der der Begriff „templum" mit dem des Eigentums verknüpft wird: [Nietzsche] Der Begriff des templum reicht in gräko-italische Zeit hinauf. Er hat sich nicht entwickelt aus dem Begriff des Heiligen, Gottgeweihten, die Vorstellung des Eigenthums liegt zugrunde. Das Haus gehört dem Gott, der darin wohnt, die Kurie dem Senat, das Comitium den Bürgern [...]. Die Constituirung eines Tempels hat sofort zur Folge, dass der also eingehegte Raum von einem Geiste in Besitz genommen wird [...]. Jeder Geist, der in einen Raum gebannt ist, gewinnt Individualität und einen bestimmten Namen, bei dem der Mensch ihn anrufen kann.100

[Nissen] Der Begriff des Templum hat sich nicht entwickelt aus dem des Heiligen, Gottgeweihten und noch weniger deckt er sich mit ihm. Eines der höchsten Heiligtümer in Rom, das der Vesta, war, wie bemerkt, kein Templum. Vielmehr lässt sich in allen Anwendungen mit Deutlichkeit die ursprünglich zu Grunde liegende Vorstellung des Eigentums erkennen. Das Haus gehört dem Gotte, der darin wohnt, die Curie dem Senat, das Comitium den Bürgern [...]. Die Constituirung eines Tempels hat sofort zur Folge, dass der also eingehegte Raum von einem Geist in Besitz genommen wird. Dieser Geist ist gewisser Massen eine Abspaltung des endlosen Naturgeistes, der die ganze Schöpfung erfüllt [...]. Die Gottheit wird erkannt an ihren Wirkungen und ihrer Um-

G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 140 f. 5[15] u. [39] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 43 u. 51. In diesem Zusammenhang sind auch andere Fragmente zu berücksichtigen: 5 [33], [114] u. [138] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 49 f., 70 u. 75. 100 GDG, S. 32 f.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren gebung. Deshalb gewinnt jeder Geist, der in einen Raum gebannt ist, eine Individualität und einen bestimmten Namen, bei dem der Mensch ihn anrufen kann [...]. Der Begriff des Templum reicht in graekoitalische Zeit hinauf.101

Anschließend behauptet Nietzsche, auch darin Nissen folgend: [Nietzsche] templum (tem, wie exemplum zueximere). Bei Homer heisst τέμενος'^άεε als Eigenthum abgegrenzte StückLand, mag es einem Könige, Helden oder Gotte gehören, im ersten Fall Privatbesitz, das aus dem Gemeindeland ausgeschieden ist, II. 6, 194

[Nissen] Der Begriff der Sonderung ist bei den Alten verkörpert im templum, gr. τέμενος, dem Ausgeschnittenen Begrenzten, von der Wurzel tem schneiden (τέμνειν, wie exemplum von eximere; anders Corssen, Kr. Beitr. 440, Curtius, Gr. Etym. 2. 625). Bei Homer heisst τέμενος· jedes als Eigentum abgegrenzte Stück Land, Acker und Baumpflanzung, mag dasselbe nun einem Könige und Helden oder auch einem Gotte gehören. Im ersten Falle ist es ein Privatbesitz, der aus dem Gemeindeland ausgeschieden wird; so II. 6, 194 [...].103

Mit der Erörterung der Herkunft des Terminus „templum" unterstreicht Nietzsche noch einmal, daß das Religionswesen der Alten nicht zu verstehen sei, wenn man von der Vorstellung einer Trennung zwischen dem Bezirk des Heiligen und dem des Profanen ausgeht. Die Äquivalenz von „templum" und Eigentum, ebenso wie die Deutung des Symbols als Unterpfand und des „Cultuslieds" als Zauberbann und Abwehrmechanismus, mache ersichtlich, daß in der ersten Entwicklungsphase der religiösen Vorstellungen ein durchaus konkretes Moment wirksam sei.

9. W. Mannhardt über

Reinigungszeremonien

Im ersten Teile der Gottesdienst-Vorlesungen tritt, wie schon gezeigt, das Bestreben zutage, eine breite, auch auf die Völkerkunde zurückgreifende Ausgangsposition für den Nachweis zu schaffen, daß ein bestimmtes „Verhalten gegen die Natur", d. h. die Suche nach,Zaubermitteln' und Stratagemen zur .magischen' Lenkung und Kontrolle übermächtiger, willkürlicher und feindlicher Mächte der Umgebung, die Form eines gottesdienstlichen Brauches, eines Rituals annehme. Unter diesem Gesichtspunkt erhalten gerade die Reinigunszeremonien, die ja in

H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 8. Eine kurzgefaßte Darstellung von Nissens „grundlegendem Werke" gibt E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Oxford 1954, Bd. 2, S. 123 ff. 102 GDG, S. 33, Anmerkung 7. 103 H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 1. 101

W. Mannhardt über Reinigungszeremonien

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jeder Religion eine äußerst wichtige Rolle spielen, eine paradigmatische Bedeutung. Nietzsche stellt überzeugend dar, daß sie ursprünglich nicht Prozeduren seien, die eine innerliche Läuterung, eine „andächtige Stimmung", gewährleisten, sondern Abwehrmechanismen beziehungsweise Vergeltungsmaßnahmen gegen die Gewalt „böser Dämonen" darstellen. In diesem Zusammenhang macht sich Nietzsche Gedanken zu eigen, die W . Mannhardt in seinem Buch „Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme" (Berlin 1875) entwickelt hatte. Mannhardt spricht von Uberresten solcher Zeremonien, die keineswegs als „symbolische Handlungen" zu deuten seien, „wodurch der Mensch an die innere Reinigung und Sammlung [denke], die dem Verkehr mit der Gottheit vorangehen müsse"104: [Nietzsche] Mit allen Reinigungen will man feindselige Dämonen verscheuchen, die den Verkehr mit der Gottheit stören könnten. Bei vielen wilden Völkern ist es nachgewiesen, dass sie mit Feuerbränden böse Geister verscheuchen, mit Feuer die Wöchnerin, das Kind, die vom Begräbniss zurückkehrenden Hinterbliebenen von den ihnen anhaftenden bösen Mächten zu befreien suchen.105

[Mannhardt] Die fraglichen Feuer, ja der von ihnen ausgehende Fackellauf über die Kornfelder könnten hienach rein als Lustration , als Feuerreinigung aufgefaßt werden, wie sie bei vielen wilden Völkern vorkommt, welche mit Feuerbränden böse Geister verscheuchen, mit Feuer die Wöchnerin, das Kind, dievom Begräbnisse zurückkehrenden Hinterbliebenen von der Befleckung und den ihnen anhaftenden bösen Mächten zu befreien suchen. (Tylor, Anfänge der Cultur, II, 195; 433 ff.)106

Gleich darauf greift Nietzsche abermals eine Stelle aus Mannhardts Werk auf, in der nicht nur Tylor, sondern auch Bastian und Boetticher zitiert werden, um seine Grundthese („Aber an die .Stimmung' des Menschen, an sein .Inneres' wird ursprünglich bei religiösen Gebräuchen nie gedacht")107 mit weiteren Beispielen zu bekräftigen: [Nietzsche] Das Brandopfer scheint ursprünglich nichts anderes zu sein, als das Verbrennen feindseliger, dem Gotte widriger Dämonen in Thier- oder Pflanzengestalt: so wird beim Verbrennen des Maibaums der

[Mannhardt] Hiezu stimmt eine Reihe anderer Gebräuche, aus denen hervorgeht, daß einstmal die im Laufe des letzten Jahres neuvermählten Ehepaare oder Brautpaare durch das Feuer sprangen, oder die als

i « GDG, S. 13. κ» Ebd. 106 W. Mannhardt: Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 608. Auch wo Tylor die „cerimonielle Reinigung oder Lustration" behandelt, vertritt er die Meinung, daß diese ursprünglich nicht die Bedeutung einer „Befreiung von [...] spiritualenund [...] moralischen liebeln" habe: Sie sei vielmehr eine symbolische Umwandlung von Ritualen, durch die zunächst ganz konkret die „Entfernung körperlicher Unreinheit", etwa nach der Geburt oder nach der Berührung mit Kranken, bewerkstelligt worden sei (Die Anfänge der Cultur, a.a.O., Bd. 2, S. 430 ff.). 107 GDG, S. 13.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Tod aller jener den Misswachs hervorbringenden Geister gemeint sein: alles, was die Pflanzen auf Aeckern, Wiesen, Obstgärten anfrisst, zerstört, hindert, wird da verbrannt.108

Nachbildung der Sonne dienenden Räder oder Scheiben warfen [...]. In dem nämlichen Feuer wurde auch der Doppelgänger des Vegetationsdämons, der Maibaum verbrannt [...]. Da diese Verbrennung unmöglich die Vernichtung der Vegetation selbst bedeuten kann, muß ihre Reinigung von allen sie schädigenden, das Wachstum hindernden Einflüssen, der Tod aller jener Pflanzen auf Aeckern, Wiesen, Obstgärten anfressenden, zerstörenden, hindernden Insekten und Mißwachsgeister (Zauberer, Hexen, Feldgespenster, Ungeziefer, Raupen, Mücken, Käfer, Mäuse) gemeint sein.109

Diesen Beobachtungen, die volkstümliche Bräuche der Gegenwart betreffen, läßt Nietzsche eine knappe Bemerkung folgen („Dasselbe will man auch mit dem Wedel und dem Schlag der Ruthe, ζ. B. mit dem Lorbeer als Sprengwedel des Weihewassers")110, die sich auf antiken Aberglauben bezieht und wiederum auf Mannhardts Text (auf eine Passage, in der Boettichers Buch „Der Baumkultus der Hellenen" besprochen wird) zurückgeht: Mit Binden geschmückte Lorbeerzweige dienten als Sprengwedel, mit denen sich der Gottesfürchtige beim Eintritt in den Tempel und beim Ausgange aus demselben aus dem Weihwasserbecken besprengte und von welchem er beim Herausgehen ein Blatt zu sich nahm und möglichst lange bei sich trug, um die empfangene Reinheit dauernder zu machen. Solches Besprengen befreite angeblich von der Pest [Theophrast. Char. 16. Clemens Alex. Strom. VIII § 49]. Auch ins Saatfeld wurde ein Lorbeerzweig gesteckt, um das Getreide vor Rost und Brand zu behüten [Plin. hist. nat. XVIII. 45. Geopon. V, 33, 4]. 111

10. Nachahmende

Handlungen

Mit einer für diese Vorlesungen typischen kühnen Gedankenverbindung geht Nietzsche von bäuerlichem Brauchtum aus, das im neunzehnten Jahrhundert in einigen Gegenden Deutschlands und Polens noch weit verbreitet war, um, hierin Mannhardt folgend, die Brücke zum klassischen Altertum zu schlagen und festzustellen, daß dieselben Bräuche, die den .bewunderungswürdigen' Hellenen eigen waren, noch in dem kleinen deutschen oder polnischen Bauerndorf der Gegenwart zu finden sind: Ebd. W. Mannhardt: Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 607 f.. Zu Mannhardts Werk siehe E. Cassirer: Ρhilosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 2, S. 135 f., 227,241 u. 267. no GDG, S. 13. ι ii W. Mannhardt, Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 297. An dieser Stelle wird auf C. Boettichers Baumkult der Hellenen, a.a.O., S. 362 u. 370 hingewiesen. 108 109

Nachahmende Handlungen [Nietzsche] Man nimmt an: wenn man gleiche Bedingungen schafft, tritt das Gleiche ein, also die Ephiphanie eines Gottes [...]. Es ist eine Art Zwang. Man glaubte leicht, einen Gott zu sehen, es galt für nichts so Schweres, ihn zum Kommen zu bewegen. Aber nicht nur dadurch, dass man dasselbe that; auch insofern man das Aehnliche that, fühlte man sich ihm nahe. Man denke an die Stellung der Frauen im Kult der Demeter: der Keim, der in der Erde Schooss gepflanzt wird, um Früchte hervorzubringen, war das Analogon der geschlechtlichen Zeugung, alle Frauen fühlten sich als der Mutter Erde ähnlich und dienten ihr.112

113

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[Mannhardt] Die speziellere Bedeutung des Erntemais auf die Kulturfrucht zeigt sich auch darin, daß ihm gemeinhin ein Verbleib an oder über dem Tor oder auf dem Giebel der Kornscheuer angewiesen wird. Gradeso wird oftmals auch da, wo der Erntemai unbekannt ist, die letzte Korngarbe auf das Dach der Scheune gebunden [...], ebenso der auf der letzten Fuder heimgebrachte mit bunten Bändern und Bildern gezierte Erntekranz [...]. Nach der vorhin S. 213 auseinandergesetzten Bedeutung der letzten Garbe kann hiedurch kein anderer Gedanke ausgedrückt sein, als der Wunsch, daß das Numen der Vegetation auch über der Weiterfortpflanzung der in der Scheune geborgenen Nährfrucht segnend wachen und walten möge. Von dem Boden dieser Anschauungen aus erklärt sich auch das ungewöhnliche Hervortreten der Frauen in den Bräuchen des Erntemai. Vertritt derselbe nämlich das lebengebende Princip des Kornwachsthums, so muß, um diesen vollständig darzustellen, auch noch das empfangende, hervorbringende zur symbolischen Abbildung gelangen. Der im Acker grünende Lebensbaum stirbt mit der Ernte ab, aber aufs neue soll er gepflanzt werden in der Erde Schoß und daraus Früchte hervortreiben. Darum gehört er den Frauen zu eigen, darum dürfen nur diese ihn aus dem Boden reißen und nach Hause fahren [...]. Diese ihre Tätigkeit schien den Alten eine Gewähr, daß die ins Feld gestreute neue Saat auch die hervorbringende Muttererde, den großen Lebensschoß, günstig finden werde. Hier sind also die Frauen rein sinnbildliche Vertreterinnen einer allgemeinen Idee.113

GDG, S. 14. W. Mannhardt: Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 216 f.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Außerdem schreibt Nietzsche in einer Notiz zu seinen Vorlesungen: Kampfspiele Einwirkung auf das Gedeihen der Saaten. Gefechte, auf einander Schiessen ist Sinnbild der heissen Sonnenstrahlen, die man ersehnt. Mannh. p. 552.114 Aufgrund dieser Notiz ist es möglich, eine weitere Entsprechung zwischen der endgültigen Fassung des Vorlesungsmanuskriptes und einer Stelle aus Mannhardts Werke festzustellen, in der Feuerzeremonien sowie rituelle Kämpfe und „Scheiben schiessen" beschrieben und als „Nachbildungen des Sonnenfeuers" gedeutet werden: [Nietzsche] Auch glaubt man, durch ähnliche Handlungen Aehnliches erzwingen zu können: man glaubt z. 6. an den Einfluss der Kampfspiele auf das Gedeihen der Saaten, weil das Schiessen und Werfen der Wirkung der Sonnenstrahlen ähnlich gesetzt wird: die ja als Pfeile gedacht werden.115

Ii" Vor.K. I i ' G D G , S. 14 f.

[Mannhardt] [...] das Kampfspiel hat nicht minder als der Fackellauf eine vermeintliche Einwirkung auf das Gedeihen der Saaten [...]. Im Dorfe Belling bei Pasewalk ziehen die Bauern am Sonntage vor Johannis in zwei Abteilungen, die Herren zu Fuß, die Knechte zu Pferde morgens früh aus dem Dorfe aufs Feld und kämpfen mit einander [...]. Nachherist Scheibenschießen; der beste Schütze wird König und geschmückt ins Dorf geführt. [Dazu heißt es in der Fußnote weiter:] Daß dieses in der Tat ein feststehender Typus war, dafür sprechen merkwürdige asiatische Analogien. In Nepal liefern sich die jungen Leute in der nördlichen und südlichen Vorstadt Kathmandus Gefechte, um daraus Voraussetzungen für die Fruchtbarkeit des kommenden Jahres zu ziehen. A. Bastian, Wanderungen in Kambodja. Ausland 1865. p. 1160. ,Das dritte Hauptfest, welches in Maleyala gefeiert wird, heißt Onain und fällt jedesmal auf den Neumond im September. Dann hört es auf zu regnen. Die Natur verjüngt sich [...]. Die Mannespersonen, besonders junge Leute, formieren zwei Heere.und schießen mit Pfeilen auf einander, die zwar abgestumpft, aber sehr stark sind und mit großer Gewalt abgeschnellt werden, so daß es auf beiden Seiten eine ganze Anzahl Verwundeter giebt. Zu Ehren des Vishnu pflegen sie bei dieser

Nachahmende Handlungen

99

Gelegenheit ein großes Rad, das Symbol des Gottes (Vishnu war ursprünglich Sonnengott) aus Blumen zu verfertigen und in den Vorhöfen ihrer Häuser aufzustellen. Sie geben dadurch auf sinnreiche Art zu verstehen, daß die Sonne nunmehr nach Verlauf der Regenzeit wieder im Annähern begriffen sei und ihre Herrschaft gleichsam von neuem antrete'. Fra Paolino da San Bartolomeo, Reise nach Ostindien, hrsg. v. R. Forster. Berlin 1798. S. 362. Hier begegnen wir sogar dem auch beim Sonnwendfeuer gebräuchlichen Sonnenrade wieder. Ueber die merkwürdige Parallele im homerischen Hymnus an Demeter v. 266 werde ich demnächst an anderem Orte ausführlich verhandeln.116 An derselben Stelle des Kollegs fügt Nietzsche einen weiteren Hinweis ein („Das Begiessen mit Wasser ist ein Regenzauber für die kommende Erndte") 1 I 7 , mit dem er Mannhardt folgt, der schreibt: Eine besondere Betrachtung verdient die Wasserbegießung oder die Eintauchung in Bach oder Teich, welcher wir das Laubmännchen, den Pfingsd unterworfen sahen. Denn dies stimmt genau dazu, daß [...] in Polen, Schlesien und Siebenbirgen das Mädchen, welches zu Ostern die Frühmette verschlafen hat [d. h. zuletzt erwacht ist, wie der Pfingsdümmel, Pfingstschläfer u. s. w.] gewaltsam gebadet, resp., damit der Hanf gut wachse, benetzt, bei der Ernte der Träger des Erntemais, resp. dieser selbst oder die letzte Garbe begossen wird. Wir wissen bereits, daß diese Ceremonie ein Regenzauber war [...]. Die Rumänen in der Gegend von Mediasch (Siebenbirgen) ziehen bei Regenmangel einem kleinen unter zehn Jahren stehenden Mädchen ein aus Kräutern und Blumen zusammengesetztes Hemd an und alle Altersgenossen folgen der kleinen vermummten, Papaluga genannten Person [...]. Dem Zuge wird, wohin er kommt, von den Weibern kaltes Wasser über die Köpfe gegossen.118 Mit großem Interesse nimmt Nietzsche von diesen Zeremonien Kenntnis, durch welche man einen Gott oder Dämon zum Eingreifen zu zwingen trachtet, indem man die von ihm erwartete Handlung nachahmt. Auch in diesem Falle scheint der eigentliche Sinn der rituellen Handlungen darin zu bestehen, Einfluß auf den

W . Mannhardt: Der Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 552 f. Aber auch in dem Nietzsche bekannten Werk L. Prellers über die griechische Mythologie war bei der Behandlung der gewöhnlichen Symbole des Apollon, Pfeil, Bogen und Phorminx, die Behauptung zu finden: „Die Strahlen der Sonne, des Mondes, der Gestirne als Geschütz und Waffen, insbesondere als Pfeile zu denken, ist ein altes und in der Mythologie weit verbreitetes Bild" (Griechische Mythologie, 3. Aufl., Bd. 1, Berlin 1872, S. 231). Noch im Juli 1875 lieh Nietzsche in Basel dieses Werk aus, in welchem er auch in den vorherigen Jahren oftmals nachgeschlagen hatte, i n GDG, S. 15. 116

118

W . Mannhardt: Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 327 f.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Willen der Gottheit zu gewinnen. Auf einem Blatt, das sich unter den Vorarbeiten zu seinen Vorlesungen befindet, vermerkt Nietzsche u. a.: Wettlauf 391. wetteifernder Einzug der Pflanzengenien in Wald und Feld. Im Herbst entflieht der Dämon und sein Gefolge 119

Damit ist Mannhardts Schilderung jener Bauernbräuche zusammengefaßt, die das Ende der Winterzeit durch eine nachahmende Handlung beschleunigen sollen, durch „eine Verbildlichung des jüngsten, zuletzt erwachten Pflanzengeistes im Frühling". An einem Feiertage findet im Dorf ein Wettlauf statt, der „den wetteifernden Einzug der Pflanzengenien in Wald und Feld nachzubilden" scheine, indem einerseits „die Personen [...] Pflanzengeister darstellen"; andrerseits das ganze Laufen „per Synekdochen der Vertreter der Baumwelt [ist], in welche die vom Winterschlaf erwachenden Vegetationsgenien jetzt wieder ihren Einzug halten."120 Ähnliche Ausführungen findet Nietzsche bei dem Altphilologen R. Foerster: [Nietzsche] Viertens die nachahmende Handlung. Fast alle Kulte enthalten ein δράμα, ein Stück dargestellten Mythus, der sich auf die Gründung des Kultes bezog. Der eigentliche Sinn scheint der: es ist das höchste Zeichen der Ergebenheit, zu thun und zu leiden, was ein Gott selbst gethan und gelitten hat: kurz, so viel als es möglich ist, sich bemühen, er selber oder sein Gefolge zu sein. Dies gilt als Mittel, den Gott zu bewegen, selber mit theilzunehmen und zu erscheinen. 121

[Foerster] Früh wird der Mythus auch in den Cultus aufgenommen und spiegelt sich in diesem ab: was die Gottheit im Mythus tut oder leidet, das wird bei den Festen von den Dienern und Verehrern derselben nachgeahmt. Und auch in dieser Beziehung nimmt der Mythus vom Raube eine hervorragende Stellung ein: die Feste der Demeter und Persephone sind zum grossen Teil nur mimische Darstellungen des Raubes und der mit ihm zusammenhängenden Begebenheiten, und unter diesen ist fast keine, welche nicht in einer Festhandlung ihr Abbild gefunden hätte.122

Mit diesen Hinweisen auf Mannhardt und Foerster kann die Schilderung der von Nietzsche 1875 unternommenen .Entdeckungsreise', bei der es ihm um das Verhältnis der älteren Griechen (und der .Primitiven') zur Natur ging, als abgeschlossen betrachtet werden. Die von ihm ins Auge gefaßten Rituale — die Behandlung der Symbole als wirksame Unterpfänder, die bannende Kraft des Rhythmus, die

Ii' 120 121 122

Vor.K. W. Mannhardt: Oer Baumkultus der Germanen, a.a.O., S. 392. GDG, S. 14. R. Foerster: Der Raub und die Rückkehr der Persephone in ihrer Bedeutung für die Mythologie, Litteratur- und Kunst-Geschichte, Stuttgart 1874, S. 18. Nietzsche entlieh Foersters Studie am 20. Oktober 1875.

C. Boetticher: „Geheime Sacra" im Hellenentum

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Inszenierung von Reinigungszeremonien und nachahmenden Handlungen — zeigen auf sehr anschauliche Weise, „daß wir seit Jahrtausenden [...] uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben" (MA 16). Zugleich aber weisen sie insgesamt einen gemeinsamen Wesenszug auf, der in Nietzsches Augen Beachtung verdient: Sie entspringen sämtlich dem Bestreben, in die „Welt der Erfahrung" einzugreifen und sich entschieden der Ubermacht der Naturkräfte entgegenzustellen, ohne in einer bloß „schimpfenden Weltbetrachtung" (MA 28) oder einer „Traumbild-Welt" (MA 222) Zuflucht zu nehmen. Der Aspekt, den es festzuhalten gilt, ist dieser: Die religiösen Kulte, mit denen sich Nietzsche 1875 befaßt, sind Ausdrucksformen einer Menschheit, die keine Furcht kennt, die Götter herauszufordern, ja dieselben nachgerade zu knechten und zu betrügen wünscht, und der demnach „die innere Welt der erhabenen, gerührten [...], tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen" und all die Mittel fremd sind, „durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird." (MA 130) Das wichtigste Ergebnis dieser Entdeckungsreise', durch die Handlungsweisen ans Licht gebracht werden, die gewissermaßen die,Prähistorie' der modernen Technik (und der entsprechenden Mentalität) darstellen, spricht Nietzsche zu Beginn des Gottesdienst-Kollegs eindeutig aus: „Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sklave gegenüber, er ist nicht der Knecht derselben."123 11. C. Boetticher: „Geheime Sacra" im Hellenentum Boetticher mißt den „Mysterien" und „geheimen Sacra" im hellenischen Götterdienst, und damit dem Verbot, heilige Bilder direkt anzuschauen („Wie überhaupt der Anblikk aller alten Kultbilder gewöhnlich Sinneszerrüttung oder Tod nach sich ziehe..."), große Bedeutung bei, ebenso Nietzsche in seinen Vorlesungen. Auf geschickte Weise kombiniert er in seiner Darstellung dieses Zuges der griechischen Religiosität eine Stelle aus der „Tektonik" und eine Schilderung aus Schoemanns Handbuch: [Nietzsche] Besonders nahm man Rücksicht bei der baulichen Einrichtung der Tempel; die Schutzbilder wurden sehr häufig in geheime Cellen eingeschlossen, oft unterirdisch: ein άδυτον. Dazu die Vorstellung, dass das Bild für den Anblick eines Jeden (mit Ausnahme des Priesters) Wahnsinn und Tod nach sich ziehe. Höchstes Gebot: kein Mann eines fremden Stammes darf auf dem Altare eines Schutzbildes opfern. Das rituelle Reinigungsbad des Bildes in Meer oder Fluss

123 GDG.S.9.

[Boetticher] Am wichtigsten für die Betrachtung hier ist jedoch der Einfluß, den die Sicherung der Schutzbilder und ihrer Sacra auf die bauliche Einrichtung der Tempel selbst ausgeübt hat; denn außer der an sich schon gesicherten örtlichen Lage des Baues überhaupt, wurden sie in geheime Cellen eingeschlossen, welche gewöhnlich unterirdisch angelegt sind, um sie recht zum Adyton zu machen, und es ist eine bis jetzt kaum beachtete Thatsache, in wie großer

102

II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

wird an einsamen Orten mit geheimnisvollen Ceremonien vorgenommen: die Strafe der Gottheit trifft jeden, der es auch nur anfällig erblickt. Das alte Holzbild der Athene zu Pallene stand für gewöhnlich im verschlossenen Heiligthum; wurde es herausgetragen, so wandten sich alle ab, sein Anblick war den Menschen verderblich, es machte die Bäume unfruchtbar, die Früchte fielen ab.124

Anzahl sich bei den Hellenen Tempel mit solchen geheimen Cellen finden, welche die eben angegebene Bestimmung haben. Von der andern Seite sorgte schon die heilige, in den Ursprüngen des Kultes wurzelnde Sage für die Unnahbarkeit ihres Sitzes, indem sie denselben dadurch mit einem geheimnißvollen, dämonischen Grauen erfüllte, daß sie das Bild für den Anblikk eines Jeden, mit Ausnahme des Priesters, als furchtbar und unheilbringend, Wahnsinn oder Tod nach sich ziehend schilderte; darum stand es auch als ein höchstes Gebot da: daß kein Mann eines fremden Stammes auf dem Altare eines Schutzbildes opfern durfte, weil die Verrichtung der Sacra auf der ihm geweihten Thymele dem Fremden schon die Theilhaftigkeit und das gottesdiensdiche Anrecht am Schutzbilde verlieh, mithin dasselbe zu dessen Stamme herüberzog. Selbst in spätem Zeiten und bei mildern religiösen Begriffen, nach denen man das Schutzbild in der gewöhnlichen Cella der Anschau und Adoration darbot, wird das rituelle Reinigungsbad desselben in Meere oder Flusse nur unter Bürgschaft der Priester an einsamen Orten mit geheimnißvollen Cerimonien vorgenommen, wobei der Schaubarkeit dieser Handlung ebenfalls dadurch vorgebeugt wurde, daß die Sage jeden Profanen die Strafe der Gottheit in dem Augenblikke treffen ließ, wo er, wenn auch nur zufällig, das Bild in seiner Enthüllung erblikken würde. 125 [Schoemann] [...] zu Pallene hatte man ein altes Holzbild der Athene, welches ebenfalls, aber nur zum Unheil, kräftig war. Gewöhnlich stand es unberührt im verschlossenen Heiligthum: wenn es aber einmal von der Priesterin aufgenommen und herausgetragen wurde, so schaute Keiner es an, sondern alle wandten sich ab; denn sein Anblick war nicht bloss den Menschen verderblich, son-

124 GDG, S. 47 f. ι?' C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 138 f.

C. Boetticher: „Geheime Sacra" im Hellenentum

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dem machte auch die Bäume unfruchtbar, und die Früchte fielen ab, wohin es getragen wurde [Plutarch. Arat. c. 32], 126 Nietzsche folgt Boetticher auch in bezug auf jene „unechten Bilder", die der Ablenkung vom eigentlichen und allerheiligsten Bilde der jeweiligen Schutzgottheit dienten: [Nietzsche] Eine andere Vorsichtsmassregel ist Aufstellung eines unächten Bildes. Pausanias kennt eine ganze Anzahl Tempel mit Adyta, bei denen das zur öffentlichen Verehrung, glänzend an Kunst ausgestattete Bild als θέαμα in der Cella stand: das allerheiligste, unscheinbare Bild im Adyton verborgen zur Feier von intimen Sacra und Mysterien.127

[Boetticher] Hierzu gesellte man noch eine andre Vorsichtsmaßregel: die Aufstellung eines unächten Bildes oder einer Nachbildung des allerheiligsten; denn wenn noch Pausanias eine ganze Anzahl Tempel mit Adyta kennt, bei denen das zur offen dichen Verehrung geweihte und glänzend an Kunst ausgestattete Bild als Theama in der Cella, das allerheiligste, gewöhnlich unscheinbar gehaltene Bild, mit welchem die Gründung des Tempels und Kultes zusammenhängt, dagegen im Adyton zur Feier der intimen Sacra und Mysterien verborgen aufbewahrt und vielleicht nur an den Tagen der Kultstiftung oder Theophanie der Gottheit aus diesem Raum gebracht und der Verehrung dargeboten wurde, so dürften alte Sagen wie die, daß die Achäer nur ein falsches Palladium geraubt hätten, weil ein bloßes Abbild des ächten Bildes öffendich aufgestellt war, um eben einen Entwender zu täuschen [Dion. Hal. II, 66], durch Beispiele, die noch Pausanias vor Augen hatte, eine allgemeinere Begründung gewonnen haben.128

Mit dem Hinweis auf die „Mysterien" und die „geheimen Sacra" bringt Nietzsche die Durchforschung der ältesten Schichten der griechischen Kultur zum Abschluß, die, seiner Auffassung nach, für die damalige Altertumswissenschaft eine .Terra incognita' bleiben mußten. Auch diese Elemente, die bei Boetticher ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, wurden gewöhnlich von jenen Altphilologen außer acht gelassen, deren einzige Sorge — nach Nietzsche — eine „alexandrinische Bildung" war.

F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 166 f. 127 GDG, S. 48. 1 2 8 C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 139. 126

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

12. Zur Deutung des Aphorismus 222 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" In seinen Schriften kommt Boetticher immer wieder auf religiöse Gebräuche der Griechen wie das „Verbergendes Kultusbildes" und die merkwürdige „Anlage von Adyta und geheimen Cellen" zurück, aus denen deutlich werde, daß ein wesentliches, doch fast durchweg außer acht gelassenes Kennzeichen der griechischen Religion „jenes geheimnißvolle Grauen" sei, welches nicht allein der Verkehr mit den Göttern, sondern schon der bloße Anblick ihrer Abbilder hervorrufe: „Hinsichtlich der anthropomorphischen Bilder ist wohl nicht zu läugnen, daß das obstruse und wunderbargestaltige der ältesten Idole, verbunden mit den warnenden Sagen von Blendung, Irrsinn oder plötzlichem Tode, welche den trafen, der sich dem Unnahbaren genaht und das Verbotene geschaut hatte, jenes geheimnißvolle Grauen, mit welchem das Heiligthum umgeben war, vermehrten und die Scheu vor dem Betreten geheimer Hiera stets lebendig erhielten."129 Ohne Zweifel bilden dieser Begriff eines „geheimnißvollen Grauens" und das Werk Boettichers im allgemeinen den Hintergrund zum Aphorismus 222 der „Vermischten Meinungen und Sprüche", in dem Nietzsche die Ansicht darlegt, daß nicht in einer Verehrung von „Uberkraft" und „Schönheit", sondern in einer „grausenhaften Heiligkeit" das Eigentümliche der Religiosität der Hellenen besteht. Gerade dieser Aphorismus („Das Einfache nicht das Erste, noch das Letzte der Zeit nach"), Umarbeitung einer Stelle der Gottesdienst-Vorlesung, zeigt deutlich, welch nachhaltige Wirkung die Lektüre von Sommer-Herbst 1875 auf Nietzsche hatte. So wie Boetticher dafürhält, daß die Hellenen nicht nur in den ältesten Zeiten „den Glauben [teilten], es sei das Weben und Wirken der Gottheit den menschlichen Sinnen verborgen, ihre wahre Gestalt unschaubar oder dem Anblikke unerträglich"130, so vermutet auch Nietzsche (ebenfalls im Aphorismus 222), daß die Entwicklung zur „ Anmenschlichung" der Götterbilder in der griechischen Kultur nicht so widerstandslos und geradlinig verlaufen sei, wie viele Philologen meinen: Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche E n t w i c k l u n g der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade so, dass, so lange die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Thiere hineinverlegt und -empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gotdosigkeit scheute.

In den Vorlesungen und, in verkürzter Form, auch in den „Vermischten Meinungen und Sprüchen" wird behauptet, daß noch in einer Zeit, in der die griechische Skulptur schon hoch entwickelt gewesen sei, „überall wo angebetet werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird", so etwa in Ebd., Bd. 2, S. 302. »0 Ebd., S. 301.

Zur Deutung des Aphorismus VM 222

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[den] Dionysoshermen, Herrn-Athenen, Herm-Heraklen, Hermen-Pane[n], d. h. Steine[n] mit theilweiser Abbildung eines Kopfes. In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Uebervollständigen, recht eigentlich Unmenschlichen liegt hier die grausenhafte Heiligkeit; es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, als ob man es in der Zeit, wo man so etwas verehrte, nicht hätte deutlicher darstellen können131. Der Ursprung dieser These, nicht des Ausdruckes „grausenhafte Heiligkeit", wohl aber der Feststellung, daß die Kultbildproduktion durch die Fortschritte der gleichzeitigen profanen Bildhauerkunst nicht beeinflußt werde, ist in Schoemanns Repertorium zu finden: Bei einem schwieriger zu behandelnden Material, wie der Stein war, beschränkte man sich lange Zeit, nur einzelne charakteristische Theile menschenähnlich anzubringen, also vor allem den Kopf, dazu etwa Arme oder wenigstens Hände [...]. Dergleichen Bilder waren auch noch in späterer Zeit, als man schon längst vollkommene Abbildungen der ganzen Gestalt zu machen im Stande war, doch für manche Gottheiten und zur Aufstellung an manchen Plätzen fortwährend beliebt: man nennt sie meistens Hermen, weil vorzugsweise Hermes so dargestellt wurde. Es gab aber auch Dionysoshermen und Hermathenen, Hermheraklen, Hermopane, welche den Kopf einer Athene, eines Herakles, eines Pan auf derselben Säule mit dem des Hermes zeigten.132 Auch die Beispiele, die Nietzsche seinen Studenten im Wintersemester 1875-76 dafür nennt, daß gerade die Ungenauigkeit und Unvollkommenheit in der Darstellung einer Gottheit deren „mystische Bedeutsamkeit" erhöhe, stammen von Schoemann, der einzig in dieser Hinsicht sich in vollem Einklang mit Boetticher befindet: [Nietzsche] [...] der amykläische Apollo mit Kopf, Händen und Füssen, aber ohne Arme und Beine [...] 133

[Schoemann] Der amykläische Gott, den man Apollo nannte, war eine Säule mit Kopf, Händen und Füssen, nicht Armen und Beinen [Paus. III, 19, 2], 134

In diesem Zusammenhang findet eine weitere Passage aus Schoemann Niederschlag nicht nur in den Gottesdienst-Vorlesungen, sondern auch in V M 222: In Holz, dessen Bearbeitung leichter war, unternahm man es früher die ganze Gestalt darzustellen, so roh und unvollkommen die Nachbildung auch anfänglich ausfiel. Die 131 GDG, S. 75. Daß in VM 222 die nämliche These (in knapperer Form) vorgetragen wird, hatte schon O.Crusius, der Herausgeber des dritten Bandes der Philologien (GA19,S.394) angemerkt, während KGW (IV/4, S. 285) und KSA (14, S. 177) keinen derartigen Hinweis enthalten. 132 G. F. Schoemann: Griechische Alterthämer, a.a.O., Bd. 2, S. 161. Zu diesem Thema vgl. auch J. Overbeck: „Die Bedeutung des griechischen Götterbildes und die aus derselben fliessenden kunstgeschichtlichen Consequenzen ", in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Philologisch-Historische Classe 16 (1864), insbesondere S. 259. »J GDG, S. 75. 134 G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 161.

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II. Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

Legenden legten einigen solcher alten Holzbilder selbst einen übermenschlichen Ursprung bei: sie sollten vom Himmel herabgefallen sein (ξόανα Sunerrj) [...]. Andere, wenn auch nicht vom Himmel gefallene, doch uralte Holzbilder gab es noch zu Pausanias' Zeit an manchen Orten, eine Aphrodite auf Delos, eine Athene zu Knossos, eine Britomartis zu Olus auf Kreta, einen Herakles zu Theben, ein Trophonios zu Lebadea, welche sämmtlich für Werke des mythischen Dädalus galten [Pausan. IX, 40, 3] [...]. So unvollkommen dergleichen alte Bilder auch von Seiten der Kunst waren, so fühlten sich doch die Gläubigen vor ihnen von einer Ahnung des Göttlichen ergriffen, und mehr als vor manchen neueren, die in künsderischer Hinsicht unendlich höher standen [Pausan. II, 4,5 ]. Denn dass auch diese, mit ihrer noch so vollkommenen Darstellung der menschlichen Gestalt, doch nicht für wirklich entsprechende Abbilder der Götter gehalten werden dürften, fühlte man wohl, und in diesem Gefühl gab man denn auch wohl solchen Bildern den Vorzug, die darauf gar keinen Anspruch machten, sondern nur symbolisch das eigentlich Undarstellbare andeuteten, zum Theil sogar, um bedeutsam zu sein, mit absichdicher Abweichung von der Menschengestalt, wie ζ. B. die pferdeköpfige und mähnentragende Demeter oder die fischleibige Eurynome zu Phigalia, ein Zeus mit drei Augen zu Argo [Pausan. II, 24,4], ein Apollon mit vier Händen und vier Ohren in Lakonien [Zenob. Proverb. 1,54]. 135 Die ungefügten Holzbilder (d.h. eben nur Holzklötze mit dürftigster Schnitzerei) [...] gelten als uralt und als nicht von Menschen gemacht, διητετη; so die Aphrodite zu Delos, eine Athene zu Knossos, ein Herakles zu Theben, ein Trophonios zu Lebadea. Der Apoll mit vier Händen und vier Ohren in Lakonien [...].136 Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Ueberzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. (VM 222) Obwohl sich nun der Aphorismus VM 222 auf Schoemanns Beispiele stützt, ist die Übereinstimmung zwischen beiden Autoren doch begrenzt, denn Nietzsche geht weiter und spricht von der „Angstvor der Veranschaulichung" und der „Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes", mithin von der ,,religiöse[n] Phantasie" der Griechen in einer Zuspitzung des Themas, die den „Griechischen Alterthümern" Schoemanns fremd ist und vielmehr auf Anschauungen verweist, wie sie in der damaligen Altertumswissenschaft einzig und allein Boetticher vertrat. Auch in der Beschreibung der „Cella", des geschlossenen Raumes im Tempel, der nach Nietzsche (ebenfalls in VM 222) „das Allerheiligste, das eigentliche Numen der Gottheit birgt" (so wie das heilige Bild zugleich „Versteck der Gottheit" ist), 135

Ebd., Bd. 2, S. 161 f. Auf Schoemanns Ausführungen beruft sich ausdrücklich J. A. Härtung zur Bestätigung seiner Idee, daß die Heiligtümer nicht allegorische Sinnbilder, sondern wirkungsvolle Unterpfänder, „Fetische" und „Amulette" gewesen seien: „Also handelt es sich nicht darum, wie schön, sondern wie bedeutungskräftig sie seien, und das letztere werden sie je mehr sein je abenteuerlicher sie aussehen. Daher die Bilder mit den vielen Armen, vielen Beinen, Köpfen, Brüsten, drei oder vier Augen u.s.w., die Mischgestalten von Greifen, Mannlöwen und Mannstieren

und die Uberladung mit Symbolen" (Die Religion und Mythologie der Griechen, Bd. 1, a.a.O., S. 85). GDG, S. 74 f.

Zur Deutung des Aphorismus VM 222

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klingt Boettichers Gedankengang an, demzufolge die griechischen „riten grösstentheils sacra seclusa oder arcana, Ιερά άπόρρητα sind, welche nur [...] verborgen [...] ausgerichtet werden"137. Demgegenüber vertritt Schoemann die Ansicht, daß das Bild in der Cella gewöhnlich nicht so verborgen gewesen sei wie Boetticher in der „Tektonik" meine: Der Thür gegenüber stand auf einem Piedestal (βάθρον) das Götterbild, bisweilen in einer von dem übrigen Raum gesonderten kleinen Nische, ναίσκος. Auch Schranken mochten mitunter angebracht werden, um die unmittelbare Annährung zu hindern: als Regel aber darf dies nicht angenommen werden, und ebensowenig, dass Vorhänge das Bild verhüllten und nur dann weggezogen wurden, wenn sich Andächtige mit Gebeten und Gaben der Gottheit nahen wollten.138 Auch in K. F. Hermanns Repertorium, einem anderen bekannten Standardwerk der klassischen Philologie jener Zeit, fehlt der Beschreibung der Cella die düstere Färbung, die in Boettichers und später in Nietzsches Schilderungen vorherrscht: Auch das Halbdunkel, in welches die Abwesenheit aller Fenster das Bild versetzte, erhöhte den religiösen Eindruck; im übrigen aber stand dasselbe in seiner Cella den Blicken seiner Verehrer völlig zugänglich; und wenn es auch an andern als festlichen Tagen mit einem Vorhange bedeckt zu sein pflegte, so gehörte es doch zu den Ausnahmen, wenn der Tempel verschlossen oder mit demselben ein nur den Priestern zugängliches Allerheiligstes verbunden war, das dann gewöhnlich Erinnerungen älterer und roherer Cultusformen einschloss.139 In Aphorismus 222 und der dort aufgestellten Behauptung von der Fortdauer des „Ungethümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen" im griechischen Kulte ist also neben der Lektüre Schoemanns auch die Beschäftigung mit Boetticher eindeutig auszumachen. Eben um den Begriff des hieratischen „Ungethümlichen" entzündeten sich in der damaligen Altertumswissenschaft heftige Diskussionen. Der Philologe Κ. B. Stark kritisiert in einem Nietzsche bekannten Aufsatz Boettichers Grundansichten mit den folgenden, ebenso polemischen wie aufschlußreichen Worten: Und haben wir es in Griechenland nur da mit cultus, mit religion zu thun, wo uns eine enge, düstere Capelle umfängt, uns ein heiliges thier oder ein altgebräuntes, unförmliches, mit allerlei gewandflitter ausgestattetes götzenbild entgegengrinst?140 137 138

139

140

C. Boetticher: Ueber agonalefesttempel, a.a.O., 18 (1862), S. 602. G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O.,Bd.2,S. 179. An dieser Stelle verweist Schoemann in einer Fußnote auf C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 1, S. 250 ff. u. 287; Bd. 2, S. 5. F. Hermann: Lehrbuch der gottesdienstlichen Alterthümer der Griechen, Zweite Auflage, von Κ. B. Stark bearbeitet, Heidelberg 1858, S. 100. Das Werk gehört zu Nietzsches Bibliothek. Hier mag er den Ausdruck „Halbdunkel" gefunden haben, von dem er in VM 222 bei der Beschreibung der Cella Gebrauch macht. Κ. B. Stark: „Karl Bötticher's Ansichten über die Agonaltempel, den Parthenon zu Athen und den Zeustempel zu Olympia", in: Philologus 16 (I860), S. 87. Vgl. dazu GDG, S. 57.

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II· Kapitel: Antiker Gottesdienst und magische Prozeduren

In der Zeit von Frühling bis Herbst 1875 lernt Nietzsche durch Boettichers Bücher und Aufsätze eine Auffassung des griechischen Tempels kennen, die sich in schroffem Gegensatz zu jener befindet, die der junge, an einem klassizistischen Griechenideal festhaltende Wagner formuliert hatte: „Wonnige Ruhe und edles Entrücken faßt uns [...] beim heiteren Anblicke der hellenischen Göttertempel, in denen wir die Natur, nur durch den Anhauch menschlicher Kunst vergeistigt, wiedererkennen." 141 Der Aphorismus V M 222, mit seinem Rückgriff auf Schoemann, Boetticher und die Gottesdienst-Vorlesung, stellt den Gipfelpunkt von Nietzsches Reflexionen der ausgehenden 70er Jahre über die Griechen dar. Der klassischen Philologie, die sonst „in einigen Kreisen alles menschlich Schöne und Frische bei Ehren erhält, die Wunder des unbeengten Genius deutet [...], das μηδέν άγαν, die reine Natur in Einfalt und Wahrheit, die Kraft und die Anmuth nachweist, die aus dem Alterthum in so bestimmten Zügen hervortreten" 142 , wird jetzt die Aufgabe zugewiesen, endlich die ,Kehrseite' des Hellenischen ans Licht zu bringen, die Uberreste wie Schlangen- und Baumkultus, die Häßlichkeit und Mißbildung der am höchsten verehrten Götterbilder, die „unreinen", auf Italiker, Phönizier und „Asiaten" zurückgehenden Elemente, die zum größten Teile die griechische Kultur ausmachen. Ein alter Gemeinplatz wird endlich als illusorisch verworfen („Wie kann man die Alten nur human finden!") 143 . Dank auch einer Reihe von Philologen, die in den 60er und 70er Jahren neue Gesichtspunkte in die Altertumswissenschaft einführen, kommt Nietzsche zu der Uberzeugung, daß „das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes [ist]: reiner gesehen ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschennatur" 144 .

141

R.Wsigner.DasKunstwerkderZukunft,a.i.O.,S. 126. Wagnerfährtfort: „Der Kern der hellenischen Religion, auf den all ihr Wesen im Grunde einzig sich bezog [...], war aber: der Mensch. An der Kunst war es, dies Bekenntnis klar und deutlich auszusprechen: sie tat es, indem sie das letzte verhüllende Gewand der Religion von sich warf und in voller Nacktheit ihren Kern, den wirklichen leiblichen Menschen zeigte." {Ebd., S. 133) Siehe hierzu R. Günther: „Richard Wagner und die Antike", in:

Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 16 (1913), S. 323-337.

F. G. Welcker: „Über die Bedeutung der Philologie", a.a.O., S. 8. M3 5[72] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 60. »44 5[60] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 58. Die Kritik am humanistischen Bild der Antike, die Nietzsche 1875 formuliert, hat in den Schriften der frühen 70er Jahre ihre Vorstufen, wenngleich dort andere Akzente gesetzt waren. Siehe hierzu ζ. B. Nietzsches Brief an E. Rohde vom 16. Juli 1872 (KGBII/3.S.23): „Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw. hörte! In dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein ungeheueres, wildes Ringen, aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus, vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Uberzeugungen. Die Griechen sind viel älter als man denkt. Von Frühling mag man reden, wenn man vor den Frühling noch den Winter setzt: aber vom Himmel gefallen ist diese Welt der Reinheit und Schönheit nicht." Vgl. H. J. Mette: „Theognis, Welcker, Nietzsche: ein

Beispiel lebendiger Fernwirkimg", in: Gegenwart Sprachen und Literaturen 8 (1974), S. 57-63.

der Antike. Schule und Wissenschaft,

klassische

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung 1. Die ältesten Schichten der griechischen Religion: Schlangen-, Stein- und Baumkult „Es ist eben etwas Vorgermanisches, Vorslavisches, Vorgriechisches, die Religion, auf welche die indogermanischen Wanderstämme stiessen: und findet sich deshalb überall." 1 Nietzsches Studien des Jahres 1875, die ihn zu der Erkenntnis führen, daß im Griechentum der mächtige Nachklang vieler heterogener vorgriechischer Elemente aufzufinden sei, erhalten starke Anregungen auch aus Boettichers „Baumkultus der Hellenen". Dieses Werk bietet geradezu eine „heilige Botanik", eine systematische Darstellung der Symbole, der Götterbilder und Zeremonien, die die überaus große Verbreitung der antiken Baumverehrung belegen, eines Glaubens, der nicht nur „bei den Hellenen und Italern", sondern auch „bei andern vorchristlichen Völkern des Orients" tief eingewurzelt gewesen sei, und der „wie ein einziger Pulsschlag das Bewußtsein der alten Völker insgesamt durchbebt" 2 . Das Schlußwort der Untersuchung, die u. a. den Nachweis erbringt, daß ein heidnischer Baumkult noch in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära weitergedieh, daß also „heilige verehrte Bäume noch existierten, während Götterbilder und Tempel längst nicht mehr waren" 3 , ist eine Kritik an jenen Philologen, die nach wie vor die Autonomie der griechischen Kultur proklamieren, statt sie vielmehr „einem Brennpunkte" zu vergleichen, in dem Strahlen, die eigentlich ungleichartig sind und aus den verschiedensten Richtungen kommen, „gesammelt und vereint wirkend erscheinen". Noch nicht hinreichend gewürdigt sei, schreibt Boetticher, daß auch in ihrem theologischen Bewußtsein eben so wie in ihrer gesamten geistigen Entwikkelung die Hellenen nicht blos für sich und isolirt dastehen, sondern als Glied der grossen

1 2

3

GDG, S. 36. C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen, a.a.O., S. 498. Wie in Griechenland „die Eiche dem Juppiter, die Olive der Minerva, die Myrte der Venus, der Lorbeer dem Apollo, die Pappel dem Hercules" geweiht seien, so zeige sich auch „im Oriente [...] ein gleiches Verhältnis. Uberall wo Zoroaster oder ein Diener desselben den Feuerkultus des Ormuzd stiftet, geschieht dies mit Aufpflanzung einer heiligen Cypresse" (ebd., S. 251). Ebd., S. 534.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Völkerkette erkannt werden müssen, welche die Kultur der alten Welt trugen und nach und nach vollendeten.4 Aus Boettichers Werk gewinnt Nietzsche neue Argumente, um zu zeigen, wie im Hellenischen das „Vorgriechische" oder „Ungriechische" noch wirksam sei, wie also das Griechentum das Resultat eines Sammeins und Sichtens von „freudigen Dilettanten", und mitnichten die Selbstentfaltung eines,organischen' Gebildes sei: [Nietzsche] Die Entstehung von Götterbildern führt auf den Baumkultus zurück, ist also relativ etwas Ungriechisches: vielmehr ist die bildlose Anbetung des Himmels und der Frühlings-, Todesgötter u. s. w. indogermanisch, namentlich die Anbetung des unsichtbar und allgegenwärtig im weiten All der Natur herrschenden Zeus: das war der Zeus Peloros der Thessaler, der Lykaios der Arkader, derHypsistos derKekropiden, der Olympios der Eleer. Aus der Verschmelzung der neu ankommenden Wandergötter und der ureinheimischen Baum-, Schlangen- und Steingötter, unter Anregung des sich vorfindenden Götterbilderkultus der Phönizier, entsteht allmählich auch das griechische Götterbild: als etwas Spätes; besonders spät ist das ganz vermenschlichte.5

« ' 6

[Boetticher] So weit die heilige Sage der Hellenen ihre Spuren in die Vorzeit hinauf trägt, verehrte das Gesamtgeschlecht der Vorhellenen nur einen Gott, namenlos, bilderlos wie tempellos; den unsichtbar und allgegenwärtig im weiten All der Natur herrschenden Zeus. Das war der Zeus Peloros der Thessaler, der Lykaios der Arkader, der Hypsistos oder Hypatos der Kekropiden, der Olympios der Eleer, der Dijovis der Römer. Dass die Götter der Pelasger namenlos gewesen [...], dass selbst noch in dem väterlichen, also Pelasgischen Zeus des Priamos alle drei Potenzen des Weltherrschers als höchster, irdischer und unterirdischer vereint waren, sind Ueberlieferungen von unabweisbarer innerer Wahrheit. Als weiterhin das Geschlecht von diesem Einen Gott hinwegging, sich in viele Geschlechter und Stämme sondernd, jedes besondere Geschlecht [...] auch einen besondern Gott erkennend, offenbarte sich ihm dieser sein Gott auch in einem bestimmten und besondern Wohnsitze auf der Erde [...]. Es entstand mit vielen Göttern die Verehrung derselben in terrestrischen Wohnsitzen wie die Heiligkeitsanerkennung dieser Sitze. Aber solche Wohnsitze, obgleich die ersten sichtbaren Malzeichen der Götter, waren noch nicht von Menschenhänden gemachte Dinge [...]. Es waren dies Naturmale: als Quellen, Höhlen, Erdklüfte, Steine, Bäume. In diesen Naturmalen wurde des Gottes Numen wie in einer sichtbaren Hülle hausend geglaubt.6

Ebd., S. 498. G D G , S. 69 f. C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen, a.a.O., S. 7 f.

Die ältesten Schichten der griechischen Religion

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An einer anderen Stelle stimmt Nietzsche Boettichers Ansicht zu, daß auch Aspekte wie der Zusammenhang des Apollokultus mit dem Lorbeer oder die Verehrung des heiligen Olbaums der Athena Polias in Athen nur in einem größeren Zusammenhange verstanden werden können: [Nietzsche] Es sind dem Hellenen, Latiner, Meder, Armenier, Chaldäer, Kananiter, Inder, Germanen Bäume die ersten Tempel gewesen, in welchen der Geist der Gottheiten hauste und mit ihnen verkehrte und den Willen durch Vorzeichen und Orakel offenbarte. 7

[Boetticher] Es sind vom Uranfange an dem Hellenen, Latiner, Meder und Armenier, dem Chaldäer wie dem Kananiter, dem Inder wie dem Germanen und Kelten Bäume die ersten Tempel und irdischen Abbilder der Gottheiten gewesen, in welchen deren Geist hauste und mit ihnen verkehrte, in welchen er dem Geschlechte seinen Willen durch Vorzeichen und Orakel offenbarte. 8

Auf diese Weise kann Nietzsche seinen Zuhörern, indem er Boetticher und sein Werk ausdrücklich nennt, noch einen Fall zeigen, in dem „ Amalgamierungen" und merkwürdige „Verschmelzungen" zu Tage treten: Aber wie die Griechen mehr anzunehmen wussten und die wenigst spröde Nation waren, so haben sie auch sich am tiefsten mit der Baumverehrung eingelassen: während doch wandernde Stämme natürlich nur wandernde Götter haben können, solche, die sie überall hin begleiten (Himmels- und Wettergottheiten): Baumkult ist aber für uralt ansässige Waldbewohner. Dies ist der älteste Synkretismus, auf pelasgischer Stufe: die ankommenden Himmelsgottheiten werden in Bezug zu den altansässigen Baumgottheiten gebracht. 9

Die Ergebnisse von Boettichers „heiliger Botanik", gegen die einige Altphilologen Vorbehalte geltend machten10, fordern gründliche Vergleiche zwischen den verschiedenen Völkerüberlieferungen heraus und eröffnen u. a. die Möglichkeit, signifikante Analogien zwischen Griechen und Germanen ans Licht zu bringen. Denn die Baumverehrung ist, wie Nietzsche Mannhardt entnehmen kann, auch in der nordischen Mythologie und in der Sitte der germanischen Völker ein wichtiges Element. Hierzu heißt es in einer bisher unveröffentlichten Aufzeichnung Nietzsches aus dem Sommer 1875: [Nietzsche] Schutzbäume: Die Aelpler im Allgäu und Bregenzer Wald haben noch den Familienbaum, unter dem sie das Abend-

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9 10

[Mannhardt] O b und wieweit auch in Deutschland vor alters Haus und Familie ihren Schutzbaum hatten und pflegten,

GDG, S. 36. C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen, a.a.O., S. 8. GDG, S. 37. Vgl. dazu G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 159: „Was aber vor Kurzem über den Baumcultus der Hellenen vorgebracht worden ist, geht weit über das gebührende Mass hinaus und verfolgt einen an sich und in gehöriger Beschränkung nicht unrichtigen Gedanken mehr mit einseitigem Eifer als mit besonnener Kritik."

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

gebet mit den Ihrigen verrichten. So haben die Dorfschaften ihre Schutzbäume (Maibäume) Der Weltbaum Yggdrasill der Schicksalsbaum, vom Himmel bis in die Tiefe der Unterwelt reichend, beim Weltuntergang sich entzündend: Götter und Nomen halten als Richter unter dem Baume Ding. Neben dem Göttertempel zu Upsala stand im 11 Jhr. ein immergrüner Baum. 11

11 Vor.K. 12

darüber kann ich nichts Ausreichendes mitteilen. Einzelne Spuren scheinen dafür zu reden. Der Aelpler im Allgäu und Bregenzer Walde hat noch einen Familienbaum, unter dem er mit den Seinen sein Abendgebet verrichtet [...]. Und wenn es Familienbäurtie gab, sollte vermöge naturgemäßer Erweiterung nicht auch die Dorfschaft in einem Baume ein Gegenbild und Symbol ihres Lebens, ihren Schutzgeist gesucht haben? Bewahren nicht etwa unsere deutschen Dorflinden eine Erinnerung, einen Anklang daran? [...] Ich vermute [...], daß auch der tiefsinnigen Eddamythe vom Weltbaum Yggdrasill in ihrer ältesten Gestalt nichts anderes als eine ins Große malende Anwendung der Vorstellung vom Värdträd auf das allgemeine Menschenheim zu Grunde gelegen habe. Schon [....] der Name Yggdrasill (Odhins Roß), die Vorstellung, daß Götter und Nomen als Richter und Urteiler unter dem Baume Ding halten, und die andere, daß die drei Schicksalfrauen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Fluten aus dem Brunnen der Vergangenheit die Erde begießen [...], stellen ebenso viele verschiedene Entwicklungsphasen der Sage dar, die [...] unter stets neuen und andern Gesichtspunkten dargestellt war [...]. Der Kernstoff der Komposition [...] war danach [...] die Anschauung des Weltalls selbst als immergrüner vom Himmel bis in die Tiefen der Unterwelt reichender Baum, der bei Weltuntergang zittert, sich entzündet [...]. Vom Standpunkte der so gewonnenen Erkenntnisse aus verlohnt es sich, Nyerups bekannte und mit so großem Beifall aufgenommene Conjectur, daß der vor dem Göttertempel in Upsala an einer Quelle stehende, Sommer und Winter grünende Baum unbekannten Geschlechts ein irdisches A b b i l d von Y g g d r a s i l l mit dem Urdharbrunnen war, noch einmal zu erwägen.12

W. Mannhardt: Der Baumkultus derGermanen undihrerNachbarstämme,a.a.O.,

S. 53-57. Mannhardts

113

Die ältesten Schichten der griechischen Religion

Auch über die Spuren des Tierdienstes in Hellas handelt Nietzsche in den Gottesdienst-Vorlesungen. Seine Quelle ist wiederum Boetticher, bei dem er ein weiteres Argument für die „Inhumanität" der Griechen findet und auf Aspekte stößt, die wenig ins .klassische' Bild der Antike passen und daher nie angemessen gewürdigt worden waren: [Nietzsche] Am besten erhalten ist der Schlangenkult, der sich überall zusammen mit dem Baumkultus findet und deshalb fast unausrottbar erscheint. Einer jeden Gottheit, welcher der Schutz eines heiligen Ortes obliegt, erscheint die Schlange beigegeben, d. h. sie ist hier an Stelle des ursprünglich hier waltenden genius loci getreten, mit ihm verbunden; die hier ursprünglich allein mächtige Schlange ist zu einer Potenz der hinzugekommenen Gottheit herabgedrückt. Pflege der Schlangen, Anlage von Schlangengemächern und Cellen für die sacra des genius loci in den Tempelhäusern. Der Ortsheros im Tempel der Athene Polias oder im Erechtheum, überhaupt der ganzen Akropolis von Athen war Erechtheus oder Erichthonios [...]. Unter Schlangengestalt erscheint der genius loci zum Schutze seines bedrohten Sitzes: so der Heros Κυχρεύς von Salamis zum Beistande gegen die Perser, welche die Insel bedrohten. Ebenfalls ein Schlangengemach im Demetertempel zu Eleusis, denn die kychreische Schlange soll durch Eurylochos von Salamis vertrieben, durch Demeter aber in Eleusis als Dienerin aufgenommen sein. Als die Eleer den einge-

[Boetticher] Die Bedeutung der Schlange im Kultus als Sinnbild der verborgenen tellurischen Lebenskraft tritt wesentlich nach drei Seiten hin scharf hervor: als Wächterin heiliger Orte, als Hüterin der Manen, als lebenbewahrende und erhaltende Naturkraft. [...] [Es] steht [...] fest, daß einer jeden Gottheit, welcher der Schutz eines heiligen Ortes, der auch seinem Genius Loci obliegt, die Schlange beigegeben ist. Der Grund hiervon ist darin zu suchen, daß ein solcher Dämon, Heros oder Genius eines Ortes, von den Alten durchgehende als Schlange gedacht, kein Ort aber ohne einen solchen Genius Loci angenommen wurde; deshalb ist er unter dem Bilde dieses Thieres jeder Schutzgottheit, deren Heiligthum auf seinem Orte lag, als nurnen beigesellt, seine Sacra sind den Sacra derselben angeschlossen, seine Wohnung mit ihrem Sitze vereinigt, endlich auch sein Grab in letzterem aufgenommen. Aus diesem allen folgt natürlich die Pflege von Schlangen, die Anlage von Schlangengemächern und Cellen für die Sacra des Genius Loci in den Tempelhäusern solcher Gottheiten. Eines der naheliegendsten Beispiele hiervon bietet der Tempel der

Arbeit hebt die Bedeutung des Baumkultus in verschiedenen Kulturen hervor. Ein altüberlieferter „germanischer Mythus" („Die belebten Bäume Askr und Elmja waren die Stammeltern aller Menschen") finde ζ. B. überraschende Korrespondenzen sowohl in „eine[r] der eranischen Schöpfungssagen" wie auch in den bei „den Sioux [...], den Karaibern und Antillenindianern" verbreiteten Mythologien (ebd., S. 7 f.). Mannhardt versucht, die Verbreitung des Glaubens an „Vegetationsdämonen" unter den nordeuropäischen Bauernbevölkerungen zu belegen: „Es zeigt sich [...], daß die Mehrzahl derjenigen abergläubischen Sätze und Bräuche, welche der Volksglaube gleicherweise an den Maibaum wie an den Palmbüschel heftete, schon vor der Entstehung des Christentums vorhanden waren" (ebd., S. 297). Zur Baumverehrung vgl. auch A. Bastian: „Der

Baum in der vergleichenden Ethnologie", in: Zeitschrift

für Völkerpsychologie

und

Sprach-

wissenschaft 5 (1868), S. 287-316 (dieser Artikel stützt sich, ohne dies allerdings zu bekennen, zu einem großen Teil auf Boettichers diesbezügliche Untersuchungen);}. Grimm: Deutsche Mythologie, 4. Ausg., Berlin 1875-78, Bd. 1, S. 56-61; Bd. 2,539-545.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

drungenen Arkadiern mit den Waffen in der Hand entgegentreten, wird der Knabe Sosipolis in eine rettende Schlange verwandelt: daher Schlangencella und Verehrung dieses Dämons Sosipolis. Wo ein Tempelbild mit dem Attribut der Schlange vorkommt, ist höchstwahrscheinlich auch Schlangenkult und Schlangenwohnung. Im Dienst des Asklepios bezeichnet sie die übelabwehrende und lebenschützende Heilkraft.13

»

GDG, S. 73 f.

Athena Polias oder das Erechtheion. Der Ortsheros, der Genius Loci nicht bloß des Tempels, sondern der ganzen Akropolis, war Erechtheus oder Erichthonios. Dieser von Poseidon einst getödtete Heros erscheint in der Sage als Kind von der Schlange umwunden oder auch bloß als Schlange und in der Lamax liegend, von Athena den Pflegerinnen ihres Heiligthumes (den Drakauliden nach Sophokles) als geheimes Pfand anvertraut [...]. Die Ansicht, daß der Genius Loci unter Gestalt dieses Thieres lebe und walte, auch in Schlangengestalt zum Schutze seines bedrohten Sitzes erscheine, ist außer jenen Tempelschlangen auf der Akropolis von Athen und Pergamos bereits früher durch Zeugniße belegt worden. Der Ortsheros Kychreus von Salamis, den die Sage als ehemaligen Herrscher dieser Insel anführt, erscheint als Schlange auf den Schiffen der Hellenen zum Beistande gegen die von den Persern bedrohte Insel; da er nun auf dieser in einem Heiligthume verehrt wurde, so ist die Existenz einer Schlangencella in letzterem wohl keinem Zweifel unterworfen. Erzählt nun Hesiodos, daß diese Kychreische Schlange durch Eurylochos von Salamis vertrieben, durch Demeter aber in Eleusis als Dienerin aufgenommen sei, so berechtigt diese Angabe, mag man sie auch deuten wie man will, ebenfalls zu einem Schlangengemache im Demetertempel zu Eleusis. Unter allen Uberlieferungen bleibt indes die Verwandlung des Knaben Sosipolis in eine rettende Schlange und zwar in dem Augenblikke, wo die Eleer den eingedrungenen Arkadiern mit den Waffen in der Hand zur Abwehr entgegentreten, nebst der Schlangencella und Verehrung dieses Dämons an demselben Orte, diejenige, durch welche das Wesen eines solchen Ortsgenius und die Ursache seines Tempelkultes am meisten deutlich wird und der zufolge sich wohl im Allgemeinen aussprechen ließe, daß jedesmal da,

Die ältesten Schichten der griechischen Religion

115

wo ein Götterbild im Tempel mit dem Attribute der Schlange vorkömmt, auch Schlangenkultus und Schlangenwohnung im Tempel vorhanden sei [... ]. Dasselbe Wesen der Schlange als Uebel abwehrende und Leben schützende Erdkraft spricht sich auch in der Bedeutung aus, welche sie im Dienste des Heilgottes Asklepius hat, dem sie als Sinnbild der prophylaktischen und Krankheit abtreibenden Heilkraft beigegeben ist

In seinen Vorlesungen kommt Nietzsche auch auf den „Steinkultus" der Griechen, ein weiteres Zeichen ihrer „Inhumanität", zu sprechen und übernimmt dabei wörtlich eine Formulierung, die er bei Schoemann findet: Die gewöhnlichsten Symbole, an die der Cultus sich anschloss, waren in der ältesten Zeit heilige Steine, und zwar rohe und unbearbeitete (λίθοι άργοί). [...] Pausanias fand zu seiner Zeit heilige Steine, theils ganz unbearbeitete, theils cubisch, pyramidalisch, konisch geformte, noch in mehreren Tempeln als Gegenstände religiöser Verehrung. Zu Thespiä war im Tempel des Eros ein unbearbeiteter Stein das älteste und heiligste Symbol für den Cultus [Paus. IX, 27, 1], zu Orchomenus im Tempel der Charitinnen drei vom Himmel gefallene Steine [Paus. IX, 38, 1], ein unbearbeiteter Stein im Tempel des Herakles zu Hyettos in Böotien [Paus. IX, 24, 3]. 15 Die griechische Religion, in der uralte einheimische Kulte, statt sich aufzulösen, weitergedeihen, erweise sich als in besonders hohem Maße eklektisch. Viele heterogene Bestandteile seien darin nachweisbar, einerseits „das Erbgut, welches die Hellenen mitbrachten und gemein mit Italikern und Kelten hatten, Culte, die sich auf den Himmel, das Wetter, Tag und Nacht und die Fruchtbarkeit des Bodens bezogen", andererseits der „Baum-, Schlangen- und Steinkultus, den sie bei den niedrigen Volksstämmen vorfanden, welche in ihnen untergiengen" 16 . Einem solchen Konglomerat, in dem auch phönizische und thrakische Elemente nicht fehlen, könne eine Altertumswissenschaft nicht gerecht werden, die von „Vorurtheilen"

14

C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, a.a.O., Bd. 2, S. 305-309. Zum Verhältnis des „heiligen Baumes» zur Schlange als „ Ortsdämon „ und „Genius loci" vgl. auch ders.: Oer Baumkultus der

Hellenen, a.a.O., S. 205 ff.

G. F. Schoemann: Griechische Alterthümer, a.a.O., Bd. 2, S. 159 f. Diese Passage wird in GDG, S. 72, übernommen. An dieser Stelle, bei Behandlung (GDG, S. 70) der Frage nach der Entstehung der ersten hieratischen Symbole („Ursprünglich sind Götterbilder aus dem Holz heiliger Bäume gearbeitet [...]. Ein Pfahl mit angeschnitztem Kopf und voller Bekleidung: dies die älteste Form des stabilen Cultbildes„), stützt sichNietzsche auch aufC. Boetticher (Der Baumkultus der Hellenen, a.a.O., S. 215 ff., 219 ff. u. 226 ff.) All diese Betrachtungen fließen in VM 222 ein, wo von der „Gottheit" die Rede ist, die „in Bäume, Holzstücke, Steine, Thiere hineinverlegt und -empfunden wurde". 16 GDG, S. 39. 15

116

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

zugunsten der Klassizität, von „einer falschen Idealisirung zur HumanitätsMenschheit überhaupt"17 ausgehe. Nietzsche, der in seinen philologischen Vorlesungen die Zwielichtigkeit des Traditionsbegriffes herausstellt, kommt in dem Fragment 5 [198] aus FrühlingSommer 1875 (in dem die Spuren der Lektüre von Boetticher und Nissen, Brandis, Roscher und Draper besonders deutlich sind) noch einmal auf dieselbe Frage zurück. Aus seinen Studien zur griechischen Kulturgeschichte leitet er diesmal nicht nur eine Kritik des Begriffs „national" ab, sondern des „Rasse"-Begriffs schlechthin: „Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandteile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit [...]. Was sind .Rassegriechen'? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?" 18 2. Die Vertrautheit der Hellenen mit der „asiatischen Masslosigkeit" „Völker und Individuen werden durch den anreiz geweckt, den sie von aussen empfangen."19 Eine Veranschaulichung dieses Grundsatzes findet K. Müllenhoff — Professor der deutschen Sprache und Altertumskunde, seit 1858 Dozent in Berlin, seit 1864 Mitglied der preußischen Akademie als Nachfolger J. Grimms — in der griechischen Kultur. „Das Hellenentum", schreibt er in seinem 1870 veröffentlichten Werk, „ist durch aneignung und Überwindung des fremden erwachsen."20 Im Rahmen seiner diesbezüglichen Ausführungen wendet sich Müllenhoff gegen jene Ansichten, die Preller in seiner „Griechischen Mythologie" formuliert hatte, führt dagegen J. und W. Grimm und K. Lachmann als Gewährsmänner an und bezieht sich mehrmals auf E. Curtius' „Griechische Geschichte" 21 . In seiner „Deutschen Altertumskunde", in der er die „frühsten beziehungen der Germanen zu der culturwelt des südens" zu ergründen sucht, werden zunächst die verwickelten Verhältnisse zwischen Hellenen und früheren Besiedlern der griechischen Küsten, besonders Phöniziern und anderen Stämmen „semitischen und asiatischen Ursprungs", untersucht. Spuren dieser Verhältnisse, meint Müllenhoff, seien noch in den homerischen Gedichten zu finden. So enthalte die ,Ilias' Elemente einer früheren trojanischen Sage, bei deren Ausbildung auch semitische (phönizische) Motive hineingespielt haben. 3 [4] (März 1875); KSA 8, S. 14. Die am Anfang dieses Fragments vorgebrachte These, die ursprüngliche Bevölkerung Griechenlands sei „mongolischer Abkunft" gewesen, ist dem Werk von J . W . Draper (Geschichte der geistigen Entwickelung Europas, a.a.O., S. 24) entnommen, wo von der mongolischen Herkunft der Ureinwohner Europas die Rede ist. Das Buch gehört zu Nietzsches Bibliothek. Zu Brandis und Roscher siehe die folgenden Abschnitte 3 und 4. 19 K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, Bd. 1, a.a.O., S. IV. 20 Ebd., S. 70. 21 Ebd., S. VI, 10, 63 u. 68. 17

18

D i e „asiatische Masslosigkeit"

117

Auch Herakles soll Troja erobert und verwüstet haben, und da noch die Ilias 24,544 Lesbos als sitz des Makar kennt, die troische küste rings von Adramyttion und Astyra bis Lampsacus und Priapus von einem kränze altphoenizischer oder semitischer gründungen umgeben ist, auch die sage von dem kämpf mit dem seeungeheuer und der befreiung der Hesione bei einem dem Herakles verwandten, mehr orientalischen als griechischen helden, dem Perseus, wiederkehrt, und zwar lokal an der küste von Palestina bei Joppe, so kann es wohl nicht zweifelhaft sein, welchen Herakles ursprünglich die sage gemeint hat. gewiss doch nicht den argivischen, wie später die Griechen meinten [...]. löst man die sage, wie man muss, aus dem sagen- und mythensystem der Griechen los und betrachtet beide Überlieferungen, die ursprünglich semitische und die griechisch-epische neben einander, so kann man beide nur auf dieselbe tatsache beziehen, deren rühm zwei völker in anspruch nahmen, aber die frage, auf welcher seite das grössere anrecht, nur zu gunsten der Semiten entscheiden, den Griechen giengen die Semiten in der herschaft an der troischen küste wie auf den inseln des aegaeischen meeres vorauf, und jene fanden die Stadt bei ihrer ankunft bereits zerstört; wo bleibt hier noch ein zweifei? 22

Eine Anzahl von Motiven, die der griechischen Sage ureigen zu sein scheinen, verraten, so Müllenhoff und mit ihm Nietzsche in der Gottesdienst-Vorlesung, einen phönizischen, „semitischen" Ursprung: [Nietzsche] Anchises, der Geliebte der Aphrodite, ist ein Adonis; wie dessen Kult in den phönizisch-troischen Küstenstädten am Hellespont verbreitet war. Ebenso steht es mit Aeneas, es giebt bei den semitischen Elymern am Eryx eine Aphrodite ΑΙνείάςΡ

[Müllenhoff] Anchises aber, ,der nahezu g l e i c h e n d e ' — der n a m e wird einem phrygischen nachgebildet sein — , wie ihn die Ilias 2, 821. 5, 313 und besonders der homerische hymnus an die Aphrodite als geliebten der göttin schildert, ist wirklich nahezu ein ebenbild des in den phoenizischtroischen küstenstädten am Hellespont, besonders in Abydos und Sestos neben der Aphrodite verehrten Adonis, und über die gleiche herkunft des troischen Aeneas lässt der tempel der Aphrodite Aineias mit dem altar des helden bei den anerkannt und schon ihrem namen nach semitischen Elymern am Eryx, in einer gegend, die altes eigentum des Herakles-Melkart war (Movers 2, 2, 321), keinen Zweifel.24

Auch bei Hesiod stoße man auf Bilder, die als Überreste eines regen Austausches mit „Fremden", mit den Phöniziern, zu interpretieren seien:

22

2

3

24

Ebd., S. 19. Durch die Zerlegung der homerischen Gedichte in ihre hellenischen, trojanischen u n d phönizischen Bestandteile versucht Müllenhoff, die komplizierten „Völkerbewegungen" nachzuzeichnen, „die den grossen geschichtlichen hintergrund der griechischen sage bilden." ( E b d . , S. 58) G D G , S. 2 0 f. K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 21.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

[Nietzsche] Die Vorstellung von Himmel tragenden Säulen ist altsemitisch, die Griechen geben dem Atlas selbst eine semitische Abkunft, indem sie ihn zu einem Sohn des Titanen Japetos machen, des semitischen Japhet; es bedeutet sprachlich ,den hochragenden Berg' (semitisch).25

[Müllenhoff] die Vorstellung von himmeltragenden säulen war altsemitisch [...], die Griechen selbst geben dem Atlas eine semitische abkunft, indem sie ihn (Theog. 507) einen Sohn des Titanen Ίαπετός, des semitischen Japhet, nennen, und die deutung aus dem semitischen ergibt nicht nur den passenden namen für den hochragenden berg, sondern erklärt auch, wie der bergriese dazu kommt, die tiefen des ganzen meeres zu kennen, die herkunft des mythus aus dem westen ist also wohl wahrscheinlich.26

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Stelle aus Nietzsches Aufzeichnungen hervorzuheben, in der er, allerdings nur in Stichworten, eine Reflexion Müllenhoffs wiedergibt, die die Schwäche von Prellers Deutung der klassischen Mythologie offenlegen sollte: [Nietzsche] Die ganze Perseussage, die Hesperidenfabel, die Sage von Elysion.27

[Müllenhoff] von der Perseussage und der mit Adas und Herakles so nahe zusammenhängenden Hesperidenfabel gibt man zu, dass sie ,viel phoenikisches in sich aufgenommen haben, obwohl die grundgedanken griechisch seien' (Preller 22, 221 f.). wir können diese frage auf sich beruhen lassen, obwohl wir wissen möchten, wie viel nach abzug der phoenizischen elemente übrig bleibt, um die griechischen grundgedanken zu erweisen, vollständig kann man jedesfalls die in der Ilias und den altern teilen der Odyssee noch unbekannte sage von den inseln der seligen und die ähnliche vom Elysion ableiten.28

Während sich Müllenhoff von Preller distanziert, lehnt er sich an Curtius an, und Nietzsche übernimmt auch diese Stelle für seine Vorlesungen:

2'

GDG.S.20. K. Müllenhoff: Oeutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 61. 27 G D G . S . 2 0 . 28 K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 63. Im übrigen, so Müllenhoff auf S. 10, verzichte Preller gänzlich darauf, in seinen mythologischen Untersuchungen den „bewegungen, die das epische Griechenland umgestalteten", nachzugehen, und betrachte „das epos [...], fertig und abgeschlossen", lediglich als „eine besondere geschichtliche Überlieferung f ü r sich." Zum Verhältnis Nietzsche-Preller siehe H. Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, a.a.O., S. 3 5 u. 128-129; B. von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik " (Kapitel 1-12), Stuttgart u. Weimar 1992, passim.

26

Die „asiatische Masslosigkeit"

[Nietzsche] Zeus hat seine Herrschaft erst durch den Sturz seines Vaters Kronos und des älteren Göttergeschlechts der Titanen gewonnen: derselbe Mythus findet sich bei den Semiten wieder, der Name des nächst Kronos vornehmsten Titanen Japetos verräth den semitischen Ursprung der griechischen Sage.29

119

[Müllenhoff] ,So stolz die Griechen auf ihre autochthonie waren, so knüpften sie dennoch aller orten die gründung ihres geselligen lebens an die ankunft hochbegabter fremdlinge, die mit übernatürlicher kraft und klugheit das leben der menschen in eine neue Ordnung gebracht haben sollten' (Curtius gr. gesch. I1, 40). [...] Ζεύς·, der epirotische Διπάτυρος, der Jovis Jupiter Juvepater der Ausoner oder Italiker, der Tiu der Germanen, der Diätus pitä der Inder war schon in der urzeit, wo noch die ahnen der Griechen, Italiker und Germanen ungetrennt zusammenlebten, als der höchste gott anerkannt [...]. wenn dennoch [...] in Thessalien, gleichsam im ursitz des griechischen götterglaubens, am Olymp selbst ihm angedichtet wurde, dass er seine und der übrigen Olympier herschaft erst durch den stürz seines vaters Kronos und des altern göttergeschlechts der Titanen gewonnen habe, derselbe mythus aber bei den Semiten wiederkehrt und die griechische sage noch in dem namen des nächst Kronos vornehmsten Titanen Ίαπετός ihre semitische herkunft verrät, so wird damit nur anerkannt und ausgesprochen, dass dem Hellenentum in Griechenland eine herschaft der Semiten vorangieng. und dies hat die forschung in allen griechischen landschaften ganz ebenso wie auf den inseln bestätigt gefunden. Semiten und andre Asiaten mit ihnen, ,Pelasger' müssen einmal in Griechenland geherscht haben.30

Beachtenswert ist, wie die von Müllenhoff (dessen Werk in Nietzsches Vorlesungen ausdrücklich erwähnt wird) vertretenen Ansichten noch in „Menschliches, Allzumenschliches" , in den Aphorismen 219-221 der „Vermischten Meinungen und Sprüche", aufgenommen und weiterentwickelt werden, in denen Nietzsche seiner dynamischen Auffassung des Griechentums Ausdruck gibt und hervorhebt, wie gefährdet dessen beste Errungenschaften gewesen seien. Stets habe die Gefahr eines Rückschlags, einer plötzlichen Entartung bestanden. Die „berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, [...] das Krystallhaft-

29 GDG.S.20. 30 K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde,

a.a.O., S. 68 f.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

N a t ü r l i c h e " ( V M 2 1 9 ) seien lediglich ein o b e r f l ä c h l i c h e r A n s c h e i n ;

dahinter

v e r b e r g e sich ein harter P r o z e ß von E r l e r n u n g u n d S e l b s t d i s z i p l i n i e r u n g : „ D i e Schlichtheit, d i e G e s c h m e i d i g k e i t , die N ü c h t e r n h e i t sind d e r [ g r i e c h i s c h e n ] V o l k s a n l a g e a n g e r u n g e n , nicht m i t g e g e b e n " ( V M 2 1 9 ) . E i n b e s s e r e s V e r s t ä n d n i s der genannten A p h o r i s m e n , b e i d e n e n es sich u m d i e A u f a r b e i t u n g v o n N o t i z e n u n d V o r s t u d i e n a u s d e r zweiten H ä l f t e d e s J a h r e s 1 8 7 5 handelt 3 1 , g e w i n n t m a n d u r c h einen Vergleich mit d e m V o r l e s u n g s m a n u s k r i p t . M a n b e a c h t e , d a ß d e r B e g r i f f d e r „asiatischen M a a s s l o s i g k e i t " , d e r in N i e t z s c h e s A u f z e i c h n u n g v o n 1875 als S c h w e r p u n k t d e s g a n z e n G e d a n k e n g a n g e s e i n g e f ü h r t wird, nicht v o n i h m selbst g e p r ä g t , s o n d e r n d e m W e r k e M ü l l e n h o f f s e n t n o m m e n ist: [Nietzsche] Was hier auch die gemeinsame Mitgift gewesen sein möge, was auch die Griechen von sonsther angenommen haben, sie bilden es in's Schönere um [Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde S. 72]. Es ist ihre glänzendste Seite: die Aneignung und Ueberwindung des Fremden; sie sind von Anfang an durch eine fremde Culturwelt ganz allseitig und gleichmässig angeregt worden; jede Art asiatischer Maasslosigkeit und Ausschweifung trat ihnen grell vor das Auge, in der Gestalt von hochentwickelten Culturen, die bereits fertig waren; ihre Spannkraft und Energie schätzt man um so höher, wenn man bedenkt, wie andere Völker eben so stark, ja länger als sie den Einwirkungen des Orients ausgesetzt waren und doch, wie Iberien, zu keiner höheren Entwicklung gekommen sind (wie dies besonders Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, gezeigt hat). 32

[Müllenhoff] zeigt sich doch die ursprüngliche kraft der Griechen nirgend glänzender als in der Überwindung und aneignung des fremden! auch das rohe und barbarische wissen sie ins menschlich-schöne zu verwandeln, und wie will man die entwicklung dieses schönheitsinnes ableiten, wie es erklären, dass das ideal der Griechen nicht wie b e i a n d e r n v ö l k e r n im h e l d e n a l t e r ausschliesslich nur eine richtung nahm, dass ihnen vielmehr das ganze der menschheit vor äugen stand, wenn sie nicht von anfang an durch eine fremde culturwelt allseitig und gleichmässig angeregt wären? ist auch der sinn für das masshalten vielleicht nur deshalb ihnen so tief eingeprägt, weil asiatische masslosigkeit und ausschweifung ihnen so grell und unmittelbar entgegentrat, und ist vielleicht nicht das Hellenentum selbst nur eine auflösung einer alten disharmonie? d i e s e f r a g e n v e r d i e n e n wohl e i n e beherzigung. die begabung und Spannkraft der Griechen wird man jedenfalls nach der anerkennung jener folgerung nur noch höher stellen müssen, wenn man sieht, wie andre Völker wohl ebenso stark und länger als sie der einwirkung des orients ausgesetzt w a r e n u n d d o c h d a d u r c h zu k e i n e r selbstthätigkeit und höheren entwicklung

31 Vgl. hierzu die Vorbemerkung zu dem ersten Teil der vorliegenden Arbeit. 32 GDG, S. 16 f.

Asiatische Gestirnanbeter in Hellas

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angeregt wurden, auf das merkwürdige beispiel, das hiefür Iberien abgibt, führt gleich die folgende Untersuchung.33

Möllenhoffs Lob der griechischen Fertigkeit „in der Überwindung und aneignung des fremden" findet im Aphorismus 221 der „Vermischten Meinungen und Sprüche" („Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden — das ist griechisch") eine fast vollkommene Entsprechung34. Auch andere Behauptungen Müllenhoffs — daß die griechische Mäßigung eine Reaktion auf die „barbarische" und „asiatische" Maßlosigkeit, ihre „Spannkraft" aus der Vertrautheit mit grellen Dissonanzen, mit „alten disharmonien" zu erklären seien — stimmen mit Nietzsches Gedanken der Jahre 1875-79 überein. Im Aphorismus 219 weist er auf jene gleichsam ,unterirdische', in der klassischen Philologie fast immer verschwiegene enge Verwandtschaft des Hellenischen mit dem .Orientalischen' hin („Die Gefahr eines Rückfalles in's Asiatische schwebte immer über den Griechen"), die eines der bedeutendsten Kennzeichen der griechischen Kultur sei. Im Aphorismus 220 behauptet Nietzsche: „Man gönnte [...] dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechischen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung." 3. Asiatische Gestirnanbeter in Hellas Ein weiteres Thema der Gottesdienst-Vorlesungen sind die in der griechischen Kultur nachweisbaren Uberreste der siderischen Urreligion der Semiten, einer Erbschaft der vorhellenischen Herrschaft der Phönizier in Griechenland. Bei der Behandlung dieser Frage lehnt sich Nietzsche an einen Aufsatz von J. Brandis an, in dem dieser sich zu zeigen bemüht, daß nicht nur die Stadt Theben phönizischen Ursprungs sei, sondern daß auch ihre „sieben Thore [...] mit dem 33 34

K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 72. Was die kunsthistorischen Aspekte dieser Frage anbetrifft, so entlieh Nietzsche am 8. Dezember 1875 bei der Basler Universitätsbibliothek J. Brauns Geschichte der Kunst in ihrem Entwicklungsgang durch alle Völker der alten Welt, Bd. 2: Kleinasien und die hellenische Welt, Wiesbaden 1858. In diesem Werk fand er ähnliche Standpunkte wie bei Müllenhoff vertreten. Braun tritt nämlich (S. 94 ff., 323 ff.) „de[m] ganze[n] Fanatismus [entgegen], den Hellenen ihre Originalität zu retten", und geht gegen den „germanischen Mythus von der dorischen Kultur" an: „Wir wollen hoffen, daß [...] die deutsche Architekturphilosophie endlich auf den Fanatismus verzichte, die sogenannten dorischen und jonischen Formen aus dem sogenannten dorischen und jonischen Nationalcharakter zu erklären [...]. Solche Systeme sind oft von außen blendend und schön [...], innen aber Staub und Asche." Er unterninnt u. a. den Versuch, „den ägyptischen Einfluß in dem sogenannten dorischen Stil, und den asiatischen in dem [...] jonischen Stil" nachzuweisen (S. 540). Vgl. dazu die Entsprechung zwischen Nietzsches Eintragung27 [15] (KSA 8, S. 489) aus Frühling-Sommer 1878 („Die assyrischen Säulen mit den Voluten des ionischen Capitells [...]. Die aegyptische Säule protodorisch.") und zwei Paragraphen („Die jonische Säule aus Assyrien", „Der dorische Säulenschaft aus Aegypten") bei Braun (S. 70 ff., 89 ff.).

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Planetendienst in Zusammenhang stehen"35. Brandis kommt zu dem Schluß, daß die in den Kolonien der Phönizier an den griechischen Küsten verbreitete Gestirnanbetung, „insbesondere die Verehrung der sieben Planeten, d. h. der Sonne, des Mondes und der fünf im Alterthum bekannten Wandelsterne, [die] im Cultus der semitischen Völker eine grosse Rolle spielte"36, auch im späteren Griechentum einige durchaus nicht unbedeutende Spuren hinterlassen habe: [Nietzsche] [Die Griechen] haben nicht die siebentägige Woche, noch ihre Beziehung zur Sonne und den Planeten. Aber bei den phönizischen Ansiedlern in Griechenland herrschte sie; daraus ist Manches übrig geblieben: die Siebenzahl, die beim Apollodienst so häufig ist, seine Geburt am 7. Thargelion, die siebenfachen Kreise, welche die heiligen Schwäne bei derselben um Delos zogen, seine Beinamen έβδομαίος έβδομαγέτης·, die 7 Strahlen, die sein Haupt umgeben, die 7 Knaben und 7 Mädchen, die beim Apollofest in Sikyon ministrirten, die gleiche Anzahl, die alle Jahr aus Athen nach Kreta geschickt wurden, die 7 Heliaden in Rhodos: die Griechen gaben ihren Kindern am 7. Tage ihren Namen, 7 Säulen standen[...P 7

[Brandis] Was nun den Cultus der Planetengötter selbst betrifft, so giebt es freilich viele Spuren, welche beweisen, wie verbreitet derselbe unter den phönikischen Ansiedlern Griechenlands gewesen ist. Denn die Siebenzahl, die beim Apollodienst sich so häufig wiederholt, — seine Geburt am 7. Thargelion, die siebenfachen Kreise, welche die heiligen Schwäne bei derselben um Delos zogen, seine Beinamen έβδομάίος-, ißSoμαγέτης-, die sieben Strahlen, die sein Haupt umgeben, die sieben Knaben und sieben Mädchen, die beim Apollofest in Sikyon ministrierten, die gleiche Anzahl, die alle acht Jahr aus Athen zum Opfer für den Minotaur nach Kreta gesandt wurden, die sieben Heliaden in Rhodos — alles dies stammt offenbar aus den Cultussagen des phönikischen Sonnengotts und seiner Verbindung mit den übrigen Planeten, an deren Spitze er die sieben Tage der Woche beherrschte. Dagegen war den Griechen, die weder die siebentägige Woche, noch ihre Beziehung zu der Sonne und den Planeten kannten, die ursprüngliche Bedeutung dieser Zahl verloren gegangen, und wenn sie den Geburtstag des Apollo am 7. Thargelion feierten, ihren Kindern am 7. Tage den Namen gaben, und in Rhodos das grosse Fest des Kronos, bei dem ihm ein zum Tode Verurtheilter geopfert wurde, am 6. Metageitnion begingen, so hatten sie keine Ahnung davon, dass dies aus einer

J. Brandis: „Die Bedeutung der sieben Thore Thebens", in: Hermes. Zeitschrift für classische logie 2 (1867), S. 260. Nietzsche lieh die Zeitschrift am 9. November 1875 aus. 36 Ebd., S. 260. Vgl. dazu GDG, S. 17. " GDG, S. 17 f. 35

Philo-

Asiatische Gestirnanbeter in Hellas

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altsemitischen Einrichtung stammte, die mit dem Planetendienst und seinen Tagen zusammenhing.38 Für eine gewisse Durchdringung der griechischen Religion mit Elementen des Kultes „asiatischer Gestirnanbeter" 39 spreche auch die folgende Beobachtung: [Nietzsche] [...] 7 Säulen standen bei dem Rossdenkmal der Helena in der Nähe von Sparta, den Planeten geweiht. Hier haben wir die Reste eines Dienstes, den sich die Griechen nicht einverleibt haben, so dass nur spärliche Spuren davon reden: während die Dienste der phönizischen Götter selbst, denen die einzelnen Planeten geweiht waren, übergegangen sind: Sonne = Apollo, Mond = Artemis, Astarte = Aphrodite, Nebo oder Kadmos = Hermes, Bei = Zeus, Moloch = Kronos, Melkarth = Ares, Heracles.40

[Brandis] Endlich steht die Kunde von den sieben Säulen bei dem Rossdenkmal der Helena in der Nähe von Sparta, welche den Planeten geweiht waren, ganz vereinzelt da, und bestätigt nur die Thatsache, dass der semitische Gestirndienst zwar von den ersten phönikischen Ansiedlern nach Griechenland verpflanzt worden ist, sich aber bei den Hellenen nicht eingebürgert hat, wiewohl die Dienste der phönikischen Götter selbst, denen die einzelnen Planeten geweiht waren, wie die der Sonne, des Mondes, der Astarte, des Nebo oder Kadmos, des Bei, des Moloch und des Melkarth an sehr vielen Orten in Culte des Apollo, der Artemis, der Aphrodite, des Hermes, des Zeus, des Kronos und des Ares übergegangen sind. Ja man hat sogar Ursache sich zu wundern, dass die durchgeführte Symbolik, welche dem semitischen Planetendienst eigenthümlich ist, hierbei, wie es scheint, sich ebenfalls ganz verwischt hat.41

Auch eine Untersuchung von F. C. Movers, „Die Phönizier", welche Brandis und Müllenhoff in ihren Arbeiten zitieren, entgeht Nietzsches Aufmerksamkeit nicht. Nur einmal wird deren Verfasser in den Gottesdienst-Vorlesungen namentlich erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit einer Anführung, bei der es sich allerdings nicht um eine direkte Wiedergabe Movers handelt, sondern die dem Werke Müllenhoffs entnommen ist: [Nietzsche] Die Bauten und Anlagen in Böotien sind phönizischen Ursprungs, die grossartigen Denkmäler von Argos führten die Griechen auf lykische Baumeister zurück,

[Müllenhoff] Curtius griech. gesch. I 1 , 118 ,die grossartigen denkmäler von Argos wagte griechischer Patriotismus niemals einer einheimischen kunst zuzuschreiben; die

J. Brandis: „Die Bedeutung der sieben Thore Thebens", a.a.O., S. 270 f. 39 Ebd., S. 264. "ο GDG, S. 18. 41 J. Brandis: „Die Bedeutung der sieben Thore Thebens", a.a.O., S. 271 f. 38

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

die Lykier standen aber mit den Phöniziern in uralter Verbindung. Movers 1292 hat als phönizische Worte angemerkt ιώϋΐ>Bildsäule, σηκός· Hürde, heiliger Grabesraum σκηνή lepd, auch σημα Name, Denkmal, χιτών u. s. w.42

Überlieferung nannte lykische manner als die bauleute der argivischen könige. — die Lykier standen aber mit Phoenizien in uralter Verbindung und gewisse kunstweisen—sind gewis aus Syrien eingeführt worden, die Hellenen haben später von ganz andern grundlagen aus eine neue und ihnen eigenthümliche kunst entwickelt.' den boeotischen bauten und anlagen muss man einen phoenizischen ursprung zuschreiben, wenn Theben, wie Brandis nachwies im Hermes 2 (1867), 259 ff., eine Stadt von phoenizischer anlage war. Movers 1, 292 bemerkte dass κίων[...~\ bildsäuleistvon [...] aufrecht stellen, ebenso σηκός· [...] hütte hürde, [...] σκήνη lepd. auch σημα ist wohl [...] name, denkmal.43

Der „phönizische Synkretismus" stehe, so hebt Movers hervor, in deutlichem Gegensatz zu dem „anmaßlichen Charakter" der „assyrisch-persischen Religion", deren Hauptmerkmal sei, „überall, wo sie die herrschende [...] war, sich auf Kosten anderer Geltung zu verschaffen und ihr widerstreitende Ansichten oder Gebräuche nicht zu dulden."44 Tatsächlich sei es den Phöniziern unaufhörlich darum zu tun gewesen, ihre Mythologie durch andersartige Elemente, oft ägyptischer oder assyrisch-chaldäischer Herkunft, zu bereichern. Ein ähnlicher Synkretismus sei auch den Griechen eigen, die immerwährend (wie später auch Brandis und Müllenhoff anerkennen) „in ihren neuen Colonien an den Küsten und Inseln im Mittelmeere, wo sie mit den Phöniziern zusammentrafen [...], den Cult der phönizischen Lokalgottheiten mit dem ihrer vaterländlichen Götter zu vereinigen wußten"45. Leider sei es der Altertumswissenschaft, stellt Mover fest, nur zum Teil gelungen, „den Einfluß der phönizischen Religion in Böotien, an anderen Punkten Griechenlands und auf den Inseln des Mittelmeeres nachzuweisen, wo ebenso wie in der Richtung nach Thrazien und dem Bosporus, über Rhodus und Creta bis zum Festlande und zum Pelopones überall [...] Spuren phönizischen Cultes, sei es nun mittelbar oder unmittelbar, [...] sich vorfinden."46 In der aus Frühling-Sommer 1875 stammenden Notiz 5 [65] nennt Nietzsche die Griechen „freudige Dilettanten", deren Überlegenheit in der Fähigkeit begründet « 43 44

45

GDG, S. 19 f. K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 68 f. F. C. Movers: Die Phönizier, Bd. 1: Untersuchungen über die Religion der Phönizier, mit Rücksicht auf die verwandten Götterdienste der heidnischen Israeliten, der Carthager, Syrer, Bahylonier und Aegypter, Bonn 1841, S. 76. Ebd., S. 15. Ebd., S. 23 f.

Asiatische Gestirnanbeter in Hellas

125

sei, sich vom eigenen Herkommen freizumachen und solchermaßen der Einseitigkeit und Erstarrung von Perspektiven und Standpunkten zu entgehen, wie sie die Gebundenheit an eine einheitliche Tradition mit der Zeit unvermeidlich nach sich ziehe: Die Griechen als das einzig geniale Volk der Weltgeschichte; auch als Lernende sind sie dies [...]. Die Constitution der Polis ist eine phönizische Erfindung: selbst dies haben die Hellenen nachgemacht. Sie haben lange Zeit wie freudige Dilettanten an allem herum gelernt; wie auch die Aphrodite phönizisch ist. Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und Nicht-Ursprüngliche ab.47 Von der „phönizischen Aphrodite", für Nietzsche Ausdruck der griechischen Unbefangenheit in der Begegnung mit dem Fremden, ist in den GottesdienstVorlesungen, unter Heranziehung einer Textstelle von Movers, ein weiteres Mal die Rede: [Nietzsche] Wie orientalisch es aber noch zur Zeit des Pausanias in Griechenland aussah, und wie die uralten phönizischen Culte ganz unerschüttert bestanden, das sehe man an einem Beispiel. Phönizier hatten auf Kythere, um an den lakonischen Küsten Purpurfischerei zu treiben, eine Niederlassung gemacht und ein Heiligthum der Aphrodite Urania gegründet (mit Waffen, als Kriegsgöttin), von da verbreitet sich der Aphroditekult nach dem Innern des Peloponnes, und nun weist der Perieget auf Schritt und Tritt phönizische Götterbilder und Culte nach, die lakonischen Dioskuren, Ares-Dionysos, die blutige Artemis-Danais, den Schlangengott zu Epidauros, die Ueberbleibsel des Fischkultus, den Apollo Karnius zu Gythion, die vier Kabiren, phönizisch ,die Mächtigen' zu Brasiae, die sieben Planetar-Säulen auf dem Wege von Sparta nach Arcadien, das verschleierte und

[Movers] Wie leicht sich von Küsten- und Hafenörtern phönizischer Cult dann weiter ins Innere des Landes verbreitete, und nach andern Gegenden von Handelsleuten und Eingebornen vertragen wurde, darüber haben wir ein lehrreiches Beispiel an der Stiftung des Tempels auf Cythere. Hier, wo noch später wie in benachbarten Häfen Phoenicus ein Landungsplatz für Phönizier war, hatten sich, um an den lakonischen Küsten Purpurfischerei zu betreiben, Philistäer aus Askalon niedergelassen, wo sie ein Heiligthum der Urania gründeten, die wie in Cypern (Hesychius Έγχειος, 'Αφροδίτη Κύπριοι) bewaffnet dargestellt war (Paus. ΠΙ. 23.1.), wie sie denn in Philistäa Kriegsgöttin war (I. Sam. 31, 10.). Dieses Heiligthum wird nun für das älteste in Griechenland ausgegeben (Paus. I. 14. 6. m . 23.3. Herod. 1.105. Diod. V. 55.57.) und von da verbreitete sich nicht nur

Burckhardts Betrachtungen zu diesem Thema, auf die das Fragment 5 [65] sich bezieht (siehe K S A 14, S. 561), gingen in eine ganz andere Richtung: „Der griechische Glaube ist reine Schöpfung der Nation als solcher [...]. Die fremden Zutaten werden von der neuern Forschung mehr und mehr beschränkt, abgesehen natürlich von jenen Gottheiten, deren Grundform die Griechen mit andern arischen Völkern gemeinsam haben könnten. Die .allein Fremde', welche als solche in Griechenland Eingang gefunden, ist die phönizische oder überhaupt semitische Astarte-Aphrodite, welche wohl schon über griechischen Meeresbuchten ihre Heiligthümer besaß, als das Volk noch in sehr urtümlichem Zustande lebte." (Griechische Kulturgeschichte, a.a.O., Bd. 2, S. 29).

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

gefesselte Bild der Aphrodite Morpho. Besonders sind die unzüchtigen Culte der Aphrodite, ζ. B. in Korinth, wo die Hetären als Hierodulen der Göttin heilig waren, phönizisch.48

Aphroditenkult nach dem Innern des Peloponnes (vgl. Pausan. ΙΠ. 15,8.17,5.26,1. Π. 19,6.), sondern überhaupt finden sich an diesen Küsten phönizische Bräuche, Götterbilder und Culte, die der Perieget mit jedem Schritte nachweiset, wie an keiner Küstengegend von ganz Griechenland, von denen ich nur, außer den lakonischen Dioskuren, an Ares-Dionysos neben der blutigen Artemis-Danais, den Schlangengott zu Epidaurus, an die Ueberbleibsel des philistäischen Fischkultes zu Augniae (Paus. ΙΠ. 21, 5.) an den Ammon, den Apollo Karnius [... ] zu Gythion (16,17.), an die vier, dem Pausanias fremdartigen Kabiren, oder Patäken zu Brasiae (24, 4.) erinnern will, oder auch an die sieben planetarischen Säulen auf dem Wege von Sparta nach Arkadien, bei denen [...] dem Helios Pferde geopfert wurden, wobei Pausanias schon der persischen Sitte sich erinnert (20, 9. vgl. 5.); an das verschleierte und gefesselte Bild der Venus-Morpho (15, 8.), der nur noch die Darstellung der Venus-Archaitis gleich kommt, und an so manche andere fremdartige Bilder und Göttersymbole [...]. Auf Rechnung des phönizischen Handels kommt namentlich die Verbreitung des unzüchtigen Cultes der Aphrodite in griechischen Handelsplätzen, besonders in Corinth, wo die Hetären der Venus heilig waren, und ihr Gewerbe als Hierodulen oder Kedeschen trieben (Athenaeus lib. ΧΠΙ. pag. 573.)49

Auch in vielen anderen griechischen Mythen scheint ein phönizischer Ursprung nachweisbar. So schreibt beispielsweise Müllenhoff, und zwar mit Verweis auf Movers: „[...] dass Herakles ein ursprünglich griechischer, arischer gott oder heros ist, wird heute wohl niemand mehr behaupten." 5 0 Movers war der Verbreitung des Kultes des „tyrischen Herakles" in Hellas nachgegangen, einer Gottheit, die von den Phöniziern als mythische Inkarnation der Sonne betrachtet worden sei, als „Mittelwesen", welches auf die Welt als Vertreter des „höchsten Gottes" (Baal) einwirke.

50

G D G , S. 22 f. F. C. Movers: Die Phönizier, a.a.O., Bd. 1, S. 51-53. K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 69.

Asiatische Gestirnanbeter in Hellas [Nietzsche] Der Herakles der Orphiker ist nicht der Sohn der Alkmene, sondern aus sich selbst erzeugt, αύτοφυής'1

127

[Movers] K e h r e n wir n a c h d i e s e r Abschweifung zu der Vorstellung vom phönizischen Herakles zurück, dem wir durch die Auffassung als eines mythischen Vertreters der höchsten Gottheit einen einfachen Grundbegriff und ächtorientalischen Charakter vindizirt haben, und nun in dem Vorth eil sind, die einzelnen Seiten desselben leicht entwickeln zu können. Zuvörderst erhellt nun, wie er als die Manifestation des höchsten Wesens bei den Orphikern, die hier nicht den Sohn der Alcmene, sondern nur den phönizischen Herakles meinen können, aus sich selbst erzeugt ist (αυτοφυής. Hymn. ΧΠ. 9.); zweitens, wie er für einen Sohn des (tyrischen) Zeus (Eudoxus bei Athenaeus lib. IX. p. 392. Cicero de nat. Deor. III. 16.), nämlich des Baal oder Baalsamin, ausgegeben werden kann, da er doch Baal und Baalsamin selber ist [...].52

Movers zufolge ist es dem phönizischen Herakles-Baal, seinem orientalischen Ursprung gemäß, eigentümlich, sich in zwei widerstreitende Gestalten zu spalten. Die Idee der höchsten Gottheit „zerfällt [...] in zwei disparate Begriffe, gut und böse, [...] wohlthätig und verderblich wirkend", und im Laufe dieser Entwicklung werden endlich diese Eigenschaften „auf zwei Subjecte [übertragen], die mythisch als Brüder gedacht werden, der gute den bösen anfeindend oder umgekehrt"53. Eine weitere Bestätigung des regen Austausches von Gebräuchen und Kulten zwischen Hellenen und vorderasiatischen Völkern liege nun, so Movers, darin, daß „ein Anklang von der Idee des Dualismus im Begriffe des tyrischen Herakles [...] in der griechischen Mythe von Herakles und seinem ihm ungleichen Zwillingsbruder Iphiclus oder Iphicles (vgl. Apollodor. II. 4. 8.)" noch vorhanden sei54. Auch Nietzsche erörtert das griechische Anknüpfen an „dualistische" Auffassungen, an jene orientalischen „Mythen von einem ungleichartigen Brüderpaar", die aus einer Uberlieferung stammen, in der, nach Movers, auch indische und ägyptische Sagen ihren Ursprung haben: [Nietzsche] Ueberall, wo im Mythus zwei ungleiche Brüder auftreten, ist eine Erinnerung an den phönizischen Heracles als

Ι '2 » 5"

[Movers] Auch im Culte tritt diese Vorstellung vom Herakles als Doppelwesen oder Zwilling bedeutsam hervor. In Tyrus waren

GDG, S. 21. F. C. Movers: Die Phönizier, a.a.O., Bd. 1, S. 392. Ebd., S. 392 f. Ebd., S. 397 f.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Doppelwesen, dem man auf zwei Altären opferte: zu Rhodos ζ. B. opferte man dem Heracles zwei Stiere, einen davon unter Verwünschungen: es ist eine gewöhnliche Sitte, zu Ehren des einen Gottes das heilige Thier eines anderen ihm feindseligen zu verfluchen, wie den Ackerstier zu Ehren des Mars, den Eber zu Ehren der Venus und des Adonis, den Esel in Beziehung auf Typhon, den Hund wegen des Hundssterns. Dadurch nahm man für den Gott Partei, und Herakles segnete für die Verfluchung des Ackerstiers (der dem Adonis heilig ist) die Rhodier mit Rosinen und Feigen."

die beiden Säulen, die eine leuchtend bei Tage, die andere bei Nacht, davon ein Symbol, womit man die zwei Säulen oder Balken der beiden Dioskuren in Sparta vergleichen kann, von denen der eine abwechselnd mit dem andern am Himmel erscheint, der eine die obere, der andere die untere, die nächtliche Hemisphäre (Lydus de mens. ΙΠ. 22. IV. 13. Julian orat. IV. p. 147.). Sonst befanden sich in seinem Heiligthume wohl zwei Altäre, auf deren einem die Weiber nicht opfern durften [...]. Zu Rhodus war ein Altar des Heracles, den man βούζυγον nannte, weil hier zwei Stiere zum Opfer hingestellt wurden, von denen der eine (ungenau spricht Lactanz, inst, christ. I. 21, von zweien, s. dagegen Apollodor. Π. 5. 11. Conon bei Photius p. 132. Philostrat. Icon. II. 24.) unter Verwünschungen geopfert wurde: eine, wie Lactanz sagt, bei den Griechen unerhörte Opferweise, die aber nichts Auffallendes hat, wenn man zu den dualistischen Vorstellungen, die sie voraussetzt, die gewöhnliche Sitte vergleicht, zu Ehren des einen Gottes das heilige Thier eines anderen ihm feindseligen zu verfluchen (vgl. Plutarch, de Is. 73.) oder zu mißhandeln, wie den Ackerstier zu Ehren des Mars, den Eber zu Ehren der Venus und des Adonis, den Esel in Beziehung auf Typhon, den Hund wegen des Hundssternes. Dadurch glaubte man das Wohlgefallen und den Segen des Gottes zu erhalten, für den man in dieser Weise Parthei nahm, und Herakles, der als Hhamman oder Sonne des Sommers das Obst zeitigte [...], segnete, wie Philostrat bemerkt, für die Verfluchung des Ackerstiers, der dem Saturn und Adonis heilig war, die Rhodier mit Rosinen und Feigen.56

Movers vertritt die Auffassung, daß die Frauen „im Tempel des Melkarth zu Tyrus" wahrscheinlich „reine Jungfrauen [waren], wie die Priesterinnen der assyrischen Artemis", und daß diese Sitte „mit dem Heraklesculte auch nach dem '5 GDG, S. 21 f. 56 F. C. Movers: Die Phönizier, a.a.O., Bd. 1, S. 399 f.

Asiatische Gestirnanbeter in Hellas

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Occidente gelangt [ist], wo in Böotien die Priesterinnen des Herakles unverehlicht sein mussten (Pausan. IX. 27.)"57. Auch in anderen Fällen zeigt die griechische Mythologie, nach Movers (und Nietzsche folgt ihm darin), deutliche Spuren eines semitischen Gottesdienstes: [Nietzsche] Ganz semitisch ist die stellvertretende Hirschkuh im Artemiskult (bei der Opferung der Iphigenie), es ist eine assyrischbabylonische Sitte, die Melechet mit Hirschkühen statt der Menschenopfer zu sühnen."

[Movers] Im phönizischen Laodicea, berühmt durch den Dienst der Artemis, wurde nach Porphyrius der Athene, nach Eusebius der persischen Artemis, d. i. der Tanais, Athenais, die häufig jetzt Athene, dann wieder Artemis, Diana heißt, alljährlich eine Jungfrau geopfert, später an deren Stelle eine Hirschkuh (Porphyr, de abstin. 1. II. p. 202. Euseb. praep. ev. 1. IV. 163.), wobei Jeder der stellvertretenden Hischkuh in der Mythe von der Iphigenie sich erinnern wird. Für den Charakter der Göttin zu Laodicea bemerkenswerth ist es, daß ihr als dem weiblichen Mars-Moloch auch das Wildschwein heilig war [...], wonach sie also jener Artemis gleichkömmt, die anstatt des wilden Jägers Mars durch den Eber den zarten Adonis tödten ließ. Diese Sitte nun, die Melechet mit Hirschkühen statt der Menschenopfer zu sühnen, war assirisch-babylonisch."

Weitere Beispiele für orientalisch beeinflußte Tieropfer bei Griechen und Römern entnimmt Nietzsche ebenfalls dem Werke Movers': [Nietzsche] Hundsopfer stehen immer in Beziehung zum heissen Sirius, der der .Zotthaarige' heisst: ein Gestirn, welches die Sonne entzündet und dem man die versengende Hitze des Sommers zumass, desshalb schlachteten die alten Römer einen Hund, der den Hundsstern vorstellte; man quälte die Thiere erst, um sich an dem Gotte zu rächen (den Eber wegen des Adonis). In Argos wurden am Feste Kynophontis Hunde erwürgt, weil Linos durch Hunde umgekommen; das ist ein Adonisfest.60

[Movers] Im Oriente stehen aber Hundeopfer in Beziehung auf den glühenden Hundsstern Sirius [...], das heißt der Zotthaarige, mit dem auch nach griechischer Mythe Orion und Artemis jagen: ein Gestirn, welches die Sonne entzündet und dem man die versengende Hitze des Sommers Schuld gab, aber nach Plinius Η. Ν. XVIII. 68. §. 3. nicht weniger verehrt als die übrigen Planeten. In den Hundstagen opferten die Aegypter dem Thypon Menschen, schlachteten die alten Römer einen Hund, der den Hundsstern vorstellte und darum, wie er,

57 Ebd., S. 404. ?8 GDG, S. 22. 39 F. C. Movers: Die Phönizier, a.a.O., Bd. 1, S. 406 f. 60 GDG, S. 22.

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III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Canicula hieß (Plin. H. N. XVHI. 69. 3. Lydus de mens. HL 40). Das Eigentümliche bei dieser Opferung war, daß man die Thiere vorher erst recht quälte, um sich an dem Gott zu rächen, den er vorstellte, wie man auch sonst wohl den Eber wegen des Adonis marterte, die Stiere dem Mars zu Liebe. In Argos wurden am Feste Cynophontis die Hunde erwürgt, weil Linus durch Hunde umgekommen sei (Athenaeus ΙΠ. p. 99; Conon. bei Photius p. 133).61

Nach alledem erscheinen etliche römische und griechische Mythen als Adaptionen orientalischer Vorstellungen und weist die klassische Antike in vielerlei Hinsicht, sowohl in der Mythologie wie auch in den Gebräuchen und in den gottesdienstlichen Ritualen, die Zeichen merkwürdiger „Vermengungen", komplizierter „Amalgamierungen" auf.

4. Roseber und Nissen über die gräko-italische Urzeit In Nietzsches Gottesdienst-Kolleg finden auch jene Forschungen Aufnahme, durch welche W. H. Roscher beweisen wollte, daß die griechischen Götter bedeutende Spuren einer thrakischen Herkunft oder einer Abstammung aus der weit zurückliegenden „gräcoitalischen Urzeit" aufweisen. Auch in diesem Fall legt Nietzsche seinen Zuhörern solche Ergebnisse der klassischen Philologie jener Jahrzehnte vor, die die Selbständigkeit der griechischen Götterwelt in Frage stellen. Roscher, der eine Methode zur Geltung bringen will, die er besonders in Mannhardts „vergleichender Mythologie" verkörpert sieht62, würdigt zwar „die Verdienste von Männern wie Welcker, O. Müller, Creuzer, Preller", bekundet aber auch seine Uberzeugung, daß gerade in ihren Werken „ die wichtigsten Fragen nach der ursprünglichsten Form und Entstehung der meisten Mythen und Göttergestalten gar keine oder doch nur eine unsichere Antwort" gefunden haben63. In seinen 1873 75 veröffentlichten Untersuchungen konstatiert er ζ. B. eine ursprüngliche Identität von Apollon und Mars, und hebt zugleich die eigenartige Heterogenität der Elemente hervor, aus denen die griechische Mythologie zusammengesetzt ist:

62

63

F. C. Movers: Die Phönizier, a.a.O., Bd. 1, S. 405. Mannhardts W e r k Germanische Mythen (Berlin 1858) wird von W . H.Roscher als „die bedeutendste* Leistung nach Anlage und Methode auf dem Felde vergleichender Mythologie" bezeichnet CApollon und Mars, Leipzig 1873, S. 3 f.) W . H. Roscher: Apollon und Mars, a.a.O., S. 2. Mit seinem Verfahren, Affinitäten und Berührungspunkte zwischen griechischen und lateinischen Göttern aufzuweisen, beabsichtigt Roscher (Juno und Hera, Leipzig 1875, S. 8), auf das Feld der mythologischen Untersuchungen eine Methode zu übertragen, „welche heutzutage von Linguisten, Textkritikern und Archäologen häufig angewandt wird."

Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit

[Nietzsche] Ares ist kein ächtgriechischer Gott [...]; an den wenigen Punkten, wo er in Griechenland verehrt wurde, ist immer auch thrakischer Einfluss sonst nachweisbar.64

131

[Roscher] Da nemlich Mars in der späteren Zeit, welcher die Hauptmasse der uns erhaltenen Litteratur angehört, wesentlich nur als Kriegsgott erscheint, und die Beziehung auf Kampf und Schlacht im Kultus des Apollon damals schon sehr verdunkelt war, so lag es nahe, Mars für die italische Form des griechischen Kriegsgottes Ares zu halten. Das ist jedoch, vom Standpunkt der vergleichenden Mythologie betrachtet, ein entschiedener Irrthum [...]. Denn man übersah dabei hauptsächlich, dass Mars in der ältesten Zeit keineswegs bloss Kriegsgott war, sondern noch eine Fülle von anderen Funktionen hatte, die dem Ares durchaus fehlen, während sie in dem Kultus des Apollon nachweislich vorhanden sind. Hierzu kommt noch der wichtige Umstand, dass Ares [...] höchst wahrscheinlich kein echtgriechischer, sondern vielmehr ein thrakischer Gott war [...]. Ferner lässt sich für die thrakische Herkunft des Ares der beachtenswerthe Umstand anfuhren, dass an den wenigen Punkten, wo er verehrt wurde, thrakische Einflüsse nachweisbar oder doch wahrscheinlich sind.65

Roschers Untersuchungen, die eine vollkommene, bis ins einzelne gehende Übereinstimmung der Apollon und Mars66, Hera und Juno 67 betreffenden Mythen und Kulte belegen, bestätigen als „unläugbare Tatsache [...] die Annahme eines gräcoitalischen Urvolkes"68, dessen religiöse Anschauungen und Kultusgebräuche noch im späteren Griechentum erhalten seien. Diese Ergebnisse, die zweifelsohne die Originalität der griechischen Mythologie relativieren, finden Nietzsches Zustimmung: [Nietzsche] Die nationale Selbständigkeit der italischen Religion, die man früher nur als eine Modification der griechischen gehalten, ist namendich erst durch Härtung und Preller bewiesen; weiter gieng zur

« « 66 67 68

[Roscher] Wenn schon die Vergleichung verwandtschafdich sich ferner stehender indogermanischer Völker brauchbare mythologische Resultate ergeben hat, wie viel mehr muss dies der Fall sein, wenn man

GDG, S. 25. W. H. Roscher: Apollon und Mars, a.a.O., S. 9-11. Vgl. dazu GDG (S. 27 f.) mit W. H. Roscher (Apollon und Mars, a.a.O., S. 5-7). Vgl. dazu GDG (S. 28 f.) mit W. H. Roscher (Juno und Hera, a.a.O., S. 4-6). W. H. Roscher: Apollon und Mars, a.a.O., S. 92.

132

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Vergleichung über Preuner, Hestia-Vesta 1864. Roscher, Apollo und Mars 1873 .Juno und Hera 1875.69

die Mythen, Kulte und religiösen Anschauungen derjenigen Nationen genauer ins Auge fasst, welche, wie die griechische und römische, sprachlich eine sehr enge Verwandtschaft verrathen. Dieser nahe liegende und gewiss durchaus berechtigte Gedanke hat gleichwohl sonderbarerweise bis jetzt so gut wie gar keine Veranlassung gegeben, die griechische und römische Mythologie auf ihre innere Verwandtschaft hin einmal genauer anzusehen [...]. Und doch wäre es gerade jetzt wohl an der Zeit, einmal diese überaus wichtigen Probleme in Angriff zu nehmen, seitdem es den Bemühungen Hartung's, Preller's u. A. gelungen ist, die nationale Selbstständigkeit der italischen Religion, die man früher nur für eine Modifikation der griechischen gehalten hatte, zu erweisen und die ursprünglich italischen Mythen von den später damit vermischten griechischen zu sondern. Mit dieser principiellen Sonderung ist die wichtigste Vorbedingung einer vergleichenden gräcoitalischen Mythologie erfüllt und jede eingehende methodische Forschung auf diesem bisher so gut wie gar nicht betretenen Gebiete dürfte ebenso wichtige Resultate ergeben, wie die sind, welche Preuner in seiner trefflichen, aber sonderbarerweise wenig beachteten Schrift Hestia-Vesta (1864) veröffendicht hat.70

Auch ein weiterer Autor, den Nietzsche in diesen Monaten gründlich studiert, H. Nissen, kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Roscher. Auf seinem Werk „Das Templum", von dem schon die Rede war, fußen wichtige Passagen der Gottesdienst-Vorlesungen. Ferner beschäftigt sich Nietzsche 1875 mit Nissens Artikel „Ueber Tempel-Orientierung", der in den Ausgaben 38 und 39 der Zeitschrift „Rheinisches Museum" erschienen war 71 . In seinem Artikel sucht Nissen zu zeigen, daß das Schema der römischen urbs, in dem keine hellenischen Einflüsse nachweisbar seien, als Uberrest einer vorheri69 GDG, S. 26 f. 70 W. H. Roscher, Apollott und Mars, a.a.O., S. 4 f. Auch eine andere Behauptung Nietzsches („Ich erkenne als bewiesen an: die Identität von Zelir-Jupiter, von Hera-Juno, von 'Εστία- Vesta, von MarsΆπόλλωιτ für beweisbar halteich noch Liber-Dionysos") in GDG (S. 26) ist eine Zusammenfassung der Resultate von W. H. Roschers Apollon und Mars, a.a.O., S. 92 f. 71 Nietzsche lieh diese Nummern am 8. Mai 1875 aus.

Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit

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gen Bauform verstanden werden könne, einer Form, die jahrhundertelang fast unverändert geblieben, obwohl die technischen Fortschritte eine Weiterentwicklung längst ermöglicht haben würden: [Nietzsche] Die .Stadt* ist nicht gräkoitalisch, das italische Stadtschema ist nach der Trennung der Italiker und Hellenen, aber vor der Spaltung der italischen Stämme geschaffen, es ist das Lager mit seinem Erdwall und Schanzpfählen, der Steinbau war noch nicht bekannt.72

[Nissen] Die italische Stadt ist in einer Epoche geschaffen, als die Italiker den Steinbau noch nicht übten. Es lässt sich beweisen, dass Hellenen und Italiker wie die Abendländer überhaupt ursprünglich in Holz gebaut haben; die kunstmässige Bearbeitung und Verwendung des Steins setzt eine Reihe bedeutender technischer Fortschritte voraus. Insofern stellt das Lager mit seinem Erdwall und Schanzpfählen die älteste Stadt getreuer dar, als die uns vorliegenden Mauerringe [...]. Die bisherigen Erörterungen ergeben, dass das italische Stadtschema nach der Trennung der Italiker und Hellenen, aber vor der Spaltung der italischen Stämme, d. h. vor der Besitznahme der eigentlichen Halbinsel geschaffen worden ist.73

Auch in der Altertumswissenschaft erweisen sich mithin die von den Ethnologen geprägten Begriffe „Überbleibsel" und „Uberrest" als wertvoll. Die „schematische" und „quadratische" Struktur in der Anlage von Häusern und Städten spiegele die „Naturanschauung" einer wahrscheinlich in der Poebene ansässigen Bevölkerung wieder und werde später auch in neuen Ansiedlungen in ganz anderen Gegenden, in den Apenninen-Tälern und an der Küste Kampaniens, beibehalten: [Nietzsche] Man hat erkannt, daß die mathematisch zertheilende Naturanschauung der Italiker nur in der Ebene entstanden sein kann, wahrscheinlich in der Poebene; das ganze Land stellte sich als ein einziges grosses templum dar, vom Po als decumanus maximum, von seinen alpinischen und apenninischen Zuflüssen als cardines limitirt. Hier schlugen die Elemente der geometrischen Anschauung, welche die Wanderer aus dem Orient mitgebracht,

73

[Nissen] Die Naturanschauung des italischen Volkes ist in der Ebene entstanden. Auf dem Boden der Ebene ist der Mensch zuerst der göttlichen Verheissung, welche die Erde ihm unterthan machte, froh geworden. Er hat hier nicht mit Mächten zu kämpfen, die stärker sind als seine junge Kraft [...]; sein strebender Geist umfasst die endlose Fläche. Der Mensch drückt ihr das Zeichen der Knechtschaft auf; die Natur zeichnet sich hier nicht durch scharf ausgeprägte Formen

GDG.S.34. H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 96 f. Weiterhin zeigt nach Nissen (S. 138) auch „das altitalische Haus [...] in seinem Grundplan den nämlich fest ausgeprägten Schematismus, den wir in Lager und Stadt vorgefunden haben".

134

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Wurzel. Hier entstand ein grossartiges System.74 [Nietzsche] Die Griechen sind gerade bewundernswerth wegen ihres Sinnes für Ordnung, Gliederung, Schönheit, κόσμος-, man merkt in dem Talent zu ordnen ihre Verwandtschaft mit den Italikern und deren mathemathisch construktiver Phantasie, mit der sie den Himmel, die Erde, die Götter und sich selbst massregeln.75 [Nietzsche] Bei den Italikern, in Aegypten und Babylon drückt der Mensch mit der quadratischen Kunstform das Zeichen der Knechtschaft auf.76

aus, der ordnende Verstand zwängt sie in unterscheidende Linien. Die quadratische Kunstform hat sich in Aegypten und Babylon und in gleichem Sinne bei den Italikern entwickelt [...]. Wenn die Ebene ihren Bewohner zur Freiheit prädestinirt, so gewährt sie nur das eine Element, dessen er zu seiner menschlichen Entwicklung bedarf. In den Steppen und Wüsten mit ihrer ewigen Monotonie verharrt er auf der Stufe elementarer Ungebundenheit, dem Thiere gleich von Ort zu Ort schweifend. Darum sind es auch nur die begrenzten Ebenen, welche die Wiege der Cultur getragen haben [...]. Durch diese Gesichtspuncte wird die Bildungsepoche der italischen Nation fest Iokalisirt. Sie kann sich nicht am Schwarzen Meer noch an der Donau vollzogen haben, und nirgend anders als in der Ebene des Po. Hier haben die Italiker nach ihrer Trennung von den Hellenen und später von den Kelten für sich allein gesessen [...]. Das ganze Land stellte sich als ein einziges grosses Templum dar, vom Po als D e c u m a n u s maximum, von seinen alpinischen und apenninischen Zuflüssen als Kardines limitirt. Hier schlugen die Elemente der Geometrie, welche die Wanderer gleich anderen Culturkeimen aus dem Osten mitgebracht hatten, Wurzel Jenes grossartige System, welches alle Probleme des Lebens auf die nämlichen einfachen Gesetze zurückführte, ward hier im Detail ausgebildet. Die Jahrhunderte haben die Nachkommen in die engen Thäler des Apennin, an die üppigen Küsten Campaniens geführt, aber hier wie dort limitirte man nicht anders, als die Vorfahren in ihren Holz- und Erdhütten an den Ufern des Po die Kunst geübt hatten.77

D e n eigentümlichen Charakter der urbs, ihr Verhältnis zur Naturanschauung der Italiker, hervorzuheben, bedeute aber zugleich, sich von einer in der damaligen Altertumswissenschaft herrschenden Ansicht zu lösen. Nissen hält es für falsch,

G D G , S. 33. " Ebd., S. 16. 76 Ebd.,S. 9. 77 H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 98-100.

Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit

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beim Studium der römischen Kultur fortwährend „griechische Vorbilder" in Betracht zu ziehen. Nietzsche faßt diese Ausführungen stichwortartig zusammen: [Nietzsche] Von einer festen Lagerform der Hellenen kann gar nicht die Rede sein.78

[Nissen] Auch auf Philippos von Makedonien machte [das römische Lager] einen gewältigen Eindruck, wie Polybios erzählt [...]. Aus der Vorliebe, mit der dieser Schriftsteller auf den Gegenstand zurückkehrt, ersieht man so recht, wie sehr das Lager den griechischen Militärs imponierte. Die Weise der Hellenen war eben total verschieden. Sie suchten das Heer nicht durch künsdiche, sondern durch natürliche Befestigungen zu schützen; denn man hielt die Deckung durch das Terrain für sicherer, als diejenige durch Wall und Graben. In Folge dessenrichtetesich die Form des hellenischen Lagers jedesmal nach dem Platz, den man besetzte, und die einzelnen Abtheilungen innerhalb desselben wurden bald hier, bald dort placirt [...]. Der Unterschied in der Sitte beider Völker findet auch einen bezeichnenden Ausdruck in der Sprache. Dem Hellenen fehlt ein Individualname für Lager: χάραξ, der spitze Pfahl, ist offenbar von dieser eigendichen Bedeutung darauf übertragen, στρατό

πεδοι> (στ pa το neSeLa) heisst

das Feld, auf dem das Heer lagert, und παρεμβολή ist gleichfalls erst spät neben seinen anderen Bedeutungen auch in dieser angewandt worden. Hingegen das lateinische Castrum in seinem ganz individuellen Gebrauch, eng verwandt mit casa, entspricht der italischen Auffassung, welche in demselben eine zweite Vaterstadt erkennt. Es ist von Wichtigkeit festzuhalten, dass von einem festen Lagerschema der Hellenen und einer Nachbildung desselben durch die Römer absolut keine Rede sein kann. So wenig man auch bisher zu einer entgegengesetzten Ansicht geneigt gewesen ist, so legt dagegen die jetzt allgemein verbreitete Auffassung der altitalischen Cultur es desto näher, die Constituirung und Ausbildung der Stadt auf griechische Vorbilder zurückzuführen.79 78 GDG, S. 34. 7 9 H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 90 f.

136

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

Gegen die Neigung, die Originalität der Italiker zu schmälern, um dadurch der hellenischen Kultur desto mehr Ausstrahlungskraft zuzuschreiben, erhebt Nissen auch an anderen Stellen seines Werkes Einspruch. In vielen Fällen ermögliche die Kenntnis der religiösen Symbolik der Italiker auch ein besseres Verständnis der griechischen Kulte, wenngleich die Altertumswissenschaft sich gegen diese Erkenntnis sträube: [Nietzsche] Als etwas Gemeinsames ergiebt sich dies: das Verhältniss der Längenaxe zur aufgehenden Sonne bezeichnet den Gründungstag und Festtag des Tempels, bei Griechen wie bei Italikern.80

[Nissen] Vielmehr folgt daraus ohne Weiteres, dass nach demselben Gesetze, das wir für Italien nachgewiesen haben, [auch in Hellas] das Verhältniss der Längenaxe zur aufgehenden Sonne den Gründungstag und Festtag des Tempels bezeichnet. Die moderne Forschung hat bisher über Gebühr den italischen Cultus gegenüber dem hellenischen vernachlässigt, sie hat übersehen, dass das Verständniss des letzteren vielfach nur durch den Umweg über Italien zu gewinnen ist.81

Das Studium griechischer Mythologie und Religion könne schwerlich von der „italischen Religion" absehen, in welcher die Spuren einer gemeinsamen Vergangenheit reiner erhalten seien: [Nietzsche] Im ganzen hat sich die italische Religion reiner erhalten, der griechische Anthropomorphismus ist eine verhältnissmässig junge Bildung.82

so «ι 82 83

G D G , S. 31. H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 230. G D G , S. 31. H. Nissen: Das Templum, a.a.O., S. 229.

[Nissen] Diesem fein berechneten und durchgebildeten System [der italischen Religion] gegenüber erscheinen die Hellenen gar sehr im Rückstand. Wenn beide Religionen aus derselben Wurzel entstammen, so liegt die Frage nahe, welche von dem gemeinsamen Grundstock am Wenigsten abgewichen sei. Im Grossen und Ganzen scheint es nicht bezweifelt werden zu können, daß die italische Religion reiner und unverfälschter sich gehalten hat, der griechische Anthropomorphismus dagegen eine verhältnissmässig junge Bildung ist. Dies gilt auch von der Weltanschauung, welche die Tempelordnung bestimmt und bedingt hat.83

Roscher und Nissen über die gräko-italische Urzeit

137

Auch in Nissen findet also Nietzsche um 1875 einen Gesinnungsgenossen, auf den er sich in seiner Offensive gegen die Zunft der Philologen beziehen kann. Beide gehen an das Hellenische heran, nicht um wie Preller und O. Müller, Welcker und Hermann, „die traditionelle Verklärung" M weiterzuführen, sondern um die Spuren eines gewaltigen Aneignungs- und Vermischungsprozesses aufzufinden. Es sei hier ζ. B. an die Auffassung Welckers erinnert, die seinen mythologischen Untersuchungen zugrunde liegt. Es müsse anerkannt werden, so wird in der „Griechischen Götterlehre" behauptet, daß nicht in den „mit den verwandten Völkern gemeinschaftlichen Anschauungen, Götter[n] und Mythen [...] das Auffallende und besonders Bemerkenswerthe" liege, „sondern in der Entwicklung, Einheit und Harmonie des eigenthümlich Griechischen, das auch in der Mythologie sich hervorthut". Eigentümlich an diesem Prozeß sei gerade „das Wachsen und Weben von innen heraus", denn „man verkennt sehr die Natur und den Werth dieser Mythologie, wenn man von ihrer Einheit und den harmonischen Fugen und Formen absieht"85. Nissen dagegen (und mit ihm Nietzsche) stellt in seinen archäologischen und kulturhistorischen Forschungen die „allgemeine Toleranz" der Hellenen, „ihr unendliches Accomodations- und Assimilationsvermögen" in den Vordergrund. Der Grieche, der sich sogar den „asiatischen Sonnendienst" zu eigen mache, weiss, dass eine reiche Götter- und Geisterwelt nicht blos seine beschränkte Heimat erfüllt, sondern in gleicher Weise die Städte und Länder der Fremden beherrscht [...]. Die antike Frömmigkeit äussert sich in der Ehrfurcht vor dem unbekannten Gotte so gut wie vor dem bekannten 84 .

In Nissens Studien ist von einem „ Synkretismus des antiken Glaubens " 87 die Rede, von einer welthistorische[n] Aufgabe der Hellenen [...], die Ergebnisse der orientalischen Cultur unserem Erdtheil zu vermitteln und mundgerecht zu machen [...]. Aus den engen Grenzen der Heimat über den weiten Umkreis des Mittelmeeres verbreitet, haben sie eine bis jetzt unerreichte Fähigkeit bewiesen, sich Fremdem anzuschmiegen, dessen inneren Kern zu erfassen, in ein klares Verhältniss zu dem nationalen Eigen zu setzen 88 .

Seine auch in dem Gottesdienst-Kolleg angeführten89 archäologischen Studien über Tempelorientierung (der Nachweis einer Ausrichtung der Tempelachsen nach der Aufgangsrichtung der Sonne) bekräftigen die Auffassung der griechisch-

3[14] (März 1875); KSA8, S. 18. F. G. Welcker: Griechische Götterlehre, a.a.O., S. 28-30. 8 6 H.Nissen: „Ueber Tempel-orientirung", in: Rheinisches Museum für Philologie (28) 1873, S. 518. 87 Ebd., S.522. 88 Ebd., S. 521. 89 GDG, S. 31 ff. 84

8'

138

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

römischen Geschichte als eines „Process [es] der Entnationalisirung"90. Auch in diesem Zusammenhang wird die Zustimmung verständlich, mit der Nietzsche, der als Philologe in seinen Vorlesungen ähnliche Standpunkte vertritt, Nissens Thesen übernimmt: D i e G r i e c h e n verstanden sich auf die Inoculation des N e u e n , a u f das Einwachsenlassen des F r e m d e n , so dass d e r ganze S t a m m nicht beschädigt wird. 9 1

5. Die „greisenhafte Kurzsichtigkeit" der Europäer und ihre Oberwindung Im Aphorismus 616 von „Menschliches, Allzumenschliches" wird die Erfahrung der Entfremdung, des Abstandnehmens von herkömmlichen Standpunkten und zeitgebundenen Denkweisen umrissen: D e r G e g e n w a r t e n t f r e m d e t . — E s hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in s t ä r k e r e m M a a s s e zu e n t f r e m d e n u n d gleichsam v o n ihrem U f e r zurück in d e n O c e a n der vergangenen W e l t b e t r a c h t u n g e n getrieben zu w e r d e n . V o n dort aus n a c h der K ü s t e zu blickend, ü b e r s c h a u t m a n wohl z u m ersten M a l e ihre g e s a m m t e G e s t a l t u n g u n d hat, w e n n m a n sich ihr w i e d e r nähert, den Vortheil, sie besser im G a n z e n zu verstehen, als Die, w e l c h e sie nie verlassen haben.

Eine solche Phase der Entfremdung und Abkehr von der Gegenwart, des Sichverlierens im „Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen" erlebt Nietzsche ohne Zweifel zwischen Frühjahr 1875 und dem folgenden Winter. Das Gottesdienst-Kolleg ist ein eindrucksvoller Beleg dieser Zeit des Ubergangs und Umdenkens. Gewiß, dem Anschein nach legt Nietzsche in diesen Vorlesungen nichts anders vor als eine Ubersicht der „verschiedenartigen Elemente, auf denen der griechische Cultus beruhte". Aber er kommt zu überraschenden Resultaten. Nur solche Untersuchungen finden seine volle Zustimmung, in denen neue, unerwartete Standpunkte „für die Geschichte der Beziehungen zwischen Orient und Occident" 92 gewonnen werden. Das ist es, worauf es ihm ankommt. Auch Forscher wie Müllenhoff, der in der Mythologie und Literatur der,arischen' Griechen die Spuren des Zusammentreffens mit den „handeltreibenden Phoeniziern", d. h. mit einem

90

„Diejenigen Nationen, auf denen der Gang unserer Geschichte beruht, Hellenen, Italiker, Germanen [...] haben das mit einander gemeinsam, dass sie nicht selbständig aus eigenen angeborenen Anlagen sich entwickelten, sondern von einer höheren fremden Cultur ergriffen und für ihre Aufgabe befähigt wurden. Sie haben derart viel Eigenes aufgegeben und Fremdes an seine Stelle eingetauscht. Man pflegt kurzweg und unter der nötigen Einschränkung vollkommen richtig von einer Semitisirung der Hellenen, einer Hellenisirung Italiens, einer Romanisirung Nordeuropas zu reden. Diesem Process der Entnationalisirung gehört auch die Wandlung des religiösen Glaubens an" (H. Nissen, „Ueber Tempel-orientirung", a.a.O., S. 525).

91

GDG, S. 54. J. Brandis: „Die Bedeutung der sieben Thore Thebens,, a.a.O., S. 284.

92

Die „greisenhafte Kurzsichtigkeit" der Europäer

139

.semitischen' Volk, aufzufinden bemüht ist, werden letztlich von der Ahnung geleitet, daß „durch die berührung des orients mit dem Occident [...] der Zusammenhang der Weltgeschichte eingeleitet" wurde95. Von derartigen Auffassungen ausgehendend, wird sowohl im philosophischen Werk der Jahre 1878-80 wie auch in den vorherigen Gottesdienst-Vorlesungen immer wieder ein Standpunkt vertreten, der im Gegensatz zu dem Ansatz J. Burckhardts steht, der in seiner „Griechischen Kulturgeschichte" schreibt: Man muß vieles über Bord werfen können, vor allem, obschon ungern, die kritische Untersuchung über die Anfänge, welche eine große parallele Forschung über die Anfänge einer Reihe anderer Völker voraussetzt. Auch verzichten wir auf Behandlung dessen, was nur dem gewöhnlichen äußern Leben angehört, auf das, was auch andern Völkern jener Zeit [...] eigen war, und beschränken uns [...] auf diejenigen Züge, aus welchen der spezifisch griechische Geist zu uns redet.9,1

Im Fragment 3 [39] aus dem März 1875 ist das Ziel der Auseinandersetzung Nietzsches mit den Griechen in den Jahren 1875-79 angedeutet: Ich meine: erst spät beginnt es zu dämmern, was wir an den Griechen haben können: erst nachdem wir viel erlebt, viel durchdacht haben.

Erst am Ende unserer Untersuchung erhellt sich die Bedeutung dieses Aphorismus. Nur jene „ Zukunftsmenschen ", die schon die ersten Zeichen einer epochemachenden Umwälzung wahrnehmen, werden des Eigentlichen am Griechentume teilhaftig werden. Die „Freigeister" wissen: Noch bestehe „das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien's" (WS 215), aber schon bald werde „das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit" (WS 125) und das „Nationalgefühl", einst unabdingbare Voraussetzung jeden Fortschritts, nur mehr ein Überbleibsel, ein Atavismus sein: Noch eine Eule nach Athen. — Daß Wissenschaft und Nationalgefühl Widersprüche sind, weiß man, mögen auch politische Falschmünzer gelegentlich dies Wissen verleugnen: und endlich! wird auch der Tag kommen, wo man begreift, daß alle höhere Cultur nur zu ihrem Schaden sich jetzt noch mit nationalen Zaunpfählen umstecken kann. Es war nicht immer so: aber das Rad hat sich gedreht und dreht sich fort. 95

Die Zeit werde kommen, so Nietzsche, da es möglich sein werde, die verborgene Erbschaft der Griechen anzutreten, dieser „freudigen Dilettanten", die nicht „nationale Zaunpfähle" errichtet, sondern unermüdlich an der „Entnationalisierung" (Nissen) der antiken Kultur gearbeitet haben. Ihrer Denkweise, die, wie Nietzsche 93

94

«

K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, a.a.O., S. 72. BeiJ. A. Härtung (DieReligion undMytbologie der Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 89 f.) finden sich ähnliche Behauptungen: „Die Griechen hatten das Asiatische Wesen von Haus her überkommen [...]." J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, a.a.O., Bd. 1, S. 7 f. 36[2] (Herbst 1878); KSA 8, S. 572.

140

III. Kapitel: Der freudigen Dilettanten Lust zur Aneignung

schon im Frühling-Sommer 1875 behauptet, „die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums" ist96, werden sich jene Freigeister anschließen, die allen Unterschieden des „Nationalgefühls" zum Trotz „zu der Einsicht" gelangen, „dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind"97. Auch die Völkerkunde jener Jahre bot, wie hier gezeigt werden sollte, Anhaltspunkte für ähnliche Schlußfolgerungen, da sie sich auf den Begriff einer „Stufenleiter der Cultur" gründet, die die verschiedensten Völkerschaften durchzieht, sie in einer „idealen Skala" vereint, und somit bedeutend zur Beseitigung der „nationalen Zaunpfähle" beiträgt. Die von Nietzsche um 1875 studierten Autoren, sowohl die Philologen, die vom „humanen", verklärten Gesamtbild des Griechentums Abschied nehmen, wie auch die Ethnologen, denen jene oberflächlichen Unterschiede, die die vermeintliche Einzigartigkeit einer Rasse oder Nationalität begründen sollten, unwesentlich scheinen, stehen diesbezüglich in vollem Einklang miteinander. Der „europäische Universalmensch", der „für die Zukunft [...] neue Möglichkeiten des Lebens erfindet"98, habe also von Altertumswissenschaft und Ethnographie vieles zu lernen. Von den Griechen lerne er, sich von dem Mißtrauen oder gar der Verachtung gegenüber dem Fremden zu befreien, aber erst von den Ethnologen erfähre er, was „das Verschwinden des Nationalen"99 konkret bedeute, und wie vermöge der Berührung mit anderen Denkweisen und Mentalitäten eine neue Einstellung zu gewinnen sei, durch welche mit der „greisenhaften Kurzsichtigkeit" der Europäer (WS 189) radikal gebrochen werde.

9

5[146] (Frühling-Sommer 1875); KSA 8, S. 79. 97 3[69] (März 1875); KSA 8, S. 33 f. 98 17[44] (Sommer 1876); KSA 8,304. 99 19[75] (Oktober-Dezember 1876); KSA 8, S. 348.

Anhang zum III. Kapitel: Preßreptilien" und öffentliche Meinung In den Schriften und Aufzeichnungen der 80er Jahre richtet Nietzsche seine Kritik-wiederholt gegen Journalisten, „Litteraten" und die „zeitungslesende Halbwelt des Geistes" (JGB 263). „Noch ein Jahrhundert Zeitungen — und alle Worte stinken ", heißt es in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1882 1 . In einer Nachlaßnotiz aus dem Frühjahr 1884 spricht er seine „tiefe Verachtung gegen die an der Presse Arbeitenden" aus2. Ein Fragment von 1885 lautet: „Kein Volk von .Politikern von Beruf', von Zeitungslesern! " 3 . Und in einer anderen, etwa gleichzeitigen Notiz steht zu lesen: „Abseits, wohlhabend, stark: Ironie auf die ,Presse' und ihre Bildung. Sorge, daß die wissenschaftlichen Menschen nicht zu Litteraten werden. Wir stehen verächtlich zu jeder Bildung, welche mit Zeitungslesen oder gar -schreiben sich verträgt."4 Solche Formulierungen stellen die Weiterführung von Motiven dar, die Nietzsche schon in „Menschliches, Allzumenschliches" entwickelt hatte. In der Tat war in den Jahren 1875-78 seine Beschäftigung mit dem Thema ,Zeitungswesen, Politik und öffentliche Meinung' am intensivsten gewesen. Die Manipulation der öffentlichen Meinung und die politische Kontrolle der Presse waren im Jahre 1875 in Deutschland Gegenstand einer ausgesprochen heftigen Auseinandersetzung, und zwar im Zusammenhang mit der sogenannten Arnim-Affäre. Graf Harry von Arnim, seit Anfang 1872 Botschafter des Reiches in Paris, war für die monarchische Restauration in Frankreich eingetreten und dadurch in Gegnerschaft zu Bismarck geraten, der Thiers und die Republik unterstützte. Arnim, der die Gunst Wilhelms I. und insbesondere der Kaiserin Augusta genoß und mit konservativen Junkern in Verbindung stand, wurde auf diese Weise für den Kanzler ein gefährlicher politischer Konkurrent. Erst im Frühjahr 1874 gelang es Bismark, beim Kaiser die Abberufung Arnims durchzusetzen. Der Botschafter reagierte darauf, indem er vertrauliche Aktenstücke veröffentlichte. Damit aber gab er Bismarck Gelegenheit, disziplinarisch und strafrechtlich gegen ihn vorzugehen. Der darauffolgende Prozeß und der schonungslose Schlagabtausch zwischen dem Kanzler und seinem ehemaligen Pariser Botschafter,

1

2

3 4

3[1] (Sommer-Herbst 1882); KSA 10, S. 73. Siehe auch K. Braatz: Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der öffentlichen Meinung, a.a.O., passim. 25[134] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 49. 34[113] (April-Juni 1885); KSA 11, S. 458. 35[9] (Mai-Juli 1885); KSA 11, S. 512.

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Anhang zum III. Kapitel

der im Oktober 1874 sogar verhaftet wurde, waren die politische Sensation der damaligen Zeit. Bismarck engagierte in seinem Kampf gegen Arnim die Zeitungen in einer Weise, die um 1875 eine heftige Kontroverse über die Korruption der deutschen Presse sowie die Tätigkeit des „literarischen Büros" im Innenministerium auslöste. Die Diskussion erreichte ihren Höhepunkt, als Arnim Anfang November 1875 in Zürich das anonyme Pamphlet „Pro nihilo" erscheinen ließ 5 , in dem Bismarcks „Ministerialdespotismus" angeprangert („Unser Land ist die eigentliche Heimath [...] der centralisirten und monopolisirten Production der öffentlichen Meinung im Dienste der Gewalt") 6 und die gesamte preußische Presse beschuldigt wird, zu einem Instrument des „Panbismarckismus" verkommen zu sein, da sie „fast ausschliesslich im Dienste des Reptilienfonds steht", d. h. des Berliner Presseamts 7 . Die Schrift des konservativen Politikers gipfelt in dem Verdikt, im neuen Reich sei „die öffentliche Meinung [...], so weit sie sich durch die Presse kund gibt, im Allgemeinen nur noch die Meinung Derer [...], welche über den stark verschuldeten Weifenfonds disponiren." 8 Der Fall Arnim, „dieses Unikum in der diplomatischen Geschichte Deutschlands" 9 , erregte allgemeine Aufmerksamkeit und wurde zum Tagesgespräch unter Intellektuellen und in der Presse. Schon Mitte November las Wagner Arnims Streitschrift 10 . Auch Nietzsche verfolgte die Angelegenheit und verschaffte sich

Pro nihilo! Vorgeschichte des Arnim's Processes, Zürich 1876. Die Herausgabe dieser Schrift brachte Arnim eine Anklage wegen Landesverrats und die Verurteilung, in Abwesenheit, zu fünfJahren Haft ein. , μοχθείν — auf die angegebene Weise brauchen (ζ. Β. Soph. Ai. 1156. Ant. 1026. El. 121. 275. Ο. K. 800;

Der Schlechte als Unglücklicher drücke für,unglücklich' .bedauernswürdig' übrig geblieben sind (vergleiche δειλός, δείλαιος·, πονηρός, μοχθηρός, letztere zwei eigentlich den g e m e i n e n M a n n als Arbeitssklaven und Lastthier kennzeichnend) — und wie andrerseits ,schlecht' .niedrig' .unglücklich' nie aufgehört haben, für das griechische Ohr in Einen Ton auszuklagen, mit einer Klangfarbe, in der .unglücklich' überwiegt: dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Werthungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (— Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne οϊζυρός, äiΌλβος, τλήμων, δυςτυχειν, ξυμφορά gebraucht werden). Die .Wohlgeborenen' fühlten sich eben als die .Glücklichen'; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu construiren

271

Eur. Androm. 680), ist oft beobachtet worden; ein sehr bemerkenswerthes Beispiel einer entsprechenden Uebertragung — όίζνρός — bietet ein Vers des Theognis (65) [...]. Aber charakteristischer als dies ist, dass dasjenige W o r t , welches geradezu zur gewöhnlichsten Bezeichnung des sittlich schlechten geworden ist, — ττονηρός — ebenso wie ein anderes ihm durchaus verwandtes, das hauptsächlich Piaton und Aristoteles lieben, — μοχθηρός — ursprünglich die Bedeutung des mühevollen oder kummervollen, also des unglücklichen hat, von uns daher am passendsten durch ,elend' übersetzt wird. 91

[..J.90 Die Passage der „Genealogie", von der hier die Rede ist, fußt übrigens auf einem Vermerk aus Frühjahr-Sommer 1883 („Ehre dagegen dem Gefühl der Fülle und des Uberströmens: reich genug, um dem Unglücklichen zu helfen [...]") 92 , welcher sich in einer Zusammenfassung der bei Schmidt gefundenen Motive findet. Schmidts These, daß die Griechen das Bild des Schlechten' nicht aus Ressentiment verzerrt haben, taucht auch in einer anderen Aufzeichnung der selben Monate auf: „Der Übelthäter als ein Unglücklicher: Form der Humanität" 93 . Daß schließlich dergleichen sprachliche Ubergänge—von .schlecht' nach .unglücklich', von .schuldig' nach .bemitleidenswürdig' — auf Nietzsches lebhaftes Interesse stießen und er sich von ihnen zu neuen Gedanken anregen ließ, wird durch die folgende Notiz aus Sommer 1883 bestätigt: „Der böse Mensch genießt theils Verehrung, theils Mitleid; er ist sich selber noch nicht von Würmern zerfressen — die ganze zerstörende aufwühlende Selbst-Verachtung fehlt."94 Ein weiteres Mal greift Nietzsche in seiner Schrift aus dem Jahre 1887 auf Schmidts Werk zurück, um an einem konkreten Beispiele zu zeigen, daß die sittliche Mißbilligung nicht aus utilitaristischen Erwägungen hervorgegangen sei, sondern aus der Verachtung des Furchtsamen:

9° GM 110. 91 L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 370. 92 7[22] (Frühjahr-Sommer 1883); KSA 10, S. 247. 93 7[84] (Frühjahr-Sommer 1883); KSA 10, S. 271. 94 8[15] (Sommer 1883); KSA 10, S. 335.

272

VII. Kapitel: Die Naivität der Griechen

[Nietzsche] Im Worte κακός wie in δειλός (der Plebejer im Gegensatz zum άγαθός) ist die Feigheit unterstrichen [...]."

[Schmidt] Das am meisten charakteristische Beispiel bietet das Adjektiv, welches ursprünglich , feige' bedeutet, — δειλός —. In Folge der dem Heldenzeitalter natürlichen Betrachtungsweise, für welche die Tapferkeit die wichtigste aller Tugenden ist und der Gedanke des guten sich von dem des tapfern nicht ablösen lässt, hat sich dasselbe allem Anschein nach früh zu dem erweitert, als was es in manchen erhaltenen Dichterstellen (ζ. B. O d . 8 , 3 5 1 ; Hes. W. u. T. 713; Theogn. 307; Skol. b. Athen. 15, 695 c) erscheint, zu einer Bezeichnungsweise des sittlich schlechten überhaupt, und im ferneren Verlaufe der dadurch angebahnten Entwickelung hat es die Bedeutung .unglücklich' angenommen, die bereits bei Homer sehr häufig ist und für die die attische Periode eine erweiterte N e b e n f o r m — δείλαιος — ausgebildet hat. 96

E b e n f a l l s v o n S c h m i d t s t a m m t d e r G e d a n k e , d a ß es eine in d e r S p r a c h e fossilisierte u r s p r ü n g l i c h e Identität von T ä t i g k e i t u n d G l ü c k g e b e : [Nietzsche] [...] und ebenfalls wussten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich nothwendig aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen, — d a s T h ä t i g s e i n wird b e i ihnen mit Nothwendigkeit in 's Glück hineingerechnet (woher eu TrprfTTfi^seine Herkunft nimmt)

[Schmidt] Einem bekannten Sprachgebrauche zufolge, auf dessen ethische Bedeutung sowohl Piaton (Charm. 173 d) als Aristoteles (N. Etk. 1095 a 19. 1098 b. 20) und Eudemos (1219 b 1) aufmerksam gemacht haben, dient der Ausdruck ,gut handeln' — eu πράττειν — zur Bezeichnung von ,sich gut b e f i n d e n ' , wird a l s o gewissermaassen der letztere Begriff in den ersteren eingeschlossen[...]. 98

Z u m T h e m a d e s „schlechten G e w i s s e n s " verweilt N i e t z s c h e in d e r „ G e n e a l o g i e " a u f d e r kathartischen W i r k u n g d e r griechischen Religion, w e l c h e nicht d e n S t e r b lichen ,schuldig' s p r e c h e , s o n d e r n d e n G ö t t e r n u n d ihren a u g e n b l i c k l i c h e n u n d t r ü g e r i s c h e n E i n g e b u n g e n d i e V e r a n t w o r t u n g f ü r frevlichten W a n d e l z u s c h r e i b e . B e i H o m e r ( O d . 1 , 3 2 - 4 ) z e u g e , s o N i e t z s c h e , d e r A u s r u f d e s Z e u s ( „ W u n d e r , wie

95 96 97 98

GM 15. L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 369 f. GM 110. L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 73.

Der Schlechte als Unglücklicher

273

sehr doch klagen die Sterblichen wider die Götter! / Nur von uns sei Böses, vermeinen sie [...]") von dieser Auslegung der Sünde als göttliche Blendung und Trugbild: ,Es muss ihn wohl ein Gott bethört haben', sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd... Dieser Ausweg ist typisch für Griechen ... Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen — damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vornehmer ist, die Schuld ..." Auch diese Betrachtung ist aus Schmidts Werk übernommen, in welchem Nietzsche nicht nur den Homerischen Zeus-Spruch fand und die in der „Genealogie der Moral" gesperrt gedruckten Wörter („Nur von uns sei Böses") mit Bleistift kennzeichnete, sondern auch die durch viele literarische Quellen belegte Uberzeugung einer „bethörenden Verführung" durch die Götter, die das unbillige Verhalten erzeuge: [Nietzsche] Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter bedient, gerade um sich das .schlechte Gewissen' vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen: also in einem umgekehrten Verstände als das Christenthum Gebrauch von seinem Gotte gemacht hat.100

[Schmidt] Aber im Allgemeinen war allerdings die Vorstellung vorhanden, dass die Götter die Urheber des von den Menschen begangenen Unrechts sein können [...]. Einzelnen Wendungen, welche jener Neigung, die Sünde auf die Götter zurückzuführen, ihren Ursprung verdanken, begegnen wir in den homerischen Gedichten noch mehrfach, wie wenn es in der Odyssee (19, 396) von Autolykos heisst, er sei von Hermes mit Diebssinn und Meineid begabt worden, und wenn im neunzehnten Buche der Ilias mehrmals (87. 137. 270) über die Sinnesbethörungen geklagt wird, durch welche Zeus den Agamemnon veranlasst habe, dem Achilleus sein Ehrengeschenk zu entreissen.101

So wie diesen streicht Nietzsche jenen Schmidtschen Passus an, in dem es heißt, daß das W o r t .gottverhaßt' (θεοίσεχθρος), welches etwa Aristophanes und Demosthenes gebrauchen, denjenigen bezeichne, der boshafte Taten verübe und also gewissermaßen durch ein höheres Wesen „bethört" sei 102 . Die im Abschnitt

»

GM II 23.

100 Ebd. 101 L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen, a.a.O., Bd. 1, S. 232. 102 Ebd., Bd. 1, S. 235 f.

274

VII. Kapitel: Die Naivität der Griechen

GM II 23 entwickelte Betrachtung („Thorheit, nicht Sünde!") basiert also auf Schmidts Arbeit. Auch in diesem Falle gibt es eine Vorstufe103 aus Frühjahr-Sommer 1883. Zu dem Motiv der .Thorheit', der göttlichen Umnebelung, die jedenfalls „schlechtes Gewissen" ausschließe, gesellt sich bei Nietzsche der Mythos einer ,freudigen' Religion, die sich auf Dankbarkeit gründe, nicht auf Furcht: Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: — es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben steht! — Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die Furcht auch in der Religion; und das Christenthum bereitete sich vor. 104

Das Thema der Dankbarkeit ist wiederum von Schmidt vorbereitet, der der Athener „inbrünstige Hingebung, mit welcher sie die eleusinische Feier [...] begingen" anspricht, ihre auch von Piaton (Leg. IV, 716 d) bezeugte Einstellung, im religiösen Kulte „nicht bloss die wichtigste Pflicht, sondern auch [den] beglückendste[n] Genuss des Menschen" zu sehen105. Unter Hinweis u. a. auf Aristoteles (Rhet. 1391 b 2), besonders aber auf die Votivepigramme der „Palatinischen Anthologie" befindet Schmidt, daß „ein Zug freudiger Dankbarkeit gegen die Spender der guten Gaben dem griechischen Volksgemüth tief eingeprägt war"106. Abschließend läßt sich sagen, daß Schmidts Werk Nietzsche wesentÜche Anregungen für seine Kritik der Ressentiment-Moral gegeben hat. Ganz sicher hatte Nietzsche dieses Werk stets gegenwärtig, nahm es ab Frühjahr 1883 wiederholt zur Hand, las es mit größter Aufmerksamkeit und inspirierte sich an der allgemeinen Betrachtungsweise ebenso wie an einzelnen Gedankengängen. Es ist behauptet worden, Nietzsche habe „mit einer Klarheit wie niemand vor ihm [...] erkannt, daß die Begriffe Schuld, Sünde, Reue, Gewissen und auch der Begriff des Willens bei den Griechen nicht oder nur schwach entwickelt sind."107 Dagegen ist gerade für diese Themen, die im Rahmen seines Spätwerkes eine so große Rolle spielen, die Aneignung und Verarbeitung von Schmidts Ansichten von der größten Bedeutung108.

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108

„Die Götter als Ursache des Bösen (Sünde und Leid) 1232 Woher kam denn das Schlechte bei ,den Guten'? Aus einer Verdunkelung der Einsicht — und diese häufig Werk der Götter." (7[161], Frühjahr-Sommer 1883; KSA 10, S. 295). JGB49. L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen, a.a.O., Bd. 2, S. 27 f. Ebd., Bd. 2, S. 39. v . Pöschl: „Nietzsche und die klassische Philologie", in: H. Flashar, K. Gründer, A. Horstmann (Hrsg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 150. Zu Nietzsches Werken der Jahre 1886-87 siehe die folgenden Arbeiten, die sich jedoch mit seiner Schmidt-Lektüre nicht befassen: G. Kimmerle: DieAporieder Wahrheit. Anmerkungen zu Nietzsches

Der Schlechte als Unglücklicher

275

In dem Fragment 37 [8] aus Juni-Juli 1885 wünscht sich Nietzsche „eine neuere Art von .freien Geistern' als die bisherigen" herbei, eine ideelle Bruderschaft all derer, die der Dekadenz widerstehen und die neue „Umkehrung der Werthe" vorbereiten, auch „alle[r] jene[r] Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt [...] fortgesetzt wird". Sehr wahrscheinlich hatte Nietzsche, als er dies schrieb, auch Schmidt im Sinne, den klassischen Philologen, dessen Darlegung den „antiken Menschen" wieder anschaulich gemacht hatte.

,Genealogie der Moral', Tübingen 1983; J. Minson: Genealogies o/Moral, London 1985; J. A. Bernstein: Nietzsche's Moral Philosophy, London u. Toronto 1987; D. S. Thatcher: „Zur Genealogie der Moral: some textual annotations", a.a.O.; P. ν. Tongeren: Die Moral von Nietzsches Moralkritik. Studien zu Jenseits von Gut und Böse', Bonn 1989. Die Beziehung Nietzsche-Schmidt wird hingegen ausführlich behandelt in dem vorzüglichen Beitrag von M. Brusotti (der zugleich mit der italienischen Version dieses Kapitels veröffentlicht wurde): „Die .Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne", a.a.O., S. 118 ff. u. 127 ff.

Vierter Teil Nietzsches Auseinandersetzung mit den „großen Worten" der Antisemiten

Vorbemerkung zum vierten Teil Theodor Fritsch, der Herausgeber der „Antisemitischen (Korrespondenz", sandte Nietzsche im März 1887 drei Nummern dieser Zeitschrift zu. Wenige Tage darauf schickte Nietzsche dieselben zurück, unter Beifügung eines geharnischten Briefes: Doch bitte ich darum, mich fürderhin nicht mehr mit diesen Zusendungen zu bedenken: ich fürchte zuletzt für meine Geduld. Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitreden wollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter Autoritäten', welche von jedem besonneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z.B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde — wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigste, ungerechteste?), diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe .germanisch',,semitisch', ,arisch',,christlich', .deutsch'—das alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen [...]. 1 Dieses Briefes gedenkt Nietzsche in einer Aufzeichnung: Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihm brieflich zum Danke einen ordentlichen Fußtritt versetzt.2 Fritschens Antwort auf den „ordentlichen Fußtritt" erfolgte in den Ausgaben von November und Dezember 1887 der „Antisemitischen (Korrespondenz" und bestand in einem schonungslosen Angriff auf Nietzsche als einen von „jüdischer Geistigkeit" infizierten Schriftsteller. Zum Beweise, wie sehr „Herr Nietzsche noch an die Narretei von der Assimilations- und Verbesserungs-Fähigkeit des Juden glaubt", druckte Fritsch die gegen „die antisemitischen Schreihälse" gerichteten Aphorismen 250 und 251 von „Jenseits von Gut und Böse" ungekürzt ab und kommentierte: Nietzsche gelangt [...] im Verlaufe seiner Betrachtungen zu einer Art Verherrlichung der Juden und zu einer schroffen Verurteilung des Antisemitismus. Das kann eigentlich nicht befremden [...]. Wer alle festen Grundzüge der Moral leugnet, wer die Grenzen zwischen sitdich und unsittlich, zwischen Lüge und Wahrheit verwischt — und das heißt es doch,

1 2

Brief an T. Fritsch vom 29. März 1887; KGB III/5, S. 51. 7[67] (Ende 1886-Frühjahr 1887); KSA 12, S. 321.

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Vorbemerkung zum vierten Teil

wenn man sich jenseits von Gut und Böse stellt—dem müssen allerdings die Juden mit ihrer ,freien Moral' so recht in den Wurf laufen, während wiederum die Juden ihrerseits sich keinen besseren Propheten wünschen können. 3

Diese Episode, besonders aber Nietzsches Brief vom 29. März 1887, gibt gleichsam den Grundton zum vierten Abschnitt der vorliegenden Arbeit an, denn die folgenden Kapitel befassen sich mit einigen Aspekten von Nietzsches Reflexionen über die großen Themen seiner Zeit, über Christentum und Judentum, deutsche Kulturtradition und ,Arier'. Wie die Antwort an Fritsch deutlich macht, widern die plumpen Vereinfachungen und „absurden Fälschungen" der Antisemiten Nietzsche an, der, wie hier gezeigt werden soll, trotz der gelegentlichen verzerrenden Einseitigkeit seiner Anschauungen zu den genannten Themen, doch von dem Vorsatze durchdrungen ist, seinem „historischen Instinkt" und „zweiten Gesicht" treu zu bleiben, ohne welche keine "Geschichte der Moral [zu] treiben" sei (GM II 4). So versucht er denn auch dort, wo er über Christentum und Judentum spricht, die Nichtigkeit der verbreiteten Allgemeinbegriffe und Denkschemata zu entlarven , und immer wieder geht er die nämlichen Fragen unter neuen Gesichtspunkten an, wobei er auch auf scheinbar nebensächliche Probleme und Details die größte Aufmerksamkeit verwendet, um stets der Vielschichtigkeit der Phänomene gerecht zu werden.

3

T. Frey (=T. Fritsch): „Der Antisemitismus im Spiegel eines .Zukunfts-Philosophen'", in: AntisemitischeCorrespondenz 19 (1887),S. 10f.;20 (1887), S. 12-15. Vgl. dazu A. Groos: „Nietzsche und die, Antisemitische Correspondenz'", in: Deutsche Rundschau 86 (I960), S.333-337;M.Montinari: Nietzsche lesen, Berlin u. New York 1882, S. 169 f.

VIII. Kapitel: Südländische Skepsis und ,heidnisches' Urchristentum 1. Die katholische Kirche und die antike Freisinnigkeit des Geistes In Luther und in der Reformation sieht Nietzsche, wie es im „Antichrist" heißt, „ein wüstes und pöbelhaftes Gegenstück zur Renaissance Italiens"1. Es wäre allerdings verfehlt, sich mit der Behauptung zufriedenzugeben, Luther sei für Nietzsche der „Vertreter der rückständigen Geisteshaltung" schlechthin, der eine „neu aufsteigende Kultur und ihr neues Lebensgefühl" 2 bekämpft habe. Etliche Stellen in der „Morgenröthe" und in der „Fröhlichen Wissenschaft" bringen ein ganz anderes Luther-Verständnis zum Ausdruck. Der „unmögliche Mönch" kommt dort immerhin als,Neuerer' vor, der die Loslösung der modernen Kultur von der antiken Skepsis vollendet und zudem Motive vorweggenommen habe, die erst später, mit Kant und mit der französischen Revolution, zur vollen Entfaltung kommen sollten. An den für diese Thematik wichtigsten Stellen der „Morgenröthe" und der „Fröhlichen Wissenschaft" 3 steht nicht das Verhältnis zwischen der deutschen Reformation und der italienischen Renaissance im Mittelpunkt, sondern ein anderes Problem: Nietzsches Interesse ist hier vor allem darauf gerichtet, die „antike Tugend", die von der katholischen Kirche in mancher Hinsicht noch vertreten werde, mit Luthers Reformation zu konfrontieren. Erst mit Luther und der Reformation, so lesen wir im Aphorismus 207 der „Morgenröthe", habe „eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit" die Oberhand gewonnen: „Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, — das ist deutsche Tugend." Im Laufe des 16. Jahrhunderts sei so der „Cultus der Deutschen" entstanden und jede Einfühlung in die antike Skepsis und „südländische Freiheit des Gefühls" unmöglich geworden. Mit dem .Plebejer' Luther sei für die Deutschen die Erbschaft der Antike definitiv verlorengegangen, Entfremdung und Unverständnis seien die Folge gewesen: „Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches ,es muss ein Wesen geben' — gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des .unbedingten Vertrauens' zu erwehren

ι 2

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15[23] (Frühjahr 1888); KSA 13, S. 419. E. Benz: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche, Leiden 1956, S. 75. Μ 207, F W 350 u. 358.

282

VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten." Diese Betrachtungen werden dann im Aphorismus 350 der „Fröhlichen Wissenschaft" weitergeführt. Im Mittelpunkt der Überlegung steht nun der Begriff „südländischer Argwohn", der durch den Vergleich mit den entgegengesetzen Charakterzügen der deutschen Reformation erklärt und präzisiert wird. Im Grunde sei der Protestantismus „ein Volksaufstand zu Gunsten der Biederen, Treuherzigen, Oberflächlichen (der Norden war immer gutmüthiger und flacher als der Süden)". Der Katholizismus drücke dagegen alles andere als den ,,gemeine[n] Instinkt des Volkes" aus. Er sei vielmehr eine Religion jener „böseren und argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über den Werth des Daseins, auch über den eignen Werth brüteten". Ein altes Vermächtnis — jener „südländische Argwohn", den Nietzsche an anderer Stelle auch als „noblesse des Gefühls" bezeichnet4 — mache das Wesen der katholischen Kirche aus: Die ganze römische Kirche ruht auf einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen, der vom Norden aus immer falsch verstanden wird: in welchem Argwohne der europäische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation gemacht hat.

Weitere Überlegungen zu diesem Fragenkomplex, die darauf hinauslaufen, eine Verbindung zwischen antiker („südländische Freiheit des Gefühls") und römischkatholischer Geisteshaltung („südländischer Verdacht") herzustellen, finden sich im Aphorismus 358 der „Fröhlichen Wissenschaft". Dort spricht sich Nietzsche wie folgt aus: Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, — er ruht auf einer ganz andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas .Vielfältiges', um vorsichtig zu reden [...].

Die Thematik wird hier unter einem neuen Gesichtspunkte angegangen, indem erstmalig die These formuliert wird, die skeptische und freisinnige Haltung, die Nietzsche nun unter dem Begriff „südländischer Verdacht" zusammenfaßt, beruhe auf Erfahrenheit in „allen kardinalen Fragen der Macht". In diesem Zusammenhang ist es wiederum Luther, an dessen Beispiel der Gedanke entwickelt wird: Dieser „Mann aus dem Volke, dem [...] aller Instinkt für Macht abgieng", habe „den Ausdruck einer siegreichen Kirche" nicht begriffen, die Kirche sei nur mehr unter einem vereinfachenden und folglich einseitigen Gesichtspunkt betrachtet worden:

«

25[70] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 27.

Die antike Freisinnigkeit des Geistes

283

man [...] sah nur Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet... 5

Mit den Umwälzungen des 16. Jahrhunderts löse sich also die europäische Geschichte weitgehend von ihrer eigenen Vergangenheit: „Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine Vergutmüthigung [...], that mit der Lutherischen Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts". In den darauffolgenden Jahrhunderten habe sich in der Wissenschaft („der ganzen naiven Treuherzigkeit und Biedermännerei in Dingen der Erkenntnis") wie in der Moral ein mächtiger „Plebejismus des Geistes " breitgemacht, der eigentlich nichts anderes als ein heftiger und fortlaufender „Bauernaufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, misstrauischeren Geist des Südens" sei. Der Siegeszug des „modernen" europäischen Geistes hänge wesentlich mit der Niederlage jenes skeptischen Sinnes zusammen, der sich in der griechisch-römischen Kultur (und noch zu Zeiten ihres Niederganges) behauptet und „in der christlichen Kirche sein grösstes Denkmal gebaut" (FW 358) habe. Im Aphorismus 46 von „Jenseits von Gut und Böse" betrachtet Nietzsche denselben Gegenstand aus einer anderen Perspektive. In Μ 207 wie auch im F W 350 und 358 geht es ihm vor allem darum, den inneren Zusammenhang zwischen christlicher bzw. katholischer Gesinnung und antiker Skepsis herauszustellen. Dagegen widmet er sich da jenen Zügen des Urchristentums, in denen eine Abkehr von dem imperium romanum und seiner „skeptischen und südlich-freigeisterischen Welt" beschlossen liege. Die neue Religion sei die Auflehnung des „orientalischen Sklaven", welcher nur „Unbedingtes, [...] das Tyrannische, auch in der Moral", verstehe und folglich „ an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz " Rache üben wolle. Es muß betont werden, daß Aphorismus J G B 46, der vor allem den scharfen Gegensatz zwischen dem Unterwerfungsverlangen des neuen Glaubens („Der Sklave nämlich will [...] das Tyrannische") und der Skepsis der antiken „aristokratischen Moral" herausarbeitet, schon auf den Gedanken hindeutet, der fast gleichzeitig im fünften Buch der „Fröhlichen Wissenschaft" (1887) mit F W 350 und 358 ausführlich entwickelt wird. Nietzsche betrachtet jetzt das Christentum wohl einerseits als die Manifestation eines „Sklaven-Aufstandes", als „religiösen Phönicismus", zugleich jedoch als ein komplexes Gebilde, welches verschiedenartige, präexistierende Elemente in sich aufgenommen habe. Sonst würde er in diesem Aphorismus J G B 46 nicht behaupten können: Das imperium romanum, in welchem „jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit um den Ernst des

In diesem Zusammenhang sind auch die Betrachtungen heranzuziehen, die Nietzsche in Μ 60 über die „Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geisdichkeit" anstellt, welche die Gelassenheit und die Zuversicht einer triumphierenden Macht („angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füsse") makellos verkörpern: „Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen [...]."

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

Glaubens" habe gedeihen können, sei schon in vorchristlicher Zeit mit einem „römischen .Katholicismus' des Glaubens" vertraut gewesen.

2. W. Leckys Betrachtungen über das Urchristentum Unter den Überlegungen, die Nietzsche in diesem Zusammenhang zu Papier brachte, ist die Nachlaßaufzeichnung 3 [ 104] des Frühjahres 1880 von besonderem Belang: 169. Was die Römer an den Juden haßten, das war nicht die Rasse, sondern eine von ihnen beargwöhnte Art des Aberglaubens und namentlich die Energie dieses Glaubens (die Römer, wie alle Südländer, waren im Glauben lässig und skeptisch, und nahmen nur die Gebräuche streng). Dasselbe ist ihnen an den Juden anstößig was ihnen an den Christen anstößig ist: der Mangel an Götterbildern, die sogenannte Geistigkeit ihrer Religion, eine Religion, die das Licht scheut, mit einem Gott, der sich nicht sehen lassen kann, dies erweckte Argwohn, noch mehr das, was man vom Osterlamm munkelte, vom Essen des Leibes, Trinken des Blutes und dergleichen. — In summa: die Menschen der Bildung damals meinten, Juden und Christen seien heimliche Kanibalen. Dann traute man ihnen zu, verrücktes Zeug ehrlich zu glauben, das jüdische und christliche Maaß im Glauben-können war den Römern verächtlich [...]. 6 Diese Aufzeichnung stellt den Ausgangspunkt für jene Überlegungen dar, die in den 1882-87 veröffentlichten Werken zum Thema der „südländischen Freiheit des Gefühls" angestellt werden. Sie beruht auf Gedanken, zu denen Nietzsche durch die Lektüre von Leckys „Sittengeschichte Europas" angeregt worden war, in welcher der „allgemeine Skepticismus" des römischen Kaisertums eingehend geschildert ist: Auch in Rom hatte sich zur Zeit der Republik und des Kaiserthumes als die erste Frucht der intellectuellen Entwickelung ein allgemeiner Skepticismus unter den Philosophen geltend gemacht, und die gebildeten Klassen wurden rasch entweder offene Atheisten, wie die Epikuräer, oder reine Theisten, wie die Stoiker und Platoniker [...]. Selbst Kinder und alte Weiber spotteten des Cerberus und der Furien, oder behandelten sie als blosse Versinnbildlichungen des Gewissens. Der Deismus Cicero's verabschiedete die Volksgötter, widerlegte und verspottete die Orakel, erklärte das ganze System der Weissagung für einen politischen Betrug, und führte den Ursprung der Wunder auf den Ueberschwang der Einbildung und auf gewisse Krankheiten der Urtheilskraft zurück. Vor der Zeit Constantin's waren viele Bücher gegen die Orakel geschrieben worden, welche grösstentheils thatsächlich verstummt waren [...]. 7

6

1

3[104] (Frühjahr 1880); KSA 9, S. 75 f. W. Ε. H. Lecky: Sittengeschichte Europas, a.a.O., Bd. 1, S. 146-149. Siehe auch S. 347: „Als Grundsatz galt, dass die Religion des eigenen Landes immer die beste sei; aber zu gleicher Zeit wurde den Religionen der besiegten Völker die weiteste Duldung gewährt. Die römische Armee ehrte die Tempel jedes Gottes. Bevor die Römer eine Stadt belagerten, pflegten sie deren Schutzgötter anzurufen." Leckys Buch gehört zu Nietzsches Bibliothek.

W. Leckys Betrachtungen über das Urchristentum

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Auch die Behauptung Nietzsches, daß die Römer „wie alle Südländer [...] lässig und skeptisch" in ihrem Glauben, zugleich aber streng und gewissenhaft in der Beachtung des Rituellen gewesen seien, geht auf Ausführungen Leckys zurück: Die Freiheit, zu einem fremden Gottesdienste sich zu bekennen und ihn auszuüben, entband jedoch den Römer nicht der Pflicht, auch die Opfer oder anderen religiösen Riten seines eigenen Landes zu vollziehen. In Rücksicht hierauf bekundete das Heidenthum allerdings einen religiösen Fanatismus. Eusebius sagt, die Römer sonderten die Religion in drei Theile, in die Mythologie oder Legenden der alten Dichter, in die Erklärungen oder Theorien, durch welche die Philosophen diese Legenden zu [...] deuten suchten, und in die rituellen oder vorgeschriebenen religiösen Bräuche. Auf dem Gebiete der zwei ersten war vollkommene Freiheit gestattet, aber das Ritual stand unter Aufsicht der Regierung und war zu einer Sache des Zwanges gemacht. Es geschah dies, weil [...] die Volksmasse fest glaubte, das Glück oder Missgeschick des Reiches hänge hauptsächlich von dem Eifer oder der Gleichgültigkeit ab, die man dem Cultus der nationalen Gottheiten zolle, und weil auch die Philosophen meistentheils die vorgeschriebenen Bräuche nicht bloss vollzogen, sondern auch vertheidigten.8 So war ζ. B. die Politik der römischen Herrscher gegen die religiösen Riten [...] sehr verschieden von, und, wie es auf den ersten Blick scheint, in geradem Gegensatze zu ihrem Verhalten gegen Meinungen [...]. Der Isis- und Serapisdienst fasste erst nach langem Kampfe und vielen Verfolgungen festen Fuss. Die arge Unsittlichkeit, welche er bisweilen begünstigte, sein zügelloser und niedriger Aberglaube, welcher dem ganzen Charakter des Lebens und der Ueberlieferung der Römer so völlig fremd war, und auch die Organisation seiner Priesterschaft machten ihn dem Staate besonders schädlich [...]. Diese strengen Massregeln gegen fremde Culte waren ausschliesslich Erzeugnisse der nationalen Politik oder der militärischen Disciplin.9 Auch am Ende des hier in Rede stehenden Fragments 3 [104] wirkt wohl, wo Nietzsche von „heimlichen Kanibalen" spricht, Leckys Darlegung nach, daß in den Anfängen der neuen Ära besondere Anklagen der gröbsten Art gegen die Moral der Christen [verbreitet waren]. Zu einer Zeit, wo der sittliche Standpunkt sehr niedrig war, beschuldigte man sie solcher grässlichen Thaten, die selbst bei den Verderbtesten Aergerniss erregen mussten. Man beschuldigte sie, dass sie bei ihren geheimen Versammlungen gewöhnlich die ausschweifendsten Orgien feierten, Menschenfleisch genössen, und nach Verlöschung der Lichter in Unzucht und Blutschande schwelgten [...]. Dunkele Gerüchte über die Abendmahlsfeier, zu der bloss getaufte Christen zugelassen wurden, und die der Priester weder den Katechumenen noch den Laien erklären durfte, waren allem Anschein nach die

8

9

Ebd., Bd. 1, S. 351 f. Siehe auch S. 354: „Die alte Unduldsamkeit der Republik war also in dem Kaiserreiche beinahe bis auf Nichts geschwunden [...]; es bleibt demnach zu untersuchen, welches die Ursachen des ausserordentlichen Fanatismus und Widerwillens waren, die sich gegen die Christen geltend machten." Ebd., Bd. 1, S. 349-351.

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

Veranlassung zur Beschuldigung des Kannibalismus, wahrend die Agapen oder Liebesmahle, die Ceremonie des Liebeskusses, und die eigentümliche, den Heiden vielleicht unverständliche Redensart, wonach die Christen sich für Einen Leib und Glieder in Christo erklärten, die anderen Beschuldigungen herbeigeführt haben mögen. 1 0

Nietzsches Aufzeichnungen zeigen deutlich, was ihn an Leckys Untersuchung anzog und interessierte: der Versuch, die Geschichte des Urchristentums gleichsam vom heidnischen Standpunkte her nachzudenken, was zuletzt auf eine positive Beurteilung der römischen „Skepsis" hinausläuft. So faßte Lecky die Christenverfolgung als eine vielleicht unvermeidliche Abwehrmaßnahme zugunsten der religiösen Toleranz auf. Es waren ja doch Christen, so Lecky, die einen wilden Strom von Spott- und Schmähreden über die Götter ergossen [...] und die Götterbilder verunstalteten [...]. Auch der skeptische Staatsmann war nicht geneigter, eine Religion mit Nachsicht zu betrachten, deren Entwickelung mit der ganzen Religionspolitik des Kaiserreiches offenbar unverträglich erschien. Wie die neue Kirche damals organisirt war, muss sie ihm wesentlich vom Grunde aus nothwendig unduldsam erschienen sein. Ihr den Sieg zu gestatten, wäre soviel gewesen als die Vernichtung der Religionsfreiheit in einem Reiche zulassen, das alle Hauptvölker der Erde umfasste und alle ihre Religionen duldete. 1 1

3. Die mehrdeutige Sprache des neuen Glaubens Einige Bedeutung kommt bei Lecky der These zu, ein Residuum der antiken Skepsis sei noch im Urchristentum wirksam, und zwar in der großen Klugheit, mit der die Kirchenväter bei der Anpassung des neuen Glaubens an die „besonderen Bedürfnisse der Zeit" vorgegangen seien. Nach Lecky ist es „überaus zweifelhaft, ob die Griechen und Römer bis zum Auftreten Jesu etwas von der Existenz böser Geister gewusst haben" 12 . Erst mit dem Einzug der jüdischen Religion und der „morgenländischen" Kulte habe sich in Rom der „Wahnwitz der Besessenheit und der Geisterbannung" verbreitet, und diese neue Tendenz sei von den Christen ausgenutzt worden: [Sie] erkannten vollständig an, dass die jüdischen und heidnischen Geisterbanner eine übernatürliche Kraft besässen, machten aber Anspruch darauf, ihnen in vielen Beziehungen überlegen zu sein. 13

Daß die neue Religion erfolgreich versucht habe, „das verfallene Heidentum zu reinigen und umzugestalten", zeige sich besonders deutlich in der Tatsache, daß

10 Ebd., Bd. 1, S. 360 f. 11 Ebd., Bd. l,S.367.SieheauchS.215: „Die römische Methode der Völkerversöhnung war vor Allem die weiteste Duldung der Gewohnheiten, der Religion und der bürgerlichen Freiheit der Besiegten, und dann ihre allmälige Zulassung zu den Rechten der Sieger." 12 Ebd., Bd. 1, S. 331. 13 Ebd., Bd. 1, S. 332.

Die mehrdeutige Sprache des neuen Glaubens

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„der Begriff und, nach dem dritten Jahrhundert, sogar der künstlerische Typus des Schutzgenius in dem Schutzengel wieder erscheint"14. Von besonderem Belang ist für Lecky auch das Folgende: Alle Kirchenväter, nicht Einen ausgenommen, vertheidigten die Wahrheit der heidnischen Wunder ebenso vollkommen, wie die der christlichen. Während [...] sehr viele Philosophen die Orakel verspotteten und verwarfen, gaben die Christen einstimmig deren Realität zu [... ]. Eine lange Reihe von Orakeln, welche im Einzelnen die Leiden Christi verkündigten, wurden angeführt. Die von den Christen geschmiedeten und von ihnen den heidnischen Sybillen zugeschriebenen Prophezeiungen wurden von der ganzen Kirche für acht angenommen, und man berief sich darauf als auf die stärksten Beweise für den Glauben [...]. Nach Augustinus nahm die erste Kirche den Fisch als ihr heiliges Symbol an, weil das griechische Wort für Fisch, welches die Anfangsbuchstaben des Namens und der Titel Christi enthält, auch die Anfangsbuchstaben einiger prophetischer Zeilen der Sybille von Erythra enthält.15 Die ersten christlichen Gemeinden haben es demzufolge verstanden, durch Rücksichtnahme auf heidnische Uberzeugungen und Erwartungen die Widersprüche einer dem Untergang unaufhaltsam entgegeneilenden Welt zu ihrem Vorteil zu nützen. Obwohl die Beweggründe weniger edler Art waren, wirke, so Lecky, in dem flexiblen und anpassungsfähigen Verhalten der Häupter der neuen Kirche die römische Schonung und Toleranz. Nur auf diese Weise habe es nämlich dem Christentum gelingen können, viele entschiedene Elemente der Kraft und Anziehung in sich [zu vereinigen]. Ungleich der jüdischen Religion war es durch keine localen Bande beschränkt und eignete sich gleichmässig für jedes Volk und für jede Klasse. Ungleich dem Stoicismus wendete es sich in der stärksten Weise an die Gefühle und bot den ganzen Reiz eines sympathischen Cultus [...]. Es verkündete inmitten einer ungeheueren Bewegung socialer und nationaler Auflösung die allgemeine Brüderlichkeit der Menschen [...]. Für den Sklaven, der nie zuvor einen so grossen Einfluss auf das religiöse Leben der Römer geübt hatte, war es die Religion der Leidenden und Unterdrückten. Für den Philosophen war es der Widerhall der höchsten Sittenlehren der späteren Stoiker und zugleich die Erweiterung der besten Lehre der platonischen Schule. Einer nach Wundern dürstenden Welt bot es eine Geschichte mit einer Fülle von Wundern [...]. Einer Welt, die sich der politischen Auflösung tief bewusst war und gespannt und angstvoll in die Zukunft blickte, verkündete es mit erschütternder Kraft den bevorstehenden Untergang der Erde — die Verherrlichung aller seiner Freunde und die Verdammung aller seiner Feinde. Einer Welt, die es übermüde war, die kalte, leidenschaftslose Grösse zu betrachten, welche Cato im Leben verwirklicht und Lucanus besungen hatte, bot es ein Ideal des Mideides und der Liebe.16 " Ebd., Bd. 1, S. 289. 15 Ebd., Bd. 1, S. 326-328. 16 Ebd., Bd. 1, S. 337 f. In dieser Darstellung geht es Lecky, nicht anders als Nietzsche an etlichen Stellen in seinen Schriften, vor allem um die Beschreibung des sozialen Milieus des neuen Glaubens. Siehe auch ebd., Bd. 2, S. 54: „Das Christenthum wies zum ersten Male den servilen Tugenden einen hervorragenden Platz in dem sittlichen Typus an. Demuth, Gehorsam, Sanftmuth, Geduld, Ergebung sind Haupt- oder Grundtugenden in dem christlichen Charakter [...]. Es giebt, nach

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

Leckys Ausführungen gaben Nietzsche bedeutende Anstöße zu den Reflexionen, die er in den frühen achtziger J a h r e n über das Urchristentum anstellte, und scheinen auch in den Aphorismus 7 2 der „ M o r g e n r ö t h e " eingeflossen zu sein, w o die Geschicklichkeit, ja Doppelbödigkeit der frühchristlichen Strategie gewürdigt wird: Das ,Nach-dem-Tode'. — Das Christenthum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Culte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht [... ] — das Christenthum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und that klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff in's volle Heidenthum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isisculte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, — die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! In diesem Aphorismus werden die heidnischen W u r z e l n des Urchristentums offengelegt. Zugleich wird anhand eines konkreten Falles nachgewiesen, wie es gerade jene an anderer Stelle als „vornehme Skepsis" und „südländische Freiheit des Gefühls" gedeutete H a l t u n g — d e r Gegensatz eines „unbedingten Vertrauens" —

gewesen sei, die die ersten Schritte des neuen Glaubens ganz wesentlich

bestimmt habe. In seiner Darlegung, wie die christliche Vorstellung der „Höllenstrafen" aus der Aneignung eines vorchristlichen Aberglaubens entstehe, folgt Nietzsche Lecky, der seinerseits darauf hingewiesen hatte, daß die F u r c h t vor „Höllenstrafen" schon in der griechisch-römischen Antike im Volk verbreitet gewesen sei: meinem Dafürhalten, kaum irgend einen anderen einzelnen Umstand, der einen so tiefen Einfluss auf die socialen und politischen Verhältnisse einer Religion übt, als der Klassentypus, mit dem sie sich am schnellsten verschmelzen kann, oder die Varietät von Tugenden, denen sie den ersten Platz anweist. Die der dienenden Klasse angemessensten Tugenden fanden im Alterthume nicht die geringste Beachtung und Pflege [...]. Unter dem Einflüsse des Christenthumes ging zum ersten Male eine grosse sittliche Bewegung durch die dienende Klasse, eine grosse Anzahl von Sklaven nahm den neuen Glauben an [...]." Zur Ausbreitung des Christentums siehe weiter das Fragment 4[251] aus dem Sommer 1880 (KSA 9, S. 162): „Das Christenthum siegte, wie ein starker Wein siegt; das Alterthum betrank sich, weil es sich [...] an große Aufregungen gewöhnt hatte." In seiner Sittengeschichte Europas (Bd. 1,S. 251 f. u. 256) verbreitet sich Lecky über das „durch das Amphitheater wachgerufene Verlangen nach Aufregung" in Gestalt der Gladiatorenspiele, die „für die Masse [...] einen Zauberreiz [besassen], den nur die neue Religion überwältigen konnte." Das Christenthum sei die Religion einer den Exzeß gewohnten Epoche: „Für Menschen, die an den Anblick der wilden Wechselfälle des Todeskampfes gewöhnt waren, war jedes Schauspiel, das nicht die stärkste Aufregung erweckte, fade." In Hinblick auf diese Ausführungen von Lecky siehe MA 141 („Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen"), Μ 58 („Das Christenthum und die Affekte") und Μ 71 („Die christliche Rache an Rom"). Im letztgenannten Aphorismus ist von der eschatologischen Erwartung der Christen die Rede („man rächte sich an [Rom], indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe dachte"). Wahrscheinlich lehnt sich Nietzsche hiermit an Overbecks Werk an {Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, in: Werke und Nachlaß, Bd. 1, Stuttgart u. Weimar 1994, S. 216), welches er damals wiederlas (siehe KGB III/l, S. 23), und in dem die „urchristliche Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi" und die „Weltflüchtigkeit des Urchristenthums" eingehend behandelt werden.

Die mehrdeutige Sprache des neuen Glaubens

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Die alten Philosophen hatten sehr von einander abweichende Meinungen und Urtheile über das zukünftige Schicksal der Seele, stimmten aber darin überein, dass sie den Tod einfach als eine natürliche Ruhe betrachteten, und die damit verbundenen Schrecken einer kranken Einbildung zuschrieben [...]. Was aber auf den Forscher, der sich von dem religiösen Schriftthume des Christenthumes zu den heidnischen Philosophieen wendet, den meisten Eindruck macht, ist, dass in letzteren auch nicht die geringste Spur einer Vorstellung von dem strafenden Charakter des Todes vorkommt [...]. Aber während die griechischen und römischen Philosophen über diesen Punkt vollkommen einig waren, machte sich im Volksgeiste eine starke entgegengesetzte Strömung geltend. Das griechische Wort für Aberglauben bedeutet buchstäblich .Furcht vor den Göttern oder den Dämonen' und die Philosophen schildern bisweilen das gemeine Volk als zitternd vor dem Gedanken des Todes aus Furcht vor gewissen unendlichen Leiden, zu denen er führen würde. Die griechische Mythologie enthält viele darauf bezügliche Sagen. Auf den alten griechischen Vasen findet man hin und wieder Scenen von Höllenqualen dargestellt, die denen der mittelalterlichen Fresken nicht unähnlich sind. Die Begeisterung, mit welcher man den Stoicismus als Befreier des menschlichen Geistes von der Knechtschaft des abergläubischen Schreckens aufnahm, zeigt, wie qualvoll das Joch gewesen sein muss. In dem Lehrgedichte des Lucretius, in gelegentlichen Stellen bei Cicero und anderen römischen Moralisten, vor Allem in Plutarch's Abhandlung ,Ueber den Aberglauben' können wir die Spuren des tiefen Eindruckes verfolgen, den diese Schrecken auf die Volksmasse, sogar während der letzten Zeit der Republik und während des Kaiserreiches gemacht hatten.17 Der Aphorismus 72 der „Morgenröthe" knüpft auch mit den Bemerkungen zum Triumph des Christentums über die morgenländischen Geheimreligionen und die damals weitverbreiteten Mithras- und Isiskulte an Lecky an, der unter den „Hauptursachen der Bekehrung" ein allgemeines Klima ausgemacht hatte, welches die Einführung neuer Religionen begünstigt habe: Diese Ursachen lagen in der allgemeinen Richtung der Zeit, in jener grossen, aus Skepsis und Leichtgläubigkeit gemischten Bewegung, in jener Verschmelzung oder Auflösung vieler Culte, in jener tiefen Umgestaltung der Gewohnheiten, Gefühle und Ideale, die ich [...] zu schildern versucht habe. Die damaligen Religionen und Philosophieen kämpften um die Herrschaft in jener mächtigen Hauptstadt, wo sie alle zahlreich vertreten waren [...]. Die Juden, obschon aus vielen Ursachen den Römern sehr verhasst [...], hatten doch durch die Kraft ihres Monotheismus, ihrer Mildthätigkeit und ihrer Geisterbannungen den mosaischen Glauben weithin verbreitet [...]. Die anderen morgenländischen Religionen hatten noch mehr Erfolg. Tausende zog der Mithradienst, und vor Allem, die Verehrung der ägyptischen Gottheiten an [...]. Die Mysterien der Bona Dea [Juvenal, Sat., VI., 314-335], der feierliche Isisdienst, die Bussübungen zur Seelenläuterung weckten eine fieberhafte Schwärmerei. Juvenal schildert, wie die Römerinnen, auf Vorschrift der Priester, mitten im Winter dreimal am frühen Morgen in dem mit Eis gehenden Tiberfluss untertauchten, und darauf das ganze Marsfeld, wo der Isistempel stand, vor Frost bebend, auf blutigen Knieen berutschten, oder nach Aegypten reisten, Nilwasser zu holen, wenn ihnen Isis im Traume befahl, damit in ihrem Tempel zu sprengen [Ibid., 520-530]. Apulejus hat ein anziehendes Bild von dem feierlichen

17

W. Ε. H. Lecky: Sittengeschichte

Europas, a.a.O., Bd. 1, S. 183-186.

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

Glänze der Isisprocessionen und dem Zauber entworfen, den sie auf die grössten Wüstlinge und Skeptiker ausübten [Metamorphoses, lib. Χ ] [...]. Die Tempel der Isis und des Serapis und die Bildsäulen des Mithra sind die letzten hervorragenden Werke der römischen Kunst. Dieselbe Leichtgläubigkeit offenbarte sich in allen ihren anderen Formen.18 Einen weiteren Aspekt der Thematik .Skepsis und Urchristentum' bringt Nietzsche im Aphorismus 131 der „Fröhlichen Wissenschaft" zur Sprache: Christenthum und Selbstmord. — Das Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheuere Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht: es Hess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstendeibung des Asketen waren erlaubt. Auch hierhin sieht Nietzsche eine Bestätigung dafür, daß das Christentum ein „lang und gründlich gebautes Werk", der „letzte Römerbau" ( F W 358) war. Wiederum ist Lecky sein Gewährsmann, der in seiner Studie darauf eingeht, wie die christlichen Theologen [...] in dogmatischer Weise behaupteten, dass ein Mensch, der sein eigenes Leben vernichtet, ein eben so grosses Verbrechen begehe, wie ein gewöhnlicher Mörder [...]. Zwei Arten von Selbstmord jedoch betrachtete die erste Kirche mit einer gewissen Nachsicht. Während des durch die Verfolgung erregten Wahnsinns und unter dem Einflüsse des Glaubens, der Märtyrertod verwische in einem Augenblicke die Sünden eines ganzen Lebens, und versetze den triumphirenden Dulder sofort in die Gefilde der himmlischen Freuden und in den unmittelbaren Genuss der ewigen Seligkeit, war es nicht ungewöhnlich, dass Männer in der Hitze der Begeisterung zu den heidnischen Richtern liefen und um den Märtyrertod baten oder ihn herausforderten, und einige Kirchenväter haben von ihnen mit hoher Bewunderung gesprochen, obgleich der allgemeine Ton der patristischen Schriften und der Concilien sie verdammte. Anders sah man die Sache an, wenn Christinnen zum Schutze ihrer, durch die schändlichen Verurtheilungen ihrer Verfolger [... ] bedroheten Unschuld, sich freiwillig den Tod gaben. Die fünfzehnjährige Jungfrau Pelagia wurde von der Kirche heilig gesprochen [...], weil sie, in Gefangenschaft von Soldaten gerathen, einen Augenblick zu benutzen wusste, um auf das Dach ihres Hauses zu steigen, von wo sie sich hinunterstürzte und so umkam. Eine gleiche Bewunderung zollt Eusebius dem Selbstmorde der tugendhaften Domina [...]. Höchst interessant ist nun zu sehen, wie die Ansicht der Kirche über diesen Selbstmord sich mit der Zeit änderte. Ambrosius tadelte ihn mit etwas Zurückhaltung, Hieronymus verdammte ihn nachdrücklicher; als aber der Einbruch Alarich's in Italien die Frage zu einer von drängendem Interesse machte, unterzog Augustinus den Gegenstand einer umständlichen Erörterung, und während er seine bemitleidende Bewunderung für den Selbstmord der Jungfrauen ausdrückte, verdammte er ihre That entschieden, und seine Ansicht über die unbedingte Sündhaftigkeit des Selbstmordes ist seitdem von den katholischen Theologen angenommen worden, welche behaupten, Pelagia und Domina hätten unter dem Antriebe einer besonderen Offenbarung gehandelt.19

is Ebd., Bd. 1, S. 336 f. 19 Ebd., Bd. 2, S. 35-37.

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Auch über die zweite für das Christentum .heilige' Form des Selbstmords berichtet Lecky umfassend: In auffallendem, obgleich natürlichem Widerspruche rühmte man zu gleicher Zeit Niemanden mit mehr Begeisterung, als die Einsiedler, welche ihren Körpern gewöhnlich die zur Gesundheit unumgänglich nöthige Nahrung entzogen und ihr Leben offenbar verkürzten. Eine interessante Beleuchtung des Gefühls, mit welchem diese langsamen Selbstmorde von der Laienwelt betrachtet wurden, hat uns der heilige Hieronymus in seinem Berichte über das Leben und den Tod einer junge Nonne, namens Blesilla aufbewahrt [...]. Der unmittelbare und überlegte Selbstmord, welcher eine so hervorragende Stelle in der Sittengeschichte des Alterthumes einnimmt, verschwand nur allmälig unter dem Einflüsse des Christenthumes. Die schwärmerischen Circumcellionen des vierten Jahrhunderts waren Apostel des Todes, sie hielten den Märtyrertod für das höchste Gut, suchten ihn auf alle mögliche Weise herauszufordern, und tödteten sich selbst in grossen Massen im Glauben, dass diese Art Märtyrerthum ihnen das ewige Heil sichern würde. 20

Durch diese Ausführungen sah sich Nietzsche in der Anschauung bekräftigt, daß das Wesentliche im Entstehungsprozeß des Christentums gerade in dessen Bereitschaft gelegen habe, bestimmte Elemente der antiken Geisteshaltung nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern. Diese Anpassungsfähigkeit an das Heidnische, wie sie sich in den Zugeständnissen hinsichtlich sowohl des Selbstmords als der Geheimkulte zeige, verdanke sich jenem „Argwohn", jener „südländischen Freisinnigkeit des Geistes". In Anlehnung an Lecky stellt Nietzsche 1881-82 diese These auf. Er führt damit einen Gedanken weiter, dem er schon 1879, im zweiten Band von „Menschliches, Allzumenschliches", Ausdruck gegeben hatte. Dort, in Aphorismus 97 der „Vermischten Meinungen und Sprüche", hatte er den Unterschied zwischen Protestantismus und römischer Kirche behandelt. Diese sei im Grunde ein Kompositum, ein vielschichtiges, unregelmäßiges Gebilde, jener dagegen eine einheitliche und geradlinige Konstruktion — und gerade deswegen um so unbeständiger. Die Expansionskraft des .südlichen' Glaubens beruhe auf seiner mehrdeutigen Sprache: In der „Symbolik und Formenlust der alten Kirche" und ihren überwältigenden Inszenierungen („Kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit") erscheine „im Christenthume das viel mächtigere religiöse Heidenthum", „während im Norden das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete". Auch in einem anderen Sinne sei der christliche Glaube, heißt es in Aphorismus 224 der „Vermischten Meinungen und Sprüche", „die Religion des altgewordenen Alterthums ".Er lasse sich als „Balsam" undLabsalfür „entartete alte Culturvölker" verstehen. Die „stille christliche Gemeinde", der Klang einer ,,müde[n] und doch wohltönende[n] Glocke" — die Symbole der neuen Religion seien der Nachhall

20 Ebd., Bd. 2, S. 37 f.

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

einer im Zerfall begriffenen Kultur, die ansonsten nur Rohheit und grelle Dissonanzen kenne, gleichzeitig seien in ihnen aber bedeutende Aspekte der antiken Gesittung verdichtet und der Nachwelt überliefert worden: „Wenn die meisten Menschen damals mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohlthat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das .bessere Leben' und dadurch so anspruchslos, so stillverachtend, so stolz-geduldig geworden! — Dies Christenthum als Abendläuten des guten Alterthums [...] ist selbst noch [...] ein Ohrenbalsam. Das Christenthum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike ,Welt' unsterblich zu machen." In diesen Sätzen ist erstmals eine These formuliert, die Nietzsche im Laufe der 80er Jahre wiederholt und unter verschiedenen Gesichtspunkten beschäftigen sollte.

4. Die Armen-Vereine in römischer Kaiserzeit Nietzsche untermauert seinen Diskurs über die heidnischen Elemente im Urchristentum, den er in „Menschliches, Allzumenschliches" begonnen und in der „Morgenröthe" und der „Fröhlichen Wissenschaft" im Anschluß an Lecky weiterentwickelt hatte, im Laufe der darauffolgenden Jahre durch weitere Argumente. Beachtung verdient eine Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1884: „Der Glaube an die Furchtbarkeit des ,Nach dem Tode* ist antik und die Grundlage des Christenthums. Die Armen-Vereine mit ihrer .Brüderliebe' die andere Grundlage. Das Verlangen nach Rache an allem, was Macht hatte, die dritte."21 Am Anfang dieser Notiz faßt Nietzsche wiederum die Darstellung Leckys zusammen, auf die er sich schon im Aphorismus 72 der „Morgenröthe" bezogen hatte. Dann führt er ein neues Motiv („Die Armen-Vereine") ein, das er aus einer anderen Untersuchung übernimmt, die er ebenfalls aufmerksam gelesen hatte. Diese zweite Quelle kann anhand einer in der ersten Hälfte des Jahres 1883 entstandenen Aufzeichnung ermittelt werden. Dort heißt es: „Ursprung des Christenthums unter Armen-Vereinen. Baumann p. 22 göttliche Hülfe und gegenseitige Unterstützung."22 Der Standpunkt, den Baumann an der von Nietzsche angeführten Textstelle vertritt, ist tatsächlich der von Lecky vorgetragenen Auffassung durchaus ähnlich. Baumann stellt wiederholt heraus, daß Gewöhnung und „Nachahmungstrieb" im faktischen Verlauf der Geschichte eine entscheidende Rolle spielen. Seine an Herbart und Lotze orientierte Grundanschauung erläutert er auch durch einen historischen Exkurs über die frühe Entwicklung des Christentums. Wie Lecky macht er auf die .vorchristliche' Grundlage des neuen Glaubens aufmerksam:

2! 25[388] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 113. 22 7[262] (Frühjahr-Sommer 1883); KSA 10, S. 321.

Die Annen-Vereine in römischer Kaiserzeit

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Diese Macht des Beispiels beruht auf Nachahmung, alles Lernen von aussen beruht in letzter Instanz auf dem Nachahmen eines zufällig oder absichtlich Vorgemachten [...]. Selbst das Christenthum ist im römischen Reich nicht anders eingedrungen als dadurch, dass sich Analoges zu ihm vorfand und es sich unwillkürlich an dies Analoge zuerst wendete. Vorhanden war 1) eine Tendenz zum Monotheismus; 2) ein Gefühl der Gleichheit aller Menschen von Natur, d. h. vor Gott, besonders durch die Stoiker; 3) gab es έρανοι, θίασοι, bei den Römern collegia ζ. Β. funeraticia, bestehend aus humiliores, tenuiores, Armen, Sklaven, auch Frauen; in diesen waren alle Mitglieder gleich, sie machten monatliche Beisteuern zum Zweck gegenseitiger Unterstützung und mit Verehrung eines besonderen Gottes. Vornehme und reiche Leute waren nicht ausgeschlossen, sie fanden sich wohl ein aus Menschenliebe und als Wohlthäter (evepydrai, φίλοτιμούμενοι) und patroni, patronae des Vereins. Diese Cult- und Liebesvereine waren die Rechtsform, unter welcher das Christenthum zunächst thatsächlich Duldung im römischen Reiche fand (Heinrici). Indem das Christenthum in diese Kreise trat und einer von ihnen wurde, trat es zugleich auf als eine universelle Proclamirung dessen, was jeder dieser Kreise für sich suchte, nämlich göttliche Hülfe und menschliche gegenseitige Unterstützung. Die Kirche war ein universeller Cult- und Unterstützungsverein inmitten der besonderen, sie fand in ihnen das bereite Material, welches sie sich aneignen konnte, und brachte ihnen zugleich etwas, was sie nicht hatten, die universelle Anschauung und Organisation und damit die Kraft, was blos halb geduldet wurde von der alten Gesellschaft als eine Hülfe gegen sociale Uebel, zu einer aufstrebenden Macht gegenüber der alten Gesellschaft zu erheben.25 Die Bedeutung, die Nietzsche diesen Darlegungen Baumanns beimißt, die er in der Nachlaßaufzeichnung 25 [388] des Jahres 1884 zu Recht mit Leckys Analysen in Verbindung bringt, ergibt sich aus der Tatsache, daß er sie in die Theorie der „Heerdenbildung" einfließen läßt, die er in der „Genealogie der Moral" entwirft: Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinirung einer kleinen Freude [...]. Das Glück der .kleinsten Überlegenheit', wie es alles Wohlthun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt dass sie gut berathen sind: Wenn man nach den Anfängen des Christenthums in der römischen Welt sucht, so findet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, Begräbniss-Vereine, aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewusstsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohlthuns gepflegt wurde, — vielleicht war dies damals etwas Neues, eine eigentliche Entdeckung? In einem dergestalt hervorgerufnen .Willen zur Gegenseitigkeit', zur Heerdenbildung, zur .Gemeinde', zum .Cönakel' muss nun wiederum jener damit, wenn auch im Kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen: die Heerdenbildung ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg.24 23 24

J. J. Baumann: Handbuch der Moral, a.a.O., S. 20-22. Zu Baumanns Auffassung der Nachahmung siehe auch M. Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis, a.a.O., Kap. 1, $ 1.7. 3. GM III 18. Zu der „kleinen Freude" siehe auch den Anfang von GM III 19. Baumanns Worte über „patroni, patronae des Vereins" scheinen in Nietzsches Fragment 10[18] (Herbst 1887; KSA 12, S. 568) nachzuklingen: „Wie auch die .Herren' Christen werden können [...]. Es liegt insgleichen in dem Instinkt der Herrschenden (seien es Einzelne, seien es Stände), die Tugenden, auf welche hin

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

5. J. Lippert zur Barbarisierung des

Christentums

Weitere Anregungen für seine Studien über die Entwicklung der christlichen Kirche empfing Nietzsche Mitte der 80er Jahre von dem Historiker und Religionswissenschaftler J. Lippert. Dieser, der seine Methode mit der eines Archäologen vergleicht, will mit seinen Beiträgen zur Geschichte des Christentums sichtbar machen, wieweit „anachronistischeCultacte" und „ unterdrückte Cultvorstellungen " sich „etwa als Baustücke der neuen Religion mitverwendet erweisen, wie ja oft Materialen eines werthloseren Baues in einen werthvolleren hineingebaut sind"25. Gegenstand des ersten Teils seines Werkes ist eben die Entstehungsgeschichte der christlichen Bewegung, und in diesem Zusammenhang die These, daß „auch das Christenthum die Säfte aus dem Boden nahm, auf dem es fortwuchs"26, ein Gesichtspunkt, der freilich, so Lipperts Ansicht, der zeitgenössischen Religionswissenschaft fremd sei: Man bildet sich gewöhnlich ein, mit dem Erscheinen des Christenthums seien sämmtliche .heidnische' Vorstellungen, soweit sie das Religiöse betrafen, negirt und durch diese Negation aufgehoben worden. An ihre Stelle sei dann lediglich der Glaube an einen Gott und seinen Logos [...] getreten. 27

Um die „gegenseitige Beeinflussung" von Christentum und heidnischen Vorstellungen der bekehrten Bevölkerungen deutlich zu machen, verfolgt Lippert das „etappenweise Vorrücken des christlichen Geisteslebens von Osten nach dem Westen" und kommt zu dem Schluß, „daß man die Rückwirkungen der aufgenommenen Völker auf das siegende Christenthum höher anzuschlagen hat, als

25 26

27

die Unterworfenen handlich und ergeben sind, zu patronisieren und auszuzeichnen (— Zustände und Affekte, die den eigenen so fremd wie möglich sein können)". J. Lippert: Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, a.a.O., S. 4. Ebd., S. 260. Siehe dazu auch die folgende Passage ausj. Lippert: DerSeelencult, a.a.O., S. 32: „Aber nicht immer hat sich in der Culturgeschichte [...] deutlich abstechend und erkennbar eine Schicht über die andere gelagert; im Ringen der Elemente sind vielmehr Conglomerate und Breccien, ja selbst chemische Verbindungen entstanden, die sich erst durch eingehende Analysen [...] in ihren Elementen werden bestimmen lassen." J. Lippert: Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, a.a.O., S. 238. Nach Lipperts Auffassung ist der Kern des Christentums ein .Überbleibsel': „Das christliche .Opfer' [...] ist an sich ein wirkliches, entsetzlich hohes und blutiges Opfer [...] — das uralte Opfer des Erstgeborenen [...]. Aber dieses eine, einmal wirklich und blutig gebrachte Opfer ist zugleich aller Opfer Lösung [...]. Für die Kunde von der milden Lehre Jesu, seinem Wandel und seinem Tode hatte die Welt in ihrer Noth [...] kein Ohr, aber in der von Paulus so glücklich erfassten Opfer- und Erlösungstheorie schössen alle schwebenden Vorstellungen wie zu einem Krystalle zusammen, dessen Glanz viele nach ihrem Heile ausschauende Augen traf." (J. Lippert: Die Religionen der europäischen Culturvölker, Berlin 1881, S. 483). Diese Interpretation der christlichen Grundlehre, die auch in Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 34 ff. u. 86 ff. ausführlich dargestellt wird, läßt sich nach Lippert (ebd., S. 57) schwer vermitteln, da „wir uns gewöhnt [haben], im Christenthume die Verfeinerung des Moralbegriffs als das Wesentlichste hervorzuheben."

J. Lippert zur Barbarisierung des Christentums

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bisher geschah"28. Entscheidend für die Herausbildung seiner These ist der interdisziplinäre Ansatz: Nur der Religionswissenschaftler, der sich intensiv „die Resultate vergleichender ethnologischer Forschung" zu eigen mache, sei nämlich in der Lage, „nachzuweisen, dass die im beginnenden Mittelalter sich entwickelnden Glaubensformen alle mittelbar in [...] vorchristlichen Vorstellungen ihren genetischen Grund haben"29. Überblicken wir nochmals Nietzsches Auffassung des Christentums als Bündelung ganz verschiedenartiger Elemente, dann liegt die Vermutung nahe, daß auch die um den Begriff der „gegenseitigen Beeinflussung" kreisenden Untersuchungen Lipperts seine Aufmerksamkeit erregt haben müssen. Tatsächlich schreibt Nietzsche seinem Freunde Overbeck im April 1886: „Gestatte mir ein Buch gerade Dir zu empfehlen, von dem man in Deutschland nichts wissen will, aber das viel von meiner Art, über Religion zu denken, und eine Menge suggestive Fakta enthält: Julius Lippert, Christenthum, Volksglaube, Volksbrauch (Hofmann in Berlin, 1882)"30. Die „suggestiven Facta", von denen Nietzsche in diesem Brief spricht, können aufgrund des fast gleichzeitigen Nachlaßfragments 1 [5] ermittelt werden. In dieser Aufzeichnung, auf die wir schon in Kapitel 5 aufmerksam gemacht haben, findet sich unter anderem die folgende Bemerkung: — die Barbarisirung des Christenthums durch die Germanen: die zwischengöttlichen Wesen, und die Vielheit der Siihn-Kulte, kurz der vorchristliche Standpunkt kommt wieder. Ebenso das Compositions-system. 31

Zweierlei ist an dieser Textstelle festzustellen: Erstens, daß Nietzsche zum ersten Male in seine Überlegungen den Begriff der „Barbarisirung des Christhenthums" einführt, der dann im „Antichrist" und in den entsprechenden nachgelassenen Fragmenten eine wichtige Rolle spielen wird; zweitens, daß es Lipperts Thesen sind, die Nietzsche hier stichwortartig fixiert. In dieser Aufzeichnung 1[5] ist zunächst von „zwischengöttlichen Wesen" die Rede. Hierbei bezieht sich Nietzsche auf Lipperts Erklärung, christliche Andachtsbilder seien ein heidnisches Überbleibsel: Jede Bilderverehrung sei dem Urchristentum fremd gewesen („Ein Bild von der Person Christi ist aus den ersten drei Jahrhunderten überhaupt nicht nachzuweisen" )32, und erst mit der Bekehrung der germanischen Völker komme es im Christentum nicht nur zu „einer förmlichen Bilderwuth", sondern auch zu einem Aufschwung des Märtyrerkultes: Mit dem Zeitalter Constantins [...] erstarkte [...] auch die Märtyrerverehrung zu einem volkstümlichen Culte [...]. Im Sinne der Kirche, auch der katholischen, darf von einem Cult

J. Lippert: Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, a.a.O., S. 294 f. 29 Ebd., S. 326. 30 KGBIII/3.S. 171. 31 1[5] (Herbst 1885-Frühjahr 1886); KSA 12, S. 12. 3 2 J. Lippert: Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, a.a.O., S. 276. 28

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VIII. Kapitel: Skepsis und „heidnisches" Urchristentum

der Märtyrer, Heiligen und Engel gar nicht gesprochen werden; in ganzen Volksschichten bestand nicht nur dieser Cult, sondern er bildete auch den wesentlichsten Inhalt des Christenthums im Bewusstsein derselben. Der Eintritt von Slaven und Germanen bewirkte noch insbesondere die Ausbildung des Christenthums nach dieser Seite hin [...]. Waren ja ζ. B. dem Germanen seine Hausgottheiten dennoch .Götter', obwohl er sich ihres irdischen Ausganges und der Beschränkung ihrer Machtsphäre sehr bewusst war. Diesen gegenüber waren schon die in ganzen Provinzen verehrten Geister der Heiligen göttliche Wesen von sogar höherem Range [...]. Ewigkeit, Allmacht, überhaupt Absolutheit gehörten nicht in den Gottesbegriff der Germanen.33 Sodann verweist Nietzsche in 1 [5] auf die „Vielheit der Sühn-Kulte". Bei Lippert heißt es, daß Augustinus, dessen Lehre gerade in der germanischen Welt starke Resonanz finden sollte, das Christenthum wieder streng auf die Basis des Urmysteriums stellte [...]. Er [...] gab ihm wieder den ihm von Paulus verliehenen Inhalt [...]. So ist das Christenthum wieder dem innersten Wesen nach der absolut erlösende Sühnkult geworden, und wie einst die von Dämonenfurcht und Heilsucht erfüllten Griechen hastig und verständnissvoll nach dieser Form des Mysteriums griffen, so stand es auch jetzt wieder in dieser Form dem Verständnisse der germanischen Welt näher, wenn diese auch den Begriff der Lösung noch nicht kannte und in Folge dessen noch lange den grössten Werth viel mehr in die Einzelcultacte setzte, als in den einen grossen Sühnact, für den sie keine Analogie in dem Selbsterlebten hatte, wie Juden und Griechen. Aber gerade um das, was diesem Bedürfnisse entgegenkam, war das Mysterium Augustins reicher geworden als das des Paulus. Für Paulus war noch das ganze Christenthum Ein Sakrament, sein Inhalt die Tatsache der Verbindung der Gläubigen mit Christo selbst,—in Augustins Lehre ist das Eine Sakrament schon in eine Anzahl mannigfaltig ausgestalteter sakramentaler Handlungen zerfallen [...], und aus dem Einen Culte [...] ist wieder ein Todten- und Geistercult herausgetreten.3,1 Mit dem Hinweis auf das „Compositions-system" bezieht sich Nietzsche in 1[5] auf jenen Abschnitt bei Lippert, wo dargelegt wird, wie der ursprüngliche Bußbegriff des Christentums „durch germanischen Einfluss" eine radikale Umgestaltung erfahren habe:

33

Ebd., S. 282 f. Siehe auch S. 292 f.: „Die Vorstellung der Engel ist im Christenthum älter, als die der Heiligen, dennoch hat sie, wie sie aus dem Judenthum culdos übernommen war, keinen Cult geschaffen, weil in dieser Art der Uebernahme der Ausgang alles Cultes, das Todesmoment, fehlte. Erst als von diesem aus der Märtyrercult geschaffen war, sprang die Analogie von Heiligen und Engeln so in die Augen, dass sich nun erst die Cultform auch auf diese übertrug. Augustinus hielt dies jedoch noch für unstatthaft. Gleichwohl befürwortete sie gleichzeitig Ambrosius und sie fand immer allgemeinere Verbreitung, zweifellos nicht zum geringsten durch das eindringende Germanenthum, welches insbesondere in der Vorstellung des streitbaren Gotteshelden Michael, als .grossen Fürsten', wie ihn das Buch Daniel (12, 1) zum Vorkämpfer des Volkes macht, einen adäquaten Ausdruck für seinen eigenen Gottesbegriff fand." Ebd., S. 308.

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Die älteren Bussformen sind im Wesentlichen gar nichts anderes als die Darstellung der Tatsache des Ausgeschlossenseins aus der Kirche — hier liegt auch nach urchristlicher Auffassung der Strafbegriff [...]. Die .Consistentes' sahen ihre Strafe in dem Ausschlüsse von der Communion, [...] die .Audientes' verlassen wie Heiden und Katechumenen schon nach der Predigt die Kirche, und die .Flentes* endlich stehen überhaupt vor derselben und dürfen sie nicht betreten. Immer also ist die Strafe nur die Ausschliessung und die äussere Form die Markirung derselben [...]. Nicht Züchtigungen setzten sich die Verstossenen aus, sondern die segnenden Hände der Aeltesten und die Fürbitten der Gemeinde ruhten auf ihnen während der Busszeit.3' Als bei den Germanen die „compositio" — die „Abfindung durch Entschädigung" und genau berechnete „Ersatzleistungen" — an die Stelle der Blutrache trete, rufe das Auftreten dieses neuen „germanischen Volkselementes" auch eine völlige Umgestaltung des Bußwesens hervor. Dem „germanischen Compositionsstandpunkt" gemäß empfange nun der Priester den Betrag (dona) und verspricht durch irgend eine Vermittelung (pactione quadam) Nachlass. [...] Wir stehen hier vor einem urgermanischen Rechtshandel, in dem die Kirche die .compositio' vermittelt. Die Busse ist eine Zahlung oder im weiteren Sinne eine Leistung. Die Indulgenz besteht darin, dass diese Leistung die Strafe der Rache aufhebt, und das zu vermitteln übernimmt die Kirche. An die Stelle des Bluträchers tritt Gott selbst. Wie jener kann er die .Compositio' annehmen oder ablehnen; dass er sie annehme, bewirkt die über die Gnade verfügende Kirche. Hier haben wir also in den unverhülltesten Formen den ganzen, später als superstitiös verworfenen, höchst äusserlichen Bussbegriff der mittelalterlichen Kirche.36 Nachdem „das Busssystem der Germanen in die kirchliche Ordnung aufgenommen" worden war, verbreitete sich auch die Praxis der „Geisseibusse" — eine Form von, compositio', dank welcher „ auch dem Ärmsten möglich [wurde], etwas zu bieten"37. Die Lektüre dieser umfangreichen Schrift von Julius Lippert, die wenigstens auszugsweise im Winter 1885-86 erfolgte, führte Nietzsche dazu, sich mit der Thematik „Barbarisirung des Christenthums" zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung ist insbesondere in bezug auf manche spätere Überlegungen von Bedeutung, denn der Komplex der mit der „Barbarisirung des Christenthums" verbundenen Probleme wurde für Nietzsche 1887-88, als er sich mit Tolstoi und Renan befaßte, relevant.

35 Ebd., S. 335 f. 3* Ebd., S. 340 f. 37 Ebd., S. 344. Auch das von Nietzsche in der Aufzeichnung 2[131] angedeutete Thema („Der deutsche Versuch, Chr in eine Gnosis umzuwandeln") wird von Lippert behandelt (Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, a.a.O., S. 298 ff. u. 370 ff.).

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6. E. Kenan: petites communautes, confreries, tied.es atmospheres, bonbeur Das in der „Genealogie der Moral" entwickelte Thema des „Willens zum Cönakel" und der „kleinen Freude" fußt zum einen, wie schon gezeigt, auf einer Darstellung Baumanns. Zum anderen aber beruht es auf Anregungen, die Nietzsche aus dem Werk eines weiteren Autors empfing. Im Februar 1887 schreibt er an Overbeck: „Diesen Winter habe ich auch Renans Origines gelesen, mit viel Bosheit und — wenig Nutzen. Diese ganze Geschichte kleinasiatischer Zustände und sentiments scheint mir auf eine komische Weise in der Luft zu schweben."38 An dieser Stelle verschweigt Nietzsche dem Freunde jedoch, daß er der Untersuchung Renans wichtige Anstöße zum Thema des „Sklavenaufstandes in der Moral" und der „reaktiven Affekte" verdankt. In etlichen Passagen der „Genealogie" sind nämlich deutliche Anklänge an Renans Ausführungen über die erste Verbreitung der christlichen Glaubenslehre im Römischen Reich vernehmbar. Ziehen wir diese nun zu einem genaueren Einblick heran. Der für die Auflösung der antiken Welt und die Niederlage der „vornehmen Moral" weitgehend verantwortliche „Wille zum Cönakel" sei, so Nietzsche in den Abschnitten 18 und 19 der dritten Abhandlung der „Genealogie der Moral", von .asketischen Priestern' gefördert worden, denen bewußt gewesen sei, in welchem Maße „die kleine Freude [...] der Nächstenliebe, die Heerden-Organisation, die Erweckung des Gemeinde-Machtgefühls" unersetzliche Stimulantia seien, die in der Auflehnung des „gemeinen Menschen" gegen die „Herren-Rasse" entscheidend sein mochten. Das „Neue Testament", so heißt es dann im Abschnitt 22 derselben dritten Abhandlung, sei von „lauter kleine[r] Sekten-Wirthschaft [...],lauter ConventikelLuft" erfüllt — eine Stimmung, mit der „alle diese kleinen Leute der Provinz" vertraut seien, die das Wort ergreifen und zur Macht kommen wollen. Diese letzte Formulierung („alle diese kleinen Leute der Provinz") ist nun in Verbindung mit einer wichtigen Gruppe von Aufzeichnungen aus dem Herbst 1887 zu sehen, in denen es Nietzsche um die „Kleine-Leute-Moralität"39 und „die verdorbene Luft des Winkels und des Conventikels"40 zu tun ist. Die Nachlaßaufzeichnung 10[92] macht deutlich, daß die „kleinen Leute" die „in der Diaspora lebenden Juden" sind: Das christliche Leben, wie es als Ideal dem Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das jüdische Leben, nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus dem Verkehrtesten und Geliebtesten heraus — dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben. Dies ist

« Brief von F. Nietzsche an F. Overbeck vom 23. Februar 1887; KGB III/5, S. 28. >9 Der Ausdruck erscheint in der Aufzeichnung 10[191] (Herbst 1887); KSA 12, S. 571. 40 10[183] (Herbst 1887); KSA 12, S. 565.

Ε. Renan: confreries, tiedes atmospheres, bonheur

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die That des Paulus: er erkannte die Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall.41 Im Judentum nämlich habe Paulus vor Augen gehabt, wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen. Ein Glaube an ein absolutes Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede Erbärmlichkeit und Entbehrung adelt—nämlich als Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen denen sie leben — und alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und Dienstbarkeit gegen einander, vor Allem jenes Stillehalten der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen... Für die in kleinen jüdischen Gemeinden der Diaspora Lebenden habe, so Nietzsche in dieser Aufzeichnung, im „Glück der Auserwählten" und in der „Tugend der kleinen Congregation" Zuflucht und Trost gelegen; durch die Ostentation von Sanftmut und Zufriedenheit („alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende") seien sie mit der Isolation fertig geworden. In diesen Reflexionen finden sich deutliche Bezugnahmen auf Betrachtungen, die Renan im zweiten Band seiner von Nietzsche im Winter 1886-87 gelesenen „Histoire des origines du Christianisme" anstellt. In einem zentralen Kapitel dieses Werkes („Marche generale des missions chretiennes") vertritt Renan die Auffassung, daß „la conquete de l'Occident par l'Orient" auf dem Wege der Festigung und der allmählichen Steigerung des Ansehens der „petites communautes" und „confreries" von Syrern und Juden „disperses dans tout l'empire romain" stattgefunden habe: La predication chretienne semble suivre un sillage anterieur, qui n'est autre que celui de Immigration juive [...]. Une synagogue preceda, en general, l'etablissement de l'figlise [...]. Depuis cent cinquante ans, en effet, le juda'isme, jusque-lä borne a l'Orient et ä l'figypte, avait pris son vol vers l'Occident. Cyrene, Chypre, l'Asie Mineure, certaines villes de Macedoine et de Grece, l'Italie, avaient des juiveries importantes. Le juifs donnaient le premier exemple de ce genre de patriotisme que les Parsis, les Armeniens et, jusqu'ä un certain point, les Grecs modernes devaient montrer plus tard; patriotisme extremement energique, quoique non attache a un sol determine; patriotisme de marchands repandus partout, se reconnaissant partout pour freres; patriotisme aboutissant ä former non de grands fitats compactes, mais de petites communautes autonomes au sein des autres fit at s. Fortement associes entre eux, ces juifs de la dispersion constituaient dans les villes des congregations presque independantes, ayant leurs magistrate, leurs conseils [...]. Iis habitaient des quartiere ä part, soustraits ä la juridiction ordinaire, fort meprises du reste du monde, mais oü regnait le bonheur. On y etait plutot pauvre que riche. Le temps des grandes fortunes juives n'etait pas encore venu [...].

41

10[92] (Herbst 1887); KSA 12, S. 508 f.

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Or, quand le juif n'est pas riche, il est pauvre; l'aisance bourgeoise n'est pas son fait. En tout cas, il sait tres-bien supporter la pauvrete.42 Dieser „bonheur" der kleinen Gemeinden der jüdischen Diaspora wird von Renan mit allem Nachdruck hervorgehoben: Le propre de la vie juive pieusement pratiquee a toujours ete de produire beaucoup de gaiete et de cordialite. On s'aimait dans ce petit monde; on y aimait un passe et le meme passe; les ceremonies religieuses embrassaient fort doucement la vie.43 Wahrscheinlich sind es Renans Begriffe „gaiete" und „cordialite", an die Nietzsche anknüpft, wenn er, in einer anderen Aufzeichnung derselben Zeit, von „Wärme" und „Zärtlichkeit" der in der Diaspora lebenden Juden spricht: Die Realität, auf der das Christen thum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora, mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen für einander, mit ihrem verborgenen und in Demuth verkleideten Stolz der ,Auserwählten', mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid, zu allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seel Zustand als mittheilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben—ist das Genie des Paulus [...]. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten (,Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten Art Mensch') Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Princip der Liebe her: es ist eine leidenschafdichere Seele, die hier unter der Asche von Demuth und Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch noch indisch noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist.44 Ein besonderes Gewicht kommt in diesem Fragment 10[181] dem Zusammenhang von der „Bereitschaft zum Helfen" und dem „verborgenen Stolz" zu. Auch dieser Passus ist mit einer Textstelle Renans in Parallele zu setzen, worin gezeigt wird, wie es eben die eigentümliche Verknüpfung von „charite" und „fiere pauvrete"

42 4}

44

E. Renan: Us apotres, Paris 1866, S. 284-286. Ebd., S. 286 f. Zu Nietzsches Äußerungen über den „zweideutigen Herrn Renan", „diese[n] Hanswurst in psychologicis", vgl. 11 [408] (November 1887-März 1888), KSA13, S. 188; GM III 26; AC 1 7 , 2 9 , 3 1 u. 32. 10[181] (Herbst 1877); KSA 12, S. 564 . In dem gegen Mitte Februar 1888 erstellten Register zum Willen zur Macht heißt es weiter: „(212) das jüdische Leben als Hintergrund der .ersten Christengemeinden' [...] (276) die Selbstvergötterung der kleinen Leute [...] (278) die Realität hinter den christlichen Gemeinden:> die kleine jüdische Familie [...]" (12[1], Anfang 1888; KSA 13, S. 204207). Zu der „jüdischen Familie der Diaspora" vgl. auch 22[2] (Septemper-Oktober 1888);KSA 13, S. 584.

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gewesen sei, die beträchtlich zur Verbreitung des jüdischen Glaubens in Rom beigetragen habe: Celles qui etaient converties vantaient [...] le bonheur dont elles jouissaient. Le vieil esprit hellenique et romain resistait energiquement; le mepris et la haine pour les juifs sont le signe de tous les esprits cultives [...]. Au contraire, cette masse enorme de populations melees que PEmpire avait assujetties, populations auxquelles l'ancien esprit romain et la sagesse hellenique etaient etrangeres ou indifferentes, accouraient en foule vers une societe oü elles trouvaient des exemples touchants de concorde, de charite, de secours mutuels, d'attachement ä son etat, de goüt pour le travail, de fiere pauvrete.45 An der Art und Weise des Zusammenlebens der kleinen jüdischen Gemeinde der Diaspora werde deutlich, daß, wie im Fragment 10[181] verallgemeinernd notiert wird, „das elendste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung" . Auch zu dieser Schlußfolgerung wird Nietzsche, wie es scheint, von Renan angeregt, welcher in seiner Schilderung dem „froid glacial" des römischen Staates die „tiedes atmospheres de synagogue et d'eglise" gegenüberstellt: L'exemption de certaines charges civiles, en particulier de la milice, pouvait aussi contribuer ä faire regarder le sort des juifs comme enviable. L'ßtat alors demandait beaucoup de sacrifices et donnait peu de joies morales. II y faisait un froid glacial, comme en une plaine uniforme et sans abri. La vie, si triste au sein du paganisme, reprenait son charme et son prix dans ces tiedes atmospheres de synagogue et d'eglise. Ce n'etait pas la liberte qu'on y trouvait. Les confreres s'espionnaient beaucoup, se tracassaient sans cesse les uns les autres. Mais, quoiquela vie interieure de ces petites communautes fut fort agitee, on s'y plaisait infiniment; on ne les quittait pas; il n'y avait pas d'apostat. Le pauvre y etait content, regardait la richesse sans envie, avec la tranquillite d'une bonne conscience. Le sentiment vraiment democratique de la folie des mondains, de la vanite des richesses et des grandeurs profanes, s'y exprimait finement. On y comprenait peu le monde pai'en , et on le jugeait avec une severite outree; la civilisation romaine paraissait un amas d'impuretes et de vices odieux, de la meme maniere qu'un honnete ouvrier de nos jours, imbu des declamations socialistes, se represente les ,aristocrates' sous les couleurs les plus noires. Mais il y avait lä de la vie, de la gaiete, de l'interet

45

E. Renan, Les apotres, a.a.O., S. 292 f. Über die kleinen heidnischen und christlichen Freundeskreise, die in Rom blühten, schreibt Renan weiter (S. 357 -360): „Au risque de mille tracasseries, quelquefois des peines les plus severes, on voulait etre membre d'un de ces collegia, oü l'on vivait dans les liens d'une agreable confraternite, ou l'on trouvait des secours mutuels, oü l'on contractait des liens qui duraient apres la mort. Le lieu de reunion, ou schola collegii, avait d'ordinaire un [...] triclinium pour les repas. Les repas, en effet, etaient impatiemment attendus; ils avaient lieu aux fetes patronales ou aux anniversaires de certains confreres, qui avaient fait des fondations. Chacun y apportait sa sportule; un des confreres, ä tour de role, fournissait les accessoires du dlner, savoir leslits, la vaisselle de table, le pain, le vin, les sardines, l'eau chaude. L'esclave qui venait d'etre affranchi devait ä ses camarades une amphore debon vin. Une joie douce animait le festin; il etait expressement regle qu'on n'y devait traiter d'aucune affaire relative au college, afin querienne troublät le quart d'heure de joie et de repos que ces pauvres gens se menageaient. Tout acte de turbolence et toute parole desagreable etaient punis d'une amende [...]. Voilä pourquoi le christianisme se presenta longtemps ä Rome comme une Sorte de collegium funebre [...]."

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[...]. Le manque d'elegance et de delicatesse dans les habitudes etait compense par un precieux esprit de famille et de bonhomie patriarcale. Dans la grande societe, au contraire, l'egoi'sme et l'isolement des ämes avaient porte leurs derniers fruits. La parole de Zacharie se verifiait: le monde se prenait aux pans de l'habit des Juifs et leur disait: ,Menez-nous ä Jerusalem' [...]. La presence ä Rome et ρ res de l'empereur de plusieurs membres de la famille des A r o d e s , lesquels pratiquaient leur culte avec eclat ä la face de tous, contribuait beaucoup ä cette publicite. Le sabbat, du reste, s'imposait par une sorte de necessite dans les quartiers oü il y avait des juifs. Leur obstination absolue ä ne pas ouvrir leurs boutiques ce jour-lä forfait bien les voisins a modifier leurs habitudes en consequence.46

Bezüglich dieser Darstellung Renans ist zweierlei hervorzuheben. Erstens, daß eine hier vorkommende Formulierung („Le pauvre [...] regardait la richesse sans envie") von Nietzsche in seiner Aufzeichnung 10[181] paraphrasiert wird („mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid"). Zweitens, daß diese Beschreibung, in welcher nicht nur von „tiedes atmospheres", sondern auch von „gaiete" und von „sabbat" die Rede ist, höchstwahrscheinlich auch in der „Genealogie der Moral" nachklingt, und zwar an der Stelle, wo Nietzsche, wenige Monate nach seiner Renan-Lektüre, von „dem .Glück' auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden" handelt, „bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden,,Sabbat', Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken [...] auftritt" (GM 110). Zusammenfassend läßt sich folgendes sagen: Renan geht es in seinen Studien über die Entstehung des Christentums um den Nachweis der These, daß unter den Faktoren, die in den Zerfallsprozeß der griechisch-römischen Kultur hineinspielen, der Einwanderung von orientalischen „petites communautes" eine äußerst wichtige Rolle beizumessen sei. Dementsprechend gilt seine Aufmerksamkeit dem „bon Syrien", der sich durch seine „humilite, [...] douceur, [...] affabilite, une certaine bonte" ausgezeichnet habe, und dem Juden der Diaspora („des habits luisants de salete, un air gauche, une mine fatiguee, un teint pale, de gros yeux malades, une expression beate")47 — als Menschentypen, die sich haben durchsetzen können, weil sie neue und anziehende Formen des Zusammenlebens bezeugten: „[...] cette impression de moisissure humide, ce murmure de prieres, [...] une atmosphere molle et chaude, [...] qui doit etre bien douce pour l'affilie." 48 « 47

48

Ebd., S. 293-295. Ebd., S. 290. Siehe auch E. Renan, Marc-Aurele et la fin du monde antique, Paris 1882, S. 570: „II est si doux de s'envisager comme une petite aristocratie de la verite [...]. L'orgueil y trouve sa part; le juif, le metuali de Syrie, humilies, honnis de tous, sont au fond impertinents, dedaigneux; aucun affront ne les atteint; ils sont si fiers entre eux d'etre le peuple d'elite!" E. Renan, Les apotres, a.a.O., S. 361. Siehe auch A C 2 1 : „Im Christenthume kommen die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter in den Vordergrund: es sind die niedersten Stände, die in ihm ihr Heil suchen [...]. Hier fehlt auch die Öffentlichkeit; der Versteck, der dunkle Raum ist christlich". Vgl. dazu, was Renan im letzten Buch seiner Histoire schreibt (Marc-Aurele, a.a.O., S. 590): „Les petites societes tuerent la grande societe. La vie antique, vie tout exterieure et virile, vie de gloire, d'heroi'sme, de civisme, vie de forum, de theatre, de gymnase, est vaincue par la vie juive, vie antimilitaire, amie de l'ombre, vie de gens pales, claquemures."

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Der Studie Renans, in der von „petites enceintes", „confreries" und „sectes peu nombreuses" die Rede ist, liegt ein bestimmtes theoretisches Moment zugrunde, das sich am besten in Renans eigenen Worten zusammenfassen läßt: „Nos grandes societes abstraites ne sont pas süffisantes pour repondre a tous les instincts de sociabilite qui sont dans l'homme."49 Unzweifelhaft ist, daß auch Nietzsche um 1887 sein Augenmerk auf die „instincts de sociabilite" und die verschiedenen Arten ihrer Befriedigung, die „Heerden-Tugenden" und die „Conventikel"-Luft, richtete. In dieser Hinsicht war für ihn die Auseinandersetzung mit dem zweiten Band der „Histoire des origines du Christianisme" sehr wichtig, die ihn dazu bringt, über die „Erfahrung [...] der Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft" 50 nachzusinnen. Dem französischen Schriftsteller verdankt er das Bild, das er sich von jener „Art Tahiti und Inselglück, wie es das Leben der kleinen Juden in der Provinz war"51, macht. Wenn man bedenkt, daß Nietzsche die „Histoire" im Winter 1886-87 liest und sich im Herbst 1887 dazu Notizen macht, so liegt die Annahme nahe, daß die Betrachtungen der „Genealogie der Moral" über die „Lust" der „Armen" und „Ohnmächtigen" an ihren Formen des Zusammenseins direkt durch Renan inspiriert seien: „Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer HeerdenOrganisation": Denn sie „streben [...] naturnothwendig [...] zu einander" und „ordnen sich zusammen, mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung" (GM III 18). An Renan ist auch zu denken, wenn man liest, was Nietzsche damals über die „Selbstverherrlichung der Gemeinde" schreibt: „Es liegt in dem Instinkt einer Gemeinschaft (Stamm, Geschlecht, Heerde, Gemeinde), die Zustände und Begehrungen, denen sie ihre Erhaltung verdankt, als an sich werthvoll zu empfinden, z.B. Gehorsam, Gegenseitigkeit, Rücksicht, Mäßigkeit, Mideid,—somit Alles, was denselben im Wege steht oder widerspricht, herabzudrücken".52 7. Latentes Christentum

Die Auseinandersetzung mit Renan bedeutet für Nietzsche nicht, seine Konzeption des ursprünglichen Christentums revidieren zu müssen. Ganz im Gegenteil: Die Lektüre der „Histoire" bestärkt ihn in seiner Grundauffassung. Daß das

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E. Renan, Les apotres, a.a.O., S. 363. Zu „notre mesquine societe bourgeoise [...], notre monde de pygmees" siehe auch S. 132. Zu beachten ist außerdem Renans Ausgangspunkt (ebd., S. 115): „Une verite generale nous est revelee par l'histoire comparee des religions: toutes [...] se sont etablies par des raisons sociales bien plutöt que par des raisons theologiques." Zu weiteren Aspekten des Verhältnisses Nietzsche-Renan siehe S. Barbera, G. Campioni: „Wissenschaft und Philosophie der Macht bei Nietzsche und Renan", in: Nietuche-Studien 13 (1984), S. 279-315. Ό 10[181] (Herbst 1887); KSA 12, S. 564. Ι 10[157] (Herbst 1887); KSA 12, S. 547. 52 10[188] (Herbst 1887); KSA 12, S. 568. Siehe auch Fragment 10[186].

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Urchristentum nicht Ausdruck einer widerspruchslosen, sondern einer komplexen und uneinheitlichen Ideenwelt sei, wird nun unter einem anderen Aspekt festgestellt. Es habe auch von einer genialen Intuition profitiert, nämlich der Idee, daß die für die Juden der Diaspora typischen Formen des Zusammenlebens überall im Westen nachahmungsfähig und mit Erfolg propagierbar seien. In diesem Sinne ist Nietzsches Aussage zu verstehen: „Das Christenthum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen unpolitische Gesellschaft voraus, — es gehört ins Conventikel."53 Eine Anschauung, die die Grundthese Renans aufnimmt, nach der das Christentum der Anfänge, seinem jüdischen Ursprung gemäß, nicht als Massenbewegung, sondern als ein Netzwerk von kleinen Freundeskreisen zu verstehen sei: „Entre toutes les institutions religieuses du monde antique, le juda'isme seul eleva contre la corruption des temps un cri de desespoir [...]. Les Juifs [...] ont la soif du bien, et ils le congoivent sous la forme d'une petite vie synagogale, dont la vie chretienne n'est que la transformation ascetique. Des groupes peu nombreux d'humbles et pieuses gens, menant entre eux une vie pure et attendant ensemble le grand jour qui sera leur triomphe [...], voilä le christianisme naissant. Le bonheur dont on jouissait dans ces petits cenacles devint une puissante attraction."54 Aufgrund dieses Tatbestandes, der Nietzsche durch Renan vermittelt wird, scheint die Schlußfolgerung wiederum ganz sinnvoll: Konsequent zeige sich das Christentum der Anfänge im Grunde nur in seiner Bereitschaft, ohne allzu strenge Folgerichtigkeit die verschiedenartigen Elemente, die in einer Übergangszeit zutage treten, zu integrieren und sich zunutze zu machen. Nach der Veröffentlichung der „Genealogie der Moral" hatte Nietzsche die Absicht, „das wesentlichste" Thema seiner Studie, das des „Heerdeninstinkts",

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10[135] (Herbst 1887); KSA 12, S. 532. In 10[157] (Herbst 1887; KSA 12, S. 545) heißt es weiter: „Das Christenthum konnte nur auf dem Boden des Judenthums wachsen, d. h. innerhalb eines Volkes, das politisch schon Verzicht geleistet hatte und eine Art Parasiten-Dasein innerhalb der römischen Ordnung der Dinge lebte." Der im Fragment 10[135] vorkommende Terminus „Conventikel", der, wie schon gesehen, auch in der Aufzeichnung 10[183] („die verdorbene Luft des Winkels und des Conventikels") und in G M III 22 („lauter Conventikel-Luft") zu finden ist, gehört zum Wortschatz Renans: „ L'eglise etait une source permanente d'edifi cation et de consolation. Ilnefautpas s'imaginer les reunions des chretiens de ce temps sur le modele de ces froides assemblees de nos jours, oü l'imprevu, l'initiative individuelle n'ont aucune part. C'est plutöt aux conventicules des quakers anglais, des shakers americains et des spirites franjais qu'il faut songer. Pendant la reunion, tous etaient assis, chacun parlait quand il se sentait inspire. L'illumine se levait alors et prononjait, par l'impulsion de l'Esprit, des discours de formes diverses, qu'il nous est difficile de distinguer aujourd'hui, psaumes, cantiques d'action de graces, eulogies, propheties, revelations, Ιεςοηβ, exhortations, consolations, exercices de glossolalie. Ces improvisations, considerees comme des oracles divins, etaient tantöt chantees, tantot prononcees d'unemaniere plane." (E. Renan: Saint Paul, Paris 1869, S. 257 f.) Siehe ebenso Renan, Marc Aurele, a.a.O., S. 236: „petits conventicules d'epileptiques". E. Renan: Marc-Aurele,

a.a.O., S. 561 f.

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weiter auszuarbeiten". Es liegt die Vermutung nahe, daß er für die Vertiefung und Weiterentwicklung der Diskussion über die „Kleine-Leute-Moralität" neue Anhaltspunkte in dem Werke Renans (worin von den „bonnes petites gens" die Rede ist)56 gefunden habe. Weitere Motive entlehnt Nietzsche 1888 Renan, im „Antichrist" und in den dazugehörigen Nachlaßaufzeichnungen, im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über die christliche Kirche der ersten Jahrhunderte. Hierbei scheint Nietzsche auf das zurückzukommen, was er schon im Aphorismus 72 der „Morgenröthe" (in Anlehnung an Lecky) über die Isis- und Mithraskulte behauptet hatte: Man lese Lucrez, um zu begreifen, was Epikur bekämpft hat [...]. Er bekämpfte die unterirdischen Culte, das ganze latente Christenthum, — die Unsterblichkeit zu leugnen war damals schon eine wirkliche Erlösung. — Und Epicur hätte gesiegt, jeder achtbare Geist im römischen Reich war Epicureer: da erschien Paulus [...]. Das Christenthum als Formel, um die unterirdischen Culte aller Art, die des Osiris, der grossen Mutter, des Mithras zum Beispiel, zu überbieten—und zu summiren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus. Sein Instinkt war darin so sicher, dass er die Vorstellungen, mit denen jene TschandalaReligionen fascinirten, mit schonungsloser Gewaltthätigkeit an der Wahrheit dem .Heilande' seiner Erfindung in den Mund legte, und nicht nur in den Mund — dass er aus ihm Etwas machte, was auch ein Mithras-Priester verstehn konnte...57 Diese Betrachtung hat ihren Ausgangspunkt in der Aufzeichnung 11 [282], die zwischen November 1887 und März 1888 zu Papier gebracht wurde: Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfniß der großen religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem ,Opfer' er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Causalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris) [...] er hat das große Bedürfniß der heidnischen Welt verstanden und aus den Thatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu accentuirt, überall das Schwergewicht verlegt... er hat principiell das ursprüngliche Christenthum annullirt... Dieser Notiz sind zwei weitere Aufzeichnungen derselben Zeit zur Seite zu stellen, die als Vorstufe zum Abschnitt 58 des „Antichrist" zu betrachten sind. In der einen wird behauptet, das Christentum sei „ die große antiheidnische Bewegung

55 56

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Brief von F. Nietzsche an F. Overbeck vom 4. Januar 1888; KGB III/5, S. 224. Vgl. dazu: E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 547. Siehe hierzu die im Winter 1886-87 niedergeschriebenen Aphorismen FW 349 („Kleiner-Leute-Geruch") und FW 353 („das Leben der Kleinen Lente in der römischen Provinz"). AC 58.

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des Alterthums", die die Lehre Christi „in einer absolut willkürlichen Interpretation" wiedergebe, d. h. „nach dem Schema grundverschiedener Bedürfnisse: übersetzt in die Sprache aller schon bestehenden unterirdischen Religionen"58. In der anderen heißt es: Das Christenthum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand Thatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Ubersetzung in die Bedürfnisse und das Verständniß-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die .grosse Mutter' glaubte und welche von einer Religion verlangte 1) die Jenseits-Hoffnung 2) die blutige Phantasmagorie des Opferthiers ,das Mysterium' 3) die erlösende That, die heilige Legende 4) den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische .Reinigung' 5) eine Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung kurz: das Christenthum paßt sich an das schon bestehende überall eingewachsene AntiHeidenthum an, an die Culte, welche von Epicur bekämpft worden sind... genauer, an die Religionen der niederen Masse der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände."

Auch hier reflektiert Nietzsche über die Entstehung des Christentums, und wiederum steht dessen Fähigkeit zur Mimicry und zur Assimilation des schon Bestehenden, ja sein erstaunliches Vermögen zu ,übersetzen', im Mittelpunkt des Interesses. Mit dieser Schilderung des Verhältnisses der christlichen Bewegung zu den damals weit verbreiteten „unterirdischen Culten" folgt Nietzsche wiederum seinem „zweideutigen Herrn Renan". Während er aber in bestimmten Passagen der „Genealogie der Moral" und der direkt darauffolgenden Nachlaßfragmente vom zweiten Buch der „Histoire des origines du Christianisme" ausgegangen war, weist ihm bei der Charakterisierung des „latenten Christenthums" das siebente Buch jenes Werkes die Richtung: „Marc-Aurele et la fin du monde antique" (1882). In den „Antichrist" wird einiges insbesondere aus dem zentralen Kapitel 31 („Raisons de la victoire du christianisme") übernommen: Die heidnischen Kulte, von denen Nietzsche im Abschnitt 58 seines Werkes spricht, werden schon in diesem Kapitel Renans entweder ausführlich behandelt oder wenigstens erwähnt. Gegenstand dieses Kapitels aus „Marc-Aurele" sind die religiösen Zustände im ersten und im zweiten Jahrhundert der christlichen Ära: Les exigences intellectuelles du temps etaient tres faibles; les besoins tendres du coeur etaient tres imperieux. Les esprits ne s'eclairaient pas, mais les moeurs s'adoucissaient [...]. On voulait surtout des assurances pour une vie ulterieure oü fussent reparees les injustices de celle-ci [...]. Une foule de confreries, oü ces croyances consolantes etaient professees,

'8 "

11 [294] (Nov. 1887-März 1888); KSA 13, S. 114. 11 [295] (Nov. 1887-März 1888); KSA 13, S. 115 f.

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attiraient de nombreux adeptes. Tels etaient les mysteres sabaziens et orphiques, en Macedoine; en Thrace, les mysteres de Dionysos. Vers le He siecle, les symboles de Psyche prennent un sens funeraire et deviennent une petite religion d'immortalite, que les chretiens adoptent avec empressement.60 Diese Stelle enthält den Hinweis auf die mit dem Christentum weitgehend verträglichen Dionysos-Kulte, den Nietzsche in den Notizen 11 [282] und 11 [295] verarbeitet 61 . Im folgenden spricht Renan u.a. von dem morgenländischen Kulte „de la Grande Mere", von welchem im Abschnitt AC 5 8 und in der Aufzeichnung 11 [295] ebenfalls die Rede ist: On avait pu esperer un moment que les confreries de cultores deorum donneraient au peuple l'aliment religieux dont il avait besoin. Le He siecle vit leur eclat et leur decadence [...]. Seuls, les colleges voues au culte des dieux orientaux (pastophores, isiastes, dendrophores, religieux de la Grande Mere) conserverent des devots. II est clair que ces dieux parlaient beaucoup plus au sentiment religieux que les dieux grecs et italiotes. On se groupait autour d'eux; leurs fideles devenaient vite confreres et amis [...].62 Zu den plebejischen Religionen, die das „latente Christenthum" mit bildeten („die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich") 63 , zählt Nietzsche auch die ägyptischen Isis- und Osiriskulte. Auch in diesem Falle bleibt er, wie ein genauer Textvergleich zeigt, der Rekonstruktion Renans verhaftet: Le culte d'Isis eut ses entrees regulieres en Grece des le IVe siecle avant Jesus-Christ. Tout le monde grec et romain en fut ä la lettre envahi. Ce culte [...] ressemblait fort a nos offices; chaque matin, le sistre, comme la cloche de nos paroisses, appelait les devots ä une sorte de messe accompagnee de prone, de prieres pour l'empereur et l'empire, d'aspersions d'eau du Nil, d'Ite missa est. Le soir, avait lieu le salut; on souhaitait le bonsoir ä la deesse; on lui baisait les pieds. II y avait des pompes bizarres, des processions burlesques dans les rues, oü les confreres portaient leurs dieux sur leurs epaules. D'autres fois, ils mendiaient en un accoutrement exotique, qui faisait rire les vrais Romains. Cela ressemblait assez aux confreries de penitents des pays meridionaux. Les isiastes avaient la tete rasee; ils etaient vetus d'une tunique de lin, oü ils voulaient etre ensevelis. II s'y joignait des miracles en petit comite, des sermons, des prises d'habit, des prieres ardentes, des baptemes, des confessions, des penitences sanglantes. Apres Pinitiation, on eprouvait une vive devotion, comme celle du moyen age envers la Vierge; on ressentait une volupte rien qu'ä voir l'image de la deesse. Les purifications, les expiations tenaient l'äme en eveil. 11 s'etablissait surtout entre les comparses

60 E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 562 f. 61 Vgl. Ε. Renan: Saint Paul, a.a.O., S. 142: „Les mysteres du Bacchus de Thrace couvraient des idees elevees sur l'immortalite, et rendaient familieres a la population des images de la vie future et d'un paradis idyllique fort analogues ä Celles que le christianisme devait repandre." " E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 569 f. « AC 58.

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de ces pieuses comedies un sentiment tendre de confraternite; ils devenaient pere, fils, frere, soeur, les uns des autres [...]. Osiris, Serapis, Anubis partagerent la faveur d'Isis [...]. C'etaient surtout les femmes qui se portaient vers ces cultes et rangers.64 Auch wo Nietzsche die Bedeutung erwähnt, die der Mithraskult in Rom gewonnen hatte, ist die Bezugnahme auf Renan ersichtlich, und zwar auf die folgende Stelle: Une foule d'autres dieux etaient accueillis sans opposition, avec bienveillance meme. La Junon celeste, la Bellone asiatique, Sabazius, Adonis, la deesse de Syrie avaient leurs fideles. Les soldats etaient le vehicule de ces cultes divers, grace ä l'habitude qu'ils avaient d'embrasser successivement les religions des pays oü ils passaient [...]. Un dieu oriental surtout balanga un moment la fortune du christianisme, et faillit devenir l'objet d'un de ces cultes ä propagande universelle qui s'emparent de parties entieres de l'humanite. Mitra est, dans la mythologie aryenne primitive, un des noms du soleil. Ce nom devint, chez les Perses des temps achemenides, un dieu de premier ordre. On entendit parier de lui pour la premiere fois, dans le mondegreco-romain, vers Γ an 70 avant Jesus-Christ. La vogue lui vint lentement. C'est seulement au He et au Hie siecle que le culte de Mithra, savamment organise sur le type des mysteres qui avaient dejä si profondement emu l'ancienne Grece, obtint un succes extraordinaire. Ses ressemblances avec le christianisme etaient si frappantes, que saint Justin et Tertullien y voient un plagiat satanique. Le mithriacisme avait le bapteme, reucharistie, les agapes, la penitence, les expiations, les onctions. Ses chapelles ressemblaient fort a de petites eglises. II creait un lien de fraternite entre les inities. Nous l'avons dit vingt fois, c'etait la le grand besoin du temps. On voulait des congregations oü Ton püt s'aimer, se soutenir, s'observer les uns les autres, des confreries offrant un champ clos [...] ä toute sorte de petites poursuites vaniteuses, au developpement inoffensif d'enfantines ambitions de synagogues [...]. On croyait a l'immortalite des inities, a un paradis pour les ämes pures [...]. On peut dire que, si le christianisme eüt ete arrete dans sa croissance par quelque maladie mortelle, le monde eüt ete mithriaste.65 Renan ist also für Nietzsche 1887-88 der maßgebliche Historiker bezüglich der Anfänge der christlichen Bewegung. Dem französischen Schriftsteller verdankt er wichtiges Material für seine These, daß gemeinsame Elemente der vielen damals populären „Religionen [...] der nicht-vornehmen Stände" in die christliche Lehre integriert werden. Zu diesem Thema behauptet Renan in seinem Werke: „Les mysteres etaient la forme ordinaire de ces cultes exotiques et la cause principale de leurs succes. L'impression que laissaient les initiations etait tres profonde [...]. Des spectacles etranges, des apparitions de poupees gigantesques, des alternatives de

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E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 570-573. Ebd., S. 574-579. Über den Mithraskult berichtet Renan auch im dritten Band seiner Histoire (Saint Paul, a.a.O., S. 269): „Les mysteres mithriaques, qui allaient bientot se developper dans le monde romain, avaient pour rite principal l'oblation du pain et de la coupe, sur lesquels on prononjait certaines paroles. La ressemblance etait telle, que les chretiens l'expliquerent par une ruse du demon, qui aurait voulu se donner ainsi l'infernal plaisir de contrefaire leurs ceremonies les plus saintes."

Latentes Christentum

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lumiere et de tenebres, des visions de l'autre vie que l'on croyait reelles, inspiraient une ferveur de devotion dont le souvenir ne s'effagait plus." 66 Ein Nachklang dieser Betrachtungen über „les mysteres" ist in Nietzsches Auffassung zu finden, die Verkündigung Jesu sei „durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht" worden 6 7 . A u c h eine weitere Formulierung Nietzsches in diesem Zusammenhang („ die blutige Phantasmagorie des Opferthiers ,das Mysterium'") 6 8 erklärt sich durch den Vergleich mit einer Textstelle Renans: Le succes qu'eurent, a partir du He siecle, les hideux tauroboles, d'oü l'on sortait couvert de sang, prouvent combien l'imagination du temps etait acharnee a trouver les moyens d'apaiser des dieux supposes irrites. Le taurobole est, entre tous les rites pai'ens, celui dont les chretiens redoutent les plus la concurrence; il fut en quelque sorte le dernier effort du paganisme expirant contre le merite chaque jour plus triomphant du sang de Jesus.69 Nietzsche resümiert im „Antichrist" seine Anschauung in der Metapher des Christen als eines „Vampyrs", und es unterliegt keinem Zweifel, daß auch dieses Bild Renan entnommen wurde: [Nietzsche] Der Christ und der Anarchist: beide decadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen Alles, was steht, was gross dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht... Das Christenthum war der Vampyr des imperium romanum [...l. 70

[Renan] Durantle Hie siecle, le christianisme suce comme un vampire la societe antique, soutire toutes ses forces et amene cet enervement general contre lequel luttent vainement les empereurs patriotes. Le christianisme n'a pas besoin d'attaquer de vive force; il n'a qu'ä se renfermer dans ses eglises.71

66 E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 580 f. 67 11 [282] (November 1887-März 1888); KSA13, S. 108. Von .heidnischen Mysterien' ist bei Tolstoi nicht die Rede. 68 11 [295] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 116. 6 9 E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 568 f. Eine andere Konkordanz verdient Beachtung. In AC 53 spricht Nietzsche vom „erste[n] Christenthum", das „todsüchtige Epidemien erzeugt". Vgl. dazu Renan (Marc-Aurele, a.a.O., S. 243): „La recherche du martyre devient une fievre impossible ä dominer. Les circoncellions, courant le pays par troupes folles pour chercher la mort, forgant les gens ä les martyriser, traduisirent en actes epidemiques ces acces de sombre hysterie." Giuliano Campioni (Sulla strada di Nietzsche, Pisa 1992, S. 265 f.) hat gezeigt, daß der Beginn dieses Abschnitts 53 von AC auf Renans L'eglise cbretienrte, Paris 1879, S. 317 ff., zurückgehe. 7 0 AC 58. Weiterhin lobt Nietzsche die römische Verwaltung als ein „bewunderungswürdigstes Kunstwerk" (AC 58), welches man vor allem durch die Geschichte der römischen Provinz kennenlerne. Auch hierin lehnt ersieh an Renan (LesApotres, a.a.O., S. 310) an: „Ce gouvemement, si epouvantablement inegal ä Rome, etait beaueoup meilleur dans les provinces. On s'y apercevait assez peu de secousses qui ebranlaient la capitale." 71 E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 589. Die Christen sind für Renan „gens pales, claquemures" (ebd., S. 590). In Abschnitt 49 spricht Nietzsche vom „Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger".

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[Nietzsche] Die ganze Arbeit der antiken W e l t umsonst [...]. Alles umsonst! [...] Griechen! Römer! Die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung, das Genie der Organisation [...] — U n d nicht durch ein Natur-Ereigniss über Nachtverschüttet! [...] Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyrn zu Schanden gemacht! Nicht besiegt, — nur ausgesogen! 72

8. Das „arische Christentum" der Antisemiten Renans Ausführungen über das Gedeihen der verschiedenen morgenländischen Kulte im späten Römischen Reich, in denen bereits .christliche Züge' erkennbar seien, sind für Nietzsche um 1888 besonders wichtig. Sie erlauben ihm, seine These zu untermauern, das Christentum sei nur eine der vielen " decadence" -Bewegungen der Zeit, ohne jegliche Originalität, die „Verfalls-Form der alten Welt in tiefster Ohnmacht: so daß die kränksten und ungesündesten Schichten und Bedürfnisse obenauf kommen" 73 . Nietzsche spricht seine Grundansicht über dieses Thema auch im Abschnitt 37 des „Antichrist" aus. Hier, wo er seine im Laufe der 80er Jahre angestellten Überlegungen zur Entstehung und ersten Verbreitung des Christentums zusammenfaßt, ist die direkte Anknüpfung an Renan in dem Hinweis auf die „Lehren und Riten aller unterirdischen Culte des Imperium Romanum" offensichtlich: [...] die Geschichte des Christenthums — und zwar vom T o d e am Kreuze an — ist die G e s c h i c h t e des schrittweise immer gröberen Missverstehens eines ursprünglichen Symbolismus. Mit jeder Ausbreitung des Christenthums über noch breitere, noch rohere Massen, denen die Voraussetzungen immer mehr abgiengen, aus denen es geboren ist, wurde es nöthiger, das Christenthum zu vulgarisiren, zu barbarisiren, — es hat Lehren und Riten aller unterirdischen Culte des Imperium Romanum, es hat den Unsinn aller Arten kranker Vernunft in sich eingeschluckt. Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, dass sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden musste, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten.

Diese Stelle hängt mit zwei vorangegangenen Nachlaßfragmenten aus dem Winter 1887-88 zusammen. Im ersten spricht Nietzsche einen religionswissenschaftlichen Grundsatz aus:

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AC 59. 22[4] (September-Oktober 1888); KSA 13, S. 585.

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Zur Geschichte des Christenthums Fortwährende Veränderung des milieu: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht. 74

In dem zweiten Fragment denkt Nietzsche ein weiteres Mal über die Auswirkungen nach, die die Verbreitung des christlichen „Decadence"-Glaubens unter „Barbaren" und „Germanen" haben mußte — dasselbe Thema, auf das ihn Lippert zwei Jahre zuvor aufmerksam gemacht hatte: eine nihilistische Religion, einem greisenhaft-zähen, alle starken Instinkte überlebt habenden Volke entsprungen und gemäß — Schritt für Schritt in andre milieu's übertragen, endlich in die jungen, noch gar nicht gelebt habenden Völker eintretend—sehr seltsam! eine Schluß- Hirten- Abend-Glückseligkeit Barbaren, Germanen gepredigt! Wie mußte das alles erst germanisirt, barbarisirt werden! solchen, die ein Walhall geträumt hatten... —: die alles Glück im Kriege fanden! — eine übernationale Religion in ein Chaos hinein gepredigt, wo noch nicht einmal Nationen da waren — 75

Geht man all die Aufzeichnungen und Notizen von 1887-88 durch, in denen Nietzsche die besondere Komplexität des Phänomens .Christentum' von mehreren Seiten zugleich untersucht, dann zeigt sich, wie er stets von jener Ansicht geleitet wird, die er schon im Aphorismus 70 der „Morgenröthe" formuliert hatte: Der christlichen Kirche wohne eine eigentümliche „Kraft, das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen", inne, und sie bilde somit „eine Encyklopädie von vorzeitlichen Culten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft [...]: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann". Was hier ausgesprochen wird, bleibt auch späterhin der Leitgedanke in Nietzsches Geschichtsbild. Aus den Schriften von Lecky, Baumann, Lippert, Renan und Tolstoi übernimmt Nietzsche im Laufe der Jahre verschiedene Motive, die sämtlich auf eine und dieselbe Interpretation des Christentums hinauslaufen, und zwar als eines Sedimentgesteins', als einer geologischen Stratifikation', deren einzelne Schichten einer gesonderten und differenzierten Erforschung bedürfen. Die Bilanz seiner diesbezüglichen Studien zieht Nietzsche im Herbst 1887, also zur Zeit seiner Auseinandersetzung mit Renan, mit den folgenden Worten: „Das Christenthum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte." 76

11 [364] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 160. 11 [370] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 166. Das Fragment steht in Zusammenhang mit AC 19. Zu Walhall vgl. E. Renan: Marc-Aurele, a.a.O., S. 595: „Le courage militaire, qui, selon le Germain, ouvreseulla Walhalla, n'est point [...] une vertu auxyeuxduchretien." Siehe hierzu auch Fragment 41 [4] (September 1885); KSA 11, S. 679: das Christentum sei ein „gutes Stück alter Welt" und ein „glitzerndes Mosaik antiker Begriffe". 7* 10[96] (Herbst 1887); KSA 12, S. 511. 75

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Im Laufe der Jahrhunderte sei der „Sinn des Christenthums" immer wieder „irgendwo anders hin" gelegt worden77. Bei seiner intensiven Beschäftigung der 80er Jahre mit dem Urchristentum und der Geschichte der katholischen Kirche richtet Nietzsche seine Aufmerksamkeit vor allem auf die fortwährenden Sinnverschiebungen, Umdeutungen und verschiedenartigen „Ansteckungen" und „Falschmünzereien". Dies macht verständlich, warum er die pseudowissenschaftliche Argumentation der Antisemiten als „ärgerliche Velleitäten" abweisen mußte, die von einer „christlichen Zivilisation"78 als von einem einheitlichen, organischen Ganzen sprechen. Um Nietzsches Abscheu vor dem Antisemitismus („Diese jetzigen .Deutschen' machen mir immer mehr Ekel")79 in das richtige Licht zu stellen, ist auch dieser Aspekt in die Betrachtung mit einzubeziehen: Denn die Antisemiten sprechen ohne jeden kritischen Vorbehalt von dem „Idealismus des arischen Christenthums"80 oder, wie der Septuaginta-Forscher P. de Lagarde, von einer „christlich-germanisch-romanischen Culturwelt"81, die sich nie habe verwirklichen können. 1886 liest Nietzsche erneut die Schriften dieses Autors, mit denen er sich schon in den 70er Jahren befaßt hatte. Ein Brief aus dem Jahre 1887 zeigt, daß ihm dessen Ausführungen in hohem Maße zuwider sind82. De Lagarde verurteilt die moderne Welt bedingungslos („civilisation ist [...] wesentlich schein und lüge, und darum der grimmigste feind aller religion")83, beruft sich ständig auf das Gefühl („wir besitzen nur, was wir täglich neu erwerben")84 und ist von einem unbestimmten Verlangen nach Regeneration durchdrungen („religion ist [...] unbedingt gegenwart [...]. wir brauchen die gegenwart gottes und des göttlichen, nicht seine Vergangenheit")85. In den Augen de Lagardes sind „katholicismus, Protestantismus [...], Judentum und was es sonst an ismen und tümern gibt", im wesentlichen identisch, voller „todeskeime" und im Zustande der „Verwesung". Das Christentum

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11 [275] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 104. C. Frantz: „Nationalismus und christliche Zivilisation"; in: Bayreuther Blätter 8 (1885), S. 93 ff. 5[45] (Sommer 1886-Herbst 1887); KSA 12, S. 200. A. Wahrmund: Babylonierthum, ]udenthum und Christenthum, Leipzig 1882, S. 212. „Das Christenthum in seiner edelsten Form, wie es die occidentalischen Völker darstellen", bilde den vollendeten Gegensatz des vom „greisen Semitismus" vertretenen „seichten Rationalismus oder Materialismus" (A. Wahrmund: Besprechung von E. Gellion-Dangler: Les Semites et le Semitisme aupointdevueethnographique, religieux et politique, Paris 1882, in: Bay reuther Blätter 6,1883, S. 82 f.) P. de Lagarde: Juden und Indogermanen", in: Mittheilungen, Bd. 2, Göttingen 1887, S. 346. „[...] oh wenn Sie wüßten, was ich im vorigen Frühling über die Bücher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagarde heißt, gelacht habe! Es fehlt mir offenbar jener .höchste ethische Standpunkt', von dem auf jener Seite die Rede ist" (Brief von F. Nietzsche an T. Fritsch vom 23. März 1887; KGB III/5, S. 46). P. de Lagarde: Über das verhältniss des deutschen staates zur theologie, kirche und religion, in: Deutsche Schriften, Bd. 1, Göttingen 1878, S. 49. P. de Lagarde: Die Religion der Zukunft, in: Deutsche Schriften, Bd. 1, a.a.O., S. 227. P. de Lagarde: Uber das verhältniss des deutschen staates zur theologie, kirche und religion, a.a.O., S. 34-36. Siehe hierzu ebenfalls: dets..über die gegenwärtige läge des deutschen reichs, ein bericht, in:

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„judaisiere" und habe sich schon lange „das jüdische princip" zu eigen gemacht, „einmal geschehenes statt des immer von neuem geschehenden, vergangenes statt des gegenwärtigen als object religiöser gefühle anzusehen [..J" 8 6 . nichts ist für den menschen von segen, als das, was sich jeden augenblick wiederholen kann, ein söhn gottes, welcher mit der uhr in der hand am ersten januar des jahres eins [... ] das licht der weit erblickt hat, hilft niemandem etwas, der 1878 jähre nach diesem Zeitpunkte sich mit gott und der creatur abzufinden hat. analog geht es mit allen andern dogmen.87 Nietzsches Reflexionen der 80er Jahre ergeben ein von solchen Anschauungen und von den gängigen Einschätzungen des zeitgenössischen Antisemitismus sehr stark abweichendes Bild. Das Christentum lasse sich nicht anders als ein äußerst kompliziertes Gebilde, als wandelbarer „Hybridism"88 auffassen, der sich einer genauen Definition entziehe; „ das Wort schon .Christentum' ist ein Missverständnis " und bezeichne ein „ungeheueres Fragezeichen"89. Nietzsche war sich über den dadurch bedingten hypothetischen Charakter seiner Ausführungen jederzeit im klaren. Erwähnung verdient schließlich in diesem Kontext jener Brief, in dem er im Januar 1888 F. Overbeck auf das Verfahren aufmerksam macht, das der „ Genealogie der Moral" zugrunde liegt: „Nur ein Wort hinsichtlich des Buchs: es war der Deutlichkeit wegen geboten, die verschiedenen Entstehungsheerde jenes komplexen Gebildes, das Moral heißt, künstlich zu isoliren [...] (Zur Genesis des Christenthums bringt jede Abhandlung einen Beitrag: nichts liegt mir ferner, als dasselbe mit Hülfe einer einzigen psychologischen Kategorie erklären zu wollen) Doch wozu schreibe ich das? Dergleichen versteht sich eigentlich zwischen Dir und mir von selbst." 90

Deutsche Schriften, Bd. l,a.a.O.,S. 118: „wer die religion auf das heiligtum des gemütes beschränken zu können meint [...], der hat nie weder an sich noch an anderen religion erlebt, wirkliche religion nimmt sich stets die freiheit, das ganze leben zu durchdringen, sie ist nicht nur sonntags von neun bis elf, bei einsegnungen und begräbnissen zu finden, sondern überall oder nirgends." Und an anderer Stelle (ebd., S. 124): „das, was Deutschland braucht, ist nicht ein katholicismus minus des papstes und einiger anderen, dem katholicismus eigenen dinge, nicht ein Christentum minus einer bald höher bald niedriger gegriffenen zahl von dogmen, sondern ein neues leben, welches die absterbenden reste alten, kranken lebens totlebt: was wir bedürfen, ist ein frühling, der frisches laub und junge blüten treibt, nicht ein borstwisch zum abkehren der vorjährigen blätter, welche vor jenem frühlinge von selbst fallen würden." P. de Lagarde: Ober das verhältniss des deutschen staates zur theologie, kirche und religion, a.a.O., S. 36. 87 P. de Lagarde: Die religion der Zukunft, a.a.O., S. 238 f. «8 11 [366] (November 1887-März 1888); KSA13, S. 163. Zur Analyse des Christentums in Nietzsches Spätwerk siehe R. Bucher: Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott. Das Spätwerk als philosophischtheologisches Programm, Frankfurt a.M., Bern, New York 1986, S. 52 ff. 89 AC 36 u. 39. 90 Brief von F. Nietzsche an F. Overbeck vom 4. Januar 1888; KGB, III/5, S. 224. 86

Anhang zum VIII. Kapitel: F. Overbecks Sicht des Urchristentums und sein Hinweis auf den heuristischen Wert der Paradoxe Vergleicht man Nietzsches Reflexionen über die christliche Kirche der ersten Jahrhunderte mit manchen Äußerungen Overbecks zu diesem Thema, so entdeckt man wesentliche Ubereinstimmungen. Nietzsches Überlegungen hinsichtlich der mannigfaltigen ,heidnischen Wurzeln' des Urchristentums haben ihre Parallele in der Forschungsrichtung des .irreligiösen' Theologen aus Basel, die auf die Demaskierung der „traditionellen Vorurtheile" und der „schalen Trivialitäten" hinausläuft, die bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte immer wieder zutage treten. Overbecks wissenschaftliche Zielsetzung und die Grundzüge seiner historischen Methode lassen sich besonders deutlich an einem kleinen Beitrag aus dem Jahre 1878 ablesen, und zwar an der Rezension einer Schrift von B. Bauer, „Christus und die Caesaren". Overbeck spricht sich hier scharf gegen die „historischen Phantasien" und die hinfälligen Schlußfolgerungen des Texts aus („Bei dieser luftigen Höhe seines Standpunktes..."). Bei aller Kritik ist jedoch das Urteil über die Grundintention von Bauers Werk nicht ganz und gar abschätzig: Mit alledem soll nicht bestritten werden, dass es oft gar keine üble Sache ist, die der Verf. vertritt, wobei nur umsomehr das gänzlich Verfehlte seiner Arbeit zu bedauern wäre. Sehr begründet ist manches in seinen einleitenden Bemerkungen über die Nachtheile der ,Theilung der Arbeit' auf dem Gebiete der ersten christlichen Jahrhunderte unter eine .geistliche' und eine ,weltliche Section'.

Weiterhin gelten die Ausführungen des Rezensenten der „Vermischung mancherlei Phaenomene in der Geschichte der alten Kirche", und vor allem dem „Antheil des griechisch-römischen Heidenthums" an ihrer Entstehung: Ganz Recht hat ferner der Verfasser, Verwahrung gegen den superciliosen Ton einzulegen, welcher neuerdings unter den Geschichtsschreibern der Kaiserzeit gegen den römischen Stoicismus für angemessen gilt. In seinen Beschwerden gegen die Kirchengeschichtsschreibung ist dem Verf. wenigstens Ref. gern bereit viel zuzugeben: dass in der That der Antheil des griechisch-römischen Heidenthums an der Entstehung der Kirche bis jetzt sehr unterschätzt worden ist; dass das Nachtgemälde, welches unsere Kirchengeschichten unter der Rubrik des Verhältnisses des Christenthums zum Heidenthume zu eröffnen pflegt, grösstentheils conventioneil und von wirklichem Inhalt leer ist; dass insbesondere das Verhältniss des Christenthums zu den Moralphilosophieen des griechisch-römischen Heidenthums ein

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noch ungelöstes Problem ist, mindestens sofern es sich hierbei um zwei Strömungen geistigen Lebens handelt, welche, wenn sie auch nicht ursprünglich das Eine Bett gehabt haben, das ihnen der Verf. giebt, doch irgendwie und -wo zusammengekommen sind und in dieser ihrer klar erkannten Vermischung mancherlei Phaenomenen der Geschichte der alten Kirche zur Erklärung dienen; überhaupt dass dieser Geschichte nur durch eine gute Menge von Paradoxieen immer noch zu helfen ist. Nur dass, wer solche Paradoxieen vertritt, die Aufgabe hat, sie in einer Gestalt vorzutragen, welche ihnen gestattet, allmählich in den Strom allgemeinerer wohlbegründeter Ueberzeugung überzugehen; dass hingegen der Verf. sich kaum auf Einer Seite seines Werkes ernstlich bemühte, das Paradoxe seiner Thesen dem Gebiete des bloss Extravaganten zu entnehmen, ist die eigendiche Beschwerde, welche hier dagegen erhoben wird.1 Die hier zusammengetragenen Motive — die Kritik an der traditionellen Betrachtung der römischen Kirche der Anfänge, die Charakterisierung des Themenkomplexes .Christentum und Antike' als ein von der Forschung zu entdeckendes Neuland, die Bewertung des Paradoxons als heuristisches Prinzip — lassen vermuten, daß Overbeck den späteren Erwägungen Nietzsches über die eigentümliche Kraft der christlichen Tradition, „das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen", das allergrößte Interesse entgegengebracht haben muß. Die Betrachtungen über die Geschichtsschreibung des Urchristentums, die Overbeck 1877 zu Papier brachte, werden für seine Leser nicht unerwartet gewesen sein. Ahnliches hatte er nämlich schon in den Vorbemerkungen behauptet, die seine 1875 erschienene Schrift „Ueber das Verhältniss der alten Kirche zur Sklaverei im römischen Reiche" eröffneten: Es ist nicht zu bezweifeln, dass in der Kirchengeschichte einst namentlich das Capitel des Streits des Christenthums mit dem Alterthum ein ganz anderes Aussehen haben wird, als es diess jetzt noch unter der zum geringsten Theile überwundenen Wucht traditioneller Vorurtheile in unseren theologischen Lehrbüchern hat. Eine der verwirrendsten Einseitigkeiten der herrschenden theologischen Betrachtungsweise dieses Streits ist aber ihre Neigung dabei am Christenthum nur den Gegensatz gegen das hinter ihm liegende Alterthum sehen zu wollen, die tiefen Wurzeln aber, mit welchen es darin, und zwar keineswegs nur in Religion und Theologie des Judenthums, steht, das was man überhaupt sein antikes Wesen nennen kann, zu übersehen. Davon zu überzeugen mag die Betrachtung des Verhältnisses der alten Kirche zur Sclaverei. Sieht man doch dabei die Kirche sich einer politischen Institution gegenüber schonend und erhaltend verhalten, in welcher man heutzutage einen dem Alterthum eigenthümlichen und besonders argen Flecken seiner Gesittung zu sehen gewohnt ist. Ja, wie um die Stammverwandtschaft des Christenthums und der antiken Welt vollends anschaulich zu machen, drängt sich bei Betrachtung der an F. Overbeck: Besprechung von Β. Bauer: Christus unddieCaesaren. Der Ursprung des Christenthums aus dem römischen Griechenthum, Berlin 1877, in: Theologische Literaturzeitung 3 (1878), S. 318. Zu Unrecht vertritt E. Benz (Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche, a.a.O., S. 114 ff.) die Meinung, Nietzsche habe „die These vom präexistenten Christentum, von der Zugehörigkeit der christlichen Kirche zu der spätantiken Geistes- und Sozialgeschichte" von Bauer übernommen. Vielmehr ist es Leckys Werk, dem Nietzsche etliche Anregungen in diesem Sinne verdankt.

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diesem Punkte neuerdings hervorgetretenen Ansichten der Gelehrten fast die Beobachtung auf, als habe zugleich mit dem Verschwinden eines Stücks Alterthum aus unserem Leben auch das Christenthum an Verständlichkeit für uns verloren. 2

Diese Kritik an der „herrschenden theologischen Betrachtungsweise", derzufolge sich das Auftreten und Obsiegen des Christentums gleichsam in einem Vakuum abgespielt hätte, berührt Fragen, die auch für Nietzsche von eminenter Bedeutung sein werden. Overbeck zielt also auf die Beseitigung des „argen Missverständnisses" der theologischen Literatur, die Kirche sei die erste Fürsprecherin der Gleichheit aller Menschen gewesen: In Rom hatte sich freilich das rücksichtslose alte Recht, welches den Sclaven als eine blosse Sache durchaus recht- und schutzlos der Willkür des Besitzers überliefert, [...] formell bis in die letzten Zeiten der Republik hinein unerschüttert aufrecht erhalten. In der öffentlichen Meinung aber wankte es schon um diese Zeit [...]. Mit der Begründung der kaiserlichen Gewalt erhält diese öffentliche Meinung Macht [...]. Von höchster Bedeutung für diese Rechtsentwicklung ist der Sieg der stoischen Doctrin von der Naturwidrigkeit der Sclaverei bei den grossen römischen Rechtslehrern der älteren Kaiserzeit, welche alle Menschen für natürlich gleich erklären [...]; und diese römischen Rechtslehrer, nicht, wie oft durch arges Missverständniss behauptet wird, die Kirche, legen den Grund zur Lehre von den unveräusserlichen Menschenrechten in modernen Emancipationstheorieen.'

Overbecks Interesse gilt namentlich der Anerkennung der Tatsache, dass [...] alles was Rechtswissenschaft und Gesetzgebung für die Lockerung der Fesseln der Sclaverei in den drei auf Constantin folgenden Jahrhunderten im Bunde mit der Staatskirche 2

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F. Overbeck: Ueber das Verhältniss der alten Kirche zur Sclaverei im römischen Reiche (1875), in: Werke und Nachlaß, Bd. 2: Schriften bis 1880, Stuttgart u. Weimar 1994, S. 144. Zur Vorgeschichte dieser Schrift siehe B. v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kapitel 1-12), a.a.O., S. 304. F.Overbeck: Ueber das Verhältniss der alten Kirche zur Sclaverei, a.a.O., S. 152 f. E.Rohde las diesen Beitrag mit größtem Interesse (F. Overbeck, E. Rohde: Briefwechsel, Berlin u. New York 1989, S. 14): „Von Overbecks Buch habe ich mit besondrem Anthei] die Sclaven-untersuchung gelesen, fast mit gleichem Gefühl, wie einst die ,Christlichkeit'; denn wirklich springt hier für einen Nichttheologen außerordentlich klar hervor, wie eine einmalrichtiggebildete Anschauung vom Sinn und Wesen des wirklich Christlichen gar keinen Zweifel mehr über die Stellung lassen kann, welche das ernsthafte Christenthum zu dieser, wie allen Fragen des weltlichen Regimes einnehmen musste, und wie im Hintergrund der von 0 bekämpften Irrthümer viel mehr als eine bloß gelehrte Unkunde liegt, nämlich jene flaue Pactirung mit dem furchtbar ernsten, überweltlichen Sinn des Christenthums, vor dem diese officiellen Vertreter des protestantischen und [...] des katholischen .Christenthums' angstvoll die Augen verschließen. Giebt es übrigens, lieber Overbeck, eine vernünftige Darstellung der tiefen Umwälzung, welche die Abschaffung der Sclaverei in allen Bedingungen und Zielen des Culturlebens hervorgerufen haben muß? [...] Offenbar ist es seitdem völlig mit dem obersten Ziel der griechischen Cultur [...] vorbei [...]." Rohdes Betrachtung beruht allerdings auf einem Mißverständnis, denn bei Overbeck heißt es (Ueber das Verhältniss der alten Kirche zur Sclaverei, a.a.O., S. 199): „Man darf immerhin daran denken, dass das Alterthum ζ. B. die Vorstellung des unveräusserlichen Rechts des Menschen zur Freiheit erzeugt hat, die Kirche dagegen die Erfinderin eines unveräusserlichen Rechts zur Knechtschaft ist."

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gethan haben, kaum der Rede werth ist, neben dem, was in dieser Beziehung in den drei vorhergehenden noch heidnischen Jahrhunderten geschehen ist.4 1873 attackiert Overbeck, wie bekannt, die liberale Theologie der Zeit, die in seinen Augen für die „widrigste Sentimentalisirung, Verflachung und Entnervung des Christenthums" verantwortlich ist, und die das Wesen seiner geschichtlichen Entwicklung völlig entstellt: „Sie meint ein Christenthum entdeckt zu haben, dessen Versöhnung mit der Weltbildung kaum noch ein Problem ist [...]"'. 1875 führt er diesen Gedanken weiter aus, und manche „unbequeme Tatsachen", die die „Unmenschlichkeit der Kirche"6 ersichtlich machen, und die der „moderne Betrachter" außer acht läßt, rücken nun in den Mittelpunkt seines Interesses: Die Sklaverei bleibe auch für die ersten Christen eine unumstößliche Tatsache und sei eine ,antike' Erbschaft des neuen Glaubens, die unangefochten beibehalten worden sei: Niemals wird aber in der vorconstantinischen Kirche, von haeretischen Sekten abgesehen, im Sclaven der Wunsch nach Emancipation irgend wie geweckt, nie der Herr angehalten, solchem Wunsch zu willfahren. Die Institution der Sclaverei besteht auch für Christen nach wie vor fort, und die im Laufe der Zeit selten gewordenen Grundtugenden, welche sie fordert, wiederherzustellen ist allein das Bemühen der moralischen Predigt der älteren Kirchenschriftsteller, also Treue, Ergebenheit und Gehorsam auf Seite des Sclaven, welcher in seinem Herrn ein .Abbild Gottes' zu verehren angewiesen wird, Eingedenksein der Verantwortlichkeit und milde Mässigung auf Seite des Herrn. 7

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Ebd., S. 158 f. F. Overbeck: Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, a.a.O., S. 211 f. u. 221. Siehe hierzu N. Peter: Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur, Christlichkeit unserer heutigen Theologie', Stuttgart u. Weimar 1992, S. 191 ff. 6 F. Overbeck: Ueber das Verhältniss der alten Kirche zur Sclaverei, a.a.O., S. 199. Vgl. dazu W. Ε. H. Lecky (Sittengeschichte Europas, a.a.O., Bd. 2, S. 52): „Das Verbot aller Sklaverei, welches die Essener streng beobachteten, und die Unrechtmässigkeit der erblichen Sklaverei, welche der Stoiker Dio Chrysostomos lehrte, hatten keine Stelle in der Kirchenlehre. Die Sklaverei wurde vom Christenthume entschieden und formell anerkannt, und keine Religion arbeitete je mehr daraufhin, Unterwürfigkeit und leidenden Gehorsam zur Gewohnheit zu machen." 7 Ebd., S. 164 f. 5

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum um 1888. Einige philologische Anmerkungen 1. J. Wellhausen und sein Bild des vorexilischen Judentums Nietzsches Verhältnis zum Judentum ist ein Problem, das immer wieder zur Sprache kommt. Jüngst hat H. Cancik die Grundtendenz von „Der Antichrist" auf die Formel „ Antijudaismus in zweiter Potenz" gebracht. Er meint, einige in diesem Text vorkommende Äußerungen („Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal - dreimal selbst ,..")1 seien gegen Antisemiten wie Wagner und P. de Lagarde gerichtet, die zwar das Judentum angreifen, aber zugleich das Christentum retten wollten. Diese Position halte Nietzsche für inkonsequent: Seine Freilegung der jüdischen Wurzeln des Christentums bilde den Ausgangspunkt für einen „verbesserten" und um so radikaleren Antijudaismus; seinem „Antichrist" liege also eine deutliche „antisemitische Struktur" zugrunde.2 Diese Schlußfolgerung vermag nicht zu überzeugen. Antijüdische Töne sind zwar im „Antichrist" vorhanden, trotzdem läßt sich auch dieser Text nicht auf ein kohärentes System, d. h. auf eine „antisemitische Struktur", reduzieren. Vielmehr enthält dieses vielschichtige Werk, und noch stärker die sich darauf beziehenden Aufzeichnungen und Notizen, mannigfache Motive und behandelt historische Tatsachen, aus denen einander entgegengesetzte Schlüsse gezogen werden können. Auch in Nietzsches Ausführungen aus dem Jahre 1888 manifestiert sich weiterhin die Ambivalenz und Vielseitigkeit seines Denkens, in dem ein ständiges Ringen um neue Erkenntnisse zum Ausdruck kommt, und das nach allen Seiten hin offen bleibt.

ι 2

AC 44. Η. Cancik: „Judentum in zweiter Potenz'. Ein Beitrag zur Interpretation von Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist'", in: J. Mertin, D. Neuhaus, M. Weinrich (Hrsg.): ,Mit unsrer Macht ist nichts getan...' Festschrift für Dieter Schellong zum 6ß. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1993, S. 61 f.; H. Cancik u. H. Cancik-Lindemaier: „Philhellenisme et antisemitisme en Allemagne: le cas Nietzsche", in D. Bourel ,J. Le Rider (Hrsg.): DeSils-Maria ä Jerusalem, Paris 1991, S. 21-46. Canciks Betrachtungen sind eine offene Polemik gegen die Thesen von W. Kaufmann: Nietzsche. Philosoph-PsychologeAntichrist, Darmstadt 1988, insbesondere S. 347-349. Zu diesem Thema siehe auch J. Golomb: „Nietzsche on Jews and Judaism", in: Archiv für Geschichte der Philosophie 67 (1985), S. 139-160; J. C. O'Flaherty, T. F. Seilner, R. M. Helm (Hrsg.): Studies in Nietzsche and the Judaeo-Christian Tradition, Chapel Hill u. London 1985.

J. Wellhausen und das vorexilische Judentum

319

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß etliche der von Nietzsche in den Jahren 1887-88 angestellten Reflexionen über die hebräische Tradition mitnichten in den Rahmen eines „Antijudaismus in zweiter Potenz" passen. Bemerkenswert ist zunächst, daß Nietzsche, obwohl selbst kein Spezialist, in seiner späten Schaffensperiode auf die bedeutendsten religionsgeschichtlichen Untersuchungen zum Alten Testament, die damals erschienen, zurückgriff, um seine Studien über das hebräische Altertum weiterzutreiben. Denn Wellhausens historische Anschauung vom Alten Testament, mit der sich Nietzsche 1888 intensiv beschäftigte, ist diejenige, „die im letzten Viertel des Jahrhunderts alle übrigen aus dem Felde schlug" 3 . In den Nietzsche bekannten Schriften, den „Prolegomena" und dem „Abriss", weist Wellhausen nachdrücklich auf die Bedeutung der „kanaanitischen Kultur" für das hebräische Altertum hin. Die Hebräer haben, laut Wellhausen, die „ Agricultur [...] von den Kanaanitern gelernt, in deren Lande sie [...] in der Richterzeit zum ansässigen Leben übergingen" 4 . Aufgrund der engen Beziehungen, ja der Verschmelzung der beiden Völker habe Jahve Wesenszüge des Gottes Baal angenommen, „der von den kanaanitischen Bauern als der Spender von Korn, Wein und Ol verehrt wurde" 5 . Zugleich habe eine „Übertragung der Feste von Baal aufJahve" stattgefunden6. In dieser auf „den natürlichen Bedingungen und Motiven des wirklichen Volkslebens im Lande Kanaan" gründenden „heidnischen" Religion 7 , habe sich vor allem Freude und Dankbarkeit ausgedrückt: Der Segen des Landes ist hier das Ziel der Religion [...]. Sie hat keine historischen Heilsthaten, sondern die Natur zur Grundlage, welche jedoch nur als Domanium der Gottheit und als Arbeitsfeld der Menschen betrachtet und keineswegs selbst vergöttert wird.8 Mit Nachdruck hebt der protestantische Alttestamentler Wellhausen hervor, daß Freude diesen „volkstümlichen Gottesdienst" gekennzeichnet habe:

3

4

' 6

7 8

R. Smend: „Universalismus und Partikularismus in der Alttestamentlichen Theologie des 19. Jahrhunderts", in: Evangelische Theologie 22 (1962), S. 175. J. Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1883, S. 96-97. Zu Wellhausens Werk siehe H. J. Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1956, S. 235 ff.; R. Smend: „De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert", in: Theologische Zeitschrift 14 (1958), S. 107-119; H. Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel his Max Weber, Tübingen 1967, S. 245 ff. J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, Berlin 1884, S. 18 f. J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 96 f. Ebd., S. 108. Ebd., S. 100 f.

320

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Tenne und Kelter, Korn und Most sind seine Motive, laute Freude, rauschender Jubel sein Ausdruck. Alle Lust des Lebens drängt sich zusammen in Jahve's Hause, bei den Freundenmahlen [...].'

Selbst die Opferrituale seien in dieser kanaanitisch-hebräischen Religion durchweg fröhlicher Natur [gewesen], ein sich Freuen vor Jahve, bei Sang und Klang, unter Pauken und Saitenspiel [...]. Kein grösserer Gegensatz hiezu, als der monotone Ernst des sogenannten mosaischen Cultus. 10

Der religiöse Sinn als Gefühl der Dankbarkeit, die Verflechtung von Gottesdienst, Ackerbau und Jahreskreislauf, von Alltagsleben und Kult — all diese Aspekte der „vorexilischen Sitte" bezeichnet Wellhausen als das „kanaanitische Erbe Israels" n . Hierdurch erkläre sich die Zusammengehörigkeit des Heiligen und des Sinnlichen, die nach Wellhausens Ansicht ein weiteres Kennzeichen des „heidnischen" Jahvedienstes der „vorexilischen" Epoche ist: Baaldienst und Jahvedienst zu unterscheiden, war noch immer nicht leicht. Der Cultus war auch die Pforte, wodurch das Heidentum immer aufs neue in den Jahvedienst [... ] einströmte. Die männlichen und weiblichen Kadeschen waren bei den israelitischen Heiligtümern nicht minder zu finden als bei den kanaanitischen; Vater und Sohn besuchten zusammen die Hierodule zur Ehre Jahve's. Man versteht es darum, weshalb Könige und Propheten mit Nachdruck für die in der Natur Jahve's begründete Öffentlichkeit des Gottesdienstes eintraten. Dieselbe musste ein Correctiv gegen die schlimmsten Ausschreitungen abgeben, welche in den Winkelheiligtümern am ungescheutesten betrieben werden konnten. 12

2. Gottesdienst

und]ahreskretslauf

In Abschnitt 25 von „Antichrist" behauptet Nietzsche, „in der Zeit des Königsthums" sei Jahve „der Ausdruck des Macht-Bewusstseins, der Freude an sich" eines Volkes gewesen, welches „dankbar im Verhältniss zum Jahreskreislauf und allem Glück in Viehzucht und Ackerbau [ist]." Die Vorstufe zu diesem Abschnitt von „Antichrist" bildet das Nachlaßfragment 11 [377], in dem Nietzsche Wellhausens „Prolegomena" paraphrasiert, ohne allerdings das Wort „Jahreskreislauf" zu gebrauchen. Dieser Terminus findet sich jedoch in der Aufzeichnung 14[13] aus dem Frühjahr 1888:

'

Ebd., S. 102. Ebd., S.84. 11 J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 43. 12 Ebd. 10

Gottesdienst und Jahreskreislauf

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Physiologie der nihilistischen Religionen [...] — in dem heidnischen Cultus ist es der große Jahreskreislauf, um dessen Ausdeutung sich der Cultus dreht — im christlichen Cultus ein Kreislauf paralytischer Phänomene, um die sich der Cultus dreht...» Wie man sieht, sind es an dieser Stelle Wellhausens Betrachtungen über die für Israel so wichtige kanaanitische Tradition, von der Nietzsche in seiner Kritik des Christentums ausgeht. Der Hinweis auf den Jahreskreislauf kann anhand der folgenden Äußerungen Wellhausens besser verstanden werden: In der alten Zeit erzeugte sich der Gottesdienst aus dem Leben und war aufs engste damit verwachsen. Das Opfer Jahve's war ein Mahl der Menschen, bezeichnend für das Fehlen des Gegensatzes von geistlichem Ernst und weltlicher Fröhlichkeit. Ein Mahl bedingt einen abgeschlossenen Kreis von Gästen; so verband das Opfer die Angehörigen der Familie, die Glieder der Corporation, die Genossen des Heeres und jedweder dauernden oder vorübergehenden Vereinigung. Es sind irdische Beziehungen, denen dadurch die Weihe gegeben wird; ihnen entsprechen natürliche Anlässe der Feier, wie sie das bunte Leben bietet. Von Jahr zu Jahr kehrte die Obsdese, die Kornernte, die Schafschur wieder und vereinigte die Hausgenossen, vor Jahve zu essen und zu trinken.14 Die einfachsten natürlichsten und allgemeinsten Opfer, die Erstlinge von den Erzeugnissen des Ackerbaues und der Viehzucht, deren Anlässe sich regelmässig mit den Jahreszeiten wiederholen — aus denen sind die Feste geworden." Altäre Jahve's fanden sich allenthalben, daneben heilige Steine und Bäume, grüne sowohl als künsdiche [...]. Der Cultus war einst sehr einfach gewesen [...]. Seine Höhepunkte waren die Erntefeste, Ostern, Pfingsten und besonders das Herbstfest der Lese am Schluss des Jahres. 16 Im Fragment 14 [13] und in AC 25 wird also eine Anschauung des hebräischen Altertums übernommen, die sich von der Sichtweise der damaligen Antisemiten stark abhob, die den Gegensatz des „ackerbauenden Ariers" zum „nomadisirenden Semiten" betonten 17 . Denn die Vorstellung einer auf Freude an der Natur und am Zyklus der Jahreszeiten gründenden hebräischen „Bauern"-Religion macht ein zentrales Argument hinfällig, mit dem die .arische* Rassenüberlegenheit begründet werden sollte:

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14[13] (Frühjahr 1888); KSA 13, S. 223. Zum Verhältnis Wellhausen-Nietzsche siehe die interessante Untersuchung von M. Ahlsdorf: Nietzsches Juden, a.a.O. 14 J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 79. 15 Ebd., S. 92. 16 J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 42-44. 17 C. F. Glasenapp: „Das Gesetz des Nomadenthums", in: Bayreuther Blätter 10 (1887), S. 97-113; A. Wahrmund: Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft, Karlsruhe u. Leipzig 1887.

322

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Das charakterisierende Merkmal der semitischen Rasse ist das Nomadentum, das der Indogermanen die auf dem Ackerbau beruhende Seßhaftigkeit.18

Dem Ineinanderfließen von Irdischem und Göttlichem, von Geistlichem und Weltlichem („Der Gottesdienst war im hebräischen Altertum Natur, [...] die Blüte des Lebens"), das nach Wellhausen das Wesen der „hebräischen Volksreligion" ausmacht, sei später durch das ,Deuteronomium' und durch das „Gesetz, welches alle Opferstätten mit einer Ausnahme aufhob", ein Ende bereitet worden. Im Mittelpunkt des Gottesdienstes habe nicht länger die Verherrlichung des Irdischen, die Freude an der Fruchtbarkeit des Bodens und am Jahreskreislauf gestanden, der Inhalt habe zugunsten der Form, des nun in der Ferne sich abspielenden Ritus an Bedeutung verloren: „Man lebte in Hebron, man opferte in Jerusalem, Leben und Gottesdienst fielen auseinander [...]. Die Seele war entwichen, die Schale geblieben [...]. Die Mannigfaltigkeit der Riten trat an die Stelle der individualisierenden Anlässe; die Technik ward Hauptsache, die vorschriftsmässige Ausführung nach den Regeln der Kunst."19 Der .Priestercodex' habe sodann die „Uniformierung" und „Denaturalisation der Feste" sanktioniert, und im Laufe eines Normierungsprozesses („Nichts frei und naturwüchsig, nichts [...] noch im Werden, alles statuarisch") seien die Kulthandlungen ihrer konkreten Bestimmungen, ihres ursprünglichen Bezugs auf die zu feiernden Naturkräfte verlustig gegangen: Damit verlieren die Feste vollends ihre eigentlichen Charakteristica, ihre beseelenden und unterscheidenden Anlässe; durch das Einerlei der ewigen Brand- und Sündopfer der Gesamtgemeinde werden sie alle einander gleich gemacht, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und zu Exercitien der Religion degradiert.20

3. Oer Begriff

„Volksgott"

Der zentrale Aspekt in Wellhausens Geschichtsbetrachtung, die Darstellung einer althebräischen Tradition, die von dem nachexilischen Ideal einer vermeintlich vorexilischen Theokratie abweiche, hat auch an anderen Stellen im „Antichrist" Niederschlag gefunden. So ist Nietzsches Begriff „Volksgott", welcher in AC 16 und 17 der „Kritik des christlichen Gottesbegriffs" zugrundeliegt, dem Werke des Orientalisten entlehnt.

Antisemitische Correspondent 36 (1. Oktober 1888), S. 8. Siehe auch A. Wahrmund: Oer Kulturkampfzwischen Asien und Europa. Ein Beitrag zur Klarlegung des heutigen Standes der orientalischen Frage, Berlin 1887, S. 10: „Der Arier erscheint überall als seßhafter Ackerbauer, und wenn er einmal wandert, so geschieht es, um von Neuem feste Wohnsitze zu suchen. Der Ackerbau ist aber die Grundlage aller dauernden Kultur und Staatenbildung [...]." 19 J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 80 f. 20 Ebd., S. 107 u. 103 f. 18

Der Begriff „Volksgott"

323

In Abschnitt 16 stellt Nietzsche den „Volksgöttern", die Ausdruck historischer Gegebenheiten und somit Personifikationen des „Willens zur Macht" seien, den .entwurzelten' Gott der Christen gegenüber („Er wird [...] Gott für Jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit"). Nietzsche gibt an dieser Stelle weder den Hintergrund noch die konkreten Anhaltspunkte seines Gedankenganges zu verstehen . Ein Textvergleich zeigt aber, daß hinter der „ Verurtheilung des Christenthums " die Bejahung der damals von Wellhausen dargelegten kanaanitisch-hebräischen Tradition, d. h. des „heidnischen" Erbes Israels, steht. In den „Prolegomena" ist von dem „Gott des Volkes" der „alten Hebräer" die Rede, aus dem in der nachexilischen Zeit ein „Weltgott" und mit der nachdeuteronomischen Gesetzgebung ein „blasser Gott der Abstraction"21 geworden sei. In seiner Schrift „Reste arabischen Heidentumes" führt Wellhausen, im Rahmen eines Vergleichs der mohammedanischen mit der jüdischen Religion, den Terminus „Volksgott" ein: In dem Masse wie die verschiedenen Götter zu blossen Namen herabsinken, wird der gemeinsame Begriff lebendig: aus dem Verfall des Polytheismus geht Allah hervor. Bei den Hebräern hat der Volksgott die Fülle der Götdichkeit aufgesogen, ohne sein Wesen als Volksgott und seinen dadurch bedingten historisch-realistischen Inhalt aufzugeben; Allah, kein Eigenname, hat einen viel abstrakteren Charakter. 22

In Abschnitt 17 hält Nietzsche Renan entgegen, daß „die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom ,Gotte Israels', vom Volksgotte zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten" nicht als Fortschritt, sondern als Niedergang zu werten sei. Was bei der Lektüre des Abschnitts 16 nicht offensichtlich war, wird an dieser Stelle deutlich, nämlich daß die Thematik der „Volksgötter" sich aus der Auseinandersetzung mit Wellhausens Beschreibung des vorexilischen Brauchtums in Israel ergibt 23 . Das althebräische Weltbild findet auch an einer anderen Stelle des Abschnitts 16 eine positive Bewertung, und zwar im Hinblick auf die Religion als Ausdruck der Dankbarkeit: Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, — es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. 24

21 22

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24

Ebd., S. 322. J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 3. Heft: Reste arabischen Heidentumes, Berlin 1887, S. 184. In Nietzsches Exemplar ist dieser Abschnitt mehrfach unterstrichen. Siehe auch den folgenden Passus aus Skizzen und Vorarbeiten (1. Heft, a.a.O., S. 44): „Nicht Gott und Welt, nicht Gott und Mensch, sondern Gott und Volk waren die Correlate." Auch der Begriff „hebräische Volksreligion" erscheint hier (S. 79). Weiter heißt es in diesem Aphorismus: „Ein solcher Gott muss nützen und schaden können, muss Freund und Feind sein können [...]." Hier wird auf J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 3. Heft,

324

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Diese Darstellung einer auf „Dankbarkeit" basierenden Religion ist zweifelsohne durch Wellhausens These inspiriert, im althebräischen Gottesdienst sei das „Dankopfer" das Wesentliche gewesen. Im Opferwesen der Israeüten sei „das Ritual [...] nicht die Hauptsache", in der vorexilischen Zeit das Verdienst des Gläubigen nicht „von der genauen Beobachtung der Etikette" abhängig gewesen25. Auch die Art der Opfergabe und die Eigentümlichkeit des Rituals haben damals die Dankbarkeit bezeugen sollen, seien dagegen als Sühnemittel ganz und gar untauglich gewesen. Tatsächlich, so Wellhausen, entspricht es der Naivetät des Altertums, dass so wie an die Menschen, so an Gott vorzugsweise Essbares geschenkt wird — wobei noch hinzukam, dass man auf diese Weise zurückgab, was er hatte wachsen lassen. Die regelmässige Form ist dabei die, dass man ein Mahl ihm zu Ehren veranstaltet, woran der Mensch als Gast Gottes teilnimmt. Das Opfer schlechthin ist stets ein Ess- oder Trinkopfer. Darum wird der Altar auch Tisch genannt [...]. Daher auch der Name Brot Jahve's für das Opfer (Lev. 21. 22). 26

Weiter heißt es in den „Prolegomena", daß in der nachexilischen Zeit, als „der Tempel zerstört, der Cultus vorbei, das Personal ausser Dienst [war]", eine allmähliche „Codification" des Opferrituals stattgefunden habe: „Aufdiescrupulose Ausführung des Gesetzes, d. i. des Ritus, ward vor allem gesehen".27 Das „Mahlopfer", an dem die Menschen teilnahmen und „ehedem bei weitem die Hauptsache" , sei zugunsten von Opferformen zurückgetreten, „bei denen der gottesdienstliche Charakter abstract, d. h. möglichst rein und ohne natürliche Beimischung hervortrat, von denen Gott Alles und der Mensch nichts hatte: Brand- Sünd- und Schuldopfer" 28 . Mit dem .Priestercodex' vollende sich diese radikale Umgestaltung: Nichts ist so bezeichnend für den Gegensatz des neuen Cultus zum alten: wie er überall auf die Sünde und die Sühne sein Absehen richtet, so läuft er auch in ein grosses Sündensühnfest als in seine Spitze aus. 2 '

Im nachexilischen Judentum lebe auf diese Weise „die Stimmung des Exils", eine streng asketische Religionsauffassung fort:

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26 27 28 29

a.a.O., S. 218, Bezug genommen: „Es wäre wol der Mühe wert gewesen, ausdrücklich hervorzuheben, dass in dem Begriff der göttlichen Macht und Herrschaft — besonders Allahs — bei den Arabern ebenso wie bei den alten Hebräern die Fähigkeit zu nützen und zu schaden immer vereint, und nichts von Dualismus zu verspüren ist". Die nämliche Stelle geht auch ins Fragment 11 [287] (November 1887-März 1888), KSA 13, S. 112, ein (siehe dazu KSA 14, S. 755). J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 58-61. Ebd., S. 64. Ebd., S.63. Ebd., S. 81. Ebd., S. 116.

Der stolze Heidengott

325

In dem Masse wie die speziellen Anlässe und Zwecke der Opfer wegfallen, tritt ein gleicher allgemeiner Anlass hervor, die Sünde, und ein gleicher allgemeiner Zweck, die Sühne. 30

An Wellhausens Darstellung des hebräischen Dankopfers, das im vorexilischen Zeitalter bestimmend war und danach immer mehr an Bedeutung verlor, orientiert sich Nietzsche in Abschnitt 16 von „Antichrist", so läßt sich zusammenfassend sagen, wenn er von dem Dankbarkeitsgefiihl spricht, das die Religion eines „ stolzen Volkes" kennzeichne.

4. Der stolze Heidengott, der Zorn und Rache kennt Nietzsches Auseinandersetzung mit Wellhausen soll hier noch in einer weiteren Hinsicht nachgegangen werden. Als Gegenbild zum „christlichen Gottesbegriffe" malt Nietzsche, und zwar ebenfalls in AC 16, einen affektgeladenen, oft gereizten und aufgebrachten Gott, der in seinem Handeln unbesonnen und impulsiv sei und somit „die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes" darstelle („Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewaltthat kennte?"). Die Thematik wird in dem darauf folgenden Abschnitt weitergeführt. Vor dem Aufkommen der „Gottheit der decadence" habe „die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes" noch nicht existiert. Dem althebräischen „Volksgotte" wird in AC 17 der spätere jüdische „Gott der Winkel, [...] aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt" entgegengestellt. Bei der Lektüre der Abschnitte AC 16 und 17 könnte es entgehen, daß die ganze Schilderung des zornigen und unberechenbaren „stolzen Heidengottes", Ausdruck von Kulturen, in denen „alles Starke, Tapfere, Herrische [...] aus dem Gottesbegriffe" noch nicht „eliminirt" worden war, eine Verarbeitung von Thesen über die älteste hebräische Tradition ist, die Nietzsche bei Wellhausen fand, welcher schreibt: Seher und Propheten schauten mit dem zweiten Gesicht, was Jahve that; es gab aber keine Gottesgelehrsamkeit, die ihn nüchtern construierte. Er war zu real, zu jugendlich und gewaltig [...]. Jahve hatte unberechenbare Launen, er liess sein Antlitz leuchten und zürnte man wusste nicht warum, er schuf Gutes und schuf Böses, strafte die Sünde und verleitete zur Sünde — der Satan hatte ihm damals noch keinen Teil seines Wesens abgenommen. Bei alle dem wurde Israel doch nicht an ihm irre. Es waren eben im Ganzen bisher gute Zeiten gewesen [...]. Jahve der Gott der Mächte. Zornig, zerstörend macht sich die heilige Realität geltend; sie vernichtet allen Schein und alles Eide. 31

30 Ebd., S.83. 3 1 J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 45-49. Der Verweis auf,Satan' ist insofern interessant, als auch Nietzsche in AC 17 von der Aufspaltung Gottes in den „guten Gott" und den „Teufel" spricht.

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IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Damals habe, sagt Wellhausen an anderer Stelle, der Gedanke ferngelegen, dass eine b e s t i m m t e Schuld d u r c h ein vorgeschriebenes O p f e r gesühnt w e r d e n m ü s s e u n d k ö n n e [ . . . ] ; für das hebräische Altertum w a r der Z o r n G o t t e s etwas völlig U n b e r e c h e n b a r e s , m a n kannte nie seine U r s a c h e n , geschweige dass m a n im v o r a u s die Sünden h ä t t e angeben k ö n n e n , die ihn erregen u n d nicht erregen. I m allgemeinen fand eine obligate B e z i e h u n g der O p f e r zur S ü n d e d u r c h a u s nicht statt. 3 2

5. Antisemitische „Kindereien" Nach Wellhausen genossen die Hebräer in der älteren .volkstümlichen' Zeit der israelitischen Religionsgeschichte, d. h. vor dem salomonischen Tempelbau,„die Freiheit, überall zu opfern", und verfügten über eine „Vielheit der Altäre und heiligen Orte", ohne jede „Beschränkung des Cultus auf einen einzigen auserwählten Ort" 33 . Es sei damals üblich gewesen, daß „jeder für sich und sein Haus" opferte, und eine besondere Priesterkaste, der der Gottesdienst als Sonderrecht obläge, habe nicht existiert. Die „politische Centralisation" in der Königszeit habe „den Antrieb zu einer grösseren Centralisation auch des Gottesdienstes" gegeben, welche der „kräftigste Hebel zur Beförderung der Hierokratie" gewesen sei. Der ganze epochemachende Vorgang, der im ,Deuteronomium' und in dem ,Priestercodex' Ausdruck gefunden habe, wird von Wellhausen, seinem Zivilisationspessimismus gemäß34, als „Denaturalisierung des Cultus" bezeichnet. In seinen Augen lag hierin vor allem eine „vollständige Uberwindung des kanaanitischen Ingrediens der Religion Jahve's"35. Wellhausens Interesse ist im wesentlichen auf den Nachweis der These gerichtet, daß in der nachexilischen Zeit, nachdem „der natürliche Zusammenhang mit den Zuständen des Altertums gewaltsam und gründlich durchschnitten war", eine „Idealisierung Juda's", eine „durchgreifende Umbildung, ja Neugestaltung der Tradition" unternommen worden sei36. Die später hinzugetretenen Elemente seien Projektionen im Sinne einer „Judaisierung der Vergangenheit"37. Wellhausen ist es

32

J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 84. Für Nietzsche kommt es in der jüdischen Tradition erst dann zu jenem „stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn", von dem in AC 2 6 die Rede ist, als Jahve kein unberechenbarer und,stolzer Heidengott' mehr gewesen sei. Wenn man die Ausführungen von AC 16 und 17 über den „Volksgott" gegenwärtig hält, so wird man H. Cancik („Judentum in zweiter Potenz'. Ein Beitrag zur Interpretation von Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist'", a.a.O., S. 61) kaum darin zustimmen können, daß „Der Antichrist" lediglich eine Antithese von jüdischer „Entnatürlichung" und einem „reduzierten und verformten Griechentum" aufbaue.

J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 17 ff. M. Ahlsdorf: Nietzsches Juden, a.a.O., S. 87-90. 35 J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 70 f. 36 J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 51 u. 198. 37 Ebd., S . 2 3 3 . 33

34

Antisemitische „Kindereien"

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um den Nachweis zu tun, daß die „nachexilischen Schriftsteller [...] von ihren Ideen aus aufs freieste mit den Einrichtungen des israelitischen Altertums schalten" 38 . Das .Deuteronomium' sei von der „Sorge für [...] die Entfernung volkstümlichheidnischer Elemente aus dem Gottesdienste" bestimmt. Durch den .Priestercodex' werde glauben gemacht, daß die „Cultuseinheit", die „Concentration des Gottesdienstes", schon in den ältesten Zeiten unangefochten bestanden habe 39 . Die ,Chronik', so Wellhausen weiter, „denkt sich das alte hebräische Volk genau nach dem Muster der späteren Gemeinde, als einheitlich gegliederte Hierokratie, mit einem streng centralisierten Cultus " 40 —auch in diesem Falle werde die urwüchsige Vergangenheit von der „spätjüdischen Phantasie" verfälscht: Was hat die Chronik aus David gemacht! Der Gründer des Reichs ist zum Gründer des Tempels und des Gottesdienstes geworden, der König und Held an der Spitze seiner Waffengenossen zum Kantor und Liturgen an der Spitze eines Schwarmes von Priestern und Leviten, seine so scharf gezeichnete Figur zu einem matten Heiligenbilde, umnebelt von einer Wolke von Weihrauch. Dass es vergeblich ist, die grundverschiedenen Bilder stereoskopisch zusammenzuschauen, leuchtet ein; historischen Wert hat nur die Tradition der älteren Quelle. In der Chronik ist dieselbe dem Geschmack der nachexilischen Zeit gemäss vergeistlicht, welche für nichts mehr Sinn hatte als für den Cultus und die Thora, welche daher der alten Geschichte [...] fremd gegenüber stand, wenn sie sie nicht ihren Begriffen assimilierte und zur Kirchengeschichte umgestaltete.'11

Wellhausen ist sich bewußt, daß das von ihm beschriebene kanaanitisch-hebräische Weltbild für die zeitgenössische, in hergebrachten Topoi befangene alttestamentliche Philologie eine Terra incognita ist. Er behauptet: „Was der gewöhnlichen Vorstellung als der spezifische Charakter der israelitischen Geschichte erscheint und derselben vorzugsweise den Namen der heiligen Geschichte eingetragen hat, beruht zumeist auf nachträglicher Ubermalung des ursprünglichen Bildes." 42 Und an einer anderen Stelle heißt es: „Hierokratische Neigungen hat das hebräische Altertum gar nicht; die Macht ist lediglich bei den Geschlechts- und Familienhäuptern und bei den Königen, sie verfügen auch über den Gottesdienst und setzen die Priester ein und ab."43

Ebd., S. 52. Weiter heißt es (S. 167): „Es ist bekannt, dass es nie dreistere Geschichtsmacher gegeben hat als die Rabbinen". 39 Ebd., S. 37-40. An anderer Stelle behauptet Wellhausen (S. 129-130): „In Wahrheit ist es [...] ein Beweis der nachexilischen Abfassung des Priestercodex, dass er die Priester des Centraiheiligtums [...] zu Söhnen Aharons macht. Er führt dadurch ihren Ursprung hinauf bis zur Stiftung der Theokratie und lässt sie als die legitimen [Priester] seit je erscheinen. Diese Meinung nun konnte vor dem Exil nicht gewagt werden." to Ebd., S. 197. Ebd., S. 189. 12 Ebd., S. 308. 43 J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 5. 38

328

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Ein zentraler Aspekt von Wellhausens Untersuchung soll hier betont werden. Indem er die genannten Elemente — Mangel einer hierarchischen Struktur, Vorherrschaft des Dankopfers im Gottesdienste, Religion als Verherrlichung der eigenen Machtstellung und der Freigebigkeit der umgebenden Natur, Glauben an einen Jugendlichen' und unbesonnenen Gott — als Eigentümlichkeiten des hebräischen Altertums herausarbeitet, untergräbt er nicht nur die traditionelle Auffassung von der israelitischen Geschichte, sondern zeigt gleichzeitig die Unhaltbarkeit einiger damals gängiger Motive, die die wissenschaftliche' Grundlage der antisemitischen Theorien bildeten. Wellhausen spricht diese Folgerungen aus seinen Studien explizit aus: Der wahre Inhalt des Gottesbegriffs ist bei den Semiten überall die Herrschaft [...]. Der übliche Titel der Gottheit bei den Arabern ist alRabb, beziehungsweise Rabbi, Rabbuka u. s. w.; seltener wird alMalik gesagt. Die Verehrer des Gottes nennen sich seine Knechte; Gottesdienst ist der gewöhnliche Ausdruck für den Kultus. Der sich jetzt mit der heillos abstrakten Antithese von Semiten und Indogermanen so breit machende wissenschafdiche Antisemitismus hat daraus Kapital geschlagen, um die knechtische Gesinnung der Semiten gegenüber der Gottheit zu beweisen. Um Gesinnung handelt es sich aber weniger, als um Diensdeistungen, Liturgien, beim Gottesdienste. Von trotziger freier Gesinnung, selbst gegen ihre Götter, haben wenigstens die Araber eher zu viel als zu wenig gehabt. Die semitische Knechtschaft war auch sehr verschieden von der römischen Sklaverei. Ausserdem scheinen sich die Araber ebenso wol Söhne, wie Knechte der Gottheit genannt zu haben; wenigstens in den Stammnamen. Es ist schierer Zeitverlust, solche Kindereien widerlegen zu müssen. Ist etwa auch der deutsche Gottesdienst, oder der deutsche Stolz der Treue im Herrendienst Servilismus?44 Der Hintergrund dieser scharfen Polemik gegen die antijüdischen „Kindereien" verdient näher betrachtet zu werden. In ihren vulgären Reden behaupteten die Antisemiten immer wieder, den Juden fehle jedes „Verständnis für reales Leben [...], wenn es nicht in Wechseln, Zinsabschnitten und Mark seine Darstellung findet" 45 , sie seien Träger einer „dämonischen" Zivilisation „der Gewalt und List, der Herrschaft und des Handels" 46 . Die „jüdische Knechtsimagination", so E. Dühring in einer damals ziemlich bekannten Schrift, sei für das grandiose Schauspiel der Naturkräfte „von Urbeginn an" blind, sie kenne keine freien Menschen und daher auch keine relative Selbständigkeit der einzelnen Naturbereiche und Naturdinge. Alles ist Creatur und Knecht [...]. Die Erdichtung vieler Götter [...], über denen [...] das allumfassende Schicksal stand,—diese griechische Conception war

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45 46

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 3. Heft, a.a.O., S. 169. Nietzsche hat diese Passagen in seinem Exemplar vielfach unterstrichen. P. de Lagarde: Mittheilungen, Bd. 2, Göttingen 1887, S. 346. Η. v. Wolzogen: Die Religion des Mitleidens und die Ungleichheit der menschlichen Racen, Bayreuth 1882, S. 47.

Antisemitische „Kindereien"

329

etwas, was mit der wahren Natur der Dinge und mit der Freiheit unvergleichlich besser stimmte, als die ausdörrende, alles eigne Leben verschlingende Einheit des abstracten Israelismus. Diese abstracte Gotteseinheit ging aber aus dem Keime der Monopolsucht und jenes Trachtens hervor, welches auf die Knechtung vor Allem hinausläuft. Der Jude kennt in Wahrheit nur Knechte und Oberknechte [...]. Die nordischen Götter und der nordische Gott sind etwas, was einen Naturkern hat [...]. Hier hat eine Phantasie gewaltet, die unvergleichlich über die jüdische Knechtsimagination erhaben war.47 Hier zeigt sich, daß im deutschen Antisemitismus der 80er Jahre ein Motiv aufkommt, das E. Renan bereits in seinen Schriften der 50er Jahre formuliert hatte. Der Judengegner Dühring versäumt nicht, den „den Juden wahrlich nicht feindlichen Renan"48 zu zitieren, hatte doch auch er behauptet, den Semiten mangele es an Sinn für die Vielfältigkeit der Natur: Je suis [...] le premier ä reconnaitre que la race semitique, comparee ä la race indoeuropeenne, represente reellement une combinaison inferieure de la nature humaine [...]. La conscience semitique est claire, mais peu etendue; eile comprend merveilleusement l'unite, eile ne sait pas atteindre la multiplicite [...]. Cette race n'a jamais con$u le gouvernement de l'univers que comme une monarchie absolue [...]; les grandeurs et les aberrations du polytheisme lui sont toujours restees etrangeres [...]. Les Semites ne comprirent point en Dieu la variete, la pluralite, le sexe [...]. La nature, d'un autre cote, tient peu de place dans les religions semitiques: le desert est monotheiste; sublime dans son immense uniformite, il revela tout d'abord a Phomme l'idee de l'infini, mais non le sentiment de cette vie incessamment creatrice qu'une nature plus feconde a inspire ä d'autres races [...]. L'intolerance des peuples semitiques est la consequence necessaire de leur monotheisme.49 In der antisemitischen Propaganda der Zeit, die Nietzsche sicherlich bekannt war, herrschte das Bild des „schlauen Semiten" vor, dessen Grundeigenschaft „Arbeitsscheu" sei, und dessen Gegenwart die Gefahr einer unheilvollen „Infektion" der durch „Kraft und Ausdauer in schwerer Arbeit" ausgezeichneten „arischen Völker" mit sich bringe, die „auf Treuwort und Glaubwürdigkeit das höchste Gewicht legten"50. Es fehlte natürlich auch nicht an Versuchen, eine solche Verdammung .wissenschaftlich' zu begründen. So wird ζ. B. die Sprachwissenschaft in Anspruch genommen, die einen Beweis der Rassenüberlegenheit der .aktiven' Arier liefern sollte: „Die Sprache des Ariers hat ihre Weisheit auch darin bewährt, dass sie das Erzeugen und das Erkennen mit der selben Urwurzel (gan, germ, kun) bezeichnet.

47

48

49

50

E. Dühring: Die Judenfrage als Racen- Sitten- und Culturfrage, Karlsruhe u. Leipzig 1881, S. 30-32. Siehe auch C. Cobet: Oer Wortschatz des Antisemitismus in der Bismarckzeit, München 1973. E. Dühring: Die Judenfrage, a.a.O., S. 46 f. Siehe auch R. Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München 1985, S. 65 f. E. Renan: Histoire generale et systeme compare des langues semitiques, premiere partie, troisieme edition, Paris 1863, S. 4-7. Die erste Ausgabe des Werkes wurde 1855 veröffentlicht. C. R.: Jüdische Klugheit", in: Antisemitische Correspondenz 9 (Januar 1887), S. 1 f.

330

IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Dieser Wurzel entsprangen: der genius und die gens, die Künne (Familie) und die Kunst, der König und der Künstler, die Erkenntniss und das Kind." 51 Auch das Arbeitsethos als .untrügliches' Merkmal der uralten „ackerbauenden" Arier fand einen,Beleg' in der Sprachwissenschaft, derzufolge die „innere, geistige Seite dieses Typus [...] sich in dem Namen der Arier selber aus[drückt], welcher der Wortwurzel nach die edelen Männer, diese speziell aber als die Ehrenmänner, und die Ehre wiederum in's Besondere als die Treue bezeichnet. Die arische Wurzel ar bedeutet ursprünglich verbinden, zusammenfügen, zusammenhalten, und hieraus entwickelt sich, wie aus unserem verwandten Begriffe des Treffens, über den der Treue, der des Trefflichen, Edelen."52 Zwischen solchen Betrachtungen, die antijüdische Gemeinplätze auf eine gelehrte Grundlage stellen sollten, und den Forschungen von Wellhausen, die in eine Würdigung des „volkstümlichen" heidnisch-kanaanitischen Erbes Israels münden, besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Der Orientalist, der in den „Skizzen" die antisemitischen „Kindereien" und die grotesken Spekulationen über die „knechtische Gesinnung der Semiten" vehement ablehnt, macht auch in den „Prolegomena" kein Hehl daraus, daß ihn das alte Israel fasziniere—eine zustimmende Sichtweise, die später in Nietzsches „Antichrist" Eingang findet: [Nietzsche] [...] aus den mächtigen, sehr frei gerathenen Gestalten der Geschichte Israels [...]. (AC 26)

[Wellhausen] [...] so tritt doch an der Geschichte des alten Israels nichts mehr hervor als die ungemeine Frische und Natürlichkeit ihrer Triebe. Die handelnden Personen treten durchweg mit so einem Muss ihrer Natur auf, die Männer Gottes nicht minder wie die Mörder und Ehebrecher; es sind Gestalten, die nur in freier Luft geraten. 53

6. Die Etablierung der jüdischen Theokratie Im Spätwerk bezeichnet Nietzsche die Juden als das „Volk des Ressentiment par excellence" (GMII16). Fast gleichzeitig jedoch gelangt er durch Wellhausen—wie eine Analyse von AC 16 und 17 ergibt — zu der Überzeugung, daß in der älteren hebräischen Religion „die Jasagenden Affecte" 54 , und nicht „die Instinkte 51 52

53

Η. v. Wolzogen: „Urgermanische Spuren", in: Bayreuther Blätter 10 (1887), S. 392. H. v. Wolzogen: Die Religion desMitleidens, a.a.O., S. 54 f. Zu den verschiedenen Deutungen des Terminus „Arier" in den Jahren 1847-1880 sieheK. Penka: OriginesAriacae. Linguistisch-ethnologische Untersuchungen zur ältesten Geschichte der arischen Völker und Sprachen, Wien u. Teschen 1883, S. 34-37. Zu Nietzsches etymologischen Erklärungen siehe H. Böhringer: „Nietzsche als Etymologe. Zur Genealogie seiner Wertphilosophie", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1 (1982), S. 4157. J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 437. In Fragment 11 [377] (November 1887-März 1888; KSA 13, S. 169-174) exzerpiert Nietzsche die Seiten aus Wellhausens Werk, in denen sich der zitierte Passus findet, doch überträgt er gerade diesen nicht. 14[11] (Frühjahr 1888); KSA 13, S. 222.

Die Etablierung der jüdischen Theokratie

331

Unterworfner und Unterdrückter" (AC 21) zum Ausdruck kommen. Bei seiner Wellhausen-Lektüre wendet Nietzsche, was insbesondere die zentralen Abschnitte 25 und 26 von „Antichrist" zeigen, seine Aufmerksamkeit besonders jenen Teilen des Werkes zu, in denen der nachexilische Niedergang jener urwüchsigen Religion (in der Terminologie der „Prolegomena": die „Entnatürlichung" und „Vergeistlichung des Gottesdienstes") analysiert wird. Die „heidnische" Volksreligion sei, so Wellhausen, den Juden im Exil abhanden gekommen: Der Begriff einer „universalen Gemeinde [...] ist dem hebräischen Altertum fremd, durchdringt aber den .Priesterkodex' von vorn bis hinten"". In der veränderten Lage trete Gott, so faßt Nietzsche Wellhausen zusammen, als „grosser Cosmopolit" und „Privatmann" auf56. Obwohl launisch, sei der ältere „Volksgott" kanaanitischen Ursprungs immer darauf bedacht gewesen, den Einheimischen Beistand zu leisten. Der ,neue' Gott dagegen zeige gegenüber den Bedürfnissen und Schwierigkeiten der Menschen zunehmend Gleichgültigkeit und stelle strenge Anforderungen an sie: [Nietzsche] Ein Gott, der fordert — an Stelle eines Gottes, der hilft [...]. (AC 25)

[Wellhausen] Gott bedeutete Helfer, das war der Begriff des Wortes. Hilfe, Unterstützung in irdischen Angelegenheiten wurde von Jahve erwartet, kein Heil im christlichen Sinne [...]. Die Hauptsache war, dass Jahve Regen und Sieg verlieh [...]. In dem Segen des Feldes schmeckte und sah man die Freundlichkeit Jahve's.57 [Wellhausen] [...] die Thora Jahve's, die ursprünglich wie all sein Thun unter den Begriff des Helfens, nämlich des Rechtschaffens, des Wegzeigens, der Lösung verwickelter Fragen, gefallen war, wurde jetzt aufgefasst als der Inbegriff seiner Forderungen, von deren Erfüllung seine Beziehung zu Israel alleine abhing.'8

55 56

57 58

J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 81. AC 16-17. Nietzsches Begriff „Privatmann" (AC 16) ist der Terminologie Wellhausens entlehnt. Dieser hebt in Skizzen und Vorarbeiten (1. Heft, a.a.O., S. 87) die zunehmende Bedeutung des „kleinen Privatcultus" in der nachdeuteronomischen Gesetzgebung hervor: „Die Restauration des Judentums geschah in der Form einer Restauration des Cultus [...]. Der grosse öffentliche Cultus gab der neuen Theokratie einen festen, einheitlichen Mittelpunkt [...]. Wichtiger war aber der kleine Privatcultus frommer Übungen; er diente dazu, jeden Einzelnen und sein ganzes Leben zu judaisieren. Denn der Schwerpunkt des Judentums lag im Individuum. Aus zerstreuten Elementen war es gesammelt, es beruhte auf der Arbeit des einzelnen, sich selbst zum Juden zu machen, das ist das Geheimnis seiner Selbstbehauptung auch in der Diaspora [...]. Durch die Sühn- und Schuldopfer und durch den grossen Versöhnungstag trat dieser Privatcultus in Verbindung mit dem Tempelcultus [...]". J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 44 f. J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 443. Nietzsche exzerpiert diesen Abschnitt in Fragment 11 [377] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 171.

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IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Seit den Zeiten des Arnos und des Hosea und der „neuen Phase der Prophetie", die mit ihnen begonnen habe, bezeichne die Formel „Gehorsam aller gegen Jahve" die endgültige Niederlage des kanaanitischen Kultes: [Nietzsche] Sie haben aus den mächtigen, sehr frei gerathenen Gestalten der Geschichte Israels, je nach Bedürfniss, armselige Ducker und Mucker oder .Gottlose' gemacht, sie haben die Psychologie jedes grossen Ereignisses auf die Idioten-Formel ,Gehorsam oder Ungehorsam gegen Gott' vereinfacht. (AC 26)

[Wellhausen] Als die Hauptsünde des Volkes [...] erscheint [Hosea] derkanaanitische Cultus, wegen der damit verbundenen Unzucht und wegen seines unbewussten und um so schreienderen Widerspruchs gegen das heilige Wesen Jahve's. Eine zweite und nicht geringere Schuld aber ist die politische Zersetzung, die Anarchie [...] — das wahre Mittel, dem Kriege Aller gegen Alle zu steuern, wäre der Gehorsam aller gegen Jahve, wenn sie nur seine Gebote kennten und ihn nicht mit Opfern suchten!59 [Wellhausen] Man glaubt [Jahve] nicht mit dem Inhalt der Gabe eine Freude und einen Genuss zu bereiten; was ihm wohlgefällt und was Wirkung hat, ist nur die strikte Ausführung des Ritus [...]. Aus innerem Trieb erwächst der Cultus nicht mehr, er ist eine Übung der Gottseligkeit geworden [...]. Wenn nun das Wertvolle bei den heiligen Darbringungen nicht in ihnen selber, sondern in dem Gehorsam gegen Gottes Vorschriften lag, so ward der Schwerpunkt des Cultus aus ihm selber heraus und in ein fremdes Gebiet, das der Moral, hinein verlegt. Die Folge war, dass die Opfer und Gaben zurücktraten hinter ascetischen Leistungen, die mit der Moral in noch engerer und einfacherer Verbindung standen.60

In der Zeit Arnos' trete unter den Juden zum ersten Male die Anschauung einer „sittlichen Weltordnung" hervor. Auch dieser Terminus, der bei Wellhausen ein einziges Mal vorkommt, erscheint in „Der Antichrist", wo er in den Abschnitten 25, 26 und 49 eine zentrale Rolle spielt: [Nietzsche] Der alte Gott konnte nichts mehr von dem, was er ehemals konnte [...]. Was geschah ? Man veränderte seinen Begriff 59 60

[Wellhausen] Sie nahmen den Begriff der Welt, der die Religionen der Völker zerstörte, in die Religion auf, ehe er noch recht in das

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 55. J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 450.

Die Etablierung der jüdischen Theokratie

[...]: jene verlogenste Interpretations-Manier einer angeblich,sittlichen Weltordnung', mit der, ein für alle Mal, der Naturbegriff .Ursache' und .Wirkung' auf den Kopf gestellt ist [...]. Und der Kirche sekundirten die Philosophen: die Lüge .der sittlichen Weltordnung' geht durch die ganze Entwicklung selbst der neueren Philosophie. Was bedeutet .sittliche Weltordnung'? Dass es, ein für alle Mal, einen Willen Gottes giebt, was der Mensch zu thun, was er zu lassen habe; dass der Werth eines Volkes, eines Einzelnen sich darnach bemesse, wie sehr oder wie wenig dem Willen Gottes gehorcht wird [...]. Denn dies muss man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichts-Ordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung [...] wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der .sittlichen Weltordnung') grundsätzlich werthlos, werth-widrig gemacht [...]." [Nietzsche] Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze ,sitdiche Weltordnung' ist erfunden gegen die Wissenschaft, — gegen die Ablösung des Menschen vom Priester... (AC 49)

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profane Bewusstsein eingetreten war. Wo die Anderen den Zusammensturz des Heiligsten erblickten, da sahen sie den Triumph Jahve's über den Schein und über den Wahnglauben [...]. Sie konnten es fassen, dass Jahve das von ihm gegründete Volk und Reich jetzt vernichte [...]. Dadurch wurde Jahve der Gefahr entzogen, mit der Welt zu collidieren und an ihr zu scheitern; die Herrschaft des Rechtes reichte noch weiter als die der Assyrer. Die Moral sprengte, in Folge eines geschichtlichen Anlasses, die Schranken des engen Glaubens, in dem sie aufgewachsen war, und führte den Fortschritt der Gotteserkenntnis herbei. Dies ist der sogenannte ethische Monotheismus der Propheten; sie glauben an die sittliche Weltordnung, an die ausnahmslose Geltung der Gerechtigkeit als obersten Gesetzes für die ganze Welt [...]. Die negative Consequenz ihres ethischen Monotheismus ist ihre Polemik gegen den Cultus, sofern nämlich der Cultus ein Versuch ist, den allgemeinen Bedingungen der Gerechtigkeit zu entgehen und eine Ausnahmestellung zur Gottheit zu erlangen, damit sie von ihrer Strenge zu Gunsten der Opfernden absehe [...]. Sie eröffneten mit aller Macht den Kampf gegen das Heidentum in Israel, welches durch die notwendige Aufnahme der kanaanitischen Bevölkerung eingedrungen war [...]. 62

Wellhausen besteht darauf, daß die Etablierung der nachexilischen Theokratie von dem Verschwinden des Dankopfers und von dem Aufkommen des „Schuld-

61

AC 25 u. 26. Abschnitt 25 (S. 193) geht allerdings nicht allein auf Wellhausens Prolegomena (a.a.O., S. 437-451) zurück, die Nietzsche im Fragment 11[377] (November 1887-März 1888; KSA 13, S. 169-174) exzerpiert hatte (siehe dazu KSA 14, S. 440). Vielmehr werden in diesem Abschnitt auch andere Schriften Wellhausens verarbeitet. Wenn Nietzsche ζ. B. schreibt, daß noch während der assyrischen Herrschaft „das Volk [...] jene Vision eines Königs fest [hielt], derein guter Soldat und ein strenger Richter ist", folgt er hierin Wellhausens Skizzen und Vorarbeiten, wo es heißt (1. Heft, a.a.O., S. 39-41): „Das Königtum bewahrte in Zehnstämmereich notgedrungen seinen kriegerischen Charakter. Unter den damaligen Verhältnissen, bei den ewigen Kriegen, war der Herrscher zuvörderst Soldat [...]. Was man vom Könige erwartete, war, dass er helfe, gegen die Feinde nach aussen und gegen Rechtsbrecher im Innern [...]. Damit war die Aufgabe der Regierung im Ganzen erschöpft. Es gab kein anderes Wort für Regieren als Richten."

62

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 49-52. Die Ausführungen über die sitdiche Weltordnung sind in Nietzsches Exemplar mehrfach unterstrichen.

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IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

und Sühnopfers" gekennzeichnet sei, wodurch es zu einer raschen Zunahme von Steuern und Fleischabgaben für die Priester gekommen sei: [Nietzsche] Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht: — die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn [...]. Der Priester hatte, mit Strenge, mit Pedanterie, bis auf die grossen und kleinen Steuern, die man ihm zu zahlen hatte ( — die schmackhaftesten Stücke vom Fleisch nicht zu vergessen: denn der Priester ist ein Beefsteak-Fresser) ein für alle Mal formulirt, was er haben will, ,was der Wille Gottes ist'... Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, dass der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom Opfer (,der Mahlzeit') zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen: in seiner Sprache zu .heiligen'... (AC 26)

[Wellhausen] Von den Opfern widmete man in alter Zeit einiges der Gottheit, das meiste verwandte man zu heiligen Mahlzeiten, an denen man, wenn ein Priester vorhanden war, natürlich auch diesen in irgend einer Weise teilnehmen liess. Aber einen gesetzlichen Anspruch auf bestimmte Fleischabgaben scheint derselbe nicht gehabt zu haben [...]. Dagegen ist es nun im Deuteronomium ,das Recht der Priester an das Volk' (18,3 = 1. Sam. 2,12), dass ihnen ein Vorderbein, die Kinnladen und der Magen des Opfertieres zukomme; und dies ist noch bescheiden gegenüber den Ansprüchen, die sie nach dem Priestercodex haben, auf die rechte Keule und den Bug (Lev. 7, 34) [...]. Auch der Zehnte ist ursprünglich Gott gegeben und ebenso wie die anderen Opfer behandelt, d. h. nicht von den Priestern, sondern von den Darbringern in heiligen Mahlzeiten verzehrt [...]. Auch in diesem Punkte nun hat das Deuteronomium die alte Sitte im Ganzen unverändert gelassen. Nach 14, 22-29 soll der Zehnte des Feldwuchses [...] von Jahr zu Jahr zum Heiligtume gebracht und [...] als Mahlopfer verzehrt werden; nur in jedem dritten Jahre soll er nicht in Jerusalem geopfert, sondern als Almosen an die des Grundbesitzes entbehrenden Ortsangehörigen gespendet werden, zu denen namentlich die Leviten gehören. Die letztere Verwendung ist eine Neuerung [...]. Das ist aber noch nichts dagegen, dass nun im Priestercodex endlich der ganze Zehnte zu einer blossen von den Leviten einzusammelnden (Neh. 10, 38) Steuer an den Klerus geworden ist, dessen Ausstattung dadurch wiederum sehr beträchdich verbessert wird [...]. Wahrhaft unerhört ist es, dass der Zehnte, der sich der Natur der Sache nach nur von Gegenständen festen Masses, von Korn, Most und Öl versteht (Deut. 14, 23), im Priestercodex auch auf das Vieh ausgedehnt wird, so dass neben den männlichen Erstgeburten auch noch

Die Juden und das christliche Jenseits

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das zehnte Stück von Rindern und Schafen an die Priester gezahlt werden muss [...]. Es ist unglaublich, was am Ende alles abgegeben werden muss [...]. Die Priester bekommen alle Sünd- und Schuldopfer, den grössten Teil der vegetabilischen Zugaben, die Haut vom Brand-, Keule und Bug vom Mahlopfer. Ausserdem die Erstgeburten, sodann Zehnten und Erstlinge in doppelter Form [...].«

7. Die Juden und das christliche Jenseits Um 1888 wird Nietzsches Sicht der hebräischen Tradition auch von Ideen beeinflußt, die ihm Tolstoi mit seinem Buch „Ma religion" vermittelt hatte, das 1885 in französischer Übersetzung in Paris erschienen war 64 . An dieser Schrift beeindruckt Nietzsche, wie AC 33 zeigt, vor allem die Darstellung der „Praktik" Christi, seines gleich von den ersten Jüngern mißverstandenen Evangeliums. Im Anschluß an Tolstoi thematisiert „Der Antichrist" jenen Zug der ursprünglichen „christlichen Praxis", der einen vollkommenen Bruch mit der jüdischen Tradition bedeute. Der „heilige Anarchist" sei die völlige Verneinung des für die Hebräer typischen religiösen Formalismus: [Nietzsche] Dieser Glaube formulirt sich auch nicht — er lebt, er wehrt sich gegen Formeln [...]. — Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen .freien Geist' nennen — er macht sich aus allem Festen nichts [...]. (AC 32)

[Tolstoi] [...] la doctrine de Jesus est par elle-meme une protestation contre toute forme, c'est-a-dire la negation, non seulement du ceremonial judai'que, mais meme de toute espece de culte exterieur.65

[Nietzsche] Das Leben des Erlösers war nichts andres als diese Praktik [...]. Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig — nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buss- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet [...]. (AC 33)

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64

ö

J. Wellhausen: Prolegomena, a.a.O., S. 159-65. Der Nachweis dieser Quelle findet sich bei M. Ahlsdorf: Nietzsches Juden, a.a.O., S. 164 f. Siehe P. Keßler: „Tolstoj-Studien des späten Nietzsche", in: Zeitschriftfür Slawistik 23 (1978), S. 1726; U. Willers: Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion, Innsbruck u. Wien 1988, S. 246 ff. L. Tolstoi: Ma religion, Paris 1885, S. 221.

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I X . Kapitel: Nietzsches Stellung zum J u d e n t u m

Unter einem anderen Gesichtspunkt lasse sich jedoch eine Kontinuität zwischen Jesus und der jüdischen Tradition nachweisen. Der Hang zur „Entnatürlichung", der im nachexilischen Judentum in den Vordergrund getreten sei, drücke sich nämlich auch in Christus selbst aus. Dieser „heilige Anarchist" (AC 27) wurzele so tief im Boden der „Unnatur", der spätjüdischen Geisteshaltung, „dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als .Wahrheiten' nahm, — dass er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand"66. (Am Rande sei bemerkt, daß der Ausdruck „heiliger Anarchist" bei Tolstoi nicht vorkommt, daß jedoch Renan Jesus mit der Bezeichnung „anarchiste" belegt67). Durch seine Schrift bestärkte Tolstoi Nietzsche in einer Anschauung, die er schon durch Wellhausen gewonnen hatte: Indem Christus als „Anti-Realist" und „grosser Symbolist" auftrete (AC 32,34), bleibe er dem Wesen seines Volkes treu, er radikalisiere dasselbe sogar. Das Verhältnis Jesu zum Judentum läßt sich aber auch von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Nietzsche weist in „Der Antichrist" mehrmals darauf hin, daß Christi Lehre trotz alledem „lebensfördernd" gewesen sei, weil sie das Dogma einer individuellen Unsterblichkeit nicht gekannt habe. Diese Feststellung ist im Hinblick auf das Thema .Nietzsche und der Antisemitismus' von eminenter Bedeutung, denn der „lebensfördernde" Aspekt in der Haltung Jesu, sein Abstand von jederlei Spekulation über das Jenseits, sei eben jüdischen Ursprungs. Dies wird von Tolstoi in seiner Schrift an mehreren Stellen herausgestellt, und die diesbezüglichen Betrachtungen, die im Mittelpunkt seines Werkes stehen, finden bei Nietzsche Resonanz. In AC 43 heißt es: Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht in's Leben, sondern in's Jenseits' verlegt — in's Nichts —, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die grosse Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte, — Alles, was wohlthätig, was lebensfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Misstrauen [...]. Und doch verdankt das Christenthum dieser erbamungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg [...].

Paulus, und nicht Jesus, sei es gewesen, der „begriff, dass er den UnsterblichkeitsGlauben nöthig hatte, um ,die Welt' zu entwerten" (AC 58). Ihm sei zu verdanken, daß die Behauptung der „Personal-Unsterblichkeit", die „etwas ebenso Antijüdisches als Antichristliches" sei68, ins Zentrum der neuen Glaubenslehre rückte. Diese Thesen stimmen mit den in „Ma religion" vorgetragenen völlig überein. Keineswegs, so führt Tolstoi aus, sehen die Juden, und mit ihnen Christus, im

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68

A C 34. Ε. Renan: Vie de Jesus, Paris 1864, S. 127. Auch im fünften B a n d e seines Werkes ( L e s ß v a n g i l e s , Paris 1877, S. 333) spricht Renan von einer urchristlichen „Utopie anarchique". In A C 58 spricht Nietzsche die ersten Christen als „heilige Anarchisten" an. 11 [281] (November 1887-März 1888); K S A 13, S. 108.

Die Juden und das christliche Jenseits

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irdischen Dasein „une vie degeneree, mauvaise, dechue, rien qu'un echantillon de la vie, une mauvaise plaisanterie par rapport ä la vraie vie, celle qui dans notre imagination nous etait due" 6 9 . Für die „grosse Lüge", von der Nietzsche in Abschnitt 43 seines Werkes spricht, seien demnach die Juden nicht verantwortlich zu machen. Bei Tolstoi heißt es: Pour se convaincre que ni les mots grecs ni le mot hebreu ,koum', qui leur correspond, ne peuvent signifier ressusciter, il suffit de confronter les passages de l'fivangile oü ces mots sont employes, et ils le sont tres frequemment, et on verra que, pas une seule fois, ils ne sont traduits par le mot .ressusciter.' Le mot ,voskresnovit', .auferstehn' .ressusciter' n'existe ni en grec ni en hebreu, parce que la conception qui correspond ä ce mot n'existait pas. Pour exprimer en grec ou en hebreu l'idee de la resurrection, il faut employer une periphrase [...]. Notre conception de la resurrection est ä tel point etrangere a l'idee des Hebreux sur la vie, qu'on ne peut meme pas se figurer comment Jesus aurait pu leur parier de resurrection et d'une vie eternelle, individuelle, qui serait le partage de chaque homme. L'idee de la vie future eternelle ne nous vient ni de la doctrine judai'que ni de celle de Jesus [...]. Quelque etrange que cela paraisse, on ne peut s'empecher de dire que la croyance a une vie future est une conception tres basse et tres grossiere, fondee sur une idee confuse de la ressemblance du sommeil et de la mort, idee commune ä tous les peuples sauvages. La doctrine hebrai'que (et ä plus forte raison la doctrine chretienne) etait de beaucoup au-dessus de cette conception.70 Die christliche Vorstellung der Auferstehung im Jenseits sei also eine Verfälschung der ursprünglichen Lehre. Tolstoi spricht von der „superstition de la resurrection" und wendet sich in diesem Zusammenhang explizit gegen Schopenhauer: Le libre penseur Schopenhauer appelle carrement la religion hebrai'que la plus vile de toutes les religions parce qu'on n'y trouve pas de vestige de cette croyance. Le mot, pas plus que l'idee, n'existait en effet dans la religion judai'que. La vie eternelle se traduit en hebreu: ,ha'ieeo'ilom'. ,ΟϊΙοπι' veut dire l'infini; ce qui est permanent dans les limites du temps; O'ilom veut dire aussi monde, .cosmos'. La vie universelle et ä plus forte raison la vie eternelle, ha'ieeo'llom, est, selon la doctrine judai'que, la propriete de Dieu seul. Dieu est le Dieu de la vie, le Dieu vivant. L'homme, selon l'idee hebrai'que, est toujours mortel. Dieu seul est toujours vivant [...]. Quand Dieu dit:, Vous vivrez et ne mourrez point', il adresse ces paroles aupeuple. La vie que Dieu a soufflee dans l'homme est mortelle pour chaque etre humain separement; cette vie se perpetue de generation en generation, si les hommes remplissent l'alliance avec Dieu, c'est-a-dire les conditions posees par Dieu.71 Tolstois Betrachtungen über den Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Weltsicht fallen in manchen Passagen sehr zugunsten der letztgenannten aus: La difference principale qu'il y a entre notre conception de la vie humaine et celle des Juifs consiste en ce que, d'apres nos idees, notre vie mortelle, qui se transmet de generation en L. Tolstoi: Ma religion, a.a.O., S. 156. TO Ebd., S. 148-150. 71 Ebd., S. 150 f. 69

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IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

generation, n'est pas la vraie vie, mais une vie dechue, gätee temporairement [...]; selon les Juifs, au contraire, cette vie est la vraie, le bien supreme donne ä Phomme a condition qu'il observe la volonte de Dieu. A notre point de vue, la transmission de cette vie dechue de generation en generation est la transmission d'une malediction; au point de vue iuif, c'est le bien supreme auquel Phomme peut pretendre, ä la condition qu'il accomplira la volonte de Dieu.72

Christus, darin seinem Herkommen treu, spreche mitnichten von „la vie d'outretombe et du salut base sur la redemption"73 — eine Feststellung, die sich Nietzsche zu eigen macht: Das .Himmelreich' ist ein Zustand des Herzens — nicht Etwas, das .über der Erde' oder .nach dem Tode' kommt [...]. Das ,Reich Gottes' ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen [...].74

Tolstois Betrachtungen über die jüdische Religion mußten unter Antisemiten Unmut hervorrufen. Aber von einer solchen Stimmung ist bei Nietzsche keine Spur, ganz im Gegenteil. Unter Rückgriff auf Tolstoi kommt er zu dem Schluß, daß die europäische „Barbarei" von dem „verächtliche[n] und armselige[n] Unsinn einer persönlichen Fortdauer des Einzelnen [abhänge]: ein Standpunkt, über den Hindus, Juden und Chinesen hinaus seien"75. Tolstois Bemerkungen über die „superstition de la resurrection" bringt Nietzsche mit dem Thema der decadence in Verbindung: Religion, decadence Die Gefährlichkeit des Christenthums Trotzdem daß das Christenthum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, bleibt seine eigentliche historische Wirkung die Steigerung des Egoismus des Individual-Egoismus bis in sein äußerstes Extrem — das Extrem ist der Glaube an eine Individual-Unsterblichkeit.76

Beruhe aber die decadence auf dem „Glauben an eine Individual-Unsterblichkeit", so können die Juden, denen eine solche Vorstellung immer fremd gewesen sei, an dem europäischen Verfall unmöglich schuld sein. Zu dieser Schlußfolgerung gelangt Nietzsche nicht nur, wie wir eben gesehen haben, durch Tolstoi, sondern auch durch Wellhausen, welcher darlegt, daß

72 Ebd., S. 152. 73 Ebd., S. 157. AC 34. 7' 11 [255] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 97. In KSA 14, S. 754, ist die Quelle dieses Fragments angegeben. 76 14[5] (Frühjahr 1888); KSA 13, S. 218.

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von einer allgemeinen Auferstehung im Buche Daniel nicht die Rede [ist ], sondern eigendich nur von einer Auferstehung der Märtyrer [...]. Immer aber ist die Auferstehung nicht der Eintritt in ein überirdisches, sondern in ein zweites irdisches Leben, in eine Welt, worin nicht mehr die Heiden, sondern die Juden die Herrschaft haben und den Ton angeben. Von der allgemeinen Verantwortung am jüngsten Gericht, von Himmel und Hölle im christlichen Sinne wissen die Juden nichts, so nahe diese Vorstellungen ihnen auch zu liegen scheinen.77 Diese Beobachtung findet bei Nietzsche ein Echo: Die schauderhaften Mißbräuche mit der Zukunft: das Gericht ist ein christlicher Gedanke, nicht ein jüdischer: er ist der RessentimentsGrundgedanke aller Aufständischen.78 Eine weitere Feststellung ist in diesem Zusammenhang von Belang. Nietzsche vertritt, auch darin Wellhausen folgend, die Auffassung, die Juden seien von dem Verdacht freizusprechen, für die negativen Aspekte der mohammedanischen Religion Verantwortung zu tragen: [Nietzsche] Muhammedanismushatvonden Christen wiederum gelernt: die Benutzung des Jenseits' als Straf-Organ.79 [Nietzsche] Was allein entlehnte später Muhamed dem Christenthum? Die Erfindung des Paulus, sein Mittel zur PriesterTyrannei, zur Heerden-Bildung den Unsterblichkeits-Glauben — das heisst die Lehre vom .Gericht'...80

[Wellhausen] Damit haben wir ein entscheidendes Indicium für den Zusammenhang der Anfänge des Islams mit dem Christentum gewonnen [...]. Dazu stimmt es, dass Muhammed zu Anfang seines Auftretens ganz beherrscht wird von dem Gedanken an das Gericht. Allah und der jüngste Tag sind bei ihm unzertrennlich [...]. In einer späteren Phase der mekkanischen Periode hat Muhammed zwar, wenn er sich als Nadhlr, als Ankündiger drohender Gefahr, bezeichnet, mehr ein grosses Volksgericht im Auge, eine geschichtliche Katastrophe, durch welche seine und Allahs Feinde vom Erdboden verschwinden. Dagegen ursprünglich — und auch hernach wieder, nach jener vorübergehenden Phase — steht im Mittelpunkte seiner Gedanken das Gericht über die Individuen, wo jede Seele nackt vor Gott erscheint und Gott das Facit aus ihrem Leben zieht, ein Gericht, das nicht bloss den anderen, sondern auch und vor allem ihm selber bevorsteht und ihn bei jedem seiner

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, a.a.O., S. 97. 10C199] (Herbst 1887); KSA 12, S. 575. 79 14[204] (Frühjahr 1888); KSA 13, S. 386. so AC 42. 77

78

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IX. Kapitel: Nietzsches Stellung zum Judentum

Schritte an den Ernst der Verantwortung mahnt. Dieses individuelle Gericht nun ist den Juden kaum in der Theorie bekannt, in der Praxis jedenfalls ganz unbekannt. Von der allgemeinen Verantwortung am jüngsten Tage, von Himmel und Hölle im Sinne des Neuen Testamentes wissen die Juden nichts [...]. Vielmehr sind dies specifisch christliche Gedankenmächte [...]. Wenn also die Rückkehr des Menschen zu Gott und seine Verantwortlichkeit vor ihm nach dem Tode bei Muhammed, besonders zu Anfang, als die Seele seines Monotheismus hervortritt, so entstammt die Seele des Islams dem Christentum. 81

Bei all dem darf jedoch eine Reihe ganz andersgearteter Reflexionen nicht übersehen werden, die „Der Antichrist" enthält. Aus Wellhausens Thesen über den „unnatürlichen Gottesdienst" des nachexilischen Judentums leitet Nietzsche sein abwertendes Urteil über das Christentum her: Die „furchteinflössende Logik" und der „kaltblutige Cynismus" des „jüdischen Priesters" setze sich in jenem „InstinktHass gegen jede Wirklichkeit" fort, der „das [...] einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums" sei82. In vielen Passagen dieses Werkes, wo Nietzsche in heftigen Tönen gegen den „jüdischen Instinkt" eifert, ist eine antisemitische Tendenz offensichtlich. Man kann aber nicht leugnen, daß Nietzsche frei von rassistischen Vorurteilen ist, wenn er vom „Volksgott" spricht und der althebräischen Tradition Gutes abgewinnt. Auch ein .gefährlicher' Text kann eine „Mehrseitigkeit" (ein Ausdruck von Wilhelm Dilthey)83 aufweisen, der die heutige Forschung gerecht werden muß. Eine genaue Untersuchung der Widersprüche und Aporien, die dieses Werk Nietzsches durchziehen, steht noch aus, aber mit der Formel „Antijudaismus in zweiter Potenz" läßt sich das Thema wohl nicht ad acta legen.

81 J . Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 3. Heft, a.a.O., S. 209 f. 82 Vgl. dazu A C 2 4 , 2 6 u. 39. 83 W. Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Stuttgart u. Göttingen 1964, S. 458.

X. Kapitel: Zur Debatte über die vorarische Bevölkerung Deutschlands 1. Der Niedergang der Arier In diesem Kapitel sollen Nietzsches Überlegungen zum Thema der „vorarischen Bevölkerung" Deutschlands untersucht werden, die er in „Jenseits von Gut und Böse" und in der „Genealogie der Moral" vorbringt. Hierbei bietet es sich an, die Beziehungen zwischen Nietzsches Betrachtungen von 1886-87 und einer lang andauernden und heftigen Kontroverse herauszuarbeiten, die im Laufe der 70er Jahre innerhalb der anthropologischen Forschung geführt worden war. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung war ein Artikel, den der angesehene französische Anthropologe A. de Quatrefages im Februar 1871, nach der Kapitulation von Paris und dem Ende des deutsch-französischen Krieges, in der „Revue des deux Mondes" veröffentlicht hatte. Er behauptet, die „race prussienne" sei, anthropologisch betrachtet, „parfaitement distincte des races germaniques par ses origines ethniques et par ses caracteres acquis." Es lasse sich wissenschaftlich nachweisen, daß die Gründung des deutschen Kaiserreiches eine verhängnisvolle „erreur anthropologique" sei: En resume, dans les provinces vraiment prussiennes, c'est-ä-dire dans les deux Prusses, la Pomeranie et le Brandebourg, la population par ses origines ethnologiques est essentiellement finno-slave [...]. II en est tout autrement dans l'Allemagne de l'ouest et du sud. Sans doute ces contrees ont aussi leur fonds de sang finnois [...]; mais cet element premier de toutes ou au moins de presque toutes les populations europeennes est bien loin d'accuser ici sa presence par des signes aussi certains que dans le nord. D'autre part, la race äryenne y est representee ä peu pres uniquement par son rameau germanique. Seules, quelques colonies celtiques venues de la Gaules'etablirent [...] sur un petit nombre de points [...]. Ainsi, ätous egards, la Prusse est ethnologiquement distincte des peuples qu'elle commande aujourd'hui sous pretexte d'une pretendue communaute de race [...]. 1

Der polemische Ton dieser Darstellung, der aus den brennenden Tagesfragen resultierte, ist offensichtlich. Innerhalb der Zunft der Anthropologen wurde jedoch noch lange über die „race prussienne" diskutiert. Virchow berichtete 1874 über den Trend der Forschung: Die neueste Anthropologie sei A. de Quatrefages: „La race prussienne", in: Revue des deux Mondes 91 (1871), S. 669. Siehe hierzu: F. v. Hellwald: „Der Streit über die ,Race prussienne'. Ethnologische Studien über das nordöstliche Europa", in: Das Ausland 46 (1873), S. 88 ff., 105 ff., 152 ff. (Den Hinweis verdanke ich Prof. H. Treiber, Hannover).

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X . Kapitel: Die vorarische Bevölkerung Deutschlands

dahin gelangt, an den zwei äußersten Grenzpunkten Europa's vorarische Urbevölkerungen kennen gelernt zu haben: einerseits im äußersten Südwesten und Westen die Iberer und vielleicht die Ligurer, andererseits im äußersten Nordosten und Osten die Finnen [...]. Die Ligurer, deren Sprache uns unbekannt ist, waren, soweit bis jetzt ermittelt ist, kurzköpfig (brachycephal), wie es die Finnen und die Lappen sind [...]. Daraus ist [...] der Schluß abgeleitet worden, daß [...] ganz Europa in vorarischer Zeit eine turanische Bevölkerung gehabt habe [...]. Mit diesen Voraussetzungen wandte man sich an eine Prüfung der physischen Eigenschaften der lebenden mitteleuropäischen Bevölkerungen. Da ergab sich denn, daß in Deutschland und Frankreich [...] die Zahl von Menschen, auf welche die altarischen Merkmale zutreffen, in verschiedenen Landestheilen eine sehr verschiedene, aber doch im Ganzen eine verhältnißmäßig beschränkte ist. In großen Gebieten überwiegen sogar die ,turanischen' Charaktere. In Beziehung auf die Farbe der Haut, der Haare und Augen, sowie die Körperbeschaffenheit genügt es hier, auf die Allen zugängliche, tägliche Erfahrung zu verweisen. Messungen der Schädel aber haben gezeigt, daß nicht nur, was man schon länger weiß, unter den Slaven kurze und breite Schädel sehr häufig sind, sondern daß auch in Nord- und Süddeutschland, in Dänemark, in der Schweiz, in Belgien, Holland und Frankreich, ja, auch in England und bis tief in Mittelitalien hinein die brachycephale Schädelform sehr häufig, an vielen Orten sogar die überwiegende ist. D i e F r a g e nach der vorarischen Bevölkerung E u r o p a s stehe also für die Anthropologie der 7 0 e r J a h r e im Z e n t r u m der Diskussion: Und [...] so schien der Schluß sehr gerechtfertigt, daß vor der Einwanderung der Arier, weithin durch ganz Europa verbreitet, eine kurzköpfige Bevölkerung gelebt habe, welche den bis in die Gegenwart fortbestehenden Urvölkern angeschlossen werden müsse. Viele betrachten es als unzweifelhaft, daß der kurzköpfige und dunklere (bräunliche, brünette) Bruchtheil der gegenwärtigen Bevölkerung Europa's die Nachkommenschaft dieser Urbevölkerung sei, welche letztere durch die langköpfigen und hellen arischen Einwanderer wohl unterworfen und zerdrückt, aber nicht ausgerottet worden. Die Macht der Erblichkeit erhalte nicht nur den altturanischen Typus trotz aller Vermischung der arischen und der turanischen Familien, sondern — so muß man wenigstens schließen — das turanische Blut trage sogar mehr und mehr den Sieg über das arische Blut davon. 2 Soweit Virchow, der an dieser Stelle nicht seinen eigenen Standpunkt vertritt, sondern den damaligen Stand der Forschung rekapituliert. In seinen weiteren Ausführungen wendet er sich aber gegen die These von de Quatrefages, wonach „das preußische Volk in seiner Mehrzahl finnischen Ursprungs sei", und d e m n a c h der reine arische Typus nur in Süddeutschland zu finden sei. V i r c h o w spricht die Ansicht aus, auf dem Feld der Paläanthropologie sollte man bei der Ermittlung von Rassenunterschieden stets mit äußerster Behutsamkeit vorgehen, o h n e den Schädelformen eine allzu große Bedeutung beizumessen 3 .

2

3

R. Virchow: Die UrbevöikerungEuropa's, Berlin 1874, S. 28-31. Vgl. dazu auch J. Ranke: Der Mensch, Bd. 2: Die heutigen und die vorgeschichtlichen Menschenrassen, Leipzig 1887, S. 5 2 8 ff. „Aber wer kann überhaupt den Beweis liefern, daß alle Arier hellfarbig, blond, blauäugig und langköpfig waren? [...] Auch die Mehrzahl der Neger ist dolichocephal, und ein einfacher Rück-

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Der Niedergang der Arier

Dieses Thema wird dann von Virchow 1881 wieder aufgegriffen. Aufgrund der neuesten Forschungsergebnisse, so der zweite Beitrag, scheine es nicht erlaubt, mit voller Sicherheit den Schluss [zu] ziehen, dass notwendigerweise der blonde Typus als der allein zutreffende, allgemein germanische angesehen werden müsse [...]. Dieses alles zusammengenommen, sollte uns, meiner Meinung nach, recht bescheiden machen, wenn wir nach den Merkmalen suchen, an denen der Urgermane zu erkennen sein soll.4 Seinen Bericht über die »physische Anthropologie' der Deutschen setzt Virchow folgendermaßen fort: Sie werden sich erinnern, dass unmittelbar nach dem französischen Kriege, als Hr. de Qatrefages seine Schrift über die race prussienne schrieb, er die Meinung hatte, dass der eigendiche germanische Typus in Süddeutschland sei, dagegen bei uns im Norden nur ein verquältes und verquicktes Geschlecht existire, in dem das finnische Blut die Hauptrolle spielte. Wir haben seitdem nicht blos unsere Erhebungen über die Farbe der Haare, Augen und Haut bei den Schulkindern veranstaltet, sondern es sind auch sonst die zahlreichsten Untersuchungen, sowohl ethnologische, wie in Bezug auf Maassverhältnisse angestellt worden. Die Fragen sind immer mehr vervielfältigt worden, und es ist schliesslich herausgekommen, dass gerade der Süden und der Westen von Deutschland am wenigsten dem vorausgesetzten Bilde entsprechen, ja dass wir gerade da in immer zunehmendem Maasse anderen Elementen begegnen, die unmöglich mit den alten fränkischen und alemannischen zusammengebracht werden können [...]. Während im Süden gegenwärtig die Brachycephalie prävalirt, findet gegen Norden die [...] Dolichocephalic ihre zahlreichsten Repräsentanten [...]. Wenn wir nun fragen: wo können denn diese Brachycephalen hergekommen sein, die in grosser Masse Süddeutschland überfluthet haben und die jetzt in so grossen Procentzahlen hervortreten in den umfassenden Schädeluntersuchungen der Herren Ranke und Kollmann, welche eine excessive Frequenz der Kurzköpfe in ganz Ober- und Niederbayern dargethan haben, so muss man doch irgend einen wesentlichen Import oder eine ausgiebige Präexistenz von Brachycephalen zulassen. Finden wir nun, dass ganz analoge Verhältnisse in Frankreich bestehen, wo gerade die braune Rasse, die von der Loire beginnt und südlich sich verallgemeinert, denselben Typus darbietet, so liegt in der That nichts näher, als daran zu denken, dass keltisches Blut in diesen brünetten Kurzköpfen fliesst.5 Angesichts einer Forschungsrichtung, die die Unterscheidungsmerkmale der „Urgermanen" eindeutig zu isolieren meinte, meldet also Virchow 1881 seine Bedenken an und mahnt zur größten Vorsicht. Er behauptet, die gegenwärtige deutsche Bevölkerung sei das Ergebnis vieler Kreuzungen und nicht die Vervollkommnung eines ,reinen Typus', und daß Spuren einer „keltischen" Abstammung insbesondere in den südlichen Gegenden offenkundig seien. schluß von einem langen Schädel auf Hellfarbigkeit ist [...] unzulässig [...]" (R. Virchow: Die

Urbevölkerung Europa's, a.a.O., S. 33). Hierzu vgl. auch S. Reinach: L'origine des aryens. Histoire d'une controverse, Paris 1892, S. 54 ff.

4

R. Virchow: „Die Deutschen und die Germanen", in: Verhandlungen

Anthropologie, Ethnologie und Orgeschichte, Jg. 1881, S. 71 f. ? Ebd., S. 69 f. u. 74.

der Berliner Gesellschaft

für

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X. Kapitel: Die vorarische Bevölkerung Deutschlands

Virchows Ansichten lösten in den 80er Jahren eine heftige Debatte aus, die auch in der Presse Widerhall fand. Die „Reinheit des Typus" beherrschte die Diskussion und wurde zu einer wichtigen Tagesfrage. Nach dem Anthropologen T. Poesche, dessen Schrift „Die Arier" sich in Nietzsches Bibliothek befindet, bilden die „blonden, blauäugigen, dolichocephalen Arier" eine reine Rasse („die blonde Race"). Er weist „Virchow's Annahme einer uranfänglichen Mischung der Typen bei den Ariern" zurück und glaubt nachweisen zu können, daß „die alten Germanen ganz unvermischte Arier waren"6. Auch Nietzsche schenkt diesem Thema seine Aufmerksamkeit, und die Auseinandersetzung mit den von Virchow aufgeworfenen Fragen ist sowohl in „Jenseits von Gut und Böse" wie auch in der „Genealogie der Moral" von nicht untergeordneter Bedeutung. Der Deutlichkeit wegen scheint es sinnvoll, zuerst die in der „Genealogie der Moral" enthaltenen Reflexionen über die ,arische Frage' und die ,physische Anthropologie' der Deutschen zu analysieren, um sodann auf deren Ausgangspunkt und Hintergrund in „Jenseits von Gut und Böse" zurückzuschauen. In Abschnitt 5 der ersten Abhandlung der „Genealogie der Moral" ist von den „dunklen, schwarzhaarigen Ureinwohnern" Europas die Rede, welche von einer „herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse" unterworfen worden seien. In diesem Zusammenhang geht Nietzsche auf die Rassenmerkmale der Kelten und auf Virchows Thesen ein: Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse, man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow thut: vielmehr schlägt an diesen Stellen die vorarische Bevölkerung Deutschlands vor. (Das gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur .Commune', zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Socialisten Europa's jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat — und dass die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist?...)

Vergleicht man diese Stelle mit den eben herangezogenen Texten Virchows, so wird deutlich, daß Nietzsche über den damaligen Stand der Diskussion bestens unterrichtet war. Zum einen gibt er die Hypothese Virchows über die keltische Abstammung der süddeutschen Bevölkerung sehr genau wieder, wenn sie auch in seinen Augen nicht den Tatsachen entspricht. Zum anderen vertritt er mit seinem

T. Poesche: Die Arier. Ein Beitrag zur historischen Anthropologie, Jena 1878, S. 45 u. 197. Zu ihrer Zeit „wurden die Aufstellungen Poesches [...] von selten der Anthropologen mit Freude begrüßt" (O. Schräder: Sprachvergleichung und Urgeschichte. Linguistisch-historische Beiträge zur Erforschung des indogermanischen Altertums, Jena 1890, S. 140).

Der Niedergang der Arier

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Hinweis auf den „physiologischen" Niedergang des „arischen" Elements eine damals zentrale und verbreitete These, auf die sich Virchow 1874 mit den Worten, „das turanische Blut trage [...] mehr und mehr den Sieg über das arische Blut davon", bezogen hatte. Die Überlegungen über den „vorarischen Typus" werden dann in Abschnitt 11 dieser ersten Abhandlung fortgesetzt, wo „Reaktions- und Ressentiments-Instinkte" eine anthropologische Begründung finden: Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit — sie stellen den Rückgang der Menschheit dar!

Im selben Abschnitt 11 ist auch eine weitere, gleichfalls die Völkerkunde betreffende Aussage beachtenswert, daß nämlich zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht.

Hiermit knüpft Nietzsche an den vorherigen Abschnitt 5 an: Die Hervorhebung eines wesentlichen Unterschieds zwischen „alten Germanen" und „Deutschen" und die These vom „physiologischen" Unterliegen der „Arier" gehören zusammen. Diese Gedankenverbindung darf nicht übersehen werden, denn sie macht die Zwiespältigkeit von Nietzsches .biologischer* Argumentation über die „Mächtigen" und die „vornehmen Rassen" deutlich. In Abschnitt 11 spricht er von der „blonden Bestie", von der „blonden germanischen Bestie", der „Kühnheit" und Angriffslust der „losgelassenen Raubthiere" — und an ebenderselben Stelle bringt er durch die Andeutung des anthropologischen Unterschieds zwischen Deutschen und Germanen sowie die Bemerkungen über das „vorarische" Element zum Ausdruck, daß „blonde Bestie" und „arische Eroberer-Rasse" nicht mehr als eine Vision seien, welche durch die nüchternen Ansichten der Anthropologie der Zeit demontiert werde. Nietzsches Nachdenken über die Arier ist also von einem offenkundigen Widerspruch durchzogen: Einerseits verherrlicht er 1887 die „vornehme Rasse", mit ihrer „entsetzlichen Heiterkeit [...] in allem Zerstören", andererseits unterschlägt er keineswegs die .wissenschaftlichen' Erkenntnisse über Niedergang und .Unreinheit' der Arier und stellt somit die Unhaltbarkeit seiner eigenen Vision heraus. Ganz offensichtlich zieht er es vor, die Rolle des Beobachters einzunehmen, der es eher akzeptiert, „zu viele Motive und Gesichtspunkte" (MA 230) zu haben und dadurch sich selbst zu widersprechen, als auf die „Kenntnis der vielen Möglichkeiten" (MA 228) zu verzichten, die sich vor seinem Blick auftun 7 . In einem der wichtigsten und meistgelesenen völkerkundlichen Werke der 80er Jahre heißt es: Siehe hierzu W. Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin u. New York 1971, S. 4 ff.

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X. Kapitel: Die vorarische Bevölkerung Deutschlands

Germanen und Romanen sind die wahren Kulturvölker im eigentlichsten Sinne [...]. Wie hoch sie auch indes gestiegen, sie sind seiner Zeit aus einem ganz ähnlichen Völkergemisch hervorgegangen, wie wir es jetzt noch im slavischen Osten beobachten können. Diese Zeiten liegen weit hinter uns; nichtsdestoweniger bleibt es unumstößliche Wahrheit: der reine, unvermischte Arier ist in Europa überall eine Mythe. 8

Mit manchen Ausführungen der „Genealogie der Moral" kommt Nietzsche, so meine ich, einer solchen Sichtweise sehr nahe, die sich allerdings von den Standpunkten antijüdischer Propagandisten und rassistischer Anthropologen wie Theodor Poesche sehr deutlich abhebt.'

2. Die Deutschen als Ferment-Rasse Nachdem wir nun Nietzsches in der „Genealogie der Moral" vorgebrachten Äußerungen über Virchow und die komplexe Zusammensetzung des deutschen Volkes betrachtet haben, machen wir einen Schritt zurück und wenden uns dem Aphorismus 244 von „Jenseits von Gut und Böse" zu, in dem erstmals in veröffentlichter Form vom „vorarischen" Volkselement die Rede ist. Die an dieser Stelle vorgetragene Hauptthese („der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos") wird anhand anthropologischer Argumente begründet: Die deutsche Seele ist vor allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft [...]. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Ubergewicht des vor-arischen Elementes, als ,Volk der Mitte' in jedem Verstände, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind:—sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen [...]. Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt!

Schon in diesem Passus in „Jenseits von Gut und Böse" wird über die verwirrende Vielfalt der .Urstoffe' nachgesonnen, aus deren Zusammenspiel die anthropologische Wesensart der Deutschen hervorgehe, und der erste Hinweis auf das „vorarische" Volkselement macht deutlich, daß Nietzsche von der auf Virchow und de Quatrefages zurückgehenden Debatte Notiz genommen hatte. Sowohl in „Jenseits von Gut und Böse" als auch in der „Genealogie der Moral" geht es ihm darum, die rassische Vielschichtigkeit der Deutschen hervorzuheben, aber diese erfährt in den beiden Texten eine entgegengesetzte Bewertung. Den „vorarischen" Erbfaktor, den er 1887 als „physiologischen" Grund des Niedergangs der „vornehmen Rassen" hinstellt, hatte er 1886 unter einem ganz anderen, weniger negativen Gesichtspunkt betrachtet und in Beziehung zur „Unordnung" und Flexibilität, ja zur Bodenlosigkeit der „deutschen Seele" gesetzt. F. von Hellwald: Naturgeschichte

des Menschen, Bd. 2, Stuttgart 1882, S. 647 f.

Die Deutschen als Ferment-Rasse

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Zusammen mit dem Abschnitt 244 von „Jenseits von Gut und Böse" ist die Nachlaß-Notiz 43[3] aus dem Herbst 1885 in Erinnerung zu rufen, die als seine Vorstufe zu betrachten ist.9 Auch hier stößt man auf das Thema der „Blut-Mischung", die gewissermaßen für die „kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen", seine „mandarinenhafte Überlegenheit" ursachlich sei: Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie .deutschen Geist', er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird! Am wichtigsten aber mag die BlutMischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen M verschiedene Instinkte und nicht immer nur ,zwei sondern zwanzig Seelen' in Eine Brust anpflanzte, jene ungeheure Blut-Verderbniß der Basse, welche in Europa nicht ihres Gleichen hat und endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermitdung gemacht hat—eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr ,kein Ding unmöglich ist'. Man rechne sich die Geschichte der deutschen Seele nach, man begreife diese in sich unausgeglichenen vielspältigen, vielfachen M äußerlich schwach, servil, bequem, ungeschickt, innerlich ein Tummelplatz geistiger Versuchungen und Kämpfe wurden: [...] bis endlich unser letzter Doppel-Typus des fortentwickelten Geistes, Goethe und Hegel, den Alles umfassenden Boa-Constrictor .Geist an sich' und seine FermentNatur an den Tag brachte, die kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen, die Überlegenheit seiner Abstraktionen, die kluge Geschmeidigkeit seines aneignenden Historisirens: seine letzte und vornehmste Artung, die eine mandarinenhafte Überlegenheit und Jenseitigkeit' All diese Gedanken über die .biologischen' Elemente, welche die den Deutschen eigene Wandlungsfähigkeit erklären, sind das Ergebnis einer bestimmten, im Herbst 1885 erfolgten Lektüre. Der „Jagdbereich", den Nietzsche, der „Freund der grossen Jagd" (JGB 45), damals durchstreifte, um Kenntnisse zu sammeln, ist ein ganz außergewöhnlicher: Sein Wegweiser in der Problematik der „vorarischen Bevölkerung" war die Schrift eines „deutschen Anarchisten", die er „mit der Neugierde eines Kindes" las, „das vor dem buntesten und zierlichsten aller Guckkästen steht": Das neue Japan Ich las mit vieler Bosheit der Hintergedanken, was ein deutscher Anarchist unter dem Begriff .freie Gesellschaft' .Die freie Gesellschaft'—alle Züge als groteske Wort- und Farben-Aufputzung einer kleinen Art von Heerdenthieren. .Die Gerechtigkeit' und die Moral der gleichen Rechte — die Tartüfferie der moralischen Prädikate. 9

Ein gemeinsames Motiv („nicht [...] zwei sondern zwanzig Seelen") erhellt die Zusammengehörigkeit dieses Fragments und des Aphorismus 244 von JGB. Zu Nietzsches Gebrauch der Rassentheorien seiner Zeit siehe auch H. Cancik: Nietzsches Antike, a.a.O., S. 122 ff.

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X. Kapitel: Die vorarische Bevölkerung Deutschlands

,die Presse', ihre Idealisirung. ,die Abschaffung des Arbeiters' ,es schlägt die vorarische Rasse durch': und überhaupt die ältesten Arten von Gesellschaft der Niedergang des Weibes die Juden als herrschende Rasse. Vornehme und gemeine Cultur. der Gelehrte überschätzt: und eine triumphirende liebevollere und herrschaftliche Fülle des Herzens 10 3. Rassenkreuzung

und

Kulturentwicklung

D e m T e x t eines „ deutschen Anarchisten" verdankt also Nietzsche, wie es scheint, seine Kenntnisse über die vorarischen Elemente in der deutschen Bevölkerung. Die Beschäftigung mit dieser F r a g e m u ß Nietzsche in seiner Ansicht bestärkt haben, d a ß die „großen W o r t e " der Antisemiten 1 1 jeder Grundlage entbehren: Dies ist das Problem der Rasse, wie ich es verstehe: denn an dem plumpen Geschwätz von 12 arisch Z u r gleichen Zeit, in der sich Nietzsche mit dem bisher nicht identifizierten „Anarchisten" auseinandersetzt, richtet er seine Aufmerksamkeit auf einen weiteren T e x t , der ebenfalls, obwohl in anderer Weise, die hier in R e d e stehende Thematik behandelt. In der Nachlaß-Notiz 1 [ 1 5 3 ] aus H e r b s t 1 8 8 5 - F r ü h j a h r 1 8 8 6 heißt es: NB. Gegen Arisch und Semitisch. W o Rassen gemischt sind, der Quell großer Cultur.

44[8] (Herbst 1885); KSA 11, S. 707 f. Die Schrift des .Anarchisten' enthielt wahrscheinlich, wie dieses Fragment vermuten läßt, eine zusammenfassende Darstellung der Diskussion über die .physische Anthropologie' der Deutschen. Auch einige andere Stellen von JGB, an denen es nicht um die „vorarische Bevölkerung" geht, weisen möglicherweise Spuren der im Fragment 44[8] stichwortartig resümierten Lektüre auf: vgl. ζ. B. die Aphorismen 22 („Ni dieu, ni maitre"), 44 („das Leiden selbst [...] als Etwas [...], das man abschaffen muss"; „liberi pensatori"), 58 („ÜberlegenheitsGlauben des Gelehrten"), 188 („Anarchisten"), 202 und 203 („die freie Gesellschaft"), 204 („Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten"), 225 („das Leiden abschaffen"). Was die Erwähnung Virchows in der Genealogie der Moral anbetrifft, so ist D. S. Thatchers Vermutung („Zur Genealogie der Moral: some textual annotations", in: Nietzsche-Studien 18,1989, S. 589) wohl zurückzuweisen, daß Nietzsche sich hierbei auf dessen Artikel „Der Spreewald und die Lausitz" (in: Zeitschrift für Ethnologie 12, 1880, S. 222-236 ) beziehe, denn in demselben werden Fragen der Archäologie behandelt. Abschnitt 5 der ersten Abhandlung von GM, in dem „vorarische Bevölkerung Deutschlands", „Anarchismus" und „Hang zur .Commune', zur primitivsten Gesellschafts-Form" in Zusammenhang gebracht werden, scheint vielmehr auf die schon in diesem Fragment 44[8] angedeuteten Gedankenverbindungen zurückzugreifen. 11 34[237] (April-Juni 1885); KSA 11, S. 500. 12 1 [178] (Herbst 1885-Frühjahr 1886); KSA 12, S. 50. 10

Rassenkreuzung und Kulturentwicklung

349

Diese lapidare Notiz hat verschiedentlich das Interesse der Nietzsche-Forscher wachgerufen. Sie wurde zum Beispiel von R. M. Lonsbach in seiner 1939 in Stockholm erschienenen Schrift „Friedrich Nietzsche und die Juden" mit folgenden Worten kommentiert: „Nicht nur dem [...] Antisemitismus, auch der reaktionären Rassenlehre hatte Nietzsche somit eine eindeutige Absage erteilt."13 Beachtung verdient die Tatsache, daß Nietzsche sich mit dem Fragment 1 [153] auf das wichtige Buch des Anthropologen F. Ratzel bezieht, das er im Juli 1886 in einem Brief an Overbeck erwähnt14. Daß zwischen „Blutmischung" und Entwicklung der „Kulturvölker" eine enge Beziehung bestehe, wird in Ratzels „Anthropo-geographie" behauptet, dort nämlich, wo von den nomadischen Stämmen der mongolischen Steppe die Rede ist: Wenn man nun weiss, dass der Menschenraub einer der beliebtesten Zweige der Räuberthätigkeit dieser Völker ist [...], so muss man sich sagen, dass diese an Zahl geringen Völker sehr beträchtlichen inneren Umwandlungen durch Blutmischung unterliegen werden, wozu ihre Rastlosigkeit noch beitragen wird, und dass dies eine Tatsache von grossem anthropologischem Moment [...] ist, weil diese Völker ihrerseits nicht in ihren Grenzen bleiben, sondern nach allen Seiten zu anderen Völkern abfliessen und dort ihr gemischtes Blut hinbringen. Wenn Rassenmischung unter dem Miteinfluss stählender Natur- und Gesellschaftsverhältnisse günstig auf die Fortbildung der Menschheit einwirkt, dann ist es kein Zufall, dass die Wurzeln der grössten Kulturvölker Europas in dieses vielbewegte innerasiatische Völkermeer hineinreichen.15 Interessant an Ratzels Argumentation ist die Infragestellung der sogenannten ,Rassenunterschiede' und ihres Wertes. Das Schlußwort seines Werkes ist nämlich eine ausführliche Kritik an „dem Standpunkte der scharfen Sonderung der Menschheit in Rassen" und enthält den „ketzerischen" Gedanken: „Wir müssen [...] in der Völkerkunde mit dem Begriff .autochthon' [...] brechen." 16 Die .physische Anthropologie' müsse, so Ratzel, neue Wege gehen und zu dem Schluß kommen, dass die innere Zusammensetzung [...] jedes einzelnen Volkes, Stammes etc., auch jeder Rasse [...] eine möglichst verschiedenartige sein müsse, und dass es eben deshalb sehr tief, sehr gründlich verschiedene Rassen, Stämme u. s. w. nicht geben könne, weil die innere Einheitlichkeit, Uebereinstimmung fehlt, ohne welche tiefgehende allgemeine Verschiedenheiten nicht denkbar sind [...]. Gemeinsamkeit der Sprache, des Glaubens, der Sitten, der Anschauungen und vor allem, was man National- oder Volksbewusstsein nennt, das sind alles nur Gewänder, welche verhüllend und gleichmachend über Verschiedenstes geworfen sind [...]. Keine Aufgabe ist auf dem heutigen Standpunkte der Völkerkunde brennender, als

13

R. M. Lonsbach: Friedrich Nietzsche und die Juden, a.a.O., S. 74.

Μ KGB III/5, S. 204.

i' F. Ratzel: Anthropo-geographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte, Stuttgart 1882, S. 223 f. 16 Ebd., S.467.

350

X. Kapitel: Die vorarische Bevölkerung Deutschlands

die Feststellung des Wertes, welcher den sog. Rassenunterschieden zuzuerkennen ist. Zweifellos ist, soviel lässt sich im voraus sagen, dieser Wert übertrieben und darin liegt ein Kernfehler aller völkerkundlichen Forschung. 17

Die Interpretation, die die Thematik der „vorarischen" Abstammung des deutschen Volkes 1885-86 in dem Fragment 43 [3] und in dem entsprechenden Passus in „Jenseits von Gut und Böse" erfährt, ist nicht Nietzsches letztes Wort in dieser Sache. Die Wandlung seines Urteils in der „Genealogie der Moral" (in der „GötzenDämmerung" wird sogar von „arischer Humanität" und „arischen Werthen" die Rede sein) verringert aber in keiner Weise die Bedeutung der vorangegangenen Betrachtungen. Ein Element bleibt unverändert bestehen: Die Begriffe,arisch' und .deutsch' klaffen auch in der ersten Abhandlung der 1887 veröffentlichten Schrift völlig auseinander. Aus dem Gesagten geht klar hervor, daß Nietzsche 1885 -87 zum „Problem der Rasse" zwar keine einheitliche Position hat, doch über hinreichende Kenntnisse verfügt, um die antisemitischen Spekulationen über einen ,arischen Charakter' als haltlos zu betrachten. Sein entrüsteter Brief vom 29. März 1887 an den Herausgeber der „Antisemitischen Correspondenz" bringt dies deutlich zum Ausdruck.

"

Ebd.,

S. 468 f.

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart und das Reformationszeitalter 1. Überspanntheit und Servilität Wo Nietzsche in seinen Schriften zur .deutschen Eigenart' Stellung nimmt, geschieht es fast ausnahmslos in scharfen und überaus heftigen Tönen. Die Deutschen seien eine „stupide" und „schwerfällige Rasse"1. Sie „glauben sich tief, wenn sie sich schwer und trübsinnig fühlen" 2 . Selbst Enthusiasmus und Leidenschaft seien bei ihnen nichts anderes als Formen der Entsagung und Unterwerfung („Die Begeisterung, welche in Deutschland sofort zur Verdummung und zur Servilität führt") 3 . Doch bleibe bei aller Fügsamkeit und Anpassung ein kleiner, verborgener Impuls zu Trotz und Aufbegehren bestehen: „Man läßt sich drücken, aber nimmt Rache in Gedanken über die Dinge."4 Die eigenartige Verbindung anscheinend unvereinbarer Eigenschaften wie Exaltation und Passivität, Willfährigkeit und folgenloser innerer Auflehnung ergebe sich aus einer besonderen deutschen Idiosynkrasie: Der friedliebende Deutsche, man kann auf seine Unterwerfung vor dem Regimente und der Religion rechnen — weil er die wirkliche Unruhe und Gefahr haßt: um so mehr bedarf er leichter gefährlich scheinender Schwärmereien, um sich als Held vorzukommen. Er wechselt damit sehr oft, weil er nicht die That will! 5

Willfährigkeit und Servilität haben, so konstatiert Nietzsche, ihr Gegenstück in kleinen „Schwärmereien" und einer „Neigung zur Mystik". Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs ist ihm wichtig, denn durch sie glaubt er, einige dem Anscheine nach unvereinbare Tendenzen der Zeit auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu können. Spiritismus (wie er in den siebziger Jahren in dem Leipziger Professor der Astrophysik Johann Carl Friedrich Zöllner einen respektablen' Vertreter findet 6 ), Antisemitismus und Wagner-Kult seien nur verschiedene Aspekte einer und derselben Realität: ι 2 3 4

' 6

KGBΙΠ/5, S. 179 u. 569. 37[10] (Juni-Juli 1885); KSA 11, S. 585. 8[83] (Winter 1880-81); KSA 9, S. 400. 7D06] (Ende 1880); KSA 9, S. 382. 7 D 1 3 ] (Ende 1880); KSA 9, S. 383. Siehe hierzu M. Wirth: Friedrieb Zöllner's Hypothese intelligenter vierdimensionalen Wesen und seine Experimente mit dem amerikanischen Medium Slade, Leipzig 1878;sowieG. Scarpelli: Ilcranio di cristallo. Evoluzione della specie e spiritualismo, Torino 1993.

352

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

Unbeschreiblicher Ekel, wenn unsere Gebildeten von der Nothwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung der Religion phantasiren! dieses verlogene Gesindel, das bei Musik und Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Köpft setzt, sobald es nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen! [...] Hier die Gespensterfinger des Spiritisten, und der mathematisch-magische Taschenspieler, dort ein gehirnausbrennender Cultus der Musik, dort die wiedererweckten Gemeinheiten einer Judenverfolgung — seht die allgemeine Übung im Hassen7

Mit seiner Analyse der „idealistischen Selbst-Belügnerei und Farbenblindheit"8 der Deutschen, die er unter immer neuen Gesichtspunkten im Laufe der 80er Jahre unternimmt, bezieht sich Nietzsche nicht nur auf die Gegenwart, sondern geht auch der Herkunft dieses Wesenszuges nach. So richtet er sein Augenmerk vor allem auf die Reformationszeit, deren Bedeutung für das Hervortreten der,deutschen Eigenart' („ein Volk, welches sich der Intelligenz eines Luther unterordnet!")9 er besonders hoch veranschlagt: „Unser letztes Ereigniß ist immer noch Luther, unser einziges Buch immer noch die Bibel."10 Die Grundzüge seiner diesbezüglichen Geschichtsauffassung faßt Nietzsche im Fragment 34[104] aus April-Juni 1885 11 zusammen. Die Ereignisse des 16. und 17. Jahrhunderts in Deutschland seien in ihren Auswirkungen auf Sozialstruktur und Bevölkerungszusammensetzung von der Geschichtsschreibung nicht hinreichend gewürdigt worden. Nietzsche distanziert sich von jener „Geschichtsfälscherei [...], welche über diese Kluft hinwegspringt: wie als ob damals nichts geschehen wäre". In jener Zeit einer „furchtbaren Blutverderbniß" habe sich der deutsche Nationalcharakter herausgebildet („diese Erscheinung derEntmuthigung, der Feigheit, der Greisenhaftigkeit, des chinesischen Zopfes, im Bilde zu reden"). Eine Analyse der „friedliebenden" Deutschen, die „die wirkliche Unruhe" und die Umwandlungen hassen, habe mithin von einer gründlichen Erforschung des Reformationszeitalters auszugehen.

2. Der Bauernkrieg des Geistes Zwischen April und November 1885 sinnt Nietzsche über dieses Thema nach. Ebenso wie Fragment 34[104] zeugen die in der zweiten Jahreshälfte niedergeschriebenen Notizen 41 [4] und 43 [3 ] von seiner Auseinandersetzung mit Luther und der Reformationszeit. In der erstgenannten wird die These vertreten, die deutsche Philosophie von Leibniz über Kant bis Hegel und Schopenhauer sei die „gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab", und sie sei insofern

ι

6[71] (Herbst 1880); KSA 9, S. 213. 7[17] (Frühjahr-Sommer 1883); KSA 10, S. 243. » 26[27] (Sommer-Herbst 1884); KSA 11, S. 155. 10 25[162] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 56. 11 KSA 11, S. 455. 8

Der Bauernkrieg des Geistes

353

eine Reaktion gegen die geistige Atmosphäre des Reformationszeitalters, dessen Verderbtheit, Zerstörungswut und Brutalitäten die Sehnsucht nach der Antike, nach dem harmonischen Griechentum wachgerufen habe: „Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen, — ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! [...] Freilich man muß sehr fein sein, sehr leicht, sehr dünn, um über diese Brücken zu schreiten!" Den damaligen „Willen zur Geistigkeit", das Grundelement aller deutschen Philosophie, beschreibt Nietzsche folgendermaßen: „Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen — immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens: immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europa's Herr geworden ist und welcher an dem großen ,ungeistigen Menschen', an Luther, seinen Anführer hatte."12 Der „Bauernkrieg", auf den in dieser Ausführung hingewiesen wird, spielt im zweiten Fragment, 43 [3], eine besondere Rolle. Hier wird Rückblick auf die historischen Ereignisse gehalten, die im geistigen Habitus der Deutschen, dieser „Ferment-Rasse", unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. In diesem Kontext ist von Luther und seinem „Bauernkrieg des Geistes gegen die,höheren Menschen' der Renaissance"13 die Rede. Die Wendung „Bauernkrieg des Geistes" verdient im Zusammenhang mit dem Aphorismus 358 der „Fröhlichen Wissenschaft" Beachtung, in dem Nietzsche einen ähnlichen Ausdruck gebraucht: Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte,—einen .Bauernaufstand'.

Luthers Werk stehe somit am Beginn des modernen „Plebejismus des Geistes", des ,,Bauernaufstand[s] des Nordens gegen den [...] misstrauischeren Geist des Südens" (FW 358). Bei der Lektüre dieser Stelle erhebt sich die Frage, auf welche Geschichtswerke Nietzsche sein Urteil eigentlich stütze. Vermutlich handelt es sich um den zweiten Band der „Geschichte des deutschen Volkes" (Freiburg i.B. 1879) von J.Janssen, auf die ihn J. Burckhardt aufmerksam gemacht hatte. Tatsächlich nennt Nietzsche dieses Buch in einem Brief an Köselitz vom 5. Oktober 1879 eine „mächtige Materialsammlung" M. Wie stark dieses Werk des katholischen Historikers, das eine außerordentlich große Verbreitung fand, bei protestantischen deutschen Gelehrten aber einen Sturm der Entrüstung hervorrief, Nietzsche über Jahre hinaus

12

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41 [4] (August-September 1885); KSA 11, S. 678 f. 43[3] (Herbst 1885); KSA 11, S. 703. KGB II/5, S. 451. Siehe auch Nietzsches Brief an F. Overbeck vom 10. November 1882; KGB III/ 1, S. 275.

354

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

beschäftigt hat, wird durch Resa von Schirnhofers Bericht über ein Gespräch bestätigt, das sie 1884 in Nizza mit ihm hatte: Von den deutschen Büchern hat mir Nietzsche ausser Grimm's Buch über Emerson [...] nur das Werk des großen katholischen Historikers Johannes Janssen genannt, das er als ,das wichtigste Werk über die Reformation, von ungeheurem Materialreichtum' bezeichnete, und .Nachsommer' von [...] Adalbert Stifter."

In dem erwähnten Brief an Köselitz schildert Nietzsche den Eindruck, den er aus der Lektüre von Janssens Werk gewonnen hatte: Die gräßliche hochmüthige gallisch-neidische Schimpfteufelei Luthers, dem gar nicht wohl wurde, wenn er nicht vor Wuth auf jemanden speien konnte, [hat] mich zu sehr angeekelt. 16

Dieser Eindruck ist der Ausgangspunkt für Nietzsches weitere Betrachtungen über Luthers Verhältnis zum Bauernaufstand, die er dann im Aphorismus 358 der „Fröhlichen Wissenschaft" sowie in den Fragmenten 41 [4] und 43 [3] aus dem Jahre 1885 festhält. Eines ist an dem Brief besonders interessant: Zum ersten Mal ist hier von dem „rasenden Bauern-Feind" die Rede, welcher „sie wie tolle Hunde todtschlagen hieß und eigens den Fürsten zurief, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben." Mit diesen Worten übernimmt Nietzsche einen entscheidenden Aspekt von Janssens Darstellung und macht sich dessen Urteil über Luthers „entsetzliche Härte" zu eigen, ein Urteil, welches protestantische Reformationshistoriker als überspitzt und parteüsch ablehnen mußten17. Der Brief an Köselitz macht deutlich, daß Nietzsches Interesse bei der Lektüre vorrangig den Ereignissen des Jahres 1525 und insbesondere Luthers Schrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" galt, in welcher dieser seinem Haß unverhüllt Ausdruck gegeben hatte: E r forderte darin zum erbarmungslosen Vorgehen gegen die Bauern auf, die als .treulose, meineidige, lügenhafte, ungehorsame Buben und Bösewichter' den Tod an Leib und Seele mannigfach verdient hätten. Ein aufrührerischer Mensch sei in Gottes und kaiserlicher Acht, ,daß, wer am ersten kann und mag denselben erwürgen, recht und wohl thut. Denn über einen öffentlichen Aufrührigen ist iglicher Mensch beide Oberrichter und Scharfrichter'.

15 16

17

S. L. Gilman: Begegnungen mit Nietzsche, a.a.O., S. 481. Vgl. dazu J.Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 2: Vom Beginn der politisch-kirchlichen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1325, Freiburg im Breisgau 1879, S. 463 f. J. Köstlin: Luther undJ. Janssen, der deutsche Reformator und ein ultramontaner Historiker, Halle 1883, über den Bauernaufstandinsbesondere S. 25 f. Siehe auch J.Janssen: An meineKritiker, Freiburg im Breisgau 1882, S. 111 f. (auch diese Verteidigungsschrift befindet sich in Nietzsches Bibliothek); J . Η. A. Ebrard: Die Ohjectivität]. Janssen''s urkundlich beleuchtet, Erlangen 1882; M. Schwann: J. Janssen und die Geschichte der deutschen Reformation, München 1893.

Der Bauernkrieg des Geistes

355

.Darum soll hie zuschmeißen, würgen und stechen, öffentlich oder heimlich, wer da kann, und gedenken, daß nichts Giftigeres, Schädlichere, Teufelischers sein kann, denn ein aufrührischer Mensch. Gleich als wenn man einen tollen Hund todtschlagen muß; schlägst du nicht, so schlägt er dich, und ein ganz Land mit dir.' [...],Solch wunderliche Zeiten seind itzt, daß ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, baß, denn andere mit Beten!' Schon wegen der vielen, von den Bauern zu ihrem teuflischen Bunde wider Willen Gedrungenen müsse die Obrigkeit das Schwert getrost gehen lassen. [...] Die gräßliche Schrift erregte auch unter Luther's Anhängern Entrüstung, und einige behaupteten, der Geist Gottes sei von ihm gewichen, wie einst von Saul. Luther aber stempelte seine entsetzliche Härte als Gottes Befehl und gab seine Tadler und Ankläger für Anhänger der Aufrührer aus.18 Auch der Ausdruck „Bauern vieh", den Nietzsche im Brief an Köselitz gebraucht, spielt auf Luthers Schriften der Jahre 1526-27 an, die bei Janssen resümiert sind: Unermüdlich verkündigten Luther und Melanchton [...] die Lehre von dem unbedingten Gehorsam der Unterthanen gegen die Befehle der weklichen Obrigkeit, und eiferten für die Handhabung des strengsten Regimentes gegen das Volk [...]. ,Die Schrift nennt die Oberkeit,' schrieb Luther im Jahre 1526,,Stockmeister, Treiber und Anhalter, durch ein Gleichniß. Wie die Eselstreiber, welchen man allezeit muß auf dem Hals liegen, und mit der Ruthen treiben, denn sie gehen sonst nicht fort: also muß die Oberkeit den Pöbel, Herr Omnes, treiben, schlagen, würgen, henken, brennen, köpfen, und radebrechen, daß man sie fürchte und das Volk also in einem Zaume gehalten werde. [...] Als Treiber des Gesetzes müsse die Obrigkeit ,den rauhen, ungezogenen Herr Omnes zwingen und treiben, wie man die Schweine und wilden Thiere treibt und zwinget'. Im Jahre 1527 befürwortete Luther sogar die Wiedereinführung der Leibeigenschaft, wie sie bei den Juden bestanden. ,Da nahm Abimelech', sagte er in seinen Predigten über das erste Buch Mosis, ,Schaf und Rinder, Knecht und Mägde, die sind auch alles leibeigene Güter, wie ander Vieh, daß sie die verkauften, wie sie wollten: wie noch schier das beste wäre, daß es noch wäre, kann doch sonst das Gesind Niemand zwingen noch zähmen'. [...] ,Wäre aber die Faust und Zwang da, daß Niemand mucken dürfe, er hätte die Faust auf dem Kopf: so ginge es besser zu, sonst wird es kein nütz [...]. Ein Knecht galt dazumal ein Gulden oder achte, eine Magd ein Gulden oder

18

J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 534 f. Zu dem Werk von Janssen, dem „begabtesten] und gelehrtest [en] Historiker, welchen bisher das katholische Deutschland gehabt hat", siehe Diltheys Besprechung aus dem Jahre 1883 (Gesammelte Schriften, a.a.O., 1 7 . B d . , S . 4 5 1 f.): „In Archivarbeit ist er herangewachsen, in der Freundschaft mit Böhmer [...] hat er Methode gelernt. So entstand in ihm der Plan, die Gründe zu untersuchen, welche die Sozialordnung des Mittelalters [...] allmählich zum Sturz brachten [...]. Liest man sein Werk [...], so wird daraus begreiflich, wie eine soziale Revolution entstand. Wie aber in den Tiefen des Volkes eine religiöse Bewegung hervortreten konnte, die alles mit sich fortriß, der alle konservative Gewalt der mittelalterlichen Ordnung keinen Widerstand entgegenzusetzen imstande war, das wird niemand verstehen [...]. So kommt nun also die Reformation, ohne daß man recht verstünde, was ihr die weltgeschichtliche Macht gab [...]. Der Verfasser versucht, Luther pathologisch verständlich zu machen. Hier am meisten überschreitet er [...] diejenigen Grenzen, welche auch der Historiker einer Partei sich setzen sollte. Wenn er von Luthers Monomanie, die ihm Verfolgung und Gift vorgespiegelt habe, redet, so ist dies keine Historie mehr. Dagegen enthält die Darlegung der zweiten unter diesen Bewegungen, der sozialen Revolution, lebendige und wahre Bilder der Lage jener Zeit."

356

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

sechse, und mußte thun, was die Frau mit ihr macht. Und soll die Welt lang stehen, künnt man's nicht wohl wieder halten im Schwang, man müßt es wieder aufrichten.'" 3. Wunderzeichen, Monstra,

Portenta

Janssens monumentales Werk erlebte so viele Auflagen wie selten ein Buch überhaupt. Man hat zu Recht bemerkt, daß „ganze Generationen in ihrem Geschichtsbild durch Janssen geprägt" waren20. Das Bemühen des,ultramontanen' Historikers war in erster Linie darauf gerichtet, die Spuren der tiefgreifenden Transformationen nachzuzeichnen, die sich auf der Ebene der Volkssitte und allgemeinen Sinnesart zu Luthers Zeit vollziehen. In seiner 1882 erschienenen Verteidigungsschrift heißt es: „In den zahllosen Geschichtsbüchern über [...] die Reformation [...] treten fast ausschließlich nur die Fürsten und ihre Theologen und weltlichen Räthe als handelnde Personen auf, des als materia vilis behandelten Volkes wird selten gedacht: [...] auf seine Kundgebungen wird wenig Rücksicht genommen."21 Von dieser kritischen Position ausgehend, beleuchtet Janssen viele von der Geschichtsschreibung sonst außer acht gelassene Aspekte der reformatorischen Bewegung und bringt den „ungeheuren Materialreichtum" zusammen, der Nietzsche so sehr imponierte. Unter anderem geht er auf den Gebrauch ein, den die neue Konfession von Bildnissen macht, die stark an die Ikonographie des bekämpften Bekenntnisses erinnern: Als neuer Evangelist und Heiliger des Herrn gab Luther seit dem Jahre 1520 seinen lateinischen und deutschen Schriften wiederholt einen Holzschnitt bei, auf dem er abgebildet war mit einer Glorie um das Haupt, oder mit dem in Gestalt einer Taube über dem Haupte schwebenden heiligen Geist. Unter das Volk wurde ausgestreut, daß man, während Luther die päpstlichen Decrete und Bullen verbrannte, Engel in den Wolken gesehen habe, welche dem Schauspiele ihren Beifall geschenkt hätten [...]. Luther wurde von dem Volke als ein neuer Moses, als der zweite Paulus gepriesen.22

Dieser Luther, der sogar nicht dem von derprotestantischen Geschichtsschreibung verbreiteten Bild entspreche, sei ein Plebejer, der sich hinterlistig des Volkes Leichtgläubigkeit, Geistesfurcht und gespannte Erwartung von Wunderdingen zunutze mache. Seine bildliche Sprache sei im wesentlichen dem Aberglauben der Bauern angepaßt: Luther und Melanchthon benutzten zum Kampfe gegen die Kirche den im Volke vorhandenen Aberglauben an allerlei ,Monstra und Portenta', Zeichen am Himmel und Wundergeburten auf der Erde. So hattte zum Beispiel die Tiber zu Rom ein .schrecklich Thier'

19 20 21 22

J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 574. W. Baum: „Der Historiker Johannes Janssen", in: Theologische Quartalschrift 152 (1972), S. 269. J. Janssen: An meine Kritiker, a.a.O., S. 118. J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 117 u. 159.

Wunderzeichen, Monstra, Portenta

357

ausgeworfen, welches .einen Eselskopf hatte, eine Frauenbrust und Bauch, einen Ochsenfuß, einen Elephantenfuß an der rechten Hand und Fischschuppen an den Beinen und einen Drachenkopf am Hintersten'; ein anderes Wunderthier, die Mißgeburt einer Kuh, ein .Mönchskalb', war in Waltersdorf bei Freiberg in Meißen zur Welt gekommen. Diese .Wunderthiere weckten Entsetzen im Volk', und Luther und Melanchton gaben sich daran, sie dem Volke zu erklären. In vielen Drucken verbreiteten sie im Jahre 1523 eine mit Abbildungen versehene .Deutung der zwei greulichen Figuren, Papstesels zu Rom und Mönchskalbs zu Freiberg in Meißen' [...]. Wie der .Papstesel' den Sturz des Papstthums bedeute, so bedeute das .Mönchskalb', erörterte Luther, den Sturz des Mönchthums; genügsam sei ,an diesem Kalb gesagt, daß Gott der Möncherei Feind ist' [...]. ,In allen Wunderzeichen' gäbe Gott zu verstehen, ,daß ein groß Unfall und Veränderung zukünftig' sei, ,der sich gewiß auch Deutschland versehen' möge. .Welche aber dieselben seien, und wie das zugehen werde, gebührt den Propheten zu sagen.' Dem .evangelischen Licht', welches ,so helle aufgegangen', sei,allemal groß Veränderung um der Ungläubigen willen gefolgt'. Die Propheten, das heißt die Astrologen, verkündeten seit lange aus den vielen, Wunderzeichen am Himmel und auf der Erde' auf das Jahr 1524 eine allgemeine Erhebung des gemeinen Volkes, einen Bundschuh in Stadt und Land.23 Angesichts solcher Ausführungen versteht man, von welchem Interesse die reichen Beschreibungen im Werke des katholischen Historikers Janssen für Nietzsche sein mußten, der die Reformation als „eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes" ( F W 35) ansah. Aus der Lektüre empfängt er wichtige Anregungen für seine Charakterisierung Luthers als eines „niederen Menschen" 2 \ der „ein SurrogatChristenthum, [...] ein Pöbel- und Bauern-Christenthum" 25 gestiftet habe. Auch ein anderer Gesichtspunkt, der in der „Geschichte des deutschen Volkes" besonders hervorgehoben wird, dürfte Nietzsches Aufmerksamkeit erregt haben, die Tatsache nämlich, daß, nach Janssen, die vorreformatorische Ära eine Zeit der höchsten Blüte des religiösen Lebens und der Sittlichkeit des deutschen Volkes, der christlich-germanischen Welt überhaupt, war. Die Reformation habe diese hohe Kultur zerstört. Schuld an dem politischen, geistigen und materiellen Verfall des Reiches, der vor dem großen Krieg den Höhepunkt erreicht habe, seien die Fürsten, die Bürger und Bauern bedrückten. Janssen geht besonders ausführlich auf Luthers Angriffe gegen die Universitäten ein, die er als ,Molochtempel' und .Mördergruben' bezeichnete [...]. Seine hierauf bezüglichen Aeußerungen sind besonders auch deßhalb merkwürdig, weil sich aus denselben auf das Deutlichste ergibt, wie lebenskräftig die Kirche noch in Deutschland war, in welch' hohem Ansehen noch die Universitäten standen, welch' reger wissenschaftlicher Eifer bisher allenthalben vorgewaltet [...]. Vom Standpunkte seines neuen .Evangeliums' erblickte Luther in dieser warmen Anhänglichkeit des Volkes an die alte Kirche, sowie in dem Wesen

23 Ebd., S. 280-282. 24 25[70] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 27. 25 26[191] (Sommer-Herbst 1884); KSA 11, S. 200. Zur Reformation als einer „pöbelhaften [...] Ressentiments-Bewegung" siehe auch GM 116.

358

XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

und Wirken der diese Anhänglichkeit pflegenden und fördernden Hochschulen eines der schwersten Uebel, eines der größten Hindernisse für den Erfolg seiner Lehre. E r bot darum alle Mittel auf zum Sturze der bestehenden Universitäten, dieser ,Gruben des letzten Gräuels', dieser .Synagogen des Verderbens'. 26

Mit dem Bild, das Janssen von den deutschen Zuständen zu Luthers Zeiten malt, und das die protestantische Historiographie nicht anders als zurückweisen konnte, scheint Nietzsche übereinzustimmen. Eine ganz ähnliche Auffassung drückt sich im Aphorismus 148 der „Fröhlichen Wissenschaft" aus: Zur Zeit der grossen Kirchen-Verderbniss war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben: desshalb entstand hier die Reformation, als das Zeichen, dass schon die Anfänge der Verderbniss unerträglich empfunden wurden. Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luther's: ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, — es fehlte nur noch eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der Allem ein Ende machte.

4. Der rachsüchtige Mönch Im Aphorismus 88 der „Morgenröthe" hebt Nietzsche die Tragweite der Lutherschen Kritik an der römisch-christlichen Auffassung des Heiligen hervor. Der Reformation komme das Verdienst zu, der „Verachtung der weltlichen Thätigkeit" ein Ende gesetzt und eine definitive Loslösung vom mittelalterlichen Ideal der christlichen „vita contemplative" bewirkt zu haben. Diese Betrachtung steht eindeutig unter dem Einfluß Julius Baumanns, in dessen „Handbuch der Moral" es heißt: Die Reformation war sich ihres Gegensatzes auch in der Moral zur katholischen Auffassung wohl bewusst. Erstens läugnet sie, dass das contemplative Leben höher sei als das active. In der Apologie der Augsburger Confession X I I I ,νοη den Mönchsgelübden' heisst es: ,Das Mönchsleben ist um nichts mehr ein Stand der Vollkommenheit, als das Leben des Ackerbauers oder Schmiedes [,..].' 27

Der Kerngedanke allerdings des Aphorismus Μ 88 ist nicht dem Werke Baumanns entlehnt, die Uberzeugung nämlich, daß Luthers Abwertung der „vita contemplativa" der direkte Niederschlag einer sehr persönlichen Erfahrung sei, und zwar des völligen Fehlschlagens seines Mönchslebens. Für Nietzsche steht fest, daß nicht die Reise nach Rom, sondern die erfolglosen „Kasteiungen" im Kloster für Luthers religiösen Werdegang maßgeblich waren:

26

27

J.Janssen: Geschichte des deutseben Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 195-197. Siehe auch H. Srbik: Geistund Geschichte. Vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 2, München u. Salzburg 1951, S. 6062. J. Baumann: Handbuch derMoral, a.a.O., S.379. Ich dankeHerrnF. Götz (Basel) für seinen Hinweis auf diese Stelle bei Baumann als Quelle von Μ 88.

Der rachsuchtige Mönch

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Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn in's Kloster gesperrt hatte und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und .Teufen', in sich einstieg und schreckliche dunkle Gänge bohrte, — er merkte endlich, dass ein beschauliches heiliges Leben ihm unmöglich sei und dass seine angeborene ,Activität' in Seele und Leib ihn zu Grunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu finden, — endlich fasste er seinen Entschluss und sagte bei sich: ,es giebt gar keine wirkliche vita contemplative! [...] Die Heiligen sind nicht mehr werth gewesen, als wir Alle.'

Nicht also der Abscheu gegen das Gepränge und die Verderbtheit der römischen Kirche, sondern die bittere Erfahrung des eigenen Scheiterns sei das Movens seiner Auflehnung gewesen. Man findet diese These bei Nietzsche nicht nur in der zitierten Textstelle, sondern auch in einigen anderen aus derselben Zeit. Von Luther, der vergeblich „der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte", ist im Aphorismus 68 der „Morgenröthe" die Rede. Ähnlich heißt es im Fragment 4[59] aus dem Sommer 1880: „Luther ließ seine Wuth gegen die vita contemplativa aus, nachdem ihm das Mönchsleben mißrathen war und er sich zum Heiligen unfähig fühlte." 28 Auch in dem etwa gleichzeitigen Fragment 4[261] ist zu lesen: „Luther bekämpfte die Geistlichkeit, weil sein ernsthafter Versuch, ihr idealer Ausdruck zu werden, ihm nicht gelungen war, ihm nun überhaupt unmöglich und bei jedermann unmöglich erschien." 29 In den Jahren 1880-81 kommt Nietzsche also wiederholt auf die Erfahrungen des jungen Luther im Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt zurück, das Mißlingen seiner „Kasteiungen" und den fieberhaften Eifer, mit dem er das „geistliche Ideal" des Heiligen verfolgt habe. Auf die Nachwirkungen dieser überaus herben Enttäuschung lasse sich die ganze Entwicklung seiner theologischen Ideen zurückführen. Seine diesbezüglichen Informationen bezog Nietzsche nicht bei Baumann, der zu diesem Thema keinerlei Anhaltspunkte bietet, sondern aus Janssens „Geschichte des deutschen Volkes", wo der Mißerfolg des Erfurter Klosterlebens, als Schlüssel zum Verständnis von Luthers Persönlichkeit und Werk, die folgende Darstellung findet: Nur durch plötzlichen, gewaltsamen Entschluß, in Folge eines krankhaften Zwiespaltes in seinem Innern, nicht aus wahrem Beruf war Luther in's Kloster getreten, und wollte nun als Mönch den ihm mangelnden Frieden durch Mittel erwerben, welche ihn zu keinem gedeihlichen Erfolge führen konnten. Vielleicht gerade durch die Einsamkeit des Klosters genährt, brach eine förmliche Scrupulosität bei ihm aus. Der schlichte Gehorsam gegen die Regeln seines Ordens ging ihm ab. Er hatte die Verpflichtung, täglich seine Hören zu beten, aber von leidenschaftlichem Hange zum Studiren hingerissen, nahm er das Breviar oft Wochen lang nicht zur Hand, suchte dann alles Versäumte auf einmal nachzuholen, Schloß sich in seine Zelle ein, nahm weder Speise noch Trank zu sich und kasteite sich in dieser Weise

KSA 9, S. 113. Nur die letzten Worte dieses Fragments („trat er auf die Seite der vita practica, der Ackerbauer und Schmiede") beruhen, wie nun F. Götz ermittelt hat (KGW V, 3), auf Baumann. Diese Nachlaßnotiz ist eine Vorstufe zu Μ 88. 29 KSA 9, S. 165. 28

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XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

so sehr, daß er bisweilen fünf Wochen hindurch des Schlafes entbehrte und beinahe in Geisteszerrüttung verfiel [...]. Der tiefere Grund seiner Absonderlichkeit lag in seinem ängsdichen scrupulösen Wesen. Wie jeder Scrupulant, erblickte er in sich selbst Nichts als Sünde, in Gott Nichts als Zorn und Rache [...]. Er fühlte sich Gott gegenüber nur in einem Verhältniß ,der Furcht und des Schreckens', und wollte den göttlichen Zorn, nach seinen eigenen Worten, sühnen ,aus eigener Gerechtigkeit', durch ,die Macht der Werke', die ihn in einen Zustand der Sündelosigkeit versetzen sollten [...]. Dadurch gerieth er allmählich in einen Zustand trostloser Entmuthigung und düstern Verzagens, so daß er sogar ,Gott haßte, ihm zürnte', und öfters wünschte, gar nicht geboren zu sein.30 Der gescheiterte Erfurter Mönch wird, nach Janssen, zum rachsüchtigen und verunglückten .Priester' par excellence. Luther stellt sich ihm als „ selbstquälerischer" und stets „überspannter" Mensch dar, dessen theologische Ansichten aus dem brennenden Bedürfnis entsprungen seien, das Gefühl der eigenen Niedrigkeit zum Verstummen zu bringen: Luther's selbstquälerischer Zustand fand auch, wie dies überhaupt bei krankhaft skrupulösen Naturen der Fall, in dem Empfange des Bußsacramentes keine Linderung. Vergebens legte er zweimal in Erfurt eine Generalbeichte ab, vergebens suchte er in Rom durch eine neue Generalbeichte Erleichterung seiner Qualen [...]. Ein solcher Zustand mußte zu einem Rückschlag führen. In seiner innern Zerrissenheit und Gewissensfolter verfiel Luther allmählich aus einem Extrem in's andere. Hatte er bisher vermessen auf eigene Kraft vertraut und aus eigener Kraft frei von Sünden und selig werden wollen, so wollte er nunmehr ohne eigene Mitwirkung an der Rechtfertigung und Seligkeit sein Heil erreichen. Er fing an zu glauben, daß der Mensch in Folge der Erbsünde durch und durch böse geworden sei und keinen freien Willen besitze, daß alles menschliche Thun, also auch das auf das Gute gerichtete, ein Ausfluß seines bösen Willens und demnach vor den Gerichten Gottes eigendich nur Todsünde sei [...]. Indem wir, lehrte er, an Christus glauben, machen wir seine Verdienste zu unserem Eigenthum, ziehen das Kleid der Gerechtigkeit an, welches unsere ganze Schuld und stete Sündhaftigkeit zudeckt [...]; darum brauchen wir [...] nicht mehr ängsdich im Gewissen besorgt zu sein.31 Es ist nicht schwer, in dieser und ähnlichen Passagen von Janssens Werk, das Nietzsche zum ersten Mal 1879 las, all dieZüge aufzufinden, die in der „Morgenröthe" und etlichen Nachlaß-Notizen aus dem Jahre 1880 zu Nietzsches Luther-Bild zusammenkommen. In der Tat fehlen in „Menschliches, Allzumenschliches" Bezugnahmen auf das in Erfurt gescheiterte „geistliche Ideal" des „unmöglichen Mönches". Dagegen kommt er auf die ihm von Janssen nahegebrachte Deutung Luthers und seines Werkes als einer direkten Konsequenz dieser negativen Erfahrung auch noch in Aufzeichnungen der späteren 80er Jahre zurück:

30

31

J.Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 70 f. Zu Luthers Klostersleben in Erfurt vgl. auchj. Köstiin: Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, Aufl., Bd. 1, Elberfeld, 1883, S. 61-89. J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 73 f.

Schleichwege zum Chaos

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Zum Idealismus der Selbstverächter. [...] Der christliche Dilettantismus Luthers. Der Glaube ist eine Eselsbrücke. Der Hintergrund ist eine tiefe Uberzeugung [...] Luthers und seines Gleichen von ihrer Unfähigkeit zu christlichen Werken, eine persönliche Thatsache, verhüllt unter einem extremen Mißtrauen darüber, ob nicht überhaupt jedwedes Thun Sünde und vom Teufel ist: so daß der Werth der Existenz auf einzelne hochgespannte Zustände der Unthätigkeit fällt (Gebet, Effusion usw.) 32

5. Schleichwege zum Chaos Des öfteren befaßt sich Nietzsche in den 80er Jahren mit der Reformation als einer „der verlogensten Eruptionen von gemeinen Instinken" 33 , wobei er sich bemüht, „an dem großen ,ungeistigen Menschen', an Luther" die Hauptzüge deutschen Wesens darzustellen. Vor allem zwei Tatsachen, Luthers obsessives Kämpfen und sein Scheitern im Erfurter Kloster sowie seine Haß reden gegen die Bauern, beschäftigen Nietzsche. Sie werden zu umfassenden .Symbolen', denn sie bilden gleichsam den Ausgangspunkt jener „Schleichwege zum Chaos", auf die sich die Deutschen, laut Aphorismus244 von „Jenseits von Gut und Böse", so gut verstehen. Mit einer solchen Sichtweise unterscheidet sich Nietzsche grundsätzlich von der Auffassung jener Wagnerianer, welche, wie ζ. B. Heinrich von Stein, dem „deutschen Mönch" und dessen „heroisch-germanischem Instinkt" huldigen34. Zugleich stellt er sich damit auch in diametralen Gegensatz zu den „sentimentalen" Phantasien von Antisemiten wie Paul de Lagarde". Nietzsches Luther ist im gleichen Grade Sinnbild der „Unordnung" in der deutschen Seele und Personifikation all solcher Verhaltensweisen, deren sie zum Schutz vor dem Chaos und der innerlichen Wirrnis bedürfe. In diesem Sinne greift Nietzsche 1880-82 auf Baumann, Janssen und sogar Emerson zurück, um am Beispiele Luthers die Mechanismen zu veranschaulichen, die zur Abwehr von Gefühlsverwirrung und Gewissenspein beitragen. Ein erster Mechanismus dieser Art ist die strenge Unterordnung unter irgendeine .Macht', Ausdruck jenes „Hanges zum Gehorsam", der die „deutsche Empfindung" schlechthin sei: „Lange vor

32 10[49] (Herbst 1887); KSA 12, S. 478. Siehe jedenfalls auch GM III 19 und das Fragment 26[255] (Sommer-Herbst 1884; KSA 11, S. 216), wo Nietzsche sich negativ über „de[n] katholische[n] Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland" ausspricht. 33 7[5] (Ende 1886-Frühjahr 1887); KSA 12, S. 271. 34 H. von Stein: „Luther und die Bauern", in: Bayreuther Blätter5 (1882), S. 101-118; H. von Wolzogen: „Die Sprache Luthers in Wagner's Kunst", in: Bayreuther Blätter 6 (1883), S. 297-304. 35 P. de Lagarde: Die religion derzukunft,in: Deutsche Schriften, Bd. 1,Göttingen 1878. AufS.245heißt es: „die unschuldig herben formen deutschen rechts sind unsern Zeitgenossen so tot, wie die alten sagen und brauche unserer nation, wir haben nie eine deutsche geschichte gehabt, wenn nicht etwa der regelrecht fortschreitende Verlust deutschen wesens deutsche geschichte sein soll." Siehe dazu Nietzsches Aufzeichnung 26[363] aus Sommer-Herbst 1884 (KSA 11, S. 246): „Auf germanische Ursitte und Urkeuschheit nützt es nicht, sich zu berufen: es giebt keine Germanen mehr, es giebt auch keine Wälder mehr."

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XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, — es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber und volkstümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche." Diese Sätze aus dem Aphorismus 207 der „Morgenröthe" gehen, wie das Fragment 4[57] aus Sommer 1880 eindeutig zeigt, auf Baumanns „Handbuch" zurück: [Nietzsche] (Baum243) Luther: etwas haben, dem das menschliche Herz in Allem trauen könne d. h. einen Gott haben.36

[Baumann] Luther schreibt catechismus major P. I decern praecepta (Meyer, S. 249): quod deum habere nihil aliud sit quam habere aliquid, cui cor humanum per omnia fidere soleat; gentilium quoque opinione deum habere nihil aliud est quam fidere et credere. Wie beide Erklärungen andeuten, ist Religiosität in diesem Sinne blos formal, des mannichfachsten Inhaltes fähig, auch der Räuber, der Mörder kann in diesem Sinne religiös sein und ist es oft gewesen.37

Von einem weiteren Mechanismus, mit dem Luther Selbstverachtung und Verzweiflung abgewehrt habe, ist im Aphorismus 511 der „Morgenröthe" die Rede. Dort heißt es: Die Versucherin. — Die Ehrlichkeit ist die grosse Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit. Was Nietzsche damit meint, wenn er von der „ungeschlachten Manier" Luthers spricht, leuchtet nicht sofort ein. Es wird jedoch verständlich, wenn man die an dieser Stelle benutzte Quelle, die Emanuel Hirsch schon 1920 identifiziert hat, heranzieht. Es handelt sich dabei um eine Passage bei Janssen, worin geschildert wird, wie stark Luther selbst an der Wahrheit seiner Lehre gezweifelt habe: Eine [...] zuversichtliche Sprache bezüglich der Wahrheit seiner Predigt führte er in all' seinen Schriften, in seinen vertraulichen Selbstbekenntnissen aber [...] lautete seine Sprache häufig ganz anders. ,Es nimmt mich Wunder', klagte er, nachdem er schon über zwanzig Jahre seine Lehre gepredigt hatte, ,daß ich dieser Lehre nicht vertrauen kann; ich bin mir selber darum feind, da doch alle meine Discipel meinen, sie können sie auf ein Nägelein.' .Antonius Musa, Pfarrer zu Rochlitz,' schreibt Luther's Lobredner Mathesius,,saget mir: er habe dem Doctor einmal herzlich geklagt, er könne selbst nicht glauben, was er Anderen predige. Gott sei Lob und Dank, habe der Doctor geantwortet, daß anderen Leuten es auch 36 KSA9.S. 113. 37

J. Baumann: Handbuch der Moral, a.a.O., S. 243 f.

Schleichwege zum Chaos

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so geht; ich meine, mir wäre allein so.' [...] Seine Seelenkämpfe, seine Verzagtheit und tiefste Entmuthigung treten oft genug in wahrhaft ergreifenden und Mideid erregenden Worten hervor [...]: ,bin ich denn allein, der so traurig im Geiste sein muß und angefochten werden? Ο ich sah gräuliche Gesichte und Spückniß [...].' ,Ich bin oft selbst auf mich zornig,' gesteht er an einer spätem Stelle, ,daß ich nicht kann in der Anfechtung durch Christum meine Gedanken austreiben; noch derselben kann los werden, da ich doch so viel davon gelesen, geschrieben und gepredigt habe.' [...] ,Der traurige Geist ist das Gewissen selbst.' [...] Als einst ein Predigter erzählte, der Teufel versuche ihn, er solle sich mit einem Messer erstechen, erwiderte Luther: ,das ist mir auch oft begegnet, daß, wenn ich ein Messer hab in die Hand genommen, so sind mir deßgleichen böse Gedanken eingefallen, und daß ich oft nicht habe beten können und mich der Teufel darüber aus der Kammer gejagt hat.'38 Recht „ungeschlacht" seien, wie Nietzsche in der „Morgenröthe" sagt, die von Luther empfohlenen Maßnahmen zur Beschwichtigung der „Gewissensangst", worüber Janssen wie folgt berichtet: Für die im Gewissen Beängstigten sei, sagte er, das hauptsächlichste Heilmittel, an Christus zu glauben und ihn anzurufen, aber er empfahl auch den Freunden noch andere Mittel, wie er im Zustande der Anfechtung, Traurigkeit und Verzweiflung sie selbst mit Erfolg erprobt habe, nämlich, man solle reichlicher trinken, spielen, scherzen, ja selbst dem Satan zum Trotz eine Sünde thun; man solle die satanischen Gedanken durch andere Gedanken zu vertreiben suchen, an ein schönes Mädchen, an Geiz oder an einen Rausch denken oder sich in einen heftigen Affect des Zornes versetzen. In solche Affecte des Zornes pflegte sich Luther stets bezüglich der Kirche [...], insbesondere des Papstthums zu versetzen. Um seine Gewissensangst zu beschwichtigen [...], arbeitete er sich in jenen über alle Maßen leidenschafdichen Ton der Polemik hinein, der bei allen ruhig denkenden Zeitgenossen, sowohl Freunden als Feinden, Verwunderung und Entsetzen erregte." Gemeines Benehmen sei, so Nietzsche, für den „Bauern" Luther 40 ein stets gangbarer Ausweg. Ungehobeltes und ungeschlachtes Gebaren („trinken, spielen, scherzen...") bedeute jedenfalls, sich an Regeln gebunden zu halten und Verzweiflung und innere Verödung hinter einer Maske zu verbergen. Zu demselben Resultat komme Luther, heißt es im Aphorismus 129 der „Fröhlichen Wissenschaft", noch auf eine andere Weise, und zwar durch die Ubersteigerung des Selbstgefühls: Die Bedingungen Gottes. — ,Gott selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen' — hat Luther gesagt und mit gutem Rechte; aber ,Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen' — das hat der gute Luther nicht gesagt!

J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 178 f. Vgl. hierzu E. Hirsch: „Nietzsche und Luther", in: Jahrbuch der Luther-Gesellschaft II/III (1920/21), S. 99. Siehe auch J. Salaquardas Nachwort zum Neudruck von Hirschs Studie (Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 431-439). Zum Aphorismus Μ 511 siehe auch W. Kaufmann: Nietzsche. Philosoph-Psychologe-Antichrist, a.a.O., S. 408 f. 39 J. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, a.a.O., S. 180 f. «ο 25[271] (Frühjahr 1884); KSA 11, S. 82. 38

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XI. Kapitel: Die deutsche Eigenart

Der „weise Mensch" nehme eine überaus schwere Verantwortung auf sich, sogar die Existenz Gottes hänge von ihm ab. Der dritte Abwehrmechanismus, als dessen Verkörperung wiederum Luther gilt, bestehe wiederum in einer Überspannung des Gefühls. Im Fortgang der Betrachtung enthüllt sich Janssens „ungeschlachter" Mönch für Nietzsche als anmaßender und „selbstgefälliger" Mensch. Dem entspricht eine Stelle bei Emerson, und zwar jene Schilderung des .profetischen Geistes', worauf Nietzsche bei der Niederschrift des eben angeführten Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" Bezug genommen hat: Nicht weniger bemerkenswerth ist die ungemeine Wichtigkeit, die jeder Mensch auf das legt, was er zu thun oder zu sagen hat. Für den Dichter, für den Propheten hat das, was er ausspricht, einen viel größeren Werth, wie für irgend einen der Hörer, und darum wird es gesprochen. Der kräftige, selbstgefällige Luther behauptet ausdrücklich, was aber nicht falsch verstanden werden darf, daß ,Gott selbst nicht ohne weise Menschen bestehen kann.' [...] James Taylor glaubte sogar, er sei Christus, und duldete es, daß man ihn wie diesen anbetete. Jeder Prophet sucht sich unmittelbar mit seinem Gedanken zu identificiren, und hält seinen Hut und seine Schuhe für geweiht.41

Daß ein Hang zur Begeisterung und zugleich zur Servilität für Nietzsche Grundeigenschaften der Deutschen sind, haben wir bereits zu Beginn dieses Kapitels gesehen, und wie wir nun feststellen konnten, sieht er in Luther diese charakteristische Duplizität der „deutschen Seele" vollkommen verkörpert. Der „ungeistige Mönch " arbeite seinen Zweifeln und seiner Unruhe entgegen, einerseits durch den „Hang zum Gehorsam", wie im Abschnitt 207 der „Morgenröthe" erläutert wird, anderseits durch die Zuflucht in überspanntes Verhalten, sei es in das Gebaren des .Bauern' oder in ein übersteigertes Selbstgefühl.

41

R. W. Emerson: Versuche, a.a.O., S. 405. Zu FW 129 schrieb E. Hirsch 1920 (Nietzsche und Luther, a.a.O., S. 100): „Es fällt mir ziemlich leicht, etwas dem, was Luther hienach nicht gesagt haben soll, Ahnliches bei ihm nachzuweisen (de servo arbitrio Ε. A. var. 7,173). Dagegen bin ich wegen dessen, was er gesagt haben soll, in Verlegenheit. Vermutlich handelt es sich um einen Nachhall der ernstlichen Mahnungen Luthers an die Ratsherren aller Stände, um des Bestandes des Evangeliums willen die Schulen nicht eingehen zu lassen."

Nachwort Schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann man, über das Verhältnis von Nietzsches Werk zum Fachwissen seiner Zeit zu diskutieren. Seine Texte, so der Philosoph T. Achelis in einer 1895 veröffentlichten Schrift, kreisen um „das große Problem der Kultur, d. h. unserer eigenen Gesittung und geistigen Entwicklung", und streben mithin die Bewältigung und Deutung „weitschichtigen Materials" an. Nietzsches Versuch schlage allerdings fehl, denn er vermöge keinen Beitrag zu jenem „weitschauenden Programm" zu leisten, „an dessen Herstellung und Verwirklichung Anthropologie, Urgeschichte, die vergleichende Rechtswissenschaft, Völkerkunde, allgemeine Kulturgeschichte, Psychologie, Sprachphilosophie und Linguistik mit vereinten Kräften [...] seit etwa drei Dezennien arbeiten"1. Die Unzulänglichkeit von Nietzsches Denken ergebe sich eindeutig aus einem Vergleich mit dem zeitgenössischen Fachwissen. Die „etymologischen Zergliederungen", die ζ. B. in der „Genealogie der Moral" eine wichtige Rolle spielen, seien hinfällig, „gefährliche Spielereien", ja bisweilen „geradezu komisch". Unhaltbar sei ζ. B. die von Nietzsche zur Erhärtung seiner Betrachtungen über die Herrenmoral (GM 15) angeführte Annahme, „im lateinischen malus [...] könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige [...] gekennzeichnet sein", da schon lange „Curtius und andere Sprachforscher das Wort mit dem Sanskrit malam (Schmutz) auf eine religiöse Entweihung und Besudelung zurückführen"2. Zur selben Frage wurde damals auch von anderen Standpunkten her Stellung genommen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist ζ. B. das Urteil des Rechtshistorikers J . R. Steinmetz, der 1894 in seiner wichtigen Studie über „die erste Entwicklung der Strafe" feststellte, Nietzsches „Genealogie der Moral" stelle immerhin eine anregende Herausforderung für die fachwissenschaftliche Forschung dar: „Unbewiesene, zum Teil aus Unkenntniss hervorgehende Behauptungen wie die Nietzsche's [...] über die Entstehung der Moral dürften sehr geeignet sein, die wichtige Funktion zu erfüllen, unsere Conventionellen Ansichten hierüber ein wenig zu erschüttern und uns derart für die Resultate der streng wissenschaftlichen Forschung empfänglicher zu machen."3 Daß Nietzsches Schriften, wie u. a. aus Steinmetz' Stellungnahme hervorgeht, auch für Fachgelehrte von Interesse sein konnten, verdankt sich, wie wir gezeigt zu

ι 2 3

T. Achelis: Friedrich Nietzsche, Hamburg 1895, S. 22 f. Ebd., S. 24. J. R. Steinmetz: Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe, Bd. 1, Leiden u. Leipzig 1894, S. 360.

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Nachwort

haben hoffen, seiner „tüchtigen Zimmermanns-Arbeit" 4 und seiner Aufgeschlossenheit für Forschungsrichtungen und Fragestellungen der zeitgenössischen Natur- und Geisteswissenschaften. Alle Werke und Nachlaßfragmente Nietzsches, mit der ganzen Vielzahl von Anspielungen, Rückgriffen und indirekten Bezugnahmen auf die wissenschaftliche Diskussion seiner Zeit, die nur langsam und nicht ohne Schwierigkeit zu erschließen sind, legen Zeugnis von seinen interdisziplinären Interessen ab, von seiner Neugierde auf die verschiedensten Fachkenntnisse, von seinem ständigen Bemühen, die neuesten Forschungsergebnisse von Ethnologie und Anthropologie, Religionswissenschaft und Altertumskunde heranzuziehen, miteinander zu kombinieren und zu verarbeiten. In dieser Hinsicht kommt dem Aphorismus 186 von „Jenseits von Gut und Böse" eine besondere Bedeutung zu, denn er veranschaulicht die für Nietzsche eigentümliche intellektuelle Grundhaltung, den steten Unwillen gegen die Verallgemeinerungen der „Philosophen". Immer wieder hebt er den Gegensatz hervor zwischen ihrer inhaltsleeren „Wissenschaft der Moral", die eigentlich eine „Begründung der Moral" zu sein beanspruche, und ,,jene[r] unscheinbar dünkende[n] [...] Aufgabe einer Beschreibung" und vergleichenden Betrachtung der großen Mannigfaltigkeit der moralischen Wertschätzungen: „Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn."' Der Mangel an Tatsachensinn ist es, was Nietzsche der zeitgenössischen Philosopie vorwirft. Die „Harmlosigkeit unserer kritischen Philosophen"6, die mit „steifem Ernste" und „plumpem Stolz" (JGB 186) auftreten, drücke sich vor allem in ihrer Überzeugung aus, die Philosophie müsse mit einer Kritik des Erkenntnißvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daß das Organ der Erkenntniß sich selber .kritisiren' kann, wenn man mißtrauisch geworden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniß? Die Reduktion der Philosophie auf den .Willen zu einer Erkenntnißtheorie' ist komisch. Als ob sich so Sicherheit finden ließe!7

In bezug auf Nietzsches interdisziplinäre Interessen, auf seine „Sammler"Attitüde (JGB 211), die in erster Linie Respekt vor Fakten und Materialien bedeutet, welche von den „Moral-Philosophen" außer acht gelassen werden, ist « 5

6 7

F. Nietzsches Brief an P. Ree vom 12. Mai 1878; KGB II/5, S. 326. JGB 186. Vgl. O.Spengler (Der Untergangdes Abendlandes, a.a.O., S. 441): „Eine strenge Morphologie aller Moralen ist die Aufgabe der Zukunft. Nietzsche hat auch hier das Wesentliche, den ersten, für den neuen Blick entscheidenden Schritt getan [...]. Wir waren bisher blind für den unermeßlichen Reichtum auch der moralischen Formensprache." 1[133] (Herbst 1885-Frühjahr 1886); KSA 12, S. 37. 1 [60] (Herbst 1885-Frühjahr 1886); KSA 12, S. 26. Vgl. dazu auch das Fragment 38[14] (Juni-Juli 1885); KSA 11, S. 613-615.

Nachwort

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seinen Studien und Überlegungen des Jahres 1875, denen im ersten Teile dieser Arbeit nachgegangen wurde, die größte Bedeutung beizumessen. Damals erneuerte er von Grund auf sein begriffliches Instrumentarium und richtete sein Augenmerk auf neue Motive, auf die er im Laufe der Jahre immer wieder zurückkommen sollte: .unreines Denken' und animistische Weltsicht; das Verhältnis zwischen den „rohen und naiven Menschen" der Urzeit und den „Culturvölkern"; Überbleibsel und atavistische Kulturphänomene, in denen Denkungsarten vergangener Zeiten fortleben. Die Schärfung seines „übereuropäischen Auges" begann also in der zweiten Hälfte der 70er Jahre mit dem gründlichen Studium mehrerer um das menschliche Handeln kreisender Spezialdisziplinen. Nietzsches Beiträge zur „Philosophie der Cultur"8 haben, bei aller Verschiedenheit, ein gemeinsames Grundmotiv. Auch bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es ihm immerfort darum, ein „Bedürfniss nach Erkennen" zu fördern, das sich nicht mit bekannten allgemeinen Interpretationsschemata zufrieden gebe, d. h. alsogleich in ein „Bedürfniss nach Bekanntem" (FW 355) umschlage. Nietzsches gesamtes Werk weist in diesem Sinne bedeutende Entsprechungen auf. Zur Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches" (1875-1878) gipfelt seine Auseinandersetzung mit den Griechen in der These, das „Vorgriechische" mache das Wesen der griechischen Kultur aus. In den darauffolgenden Jahren beschäftigt sich Nietzsche wiederholt und unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Geschichte des Christentums, um die .heidnischen' Wurzeln des neuen Glaubens, die ihrerseits unterschiedlichster Ursprünge sind, freizulegen. In beiden Fällen drückt sich dasselbe Anliegen aus, nämlich „das Bekannte" als „das Fremde" (FW355) darzustellen, das anscheinend Eindeutige und Unproblematische zu zerlegen und die konstituierenden Spannungen und Dissonanzen ans Licht treten zu lassen. Das Mißtrauen gegen den heuristischen Wert der historischen Grundbegriffe und das Bemühen, die Kehrseite des „Bekannten" sichtbar zu machen, liegen auch den um 1886 angestellten Betrachtungen über die .physische Anthropologie' der deutschen Bevölkerung zugrunde: Der „Heimatlose" (FW 377), der schon im Hellenischen das Vorgriechische und im Christentum das Vorchristliche wahrzunehmen mochte, wird nun auch des Sachverhaltes gewahr, daß der .arische' Charakter des Deutschen tatsächlich ein Mosaik aus verschiedenartigen, vornehmlich „vorarischen" Elementen sei. Im Brennpunkt von Nietzsches Interesse bleibt immerfort die Auseinandersetzung mit dem europäischen Gegenwartsmenschen, dem „Spätgeborenen", der, wenn man seine ererbten Wertschätzungen und moralischen Gefühle näher betrachte, als „ein so verwickeltes Geflecht" erscheine, „daß er die verschiedensten Ausdeutungen erlaubt"9. Der moderne Europäer, der vielen und verschiedenen Vergangenheiten zugleich angehöre, sei auch in einem anderen Sinne ein verwickeltes Wesen. Die 8 9

25[3] (Herbst 1877); KSA 11, S. 697. 42[8] (August-September 1885); KSA 11, S. 697.

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Nachwort

abendländische Geistesgeschichte sei in vielerlei Hinsicht die kontinuierliche Fortsetzung der Vorgeschichte. Das Hinaustreten aus vorgeschichtlichen Zeiten sei in der Tat, so betont Nietzsche zwischen 1875 und 1887 immer wieder, ein bloß scheinbares: tatsächlich lebten wir weiterhin „in den Uberresten der Empfindungen unserer Urahnen: gleichsam in Versteinerungen des Gefühls" 10 . Die Weltgeschichte, ,,diese[r] lächerlich klein[e] Ausschnitt des menschliches Daseins", sei im Grunde nur „ein Lärm um die letzten Neuigkeiten" (M18). Maßgebend und viel wichtiger seien hingegen die Leistungen der Menschheit in „jenen ungeheuren Zeitstrecken der .Sittlichkeit der Sitte', welche der,Weltgeschichte' vorausliegen" (M 18). Die „kleine Welt der Ausnahmen" (M 14), in der die modernen Europäer leben, beruhe in Wirklichkeit auf einer optischen Täuschung. Daß längst Vergangenes noch heute wirksam sei bzw. werden könne, wird in der „Genealogie der Moral" deutlich ausgesprochen: Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist) [...]. (GM II 9)

Über all diese Zusammenhänge gehe der moderne Europäer mit seinem „Stolz" (M18) und übersteigerten Selbstgefühl hinweg. Seine Sichtweise, der die Brüchigkeit der „kleinen Welt der Ausnahmen" entgehe, wird in dem Fragment 11 [285] aus dem Winter 1887-88 als Auswirkung jener „künstlichen Verstärkung" interpretiert, die sich auch in der religiösen Selbsttäuschung ausdrücke: [...] ζ. B. das Gefühl der Einzigkeit ζ. B. wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Cultur sich in Europa abspielt und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint; oder der Christ alles Dasein überhaupt um das ,Heil des Menschen' sich drehen macht — 1 1

Auch Nietzsches Ausführungen, die sich als historische Beiträge zur „Philosophie der Cultur" verstehen lassen, sind letztendlich Zeugnisse seines ,,Mißtrauen[s] gegen Dialektik, selbst gegen Gründe"12. Sie zielen auf die Infragestellung der großen Kategorien der Geschichtsschreibung, der Trennungslinien zwischen Epochen, die der komplizierten Textur der geschichtlichen Vorgänge mitnichten gerecht werden, da sie die Tatsache verschleiern, daß die Entstehung und Durchsetzung „unserer europäischen Cultur" tatsächlich „ein ungeheueres Problem"13 gewesen sei. In diesem Sinne werfen Nietzsches Schriften Motive auf, über die noch heute sich nachzudenken lohnt.

10 11 [252] (Frühjahr-Herbst 1881); KSA 9, S. 537. 11 11 [285] (November 1887-März 1888); KSA 13, S. 111. 12 F. Nietzsches Brief an G. Brandes vom 2. Dezember 1887; KGB III/5, S. 206. » F. Nietzsches Brief an G. Brandes vom 8. Januar 1888; KGB III/5, S. 227.

Siglenverzeichnis Nietzsche-Editionen Die für die Nietzsche-Ausgaben gewählten Siglen entsprechen den in der „Kritischen Gesamtausgabe" verwendeten: GA = F. Nietzsche: Werke, 19 Bände und 1 Register-Band, Naumann/Kröner, Leipzig 1894 ff. (=„Großoktav-Ausgabe") BAW = F. Nietzsche: Werke und Briefe. Historisch-Kritische-Gesamtausgabe (Abteilung: Werke), Beck, München 1933 ff. KGW = F. Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, W. de Gruyter, Berlin 1967 ff. KSA = F. Nietzsche: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, W. de Gruyter u. dtv, Berlin u. München 1980 KGB=F. Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, W. de Gruyter, Berlin 1975 ff. Nietzsches Werke und Nachlaß Die für die von Nietzsche veröffentlichten und zur Publikation vorgesehenen Werke gewählten Siglen entsprechen den in der „Kritischen Gesamtausgabe" verwendeten: GT = Die Geburt der Tragödie MA = Menschliches, Allzumenschliches (I) VM = Vermischte Meinungen und Sprüche WS = Der Wanderer und sein Schatten Μ = Morgenröthe FW = Die fröhliche Wissenschaft JGB = Jenseits von Gut und Böse GM = Zur Genealogie der Moral GD = Götzen-Dämmerung AC = Der Antichrist Für Nietzsches Vorlesungen und nachgelassene, noch nicht veröffentlichte Aufzeichnungen werden in vorliegender Studie folgende Siglen verwendet:

370

Siglenverzeichnis

GDG = Der Gottesdienst der Griechen (Vorlesungen im Wintersemester 187576), in: GA, Bd. 19, S. 1 ff. GGL = Geschichte der griechischen Litteratur. Dritter Teil (Vorlesungen im Wintersemester 1875-76), in: GA, Bd. 18, S. 129 ff. Gr.L. = Griechische Lyriker (Vorlesungen im Wintersemester 1878-79), in: BAW, Bd. 5, S. 369 ff. Vor.K. = Unveröffentlichte Aufzeichnungen, die im Goethe-Schiller Archiv zu Weimar unter der Nummer 71/227 (= Vorarbeiten und Konzepte zu Vorlesungen) aufbewahrt sind.

Quellenverzeichnis In diesem Quellenverzeichnis werden alle in der vorliegenden Studie berücksichtigten Nietzsche-Quellen angegeben. Die Autoren werden in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Die linke Spalte enthält die Nietzsche-Passagen; die rechte Spalte enthält nicht die korrespondierenden Stellen der betreffenden Autoren, sondern die Seiten der vorliegenden Studie, auf welchen die jeweiligen Quellen erschlossen werden.

J. J. Baumann: Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie, Leipzig 1879 4[121] KSA 9 4 [274] KSA 9 FW 127 3 [120] KSA 9 Μ 106 25 [388] KSA 11 GM III 18 10[18] KSA 12 Μ 88 4[59] KSA 9 Μ 207

163 f. 164 166-170 169 199 292 f. 293 293 f. 358 359 361 f. W. A. Becker: Charikles, 2. Aufl., Leipzig 1854

Vor.K.

68 C. Boetticher: Die Tektonik der Hellenen, Potsdam 1843-52

GDG, GDG, GDG, GDG, GDG, GDG, GDG,

S. 13 S. 46 f. S. 47 S. 48-50 S. 47 f. S. 48 S. 73 f.

87 f. 88 f. 89-91 91 101 f. 103 113-115

372

Quellenverzeichnis

C. Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen, Berlin 1856 GDG, GDG, GDG, GDG, GDG,

S. 35 f. S. 38 S. 69 f. S. 36 S. 70

26 f. 70 f. 110 111 115

C. Boetticher: „Ueber agonale festtempel und thesauren, deren bilder und ausstattung", in: Philologus 17 (1861) GDG, S. 57 f.

13 f.

J. Brandis: „Die Bedeutung der sieben Thore Thebens", in: Hermes 2 (1867) GDG, S. 17 f. GDG, S. 18

122 f. 123

J. Braun: Geschichte der Kunst in ihrem Entwicklungsgang durch alle Völkerderaiten Welt, Wiesbaden 1858 27 [15] KSA 8

121 J.Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Basel u. Stuttgart 1978

5 [65] KSA 8

125 J. W. Draper: Geschichte der geistigen Entwickelung Europas, Leipzig 1871

5 [198] KSA 8

116 E. Dühring: Der Werth des Lebens, Breslau 1865

GDG, S. 5 f.

18 R. W. Emerson: Versuche (Essays), Hannover 1858

VM 209 FW 142 FW 129

190 204 363 f.

Quellenverzeichnis

373

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100 B. Gracian: Handorakel und Kunst der Weltklugheit

VM 300

52

E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst, 3. Aufl., Leipzig 1865 MA215 Μ142

85 86

J. A. Härtung: Geschichte der Rhythmenschöpfung, in: Die griechischen Lyriker, Bd. 5, Leipzig 1856 GGL, S. 133 f. Gr.L., S. 369 Gr.L., S. 373 f. FW 84 Vor.K. GGL, S. 137-142 Gr.L., S. 373 FW 84 GDG, S. 14

78 78 79 79 80 f. 80 f. 80 f. 80 f. 80 f.

J. A. Härtung: Die Religion und Mythologie der Griechen, Leipzig 1865-73 MA 111 GDG, S. 7 GDG, S. 12 MA 110

60 60 71 f. 75 f.

F. v. Hellwald: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung his zur Gegenwart, 2. Aufl., Augsburg 1876-77 3 [128] KSA 9 Μ 50°° FW 147 FW 146

173 173 173 f. 201

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224 f. 224 f.

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C. F. Koeppen: Die Religion des Buddha, Berlin 1857-59 GDG, S. 87

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16 W. Mannhardt: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme, Berlin 1875

GDG, S. GDG, S. GDG, S. Vor.K. GDG, S. GDG, S. Vor.K. Vor.K.

13 13 14 14 f. 15

95 95 f. 97 98 f. 98 f. 99 100 lllf.

375

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GDG, GDG, GDG, GDG,

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20 f. 22 f. 93 f. 94 133 133 f. 133 f.

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298-300 u. 303 298-300 298-300 298-300 300-303 300 300

377

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302 305-308 305-308 305-308 305-308 309 309 309 £. 309 305 305

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255 255 256 257 258 258 f. 259 f. 260 f. 260 f. 261 f. 262 262-264 264 f. 265 f. 266-269 268 268 268 268 269 269 270 f. 271 271 272 272 272-274 274 274

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181-184 182-184 185 185 185 f. 186 186 186 186 186 f. 187 187 187 f. 216 L. Tolstoi: Ma religion, Paris 1885

AC 32 AC 33

335 335 Ε. B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, Leipzig 1873

GDG, S. 34 GDG, S. 34 f. GDG, S. 35 Vor.K. WS 77 Vor.K.

21 f. 23-25 25 f. 62 62 64

Quellenverzeichnis

GDG, S. 8 MA 111 Vor.K. GDG, S. 36 Vor.K.

65 65 67 f. 69 f. 82-84

J. Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1883 AC 25 14[13] KSA 13 AC 16 AC 17 AC 26 AC 25 AC 26 AC 26

320 f. 320 f. 322-325 322-325 330 331 332 334 f.

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 1. Heft, Berlin 1884 AC 16 AC 17 AC 16 AC 25 AC 26 AC 25 AC 26 AC 49 10[199] KSA 12

325 325 331 331 332 332 f. 332 f. 332 f. 338 f.

J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, 3. Heft, Berlin 1887 AC 16 AC 17 14[204] KSA 13 AC 42

323 323 339 f. 339 f.

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144

Literaturverzeichnis In der folgenden Bibliographie werden Primär- und Sekundärliteratur nicht getrennt voneinander aufgeführt. Um sie jedoch für den Leser übersichtlicher zu gestalten, habe ich im ersten Teil die Literatur zusammengestellt, die vor dem Ausbruch Nietzsches Krankheit erschienen ist. Es geht also um Werke und Beiträge, die, entsprechend den im Vorwort dargelegten Erläuterungen, den interdisziplinären Hintergrund für Nietzsches Reflexionen gebildet haben. Der zweite Teil enthält spätere Literatur. Die Bibliographie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Literatur bis 1888 Achelis, Thomas: „Die Ethik der Gegenwart in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft", in: Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1883), S. 53-105. —: „Die Theorie der Seele auf ethnologischer Basis", in: Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 9 (1885), S. 302-323. Arnim, Harry v.: Pro tiihilo! Vorgeschichte des Arnim's Processes, Verlags-Magazin, Zürich 1876. Bagehot, Walter: Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluß, der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwesen, Brockhaus, Leipzig 1874. Bastian, Adolf: „Der Baum in vergleichender Ethnologie", in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 5 (1868), S. 287-316. —: Die Vorgeschichte der Ethnologie, Dümmler, Berlin 1881. Bauer, Bruno: Christus und die Caesaren. Der Ursprung des Christenthums aus dem römischen Griechenthum, Grosser, Berlin 1877. —: Zur Orientierung über die Bismarck'sehe Ära, Schmeitzner, Chemnitz 1880. Baumann, Johann Julius: Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie, Hirzel, Leipzig 1879. Becker, Wilhelm Adolph: Charikles. Bilder altgriechischer Sitte, zur genaueren Kenntniss des griechischen Privatlebens, 2. Aufl., 2 Bde., Fleischer, Leipzig 1854. Bergk, Theodor: Griechische Literaturgeschichte, Weidmann, Berlin 1872. Boetticher, Carl: Die Tektonik der Hellenen, 1. Bd.: Einleitung undDorika, 2. Bd.: Der hellenische Tempel in seiner Raumanlagefür Zwecke des Kultus, Riegel, Potsdam 1843-52. —: „Uber den Parthenon zu Athen und den Zeus-Tempel zu Olympia, je nach Zweck und Benutzung", in: Zeitschriftfür Bauwesen 2 (1852), S. 198-210,498-520; 3 (1853), S. 35-44,127-142,270-292.

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Personenregister Achelis, Τ. 50,155,178,210,217,365 Aeschines 265 Ahlsdorf, M. 169,229,326, 335 Alarich 290 Ambrosius 290 Arnos 332 Anaxagoras 240 Andler, C. 10,26 Apollodor 127 f. Apuleius v. Madaura 289 Aristides 261 Aristophanes 31 Aristoteles 240,245,260,262,265,271 f., 274 Arnim, H. v. 141-143,145, 148 Athenaios v. Naukratis 126 f., 130 Augusta, Kaiserin 141 Augustinus 287,290,296 Bachofen,J.J. 231 Baer, Κ. E. v. 37 Bagehot, W. 35,37 f., 47-49,223 Baker, S.W. 220 Baldwin J . Μ. 213 Barbera, S. 86,303 Bastian, A. 36 f., 41, 45, 98, 113, 180, 231 Bauer, B. 143,314 f. Baum, W. 356 Baumann ,J. J. 154,163-170,177,199201,292 f., 311,358 f., 361 f. Becker, W. A. 68 Bekker, I. 248 Benz, E. 281,315 Bergk, T. 235 Bernstein, J. A. 275

Bismarck, O. v. 141-145,147 f. Blumenbach, J. F. 36 Böckh, A. 6 Böhringer, H. 330 Boetticher, C. 6f., 12-14,26-28,31,6971,87-89,91,96,101-111,115 f., 214 f. Bourel, D. 318 Braatz, K. 44,141,144 Brandes, G. 368 Brandis, J. 116,121-124,138 Brasch, M. 243 Braun ,J. 121 Brewster, D. 162 f. Brown, M.B. 155 Brusotti, M. 16,19,167,177,196,206, 275,293 Bucher, R. 313 Buchholz, E. 61 Buddha, Gotama 24, 67 Burckhardt ,J. 17, 125,139,353 Burkert, W. 210 Bursian, C. 14, 77 Burton, R. F. 48 Calder, W. M. 17 Campioni, G. 30, 35 f., 86, 303, 309 Cancik, H. 4, 180, 231, 318, 326,347 Cancik-Lindemaier, H. 318 Carus, V. 155 Caspari, O. 37,238 Cassirer, E. 94, 96 Cato 203,287 Chrysippus 253 Chrysostomus 317 Cicero 92,127, 171, 253, 284, 289 Ciz, Κ. H. 37

400

Personenregister

Clemens v. Alexandria 96 Cobet, C. 329 Corssen, P. W. 94 Coulanges, F. de 207-210,214,221 f., 230 Crankshaw, E. 142 Crescenzi, L. 5 Creuzer, G. F. 74 f., 130 Crusius, O. 5,105, 150 Curtius, E. 17,94,116,118 f., 123,365 Dahlmann, F. C. 248 Darwin, C. R. 42,48,53,55,243 Daniel 339 David 327 Demosthenes 273 Descartes, R. IX Detwiler, B. 146 Deussen, P. VII Dionysos v. Halikarnassos 103 DÜthey, W. VIII f., 178,212,217,340, 355 Diodorus aus Agyrion 125 Diogenes Laertios 268 Draper,J.W. 42,116 Dressel, L. 54 Droysen,J. G. 6 Dühring, E. 18,279, 328 f. Dürkheim, E. 211 E b r a r d J . H . A. 279,354 Eusebius v. Cäsarea 25, 129, 290 Emerson, R. W. 36, 189 f., 204, 354, 361,364 Empedokles 70,240 Engelhardt, M. v. 177 Epikur 264,305 f. Erdmann, J. E. 191 Ericus Bonus 86 Espinas, A. 159,237 Etter, A. 224 Eudemos 272 Eudoxus aus Knidus 127

Euripides 251,262,268,271 FavratJ. 150,153 Fechner, G. Τ. VIII Fenelon, F. de Salignac de la Mothe 174-176 Fergusson, J. 23 f. Feuerbach, L. 19 Fiedermutz-Laun, A. 37 Flashar, H. 274 Flemming, W. 54 Foerster, R. 100 Forster, R. 99 Frantz, C. 12 Frantzius, A. v. 38 Franz v. Sales 174-176 Fritsch, T. 279 f., 312 Gall, L. 142 Geiger, L. 236-238,240, Gellius, Aulus 203,242,253 Gerber, G. 240 Gerhard, E. 28,248 Gerhardt, V. 18 Gerland, G. 36-38,45 Gersdorff, C. v. VIII, 143,149,220 Gibbon, E. 173 Gilman, S. L. 12, 146,150,231,354 Gladstone, W. E. 238,241-244 Glasenapp, C. F. 321 Görres, J. v. 75 Goethe,J.W. 245 Götz, F. 358 f. GolombJ. 318 Gothsch, M. 37 Gracian, B. 52 Grange, Β. 211 Grimm, J. 6 f., 113,116,244,354 Grimm, W. 6 f., 116,244 Groos, A. 280 Grote, G. 250 Gründer, K. 274 Gruppe, O. 211

Personenregister

Günther, R. 108 Gumplowicz, L. 38,217 G u y a u J . M . 210 Guyon, madame de 174-176 Haeckel, E. 43,48,53-55 Hagen, F. H. v. der 6 Hanslick, E. 84-86 Harris, M. 35 Hartmann, E. v. 155,253,256 Hartmann, R. 37 Hartog, F. 208 Härtung,J. A. 6 f., 32,60 f., 72-82,8489, 91,106,132, 139, 197 Hastings, J. 213 Haupt, M. 248 Hearn, W. E. 210 Hegel, G . W . F. 85,352 Hellwald,F.v. 37 f.,74,173 f., 177,201, 341,346 Helm, R. M. 318 Helmholtz, Η. VIII £.,240 Hensel, E. 155 Herakles 105 f., 115, 117 £. Herbart, J. F. 167,292 Hermann, F. 107,137 Hermann, G. 248 Herodot 29 f., 125,252 Herre, F. 142 Hertwig, O. 54 Hesiod 52,114,117,245,256,262,272 Hesychius aus Milet 125 Heyne, M. 74 Hieronymus, der Heilige 290 £. Hildebrandt, H. F. 206,223 Hirsch, E. 362-364 His, W. 37 Hobbes, Τ. I X Hodgen, Η. T. 35 Homer 3 0 , 6 2 , 9 4 , 2 4 1 , 2 4 3 - 2 4 5 , 2 4 8 , 251,253,258,262,272 Horaz 261 Horstmann, A. 274

401

Hosea 322 Isokrates 263 Jacolliot, L. 224 Jäger, G. 238,243 Janssen, J . 353-364 Janz, C. P. 10,85 Jesus von Nazareth (Christus) 335-338 Jhering, R. v. IX, 154,249 Julianus 128 Justinus der Märtyrer 308 Juvenal 289

294,

Kant, I. 352 Katz, D. 247 Kaufmann, W. 318,363 Kelterborn, L. 12 Keßler, P. 335 Kimmerle, G. 274 Klemm, G. 206 Köhnke, K. C. 178 Köhnken, A. 17 Koeppen, C. F. 66 f. Koepping, Κ. P. 37 Köselitz, Η. VIII f., 353-355 KöstlinJ. 354,360 Kollmann, J. 343 Konstantin 284,316 Kraus, H . J . 319 Krause, E. 238,243-246 Kropfinger, K. 85 Kuhn, A. 211 Lachmann, K. 6 , 1 1 6 Lactantius 128 Lagarde, P. de 148-150,153,279,312 f., 318,328,361 Lange, F. A. 8 f., 45 Leberts, H. L. 238 Lecky, W. Ε. H. 44,171 f., 177,203 f., 284-293,305,311,315,317

402

Personenregister

Leibniz, G . W . 352 Le Rider J . 318 Lexer, Μ. v. 244 Liebeschütz, Η. 319 Lippert, J. 212 f., 217- 221, 228, 230, 294-297,311 Liutprand 26-27 Livingstone, D. 46, 163 Lonsbach, M. R. X , 3 4 9 Lotze, H. R. 163,167,292 Lubbock J . 6 , 9 , 1 6 , 2 4 , 2 6 , 3 5 , 3 7 - 3 9 , 41 f., 45-50,58-61,72,91,189,192-194, 196 f., 207,212 Lucanus 287 Lukretius 289,305 Luther, Μ. VI, 281 f., 352-364 Luther, W. 257 Magnus, H. 238,240-247 Maine, H. S. 206f.,209f.,221-224,230 Mannhardt,W. 6 , 7 , 3 1 , 3 8 , 7 2 , 9 1 , 9 4 100,111-113,130, 197 Martensen, Η. XI, 174-177 Marti, U. 146 Mayer,J. R. 159 f., 162,177 Maudsley, H. 196 McLennan, J. 206,231 Meijers, A. 240 Meiners, C. 32 Melanchthon, P. 356 MertinJ. 318 Mette, H . J . 108 Meysenbug, M. v. 143 Middeldorfs, Α. Τ. M. 238 Mill, J. S. 201 MinsonJ. 275 Mittasch, A. 246 Mohammed 339 f. Momigliano, A. 208 Mommsen, T. 20, 22 Montinari, M. 280 Morgan, H. L. 231 Movers, F. C. 6 , 7 , 123-130

Müllach, F. W. A. 240 Müller, H. 243 Müller, H. D. 28 f., 76 Müller, Κ. Ο. IX, 6 , 2 8 f., 81,130,137 Müller, M. 76 Müller-Lauter, W. 162,345 Müllenhoff, K. 6 f., 116-121, 123 f., 126,138-139 Musa, A. 362 Naake, E. 150 Nägeli, C. 55 f. Neuhaus, D. 318 Niebuhr, B. G. 31 Nietzsche, E. 146 Nipperdey, T. 142 Nissen, H. 6f.,20-23,28,32,93 f., 116, 132-139,213 f., 230 Noire, L. 236 Nöldeke, T. 219 O'Flaherty, J . C. 318 Orsucci, Α. IX, 53 f., 56,162 Ottmann, H. 146 Overbeck,F. 3 , 5 2 , 5 5 , 1 7 3 , 2 1 7 , 2 4 3 , 288,295,298,313-317 OverbeckJ. 7,105 Palgrave, W. G. 202 f. Paolino da S. Bartolomeo 99 Parkes, G. VII Paulus 294, 296, 298-300, 305, 309, 336,339 Paulus Diakonus 26 f. Pausanias 62,90f., 103,105f., 115,125 f., 129,269 Penka, K. 330 Perikles 259,263 Peschel, O. 37-39,45,47, 163,219 Peschier, E. 236 Peter, N. 317 Pfeiffer, R. 17 Pflug, G. 17

Personenregister

Pfotenhauer, Η. 17,118 Philostratos 128 Photius 128,130 Pindar 255,264 Pittakos 268 Plato 65,171,240,252 f.,262,266,269, 271 f., 274 Plinius 96,129 f., 203,242,245 Plutarch 90, 102, 128, 253, 256, 261, 264,269,289 Poesche, T. 344 Pöschl, V. 274 Porphyrius 129 Post, Α. H. 37,153,205-207,221,230, 237 Preller, L. 28 f., 74, 76, 99, 116, 118, 130,132,137,214 Preuner, A. 132 Proctor, R. Α. 159-162,177 Quatrefages, A. de 192, 341 -343 Radi, E. 55,238 Rance, J. le Bouthillier de 174-176 Ranke, L. v. 6 Ranke, J. 343 f. Ratzel, F. 349 Ree, P. 3,19,39,187,231,250,366 Reibnitz, Β. v. VIII, 78,118, 316 Reinach, S. 343 Renan, E. 297-309,311,329,336 Reuter, R. 145-148,150 Reverdin, O. 211 Ritsehl, F. 7, 81 f., 248 Römer, R. 329 Rohde,E. 3,7,108,143,178,180f.,206 f., 212,219, 316 Romundt, H. 29 Roscher, W. H. 6,7,116,130-132 Roskoff, G. 45,153,190-198 Rousseau, J. J. 45 Roux, W. 54,159,162 Rütimeyer, L. 37

403

Salaquarda, J. 177,363 Sandmann, J. 55 Sandys,J. E. 28,32 Saussaye, P. D. Chantepie de la 212 Scarpelli, G. 351 Schaeffle, A. 212 Scheler, M. 248 f., 268 Schelling, F. W J . 74 f. Schieder, T. 147 Schiller, F. 45 Schinkel, K. F. 6 Schirnhofer, R. v. 354 Schmeitzner, E. 155, 173 Schmidt, L. 235,248-275 Schmidt, O. 53 f. Schoemann,G.F. XI,6,11,29,31 f., 92 f., 102 f., 105-108,111,115,215 Schopenhauer, A. 19, 76, 82, 169 f., 337,352 Schräder, O. 212,344 Schulze-Delitzsch, H. 217 Schwann, M. 354 Seiler, F. 52 Seile, C. 261 £. Sellner, T. F. 318 Semper, K. 159,162 Seydlitz, R. v. 7 Simmel, G. 178-181 Simonides 261 f. Smend, R. 319 Sokrates 255,266 Sophokles 75, 114,251,259,265,270 Spencer, H. 38,155-165,171,177-181, 183-191,197,201,207,210-212,215 f., 220 f., 228,230,253 Spengler, O. 239,366 Spinoza, B. de IX Sprung, Μ. VII Srbik, H. 358 Starcke, C. Ν. 2 θ 8 Stark, Κ. B. 13, 107 Stein, H. v. 361

404

Personenregister

Stein, L. 192,222 Steinitzer, M. 155 Steinmetz,J.R. 365 Steinthal, H. 35,37 Stifter, A. 354 Stingelin, M. 206 Stobaeus 258 Stocking, G. W. 210 Strabo 11 Strasburger, E. 54 Tertullian 253,308 Thatcher, D. S. 16,26 38,50 Theodoras 40 Theodosius 26 Theognis 251,253,262,271 f. Theophrast 96,258-260 Thiers, A. 141 Thüring, H. 79 Thukydides 259,263 Tönnies, F. VIII, 155 Tolstoi, L.N. 297,309,311,335-338 Tongeren, P. v. 275 Treiber, H. 19,39,341 Tylor, Ε. B. 5-7,9,21-28,30-35,37-42, 44-51,58-59,62,64 f., 67,69 f., 72,8284, 86, 91, 95,163,197,206 f., 212 Ungeheuer, G. 26 Usener, H. 212 Venturelli, A. 19 Vetter, B. 38,155 f. Vinet, A. 175 Virchow, R. 37,341-346 Virgil 87 Vogt, J. G. 159 Vogt, K. 37 Vorländer, K. 156 Wagner, C. 142-143 Wagner, R. 29-30, 33, 82, 85 f., 108, 142-143,279,318

Wahrmund, A. 279,312,321 f. Waitz,T. 32,36,39f.,45,163,194,207, 219 Warren, M. 146 Wartenburg, York P.v. 178 Weinrich, M. 318 Welcker, F. G. 17, 28 f., 74, 76, 108, 130,137,248 Wellhausen,J. 318-328,330-336,338340 Westermarck, E. 213 Wertheimer, E. 142 Wilhelm I. 141 Willers, U. 335 Windelband, W. 212 Wirth, M. 351 Wolf, F. A. 16 Wolff, Η. Μ. 19,231 Wolzogen, Η. v. 328,330,361 Wotling, P. 43 Wundt,W. VIII, 37,210-213,248-250, 254,267 Wuttke, A. 6,38 Wuttke, H. 143-145,148 Xenophon

11,252,255,263

Zeller, Ε. 36 Zöllner, C. F. 351

Sachregister Agon 11-14,262-264, Ahnenkult 70 f., 180 f., 183,205-231 Aidos 256-261 Aischyne 256-259 Altertumswissenschaft 11 f., 14-18,2729,35,74,103,108 f. Animismus 51, 59-61, 170, 177-181, 212 f., 219 Antisemitismus 279 f., 310-313, 326330,350 Araber/arabisch 219,328,339 f. Arete 249-252 Arier/arisch 208,210,230,312,321 f., 329 f., 341-350,367 Askese 171-177,185 £., 188 f., 195-197, 290 f., 306,358 f. Baumkult 23-27, 30, 68-71, 109-112 Bildungswesen 28, 38 Buddhismus 23 f., 66 f., 204 Christentum 26 f., 31 f., 171-177,281317,367 Dankbarkeit 274,320,323 f., 328,333 Denken 10,14 f., 65-70, 177-181 Deutsche/deutsch 43,346-348,351 Eiresione 31 Entwicklungslehre 47-49,53-57 Ethnologie 27 f., 31,35-51,58-65,177181,189-198 Etymologie 249-252,365 Eudämonismus 199 f. Europa 47 Eurozentrismus 189-198

Familie 209,221-224 Farbensinn 236-247 Fest/Festtempel 11-14, 263 f., 319 f., 322 Freigeist 43 f., 61,139 Freude 85, 157-159, 185, 187, 272 f., 293,298,300 f. Gedächtnis 79 Gefühl 86 f. Germanen/germanisch 119, 296 f., 313,343-345 Geschichte 20-30,49,55 f. Gesellschaft 225-227 Gott/Götter 59, 70, 181 f., 201-203, 215,228 f., 322-326 Grausamkeit 181-185 Handlung 19,266-269,272 Hellas/hellenisch 9-30, 67 f., 78-111, 113-132,134, 164, 200, 207, 215,242275,367 Hinduismus 206,208,224 Individuum 266-269 Italiker 22 f., 93, 119, 132-136,214 Judentum 219,284,298-302,304,313, 318-340 Kausalität 16,59-61,65-71,170,181 f., 190 f., 333 Kolonialismus 173 f. Kultur/Kulturstufe 15, 33, 35, 40-44, 348 f., 368

406

Sachregister

Lachen 50 Leib 168 f. Macht 80-82,87-94,214-216,22,282 f., 361 f. Magie 21 f., 32 f., 64-70,72,74,79,81 f., 94 f., 191, 194-196,215,286 f. Materialismus 8 Militarismus 12 Mode 189 f. Moral 155-159, 162-166, 173, 178 f., 181 -189,199 f., 249-272,292 f., 298-303 Mythos 74-76,210-213 Nation/national 28 f., 43 f., 139 f. Natur 328 f. Naturvölker 15 f., 45-48,51, 65 f., 86, 163, 165 Naturwissenschaft 8, 53-57, 159-162, 247

Sittlichkeit 92 f. Skepsis 281-283,286,288 Sprache 82-84,249,251-256 Stamm 87 f. Stoizismus 177,287, 289, 293 Sublimierung 181-185 Sünde 213-220, 273 f. Tataren Technik Tempel Traum

201 66,101,260 f. 12-14,93 f., 101-103,106-108 39,181

Überbleibsel 10,33-35,53,294-297 Unterpfand 71-77,87 Vererbung 178 f. Vornehmheit 266-268 Wahnsinn 172 f., 195 f. Wille 84,166-170,248 f.

Orakel 80 f., 287 Parlamentarismus 146-150 Pathos der Distanz 200-204 Phönizier/phönizisch 90 f., 116-118, 121-130 Polis 88 f., 125,215 Priester 66 f., 73,332-335 Rasse 42 f., 116,200 Recht 18 f., 206,209,220 f., 227 Römer/römisch 20 f., 22 f., 203 f., 213 f., 283-286,292 f. Religion/religiöser Kult 34,40,47-49, 62-64,73 f., 76 f., 87-101,183-185,190192,285,288-290,295-297 Reformation 281-283,352-364 Rhythmus 77-87 Schuld 225-230 Schutzbilder 87, 91, 101 f. Sitte 45-49,58 f., 192-196,201-203

Zeitungswesen 141-146, 149 Zweck 159-162

Christian Koecke

Zeit des Ressentiments, Zeit der Erlösung Nietzsches Typologie temporaler Interpretation und ihre Aufhebung in der Zeit Groß-Oktav. XII, 242 Seiten. 1994. Ganzleinen ISBN 3-11-014066-7 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 29)

Studie zu der Stellung von Zeit und Interpretation im Werk Nietzsches. Nietzsche hat keine Theorie der Zeit, sondern ihn beschäftigt in erster Linie, wie Zeit interpretiert werden muß. So entwickelt er eine Typologie der Zeitinterpretation, mit der sich der Erste Teil des Buches befaßt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Begriff des Ressentiments entgegengebracht, der in der Forschung bisher häufig eindimensional behandelt worden ist. In einem nächsten Schritt wird dann deutlich, daß für Nietzsche die Interpretationen von Zeit selbst wieder der Zeit unterworfen sind. Der Zweite Teil befaßt sich mit der philosophischen, historischen, aber auch religiösen Dimension dieses Zeitverständnisses.

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Paul Bishop

The Dionysian Self C. G. Jung's Reception of Friedrich Nietzsche Groß-Oktav. XVI, 411 Seiten. 1995. Ganzleinen ISBN 3-11-014709-2 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 30)

Chronologische Darstellung der Aufnahme von Themen und Gedanken Nietzsches in C. G. Jungs Werken. Aus dem Inhalt: Jung's reception of Nietzsche. The letters and the autobiography · Jung's early reception of Nietzsche in his psychoanalytic writings (1902—1917) · Jung's reception of Nietzsche in Psychologische Typen · Jung's reception of Nietzsche in his writings 1922-1934 · Jung's reception of Nietzsche in Three Eranos Lectures • The early seminars (1925 — 1934) · Jung's seminar on Nietzsche (1934—1939) · Jung's reception of Nietzsche in his writings 1935 — 1945 · The mystic Dionysos: Nietzsche, Jung, and the death of God.

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