Organisation und Leitung: Fragen der Theorie und Praxis [Zweite, unveränderte Auflage, Reprint 2022] 9783112613542, 9783112613535

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German Pages 164 [163] Year 1970

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Organisation und Leitung: Fragen der Theorie und Praxis [Zweite, unveränderte Auflage, Reprint 2022]
 9783112613542, 9783112613535

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O R G A N I S A T I O N UND L E I T U N G

SAMMLUNG AKADEMIE-VERLAG

6

PHILOSOPHIE

ORGANISATION UND LEITUNG FRAGEN DER THEORIE UND P R A X I S

Zweite, unveränderte Auflage

AKADEMIE-VERLAG

1970

• BERLIN

Russischer Originaltitel: Organisazija i uprawlenije Verlag Nauka 1968 herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR bearbeitet von einem Redaktionskollegium unter der Leitung von A. I. Berg Übersetzt und bearbeitet von Hubert Laitko

Ersrliienen im Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger Straße 3 — 4 Copyright 1909 by Akademie-Verlag Lizenznumiiicr: 202 • 100/277/70 Offsetdruck und buchbinderisclie Weiterverarbeitung: YEH Druckerei ,,Thomas Müntzer", "i82 Und Langensalza Ursli-llnuininer: 7501! • 75118'..'] . ES 3 11 2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort N.

W.

7 ADKELDT

Gegenstand und Probleme der Wissenschaft von der Leitung- der Produktion W.

P.

Situation und Entwicklungsaufgaben der allgemeinen Organisationstheorie J. P.

9

BOGOLEPOW

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FROLOW

Zur Theorie der wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit . . . 1. Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit 2. Die Unhaltbarkeit des Pragmatismus . . 3. Behaviorismus und Produktionstechnik 4. Die Pawlowsche Methode zur Untersuchung der Hirnfunktionen und die Entwicklung des Menschen im Arbeitsprozeß 5. Wechselbeziehungen des ersten und des zweiten Signalsystems 6. Die Kybernetik und die Perspektiven der Modellierung einiger Hirnfunktionen 7. Der dynamische Stereotyp als physiologisches System und seine Rolle bei der Ausprägung stabiler organisatorischer Fähigkeiten 8. Der psychophysiologische Begriff von der Dynamik und der Struktur der Hirnfunktionen in Anwendung auf die geistige Arbeit 9. Die Besonderheiten der Leitungstätigkeit als Art der geistigen Arbeit . .

49 50 52 53 54 55 58 60 63 65

0 . A . DEJNEKO

Die Organisationserfahrung der Vergangenheit studieren und verallgemeinern J. O.

69

LJUBOTPITSCH

Zur Entwicklung der Theorie von der Organisation der Industrieproduktion in der UdSSR 1. Allgemeine prinzipielle Fragen der Theorie von der Organisation der Produktion und Leitung 2. Probleme der Organisation der Produktionsprozesse im Betrieb 3. Probleme der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation 4. Probleme der Ökonomie und Organisation der Produktions- und Wirtschaftstätigkeit eines Betriebes

86 89 97 105 110

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Vorwort

Es ist bekannt, welche hohe Bedeutung Lenin den Fragen der Organisation von Arbeit und Leitung beimaß. Bekannt ist auch seine gewaltige Arbeit zu diesen Fragen, in deren Ergebnis sich in den 20er Jahren in der Sowjetunion eine breite Bewegung des Kampfes für eine wissenschaftliche Arbeitsorganisation entwickelte. Diese Bewegung spielte sowohl in der Wiederherstellungsperiode als auch in der Rekonstruktionsperiode unserer Wirtschaftsentwicklung und damit beim Aufbau der materiell-technischen Basis des Sozialismus eine große Rolle. Jetzt steht vor uns eine noch bedeutendere Aufgabe, die im Programm der KPdSU und in den Beschlüssen der letzten Parteitage formuliert worden ist — die Aufgabe, die materiell-technische Basis des Kommunismus zu schaffen. Deshalb' ruft die Partei im Programm und in anderen Dokumenten dazu auf, gemäß den neuen Anforderungen und Bedingungen unseres Lebens und unserer Arbeit die Organisation der Arbeit, Produktion und Leitung mit allen Mitteln zu entwickeln. Wenn die Organisation eine so große Rolle spielt, dann sind wir natürlich an einer konsequenten und gründlichen Entwicklung ihrer Theorie außerordentlich interessiert. Die Funktion der Organisationstheorie kann man sich, bildlich ausgedrückt, folgendermaßen vorstellen. Zum Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion ist es notwendig, bei einer Reihe ökonomischer und anderer Kennziffern bestimmte Werte zu erreichen. Wir bezeichnen diese Kennziffern und ihre Werte mit Vektoren in einem n-dimensionalen Raum (a^, a2', . . . , a'^). Andererseits haben wir heute andere Werte dieser Kennziffern: a\, a2, ..., a'n. Die Aufgabe der Organisationstheorie besteht nun darin, zu zeigen, wie und mit Hilfe welcher Mittel unsere Wirklichkeit mit minimalem Aufwand und in kürzester Frist aus dem Zustand (a'i, a'2', • • • > a ' n ) *n Zustand (a'i, a 2 ', . . . , a'^) übergeführt werden kann. Man könnte einwenden, daß diese Aufgabe nicht nur vor der Organisationstheorie steht, sondern auch vor anderen Wissenschaften. Das trifft natürlich zu, aber man muß berücksichtigen, daß die Organisation unser ganzes Leben durchdringt und entsprechend auch die Organisationstheorie sozusagen mehrere „Stockwerke" hat. Ihr

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N . W . ADFELDT

Gegenstand und Probleme der Wissenschaft von der Leitung der Produktion

Noch vor kurzem gab es einen vielstimmigen Streit über die Leitungswissenschaft - darüber, ob sie überhaupt existiert, und wenn ja, ob sie auch notwendig ist. Manche Teilnehmer an solchen Diskussionen wollten die Forderungen des Lebens nicht zur Notiz nehmen, und da sie diese- Disziplin mit dem ungewohnten Namen nicht im traditionellen Verzeichnis der Lehrstühle fanden, leugneten sie schon die bloße Möglichkeit dieser Wissenschaft. Nachdem jedoch in den Beschlüssen des XXIII. Parteitags der KPdSU direkt von der Notwendigkeit gesprochen wurde, „die neuesten Ergebnisse der Leitungswissenschaft auszunutzen" sind auch die damaligen Gegner dieser relativ jungen Wissenschaft bestrebt, ihr Aufmerksamkeit entgegenzubringen, ihren Gegenstand zu klären und über ihre wesentlichen Probleme nachzudenken. Der Hinweis des Parteitags erfolgte weder zufällig noch unerwartet. Er gehört zu der konsequenten Ausnutzung der Leninschen Ideen und Traditionen in der Arbeit der Partei, denn Lenin hat schon oft die Notwendigkeit betont, die Leitungswissenschaft zu entwickeln und zu nutzen. Die Probleme einer wissenschaftlichen Organisation der Industrieproduktion werden schon seit langem bearbeitet. Der Terminus „wissenschaftliche Leitung" geht auf Taylor zurück, obwohl die wertvollsten Untersuchungen dieses Autors auf das betriebliche Niveau der Arbeitsorganisation bezogen sind. Aus diesem Grunde übersetzten deutsche und später auch russische Autoren den Taylorschen Terminus „wissenschaftliche Leitung" nicht wortgetreu. In der deutschen Literatur entstand der Begriff „wissenschaftliche Unternehmensführung", während man in der russischen den wirklichen Inhalt des TayJorsystems genauer berücksichtigte und von wissenschaftlicher Arbeitsorganisation sprach. Diese Bezeichnung hat sich bis zur Gegenwart in verschiedenen Bedeutungen erhalten, vorzugsweise jedoch als verallgemeinernder Begriff, der die Organisation der Produktion, die eigentliche Arbeitsorganisation und auch die Leitung umfaßt. Der Terminus „wissenschaftliche Leitung" (oder wissenschaftliche Organisation der Leitung) wurde jedoch ebenfalls weiter verwendet und wurde in 1

Materialien des XXIII. Parteitags der KPdSU, Moskau 1966, S. 233 (russ.).

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der amerikanischen und englischen Literatur vorherrschend. In kapitalistischen Ländern umfaßt er den ganzen Kreis organisatorischer Fragen der Produktion und der finanzwirtschaftlichen (kommerziellen) Tätigkeit. Der bekannte französische Forscher und Praktiker Fayol hat die Fragen der praktischen Organisation der Leitung auf der Ebene eines Unternehmens oder eines großen Industriebetriebes sehr präzis dargestellt. Mit seinem Namen ist die Ausarbeitung der „administrativen Doktrin" verbunden, die sich in einigen Ländern selbständig entwickelte, aber später mit der sogenannten wissenschaftlichen Leitung im Sinne des Taylorsystems verbunden wurde. In den USA erscheint laufend eine umfangreiche Literatur zu Fragen der Organisation des „Business" und der Produktionsleitung. Obwohl man in den kapitalistischen Ländern oft behauptet, über eine wissenschaftliche Theorie der Leitung, des Management, zu verfügen, waren und sind die bürgerlichen Ideologen jedoch tatsächlich nicht in der Lage, eine Theorie der Leitung zu schaffen, die den Forderungen echter Wissenschaft genügt. Die Organisation der Leitung eines Einzelunternehmens kann keine streng wissenschaftliche, die rationelle Nutzung der Produktivkräfte sichernde sein, wenn sie auf die engen Grenzen einer privatkapitalistischen Firma oder auch eines monopolistischen Konzerns beschränkt bleibt. Die dem Kapitalismus organisch eigene Anarchie der Produktion macht es unmöglich, ihn zu organisieren und auf wirklich wissenschaftlichen Grundlagen zu leiten. Die Wissenschaft als Verallgemeinerung der Praxis kann der Wirklichkeit nicht vorangehen, wenn sie auf den Positionen der Apologetik verharrt. Die Apologetik liefert die Wissenschaft dem Pragmatismus und anderen Beschränkungen aus. Unter den Bedingungen des sozialistischen Aufbaus entstehen erstmalig in der Geschichte objektive Voraussetzungen, um die wissenschaftlichen Grundlagen für die Organisation der Leitung der gesellschaftlichen Produktion auszuarbeiten. Der Marxismus begründete zugleich die praktischen Fertigkeiten der organisatorischen Tätigkeit und ermöglichte ihre systematische Ausarbeitung. In der revolutionären Tätigkeit der Leninschen Partei, nahmen Organisationsprobleme stets einen wichtigen Platz ein. Diese Besonderheit des Bolschewismus setzt die von Marx in seinen Feuerbach-Thesen, besonders in der elften, ausgesprochene Idee konsequent fort. Die erfolgreiche umgestaltende Tätigkeit der KPdSU beruht auf einer hohen Kultur ihrer organisatorischen Arbeit. Lenin, dem Empirismus und Handwerkelei stets fremd waren, nahm jede wichtige Aufgabe auf wissenschaftlicher Basis in Angriff. Sowohl bei der Schaffung der Partei, bei der Vorbereitung und Durchführung der Revolution als auch bei der Organisation der sozialistischen Produktion widmete er der Ausarbeitung theoretischer Fragen gleichermaßen große Aufmerksamkeit. Lenin entwickelte die Ideen von Marx und Engels weiter und bearbeitete

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nicht nur Fragen der großen Politik, die zur richtigen Formulierung der grundlegenden sozialökonomischen Prinzipien der Leitung beitrugen, sondern auch organisatorische Details der Leitungsarbeit, und er analysierte sie stets auf einem hohen fachlichen Niveau. Noch zur Lebenszeit Lenins wurden in der Sowjetunion mehr als zehn spezielle Organisationen zur Ausarbeitung verschiedener Probleme der wissenschaftlichen Arbeits- und Leitungsorganisation geschaffen. Die Hauptquelle für die Vervollkommnung der Organisation der Leitung ist nach Lenin das ständige Studium der eigenen Erfahrung, ihre Untersuchung und ihre Verbesserung auf modernen wissenschaftlichen Grundlagen, das dauernde Bemühen, an verschiedenen Orten gewonnene Erfahrungen miteinander zu vergleichen. Gleichzeitig rief Lenin dazu auf, bei den bedeutendsten Organisatoren des Kapitalismus zu lernen. Er verband die selbständige schöpferische Ausarbeitung des Problems der Leitungsorganisation in der sozialistischen Produktion mit der kritischen Auswertung der Erfahrungen der kapitalistischen Länder. In seiner Arbeit „Lieber weniger, aber besser" stellte er die Aufgabe: „Es ist sofort ein Preisausschreiben für die Abfassung von zwei oder mehr Lehrbüchern über Organisation der Arbeit im allgemeinen und der Verwaltungsarbeit im besonderen zu veranstalten." 2 Lenin leistete einen wesentlichen Beitrag zur Leitungswissenschaft. Schon im ursprünglichen Entwurf des Artikels „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" schrieb er, daß man gewöhnlich mit dem Wort „Leitung" vor allem eine vorzugsweise oder rein politische Tätigkeit verbindet. Indes verleiht der Ubergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft den ökonomischen Aufgaben eine besondere Bedeutung. Lenin führte später den für den Sozialismus typischen Begriff „ökonomische Verwaltung" 3 im Unterschied von der politischen und staatlichen Leitung ein. Lenin arbeitete die Prinzipien der Sowjetorganisation als wissenschaftliche Grundlage für die Leitung der Volkswirtschaft unter den Bedingungen des Sozialismus aus und legte damit das Fundament für die sozialistische Leitungswissenschaft. Seine Werke enthalten einen prinzipiell neuen Lösungstyp für die Fragen der Leitungsorganisation unter sozialistischen Verhältnissen; sie 2

3

W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 480. - Anmerkung des Herausgebers der deutschen Ausgabe: Das russische Wort „ynpaBJieHHe" wird in der deutschen Ausgabe der Werke Lenins mit „Verwaltung" übersetzt. Wir halten eine Übersetzung mit dem Wort „Leitung" für sachlich und angemessener und verfahren mit Ausnahmen der Stellen, an denen aus deutschen Ausgaben zitiert wird, überall in dieser Veröffentlichung so. - H. L. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 200. (Der Ausdruck „3K0H0MHHeCK0e ynpaBJieHHe" im Original wäre besser mit „ökonomische Leitung" zu übersetzen; vgl. dazu Anmerkung 2. - H. L.)

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kennzeichnen die neue, wissenschaftliche Etappe in der Entwicklung der Leitungstheorie. Während bei Taylor hauptsächlich von der Arbeitsorganisation im Betrieb und bei Fayol im Maßstab eines Unternehmens (ungeachtet dessen, daß sein Hauptwerk „Allgemeine und industrielle Leitung" heißt) die Rede war, löste Lenin die Probleme der Leitungsorganisation im Maßstab einer ganzen Volkswirtschaft und schuf damit zugleich die Lehre von der Organisation des ökonomischen Aufbaus und von der Leitung der gesellschaftlichen Produktion unter den Bedingungen der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Lenin hat seine Ansichten zur sozialistischen Organisation der Leitung der Volkswirtschaft nicht in Form einer systematischen Lehre fixiert. Dennoch enthält das noch unzureichend erforschte und noch nicht systematisierte Leninsche Erbe auf diesem Gebiet die fundamentalen Grundlagen der Wissenschaft von der Leitung der sozialistischen Produktion, markiert ihre Hauptabschnitte und gibt ein methodologisches Beispiel. Das Leninsche Erbe auf dem Gebiete der ökonomischen Leitung ist außerordentlich vielseitig. 1. Lenin arbeitete die Grundprinzipien für die Leitung der sozialistischen Produktion aus. 2. Unter Lenins Führung schuf die Partei einen Apparat zur Leitung der Volkswirtschaft. Wenn wir diesen Apparat untersuchen, so finden wir darin in vergegenständlichter Form die Leninschen Leitungsideen, die im Verlauf des sozialistischen Aufbaus auf allen ihren Ebenen weiterentwickelt worden sind. 3. Von großem Wert ist die persönliche Leitungserfahrung Lenins auf dem Posten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und des Vorsitzenden des Rates für Arbeit und Verteidigung. 4. Die Arbeit Lenins vereinigte organisch operative und wissenschaftliche Tätigkeit. In seiner Leitungspraxis traf er nicht nur Maßnahmen zur Beseitigung entstandener Schwierigkeiten und Hindernisse in der Arbeit des Apparates. In allen Fällen suchte er hinter dem konkreten Faktum seine Ursache und war bestrebt, die Quelle sich regelmäßig wiederholender Leitungsmängel aufzudecken; er untersuchte nicht nur den Inhalt der Leitungsarbeit, sondern auch die Formen ihrer Organisation, die Methoden und Verfahren der Entscheidung und die Wege ihrer Vervollkommnung. Die von Lenin zu verschiedenen Problemen der Leitung ausgesprochenen Gedanken verdienen also besondere Aufmerksamkeit. 5. Schließlich sind Lenins Hinweise auf die Leitungswissenschaft, ihren Gegenstand, ihre Problematik und ihre Methodologie von grundlegender Bedeutung. Wie bereits bemerkt, enthielt Lenins gesamte praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Organisation und Leitung der Volkswirtschaft stets Elemente der 12

Forschung. Operative Anweisungen und Hinweise waren gewöhnlich mit den Ideen des Experimentators, mit kritischer Einschätzung .der Wirksamkeit der getroffenen Entscheidungen und mit der ständigen Überprüfung der Richtigkeit der gewählten Entwicklungswege verbunden. Diese Untersuchungen konnten natürlich nicht in jedem Einzelfall ausführlich und mit strenger Konsequenz betrieben werden, aber in ihrer Gesamtheit offenbaren sie einen wesentlichen inneren Zusammenhang. Es ist nicht schwer, hinter ihnen ein bestimmtes System von Forderungen an die Leitung zu erkennen; in ihnen zeigen sich vielfältige methodologische Überlegungen und theoretische Voraussetzungen. Im Rahmen eines Artikels können wir die Grundlagen der Leninschen Lehre auf diesem komplizierten Gebiet schöpferischer Tätigkeit der Gesellschaft natürlich nicht erschöpfend analysieren. Wir wollen nur einige Ideen Lenins heranziehen, um mit ihrer Hilfe eine Reihe aktueller Fragen bei der Klärung des Gegenstandes und der Probleme der Leitungswissenschaft zu untersuchen. Lenin hat oft auf die Notwendigkeit einer Leitungswissenschaft hingewiesen, jedoch nicht in dem elementaren Sinne, als sei noch eine weitere akademische Disziplin, noch ein weiterer Lehrgegenstand an den Hochschulen erforderlich. Es ging ihm um wesentlich mehr. Das oberste Ziel echter Wissenschaft ist die umgestaltende Einwirkung auf die Wirklichkeit, die praktische Vervollkommnung der Wirtschaftsleitung, die Verbesserung der Arbeit und ihre richtige Organisation. Lenin verwies auf grundlegende Ähnlichkeiten in der Organisation der Leitung von Objekten verschiedenen Ausmaßes (Behörde, Institution, Unternehmen) . Dieser Leitsatz bildet den methodologischen Schlüssel zu den wichtigsten Verallgemeinerungen der Leitungswissenschaft. Lenin betonte die Notwendigkeit, „ein außerordentlich kompliziertes und festes Netz von neuen organisatorischen Beziehungen herzustellen, die die planmäßige Produktion und Verteilung der Produkte e r f a s s e n . . . " U m die Gesetze jenes komplizierten Systems gesellschaftlicher Erscheinungen, die Lenin Organisationsbeziehungen nannte, zu erforschen und auszunutzen, ist ein wissenschaftliches Herangehen an die Leitungsarbeit erforderlich; die Fragen der Organisation der Wirtschaftsleitung sind in ihrem Zusammenhang zir betrachten. Es geht um die Systemanalyse der gesellschaftlichen Beziehungen mit dem Ziel einer musterhaften Organisation „der Summt aller wirtschaftlichen Beziehungen, der Summe des ganzen Wirtschaftsverkehrs . . . " 5 . Diese komplizierte Aufgabe betrachtete Lenin auf dem Niveau moderner Vorstellungen von einer Rückkopplung im Maßstab des ganzen Landes mittels 5

Ebenda, S. 231. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 369.

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„gegenseitiger Kontrolle der zentralen Verordnungen durch die Praxis der örtlichen Organe und der Praxis der örtlichen Organe durch die zentrale Leitung" 6 . Um die Leitungswissenschaft für die Organisation der Arbeit des Staatsapparates praktisch auszunutzen, beschränkte sich Lenin nicht darauf, auf die Notwendigkeit einer solchen Wissenschaft hinzuweisen, sondern überlegte sorgfältig, mit Hilfe welcher organisatorischer Mittel, in welchen Formen diese Wissenschaft angewandt werden kann. Man kann Lenins Ideen von der Leitungswissenschaft nicht verstehen, wenn man sie von seinen Gedanken über die Arbeiter- und Bauerninspektion trennt; hier handelte es sich um ein umfassendes Projekt zur Vervollkommnung des Staatsapparates mit Hilfe eines speziellen Organs von Partei und Staat, das allseitig mit theoretischen Kenntnissen und praktischen Fertigkeiten auf diesem Gebiet ausgestattet und mit Vollmachten versehen ist, die ihm gestatten, Fragen der Organisation auf jeder Stufe des Leitungsapparates autoritativ zu entscheiden. In diesem besonderen Organ plante Lenin eine „Verschmelzung der maßgebendsten Parteispitze mit einem gewöhnlichen' Volkskommissariat" 7 . Damit hatte die Arbeiter- und Bauerninspektion bei der ursprünglichen Organisation der Leitung die Möglichkeit, gegenüber dem gesamten Staatsapparat, ohne jede Ausnahme, in Verbindung mit der amtlichen Tätigkeit eine komplexe propagandistische Arbeit zu leisten. Lenin sah in diesem Organ ein Werkzeug zur Verbesserung des Apparates. Zu seinen Vorstellungen über die Tätigkeit der Arbeiter- und Bauerninspektion schrieb er: „Ich glaube, ich werde meinen Gedanken am besten ausdrücken, wenn ich meinen Plan mit Institutionen von akademischem Typus vergleiche." Neben den anderen Pflichten für die Mitglieder der Arbeiter- und Bauerninspektion sah er vor: „Schließlich werden zu ihrem Tätigkeitsbereich gehören die Beschäftigung mit der Theorie, d. h. mit der Theorie der Organisation derjenigen Arbeit, der sie sich zu widmen gedenken, und praktische Übungen unter der Leitung entweder von alten Genossen oder von Leitern der höheren Lehranstalten für Arbeitsorganisation." 8 Lenin ging davon aus, daß „die Kunst des Verwaltens den Menschen nicht angeboren ist, sondern durch Erfahrung erworben sein will" 9 , daß sie lernen müssen, um sich diese Kunst anzueignen. Die Mitarbeiter der Arbeiter- und Bauerninspektion müssen „daraufhin geprüft werden, ob sie mit unserem Staatsapparat vertraut s i n d . . . , ob sie die theoretischen Grundlagen in der Frage unseres Staatsapparats, die Grundlagen der Verwaltungswissenschaft... kennen" 10 . Er betonte, „daß wir in den Instituten für höhere Arbeitsorganisa6 7 8 9

14

Ebenda, S. 398. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 490. Ebenda, S. 481. r . I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 237.

10

W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 478.

tion usw. lernen, unermüdlich lernen müssen...", aber keineswegs „schulmäßig". 11 Hinsichtlich der höchsten Institute für Arbeit sollte man nach Lenin „nachprüfen, ob die Arbeit vollauf ernst zu nehmen ist, und sie nur so fortsetzen, daß sie wirklich auf der Höhe der modernen Wissenschaft steht und uns alle ihre Leistungen zugute kommen läßt" ^ Im Lichte der Leninschen Gedanken über die Leitungswissenschaft kann man vereinzelte Empfehlungen über Wege zur Vervollkommnung dieser oder jener Seite der Organisation der Wirtschaftsführung nicht als wirkliche Wissenschaft ansehen, denn sie beruhen nicht auf einer allseitigen Betrachtung des Problems im ganzen, im System. Will man in der Ökonomik wesentliche Veränderungen bewirken, rationelle Umgestaltungen vornehmen und die Leitung umstrukturieren, dann muß man diese Arbeit nach Lenin sorgfältig und allseitig planen. Der Plan muß gründlich alle organisatorischen Veränderungen erfassen und sowohl die allgemeinsten Probleme als auch die kleinsten Organisationsdetails berücksichtigen; ein Beispiel für dieses Vorgehen ist Lenins Artikel „Lieber weniger, aber besser" 13 . In solchen Fällen warnte Lenin unermüdlich vor Übereilung und rief dazu auf, die Arbeit ruhig im ganzen zu überdenken. 14 Ein Musterbeispiel für das allseitige Herangehen Lenins an die organisatorisch-ökonomische Planung ist der unter seiner Leitung ausgearbeitete Komplex der Maßnahmen, die mit dem GOELRO-Plan, der Einführung der NÖP und der Finanzreform verbunden waren. Diese Maßnahmen organisierten einen wirksamen Mechanismus und erfaßten alle grundlegenden Seiten des ökonomischen Systems, dessen Leitung unter sozialistischen Bedingungen sehr wichtig ist und zugleich spezifische Schwierigkeiten aufweist. Lenins Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen den Organisationbeziehungen und den Besonderheiten der Leitungswissenschaft bleiben als methodologische Grundlage der Forschungsarbeit unter den modernen Bedingungen des kommunistischen Aufbaus auch heute gültig. Entschieden weisen wir den falschen Standpunkt zurück, das Leninsche Erbe sei längst vollständig erforscht und verallgemeinert und werde entsprechend der Praxis des sozialistischen Aufbaus hinreichend ausgenutzt und entwickelt. Tatsächlich trifft das keinesfalls zu. Lange Zeit betrachteten zum Beispiel die Ökonomen die wirtschaftliche Rechnungsführung als begrenzten Komplex von Maßnahmen, die vom Anreizsystem isoliert waren; so wurde sie auch in die Praxis eingeführt. Die 11 12 13 14

Ebenda, S. 482. Ebenda, S. 479. Ebenda, S. 474-490. W. /. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 234; S. 311; S. 406-407; S. 475-476; S.479.

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Rechnungsführung beschränkte sich auf den staatlichen Sektor und war nicht unmittelbar auf die Interessen der Menschen gerichtet. Sie fungierte nicht als wirksamer Regulator der ökonomischen Beziehungen der Gesellschaft, des Kollektivs und der Einzelpersönlichkeit. Allgemein bekannt ist die von Lenin gestellte Aufgabe, den Aufbau des Sozialismus nicht allein auf den Enthusiasmus zu gründen, sondern dabei die materielle Interessiertheit am Arbeitsergebnis auf jede Weise auszunutzen, aber sie wurde erst im Ergebnis des Septemberplenums des ZK der KPdSU (1965) schöpferisch mit der wirtschaftlichen Rechnungsführung verbunden. Nach dem Leninschen Programm bilden die materielle Interessiertheit, die wirtschaftliche Rechnungsführung, die Bezahlung nach der Arbeitsleistung und das Prinzip der Ökonomie des Handelns untrennbare Elemente eines Systems organisatorisch-ökonomischer Maßnahmen, das die objektiven Bedingungen zur effektivsten Nutzung des Menschen als liauptproduktivkraft der Gesellschaft herstellt und die ständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität aktiv fördert. Lenin betrachtete die wirtschaftliche Rechnungsführung als zweiseitiges ökonomisches Instrument des Anreizes und der Kontrolle. Es ging um die Schaffung eines einheitlichen, organisch verbundenen Systems zur Stimulierung guter Arbeitsleistungen. Diese Aufgabe konnte durch eine formale, in ihrer Funktion eingeschränkte „wirtschaftliche Rechnungsführung", die die grundlegenden Probleme einer ökonomischen Regelung der Beziehungen zwischen Gesellschaft, Kollektiv und Persönlichkeit nicht berührt, keineswegs gelöst werden. In letzter Zeit wird den ökonomischen Führungsmethoden, den ökonomischen Hebeln der Leitung immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Man muß jedoch im Auge behalten, daß die ökonomischen Leitungsmethoden zugleich auch politische, soziale, psychologische und ethische sind, denn sie sind auf den Menschen gerichtet und wirken auf sein Verhalten komplex und vielseitig ein. Deshalb muß die Ausarbeitung von Maßnahmen zur weiteren Vervollkommnung des Anreizsystems auf komplexen Untersuchungen basieren, die alle Faktoren einer effektiven Einwirkung auf die unmittelbaren Teilnehmer an der gesellschaftlichen Produktion berücksichtigen. Die Leitung der Wirtschaft ist die Leitung von Menschen. Die Leitungsbeziehungen sind nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. In ihnen äußert sich der enge Zusammenhang zwischen den verschiedenen Seiten der Wirtschaft, die man zwar zu anderen, streng begrenzten Zwecken außerhalb des Systems der Leitungsbeziehungen und unabhängig voneinander betrachten kann, keineswegs aber dann, wenn es darum geht, die gesamte Organisation der Wirtschaftsleitung zu verbessern. Versuche zur Lösung von Problemen der Wirtschaftsleitung ohne Beachtung der Einheit des ökonomischen Systems sind letzten Endes unvermeidlich

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fehlerhaft und geraten in Widersprach zn einer objektiven Eigenschaft der ökonomischen Leitnngsheziehungen — dem unauflöslichen Znsammenhang der verschiedenen, äußerlich nicht ahnlichen und weit voneinander entfernten Teile und Seiten des einheitlichen Wirtschaftssystems. Beispielsweise ist es vom Standpunkt eines Wirtschaftspraktikers, der nur damit beschäftigt ist, Gang und Resultate der Produktion zahlenmäßig zu registrieren, gleichgültig, ob eine einheitliche Kennziffer gefunden wird, die alle anderen vertreten kann, oder ob die Tradition der Verwendung einer Menge von Kennziffern erhalten bleibt. Wenn ein Ökonom von einem engen Fachstandpunkt urteilt, dann wird er die letztere Variante sogar vorziehen, denn ein „System" von Kennziffern ermöglicht es, Verlauf und Resultate der Produktion „vielseitiger abzubilden". Wählt man aber eine Kennziffer mit dem Ziel, sie als wirksames Leitungsinstrument zu verwenden, dann maß man an sie eine Reihe spezifischer Forderungen stellen. Vor allem muß sie die Möglichkeit geben, die Arbeitsergebnisse verschiedener Kollektive objektiv zu vergleichen. So hat bereits Lenin auf die Notwendigkeit eines objektiven Vergleichs der Geschäftsergebnisse der einzelnen Wirtschaftsorganisationen hingewiesen. Das Septemberplenum des ZK der KPdSU (1965) beschloß eine einschneidende Reduktion der Anzahl der zu bestätigenden Plankennziffern, nach denen die Arbeit der Betriebe bewertet wird; damit eröffnete es den Weg zu einer weiteren Vervollkommnung der Praxis der vergleichenden Analyse und der objektiven Bewertung der Arbeitsergebnisse von Produktionskollektiven. Für eine wissenschaftlich organisierte ökonomische Leitung ist letzten Endes ein einheitliches ökonomisches Kriterium erforderlich, das weiter unten angegeben werden wird. 15 Vom Standpunkt der Spezialisten auf dem Gebiet der Finanzen, des Budgets, des Handels, des Geldumlaufs usw. können die Preise sehr verschiedenartige Funktionen erfüllen. Für eine effektive Organisation der Produktionsleitung sind aber Großhandelspreise nötig, die ein möglichst zuverlässiges Wertmaß bilden, weil wir nur unter diesen Bedingungen eine Basis für die Bildung einer verläßlichen ökonomischen Information überhaupt und für die objektive Einschätzung der Endresultate der Arbeit von Betrieben im besonderen erhalten. In der sozialistischen Planwirtschaft sind objektiv zuverlässige ökonomische Meßgrößen von außerordentlicher Bedeutung. Ohne sie kann man Lenins Lehre, daß der Sozialismus exakte Rechnungsführung erfordert, nicht erfolgreich verwirklichen. Dieser Hinweis ist wichtiger und vielseitiger, als es auf den ersten Blick scheint; er drückt eine entscheidende objektive For15

Das Problem des objektiven Vergleiches der Arbeitsergebnisse von Betrieben analysiert N. W. Adfeldt in seinem Artikel „W. I. Lenin und die methodologischen Probleme der Leitung der sozialistischen Produktion", in: „Probleme des wissenschaftlichen Kommunismus", Bd. 1, Moskau 1966 (russ.).

1 Laitko

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derung der sozialistischen Produktion aus und beschränkt sich nicht darauf, spezielle Arten der Rechnungsführung (zum Beispiel Buchhaltung, Statistik und operative Rechnung) mehr oder minder erfolgreich in Gang zu setzen. Im Kapitalismus finden die Widersprüche der konkreten ökonomischen Prozesse ihre Lösung im System der Marktbeziehungen. In der sozialistischen Gesellschaft müssen sie durch Prognose, Planung und operative Korrektur der Entwicklung der Volkswirtschaft auf der Grundlage hinreichend vollständiger und aktueller Information über die objektiv verlaufenden ökonomischen Prozesse gelöst werden. Deshalb müssen die aus dem Kapitalismus übernommenen Einrichtungen und Kategorien wie Preise, Geld und Banken den Bedürfnissen des Sozialismus, d. h. der Hauptaufgabe der „Rechnungsführung", der Gewinnung objektiv zuverlässiger ökonomischer Information, grundsätzlich angepaßt werden. Preise und Geld müssen zu Mitteln werden, die die für eine effektive Organisation der ökonomischen Leitung unentbehrliche Funktion einer möglichst genauen objektiven Messung der Werte erfüllen. Aus diesem Grunde muß in der Planwirtschaft das Geld in Gestalt verschiedener Fonds reale Bedeutung als Instrument zuverlässiger ökonomischer Messung innerhalb des staatlichen Sektors erhalten. Die hier genannten Kategorien der Volkswirtschaft bringen den organischen Zusammenhang aller Seiten des Leitungsproblems zum Ausdruck, der dem Sozialismus objektiv eigen ist und die Grenzen spezieller ökonomischer Disziplinen wie Planung, Finanzen, Statistik, Zweigökonomiken u. a. weit überschreitet. Die objektive Einheit der Organisationsbeziehungen zeigt sich jedoch nicht nur in der Wechselbeziehung der Kategorien, die getrennt von vielen spezialisierten Disziplinen untersucht werden. Sie äußert sich auch in der realen Wechselwirkung verschiedener Bereiche und Aspekte der Leitung. Unmittelbare Bereiche der Leitung sind in erster Linie ihr Subjekt, d. h. der Leitungsapparat (zum Beispiel eine Werkleitung), und ihr Objekt (in diesem Fall ein Betrieb). Ihr Zusammenhang ist evident. Unabhängig von den Besonderheiten des zu leitenden Objekts kann man den Leitungsapparat weder untersuchen noch einschätzen und vervollkommnen. Wer die Leitung eines Betriebes organisiert, darf die Organisation der Produktion nicht ignorieren; es ist nicht möglich, ein schlecht organisiertes Objekt gut zu leiten. Um die Leitung zu vervollkommnen, genügt es nicht, nur diese beiden unmittelbaren Elemente zu untersuchen. Ein Betrieb als Objekt der Leitung funktioniert in einem bestimmten ökonomischen Milieu, das die für seine Tätigkeit bestimmenden Bedingungen wie Planung, technische Politik, Finanzierung, Kooperation, materiell-technische Versorgung, Absatz, Festlegung der Rechte und Pflichten für die Wirtschaftsleiter usw. schafft. Der

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Charakter dieser äußeren Bedingungen bestimmt die vom Betrieb unabhängige Grundlage seiner Tätigkeit, das Niveau des objektiven Arbeitsaufwandes und der Effektivität der Produktionsleitung. Davon kann man nicht absehen. Der Begriff des äußeren Milieus beschränkt sich jedoch nicht auf die unmittelbaren ökonomischen Bedingungen. Auf die Arbeit eines Betriebes wirkt auch ein weiterer Bereich ein: das durch den Begriff der sozialökonomischen Formation bis zum konkreten Menschen und umgekehrt von ihm bis zu den tum an Produktionsmitteln, dem Uberbau, der sich über der Basis erhebt, und der sozialistischen Ideologie. Alle aufgezählten Faktoren bedingen den Charakter und den Inhalt der wirtschaftlichen Tätigkeit. Schließlich gibt es noch ein sehr wichtiges Element der Produktion, das eine selbständige Untersuchung wert wäre; es durchdringt alle Bereiche der Leitung und spielt in jedem von ihnen eine spezifische, aber gleichermaßen entscheidende Rolle. Dieses Element ist der Mensch, mit ihm befaßt sich die Leitungswissenschaft unter verschiedenen Aspekten. Die Leitungsbeziehungen erstrecken sich also von den allgemeinsten Grundlagen einer sozialökonomischen Formation bis zum konkreten Menschen und umgekehrt von ihm bis zu den umfassendsten Sphären der Gesellschaft. Alle genannten Gebiete werden schon seit langem von vielen Wissenschaften untersucht. Weil aber alle Gebiete der Leitung zu einem komplexen System objektiver Beziehungen gehören, ist es zwar zulässig, sie zu praktischen Zwecken der wissenschaftlichen Leitungsorganisation getrennt zu untersuchen, aber es reicht nicht aus; man muß sie auch komplex erforschen, in ihrer spezifischen Wechselwirkung, die Lenin „Organisationsbeziehungen" genannt hat. Verschiedene Wissenschaften untersuchen den Menschen als Organismus, als biologisches System, als soziale Einheit - als Bestandteil der Gesellschaft usw. Der Mensch als Vollzieher verschiedener Leitungsoperationen, als Subjekt und Objekt der Leitung muß Gegenstand einer besonderen Untersuchung sein. Wenn ein Mensch auf irgendeine Art in ein System von Leitungsbeziehungen eintritt, behält er seine grundlegenden, bestimmenden Züge bei und nimmt zugleich wesentliche professionelle Besonderheiten an. Die wissenschaftliche Organisation der Leitung nötigt zu einer differenzierten Untersuchung der Menschen, die auf verschiedene Weise in das System der Produktion einbezogen sind. Um die Organisation der Leitung praktisch zu vervollkommnen, ist es erforderlich, die spezielle Struktur und die Berufspsychologie der Beziehungen zwischen den Menschen in einem Leitungssystem zu erforschen. Die Qualifikationsmerkmale, die aus der Natur der zu erfüllenden Funktion objektiv hervorgehen, müssen hier sorgfältig ermittelt werden. Diese Merkmale hängen einerseits von den Besonderheiten der Produktion und des Leitungsorgans selbst und andererseits von individuellen Unterschieden in Stellung, Beruf, Alter, Lebenserfahrung,

v

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Bewußtseinsstand, schöpferischer Begabung, Willenskraft, Energie und anderen subjektiven Zügen ab. Diese Besonderheiten kann man nicht richtig verstehen und in der Leitungsarbeit berücksichtigen, wenn man sich auf die gesonderte Anwendung der vorliegenden Ergebnisse solcher Wissenschaften wie Psychologie. Logik, Ethik, Pädagogik, Physiologie, Anthropologie usw. beschränkt. Die bloße Summierung der Resultate verschiedener Zweige der allgemeinen Wissenschaft vom Menschen trägt zur praktischen Vervollkommnung der Arbeit des Leitungsapparates nur wenig bei. Sobald ein Mensch in ein Leitungssystem einbezogen wird, unterliegt er beträchtlichen beruflichen Veränderungen. Die Qualitäten des Menschen in seiner Berufspraxis erfahren eine spezifische Entwicklung, die insgesamt von den Faktoren der Leitungsarbeit abhängt. Diese Praxis verändert den physiologischen und psychologischen Status des Menschen wesentlich. Ohne Kenntnis dieser Veränderungen ist eine wissenschaftliche Leitungsorganisation nicht möglich. Die Untersuchung und Beherrschung der objektiven Gesetzmäßigkeiten vergrößert die Rolle des subjektiven Faktors bei der Erhöhung der Wirksamkeit der Leitung sowohl im produktiven als auch im nichtproduktiven Bereich. Große Möglichkeiten zur Vervollkommnung der Arbeit des Apparates liegen in der Initiative seiner eigenen Mitarbeiter, die die Fähigkeit besitzen, den objektiven Entwicklungsweg der sozialistischen Produktion und die sich dabei herausbildenden Leitungsbeziehungen zu erkennen. Weil die Leitung der Produktion mit Ressourcen verschiedenartigen Charakters zu tun hat, die in ihrer Gesamtheit verschiedenartige sozialökonomische Organismen bilden, muß die Qualifikation eines Leiters vier-Gruppen von Kenntnissen und Fertigkeiten umfassen: parteiliche Erziehung, technische Spezialisierung, ökonomische Ausbildung und administratives Können. Wir wenden uns nun dem zweiten Bereich zu — dem Leitungsapparat. Dazu liegen zahlreiche Teilausarbeitungen vor: fertige Strukturen des Apparates, Normative seines Umfangs, Gruppen von Maßnahmen, und Methoden der Leitung, technische Mittel zur Ausführung einzelner Leitungsoperationen, System des Umgangs mit Dokumenten, Klassifikation der Organisationstechnik usw. Einzelne Empfehlungen geben uns aber noch kein Verständnis für den Inhalt der Leitungstätigkeit im ganzen und zeigen nicht die Quellen und Hauptwege zur Vervollkommnung der Leitungsorganisation in der sozialistischen Produktion. Die speziellen Ausarbeitungen müssen als Teile eines umfassenden Systems behandelt werden. Erst eine allseitige Untersuchung des Apparates in seiner Tätigkeit macht es möglich, unbeeinflußt von modischen Neuerungen die Aufgabe einer radikalen Vervollkommnung der Arbeit des Apparates auf wissenschaftlicher Grundlage in Angriff zu nehmen. Das ist nur auf dem Wege systematischer Untersuchungen de3

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Apparates erreichbar; solche Analysen wurden lange Zeit nur ungenügend wenn wir unternommen, obwohl bereits Lenin geschrieben hatte: unseren Apparat wirklich untersuchen und Jahr für Jahr daran arbeiten' werden, dann wird das eine gewaltige Errungenschaft sein, und das wird auch unseren Erfolg gewährleisten."16 Was ist unter einer Analyse der Arbeit des Apparates zu verstehen? Lenin hat einige Beispiele einer solchen Untersuchung gegeben. Die Gedanken Lenins auf diesem Gebiet sind in zahlreichen Dokumenten enthalten, und es ist im Rahmen eines Artikels nicht möglich, auf sie einzugehen. Wir wollen seine Pösition zu dieser Frage anhand eines Ausschnitts aus den Beschlüssen des XII. Parteitags darstellen, die die Ansichten Lenins unmittelbar verallgemeinerten. Lenin konnte auf Grund seines Gesundheitszustandes bei den Beratungen des Parteitages nicht anwesend sein, nahm aber tätigen Anteil an dessen Arbeit. Seine Briefe an den Parteitag betrafen hauptsächlich Fragen der Vervollkommnung des Staatsapparates. Der Parteitag bestimmte die Wege der wissenschaftlichen Ausarbeitung von Problemen der Organisation der Arbeit und der Leitung folgendermaßen: „Beim Studium der Prinzipien einer wissenschaftlichen Organisation der Arbeit und Leitung, das nicht nur akademisch sein darf, ist die engste Verknüpfung von tätigem praktischem Überprüfen und wissenschaftlichem verallgemeinerndem Schließen notwendig; die praktische Form dieses Studiums müssen systematische Beobachtungen der sich ständig wiederholenden und typischen Erscheinungen auf dem Gebiet der Leitungsarbeit sein, das Experimentieren mit bestimmten vorher fixierten Zielen und hauptsächlich die Uberprüfung jener Teile des Apparates, deren Studium besonders notwendig ist, um die geeigneten Mittel zur Beseitigung der in ihnen vorhandenen Mängel genauestens ausfindig zu machen."17 Diese Leitsätze sind auch jetzt sehr aktuell und haben große methodologische Bedeutung für die Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Leitungsorganisation. Auf. diesem Niveau wird unser Apparat bisher von keiner einzigen Wissenschaft untersucht. Die Beschlüsse des XXIII. Parteitages der KPdSU stellen die Aufgabe einer gründlichen Untersuchung der Leitungspraxis, die in der gegenwärtigen Epoche, beim unmittelbaren Aufbau des Kommunismus, unvergleichlich komplizierter geworden ist. Nun gehen wir zu der Frage über, welche Wissenschaft die Objekte der Leitung zu untersuchen hat. Viele Wissenschaften erforschen zum Beispiel den Betrieb, aber keine von ihnen betrachtet ihn im ganzen, als Objekt der Leitung, als lebendigen sozial-ökonomischen Organismus. Die Ökonomie hat diese Einheit in zahlreiche hochspezialisierte und weitgehend voneinander 16 17

W. l. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 381. Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Tagungen des ZK, Teil I, Moskau 1954, S. 722 (russ.).

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isolierte Forschungsbereiche zerlegt: Rentabilität, Selbstkosten, Arbeitsproduktivität, Organisation der Entlohnung usw. Aber auch die vollständigste „Inventarisierung" der einzelnen Formulierungen aus den verschiedenen Sektoren der ökonomischen Wissenschaft gibt uns keine gegenständliche Vorstellung von den realen ganzheitlichen Prozessen der Lebenstätigkeit eines Betriebes als Objekt der Leitung. Wir untersuchen ungenügend den Betrieb im ganzen, als Einheit ökonomischer, technischer, sozial-politischer, sozial-psychologischer und organisatorisch-administrativer Eigenschaften, als lebendes Molekül der sozialistischen Volkswirtschaft, wir erforschen nicht allseitig den realen Wirkungsmechanismus der wirtschaftlichen Tätigkeit. Natürlich sind'alle Abschnitte der ökonomischen Wissenschaft auf bestimmte Weise in der politischen Ökonomie vereinigt, jedoch nur in theoretischer Hinsicht, sofern alle konkreten ökonomischen Disziplinen der Aufgabe dienen, die allgemeinen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft im ganzen zu untersuchen. Die politische Ökonomie löst keine praktisch-organisatorischen Aufgaben zur Vervollkommnung der Produktionsleitung, zur Verbesserung der Tätigkeit des Apparates auf allen seinen Ebenen von den höchsten staatlichen Organen bis zum Produktionsabschnitt und zur Erhöhung der Effektivität in der Arbeit aller seiner Glieder. Die Leitungspraxis fordert indes, nicht nur Betriebe, sondern auch andere Wirtschaftskomplexe größeren Maßstabs als Objekte der ökonomischen Leitung systematisch zu erforschen. Dabei geht es nicht nur um Werke oder Vereinigungen, sondern auch um wesentlich kompliziertere ökonomische Gebilde wie Rayons, Gebiete, Republiken, Zweige und die Volkswirtschaft im ganzen. Jeder dieser Komplexe ist in einer spezifischen Hinsicht zu analysieren — als Objekt der Leitung. Auf jeder Ebene des Leitungsapparates entsteht das Bedürfnis, die Besonderheiten von Leitungsobjekten unterschiedlichen Maßstabs systematisch zu untersuchen. Kein Abschnitt der heute vorhandenen ökonomischen Wissenschaften berücksichtigt vollständig die Spezifik der Leitungsbeziehungen. Jedes Objekt der Leitung ist beispielsweise seinerseits mit den Funktionen eines Subjekts der Führung gegenüber anderen, untergeordneten Objekten ausgestattet. Umgekehrt bilden die Organe, die gegenüber einem Betrieb als Subjekt der Leitung auftreten, selbst ein Objekt der Führung für die übergeordneten Organe. Ferner existieren neben den Rechtsnormen, die in der Leitungssphäre gelten, auch praktische Methoden, Fertigkeiten und Verfahren der administrativen Tätigkeit, welche auf der Basis der objektiv entstehenden Organisationsbeziehungen ausgearbeitet werden und den Rechtsnormen nicht streng adäquat sind. Weder die ökonomischen noch die Rechtswissenschaften untersuchen die Leitungspraxis in der Volkswirtschaft als Bereich der gesellschaftlichen Tä-

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tigkeit mit dem Ziel, ihre spezifischen objektiven Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln; sie analysieren nicht „das Funktionieren des gesamten wirtschaftlichen Organismus überhaupt" 1 8 und befassen sich nicht mit der praktischen Organisation der beispielhaften Gestaltung der gesamten wirtschaftlichen Arbeit im ganzen19, die Lenin als außerordentlich wichtige Aufgabe angesehen hatte. An dieser Stelle muß betont werden, daß die Begriffe „wissenschaftliche Grundlagen der Leitungsorganisation" und „Leitungswissenschaft" nicht gleichbedeutend sind. Zu den wissenschaftlichen Grundlagen der Leitungsorganisation gehören Mathematik, Kybernetik, zahlreiche technische und ökonomische Wissenschaften, Rechtswissenschaft, Logik, Psychologie, Ethik, Ästhetik und viele andere schon seit langem formierte Wissenschaften, ohne deren Ausnutzung es nicht möglich ist, eine moderne effektive Produktion zu organisieren. Eine spezielle Wissenschaft von der Leitung der Produktion darf nicht nur einzelne Lücken der vorhandenen Wissenschaften ausfüllen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, bis zur Untersuchung der ökonomischen Leitungsbeziehungen in ihrem einheitlichen System fortzuschreiten; dabei muß sie alle Bereiche und Probleme der Leitung einschließen, ohne die man keine richtigen und effektiven Antworten auf die Fragen erhalten kann, die in der Praxis der Leitung der sozialistischen Produktion auftreten. Oft wird bezweifelt, daß die Wissenschaft von der Leitung der Produktion den Forderungen genügt, die an ein selbständiges Wissensgebiet zu stellen sind. Dazu besteht jedoch kein Grund. Erstens hat sie einen eigenen Forschungsgegenstand, d. h. sie untersucht die spezifischen Gesetzmäßigkeiten, die den sozialistischen Organisationsbeziehungen und insbesondere den Leitungsbeziehungen eigen sind; zweitens arbeitet sie methodologische Verfahren aus, die den Besonderheiten ihres Untersuchungsobjekts entsprechen; drittens schreitet sie zu Voraussicht und aktivem Wirken fort, wird also zu einem Mittel zur Umgestaltung der Wirklichkeit. Die Wissenschaft von der Leitung der Wirtschaft muß die Leitungsbeziehungen auf allen Stufen und in verschiedenen Maßstäben untersuchen, vertikal auf allen Ebenen des Apparates, horizontal in allen seinen Gliedern. Wenn die Leitungswissenschaft eine konkrete Situation untersucht und ein beliebiges Problem löst, dann verfolgt sie die Problematik j e nach Bedarf in jeder beliebigen Richtung, die es ermöglicht, die Gesamtheit der konkreten Leitungsbeziehungen zu erfassen. Das Bedürfnis nach einer solchen Wissenschaft ist bei der Betrachtung prinzipieller Probleme von allgemeinem Interesse besonders aktuell; das hat u 19

W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 203. r . /. Lenin, Werke, Bd. 32, S. 371.

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die Diskussion der Probleme gezeigt, die bei der Durchführung der Wirtschaftsreform aufgetreten sind. Ihre grundsätzliche Lösung ist nur mit Hilfe einer komplexen ökonomischen Planung möglich, die die Ausarbeitung einer Strategie der sukzessiv durchzuführenden Umgestaltungen auf dem Gebiet der Organisation der Leitung der sozialistischen Produktion einschließt. Statt episodenhafter Aktionen muß die Wissenschaft ein System von Maßnahmen ausarbeiten, die einander nicht widersprechen. Das alles bedeutet natürlich nicht, daß die Leitungswissenschaft auch dort, wo dafür keinerlei praktisches Bedürfnis besteht, unbedingt nach der Aufdeckung extrem umfassender Zusammenhänge strebt. Während einerseits ein isoliertes Vorgeben bei der Vervollkommnung der Wirtschaftsführung unrealistisch ist, muß man andererseits auch hervorheben, daß bei der praktischen Lösung einzelner wirtschaftlicher Probleme durchaus eine Vielzahl von Varianten realisierbar ist. Inwieweit eine jede von ihnen brauchbar ist, muß man jedoch an der Gesamtheit aller Leitungsbeziehungen prüfen, die von der jeweiligen Variante berührt werden. Akademisches Wissen kann gegenstandslos werden, wenn es nicht mit der Aneignung der Praxis der organisatorischen Arbeit, des ganzen Wirkungsmechanismus der Leitungsmittel verbunden ist. Erst die Fähigkeit zur richtigen Verbindung der subjektiven und der objektiven Faktoren der Leitung ermöglicht es, die von der Partei gestellten Aufgaben praktisch zu lösen. Versuche, den objektiv wirkenden Mechanismus der Leitungsbeziehungen zu ignorieren oder zu unterschätzen, laufen Gefahr, in der Wirklichkeit automatisch Schiffbruch zu erleiden. Deshalb ist bei der Ausarbeitung aller Maßnahmen zur Vervollkommnung der Organisation der Wirtschaftsleitung eine konkrete wissenschaftliche Analyse erforderlich, die in der Regel einen wesentlich breiteren Fragenkreis umfaßt, als auf den ersten Blick notwendig erscheint. Nur dann ist es möglich, nicht nur den Nutzen einer Maßnahme zu garantieren, sondern auch ihre Unschädlichkeit. Das oft anzutreffende Zusammenfallen positiver und negativer Seiten bei organisatorischen Maßnahmen kann bei ihrer isolierten Betrachtung unserer Aufmerksamkeit entgehen. Deshalb ist bei der Durchführung aller Maßnahmen besondere Umsicht geboten, um der Möglichkeit des Entstehens „unerwarteter" Folgen, insbesondere unvorhergesehener negativer Erscheinungen, vorzubeugen. Diese Folgen äußern sich nicht sofort und werden mitunter erst nach Ablauf einer beträchtlichen Frist deutlich. Zum Beispiel wurden im Jahre 1946 alle Planstellen annulliert, die am 15. August nicht besetzt waren. Betrachtet man diese Maßnahme isoliert, so ist leicht zu sehen, daß sie die Ökonomie des Lohnfonds im Landesmaßstab erhöhte. Schätzt man sie aber vom Standpunkt der objektiv bestehenden Leitungsbeziehungen ein, so zeigt sich, daß diese Maßnahme nicht nur offensichtlichen Nutzen brachte, sondern auch verborgenen Schaden, der diesen Nutzen beträchtlich überstieg. Das Problem 24

besteht darin, daß jeder Verwaltungsakt, nnahhängig Ton der bewußten Absiebt des Leiters, eine objektiv wirkende Kraft der Stimulierung und Orientierung enthält. Diese Kraft kann positiv, aber auch, negativ, sein. In dem hier besprochenen Fall sind ober zwanzig Jahre vergangen, aber die an der erwähnten Vorschrift orientierten Wirtschaftsleiter sind bis heute bestrebt, unabhängig; von der faktischen' Notwendigkeit das ganze Jahr über keine einzige Planstelle unbsetzt zu lassen. Bis jetzt wirkt also ein nnhMTigichrigt hervorgerufener negativer Anreiz- oder „Gegenstnmilus'*. Die Leitungswissenschaft ist imstande, derartigen Erscheinungen vorzubeugen und umgekehrt die positiv gerichteten Anreize zu verstärken und zn vervielfachen. So komplizierte Aufgaben können nicht auf der Grundlage einer Kollektion von Formulierungen gelöst werden, die dem Arsenal verschiedener Wissenschaften entnommen sind. Die wissenschaftliche Leitnngsorganisation benötigt kein mechanisches Gemisch von Wahrheiten, sondern die Kenntnis d e wirklichen Sfechanianns der Latungsbiziehtmgen. Welche Seiten und Probleme hei der Organisation der Wirtschaftsleitung müssen vorrangig Gegenstand systematischer Untersuchungen sein, damit die Wissenschaft der praktischen Organisation der Leitung reale Hilfe erweisen kann? Wir wollen versuchen, hier einige wichtige anzugeben. 1. Objektive Gesetzmäßigkeiten, politische Ziele und sozial-ökonomische Bedingungen der Leitung: dex sozialistischen Produktion. 2 . Wesen der Effektivität der volkswirtschaftlichen Leitung; Verhältnis von Trpfm, Mitteln und Resultaten der Produktion. 3 . Lextungsberexche im System der Produktion; Mechanismus der Wechselwirkung von Milieu, Objekt und Subjekt der Leitung. 4. Probleme der organisatorisch-ökonomischen Wechselbeziehungen von Gesellschaft, Kollektiv und Persönlichkeit. Verhältnis objektiver und subjektiver Faktoren bei der Organisation der Leitung. 5. Grundlegende Funktionen der Leitung der sozialistischen Produktion und Tendenzen ihrer Entwicklung. Veränderungen der Funktional, Mittel, Methoden, Formai, Strukturen und Techniken in ihrer gegenseitigen Bedingtheit ; Veränderungen des ganzen Leitungssystems in Abhängigkeit vom Charakter der Produktion selbst und von äußeren Faktoren. 6. Konzentration, Zentralisierung, Spezialisierung, Kooperation und Kombination der sozialistischen Produktion als Wege' ihrer Entwicklung und als objektive Bedingungen zur Vervollkommnung der Organisation der Volkswirtschaft auf Grund des Prinzips zunehmender Wiederholbarkeit der Produktions- und Leitungsoperationen. 7. Hauptmittel der Einwirkung, die im Leitungssystem angewandt werden: Anordnungen, normative Beschränkungen, Aufstellung und Abwandlung von Plänen, Unterricht, Orientierung, Stimulierung. Vergleichende Untersuchung der Effektivität verschiedener Mittel der Einwirkung und der Tendenz ihrer

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Entwicklung. Probleme des bestmöglichen Einsatzes der Menschen als Hauptproduktivkraft der Gesellschaft. 8. Probleme des Verhältnisses von Zentralisierung und Dezentralisierung, Einheitlichkeit und Mannigfaltigkeit, Disziplin und Initiative. 9. Ausarbeitung eines widerspruchsfreien Anreizsystems, Organisation der wirtschaftlichen Rechnungsführung als Leitungsinstrument. Problem der Vergleichbarkeit der ökonomischen Ressourcen, der lebendigen und der vergegenständlichten Arbeit, der Produktionsprozesse und der in sie einbezogenen materiellen Werte. Zuverlässiger Vergleich der Arbeitsergebnisse verschiedener Produktionskollektive. Ausarbeitung eines einheitlichen ökonomischen Kriteriums zur objektiven Einschätzung der Arbeit von Industriebetrieben. 10. Leitungsbeziehungen, die in der Struktur des Apparates fixiert sind. Objektive Faktoren, Forderungen und wissenschaftliche Prinzipien für die strukturelle Gliederung und für den Aufbau des Leitungsapparates. 11. Probleme der Verknüpfung von linearer und funktionaler Leitung; Erfordernisse der Konsolidierung in Zweigen und Territorien. 12. Hauptwege zur Hebung der Effektivität und zur Senkung des Arbeitsaufwandes der Leitung. Methodik zur Analyse der Effektivität der Leitung und der Leitungsarbeit 13. Technische Mittel der Leitung, ihre Stellung im System der Leitungsmittel und die Perspektiven ihrer Entwicklung. Organisatorische und technische Probleme der Übertragung von Operationen, Prozessen und Funktionen der Leitung vom Menschen an Maschinen. Technologie und Technik der Leitung. 14. Leitung und Information unter den Bedingungen der sozialistischen Produktion. Ihr Verhältnis und die Besonderheiten ihrer Entwicklung. Wege zur Verhütung eines lawinenartigen Anwachsens der Produktionsinformation durch wachsenden Anteil der organisatorischen Planung und Ausweitung ihres Bereichs. Klassifikation und Kodierung der Information mit Anwendung der modernen Rechentechnik. Objektive Quellen für das Anwachsen der Information. 15. Aufbau rationeller Leitungssysteme mit Anwendung von mathematischen Methoden, Elektronenrechnern und anderen modernen Verfahren und technischen Mitteln. 16. Vervollkommnung der Führung und Kontrolle durch die Partei. Entwicklung der Einheit von politischer und wirtschaftlicher Führung in Verbindung mit der richtigen Funktionsteilung der politischen, staatlichen und ökonomischen Leitung. 17. Probleme der Ausbildung von Führungskadern an den Lehranstalten, ihrer regelmäßigen Weiterbildung und der systematischen Erhöhung ihrer Qualifikation. Technische Spezialisierung, ökonomische Bildung, Parteierziehung, Unterweisung in der Kunst der Administration und in organisatorischer

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Kultur, praktische Übung der Mitarbeiter des Apparates, Vervollkommnung des Arbeitsstils. 18. Probleme des Studiums, der Verallgemeinerung und der Anwendung progressiver Erfahrungen der Organisationstätigkeit. Wissenschaftliche Methoden zur Verbreitung fortschrittlicher Ergebnisse von Leitungspraktikern wie zum Beispiel neuer Methoden zur Erreichung einer rhythmischen Arbeit im Betrieb und zur Erhöhung der Qualität der Produktion, Schaffung von Produktionsvereinigungen und Praxis ihrer Leitung usw. 19. Wissenschaftliche Methoden zur Entwicklung eines effektiven Wettbewerbs, insbesondere eines Wettbewerbs der Organisatoren. 20. Entwicklung demokratischer Prinzipien zur Leitung der Volkswirtschaft. Probleme der Heranziehung breiter Massen der Werktätigen zu echter Teilnahme an der Leitung der Produktion. Konsequentes Anwachsen von Elementen der kommunistischen Selbstverwaltung. Diese Liste von Problemen der Leitungswissenschaft zeigt, wie umfangreich ihr Untersuchungsgebiet ist. Es ist dabei unerheblich, daß ein beträchtlicher Teil der Probleme in gewissem Maße von bereits bestehenden Wissenschaften bearbeitet wird. Die Leitungswissenschaft betrachtet jedes der genannten Probleme unter einem bestimmten Aspekt, nämlich im System der objektiv vorhandenen Leitungsbeziehungen. Letzten Endes hat die Wissenschaft von der Leitung der Volkswirtschaft die Aufgabe, in jeder neuen Etappe auf Grund einer Untersuchung der Faktoren, von denen die Effektivität der gesellschaftlichen Produktion abhängt, die Hauptrichtungen und praktischen Wege einer Vervollkommnung der sozialistischen Produktionsleitung, zur Erhöhung der Effektivität und zur Senkung des Arbeitsaufwands der Leitung, zur konsequenten Einschränkung des Umfangs der Produktionsinformation und zum objektiven Vergleich der Arbeitsergebnisse der Betriebe für die Organisation der ökonomischen Leitung zu bestimmen. Das alles ist nur möglich auf der Basis eines von der Wissenschaft ausgearbeiteten Systems von Maßnahmen, die es den Leitungsorganen ermöglichen, ihre Tätigkeit so zu organisieren, daß sie „ihre Arbeit nicht über das unbedingt Notwendige hinaus ausdehnen, ihre Tätigkeit und die ihnen obliegenden Aufgaben nicht komplizieren und keine bürokratische Aufblähung und Hypertrophie ihrer Funktionen zulassen . . . " 2 0 Die Lösung der gestellten Aufgaben fordert von der Wissenschaft, die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsformation, ihre unbegrenzten organisatorischen Reserven vollständig zu erschließen und zu nutzen. Die Wissenschaft von der Leitung der sozialistischen Produktion muß den Übergang von der Ausnutzung einzelner Hebel und Methoden zur Schaffung eines ganzheitlichen Mechanismus ökonomischer Leitungsmittel, von den x

W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 322.

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elementaren Formen der Planung (auf dem erreichten Produktionsniveau basierende Zuordnung von Mengen und Fristen) zur komplexen ökonomischen Planung, von isolierten Maßnahmen zur teilweisen Verbesserung einzelner Seiten der Leitungsorganisation zur Schaffung eines einheitlichen Projekts und zur Ausarbeitung einer Strategie der ökonomischen Umgestaltungen gewährleisten. Zugleich mit der Untersuchung von Kardinalproblemen der ökonomischen Leitung im Maßstab der ganzen Volkswirtschaft muß die Leitungswissenschaft Formen für die Arbeit des Staatsapparates zur Leitung der Produktion und ihrer konkreten Objekte verschiedenen Ausmaßes entwickeln, insbesondere für die Tätigkeit des Apparates einer Werkleitung; sie muß praktische Empfehlung«! zur vollkommeneren Ausführung einzelner Funktionen, Prozesse und Operationen der Leitung eines Betriebes und seiner Untereinheiten ausarbeiten. Die Hauptaufgabe der Leitungswissenschaft ist die Ausarbeitung von Mitteln und Wegen zur bestmöglichen Nutzung des Produktionsapparates, zur Erreichung größter Resultate bei kleinstem Aufwand, zur praktischen Sicherung des Zeitgewinns im weltweiten ökonomischen Wettbewerb mit dem Kapitalismus mut zur schnellen Schaffung der materiell-technischen Basis des Komtnnmmiing., Eine vielseitige und spezifische Untersuchung der ökonomischen Leitungsbeziehungen in ihrer Emlwit bedeutet keineswegs, die Wissenschaft von der Leitung der Wirtschaft irgendwelchen anderen Wissenschaften entgegenznwtzffl. Besondere Erwähnung verdient das Verhältnis zwischen der Kybernetik und der Wissenschaft von der T , bedeutet nur, daß die Organisation die bisher ungenutzten potentiellen inneren Quellen eines Systems ersehließt und mobilisiert. So verhält es sich zum Beispiel auch mit der Aneignung der Kernenergie durch die Menschheit. Wenn die Organisiertheit eines Komplexes veränderlich ist, dann kann man sie auch quantitativ abschätzen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Bekanntlich nimmt im schwerefreien Zustand eine sich selbst iiberlassene Flüssigkeit die „organisierte" Form einer Kugel an. Diese Form besitzt nämlich das günstigste Verhältnis zwischen Oberfläche und Volumen eines Körpers; für einen gleichgroßen Würfel ist dieses Verhältnis um etwa 20 u /o größer. Offensichtlich kann die Organisiertheit jedes materiellen oder ideellen Komplexes, die spezifische Beziehung zwischen seiner Form und seinem Inhalt, beliebige Werte annehmen: von Null, d. h. vollständiger Unbestimmtheit, bis zum höchsten oder „optimalen" Niveau. Wie die Kybernik ihren logisch-mathematischen Apparat teils übernommen und systematisiert, teils aber auch neu geschaffen hat, so kann man annehmen, daß auch die Organisationswissenschaft insgesamt einen leistungsfähigen logisch-mathematischen Apparat zum Teil übernehmen und zum Teil neu schaffen wird. Weiter oben haben wir bemerkt, daß Organisation nicht Ordnung schlechthin, sondern eine bestimmte Ordnung ist. Gewöhnlich nimmt man an, sie sei für diç Menschen durch die Aufgaben, die sie sich stellen, und durch die Situation bestimmt, für die Natur im ganzen aber durch Notwendigkeit und Kausalität. Tatsächlich liegen aber die gleichen Kategorien Notwendigkeit und Kausalität auch den menschlichen Aufgaben zugrunde. Es ist sehr wichtig, diesen Umstand zu betonen, denn im Gegensatz zu Bogdanows Ansicht ist Organisation nicht nur nicht das Wesen der Natur, sondern auch kein Selbstzweck. Nicht die Organisation ist die Basis alles Existierenden, sondern die Selbstbewegung der Materie. Für die Gesellschaft beruht sie auf bestimmten sozialökonomischen Gesetzmäßigkeiten, deren Charakter und deren Transformation sowohl den allgemeinen Gang der Menschheitsgeschichte als auch die Organisation der gesellschaftlichen Kollektive in jeder Etappe der historischen Entwicklung bestimmen. Für die Periode der Klassen in der Geschichte der Menschheit ist diese allgemeine Grundlage zum Beispiel der Klassenkampf. Näher bestimmt, besteht diese Grundlage für die Epoche des Kapitalismus im Privateigentum an den Produktionsmitteln, in der Warenproduktion und in der Stellung der Arbeitskraft als Ware; diese drei Säulen bestimmen die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang muß man bei der gesellschaftlichen Tätigkeit zwei Seiten der Organisation unterscheiden - eine objektive und eine sub15

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Ebenda, S. 345.

jektive. Die objektive Seite der Organisation ist die technologische E i n w i r k u n g menschlicher K o l l e k t i v e auf die Arbeitsgegenstände mit H i l f e der Arbeitsmittel zum Z w e c k e der E r z e u g u n g Yon Arbeitsprodukten und geistigen Gütern und die V e r v o l l k o m m n u n g dieser E i n w i r k u n g . Die subjektive Seite kommt im F a l l der sozialistischen Organisation darin zum A u s d r u c k , daß die Menschen die persönlichen und stofflichen Elemente des Schaffens so verbinden, daß ein Optimum an E r g i e b i g k e i t , Ökonomie und Sicherheit der gesellschaftlichen A r b e i t erreicht w i r d . 1 6 Es ist bezeichnend, daß Bogdanow bei der E n t w i c k l u n g seines G e d a n k e n s von den annähernd gemeinsamen Organisationsformen der gesamten N a t u r k a u m z u e r k l ä r e n versucht, wovon die V e r ä n d e r l i c h k e i t dieser Formen, die Ersetzung bestimmter Formen durch andere eigentlich a b h ä n g t ; wenn er es aber versucht, dann g e l a n g t er gewollt oder ungewollt zu dem gleichen Prinzip der S e l b s t b e w e g u n g . Bogdanow untersucht a u c h fast g a r nicht, worin die S e l b s t b e w e g u n g

auf

den verschiedenen

Lebens k o n k r e t zum A u s d r u c k

Gebieten

der N a t u r

und

des

kommt. In den von ihm angeführten Bei-

spielen aus der Geschichte der Gesellschaft fehlt das k l a s s e n m ä ß i g e Vorgehen vollständig. N u n wollen wir zu einigen F r a g e n des Inhalts der Organisation übergehen. Dabei betrachten wir sie nur in Hinblick auf die Gesellschaft. A u s den ang e g e b e n e n Definitionen geht hervor, daß die Organisation beide Seiten der gesellschaftlichen T ä t i g k e i t und Struktur durchdringt -

sowohl die Leitung

als a u c h die A u s f ü h r u n g . Die Beziehungen zwischen ihnen kann man

in

f o l g e n d e m S c h e m a darstellen:

Organisation als Prozeß

,K"

Leitung

Organisation als Struktur

Leitungsorgane

l

Ausführung

D i e B e d e u t u n g der R e c h t e c k e „ K " und „ S " wird weiter unten erklärt. W i r wollen hier nur erwähnen, daß führungsorgane"

der „ A u s f ü h r u n g s p r o z e ß "

und die

„Aus-

auch ihrerseits in Leitung und A u s f ü h r u n g und in ent-

sprechende O r g a n e unterteilt sind. So erhält eine W e r k l e i t u n g die A u f g a b e n vom Ministerium und leitet bei ihrer E r f ü l l u n g die Teilbetriebe. Die Betriebsleitungen leiten wiederum die A b t e i l u n g e n bei der E r f ü l l u n g der ihnen von 16

Aus dem Vortrag von W. T. Maljakowski auf dem Seminar der Sektion Organisationstheorie.

für

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der Werkleitung übertragenen Aufgaben usw. Vor allem sind zwei Teilfragen der hier untersuchten Beziehungen zu beachten — einerseits die Beziehung zwischen der Organisation im ganzen und der Leitung, andererseits die Beziehung zwischen Leitung und Ausführung. Gelegentlich wird angenommen, daß der Organisationsfaktor zwar sowohl die leitende als auch die ausführende Tätigkeit durchdringe, die Herstellung einer bestimmten Organisation aber das Wirkungsfeld der Leitung bilde. Daraus schließt man, daß man in Abhängigkeit von der Betrachtungsweise entweder die Leitung als Teil der Organisation oder die Organisation als Teil der Leitung betrachten könne. Wie verhält es sich tatsächlich? Die Ausgangsposition, wonach die Organisationsarbeit zur Leitungstätigkeit gehört, trifft zu, aber nur für den mit Bewußtsein ausgestatteten gesellschaftlichen Menschen. Nur der Mensch ist bestrebt, organisiert zu handeln. Er stellt vorher Programm und Plan der Handlungen auf (wir erinnern an Marx' Gedanken über den Baumeister und die Biene), wobei sowohl die Leitung als auch die Ausführung einbezogen sind. Im Verlauf der Handlungen korrigiert er über einen Rückkopplungsmechanismus Programm und Plan. Die Planung und ihre Korrektur gehören hingegen wirklich zur Leitungstätigkeit. Einerseits ist die Leitungstätigkeit des Menschen selbst zusammen mit ihrer ausführenden Tätigkeit bestimmten Organisationsprinzipien untergeordnet. Andererseits erfolgt diese Ausdehnung der Leitung auf die gesamte Organisation nur im menschlichen Bewußtsein. Der aus der Ausgangposition gezogene Schluß ist also falsch: die Organisation ist nicht ein Teil der Leitung, sondern auf jeden Fall ist die Leitung ein Teil der allgemeinen Organisation. Die Leitung ist dem Organisationfaktor untergeordnet. Kommen wir nun zu den Wechselbeziehungen zwischen Leitung und Ausführung. Erstens sind diese beiden Seiten der menschlichen Tätigkeit in funktioneller und gegenständlicher Hinsicht eng miteinander verbunden. In jeder Handlung eines Kollektivs oder eines einzelnen Menschen sind in der Regel sowohl Elemente der Leitung als auch Elemente der Ausführung enthalten. Gleichzeitig ist jede Einrichtung zum Teil Leitungs-, zum Teil Ausführungsorgan. Besonders deutlich kann man das an den Beziehungen subordinierter Instanzen verfolgen, von denen jede ihr Leitungsorgan und ihre ausführenden Organe hat. Obwohl zweitens die Leitung auf den ersten Blick gegenüber der Ausführung den Vorrang hat und sie „führt", interessiert uns doch letzten Endes nicht die Leitung, sondern die Ausführung. Die Leitung fungiert nicht als grundlegender, sondern als gewährleistender Faktor. Es ist wichtig, den Charakter und die Grenzen dieser Wechselwirkung zu Lestimmen und speziell ihre obere und ihre untere Grenze anzugeben. Mitunter wird angenommen, daß beispielsweise in der Produktion Ausführung

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in reiner Form nur an der unteren Grenze auftritt, in den unmittelbaren Handlungen des Arbeiters zur Herstellung eines bestimmten Produkts, während sich die übrigen Instanzen nur mit bestimmten Etappen der differenzierten Leitung befassen. Darin besteht auch ihre ausführende Arbeit gegenüber den übergeordneten Instanzen. Die Tätigkeit der höchsten, souveränen Instanzen reduziert man gleichzeitig auf reine Leitung. Inwieweit kann man diese Auffassungsweise akzeptieren? In einer bestimmten Kette „Leitung - Ausführung" kann man bedingt gewisse untere Stockwerke als bloße Ausführung und bestimmte obere als bloße Leitung betrachten. Aber das ist sehr relativ, denn letzten Endes finden wir immer bestimmte direkte Rückkopplungen zwischen unteren und oberen Stockwerken, d. h., wir befinden uns stets in einer Art Kreisprozeß, der allerdings nicht in sich geschlossen ist, sondern sich in einer Spirale entfaltet. Beschränkt man sich auf die Gesellschaft, so ist es unbestreitbar, daß die souveräne Staatsmacht, indem sie leitet, zugleich gesellschaftliche Aufgaben erfüllt - im Sozialismus Aufgaben der ganzen Gesellschaft, in der Klassengesellschaft Aufgaben der herrschenden Klasse. Hier sei an die Antwort erinnert, die Jekaterina II. auf die Frage von Ausländern gab, warum ihr die Adligen ohne Widerspruch gehorchen: „Weil ich ihnen nur das befehle, was sie selbst wollen." In welchen Bereichen kann man andererseits von bloß ausführender Tätigkeit sprechen? Vielleicht bei den unmittelbar in der Produktion tätigen Arbeitern? Meist vollziehen die Arbeiter aber ihre Arbeit durch Steuerung von Mechanismen oder Instrumenten. In jedem Mechanismus kann man wiederum sowohl steuernde als auch ausführende Teile unterscheiden. Die Arbeit dieser unmittelbar ausführenden Mechanismen lenkt ihrerseits über einen Rückkopplungszusammenhang die Arbeit der Konstrukteure usw. Auch hier liegt also eine spiralförmige Verknüpfung vor - spiralförmig deshalb, weil sich der Prozeß in der Regel auf immer höherer Grundlage reproduziert. Können wir zu den mittleren Stockwerken, auf denen nach verbreiteter Auffassung im wesentlichen nur Leitungsarbeit ausgeführt wird, zum Beispiel die Arbeit des Wissenschaftlers rechnen, der einen neuen technologischen Prozeß entdeckt, oder die Arbeit des Ingenieurs, der eine neue Konstruktion entwickelt? Ist das nicht vielmehr ausführende Tätigkeit? Natürlich heben die betrachteten komplizierten Zusammenhänge zwischen Leitung und Ausführung nicht die Unterschiede zwischen diesen beiden Seiten der gesellschaftlichen Organisation auf. Man kann auch von drei Seiten sprechen: Zielsetzung, Zielsicherung und Zielverwirklichung. So stehen im Rahmen des allgemeinen Organisationsfaktors die Elemente der Leitung und der Ausführung in Wechselwirkung. Nun kommen wir zur Frage nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Organisation. Daß

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solche für die ganze Natur gemeinsam prinzipiellen Gesetzmäßigkeiten existieren, wird kaum noch bestritten. Es ist auch klar, daß die Entdeckung und Verallgemeinerung dieser Gesetzmäßigkeiten nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktische Organisationsarbeit von großer Bedeutung ist. Diese Frage ist jedoch noch so wenig ausgearbeitet, daß es jetzt richtiger ist, sich anstelle ihrer ausführlichen und systematischen Darstellung auf einige Ausgangsüberlegungen und einige Beispiele für solche Gesetzmäßigkeiten zu beschränken. Die Selbstbewegung der Materie vollzieht sich offenbar nach einigen für die ganze Natur gemeinsamen Gesetzen. Als grundlegend betrachtet die moderne Wissenschaft dabei die bekannten Gesetze der dialektischen Entwicklung, auf deren Grundlage bestimmte Organisationsgesetze existieren. Bei den Übergängen von den einfacheren zu den komplizierteren Bewegungsformen, d. h. von der mechanischen zur physikalischen, chemischen, biologischen und schließlich gesellschaftlichen Bewegung, werden die Gesetze immer komplizierter. Sie werden durch Gesetze zweiter und höherer Ordnung ergänzt, verzweigen sich, werden präzisiert, und im Ergebnis nehmen sie mitunter eine Gestalt an, die ihren Quellen kaum noch ähnelt. Das spricht aber weder gegen das Vorhandensein solcher Quellen noch gegen die Zweckmäßigkeit ihrer Aufdeckung. Wir wollen nun einige spezielle Beispiele solcher Gesetze anführen, die offenbar der ganzen Natur und damit auch der Gesellschaft gemeinsam sind. Zunächst betrachten wir das sogenannte Prinzip von Le Chatelier: „Wenn man auf ein System, das sich im Gleichgewichtszustand befindet, von außen einwirkt und dabei eine der Bedingungen ändert, die die Lage des Gleichgewichts bestimmen, dann verschiebt sich das Gleichgewicht in der Richtung, bei der der Effekt der ausgeübten Einwirkung am geringsten wird." 1 7 Dieses Prinzip wurde zuerst auf dem Gebiet der chemischen Reaktionen nachgewiesen. Es ist aber auch auf die übrigen Bewegungsformen anwendbar, angefangen bei der mechanischen, wo es die Form des sogenannten ersten Newtonschen Gesetzes, des Trägheitsgesetzes, annimmt. Ein nicht minder charakteristisches Beispiel ist das Gesetz vom schwächsten Glied einer Kette, das auch Lenin mehrmals angeführt und benutzt hat. Ob man nun einen Stab zerbricht oder einen Gegner schlägt, in allen Fällen wählt man beim Objekt seiner Einwirkung die schwächste Stelle aus. Wenn wir umgekehrt eine Organisation festigen wollen, dann verstärken wir vor allem ihre verwundbarsten Seiten. Als weitere Illustration für die Gesetzmäßigkeiten der Organisation kann man die allgemeine, überall in der Natur zu beobachtende Tendenz zur Ökonomie der Kräfte, des Ortes und der Zeit nennen, von der Flüssigkeit, die im schwerefreien Zustand die Form einer Kugel annimmt, bis zum bekannten Gesetz von Marx über die Ökonomie der L

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Große Sowjetenzyklopädie, 2. Ausgabe, Bd. 25. S. 63 (russ.).

Arbeitszeit. Man könnte einwenden, daß die Natur im Gegenteil verschwenderisch ist. Myriaden von Samen sterben, ohne Nachkommenschaft zu erzeugen. Aber das „Gesetz der Ökonomie" besteht in der Natur nicht allein, sondern zusammen mit anderen Gesetzen. Dem allgemeinen Gesetz der Entwicklung sind alle übrigen untergeordnet, darunter auch die der Organisation. Wenn die Bedingungen zur zuverlässigen Reproduktion des Lebens Myriaden Samen erfordern, dann produziert sie die Natur auch. Welche Schlußfolgerungen aus dem Dargelegten kann man als Leitsätze für die Ausarbeitung einer allgemeinen Organisationstheorie ansehen? Vor allem erscheint der Organisationsfaktor mehr oder minder deutlich als Gegenstand der Organisationstheorie. Er interessiert uns hauptsächlich in der Sphäre der gesellschaftlichen Beziehungen, und hier in erster Linie für Sozialismus und Kommunismus. Um aber sein Wirken innerhalb dieses Bereiches besser zu verstehen, müssen wir sein Wesen in der Natur insgesamt untersuchen, zu der die Gesellschaft als ein Teil gehört. Was muß man zum grundlegenden Inhalt der Organisationstheorie zählen? Es sind offensichtlich zwei Hauptfragen: Bestimmung des Wesens und der Elemente der Organisation sowohl in struktureller als auch in funktioneller Hinsicht und Feststellung der Gesetze ihrer Entwicklung in ihrer Wechselwirkung, zunächst in allgemeiner Form und dann in bczug auf typische Systeme und Prozesse. In erster Linie müssen die Elemente und Gesetzmäßigkeiten der Systeme und Prozesse des realen Lebens untersucht werden, in zweiter Linie die Elemente und Prozesse der Widerspiegelung dieser realen Systeme in unserem Bewußtsein. Dabei interessiert uns vor allem das Gebiet der gesellschaftlichen Beziehungen, speziell die Produktionsweise als seine Grundlage. Vollständiger kann man den Inhalt der allgemeinen Organisationstheorie in folgender Form darstellen: - Feststellung und Untersuchung des Wesens, der Hauptelemente und der Gesetzmäßigkeiten der Organisation als Prozeß und als Struktur in Natur, Technik und Gesellschaft (im ganzen und in verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung). - Untersuchung von Struktur, Eigenschaften, inneren und äußeren Zusammenhängen und Grundlagen der funktionellen (leitenden und ausführenden) Tätigkeil von Organisationen verschiedener Typen und Stufen. - Untersuchung der Faktoten, die die Tätigkeit und die Struktur von Organisationen verschiedener Stufen und Typen bestimmen und kennzeichnen: Ziele (Aufgaben, Funktionen), Mittel, Methoden und Verfahren zur Erreichung dieser Ziele, Milieubedingungen, Möglichkeiten ihrer Steuerung usw. Ausarbeitung der mathematischen Mittel der Organisationstheorie und ihrer konstituierenden Elemente. 45

Im Ergebnis kann man die Organisationstheorie sowohl in allgemeiner Form als auch in bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung aufbauen: Gegenstand, Inhalt, Methodik, Systematik, Terminologie. Alle aufgezählten Fragen sind hauptsächlich in Hinblick auf die Aufgaben und Interessen des sozialökonomischen Systems des Sozialismus und Kommunismus zu untersuchen. Weil bekanntlich jede Phase der gesellschaftlichen Entwicklung auch auf dem Gebiet der Organisation ihre Spezifik aufweist, kann man von der (Schaffung der sowjetischen Organisationstheorie sprechen. Die praktische Basis der Organisationstheorie bilden solche Probleme wie: die theoretischen Grundlagen der Produktionsorganisation, darunter die Theorie von der optimalen Gestaltung typischer Produktionssysteme, die Untersuchung der Wege zur Überwindung des Gegensatzes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit auf der Grundlage der komplexen Mechanisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse und ihrer Leitung, die wissenschaftliche Organisation der geistigen Arbeit einschließlich solcher Elemente wie ihrer Psychologie, der Bedeutung von Zeit und Rhythmus und des Problems des Energieaufwands bei der geistigen Arbeit, die optimale Gestaltung der Informationstätigkeit und Dokumentation, die theoretischen Grundlagen für die Ausbildung von Führungskadern auf dem Gebiet der Organisation usw. Abschließend wollen wir auf die Frage eingehen, zu welcher Gruppe von Wissenschaften die Organisationstheorie zu rechnen ist, auf welchen Wegen sie geschaffen werden muß und in welchen Wechselbeziehungen sie zu anderen Wissenschaften steht. Weil die Organisationstheorie ähnlich der Philosophie sowohl Fragen der Natur als auch Fragen der Gesellschaft umfaßt, sich also im Grenzbereich von Naturwissenschaft und Soziologie entwickelt, muß man sie gleichzeitig zur Gruppe der Naturwissenschaften und zur Gruppe der Gesellschaftswissenschaften zählen. Als grundlegende Methode muß die Organisationstheorie natürlich die Methode des dialektischen und historischen Materialismus mit allen ihren speziellen Forderungen anwenden. Zugleich benutzt sie in großem Umfang mathematische, graphische und experimentelle Methoden. Viele der zum Inhalt der Organisationstheorie gehörigen Fragen wurden bereits von anderen Wissenschaften aufgeworfen und teilweise auch gelöst. Die Kybernetik befaßt sich mit Problemen der Steuerung als einem wichtigen Bestandteil der Organisation. Diese Probleme sind auf dem oben angegebenen Schema durch das Rechteck „K" gekennzeichnet. Unter den Wissenschaften, die in jüngster Zeit enstanden sind und das Gebiet der Organisation berühren, sind Systemtheorie und Systemtechnik (beide kennzeichnet das Rechteck „S" - die Systemtheorie beschäftigt sich mit Fragen theoretischen Charakters, die Systemtechnik mit Fragen angewandter Art), Bionik und Praxeologie zu nennen. Außerdem wurden in den bestehenden Wissenschaften schon seit

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langem viele organisatorische Fragen gestellt und gelöst, vor allem solche angewandter Art. Natürlich kann sich die Organisationstheorie nicht die Resultate aller dieser Wissenschaften einverleiben, aber sie. muß, soweit möglich und notwendig, solche Ergebnisse unter dem Aspekt der Organisation zu einem einheitlichen, harmonischen System verallgemeinern. Manchmal heißt es, eine solche Fragestellung sei nicht nur zu „aggressiv" gegenüber den anderen Wissenschaften, sondern auch prinzipiell unberechtigt, denn sie gehöre zum Kompetenzbereich der Philosophie, des dialektischen Materialismus. Diesem Standpunkt kann man nicht zustimmen. Bogdanow hatte allerdings angenommen, seine „allgemeine Organisationswissenschaft" sei dazu berufen, die Philosophie zu ersetzen, die seiner Ansicht nach zu passiv und zu unkonkret war. Das war freilich ein grober methodologischer Fehler. Die marxistisch-leninistische Philosophie ist nach wie vor Ausdruck der allgemeinen Weltanschauung des Menschen, Wissenschaft von den Grundprinzipien der allgemeinen Entwicklung von Natur und Gesellschaft und daher auch grundlegendes Instrument zur Umgestaltung der Welt im Interesse des Menschen. Die Organisationstheorie erhebt auf diesen Platz keinen Anspruch. In dieser Hinsicht ist die Rolle der Organisationstheorie mit der anderer Wissenschaften durchaus vergleichbar. Einerseits bildet sie zusammen mit den anderen Wissenschaften die Ausgangsbasis für den Aufbau und die Entwicklung des allgemeinen Systems der Philosophie, andererseits beruht sie auf den so erarbeiteten philosophischen Prinzipien. Die Selbstbewegung der Materie, die der Entwicklung in der Welt zugrunde liegt, und speziell die Selbstbewegung der Gesellschaft, die die Basis der gesellschaftlichen Entwicklung bildet, vollziehen sich nach dialektischen Gesetzen, auf deren Grundlage bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Organisation entstehen. Bis in jüngste Zeit ließen es die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens und der wissenschaftlich-technischen Entwicklung noch zu, sich in Fragen der Organisation allein von der Erfahrung leiten zu lassen. Die Komplizierung dieser Bedingungen am Ende des vorigen Jahrhunderts verlangte zwar die theoretische Verallgemeinerung der Erfahrungen, aber das erfolgte wiederum vorzugsweise in angewandten Richtungen. Die Weiterentwicklung des Lebens und der aus ihm entspringenden Forderungen hat in den letzten 20 bis 25 Jahren zur Entstehung solcher organisationstheoretischer Disziplinen wie Kybernetik, Systemtheorie, Systemtechnik, Bionik, Praxeologie usw. geführt, ohne die heute der gesellschaftliche Fortschritt unmöglich ist. Diese verwandten wissenschaftlichen Richtungen haben sich bisher jedoch ziemlich isoliert voneinander entwickelt, so daß „weiße Flecken" und Parallelarbeiten unvermeidlich waren. Ihre Vereinigung zu einer einheitlichen Organisationswissenschaft würde daher große Vorteile bringen. 47

Eine solche komplexe Organisationswissenschaft ist für die Sowjetunion in der Epoche des Aufbaus des Kommunismus besonders notwendig. Das sozialistische System bietet für ihre Schaffung günstige Bedingungen. Die hohen Anforderungen, die das Programm der KPdSU und die Beschlüsse der letzten Parteitage an die Organisation unserer Arbeit und unseres Lebens stellen, sind Ansporn für diese theoretische Arbeit und zugleich Gewähr ihres Erfolges.

J. P. Frolow

Zur Theorie der wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit

Der Kommunismus eröffnet den Weg zu hohem Lebensstandard, schöpferischer Produktivität, Gesundheit und langem Leben der Werktätigen. Das Programm der KPdSU stellt fest, daß der Übergang zum Kommunismus zur Aufhebung der wesentlichen Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit führen wird. Wenn die freie schöpferische Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis eines jeden Menschen wird, dann wird sich unzweifelhaft auch das Verhältnis von Arbeit und Erholung ändern; zwischen ihnen werden die günstigsten Beziehungen hergestellt. Das alles setzt die Lösung vieler komplizierter Aufgaben der Organisation der geistigen und körperlichen Arbeit voraus. Leider muß man feststellen, daß man sich in der Sowjetunion mit Fragen der Produktivitätssteigerung der individuellen und kollektiven geistigen Arbeit bisher nur wenig beschäftigt hat. Deshalb ist jeder, der seinen Weg als Lernender oder als wissenschaftlicher Arbeiter, als Neuerer in der Produktion oder als Ingenieur und Konstrukteur beginnt, weitgehend genötigt, auf diesem Gebiet nach seinem eigenen Gutdünken zu handeln. Wenn wir von den äußeren und inneren Seiten der Organisation der geistigen Arbeit sprechen, dann beziehen wir uns nicht nur auf Ingenieure, Lehrer und Ökonomen, sondern auch auf Arbeiter-Erfinder und Rationalisatoren, auf Operateure an automatischen Linien, Dispatcher und andere Spezialisten, die in modernen Produktionsprozessen tonangebend sind. Der Erfolg einer jeden Sache wird letzten Endes von Menschen entschieden, die die Technik und Organisation der geistigen und körperlichen Arbeit voll beherrschen. Die im Programm der KPdSU niedergelegte entscheidende Forderung nach Mechanisierung und Automatisierung der Produktion zwingt uns, die Hauptarten der geistigen Arbeit einschließlich bestimmter Arten von Leitungsoperationen gründlicher zu untersuchen. Zugleich ist die wissenschaftliche Arbeitsorganisation nicht nur ein technisches, sondern auch ein sozialpsychologisches Problem.

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Lutko

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1. Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit Unter den Grundfragen der modernen Wissenschaft nimmt die Theorie von der Organisation der geistigen Arbeit, die für die Leitung großer Produktionskollektive von Bedeutung ist, eine noch keineswegs allgemein anerkannte Position ein. Fragen der Organisationstheorie interessieren bereits seit etwa achtzig Jahren sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker. Großen Erfolg hatte die zuerst von Taylor formulierte angewandte Theorie der Arbeitsorganisation. Taylor beschränkte sich jedoch bei seinen Versuchen zur Rationalisierung der Arbeitsorganisation und zur Operationsanalyse hauptsächlich auf körperliche Arbeiten. Als Repräsentant seiner Klasse ließ Taylor den Umstand außer acht, daß mit den Erfolgen der Industrialisierung der Produktion die Arbeit des Menschen immer mehr mit intellektuellen Elementen angereichert wird und daß sich die angespannte Tätigkeit vor allem auf das Nervensystem der Arbeitenden auswirkt und ihre Lebensdauer verkürzt. Viele ausländische Autoritäten auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation unterschätzen auch heute noch die Rolle des biologischen und physiologischen Faktors bei der Organisation aller Formen der menschlichen Tätigkeit. Ungeachtet der engen Verwandtschaft von geistiger und körperlicher Arbeit erhielt die erstere im Verlauf der Entwicklung mehrerer sozial-ökonomischer Formationen ihre besondere Eigenart, sonderte sich scharf von der körperlichen Arbeit und gewann ihr eigenes Antlitz, ihr „Berufsbild". Zu dieser Spezifik gehören die anhaltende Konzentration der Aufmerksamkeit, die ausdauernde Wiederholung vieler geistiger Operationen, die strenge innere Einheit der den Ausführenden gegebenen Anweisungen, das individuelle Verhalten zu den Menschen, die Förderung von Elementen des Neuerertums in ihrer Arbeit, die Fähigkeit, auch auf „liebgewordene" Methoden und Ideen zu verzichten, wenn sie vom Leben nicht bestätigt werden usw. Ohne eine solide theoretische und philosophische Basis ist es nicht möglich, die Technik der Organisation sowohl der industrialisierten körperlichen als auch der geistigen Arbeit voll zu beherrschen und beide harmonisch zu verknüpfen. Voraussetzung für den Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie von der Organisation der geistigen Arbeit und der Theorie von der Organisation der Leitungsarbeit als eines ihrer wichtigen Teilgebiete ist das richtige Verständnis der philosophischen Grundfrage. Nimmt man mit den Mechanisten an, Psychisches sei gleichzeitig Physisches, oder mit den Parapsychologen, ähnlich anderen Energiearten existiere auch eine bestimmte psychische Energie, dann umgeht man die Grundfrage der Philosophie und öffnet damit dem subjektiven Idealismus den Weg. Wenn das Psychische dem Physischen gleichgesetzt wird, dann kann man umgekehrt 50

behaupten, daß die ganze physische Welt Produkt unserer Einbildung ist. Geht man hingegen davon aus, daß das Psychische, das Bewußte eine besondere Substanz ist, etwas auf sich selbst Beruhendes, das mit Hilfe der Introspektion untersucht werden kann, dann ist das eine Erscheinungsform des Dualismus oder des objektiven Idealismus. Vom materialistischen Standpunkt hat die Psyche, das menschliche Bewußtsein die Eigenschaft, über die durch die Sinnesorgane erzeugten und im Gehirn verarbeiteten Empfindungen die objektive Wirklichkeit widerzuspiegeln. Die äußere Welt wird in unserem Bewußtsein abgebildet, aber diese Abbildung trägt selbst keinen materiellen Charakter und kann nicht in energetischen Einheiten gemessen werden, obwohl sie Resultat der materiellen Arbeit des Gehirns ist. In gnoseologischer Beziehung zeugt die Widerspiegelung von der Einheit der ganzen Natur, sowohl der lebenden als auch der nichtlebenden. Zugleich muß man unter philosophischem Aspekt streng zwischen Objekt (Widergespiegeltes) und Subjekt (Widerspiegelndes) unterscheiden. Für die konkreten Wissenschaften wie Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Physiologie ist hingegen eine schroffe Entgegensetzung von Subjekt und Objekt nicht gerechtfertigt. Speziell bei der Untersuchung des individuellen oder kollektiven Produktionsverhaltens des Menschen werden vor allem die objektiven Erscheinungsformen seiner Aktivität, seiner Persönlichkeit betrachtet. Die Existenz der subjektiven Welt des Menschen wird dabei nicht negiert, sondern mit anderen Verfahren bestimmt, zum Beispiel durch Gespräche usw. Das menschliche Bewußtsein ist vor allem Resultat des sozialen Lebens, ein Produkt der historischen Entwicklung der Gesellschaft, in der Klassengesellschaft ein Produkt des Klassenkampfes. Eine übertriebene, vulgäre Soziologisierung des menschlichen Verhaltens überhaupt und damit auch des Arbeitsverhaltens kann bei der wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit und der Leitungstätigkeit jedoch ein Hemmnis sein, denn hier sind positive gesellschaftliche Emotionen wie die Arbeitsfreude von großer Bedeutung. Das Wichtigste in der dialektisch-materalistischcn Theorie des Verhaltens besteht in der Anerkennung der Tatsache, daß die Umgestaltung der Umwelt auf dem Wege der gesellschaftlichen Praxis durch zielgerichtete Arbeit erfolgt. Die Arbeitspra-xis von Millionen Menschen ist Wahrheitskriterium und Grundlage für den Aufbau jeder Theorie der Organisation. Die Theorie der sozialistischen Arbeitsorganisation muß anders aufgebaut werden als die Theorie von der Organisation der ausgebeuteten Arbeit im Kapitalismus. Das Bewußtsein des Menschen bildet sich durch Widerspiegelung der verschiedenen materiellen Erscheinungen. Das, was im Gehirn nur ideell als Ziel existiert, wird durch die Arbeit real, materiell. Die Vertreter des amerikanischen Management betrachten bei der Rationalisierung der geistigen Arbeit und der Leitungsoperationen den subjektiven,

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volitiven Faktor als primär; sie verlangen von den Leitern irgendwelche besonderen, übermenschlichen Qualitäten. Indes ergibt sich der Willensimpuls des Menschen aus der Widerspiegelung der Welt und aus der Wirkung der Arbeit. Die Planung der gesellschaftlichen und persönlichen Arbeit bedeutet die gedankliche Vorwegnahme der Ergebnisse dieser Arbeit, die auf das Erreichen eines vorgegebenen Ziels gewichtet ist. Der Arbeitsorganisator sieht auf der Basis der Analyse und Verallgemeinerung früherer Erfahrungen den Gang der Ereignisse voraus, trifft auf dieser Grundlage die Auswahl der entsprechenden Mittel und entscheidet sich für die beste von vielen möglichen Lösungen. Eine Führungs„elite" gibt es nicht und kann es nicht geben.

2. Die Unhaltbarkeit des Pragmatismus Physiologie, Organisation und Hygiene der geistigen Arbeit in der UdSSR stützen sich auf ein wissenschaftliches Fundament. In Einklang mit der Lehre von Marx und Lenin entwickelt sich bei uns die Wissenschaft von der Arbeit als schöpferischem, menschenbildendem Prozeß, der die allseitige körperliche und geistige Entwicklung der Werktätigen sichert. Lenin hat bekanntlich die große Bedeutung bestimmter Empfehlungen von Taylor zur wissenschaftlichen Arbeitsorganisation anerkannt und gefordert, daß sie von den sowjetischen Arbeitern, Wissenschaftlern und Ingenieuren übernommen werden. Um die neuen wissenschaftlichen Prinzipien für die Organisation von Produktion und Leitung zur Steigerung der Produktivität der körperlichen und geistigen Arbeit erfolgreich anwenden zu können, ist es nach Lenin jedoch notwendig, die Ausgangspositionen von Taylor, dessen System Lenin als Verfälschung der Wissenschaft bezeichnete, vollständig zu überwinden. Lenin forderte die Ausarbeitung und Anwendung neuer, wirklich wissenschaftlicher Organisationsprinzipien, um eine höhere Arbeitsproduktivität als der Kapitalismus zu erreichen. Dabei mußte die Bewußtheit der Arbeitenden, die nach dem Sieg des Kommunismus streben, zusammen mit einem rationellen System materieller Anreize die entscheidende Rolle spielen. Es war erforderlich, eine neue Wissenschaft von der Arbeit zu schaffen, die die ersten Ergebnisse der sowjetischen Naturwissenschaft und Ökonomie und die Erfahrungen beim Aufbau des sozialistischen Systems ausnutzte. Am 24. Januar 1920 erklärte der Rat der Volkskommissare in einem speziellen, Pawlow gewidmeten Beschluß, daß die wissenschaftlichen Forschungen des großen Physiologen für die Werktätigen der ganzen Welt und folglich auch für den Kampf der Arbeiter um die vollständige Umgestaltung der Gesellschaft von hohem Wert sind. Diese Umgestaltung fordert die Synthese der geistigen Arbeit, zu der auch die Leitungstätigkeit gehört, mit der körper52

liehen Arbeit, die nach Möglichkeit mechanisiert und automatisiert werden muß. In der Perspektive ist ein hohes Niveau der geistigen Arbeit für alle Werktätigen erreichbar. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, sind aus der Bevölkerung die für die Leitungsarbeit am besten geeigneten Menschen als Organisatoren auszuwählen. Wie die Auswahl und Ausbildung dieser Kader, für die Lenin spezielle Lehrgänge gefordert hatte, erfolgen soll, muß mit Hilfe der modernen Hirnphysiologie und Psychologie entschieden werden.

3. Behaviorismus und Produktionstechnik Mit der Arbeitspsychologie haben sich in den U S A und m anderen Ländern viele Wissenschaftler beschäftigt. Die amerikanischen Verhaltensforscher, die Anhänger des Behaviorismus 1 waren, betrachteten jedoch Reiz und Reaktion als die beiden einzigen Glieder im Verhalten des Menschen; daher konnten sie die Verarbeitung der Signale in den Zentren des Hirns nicht als Wesen der geistigen Arbeit erfassen. Die schwache Seite des Behaviorismus ist die ungenügende Beachtung der theoretischen Fragen, die mit den Prozessen der Widerspiegelung der Wirklichkeit im Gehirn als Organ (materieller Träger) des individuellen und gesellschaftlichen Bewußtseins verbunden sind. Die wachsenden Erfolge der modernen Technik erhöhen weiterhin enorm die Anforderungen, die beispielsweise an Piloten, Mitarbeiter des Transportwesens, Arbeiter an komplizierten Maschinen (sogenannte Operateure) und besonders an das Leitungspersonal der Industriebetriebe und Institutionen gestellt werden. Ständig aktuell ist die Frage, wie der Nachwuchs für Berufe, in denen geistige und körperliche Arbeit eng verflochten sind, effektiver und auf höherem Niveau ausgewählt werden kann oder mit welcher Technik man die Spezialisten ausstatten muß, damit bei Erhaltung ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit eine höhere Produktivität der Leitungsarbeit erreicht wird. Um positive Ergebnisse zu erzielen, ist ein enger Kontakt der Technologen und Konstrukteure mit Physiologie, Psychologie und Pädagogik erforderlich. Ein so komplexes Vorgehen verlangt auch der neue, aussichtsreiche Beruf der Kosmonauten, bei deren Auswahl ein ausgebautes System objektiver und subjektiver Untersuchungsmethoden angewandt wird. Dabei werden nicht nur physiologische Daten berücksichtigt, sondern auch das gesellschaftliche Bewußtsein der Kandidaten, ihr Begriff von der Pflicht gegenüber der Heimat und ihre Fähigkeit, ihre Überzeugung durch die Tat zu beweisen.

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Der Behaviorismus ist eine amerikanische Richtung bei der Untersuchung der Arbeit des Gehirns und der höheren Nerventätigkeit, die die Rolle des subjektiven Faktors im Verhalten des gesellschaftlichen Menschen leugnet. 53

4 . Die Pawlowsche Methode zur Untersuchung der Hirnfunktionen und die E n t w i c k l u n g des Menschen im Arbeitsprozeß Eine -wissenschaftliche Organisation der Arbeit einschließlich ihrer inneren Stimuli und ihres äußeren Milieus wie auch eine Rationalisierung des gesamten Prozesses der Berufsausbildung ist unseres Erachtens nur möglich, wenn man von den Prinzipien der marxistischen Philosophie zur Untersuchung der Persönlichkeit ausgeht. Ebenso wichtig ist eine gute Kenntnis der Grundlagen der materialistischen Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit und von den biologischen und sozialen Stimuli des Verhaltens. Pawlow sah den psycho-physiologischen Mechanismus des Bewußtseins und die Grundlage aller Formen des menschlichen Verhaltens einschließlich der geistigen Arbeit in der dialektischen Wechselwirkung der unbedingten Reflexe (Instinkte) und der bedingten Reflexe. Dabei bilden die angeborenen Verbindungen des Nervensystems, die größtenteils in den niederen Himabschnitten lokalisiert sind und oft den Charakter unbewußter Akte, einfacher und zusammengesetzter Emotionen tragen, die allgemeine biologische Grundlage der Gefühle und Wünsche und auch der komplizierten beruflichen, sportlichen und anderen Verhaltensweisen, für die Anstrengung des Willens erforderlich ist. Gleichzeitig äußert sich die innere Dialektik des Verhaltens darin, daß die höheren physiologischen Überbauten, die ausgearbeiteten Verbindungen als Erscheinungsformen der individuellen und sozialen Erfahrang die starken artgebundenen oder instinktiven Bedürfnisse, die emotionalen Stimuli von allen Seiten überwuchern, hemmen und in ihren Auswirkungen einschränken. Die soziale Erfahrung des Individuums bildet sich in der Familie, in der Schule und im Produktionskollektiv und kommt im allmählichen Anwachsen der bedingten Reflexe und Hemmungen zum Ausdruck. Auf einigen Gebieten der menschlichen Tätigkeit begegnen wir dem von Ausbrüchen der Leidenschaft begleiteten Äußerungen starker angeborener Reflexe, die dem Wettstreit zugrunde liegen. Entscheidender Faktor bei der Organisation des Verhaltens ist jedoch der bedingte Reflex, die Fertigkeit, das Können. Die Entstehung von Automatismen bei der Arbeit widerspricht nicht der Bewußtheit. Das Bewußtsein ist nicht als ein Abstraktum zu verstehen, sondern als Gesamtheit aller gesellschaftlichen Beziehungen und Zusammenhänge, die von der Großhirnrinde widergespiegelt werden. Dabei erhalten alle grundlegenden Bedürfnisse und Emotionen des Menschen sozialen Charakter. Hauptsächlicher Stimulus und wichtigste Triebkraft des gesellschaftlichen und beruflichen Verhaltens ist nichts anderes als das bewußtgewordene Bedürfnis, das sich in bestimmten Handlungen äußert und einen Untersuchungsgegenstand des historischen Materialismus und der gesellschaftswissenschaftlich-ökonomischen Disziplinen bildet.

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Es ist sehr wichtig, auf der Grundlage der dargestellten Positionen der Lehre von den höchsten Erscheinungsformen der Hirntätigkeit das psychophysiologische Profil des Arbeitsorganisators zu ermitteln. Mit dem Fortschritt der Technik werden die geistigen Operationen komplizierter und schneller. Die Forderungen an die geistige Arbeit erhöhen sich mit jeder neuen historischen Etappe in der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen. Nach Marx „ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit e r h e i s c h t . . . " 2 . Die wichtigste Kategorie Ziel ist von den Psychologen bisher leider kaum bearbeitet worden. Der Zielreflex, der nach Pawlov/ an der Grenze des Angeborenen steht, bildet eine der Grundlagen des gesamten Verhaltens. Dieser Reflex ist mit der Aufmerksam» keit verbunden, die mitunter auch Orientierungsreflex genannt wird, und ist so stark, daß er alle anderen Reaktionen hemmt und ausschaltet, sogar unbedingte. Dieser Reflex der aktiven Aufmerksamkeit liegt dem Wissensdrang und dem Gefühl für das Neue zugrunde und ist eine der Bedingungen für den Erfolg in der Arbeit. Ein wichtiges Detail ist dabei, daß sich der Zielreflex um so stärker ausprägt, j e größer die Hindernisse auf dem Wege zur Erreichung des Zieles sind. Die außerordentliche Beharrlichkeit, die zum Beispiel Erfinder und Sammler auszeichnet, zeigt die Kraft dieses Reflexes, der auch bedeutenden Organisatoren menschlicher Kollektive eigen ist. Ein spezifischer Zielreflex charakterisiert das Verhalten der Neuerer; er begründet die Initiative und kann in gewissem Maße geübt werden. Diese Übung erfolgt beim systematischen Lernen und beim Sport; sie ist mit der polytechnischen Erziehung und mit der Arbeitspraxis in guten Produktionskollektiven verbunden. Eine zweite Eigenschaft des Nervensystems, die zur Entwicklung organisatorischer Fähigkeiten beiträgt, ist das Zeitgefühl. Im Unterschied zum Raumgefühl verfügt es nicht über ein spezielles peripheres Organ; dafür erfolgt in jedem Hirnzentrum und in jeder Nervenzelle eine Abschätzung der Zeit. Auch diese nützliche Eigenschaft muß man täglich üben. Sie ist mit der Planung von Handlungen durch jeden einzelnen Menschen und mit der Aufstellung der Arbeitspläne in jedem beliebigen Produktionsbetrieb und jeder Institution unmittelbar verbunden.

5. Wechselbeziehungen des ersten und des zweiten Signalsystems Außerordentlich wichtig für die Erkenntnis der Gesetze der geistigen Arbeit und für ihre erfolgreiche Leitung ist die Theorie von Pawlow, wonach im Hirn des Menschen zwei Signalsysteme existieren. Das erste Signalsystem 2

K. Marx, Das Kapital. Bd. I, Berlin 1955, S. 186.

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widerspiegelt die umgebende Welt infolge der Tätigkeit der Sinnesorgane in Form anschaulicher Bilder, die den unbedingten Reflexen und Emotionen nahestehen. Das zweite Signalsystem widerspiegelt diese Abbilder nochmals, aber bereits in qualitativ veränderter Gestalt, in Form mehr oder minder abstrakter Begriffe. Diese Begriffe werden in Worten (mündliche oder schriftliche Rede) oder in Zeichnungen, Skizzen und Graphiken ausgedrückt, ohne die die moderne Produktion, die Leitung von Betrieben und die Organisation der Wissenschaft als höchste Form der geistigen Arbeit heute undenkbar ist. Der dialektische Sprung im' Bereich der Widerspiegelung beim Übergang des Bewußtseins vom ersten Signalsystem, das auch bei Tieren vorhanden ist, zum zweiten Signalsystem, das allein der gesellschaftliche Mensch besitzt, erfolgt durch die Herstellung von Werkzeugen und Arbeitsgegenständen, das Entstehen von Produktionsbeziehungen zwischen den Menschen und die allmähliche Unterwerfung der Naturkräfte. Eine grundsätzliche Weiterentwicklung des zweiten Signalsystems wird jedoch erst in bestimmten Etappen der Menschheitsgeschichte möglich. Der Marxismus-Leninismus zeigt, daß uns eine richtige, nicht phantastische Abstraktion der Wirklichkeit, der Erkenntnis der Wahrheit näherbringt; mit ihrer Hilfe können wir die Wirklichkeit vollständiger und tiefer erfassen, als es einem primitiven Empirismus in Form des sogenannten gesunden Menschenverstandes möglich wäre, der die Menschen so oft in die Irre geführt hat. Die Haupttätigkeit des Geistesarbeiters, des Organisators, des Rationalisators, des Leiters eines Betriebes oder einer Institution vollzieht sich auf dem Niveau des zweiten Signalsystems. Dieses System der Widerspiegelung hat seine Besonderheiten sowohl in den Erscheinungsformen des Zielreflexes und des Zeitgefühls als auch in der Ausführung der Operationen, die die Grundlage der Logik bilden - der mit der Unterscheidung von Gegenständen oder Erscheinungen, d. h. mit der inneren Hemmung bedingter Reflexe verbundenen Analyse und der Synthese, zu der Assoziationen und Fertigkeiten gehören. Die Synthese ist bedingt durch die Ausbildung einer Dominante, d. h. einer solchen Wechselwirkung der Zentren, die die Schließung der praktisch vorteilhaftesten Verbindungen in beiden Signalsystemen sichert; sie ermöglicht das Treffen von Entscheidungen sowie die Entdeckungen und Erfindungen in Wissenschaft und Technik. Ein Geistesarbeiter, der die Möglichkeiten des zweiten Signalsystems trainiert und entwickelt, muß jedoch auch alle oben erwähnten wichtigen positiven Züge bewahren und üben, die durch das erste Signalsystem bedingt sind, insbesondere ein scharfes Beobachtungsvermögen, das bekanntlich nicht nur für Naturforscher von Bedeutung ist, sondern auch für Piloten, Kosmonauten, Leiter von Institutionen, Pädagogen, Arzte usw. Das alles fördert die Erhöhung der Produktivität der geistigen Arbeit. Ein hohes Abstraktionsvermögen widerspricht keineswegs der Ausprägung so wertvoller menschlicher Qualitäten wie der Fähigkeit, sich für eine neue Idee zu 56

begeistern, die Kollektivität in der Arbeit zu schätzen und für die Schönheit des gesamten Arbeitsmilieus (Produktionsästhetik) zu sorgen. Ein wichtiger Bestandteil der modernen Wissenschaft vom menschlichen Verhalten, mit dem sich die Behavioristen überhaupt nicht befassen, ist die Lehre von der Individualität oder, wie Pawlow sie nannte, die Lehre von den Typen des Nervensystems, von den Temperamenten und Charakteren des Menschen. Das betrifft die Unterschiede in der allgemeinen „Stimmung" der Persönlichkeit, die Varianten des psychischen Status, die bei gesunden, gesellschaftlich vollwertigen Menschen anzutreffen sind. Die wichtigsten Grundzüge des Nervensystems, die Auswahl und Unterricht beeinflussen, sind die Intensität der Nervenprozesse (der Erregung und der inneren Hemmung) des jeweiligen Individuums und die „Ausgeglichenheit" dieser beiden Crundprozesse, ihre Labilität oder Flexibilität. Letztere äußert sich bei häufigem Wechsel der auf das Bewußtsein einwirkenden Situationen. Ein Mangel an Flexibilität bedingt dann eine Desorganisation der Nerventätigkeit. Schließlich. unterscheiden wir die Menschen nach dem relativen Übergewicht der Reaktionen des ersten oder des zweiten Signalsystems. Wenn man die Besonderheiten des zweiten Signalsystems bei jedem Schüler kennt, dann kann man die Methodik der Berufswahl und der Lehre als wichtige Glieder einer wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit verbessern. Die dialektischen. Wechselbeziehungen des ersten und des zweiten Signalsystems und die realen Möglichkeiten, Mängel in der Intensität, der Ausgeglichenheit und der Flexibilität des Nervensystems zu korrigieren, müssen vollständig untersucht und bei der wissenschaftlichen Organisation der geistigen Arbeit ausgenutzt werden. Natürlich ist bei einem bestimmten Typ des Nervensystems nur ein Teil der erwähnten Qualitäten angeboren. Die meisten von ihnen, insbesondere jene, die vom zweiten Signalsystem abhängen, werden durch systematische Erziehung und Bildung ständig vervollkommnet. Eine richtige Gestaltung des beim Menschen übergeordneten zweiten Signalsystems ermöglicht es in vielen Fällen, Mängel in Intensität, Ausgeglichenheit und Flexibilität der Reaktionen zu kompensieren. Auf der bewußten Fähigkeit, das erste Signalsystem mit Hilfe des zweiten zu stimulieren, beruht auch die hervorragende Rolle von Leitern, die mit dem Mittel der lebendigen Rede die Menschen zu überzeugen und zu erziehen verstehen, zugleich aber den nötigen Takt besitzen, langatmige Erörterungen zu vermeiden, die entsprechend den Gesetzen der höheren Nerventätigkeit nichts anderes als Ermüdung hervorrufen. Eine erfolgreiche und produktive geistige Arbeit, eine Hebung der Autorität des Organisators und Leiters begegnen zweifellos vielen objektiven Hindernissen. Wenn aber das zweite Signalsystem eines Leiters über die notwendige Intensität, Ausgeglichenheit und Flexibilität verfügt, wenn er niemals das Hauptziel aus den Augen verliert, wenn er dem Neuen genügend aufge57

schlössen ist und nicht vor Schwierigkeiten zurückschreckt, dann wird seine Arbeit immer produktiver werden. Ein wirklicher Organisator der Arbeit wird von Schwierigkeiten nicht entmutigt, sondern im Gegenteil zur Tätigkeit angeregt; das entspricht dem, was wir oben zur Bedeutung des Zielreflexes in der Produktionstätigkeit des Menschen bemerkt haben.

6 . Die K y b e r n e t i k und die Perspektiven der Modellierung einiger Hirnfunktionen Eine neue Entwicklungsetappe der Wissenschaft von der geistigen Arbeit uru! ihrer Leitung begann mit der Entstehung der Kybernetik. Die Kybernetik verband die Lehre von der höheren Nerventätigkeit, die von Pawlow ausgearbeitet wurde, mit Ergebnissen der exakten Wissenschaften wie der Mathematik, der Elektronik und des Ingenieurwesens. Sie lieferte für die Theorie von der Organisation der geistigen Arbeit neue Leitsätze, die aus der modernen mathematischen Logik und aus der Informationstheorie abgeleitet sind. Unter Ausnutzung von Mitteln der Radiotechnik und der Telemechanik machte es die neue Wissenschaft von der Steuerung in Maschinen und lebenden Organismen möglich, zahlreiche Typen von Rechenmaschinen zu konstruieren, darunter auch solche, die zu Steuerungszwecken dienen. Diese Maschinen basieren auf der Elektronik und verwenden in jüngster Zeit auch die Halbleiter* und Mikromodultechnik. Dadurch wird es notwendig, viele philosophische Probleme der Erkenntnis- und Widerspiegelungstheorie neu zu durchdenken und zu präzisieren. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß es irgendeine besondere „kybernetische" Weltanschauung geben köimte. Die moderne Wissenschaft von der geistigen Arbeit ermöglicht es, bestimmte besonders ermüdende Standardformen dieser Arbeitsart entscheidend zu erleichtern ; ein wichtiger Faktor des Fortschritts auf diesem Gebiet ist die Einführung von Elementen der exakten quantitativen Rechnung. Mit Elektronenrechnern kann man nicht nur verschiedene Bewegungsformen der Materie, sondern auch bestimmte Operationen bei der Steuerung der Produktion modellieren und neue Methoden zur Regelung der Wirtschaft entwerfen. Es ist auch gelungen, bestimmte Hirnreaktionen und Verhaltensweisen von Tieren (kybernetische Maus von Shannon) und des Menschen (Homöostaten von Ashby) auf technischem Wege zu reproduzieren. Das Hirn der Tiere und des Menschen wird in der Kybernetik als in höchstem Grade vollkommenes selbstregelndes System oder als Maschine mit zahlreichen Regelkreisen betrachtet. Solche Regelkreise sind in der Physiologie schon seit langem bekannt, aber ihr Wesen und ihre Bedeutung für die Steuerung komplizierter ökonomischer, militärischer und anderer Systeme wurde erst mit dem Aufkommen der Kybernetik allgemein klar.

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Wir haben es also mit einer neuen technischen Revolution zu tun. Dabei erhielt die Untersuchung des Wesens der geistigen Arbeit ebenso wie die Wissenschaft von der Steuerung eine mathematische Interpretation. Die Fragen der Vervollkommnung des menschlichen Gehirns durch die Arbeit und das Problem, wie die Tätigkeit der Organisatoren selbst zu organisieren ist, werden von der Kybernetik jedoch noch nicht erfaßt. Engels' Gedanke, daß der Mensch mit der Umgestaltung der Natur auch sich selbst verändert, wurde bisher von der Kybernetik beiseitegelassen. Neben großen Erfolgen gibt es in der Kybernetik auch viel Unklares und Unausgesprochenes von prinzipiellem und von praktischem Charakter; dadurch wird ihre Anwendbarkeit bei der Organisation der geistigen Arbeit eingeschränkt. Der Aufbau der Theorie dieser Arbcitsart ist jcdoch besonders deshalb wichtig, weil die Organisation der Wissenschaft als gesellschaftlicher Produktivkraft, darunter auch die Auswahl der wissenschaftlichen Kader und die Vervollkommnung ihrer Arbeit, von großer aktueller Bedeutung ist. Die Entwicklung von Maschinen für den programmierten Unterricht gleicht diesen Mangel nicht aus. Die weitere Entwicklung der Wissenschaft von der Organisation und Leitung des menschlichen Verhaltens wird auch durch die unseres Erachtens falsche Vorstellung beeinträchtigt, es sei möglich, mit Hilfe von Maschinen alle spezifischen Funktionen des Gehirns einschließlich der Arbeit des zweiten Signalsystems zu modellieren und in Zukunft zunächst niedere Tiere, dann höhere Tiere mit ihrem kompliziert gebauten Gehirn und schließlich auch den Menschen selbst künstlich nachzuahmen. Weder die Biologie noch die wissenschaftliche Soziologie akzeptiert die Ansicht, man können alle Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins mit Hilfe selbstprogrammierender Maschinen reproduzieren und komplizierte soziale Systeme maschinell steuern. Diese Idee birgt die Gefahr einer Renaissance des Mechanizismus und wird von den sowjetischen Kybernetikern mit Recht abgelehnt. Damit sollen die großen Erfolge der Kybernetik keineswegs bestritten werden; auch die Kybernetik zeugt von der Kraft der modernen Naturwissenschaft, die die Geheimnisse des Atomkerns entschleiert, unerwartete synthetische Materialien geschaffen und dem Menschen den Weg in den Kosmos gebahnt hat. Bisher ist es aber noch nicht gelungen, die mit den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Menschen verbundenen Emotionen als erstes wichtiges Glied des Verhaltens zu modellieren, von den in der gedanklichen Verallgemeinerung und Abstraktion ausgedrückten Reaktionen des zweiten Signalsystems als des höchsten, entscheidenden Gliedes der menschlichen Psyche ganz zu schweigen. Kybernetische Maschinen sind nicht in der Lage, Begriffe zu verallgemeinern; Denken in wissenschaftlichen, philosophischen, moralischen und anderen Kategorien ist ihnen unzugänglich. Obwohl es gelungen ist, Worte und Texte aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen, ist es 59

noch weit bis zu dem Zeitpunkt, wo Maschinen selbst anschauliche Abbilder schaffen und neue Naturgesetze entdecken werden. 3

7. Der dynamische Stereotyp als physiologisches System und seine Rolle bei der Ausprägung stabiler organisatorischer Fähigkeiten Norbert Wiener, der als Begründer der Kybernetik große wissenschaftliche Verdienste hat, war unseres Erachtens jedoch nicht im Recht, als er annahm, im menschlichen Gehirn gebe es überflüssige Systeme von Verbindungen, das Gehirn verfüge über eine ungerechtfertigt große, praktisch nicht begründete Anzahl möglicher Nervenkontakte. Tatsächlich ist das Gehirn, das im Existenzkampf der Vorfahren des Menschen von der Natur hervorgebracht wurde, keineswegs mit den von den Ingenieuren geschaffenen Maschinen vergleichbar. Das Gehirn unterscheidet sich von den Maschinen durch eine neue Qualität der materiellen Bewegung, durch den Reichtum der biologischen Möglichkeiten, die sich in der Entwicklung und Mannigfaltigkeit der individuellen Besonderheiten des Menschen äußern, und zugleich durch die hohe Zuverlässigkeit seiner Arbeit. Unser Gehirn ist wie das Hirn der Tiere ein Muster für die Ökonomie von Struktur und Funktionen. Aus diesem Grunde ist die Kybernetik kein universelles Mittel zur Normierung schöpferischer Prozesse, obwohl sie die geistige Arbeit in vieler Hinsicht erleichtert, denn sie überträgt einen Teil der Funktionen, die in Algorithmen und Programmen ausgedrückt sind, an immer vollkommenere elektronische Rechen- und Modellieranlagen. Um die Grundlagen' der Organisations- und Leitungswissenschaft zu schaffen, muß man also die Erforschung der Hirntätigkeit mit allen verfügbaren Verfahren fortsetzen. Entscheidende Bedeutung hat dabei die Erkenntnis der grundlegenden und spezifischen Gesetze der geistigen Arbeit; die sich aus den physiologischen Besonderheiten der Tätigkeit des menschlichen Gehirns ergeben. Natürlich werden auch die Kybernetik und die Bionik als ihr Teilgebiet, das bestimmte Funktionen des Nervensystems modelliert, dabei eine wesentliche Rolle spielen. In diesem Zusammenhang wollen wir uns etwas näher mit der Terminologie befassen, die bei der Diskussion von Problemen der geistigen Arbeit allgemein verwendet wird. Wir sind Zeitgenossen des Aufkommens neuer Richtungen 3

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Natürlich sind die Möglichkeiten der heutigen Wissenschaft noch sehr begrenzt, aber vor ihr stehen bisher auch andere Aufgaben. Darf man aber die Möglichkeiten der Wissenschaft in ihrer weiteren Entwicklung einschränken, wenn es die Natur mit Hilfe der natürlichen Auslese vermocht hat, in Gestalt des Menschen die „höchste Blüte" der Materie zu schaffen? (Anmerkung der sowjetischen Redaktion)

wie Ergonomie, Systemologie, Praxeologie und anderer, die meist mit den Konzeptionen der Kybernetik verbunden sind. Die Nachfolger Wieners in den USA berücksichtigen kaum die oben angegebenen Eigenschaften und Entwicklungsperspektiven des menschlichen Hirns als des höchsten in der lebenden Natur realisierten Modells der Steuerung. Sie berücksichtigen ungenügend die Kompliziertheit der materiellen Basis des Bewußtseins und des Denkens. Deshalb entspricht auch die Terminologie der Kybernetik bei weitem nicht immer den praktischen Bedürfnissen der Arbeitsorganisation, besonders der Organisation des theoretischen wissenschaftlichen Denkens, und schließlich der Theorie der Leitung. Da man von Modellierung und Isomorphie von Gegenständen und Erscheinungen spricht, die verschiedene Bewegungsformen der Materie in der lebenden und nichtlebenden Natur einschließlich des Gebietes der 'sozialökonomischen Erscheinungen angehören, müssen die Gesetze der höheren Nerventätigkeit, die Erscheinungen der subjektiven und der objektiven Welt verbinden, die Gesetze der Widerspiegelung auch für das richtige Verständnis der Grundkategorien der Arbeitsorganisation wie System, Struktur, Funktion, Methode, Dynamik, Statik u. a. eine zuverlässige Stütze sein. Von grundlegender Bedeutung ist dabei der Systembegriff. Bisher werden diese Begriffe in der Literatur aber unterschiedlich interpretiert. Eine der notwendigen Grundlagen für die Organisations- und Leitungswissenschaft ist die Lehre Pawlows vom dynamischen Stereotyp des Verhaltens. 4 Mit diesem Terminus bezeichnete Pawlow eine stabile Verbindung von bedingten Reflexen und Prozessen der inneren Hemmung, die durch mehrfache Wiederholung und nachfolgende Verstärkung mit Hilfe eines unbedingten Reizerregers ausgearbeitet werden. Diese Verstärkung erfolgt in Gestalt der Befriedigung irgendeines wesentlichen Bedürfnisses (dazu gehören auch die sozialen Bedürfnisse des Menschen), schließt die ganze Reflexkette ab und verleiht der geistigen Arbeit eine strenge Zielgerichtetheit. Auch der Orientierungsreflex in Form der Befriedigung eines Wissensbedürfnisses, der in der Arbeit des zweiten Signalsystems des menschlichen Hirns große Bedeutung hat, kann die Rolle einer solchen Verstärkung spielen. Der dynamische Stereotyp liegt der Geordnetheit jeder Arbeitsart zugrunde und bildet die Grundlage jeglicher Organisation, insbesondere der Organisation der Leitung eines Kollektivs. Er ist ein in Raum und Zeit genau lokalisiertes physiolo'' „Wenn man einerseits die Großhirnrinde als ein Mosaik betrachten kann, das aus einer Unmasse einzelner Punkte mit einer für jeden gegebenen Augenblick bestimmten physiologischen Rolle besteht, so können (vir andererseits in ihr ein beispiellos kompliziertes dynamisches System sehen, das ständig nach Vereinigung (Integration) und nach der Ausbildung eines Stereotyps der vereinigten Tätigkeit strebt." ( / . P. Pawlow, Sämtliche Werke, Bd. IV, Berlin 1953, S. 186)

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gisches System, das mit rhythmischen Wirkungen und entsprechenden Zeitintervallen verbunden ist. Damit ist er eine Art Algorithmus und Programm des Verhaltens in kleinem Maßstab zur Erfüllung einer konkreten Steuerungsaufgabe. Der Stereotyp des Verhaltens ist auch das Urbild der Steuerprogramme, die den Elektronenrechnern eingegeben werden. Das Wesen dieses physiologischen Algorithmus besteht in folgendem. Wenn das erste Glied eines Stereotyps ausgelöst wird, dann schließen sich alle nachfolgenden Glieder von selbst an; dazu gehören auch die notwendigen Hemmungsreaktionen, die Verhaltensbegrenzer als Grundlage solcher für jeden Leiter wichtigen Eigenschaften wie gesellschaftlicher Takt und Selbstbeherrschung. Dieser Algorithmus betrifft nicht vereinzelte Erscheinungen im Verhalten, sondern einen ganzen Komplex miteinander verbundener, vermittelter Erscheinungen, die man als ein physiologisches System bezeichnen kann. Es ist auch ein Modell anderer, noch komplizierterer Systeme, die mit der Organisation der geistigen Arbeit und der Erhöhung ihrer Produktivität verbunden sind. Dieses physiologische System ist keineswegs ein Chaos einzelner „Verhaltensatome", wie es die Behavioristen und Pragmatiker (Ashby u. a.) unterstellen, wenn sie behaupten, das Gehirn arbeite nicht nach den Gesetzen der Kausalität, sondern sei eine stochastische Maschine. Für das* menschliche Gehirn bleibt das Gesetz von der kausalen Bedingtheit des Verhaltens voll in Kraft; nur auf dieser Grundlage können wir die Physiologie, Psychologie und Organisation der geistigen Arbeit ausarbeiten. So wird jeder Anflug von Agnostizismus und Unbestimmtheit ausgeschlossen, obwohl der dialektische Materialismus den Zufall selbst keineswegs leugnet, sondern alsspezielle Art der Kausalität betrachtet. Wir sind Zeugen eines kontinuierlichen kulturellen und sozialen Fortschritts,, an dem viele Generationen von Menschen teilnehmen. Dieser Fortschritt ist in beträchtlichem Maße auf die gesellschaftliche und technische Arbeitsteilung gegründet. In jedem System des Verhaltens eines Individuums oder eines Kollektivs, in jedem schöpferischen Prozeß muß man dem Rhythmus und der Physiologie der Arbeit und nicht zuletzt auch der Physiologie der Erholung große Beachtung schenken. Auf der Grundlage der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie spielen dabei Ingenieurpsychologie und Kybernetik eine bedeutende Rolle. Ohne diese Voraussetzungen verliert der Begriff der Organisation der modernen geistigen Arbeit seinen Sinn. Der psychophysiologische Begriff der Dynamik und ihres dialektischen Gegensatzes, der Struktur, umfaßt einen recht weiten Kreis von Erscheinungen - die Organisation und die Leitung bei notwendiger Berücksichtigung der Kategorien der Gesellschaft und des Staates. Dieser Standpunkt ist jenem diametral entgegengesetzt, der in den Arbeiten bürgerlicher Soziologen und Theoretiker der Organisation der geistigen Arbeit und der Leitung vertreten wird.

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8. Der psychophysiologische Begriff v o n der Dynamik und der Struktur der Hirnfunktionen in Anwendung auf die geistige Arbeit Im Interesse der Praxis ist es wichtig, das System der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und den umfassenden Komplex ihrer inneren und äußeren Zusammenhänge und Beziehungen zu betrachten, darunter auch die Beziehungen von Leitung und Ausführung. Die historisch entstandene Gemeinsamkeit von Inhalt, Mitteln und Verfahren zum Erreichen eines Zieles sowie die dialektische Einheit von Funktion und Form sind besonders in Anwendung auf die Organisation der geistigen Arbeit von Nutzen. Die dialektisch-materialistische Auffassung von Struktur und Dynamik bietet auch eine klare Perspektive für wissenschaftliche Erkundungen auf dem Gebiet der Organisation der geistigen Arbeit; dazu gehört auch die in Zukunft mögliche Automatisierung vieler Arten der Ingenieurarbeit. Die weite Auffassung des Begriffes System als dialektische Einheit von Dynamik und Struktur (z. B. System der Natur, Transportsystem, System der ökonomischen Beziehungen im Sozialismus usw.) befreit uns von der terminologischen Verwirrung, die bisher in der Theorie von der Organisation der Arbeit, speziell auch der geistigen Arbeit, vorherrschte. Diese Betrachtungsweise bestimmt die Klassifikation der Subsysteme und Regelkreise und ihre Hierarchie, die bei der Gliederung der Leitung in eine Reihe von Stufen und bei ihrer Integration notwendig ist. Das Wissen vom dynamischen Stereotyp der Tätigkeit des Nervensystems, der von modernen Steuergeräten teilweise modelliert werden kann, ermöglicht es, zwei Bedeutungen des Systembegriffs zu unterscheiden — System als höchste Abstraktion, als organische Einheit von Struktur und Funktionen, und System im engeren Sinne als Ausdruck für die qualitative Vielfalt der Wechselbeziehungen und der sich ständig ändernden Zusammenhänge. Das System im engeren Sinne kann man als Dynamik bezeichnen. Dieser Verwendungsweise des Terminus „System" begegnet man oft, aber sie ist nicht völlig exakt. 5 Die Funktionen oder Operationen bestimmen das Wesen eines dynamischen Systems. Die Struktur, die dem philosophischen Begriff der Form oder der Konstruktion nahekommt, ist eine Art geordnete Menge und besitzt oft geometrische Gestalt. Sie ist in Elemente gegliedert, hängt mit Standards und Normativen zusammen und steht auch zur mathematischen Modellierung in Beziehung, während das dynamische System auf die physikalische Modellierung bezogen ist.

5

Nach einer Definition von A . I. Berg ist ein System eine organisierte Menge von wechselwirkenden funktionellen Strukturelementen. (Anmerkung

der

sowjetischen

Redaktion)

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Ein System gliedert sich in Subsysteme und Substrukturen bis hinunter zu •den elementaren Bestandteilen. Die Struktur jeder beliebigen Organisation der geistigen Arbeit hat ebenfalls „Stockwerke" oder „Stufen" und bildet eine spezifische Hierarchie von Leitung und Ausführung. Die moderne Biologie liefert viele Beispiele für eine derartige Wechselwirkung von Systemen und Strukturen. Der Begriff der Steuerung ist seinem Wesen nach dialektisch. Das bestätigt insbesondere die lebende Natur. Ein organisches System, im engeren Sinne des Wortes als dynamisches System verstanden, entwickelt sich ununterbrochen, wenn es auch bis zu einer bestimmten Grenze seine Form beibehält. Die Form (Struktur) der Steuerung ist konservativer als der Inhalt des Systems, seine Funktionen. Mit dem dynamischen Stereotyp ist der Begriff der Selbstbewegung verbunden. In der Geschichte jeder Organisation tritt ein Moment ein, wo das sich entwickelnde System die beengende Form durchbricht und neue Strukturen annimmt. Deshalb sind Graphiken, Nomogramme und andere Verfahren zur Darstellung von Organisationszusammenhängen zwar sehr wichtig, aber doch nur ein Hilfsmittel der Leitung. Die mit der Form verbundene mathematische Methode in der Wissenschaft, ist ein leistungsfähiges Werkzeug bei der Organisation der Leitung, insbesondere bei ihrer Automatisierung. Ohne eine strenge und exakte Formalisierung •des ganzen Systems der Lehre ist ebenfalls keine Rationalisierung der Arbeit möglich. Uberspitzte Formalisierung der Zusammenhänge führt jedoch zum Bürokratismus. Die Aufgaben und Ziele einer Untersuchung des Informationsproblems werden auf der Grundlage der Einheit von Form und Inhalt bei der geistigen Arbeit formuliert. Die Information wird mit Recht der Unbestimmtheit gegenüberstellt, deren Maß die Entropie ist. Dabei vergißt man jedoch oft das Anwachsen von Erscheinungen des Desinformation in der bürgerlichen "Wissenschaft, an der Firmen und Konzerne interessiert sind; diese Erscheinungen wirken sich auf Inhalt und Entwicklung der Wissenschaft nachteilig aus. Die Kybernetik mit ihrem mathematischen Apparat, ermöglicht ein neuartiges Vorgehen bei der Untersuchung von Organisation und Steuerung komplizierter biologischer und technischer Systeme. Die Algorithmentheorie, die Spieltheorie und die Theorie der Zuverlässigkeil von Systemen bestimmen auch die Entwicklung der Arbeitsbedingungen. Die Psychophysiologie und Hygiene der Arbeit und die Ingenieurpsychologie müssen die Werktätigen „bedienen", um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und Gesundheit und Arbeitskraft zu erhalten. Diese Disziplinen ermöglichen die Rationalisierung von UnterTicht und Erziehung, von Auswahl und Ausbildung der Kader; dazu gehört auch der programmierte Unterricht mit Hilfe moderner selbstregelnder Anlagen.

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Eine besondere Rolle bei der Sicherung der erfolgreichen Arbeit von Leitungssystemen spielt der sozialistische Wettbewerb als Anreiz zur Entwicklung der Arbeitsorganisation, der mit einer höheren, der bürgerlichen Soziologie nicht me.hr zugänglichen Form des gesellschaftlichen Bewußtseins verbunden ist.

9. Die Besonderheiten der Leitungstätigkeit als Art der geistigen Arbeit Aus den angeführten theoretischen Leitsätzen ergeben sich einige praktische Bemerkungen und Schlußfolgerungen für die Organisation der geistigen Arbeit. Obwohl jegliche geistige Arbeit mit Elementen der materiellen, physischen Tätigkeit verbunden ist und obwohl ihre Effektivität stets durch die Teilnahme von Nervenprozessen und biologisch aktiven Stoffen (Hormonen) gewährleistet wird, kann man doch eine umfangreiche Gruppe geistiger Operationen rationalisieren, die für das zweite Signalsystem des menschlichen Hirns spezifisch sind und damit eine höhere Produktivität der geistigen Arbeit sichern. Alle jene Vorgänge im zweiten Signalsystem, bei denen ein ideeller Inhalt, das Streben nach hohen gesellschaftlichen Zielen das Verhalten bestimmen, sind eng mit dem Auffinden neuer, produktiverer Formen der Tätigkeit verbunden. Der Begriff der Dynamik in der Organisation von Arbeit und Leitung hat nichts gemein mit der „permanenten Reorganisation", die man in der Praxis leider noch antrifft. Bei der Entwicklung der schöpferischen Tätigkeit des Menschen treten zahlreiche Fehler auf, die nicht sofort erkannt werden und mitunter schwer auszumerzen sind. Es ist die Pflicht eines guten Organisators der geistigen Arbeit, diese Fehler vorauszusehen und in der laufenden Tätigkeit zu beseitigen. Völlig verständlich sind die Fragen und Forderungen, die Anfänger auf dem Gebiet der Organisation an die Vertreter der Wissenschaft vom Menschen und seinen Fähigkeiten sowie den Möglichkeiten ihrer Entwicklung richten. Von den Spezialisten für wissenschaftliche Arbeitsorganisation wünscht man brauchbare Ratschläge für die Alltagspraxis: Wie soll man sein Verhalten in der Beziehung von Leitern und Untergebenen einrichten? Wie soll man sich auf die Ausübung von Leitungsfunktionen vorbereiten? Wie soll man sich in einem System komplizierter, dynamischer Zusammenhänge und Strukturen orientieren, das nicht aus Maschinen und Modellen besteht, sondern aus Menschen, von denen jeder seine Individualität besitzt? Zu den wichtigsten Funktionen eines Leiters gehören die Organisation der Informationen zum Gewinnen der nötigen Übersicht und zum Treffen von S Lutko

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Führungsentscheidungen, die Festlegung eines entsprechenden Aktionsplans auf der Grundlage von Konsultationen mit Spezialisten und von Hinweisen Untergebener sowie die Kontrolle der Durchführung. Alle diese Aufgaben müssen durch Spezifizierung der wissenschaftlichen Theorie in Übereinstimmung mit den konkreten Bedingungen der Arbeit der Leiter in allen Gliedern des Leitungsapparates näher geklärt werden. Auf der Grundlage der Leitsätze des dialektischen Materialismus sowie der objektiven Gesetze der höheren Nerventätigkeit und des menschlichen Verhaltens kann man einige auf die spezifischen Lebensbedingungen von Produktionskollektiven bezogene Empfehlungen geben. 1. Das Verhalten von Organisatoren der geistigen Arbeit muß von Zielstrebigkeit, kommunistischer Überzeugung und Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gesellschaft und Staat getragen sein, vom Verständnis dafür, daß jede Entscheidung die rasche Auswahl der besten von vielen Varianten fordert und daß das Wichtigste für den Erfolg der Leitung die strikte Kontrolle der Beschlußerfüllung ist. 2. Jede Leitung verlangt strengste Zeitrechnung und die Übung des „Zeitgefühls"; das ist notwendig für die Erschließung verborgener Zeitreserven und für die Hebung der Arbeitsproduktivität, insbesondere bei der geistigen Arbeit. Dazu ist nicht nur Zeitmessung im allgemeinen und bei jeder Operation notwendig, sondern auch die Kontrolle der für die Leitungsprozesse selbst aufgewandten Zeit. Es ist erforderlich, gegen jegliche Zeitvergeudung einen schonungslosen Kampf zu führen. 3. Die Forderung einer vernünftigen. Disziplin für alle Mitglieder eines Kollektivs bedeutet keineswegs eine Entpersönlichung der Ausführenden, sondern fördert umfassend ihre Initiative und begünstigt Neuerungen, Rationalisierungen und das Streben nach Verbesserung der Produktion im ganzen. Das gilt auch voll für die geistige Arbeit, bei der es besonders wichtig ist, den Untergebenen die Freiheit des Schaffens z'i sichern und den Zusammenhang aller Operationen (Folgerichtigkeit in der Arbeit) und der materiellen Elemente zur Sicherung der geistigen Arbeit herzustellen. 4. Bei der Leitung spielt persönliche Autorität des Leiters eine große Rolle. Diese Autorität kann aber nicht äußerlich aufgezwungen werden, sondern entsteht in der gemeinsamen Tätigkeit aller Mitglieder des Kollektivs. Sie ist keineswegs notwendig mit der Dienststellung verbunden. Beim Erwerben von Autorität spielt die objektive Einschätzung der eigenen Person, die Arbeit an sich selbst die entscheidende Rolle. Autorität gewinnt ein Leiter nicht nur durch ausgezeichnete Kenntnis des jeweiligen Spezialgebietes, sondern auch durch gerechtes Verhalten zu den Menschen. Die Attraktivität einer Leiterpersönlichkeit beruht auf seiner Aufmerksamkeit für Kritik an seinen Fehlern, seiner untadeligen Höflichkeit gegenüber Untergebenen, der Klarheit und Kürze der von ihm erteilten Weisungen usw.

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5. Es ist notwendig, zur Erleichterung der Leitungsarbeit umfassend neue technische Mittel der Kommunikation und Leitung zu verwenden, vom Telefon bis zum Dispatchersystem, Diktaphon und Selektor. Von Nutzen sind auch graphische Darstellungen und Fließdiagramme, die die Struktur und Funktion der dynamischen Systeme im Prozeß der Produktion materieller und anderer Werte anschaulich demonstrieren. Das persönliche instruktive Gespräch mit den Allsführenden oder in einem kleinen Kollektiv kann jedoch durch nichts ersetzt werden. 6. Ein Leiter muß täglich für die Genauigkeit der mit der Leitung verbundenen Dokumentation (Instruktionskarten, schriftliche Aufträge usw.) Sorge tragen. Die Forderung, alle erteilten Anweisungen und die Erwiderungen der Untergebenen schriftlich zu fixieren, ist jedoch unvereinbar mit einer wirklich wissenschaftlichen Arbeitsorganisation. Die Registratur (Auftragslisten, Frachtbriefe usw.) muß durch die Anlage von Kartotheken und andere Arten der modernen Dokumentalistik erleichtert werden. 7. Besondere Aufmerksamkeit gebührt der Normalisierung und Verbesserung der Bedingungen der geistigen Arbeit und des Arbeitsschutzes. Von den sanitären und hygienischen Bedingungen des Arbeitsraumes, von der Organisation der Arbeitsplätze, von der Durchführung der Pausengymnastik und vom gesamten Arbeits- und Lebensstil hängen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit jedes Kollektivmitgliedes ab. Unabhängig vom Alter muß der Leiter selbst ein Beispiel an Beherrschung und Organisation geben. Dabei muß die Sorge um den Menschen zur Mobilisierung aller Kräfte und Möglichkeiten des Kollektivs in extremen Situationen beitragen. 8. Zum Begriff der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation gehört neben der Herstellung bestmöglicher Arbeitsbedingungen für alle Arbeitenden auch die Sorge um eine ästhetische Gestaltung des gesamten Produktionsmilieus, nicht nur in der Werkstatt, sondern auch in Verwaltungen, Kontoren, Konstruktionsbüros usw. Neben Sauberkeit, normaler Beleuchtung und Temperatur, bequemer Möblierung, Ausstattung der Werkstätten und Höfe mit Grünpflanzen und den notwendigen Anlagen für Erholung und Versorgung der Arbeiter und Angestellten ist für die Wände der Produktionsräume eine besondere, speziell ausgewählte Farbgebung zu gewährleisten, die sich günstig auswirkt und positive, die Arbeitsfreudigkeit steigernde Emotionen hervorruft. Eine neuartige, auf wissenschaftlichen Ergebnissen beruhende Planung der Räume, Laboratorien und Konstruktionsbüros, in denen, eine angespannte schöpferische Arbeit geleistet wird, ist ebenso notwendig wie die formschöne, zweckmäßige Gestaltung der Werkbänke, Aggregate und automatischen Linien in den Werkstätten. Die Zusammenarbeit von Konstrukteuren, Ärzten, Psychologen und Künstlern mit den Architekten, die Werkanlagen projektieren und rekonstruieren, erhöht nicht nur spürbar die Effektivität der körperlichen und 5*

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geistigen Arbeit, sondern fördert auch den ästhetischen Geschmack bei den Werktätigen und trägt zur Persönlichkeitsformung bei. Eine rationelle Ästhetik erweckt in den Werktätigen das Gefühl des Stolzes auf ihre Werkstatt oder Fabrik und erleichtert auch die Organisation der Leitungsarbeit. Ein Beispiel für den prinzipiell neuartigen, kommunistischen Leitungs- und Arbeitsstil ist die gesamte Tätigkeit Lenins als Gelehrter, Lehrer, Führer und Organisator der Volksmassen. Zu diesen Zügen des Leninschen Führungsstils gehören vor allem ein tiefes Verständnis für die Gesetze der Entwicklung, des sozial-historischen Fortschritts, ein unerschütterliches Vertrauen in die schöpferischen Kräfte des Volkes, hohe Ideale und Prinzipienfestigkeit, revolutionärer Elan beim Stellen und Lösen der im Leben der Gesellschaft entstandenen Aufgaben, insbesondere in seinem Kampf gegen jegliche Ausbeutung, unermüdliche Arbeit mit den Menschen und ständige Sorge um sie, Kollektivität der Leitung, Kontrolle und Überprüfung der Durchführung, Diszipliniertheit, Arbeitsliebe, hohe revolutionäre Wachsamkeit und schließlich größte Bescheidenheit und Einfachheit. Jeder Geistesarbeiter, um so mehr der Leiter eines Kollektivs, muß nach einer Synthese solcher Qualitäten streben.

O . A . DEJNEKO

Die Organisationserfahrung der Vergangenheit studieren und verallgemeinern

Die Beschlüsse des ZK der KPdSU und des XXIII. Parteitages der KPdSU haben für die Entwicklung der theoretischen und angewandten Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Organisation und Leitung außerordentlich günstige Bedingungen geschaffen. Zu den ernsthaften Mängeln bei der Ausarbeitung theoretischer Fragen von Organisation und Leitung gehört das Fehlen von Arbeiten, die die Geschichte der Leitungswissenschaft in der UdSSR und in anderen Ländern untersuchen. Die Erforschung der Geschichte der Organisationswissenschaften in der UdSSR kann die Spezialisten in drei Beziehungen interessieren: Erstens erleichtert die Erkenntnis der dialektischen Entwicklung der Organisationswissenschaft in dieser Periode die Prognose und Planung der künftigen Forschungsarbeiten. Zweitens können die interessanten Ausarbeitungen unserer Wissenschaftler, die auf umfangreichen Untersuchungen der Organisation in Industrie und Staatsapparat basierten, auch heute noch in gewissem Maße zur Rationalisierung der Leitungsarbeit, zur Organisation des Leitungsapparates usw. beitragen. Drittens ist es wichtig, die Erfahrungen der Organisation von Forschungsarbeiten zu Leitungsproblemen und ihre Methodologie zu studieren, um sie unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kampfes um eine wissenschaftliche Organisation der Produktionsleitung vollständiger ausnutzen zu können. Vor den sowjetischen Wissenschaftlern steht heute die große Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen für die Leitung der Volkswirtschaft zu schaffen und die theoretischen Forschungen zum Nutzen der Praxis zu entwickeln. Erfolge bei theoretischen Untersuchungen von Leitungsproblemen hängen insbesondere auch von gründlichen Kenntnissen über die Quellen der Organisationswissenschaften ab. Die Kontinuität in der Entwicklung der Leitui.gswissenschaften verlangt die Synthese des wissenschaftlichen Erbes aus der Vor- und Nachkriegsetappe dieses Wissensgebietes, die theoretische Auswertung aller Quellen der Organisationswissenschaften mit dem Ziel; die Theorie von der Leitung der sozialistischen Produktion zu schaffen. Zu diesen Quellen gehören folgende: 69

1. Die fundamentalen Grundlagen der Theorie von der Organisation und Leitung der sozialistischen Produktion, die Lenin in seinen Werken und Reden, seiner persönlichen Organisationserfahrung und seinem Arbeitsstil gelegt hat. Erstens hat Lenin die Grundprinzipien der Wirtschaftsführung und der Organisation der Leitung von Betrieben ausgearbeitet, zweitens hat er grundlegende methodologische Hinweise für die Durchführung von Untersuchungen auf organisatorischem Gebiet formuliert, und drittens ist das Studium der persönlichen Organisationserfahrung Lenins und seines Arbeitsstils von hohem Wert. 2. Die Beschlüsse von Parteitagen und Konferenzen der KPdSU und Plenartagungen ihres Zentralkomitees, die umfangreichen Erfahrungen einem halben Jahrhundert staatlichem, militärischem, wirtschaftlichem Parteiaufbau in der UdSSR und die wirtschaftlich-organisatorischen fahrungen der anderen sozialistischen Länder.

von aus und Er-

3. Das kritische Studium von Theorie und Praxis der Organisation in den entwickelten kapitalistischen Ländern. 4. Die Ergebnisse der technischen, Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Alle vier Hauptquellen der Leitungswissenschaft schaffen die Voraussetzungen, um dem Hinweis Lenins entsprechend die Grundlagen der Theorie von der Organisation und Leitung der sozialistischen Wirtschaft auszuarbeiten. In einem kurzen Artikel ist es nicht möglich, alle Aspekte der historischen Entwicklung der Wissenschaft von der Leitung der sozialistischen Produktion, die verschiedenen Seiten der vielfältigen theoretischen und praktischen Arbeit, die in der UdSSR auf dem Gebiet der Organisation und Leitung geleistet worden ist, mit der notwendigen Vollständigkeit zu betrachten. Deshalb behandeln wir nur einige Fragen, die mit dem Studium der sowjetischen Organisationserfahrungen verbunden sind. Zu den wichtigsten Prinzipien der Methodologie wissenschaftlicher Forschungen gehört der marxistisch-leninistische Historismus. Er verlangt, bei der Untersuchungen von Tatsachen und gesellschaftlichen Erscheinungen auf dialektisch-materialistischer Grundlage vorzugehen und die Ereignisse in der Entwicklung, im Zusammenhang mit den konkreten Bedingungen zu betrachten. Eine klassische Definition der Grundlagen dieser Methodologie finden wir in einem Brief Lenins an Ines Armand vom 30. November 1916: „Der ganze Geist des Marxismus, sein ganzes System verlangt, daß jede These nur a) historisch; ß) nur in Verbindung mit anderen; y) nur in Verbindung mit den konkreten Erfahrungen der Geschichte betrachtet wird." 1 Um also das Prinzip des Historismus bei der Untersuchung .der Umstände und Wege in der Entwicklung der Organisations- und Leitungstheorie anzuwenden, ist es notwendig, die Logik des gesellschaftlichen Lebens zu erforschen und richtig zu verstehen sowie die Dynamik des Zusammenhangs 1

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W. 1. Lenin, Werke, Bd. 35, Berlin 1962, S. 227.

und die Wechselwirkung der Tatsachen zu erschließen, die den Charakter und die Gesetze der Entwicklung dieses Wissensgebietes bestimmt haben. Die marxistisch-leninistische Methodologie verlangt eine konkrete Untersuchung der Erscheinungen und Tatsachen. In der Wissenschaft kann man nur voranschreiten, wenn man sich die in der Vergangenheit erarbeiteten Erfahrungen angeeignet hat. Die heute tätigen Wissenschaftler müssen die Quellen der Organisationswissenschaften und ihre Entwicklung gut kennen. Auf keinen Fall darf man die reichen und in ihrer Art einmaligen Erfahrungen des wirtschaftlichen Aufbaus in der Sowjetunion ignorieren. Alle Schritte, die wir heute zur Vervollkommnung der Leitungsorganisation in der Volkswirtschaft unternehmen, müssen auf der Analyse unserer Organisationserfahrungen basieren. Lenin hat in seiner theoretisch-wissenschaftlichen und organisatorisch-praktischen Arbeit auf dem Gebiet der Wirtschaftsleitung ständig hervorgehoben, wie wichtig es ist, die komplizierten Probleme der Organisationsbeziehungen konkret-historisch zu untersuchen und bei den wissenschaftlichen Forschungen die dialektische Methode anzuwenden. Die Partei lehrt, daß die Loslösung von der historischen Erfahrung, das Übersehen der historischen Bedingtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen, das Abgehen vom wissenschaftlichen Prinzip des Historismus unvermeidlich zum Voluntarismus führen, zu einer willkürlichen, subjektivistischen Betrachtungsweise der ökonomischen und organisatorischen Probleme der Volkswirtschaft. Das Prinzip des Historismus hat nicht nur rein methodologische, sondern auch große ideologisch-erzieherische Bedeutung. Die Entstehung unserer Organisationswissenschaften, insbesondere die umfassende Bewegung für die wissenschaftliche Arbeitsorganisation in der Vorkriegszeit, und die großen Erfahrungen des prinzipiell neuartigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbaus in der Sowjetunion bilden einen sehr interessanten Abschnitt unserer Wirtschaftsgeschichte, der übrigens in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der Ökonomie und der Organisationswissenschaft eine beträchtliche methodologische Rolle spielt. Die sowjetischen Forschungen auf dem Gebiet der staatlichen und ökonomischen Leitung sind das Resultat der Tätigkeit mehrerer Generationen von Wissenschaftlern. Wissenschaftliche Kenntnisse entwickeln sich im Verlauf von Jahrzehnten, sie werden in Lehr- und Handbüchern gesammelt, systematisiert und synthetisiert. Kontinuität, Ausnutzung und Weiterentwicklung des von den vorangegangenen Wissenschaftlergenerationen erarbeiteten Wissens sind Charakterzüge der Entwickluhg unserer Leitungswissenschaft. Die gegenwärtige Vervollkommnung der Arbeit von Forschungs-, Informations- und Lehreinrichtungen auf dem Gebiet der Organisationsprobleme muß sich auf ein schöpferisches Studium und auf die Auswertung der Er71

fahrungen von fünfzig Jahren Wirtschaftsaufbau stützen; dazu gehören auch die Erfahrungen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation, der sozialistischen Rationalisierung usw. Wenn wir das schöpferische Erbe vom "modernen Standpunkt analysieren, dann müssen wir von den veralteten technischen Aspekten absehen, gleichzeitig aber den Untersuchungen sowjetischer und anderer Wissenschaftler zu methodischen Fragen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation, zu Problemen der Arbeitspsychologie und -physiologie, zur Arbeitsorganisation im Leitungsapparat, zu den methodologischen Grundlagen der organisationswissenschaftlichen Forschungen und zur Theorie der Organisation der Industrieproduktion besondere Aufmerksamkeit schenken. Das Studium der Entwicklung der organisationswissenschaftlichen Forschungen. und die Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten in den verschiedenen Perioden der Geschichte der UdSSR trägt dazu bei, die großen Aufgaben zu lösen, die die KPdSU im Zusammenhang mit der Durchführung des neuen Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft den Wissenschaftlern gestellt hat. Jede sozialökonomische Formation hat ihre eigenen Produktionsmethoden, die von den Bedürfnissen, vom Wissensstand und von den vorhandenen Ressourcen bedingt sind. Davon hängen die Organisationsformen ab, die einer bestimmten Epoche eigen sind. Planung, Entsprechung von Mitteln und Methoden der Arbeit und Streben nach kleinstem Aufwand bei größter Effektivität als die Ausgangsprinzipien jeglicher Organisation sind jedoch bei allen Organisationsformen der Vergangenheit unverändert geblieben und bilden auch gegenwärtig und künftig die Grundlage aller Organisatipnssysteme. Marx schrieb am 11. Juli 1868 an Kugelmann: „Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident." 2 Nach Lenin tritt in jeder sozialistischen Revolution „notwendigerweise in den Vordergrund die Grundaufgabe, eine Gesellschaftsform zu schaffen, die höher ist als der Kapitalismus, nämlich: die Steigerung der Arbeitsproduktivität und im Zusammenhang damit (und zu diesem. Zweck) die höhere Organisation der Arbeit" 3 . Lenin erklärte, „daß das Proletariat einen im Vergleich zum Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit repräsentiert und verwirklicht... Darin liegt die Quelle der Kraft und die Bürgschaft für den unausbleiblichen vollen Sieg des Kommunismus" 4 . Die Hinweise Lenins fordern von uns besondere Aufmerksamkeit für die 2 3

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K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 32, Berlin 1965, S. 552-553. W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 247. W. I. Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin 1961, S. 408-409.

Fragen der Theorie und Praxis der sozialistischen Organisation. Lenin legte das Fundament für die Wissenschaft von der Organisation und Leitung "der sozialistischen Produktion. Er maß den Fragen der Anwendung der Wissenschaft in der Wirtschaftspraxis, der gründlichen Untersuchung von Problemen der Arbeits- und Leitungsorganisation und dem Studium fortschrittlicher Erfahrungen des Auslandes große Bedeutung bei. Zur Einschätzung der Ergebnisse der westlichen Länder auf dem Gebiet der Organisation schrieb er: „Der Großkapitalismus hat solche Systeme der Arbeitsorganisation geschaffen, die unter der Bedingung der Exploitation der Massen der Bevölkerung die schlimmste Form der Knechtung und des Auspressens einer zusätzlichen Menge von Arbeit, Kraft, Blut und Nerven aus den Werktätigen durch die Minderheit der besitzenden Klassen waren, die aber gleichzeitig das letzte Wort der wissenschaftlichen Produktionsorganisation sind, die die sozialistische Sowjetrepublik aufgreifen und umarbeiten muß, einerseits im Interesse der Verwirklichung unserer Rechnungslegung und Kontrolle über die Produktion, andererseits weiterhin zur Erhöhung' der Arbeitsproduktivität." 5 Von 1920 an entwickelte sich in der UdSSR eine aktive Forschungsarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen. Organisation von Produktion, Arbeit und Leitung. Es wurden Hunderte von Büchern und Dutzende von wissenschaftlichen Zeitschriften herausgegeben. Im ganzen Land wurde ein Netz spezieller Institute und Laboratorien aufgebaut, die Fragen der Leitungsorganisation auf allen Gebieten der Volkswirtschaft und im Staatsapparat ausarbeiteten. Die nach den Ideen Lenins und unter seiner persönlichen Teilnahme geschaffene Wissenschaft von der Leitung der Produktion erzielte in der Periode des Kampfes der Partei für die sozialistische Industrialisierung des Landes große Erfolge. Die Untersuchungen der sowjetischen Wissenschaftler auf diesem Gebiet fanden auch im Ausland hohe Anerkennung. Die Beschlüsse der letzten Parteitage der KPdSU übten auf die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften und auf die ganze ideologische Arbeit einen fördernden Einfluß aus. In den Beschlüssen des XXIII. Parteitags wurden die Grundrichtungen der Arbeit auf dem Gebiet der Organisations- und Leitungswissenschaft bestimmt und das Ziel gestellt, bei der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen für die Leitung der sozialistischen Produktion ein hohes Niveau zu erreichen. In den letzten Jahren drangen die Ideen der wissenschaftlichen Organisation von Produktion, Arbeit und Leitung immer tiefer in die theoretische Arbeit und in die Wirtschaftspraxis ein. Die Verlagstätigkeit hat sich belebt, der Strom der dieser wichtigen Seite unserer gesellschaftlichen Entwicklung gewidmeten Literatur wächst an. 5

W. 1. Lenin, Vollständige Ausgabe der Werke, Bd. 36, Moskau 1962, S. 140 (russ.). 73

Ein gründliches Studium der sowjetischen organisationswissenschaftlichen Erfahrungen und eine sorgfältige Aneignung des reichhaltigen Erbes und der zeitgenössischen Quellen muß zur Grundlage für die Beherrschung des Gegenstandes werden. Das ist heute von besonderei Bedeutung, wo sich die wissenschaftlichen Forschungen zu verschiedenen Fragen der Organisation und Leitung entwickeln und an den höheren Lehranstalten die Ausbildung von spezialisierten Produktionsorganisatoren und die Weiterbildung von Führungskadern beginnt. In Referaten einzelner Wissenschaftler und Spezialisten auf verschiedenen Konferenzen und Beratungen wird oft auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich die Erfahrungen anderer Länder auf dem Gebiet von Organisation und Leitung anzueignen. Das ist natürlich eine wichtige Quelle von Information über Theorien und Praxis der Organisation, aber keineswegs die einzige. Die Arbeiten der sowjetischen Wissenschaftler und Organisatoren in den Jahren von 1920 bis 1930 hatten ein hohes theoretisches Niveau, und das Netz der wissenschaftlichen Einrichtungen und periodischen Publikationen (Zeitschriftten, Sammelbände, Schriftenreihen, Bulletins usw.) erfaßte einen breiten Kreis von Fragen der Organisation von Produktion, Arbeit und Leitung. In der letzten Zeit erschienen Arbeiten, die sich mit den Erfahrungen der UdSSR auf dem Gebiet des Staats- und Wirtschaftsaufbaus in verschiedenen Perioden der Geschichte des Landes beschäftigen. Leider befassen sich die Autoren der meisten dieser im allgemeinen interessanten Arbeiten nicht speziell mit Fragen der Organisation und Leitung. Das erschwert die Benutzung solcher Werke zum Studium der Organisationserfahrungen. Die Probleme der Organisation und Leitung sind so wichtig, daß solide Spezialforschungen erforderlich sind. Die Lücke auf diesem Gebiet wird teilweise durch Arbeiten der Sektion für theoretische Fragen der Organisation im Wissenschaftlichen Rat für Kybernetik beim Präsidium der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ausgefüllt werden. Die Buchserie „Organisation und Leitung" wird zur Publikation vorbereitet. In diesem Zusammenhang wollen wir auf die Frage der Periodisierung der wissenschaftlichen Arbeit über die Organisation und Leitung der Volkswirtschaft eingehen. Die Notwendigkeit einer wissenschaftlich begründeten Periodisierung der Entwicklung der Organisations- und Leitungswissenschaft bedarf kaum eines Beweises. In unserer allgemeinen und speziellen theoretischen Literatur ist diese Frage jedoch noch nicht ausreichend erörtert worden. Die meisten Autoren der in letzter Zeit publizierten Artikel, die die Entwicklung der Arbeiten über die wissenschaftliche Organisation von Produktion, Arbeit und Leitung in den ersten Jahren der Sowjetmacht feststellen, weisen auch darauf hin, daß diese Arbeiten in der zweiten Hälfte oder am Ende der dreißiger Jahre eingeschränkt und die wissenschaftlichen Institu-

74

tionen aufgelöst wurden. Eine so allgemeine Periodisierung in der Entwicklung der Theorie von der wissenschaftlichen Organisation der Produktion kann natürlich nicht als ausreichend betrachtet werden. Es ist notwendig, ein theoretisch und methodisch begründetes System der Periodisierung auszuarbeiten, das den wissenschaftlichen Auffassungen über die Entwicklungsgeschichte der sowjetischen Gesellschaft entspricht. Neben den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten muß jede Etappe (Periode) in der Entwicklung der Organisations- und Leitungswissenschaft auch besondere Züge aufweisen. Hauptmerkmal der retrospektiven Einteilung der Entwicklung dieses Wissensgebietes in Etappen und Perioden sind die von allgemeinen politischen und ökonomischen Faktoren bedingten größeren Veränderungen in der sozialpolitischen Situation. Weiterhin muß man auch das Entstehen der Leitungswissenschaft selbst als Bestandteil der Gesamtentwicklung der sowjetischen Gesellschaft betrachten. Die Entwicklung der Wirtschaft im ganzen ist der entscheidende Faktor des gesellschaftlichen

Fortschritts;

deshalb muß man der Periodisierung

der

Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Volkswirtschaft unseres Erachtens jene Etappen der politisch-ökonomischen Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft zugrunde legen, die nicht nur spezifische Züge einzelner Perioden und Ergebnisse bestimmter wissenschaftlicher Arbeiten und theoretischer Diskussionen der Wissenschaftler ausdrücken, sondern vor allem die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieses Vorgehen schließt natürlich weder eine detaillierte Klassifikation der Etappen noch allgemeinere retrospektive Einschätzungen aus. Nach der Analyse der Hauptetappen der theoretischen Arbeiten auf dem Gebiet von Organisation und Leitung der gesellschaftlichen Produktion in der U d S S R ist nach unserer Ansicht folgende Periodisierung zweckmäßig: 1. Eindringen der Ideen einer wissenschaftlichen Organisation der Leitung in das vorrevolutionäre Rußland, Beginn ihrer Verwirklichung in russischen Betrieben ( 1 9 0 8 - 1 9 1 7 ) . 2. Erste Schritte der sowjetischen Organisatoren und Forscher auf dem Gebiet •der wissenschaftlichen Arbeiten zu Organisation und Leitung der Produktion {1917-1921).

Erste Allrussische Initiativkonferenz zur wissenschaftlichen

Organisation von Arbeit und Produktion ( 1 9 2 1 ) . 3. Entwicklung der Forschungen und der angewandten Organisationsarbeiten zur Rationalisierung der Staats- und Wirtschaftsleitung in der Wiederherstellungsperiode ( 1 9 2 1 - 1 9 2 5 ) . Zweite All Unionskonferenz über wissenschaftliche Arbeitsorganisation ( 1 9 2 4 ) . 4 . Periode des Kampfes um die sozialistische Industrialisierung. X I V . Parteitag der K P d S U . Erste Allunionsberatung zur Rationalisierung der Produktion. Aufbau des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft. X V . Parteitag der K P d S U . Erster Fünfjahrplan

(1925-1932). 75

5. Periode der Vollendung der sozialistischen Rekonstruktion der UdSSR. Zweiter und dritter Fünfjahrplan. Ausarbeitung wichtiger theoretischer und angewandter Fragen der Organisation der Industrieproduktion: System der technisch-ökonomischen und operativen Produktionsplanung, technische Normung, Fließfertigung usw. (1932-1940). 6. Periode des Großen Vaterländischen Krieges. Umstellung der Staats- und Wirtschaftsleitung auf' die Erfordernisse des Krieges (1941 - 1 9 4 5 ) . 7. Periode des Wiederaufbaus und der Entwicklung der sowjetischen Volkswirtschaft. XX. und XXI. Parteitag der KPdSU (1945-1961). 8. Gegenwärtige Periode des kommunistischen Aufbaus. Das vom XXII. Parteitag angenommene Programm der KPdSU. Der XXIII. Parteitag der KPdSU. Entwicklung neuer Wissenschaftsrichtungen auf dem Gebiet von Organisation und Leitung (Kybernetik, ökonomisch-mathematische Methoden, Organisationstheorie u. a.). Wirtschaftsreform. Allunionskonferenz zur wissenschaftlichen Leitungsorganisation der sozialistischen Industrie (1966) und Allunionsberatung über wissenschaftliche Arbeitsorganisation (1967). Sicher werden in der Diskussion zu der vorgeschlagenen Periodisierung auch andere Vorschläge entwickelt werden. Solchp Vorschläge ermöglichen es, ein begründetes Schema der Periodisierung sowohl in allgemeiner Form als auch mit detaillierten Unterteilungen auszuarbeiten. Zugleich erleichtern sie die allseitige Analyse der vielfältigen früheren Forschungsarbeit und praktischen Organisationstätigkeit mit Berücksichtigung der konkret-historischen Bedingungen in den verschiedenen Etappen der Forschungen sowie der Formen und Methoden der wissenschaftlichen Arbeit. So können die Entwicklungsgesetze dieses Wissensgebietes gründlicher erfaßt werden. Voii besonderem Interesse ist für uns die Periode der aktiven Forschungsarbeit zu Problemen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und der Leitungswissenschaft in den Vorkriegsjahren. In dieser Periode arbeitete in der UdSSR ein ausgedehntes Netz spezieller Forschungsinstitutionen, die sich mit Organisationsproblemen befaßten (Zentralinstitut für Arbeit, Institut für Leitungstechnik, Zentralinstitut für Leitungstechnik, Zentralinstitut für Produktionsorganisation und Leitung der Industrie, Gesamtukrainisches Institut für Arbeit, Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation in Kasan, Institut für wissenschaftliche Produktionsorganisation in Taganrog und viele andere Institute, Laboratorien und Büros). Wissenschaftliche Kader wuchsen heran, und das System der wissenschaftlichen Information festigte sich. Die Hauptergebnisse der Forschungen in der Vorkriegsperiode sind folgende. Die Organisationstheorien und die praktischen Erfahrungen des Auslandes auf diesem Gebiet wurden gründlich studiert und verallgemeinert. Dank Lenins systematischer Unterstützung entwickelte sich eine breite Bewegung für eine wissenschaftliche Organisation der Arbeit und für die allgemeine

76

Aneignung organisatorischer Fähigkeiten, und die fundamentalen theoretischen Grundlagen dieser Wissenschaftsdisziplin wurden geschaffen. In dieser Periode wurde ein weitverzweigtes und leistungsfähiges Netz von Forschungsinstitutionen aufgebaut, und es erschien vielfältige periodische Literatur. 6 Das spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit und bei der Propaganda von Wissen und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Organisation, beim Austausch progressiver Erfahrungen und beim Eindringen wissenschaftlicher Empfehlungen in die Produktionspraxis. Auch angewandte theoretische Fragen der Organisation der Industrieproduktion wurden ausgearbeitet. Welche Seiten der Organisationserfahrungen aus der Vorkriegsperiode sind heute für uns besonders wertvoll? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir untersuchen, in welcher Situation sich die organisationswissenschaftlichen Forschungen in der gegenwärtigen Etappe befinden und was sie erschwert. Zu den Faktoren, die die Entwicklung von Wissenschaft und Praxis auf dem Gebiet der Organisation hemmen, gehören zur Zeit das Fehlen eines leistungsfähigen Netzes wissenschaftlicher Einrichtungen, einer methodischen Leitung der Forschungen im Landesmaßstab und eines entsprechenden wissenschaftlichen Informationssystems sowie der Mangel an wissenschaftlichen Kadern. Durch das Prisma der aktuellen Entwicklungsprobleme der Organisationswissenschaften muß man auch in den Erfahrungen der Vorkriegsjahre die wertvollsten Seiten bestimmen. Natürlich darf man die Maßstäbe unserer Volkswirtschaft zur Zeit der ersten Fünfjahrpläne und in der gegenwärtigen Periode des kommunistischen Aufbaus nicht gleichsetzen. Deshalb sind auch die Anforderungen an die wissenschaftliche Durchdringung der modernen Produktion gewachsen. Leider befindet sich unser wissenschaftliches Denken auf dem Gebiet der Organisationsprobleme bisher noch sichtlich im Rückstand. Während wir in der Vergangenheit über Dutzende von wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen und Hunderte von Rationalisatorenzellen in den Volkskommissariaten, Trusts und Betrieben verfügten, sind wir heule genötigt, mit einer sehr viel bescheideneren Anzahl von Einrichtungen auszukommen. Die erste Aufgabe, die sich aus der Auswertung früherer Erfahrungen ergibt, ist also die Schaffung eines ausgedehnten Netzes wissenschaftlicher Forschungsinstitutionen. Dabei darf man die aktive Einwirkung der Wissenschaft auf die Praxis nicht vergessen. In den letzten Jahren wurden Probleme der Überführung wissenschaftlicher Ideen in die Produktion, der „Vergegenständlichung" des wissen6

Insgesamt erschienen in der UdSSR in der Periode von 1917 bis 1940 zu verschiedenen Zeiten 558 Zeitschriften auf dem Gebiet der Organisation und Leitung.

77

schaftlichen Denkens in der Presse lebhaft diskutiert. Bei den organisationswissenschaftlichen Forschungen können auch die Erfahrungen aus der Arbeit solcher Rentabilitätsvereinigungen und Konsultationsbüros wie des „Orgstroj" beim Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion der UdSSR, des „Orgmetall" beim Volkskommissariat für Schwerindustrie, der „Ustanowka" beim Zentralinstitut für Arbeit, des „Sojusorgutschot" bei der Zentralverwaltung Rechnungswesen und Statistik in der Volkswirtschaft der UdSSR und anderer von Nutzen sein. Überaus wertvoll sind für uns heute die Erfahrungen der Rentabilitätsorganisationen, die auf der Grundlage von Verträgen mit Einrichtungen und Betrieben eine rationelle Organisation und Technik der Leitung praktisch einführten, technische Hilfe und Konsultationen gewährten und ähnliche wissenschaftlich-technische Leistungen erbrachten. Daraus ergibt sich als zweite Aufgabe bei der Auswertung der Vorkriegserfahrungen auf dem Gebiet der Organisation die Einrichtung von zwischenzweiglichen Rentabilitätsvereinigungen zur praktischen Einführung wissenschaftlicher Methoden der Organisation und moderner Leitungstechnik in die Produktion, natürlich auf moderner Grundlage, insbesondere in Hinblick auf die Leitungstechnik. Ein System der Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse (InstitutVereinigung-Betrieb) sichert dann die planmäßige Überführung von Resultaten organisationswissenschaftlicher Forschungen in die Praxis der Produktion. Die Betriebslaboratorien werden bei diesem Prozeß keine passiven Beobachter, sondern aktive Teilnehmer sein und damit zugleich ihr eigenes wissenschaftliches Niveau erhöhen. Bei den Vereinigungen müssen wissenschaftliche Konsultationsbüros arbeiten, die schriftliche und mündliche Auskünfte erteilen. Bei vielen Instituten der Vorkriegsperiode (Zentralinstitut für Arbeit, Institut für Leitungstechnik, Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation in Kasan u. a.) bestanden Lehrzentren, Kurse, Seminare und andere Formen der Organisationspropaganda. Der Austausch mit Praktikern, Instrukteuren und Leitern örtlicher Zellen für Organisation bereicherte die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Institute und ermöglichte ihnen, ihre Kurse so zu gestalten, daß sie den praktischen Bedürfnissen dei Produktion entsprachen. Andererseits erhöhte der Umgang mit den Wissenschaftlern das theoretische Niveau der Praktiker und half ihnen dabei, viele methodische und technische Fragen organisatorischer Untersuchungen in den Betrieben operativ zu entscheiden. Daraus ergibt sich als dritte Aufgabe bei der Auswertung der Erfahrungen dieser Jahre die Einrichtung ständiger Seminare bei den Leitinstituten der Industriezweige zum Zweck des praktischen Kontakts mit den Betriebslaboratorien für Organisation und Leitung der Produktion, wissenschaftliche Arbeitsorganisation usw. Auch das vollkommenste staatliche System wissenschaftlicher Einrichtungen bedarf gesellschaftlicher Unterstützung, damit sich die organisationswissen-

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schaftlichen Forschungen gut entwickeln können. Bei Versäumnissen in dieser Hinsicht führen auch gut vorbereitete Maßnahmen zum Mißerfolg. Es sei an die große Rolle erinnert, die in der Vergangenheit solche gesellschaftlichen Organisationen wie die Liga „Wremja" für wissenschaftliche Arbeitsorganisation, die Partei-, Gewerkschafts- und Komsomolzellen in den Betrieben und die wissenschaftlich-technischen Gesellschaften bei der Propagierung organisatorischer Kenntnisse und Praktiken gespielt haben. Daraus ergibt sich als vierte Aufgabe bei der Ausnutzung unserer eigenen 7 Erfahrung, daß die örtlichen Partei-, Gewerkschafts- und Komsomolorganisationen und die wissenschaftlich-technischen Gesellschaften ihre Aufmerksamkeit für Fragen der wissenschaftlichen Organisation bedeutend verstärken müssen. Ein besonderer Platz gebührt hierbei den wissenschaftlich-technischen Gesellschaften mit ihrem verzweigten Netz örtlicher Organe. In jeder wissenschaftlich-technischen Gesellschaft müssen Sektionen (Komitees) für wissenschaftliche Arbeitsorganisation, Leitung und Organisation der Produktion usw. gebildet werden. Auch die Frage der Schaffung einer Allunionsgesellschaft der Rationalisatoren sollte erwogen werden. Wie jedes Organisationssystem kann auch ein ausgedehntes Netz wissenschaftlicher Einrichtungen selbst bei gesellschaftlicher Unterstützung ohne ein einheitliches Führungszentrum nicht effektiv funktionieren. In der Vergangenheit entwickelten sich die organisationswissenschaftlichen Forschungen am besten in jener Periode, als der Allunionssowjet für wissenschaftliche Arbeitsorganisation beim Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion der U d S S R 8 bestand. Dieses Gremium leitete über den zentralen und örtlichen Apparat der Organe der Arbeiter- und Bauerninspektion die gesamte Arbeit der Rationalisatoren im Lande und war theoretisches und methodisches Führungszentrum der organisationswissenschaftlichen Forschungen. Wir sehen auch, daß mit der Auflösung der Organe der Zentralen Kontrollkommission und der Arbeiter- und Bauerninspektion als des methodischen Führungszentrums die organisationswissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Gebiet der Produktionsleitung ihren die verschiedenen Zweige verbindenden Charakter verloren. Die theoretischen Arbeiten wurden eingestellt, lind 7

8

Wir betonen das Wort „eigene", weil in keinem kapitalistischen Land die organisatorische Rationalisierung mit Unterstützung der Werktätigen eingeführt wird. Sowohl zur Zeit Taylors als auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts begegnet die auf eine Intensivierung der Arbeit gerichtete „wissenschaftliche Organisation" dem Widerstand der Arbeiterklasse und ihrer Massenorganisationen. Vorsitzender des Allunionssowjets für wissenschaftliche Arbeitsorganisation war W. W. Kujbyschew. Er war gleichzeitig Vorsitzender der Zentralen Kontrollkommission des ZK der KPdSU (B), Volkskommissar für Arbeiter- und Bauerninspektion und stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und des Rates für Arbeit und Verteidigung der UdSSR.

79

die gesamte weitere Arbeit erfolgte nur noch im Rahmen der einzelnen Zweige. Das hat sich sehr ungünstig auf den heutigen Zustand der Leitungswissenschaft ausgewirkt. Daraus ergibt sich als fünfte Aufgabe bei der Auswertung der Organisationserfahrungen der Vorkrtegsjahre die Sicherung der wissenschaftlich-organisatorischen und methodologischen Führung des gesamten Netzes der wissenschaftlichen Einrichtungen, die mit der Ausarbeitung von Organisationsproblemen beschäftigt sind. Damit diese Aufgabe erfüllt werden kann, müssen die führenden Gelehrten dieser Arbeitsrichtung in einer wissenschaftlichen Leitinstitution vereinigt werden. Die Erfahrung der dreijährigen Arbeit des Rates für das Problem „Wissenschaftliche Grundlagen der Leitung der Volkswirtschaft" beim früheren Staatlichen Komitee für die Koordinierung der wissenschaftlichen Forschungsarbeiten der UdSSR hat gezeigt, daß ein Beirat für ein wissenschaftliches Problem bei einem staatlichen Leitupgsorgan ohne wissenschaftliche Basis keine effektive Form der methodischen Führung ist. Die Vorkriegserfahrungen könnten beim Aufbau eines derartigen koordinierenden methodischen Allunionszentrums für organisationswissenschaftliche Probleme von Nutzen sein. Die Wissenschaft bedarf der Information. Die Entwicklung jedes Wissensgebietes wird vom Zustand und von der Effektivität der Informationssysteme bestimmt. Das gilt besonders für die Organisationswissenschaften, deren Untersuchungsgegenstand die überaus komplizierten und sich laufend ändernden Organisationsbeziehungen im Bereich der gesellschaftlichen Produktion, Distribution und Verteilung sind. Die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Information und der Propagierung von Erkenntnissen sowie der Erfahrungsaustausch über theoretische und angewandte Fragen der Organisation und Leitung werden durch das Fehlen eines speziellen periodischen Organs (einer Zeitschrift oder eines Bulletins) eingeschränkt. Auch in dieser Hinsicht sind uns die Erfahrungen der Jahre von 1920 bis 1940 von Nutzen. Es geht dabei um die Organisierung der operativen wissenschaftlich-technischen Information, die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Erfahrungsaustausch über theoretische und angewandte Fragen der Organisation und Leitung mit Hilfe eines leistungsfähigen Netzes periodischer Organe (allgemeine theoretische Zentralorgane, Zweigorgane, Territorialorgane). Unter den Bedingungen eines entwickelten Pressesystems widerspiegeln die Literaturquellen (Bücher und Publikationen in der periodischen Presse) den Zustand einer Wissenschaft in jeder Etappe ihrer Entwicklung. Besondere Bedeutung haben Publikationen in Periodica (Zeitschriften, Informationsbulletins usw.), denn sie enthalten die aktuellsten Angaben, behandeln Gesichtspunkte, die noch nicht Eingang in Bücher gefunden haben, und informieren über laufende Forschungen und erzielte Resultate. SO

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Aufbaus eines Systems periodischer Presseorgane zu Fragen der Produktions-, Leitungs- und Arbeitsorganisation usw. in den Jahren von 1 9 2 0 bis 1940 von großer Bedeutung. Dieses System war thematisch außerordentlich vielseitig und erfaßte ein großes Territorium. Das zeugt von der Aufmerksamkeit, die nicht nur der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschungen, sondern auch der Verbreitung wissenschaftlich-technischer Information entgegengebracht wurde. Wenn wir alle periodischen Organe bedingt in zentrale und örtliche einteilen, dann können wir feststellen, daß allein auf dem Territorium der R S F S R zwischen 1 9 1 8 und 1 9 3 0 neben den zentralen Editionen in Moskau und Leningrad 148 Zeitschriften zu Fragen der Ökonomie und der Produktions-, Arbeits- und Leitungsorganisation, 5 6 amtliche Publikationen von Sammelbandcharakter und 35 Bulletins erschienen. Diese Veröffentlichungen wurden von den Ortskommissionen,

und Gebietsexekutivkomitees, wissenschaftlichen

Volkswirtschaftsräten,

Einrichtungen,

Komitees

und

Plan-

einzelnen

Organisationen herausgegeben. Die Thematik der periodischen Veröffentlichungen umfaßte zahlreiche theoretische und angewandte Fragen der Organisation, von den allgemeinen Problemen des Partei-, Staats- und Wirtschaftsaufbaus bis hin zu so speziellen Fragen wie zum Beispiel der rationellen Organisation der Abfallverwertung usw. 9 Das

gegenwärtige

Niveau

der

periodischen

wissenschaftlichen

Informa-

tion begünstigt leider nicht die Lösung der komplizierten, mit dem damaligen Stand gar nicht mehr vergleichbaren Organisations- und Leitungsprobleme. Kaum eine einzige der heute bestehenden wissenschaftlichen Zeitschriften behandelt Organisationsprobleme wie die Organisation von Wissenschaft, Produktion, Arbeit und Leitung, die Psychologie von Arbeit und Leitung und die Ausbildung von Organisatoren. Das

Fehlen

eines organisierten

Systems

der

wissenschaftlich-technischen

Information zu Problemen der Organisation und Leitung behindert vor allem die wissenschaftlichen Institutionen der Zweige, die gezwungen sind, für die Suche nach Informationen über progressive Erfahrungen auf dem Gebiet der Leitungsorganisation aus der Sowjetunion oder aus anderen Ländern große Mittel aufzuwenden. Um die Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit zu diesen Problemen zu sichern, muß unverzüglich ein effektives System der wissenschaftlichen Information geschaffen werden; dabei muß die Entwicklung des Informationssystems die Entstehung neuer wissenschaftlicher Einrichtungen

über-

holen. 9

i

Besonders populär wann die wissenschaftlich-technischen Zeitschriften „Orginformazija", „Organisazija proiswodstwa", „Organisazija uprawlenija", „Predprijatije", „Organisazija truda", „Inshenerny trud" und „Sa promyschlennyje kadry". Lütko

81

Ein solches System soll nicht nur die laufenden Bedürfnisse der Organisationswissenschaften befriedigen, sondern auch Informationsreserven schaffen, d. h. Information über Erkundungsarbeiten oder technische Neuerungen, die in Zukunft genutzt werden können. Nur diese vorauseilende Entwicklung des Informationssystems auf dem Gebiet von Organisation und Leitung gewährleistet einen großen Umfang wissenschaftlicher Forschungen in naher Zukunft. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage nach der Schaffung eines Informations- und Auskunftsdienstes zu Fragen der Organisation und Leitung für die ganze Sowjetunion. Das derzeitige Fehlen eines solchen Dienstes beeinträchtigt das Niveau der Forschungen. Organisatorisch kann man dieses Problem durch den Aufbau einer leistungsfähigen Auskunfts- und Informationsfirma lösen, zu der ein zentraler Auskunfts- und Informationsfonds zu Problemen der Leitungsorganisation, eine zentrale wissenschaftlich-technische Bibliothek mit Fernleihe, ein Druck- und Verlagskombinat usw. gehören. Diese Firma, die Verbindungen mit allen zentralen und zweiggebundenen Forschungseinrichtungen, Industrieministerien und führenden Betrieben, wissenschaftlichen Bibliotheken und einzelnen Verlagen unterhält, könnte unseres Erachtens das Rückgrat des gesamten Informationssystems zu Problemen der Organisation und Leitung bilden. Zum Zweck der effektiven wissenschaftlich-technischen Information auf dem Gebiet theoretischer und angewandter Fragen der Organisationswissenschaften ist es notwendig, auf moderner Grundlage das ausgedehnte System periodischer Presseorgane (Zeitschriften, Sammelbände, Bulletins) in kürzester Frist wiederherzustellen, wenn auch zunächst nur teilweise. Unter Berücksichtigung dessen, daß dieses System dem System der wissenschaftlichen Einrichtungen (allgemeintheoretische, zwischenzweigliche, zweiggebundene und territoriale Institutionen) entsprechen muß, sind unseres Erachtens vier Arten von Zeitschriften zweckmäßig; I. Ein allgemeines theoretisches Organ: „Fragen der Organisation und Leitung." II. Zwischenzweigliche Organe: „Staatliche Leitung" (Fragen der Organisation des Apparates der staatlichen Leitung, System der Organe zur Leitung der verschiedenen Seiten der Sowjetgesellschaft) ; „Volkskontrolle" ; „Organisation und Leitung der sozialistischen Produktion" (Industrie, Landwirtschaft, Bauwesen, Transport und Kommunikationswesen) ; „Lèitungstechnik" (Mechanisierung und Automatisierung der Leitungsarbeit und der Leitungsprozesse, Einführung der elektronischen Rechentechnik) ; „Statistik und Dokumentation" (rationelle Organisation von Dokumentationssystemen im Leitungsapparat, Organisation der Arbeit des Leitungspersonals). III. Zweiggebundene Presseorgane in den entsprechenden Ministerien, staatlichen Komitees und Dienststellen. 82

IV. Territoriale Presseorgane in den Sowjetrepublik«!. Mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschungen kann diese Liste ergänzt und erweitert werden. Insbesondere die Zeitschrift „Organisation und Leitung der sozialistischen Produktion" muß nach den Zweigen der Volkswirtschaft differenziert werden. Man muß auch eine spezielle Zeitschrift „Organisation der Leitungsarbeit" schaffen. Große Bedeutung für die Entwicklung von Wissenschaft, Lehre und Praxis auf dem Gebiet der Rationalisierung der Leitung hat die Erweiterung der Verlagstätigkeit zu dieser Thematik. Gegenwärtig ist eine steigende Nachfrage nach praktischer, theoretischer und Lehrbuchliteratur zu beobachten. Die Redaktionen der Zeitschriften und Zeitungen und die Verlage erhalten zahlreiche Briefe mit der Bitte, die Herausgabe entsprechender Bücher und Materialien zu den aufgezählten Fragen zu beschleunigen. Das zeugt von einem großen Interesse an den Problemen der Organisation und Leitung. In den Jahren von 1920 bis 1935 gab es in der UdSSR einige spezielle Verlage („Leitungstechnik", „Fragen der Arbeit", „Standardisierung und Rationalisierung" u. a.). Sie gaben Tausende von Büchern zu theoretischen und angewandten Fragen der Organisation und Leitung heraus. 1 0 In den letzten Jahren bis hin zur jüngsten Zeit wurde der Herausgabe solcher Literatur nicht die nötige Aufmerksamkeit zuteil. Jetzt werden Maßnahmen eingeleitet, um diese Lücke zu schließen. Im Verlag „Ekonomika" wurde erstmalig in der Verlagspraxis der letzten Jahre eine spezielle Redaktion geschaffen, die Literatur zu Fragen der Organisation und Leitung herausgibt. Einige zentrale Verlage („Nauka", „Mysl" u. a.) planen ebenfalls die Herausgabe von Büchern und Broschüren zu Fragen der Leitung. Künftig wird es mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeiten in dieser Richtung nach unserer Meinung nötig sein, einen spezialisierten Verlag zur Herausgabe von wissenschaftlich-technischer und populärer Literatur, Lehrbüchern und Nachschlagewerken einzurichten. Dieser Verlag könnte auch die Herausgabe von Zeitschriften, Bulletins und anderen periodischen Publikationen zu Leitungsfragen übernehmen. Eng mit den Problemen einer Erweiterung der Informationstätigkeit auf dem Gebiet der Organisation der Produktionsleitung verbunden sind solche Fragen wie die Verbreitung von Kenntnissen über die Organisation durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, das Studium der Grundlagen der wissenschaftlichen Leitungsorganisation in technischen und ökonomischen Hochschulen und Technika und andere wesentliche Probleme der Entwicklung 10

Von der Gesamtmenge der in der UdSSR während eines halben Jahrhunderts herausgegebenen Literatur zu Problemen der wissenschaftlichen Arbeits- und Leitungsorganisation entfielen etwa 8 0 % auf die Jahre 1918 bis 1936.

83

von organisatorischen Fähigkeiten bei den Spezialisten, die in der Leitung der Volkswirtschaft tätig sind. Die Lösung der betrachteten wissenschaftlich-organisatorischen Fragen hängt auch eng mit der Einrichtung eines Systems von Forschungsinstitutionen zusammen, die auf theoretischen und angewandten Gebieten der wissenschaftlichen Organisation arbeiten. J e eher dieser ganze Fragenkomplex gelöst wird, desto größere Ergebnisse, desto größere Effektivität wird die sowjetische Organisationswissenschaft erreichen. Wir haben bereits davon gesprochen, daß der Historismus zu den methodologischen Grundprinzipien der Leitungswissenschaft gehört. Die Quellen der Leitungswissenschaft muß man unter Anwendung der dialektischen Methode gründlich studieren. Alle ihre Quellen sind miteinander verbunden; man muß sie als ein System betrachten und von den Positionen der Gegenwart aus analysieren. Der Autor hatte nicht die Möglichkeit, in dieser Arbeit ausführlich auf die einzelnen Perioden, wissenschaftlichen Strömungen, Autoren und Publikationen einzugehen. Das erfordert spezielle Forschungen. Das Interesse an der Geschichte ist mehr als bloße Liebe zur Vergangenheit und komplizierter als die Kritik an den Routinevorstellungen oder der konservativen Haltung einiger extremer Anhänger alter Prinzipien und Methoden der Leitung. Dieses Interesse ist eine sittliche Kategorie und ermöglicht dem Menschen, sich selbst als den Erben einer heroischen Vergangenheit zu verstehen und seine Verantwortung vor den künftigen Generationen zu erkennen. Wir können nicht nur dem heutigen T a g leben, nicht nur den Interessen des Augenblicks, so bedeutend sie auch sein mögen. E s ist notwendig, sein Leben als Fortsetzung des Lebens der vorangegangenen Generationen zu begreifen. Ohne Kenntnis der Geschichte einer F r a g e kann man an die Lösung der gegenwärtigen Probleme und an die perspektivischen Erkundungsforschungen schwerlich richtig herangehen. Hier ist noch eine Bemerkung zum Studium des schöpferischen Erbes der sowjetischen Organisatoren erforderlich. Die Wissenschaft beginnt bekanntlich mit dem Menschen; der Mensch ist Träger wissenschaftlicher Ideen, Akkumulator wissenschaftlicher Potenzen. E s wäre naiv zu glauben, es würde ausreichen, das Gebäude eines wissenschaftlichen Zentrums zu errichten, Mittel bereitzustellen und die Planstellen zu besetzen, damit sich die Wissenschaft in stürmischem Tempo entwickelt. Alle Erfahrungen aus der Entwicklung der Organisationstheorie, der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation, der Leitungswissenschaft und anderer organisationswissenschaftlicher Disziplinen zeugen davon, daß im Mittelpunkt der Entwicklung Men-

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sehen standen - Wissenschaftler und politische Funktionäre. Um sie sammelten sich Schülcr, konzentrierte sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft. Schöpferische Ideen verbanden solche wissenschaftlichen Richtungen und Gruppen zu einem einheitlichen Ganzen. So war es in allen Entwicklungsperioden der sowjetischen Organisationswissenschaft, als sich um solche Persönlichkeiten wie W. W. Kuibyschew, A. K. Gastew, P. M. Kershenzew, J. F. Rosmirowitsch, A. A. Bogdanow, 0 . A. Jermanski und I. M. Burdjanski wissenschaftliche Schulen bildeten und lebhafte, schöpferische Diskussionen geführt wurden, die im Streit der Meinungen die sowjetische Wissenschaft von der Organisation der Produktion, Arbeit und Leitung voranbrachten. Um das organisationswissenschaftliche Erbe der Vor- und Nachkriegszeit zu verallgemeinern, ist es notwendig, die Positionen der verschiedenen wissenschaftlichen Schulen und Richtungen theoretisch zu analysieren, chronologische und Sachklassifikationen auszuarbeiten und historiographische, textkritische und Quellenforschungen durchzuführen. Die Analyse der Geschichte der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Volkswirtschaft in der UdSSR zeigt, daß viele Perioden ihrer Entwicklung fruchtbar waren, während in anderen ein Rückgang eintrat. Die gegenwärtigen Tendenzen des Fortschritts dieses Wissensgebietes kann man als günstig einschätzen. Es bestehen alle Bedingungen für die allseitige, schöpferische Entwicklung der marxistisch-leninistischen Leitungs- und Organisationstheorie. Die Erfolge der Forschungen auf diesem Gebiet hängen ab von der Weite des Horizonts dieser Wissenschaftler, von ihrer Kühnheit, Ehrlichkeit und Prinzipienfestigkeit, von der rationellen Organisation der wissenschaftlichen Forschungen, von der Fähigkeit zum Führen schöpferischer Diskussionen, von der Qualität des Informationssystems usw. Lenin hat die Wissenschaft von der Organisation der Leitung als äußerst schwierig und zugleich als sehr ergiebig bezeichnet. Die Grundlagen dieser Wissenschaft muß jeder Leiter und Spezialist beherrschen. Die Organisation der Leitung mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Methoden und technischer Mittel erhöht die Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Produktion und verwirklicht schöpferisch die Beschlüsse des XXIII. Parteitags der KPdSU.

J . O . LJUBOWITSCH

Zur Entwicklung der Theorie von der Organisation der Industrieproduktion in der UdSSR 1

In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, einige Ergebnisse der wissenschaftlichen Ausarbeitung von theoretischen Fragen der Produktionsorganisation im engeren Sinne dieses Wortes zu analysieren; wir verstehen dabei unter Produktionsorganisation die Organisierung des unmittelbaren Prozesses der Herstellung materieller Güter im Maßstab eines Betriebes. Natürlich reduzieren sich die Probleme der Organisations- und Leitungstheorie nicht auf diesen relativ begrenzten Fragenkreis. Sie erfassen in komplexer Form den gesamten gesellschaftlichen Prozeß der materiellen Produktion sowie die nichtproduktive Sphäre der planmäßigen gesellschaftlichen Arbeit. Das weite und in höchstem Grade komplizierte Gebiet der Organisation und Leitung der sozialistischen Volkswirtschaft ist jedoch Untersuchungsgegenstand mehrerer ökonomischer und juristischer Disziplinen; daher versuchen wir nicht, die theoretischen Ergebnisse aller dieser verschiedenartigen Bereiche in einem einzigen Résumé zu behandeln. Von den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts an gibt es Versuche, wissenschaftliche Methoden für die Organisation und Leitung der Produktion im Rahmen eines Betriebes in der kapitalistischen Industrie auszuarbeiten. In den USA wurde diese Arbeit von Rationalisierungsingenieuren wie Town, Taylor, Gantt, Emerson, Gilbreth, Church, Thompson und anderen geleistet. Sie waren bestrebt, den Grad der Ausbeutung der Arbeitskraft einschneidend zu erhöhen und so eine maximale Erhöhung der Rentabilität der Betriebe zu erreichen, um auf diese Weise dem jungen, sich stürmisch entwickelnden Kapitalismus der USA im erbitterten ökonomischen Wettstreit 1

Der Artikel ist ein erster Versuch, die Entwicklung der theoretischen und angewandten Arbeiten auf dem Gebiet der Organisation der Industrieproduktion in der UdSSR zu resümieren. An der Gestaltung dieses bedeutenden Wissensgebietes haben sich Hunderte von sowjetischen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Organisationspraktikern beteiligt; viele von ihnen werden in diesem Beitrag erwähnt. Der Artikel wurde vor der Wirtschaftsreform geschrieben, trägt skizzenhaften Charakter und beansprucht nicht, alle Aspekte der theoretischen und praktischen Tätigkeit zur Schaffung der sowjetischen Theorie von der Organisation der Industrieproduktion zu erfassen. (Anmerkung der sowjetischen Redaktion.)

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mit den alten, industriell hochentwickelten Ländern Westeuropas den Sieg zu sichern. Die amerikanischen Rationalisatoren waren aber auch von den ersten Schritten an genötigt, den ausbeutungsfördernden Charakter ihrer Systeme ideologisch zu maskieren und sorgfältig die schwerwiegenden Folgen zu vertuschen, die die „Wissenschaft" von der Organisation und Leitung der Produktion unter den Bedingungen des Kapitalismus für die Werktätigen unvermeidlich mit sich bringt. Allerdings beschränkte sich die theoretische Ausarbeitung von Problemen der Produktionsorganisation seitens ihrer kapitalistischen Vertreter nicht allein auf sozial-ökonomische Demagogie und Apologetik. Sie war und ist mit ernsthaften, in manchen Fällen recht gelungenen Versuchen verbunden, progressive Erfahrungen und Praktiken einer rationellen Organisation von Arbeit und Produktion zu systematisieren und zu verallgemeinern. Diese Versuche stehen in keinem direkten Zusammenhang mit der apologetischen „Theorie" des sogenannten kapitalistischen Management; sie gehen aber nicht über die Grenze empirischer Regeln und allgemeiner Empfehlungen hinaus, deren sich der qualifizierte Adminstr&tor oder Businessman in entsprechenden Fällen bedienen soll. In einem kurzen Artikel ist es nicht möglich, den Charakter der umfangreichen wissenschaftlichen und populären Literatur, die in den kapitalistischen Ländern zu diesen Fragen publiziert worden ist und laufend erscheint, ausführlich zu untersuchen. Ein kritisches Resumé der zeitgenössischen Richtungen in der Theorie des Management enthält die Monographie „Soziologie des Business" von D. M. Gwischiani 2 , auf die wir den Leser verweisen. Die unzähligen verschiedenen Lehrbücher und praktischen Leitfäden, die im kapitalistischen Ausland herausgegeben worden sind, haben keine ausgeprägte wissenschaftlich-theoretische Basis, sondern widerspiegeln meist einerseits die subjektiven Ansichten der Autoren und andererseits die praktischen Erfahrungen der Organisationsarbeit. Eine wissenschaftliche Organisationstheorie entstand und entwickelte sich erst unter den Bedingungen eines geplanten Systems der Volkswirtschaft, in dem die Produktion von antagonistischen Widersprüchen frei ist und ihre Gesetze bewußt und planmäßig von allen Teilnehmern des kollektiven, unmittelbar gesellschaftlichen Arbeitsprozesses in ihrem eigenen Interesse angewandt werden können, nicht aber für die einseitigen, räuberischen Interessen einer parasitären Minderheit von Ausbeutern, die alle grundlegenden Produktionsmittel beherrschen. Mit anderen Worten, eine wissenschaftliche Theorie von der Organisation der Arbeit, Produktion und Leitung ist prinzipiell erst auf dem Boden der sozialistischen Produktionsweise möglich. 2

D. M. Gwischiani, Soziologie des Business, Moskau 1962 (russ.).

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Deshalb stellte Lenin, der große Führer, Theoretiker und Organisator des ersten sozialistischen Staates der Werktätigen in der Weltgeschichte, sofort nach dem Sieg der Oktoberrevolution dem ganzen Volk die entscheidende Aufgabe, eine neue Organisation der gesellschaftlichen Produktion zu schaffen. Er schrieb: „Die Organisierung der Rechnungsführung, die Kontrolle über die Großbetriebe, die Umwandlung des ganzen staatlichen Wirtschaftsmechanismus in eine einzige größe Maschine, in einen Wirtschaftsorganismus, der so arbeitet, daß sich Hunderte Millionen Menschen nach einem einzigen Plan richten - das ist die gigantische organisatorische Aufgabe, die uns zugefallen ist." 3 Die Lösung dieser Aufgabe erforderte, eine beträchtliche praktische Erfahrung zu sammeln; sie verlangte tiefgehendes kritisches Studium, Systematisierung und kühne Verallgemeinerung der Praxis der sozialistischen Produktion. Diese Lösung gründete sich auf die Schaffung organisierter Formen der Leitung und auf ihre Anpassung an die Besonderheiten der wirtschaftspolitischen Situation in den verschiedenen Etappen des sozialistischen Aufbaus unter Berücksichtigung der materiellen Bedingungen, der Maßstäbe und des technischen Niveaus der verschiedenen Zweige und Arten der Produktion. Die von Lenin gestellte Aufgabe wurde in organischer Verbindung mit dem unaufhaltsamen Aufschwung der Produktivkräfte, mit der Vervollkommnung der Produktionsverhältnisse, mit dem Wachstum der Kultur und der wissenschaftlichen Potenzen und mit der Erhöhung der kommunistischen Bewußtheit der Werktätigen in der Sowjetunion gelöst. Deshalb begann hier auch die wissenschaftliche Ausarbeitung der Theorie von der Organisation der Produktion nicht sofort und nicht im vollen Umfang der Probleme, wie es auf dem Niveau der umfassenden Verallgemeinerung einer langjährigen Erfahrung und Praxis bei mehr oder minder stabilen, unveränderten Bedingungen für die Führung der Volkswirtschaft möglich gewesen wäre. In der UdSSR wurde diese Theorie auf dem Wege der schrittweisen Ausarbeitung und Prüfung der Lösungen einzelner Probleme im Hinblick auf die laufenden Aufgaben und Anforderungen bei der Entwicklung der sozialistischen Produktion geschaffen. Dieser Prozeß war mit der Entfaltung einer vielfältigen Lehrtätigkeit verbunden und orientierte sich weitgehend auf die konkreten Bedürfnisse der Ausbildung von Spezialisten unterschiedlichen Profils und Qualifikationsgrades. Er wurde beeinflußt von den sich wandelnden Organisationsformen der staatlichen Leitung für die Zweige der sozialistischen Produktion und des Systems der Organe, die sich mit Forschungs- und Entwurfsarbeiten zur Ökonomie und Planung der Produktion, zur Organisation

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W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 76/77.

und Normung der Arbeit und zur Organisation und Technik der Leitung beschäftigen. Richtschnur für die wissenschaftliche Ausarbeitung von Problemen der Organisation der sozialistischen Produktion und für die Entwicklung der entsprechenden Organisationspraxis war und ist stets die führende Rolle der kommunistischen Partei, ihre ökonomische und technische Politik. Die Beschlüsse des Zentralkomitees, der Parteitage und der Parteikonferenzen bestimmen die Schwerpunktaufgaben für die Vervollkommnung der Produktionsorganisation, die Wege und die prinzipiellen Leitsätze für die Lösung dieser Aufgaben. So war die sich unaufhörlich entwickelnde und mit neuen Erfahrungen bereichernde Lehre des wissenschaftlichen Kommunismus stets theoretischer Leitfaden bei der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen für die Organisation der sozialistischen Produktion und der Methoden für die Leitung der Volkswirtschaft. Aus diesem Grunde zeichneten sich die theoretischen Arbeiten zu Fragen der Organisation und Leitung der Wirtschaft in der UdSSR stets durch systemgerechtes, komplexes volkswirtschaftliches Vorgehen aus.

1. Allgemeine prinzipielle Fragen der Theorie von der Organisation der Produktion und Leitung Nach den Hinweisen Lenins wurden in der UdSSR in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts umfangreiche Untersuchungen zur wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und zur Vervollkommnung der Leitung in Angriff genommen. Zu den hervorragenden Persönlichkeiten, die dazu einen wichtigen schöpferischen Beitrag geleistet haben, gehören vor allem A. K. Gastew, der Begründer und Leiter des Zentralinstituts für Arbeit (ZIT) beim Zentralrat der sowjetischen Gewerkschaften, P. M. Kershenzew und P. A. Popow. Ohne auf die wesentliche Rolle des ZIT und seiner Methoden bei der Entwicklung progressiver Formen der Arbeitsorganisation in Industrie und Bauwesen näher einzugehen, müssen wir doch erwähnen, daß der gesamten wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit des Instituts eine bestimmte theoretische Konzeption zugrunde lag, die von A. K. Gastew begründet worden war und sich vom allgemein üblichen Vorgehen der kapitalistischen Rationalisatoren prinzipiell unterschied. A. K. Gastew nahm den Arbeitsplatz zum Ausgangspunkt der Untersuchung und der organisatorischen Einwirkung; er betrachtete ihn nicht einfach als eine Position rein ausführenden Charakters, sondern als eine Art Primärzelle des Produktionsorganismus, in der alle Grundfunktionen verwirklicht sind, die dem Organismus im ganzen oder, anders gesagt, dem kollektiven Gesamtarbeiter des modernen Betriebes zukommen. Als solche Funktionen betrach-

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tete Gastew Berechnung (y^eT), Einrichtung, Bearbeitung und Kontrolle. Unter Berechnung verstand er die vorbereitende Aufstellung des Planes der Arbeit, der ihre Objekte, die Produktionsaufgabe, die Ordnung und die Methoden und Mittel der Ausführung festlegt (einschließlich der eigentlichen Berechnung des technologischen Regimes, z. B. der Arbeitstiefe, der Geschwindigkeit und der Zuführung beim Schneiden von Metallen). Einrichtung wurde die unmittelbare Vorbereitung des für die Ausführung der Arbeit Notwendigen genannt; dazu gehören die Aneignung der erforderlichen Fertigkeiten, die Beschaffung von Materialien und Werkzeugen, die Installation der Ausrüstung usw. Bearbeitung ist das Ingangsetzen aller Elemente und die Ausführung der vorbereiteten Arbeit. Kontrolle ist schließlich die Prüfung des erreichten Resultats und, falls erforderlich, seine Nachbesserung. Dieses Schema war nicht einfach ein klassifikatorisch-analytisches Verfahren, sondern hatte grundlegende Bedeutung, denn es beschrieb die Stellung des Arbeiters am Arbeitsplatz als Beherrscher seiner Maschine, der nicht nur rein ausführende Operationen (Bearbeitung) vollzieht, sondern auch Funktionen der Leitung der Produktion (Berechnung oder Planung, Einrichtung und Kontrolle) ausübt. Dieses Schema grenzte das sozialistische System der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation prinzipiell vom Taylorsystem ab. Nach Gastews Einschätzung ging Taylor bewußt darauf aus, die Berechnung, Einrichtung und Kontrolle vollständig von der rein ausführenden Bearbeitung zu trennen, nur die letztere dem Arbeiter zu überlassen und den ganzen geistigen Teil der Arbeit bei der Administration zu konzentrieren. Taylor betrachtete den Arbeiter als bloßes Anhängsel der Maschine und strebte die strengste Reglementierung aller seiner Arbeitsoperationen bis hin zu jeder Bewegung und jeder Arbeitsmethode an. Im Gegensatz dazu waren die Methoden des ZIT darauf gerichtet, jeden Arbeiter zu einer hochproduktiven Tätigkeit mit allen ihren Funktionen als verantwortlicher und bewußter Beherrscher seines Arbeitsplatzes zu befähigen.. Das wurde nicht in erster Linie durch Belehrung erreicht, sondern vielmehr durch systematisches Üben, das rationelle Arbeitsverfahren zu stabilen Gewohnheiten werden ließ, sowie durch Projektierung geeigneter Anlagen und Vorrichtungen und durch Herstellung solcher äußeren Arbeitsbedingungen, die die Aneignung eines produktiven Rhythmus der Bewegungen im Arbeitsprozeß begünstigen und unterstützen. Wir beschränken uns auf diese Hinweise zu den theoretischen Grundlagen der Tätigkeit des ZIT und wenden uns nun den prinzipiellen Leitsätzen zu, auf denen die umfangreiche Arbeit zur systematischen Rationalisierung des Leitungsapparates basierte, die in der gleichen Periode von den Organen der Zentralen Kontrollkommission der Arbeiter- und Bauerninspektion geleistet wurde. J. F. Rosmirowitsch, Mitglied des Präsidiums der Zentralen Kontrollkommission, unternahm in seinem Buch „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation, 90

Arbeiter- und Bauerninspektion und P a r t e i " 4 den Versuch, diese Arbeit zu verallgemeinern und ihre wissenschaftlichen Voraussetzungen zu formulieren. Hier finden wir ein bestimmtes allgemeines Funktionsschema, das den Hauptinhalt der Leitung als Objekt der Rationalisierung charakterisiert. Als Hauptfunktionen der Leitung betrachtet Rosmirowitsch Rechnungsführung, Planung und Organisation. 5 Der Terminus Rechnungsführung wird in dieser Formel in seiner umfassendsten Bedeutung verwendet und beinhaltet vor allem die Buchhaltung, die volkswirtschaftliche Rechnungsführung und speziell die operative Rechnungsführung, die mit verschiedenen Arten der operativen organisatorischen Tätigkeit unmittelbar verflochten ist und ihrer Leitung dient. Die Rechnungsführung wird als wichtigstes, grundlegendes Element jeglicher Leitung betrachtet. Rosmirowitsch beruft sich dabei auf Lenins Lehre von der gesamtstaatlichen Rechnungsführung und Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß des Verbrauchs und von den Aufgaben der Rechnungsführung beim sozialistischen Aufbau. In dieser erweiterten und vertieften Auffassung ist die Rechnungsführung nicht nur eine unabdingbare Funktion der Leitung, sondern eine ihrer wichtigsten Seiten. Ebenso umfassend und prinzipiell wird auch die zweite Komponente der Leitung verstanden. — die Planung. Sie umfaßt nicht nur das Aufstellen von Plänen der Produktions- und Wirtschaftstätigkeit für die bevorstehende Periode, sondern grundsätzlich jede vorbereitende Entscheidung, die die weiteren Aufgaben, die Ordnung, die Formen und die Methoden der Arbeit bestimmt; dazu gehören zum Beispiel die Konstruktion der Erzeugnisse und der technischen Ausrüstung, die Projektierung der technologischen Prozesse und der Verfahren zur Auaführung der einzelnen Operationen, die entweder direkt auf den Arbeitsgegenstand einwirken oder Hilfsfunktionen ausüben (Transport-, Kontroll- und Reparaturarbeiten, Vorbereiten des Werkzeuges usw.). In dieser erweiterten Bedeutung durchdringt die Planung alle Gebiete der zielgerichteten gesellschaftlichen Arbeitstätigkeit und ist fast an jedem Produktionsschritt und an jeder wirtschaftlichen Operation beteiligt. Rosmirowitsch betrachtet die Planung als eine besondere, sehr wichtige Funktion der Leitung; er betont die Notwendigkeit einer exakten organisatorischen Sicherung und einer gewissen Selbständigkeit der Planung. Diese Aufgabe folgt aus der führenden Rolle der Planung in der sozialistischen Produktionsweise, in der die Planung das Ziel bestimmen und die Abstimmung der Handlungen 4

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/. F. Rosmirowitsch, Wissenschaftliche Arbeitsorganisation, Arbeiter- und BauernInspektion und Partei, Moskau 1923 (russ.). Organisation im unifassenden Sinne des Wortes durchdringt die gesamte Tätigkeit, darunter auch solche Aspekte der Leitung wie Planung und Rechnungsführung. (Anmerkung der sowjetischen Redaktion)

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gewährleisten muß, und zwar nicht nur im relativ begrenzten Rahmen eineseinzelnen Betriebes, Trusts oder Syndikats oder einer anderen Wirtschaftsorganisation, sondern auch im Maßstab der ganzen Volkswirtschaft, im gesamtstaatlichen Wirtschaftsmechanismus, zu dessen Gestaltung Lenin aufgerufen hatte. Um die prinzipielle Bedeutung dieser Position nach Gebühr einschätzen zu können, muß man berücksichtigen, daß sie in jenen Jahren ausgearbeitet wurde, als das sozialistische System der staatlichen Volkswirtschaftsplanung gerade seine ersten Schritte tat und die Wege und Formen seiner Entwicklung erprobte. Eine wesentliche Bedeutung gewann hier die sorgfältige Analyse der Funktionen der Wirtschaftsführung unter Hervorhebung und exakter Organisation der Planung, die Aufdeckung des verzweigten Netzes der Entscheidungen, die die zielgerichtete Tätigkeit jeder Wirtschaftsorganisation, die Koordinierung der Arbeit ihrer Glieder und die Abstimmung ihrer Aktionen mit anderen Organisationen bestimmen. Die dritte Funktion der Leitung, die Organisation, erfuhr in den Werken von Rosmirowitsch und anderen Autoren, die unter seiner Leitung arbeiteten, eine ebenso spezifische Deutung. Im allgemeinen Sinne ist Organisation nach ihrer Ansicht die Überleitung aller bei der Planung ausgearbeiteten Beschlüsse in Handlungen, enthält aber natürlich nicht die Durchführung dieser Beschlüsse selbst, sondern nur ihre Sicherung mit allem Notwendigen. Der Hauptinhalt der Organisationsfunktion besteht in der Auswahl der geeigneten Arbeiter, in ihrem Einsatz und in der Aufteilung der Arbeit zwischen ihnen, in ihrer Ausbildung und Einweisung, in der laufenden Anleitung ihrer Arbeit, in der Bereitstellung der erforderlichen Produktionsinstrumente und Materialien für ihre Ausführung, in der Gewährleistung eines angemessenen Lohns für ihre Arbeit und schließlich in der Durchsetzung einer neuen Arbeitsdisziplin und der Entfaltung des sozialistischen Wettbewerbs. Die organisatorische Funktion der Leitung wurde also als eine spezifische Verbindung von vier Elementen aufgefaßt — der eigentlich organisatorischen Regelung der Prozesse der kollektiven Arbeit, ihrer materiell-technischen Sicherstellung, der administrativen Leitung der Ausführenden und schließlich ihrer Ausbildung und Erziehung im Geist der kommunistischen Prinzipien der gesellschaftlichen Arbeit. Die prinzipiellen Leitsätze, die der wissenschaftlichen Arbeit und der praktischen Tätigkeit der Rationalisatoren auf dem Gebiet der Leitung in den 20er Jahren und in der ersten Hälfte der 30er Jahre zugrunde lagen, widerspiegeln zwar bestimmte wirtschaftspolitische Aufgaben des sozialistischen Aufbaus und basieren auf Überlegungen gesamtgesellschaftlichen Maßstabs, aber das vorgelegte Schema für die Grundfunktion der Leitung ähnelt weitgehend der Formel von Gastew, die die Bestandteile jeder Produktionsarbeit ausdrückt. 92

Die Funktion der Berechnung nach Gastew fällt prinzipiell mit der Funktion der Planung nach Rosmirowitsch zusammen; die Funktion der Einrichtung ist der Organisationsfunktion sehr ähnlich; die Funktion der Kontrolle ist schließlich im wesentlichen gleichbedeutend mit der Funktion der Rechnungsführung. Bei Gastew tritt freilich auch noch die Bearbeitung auf, aber es ist ganz natürlich, daß dieses wichtigste Element des Arbeitsprozesses nicht zu den Funktionen der Leitung gehören kann, und zwar deshalb, weil es ihr Objekt ist. Es ergibt sich also, daß das „Mikromodell" der Arbeitsorganisation am Arbeitsplatz und das „Makromodell" der Leitung eines Betriebes, eines Wirtschaftsorgans oder einer Verwaltungsinstitution wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen und nach einem übereinstimmenden Prinzip aufgebaut sind. Hier handelt es sich nicht einfach um ähnliche Positionen zweier Autoren, sondern um eine bemerkenswerte Entsprechung der Schlußfolgerungen, zu denen Forscher gelangt sind, die organisatorische Erfahrungen an ganz verschiedenem Material untersuchten und sich recht unterschiedliche praktische Aufgaben stellten, aber die marxistisch-leninistische Dialektik als einheitliche Erkenntnismethode benutzten. Natürlich gibt es auch in der aus kapitalistischen Ländern stammenden Literatur zur Organisation und Leitung der Produktion nicht wenige Versuche einer Analyse und Klassifikation der Hauptfunktionen der Leitung. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht das von dem bekannten französischen Organisator Henri F a y o l 6 entworfene System d*er Leitungsfunktionen. Fayol war bestrebt, eine selbständige wissenschaftliche Disziplin zu begründen, die er administrative Doktrin oder Lehre von der Administration nannte, und mußte •daher präzis die Hauptfunktionen angeben, aus denen sich das Administrieren als spezifische Art der Führungstätigkeit zusammensetzt. Leider ist die von Fayol vorgeschlagene Liste dieser Funktionen in seinen Arbeiten dogmatisch dargestellt, ohne ausreichende Begründung und logische Argumentation. Als Funktionen der Administration nennt Fayol Voraussicht, Kontrolle, Koordinieren, Stimulieren, Anordnen und Überwachen. Er erklärt •aber nicht den inneren Zusammenhang der aufgezählten Funktionen, das ihrer Einteilung zugrunde gelegte Prinzip und den Mechanismus ihrer Wirkung. In der Tat könnte man die von ihm angegebene Aufstellung nach Belieben erweitern und beispielsweise Rechnungsführung, Schaffen von Reserven, Instruieren, Erproben oder Experimentieren, Reglementieren und Normieren in sie aufnehmen. Man könnte sie aber auch kürzen und aus der Reihe der Leitungsfunktionen das Überwachen und sogar das Koordinieren streichen, weil letztere zum Teil in Voraussicht, Kontrolle und Anordnen enthalten sind, •die bei gemeinsamer Einwirkung auf das zu leitende Objekt die Zusammena r b e i t seiner Glieder sichern. H. Fayol, Allgemeine und industrielle Leitung, Moskau 1924 (russ.).

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Die innere Übereinstimmung und Gemeinsamkeit im Verständnis der Leitungsfunktionen, die wir oben bei der Darlegung der Ansichten von Gastew und Rosmirowitsch festgestellt hatten, war auch insofern kein zufälliges Zusammentreffen, als sie von einer gemeinsamen theoretischen Konzeption ausgingen, die von Rosmirowitsch unter der Bezeichnung „produktionsbezogene Interpretation der Leitungsprozesse" entwickelt worden war. Das Wesen der „produktionsbezogenen Interpretation" bestand in der Anerkennung einer grundsätzlichen strukturellen Gemeinsamkeit zwischen der Organisation der materiellen Produktionsprozesse einerseits und der Organisation der Arbeit des Leitungsapparates andererseits. Natürlich war hier nicht beabsichtigt, die wesentlichen Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit oder zwischen der Herstellung materieller Güter und dem Führen von Geschäftspapieren zu ignorieren. Der „produktionsbezogenen Interpretation" liegt der Gedanke zugrunde, daß jegliche unmittelbar gesellschaftliche, kollektive Arbeit auf der Grundlage gleichartiger Prinzipien organisiert wird, unabhängig davon, ob sie produktive, körperliche Arbeit oder leitende, geistige Tätigkeit ist. Rosmirowitsch verlieh dieser Idee einen bestimmten politischen Sinn, indem er stets auf ihren Zusammenhang mit den Aufgaben der grundlegenden Umgestaltung des Staatsapparates hinwies, von der Lenin in „Staat und Revolution" gesprochen hatte und die zu einer solchen Vereinfachung aller Leitungsoperationen führen sollte, daß sie jedem Werktätigen zugänglich werden und sich praktisch nicht mehr von der gewöhnlichen Arbeit in der Produktion. unterscheiden. 7 Natürlich bedeutet eine solche Vereinfachung keine Herabsetzung des Niveaus der politischen und wirtschaftlichen Führung und bezieht sich auch nicht auf Inhalt und Methoden der Ausarbeitung prinzipieller Beschlüsse, die die Ziele, Aufgaben, Richtungen und Formen der Tätigkeit der Staatsorgane bestimmen. In den Schriften von Rosmirowitsch ist überhaupt nur von der alltäglichen Arbeit des Apparates die Rede (Schriftführung, Dokumentation, Rechnungswesen). Unter den im Institut für Leitungstechnik unter Führung von Rosmirowitsch entwickelten Maßnahmen zur Vervollkommnung der Leitung nahmen die Rationalisierung der Leitungstechnik und die umfassende Einführung verschiedener Mittel der sogenannten Organisationstechnik — von der Anwendung verschiedenartiger Kartotheken, von der Systematisierung und Ordnung des Formularwesens bis zur Schaffung von „Rechenfabriken" mit Lochkartentechnik und verschiedenen Rechenmaschinen — einen breiten Raum ein. Uns scheint, daß die angegebene schematische Darstellung der prinzipiellen Plattform der führenden wissenschaftlichen Einrichtungen in der Sowjet7

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Die Bildungs- und Unterrichtsmaßnahmen zur Erhöhung des kulturellen und politischen Niveaus des ganzen Volkes haben vollaui gesichert, daß die unmittelbare Teilnahme an der Leitung des Staates gemäß der Idee Lenins den werktätigen Massen umfassend zugänglich ist.

union, die sich mit Problemen der Organisation und Leitung befaßten (des ZIT und des Instituts für Leitungstechnik beim Volkskommissariat für Arbeiter- und Bauerninspektion der UdSSR), die Überlegenheit der theoretischen Bearbeitung dieser Probleme auf der Grundlage des sozialistischen Aufbaus im Vergleich mit den Konzeptionen kapitalistischer Theoretiker über wissenschaftliche Organisation und Leitung überzeugend demonstriert. Das sowjetische theoretische Denken auf dem Gebiet der Organisation und Leitung der Produktion zeichnet sich durch umfassendere Verallgemeinerungen, wesentlich tiefgehendere Auffassungen zu prinzipiellen Problemen, ausgeprägte Dynamik ihrer Behandlung, Konkretheit der Analyse und vor allem strukturelles Verständnis der Organisationsprozesse aus, so daß bei ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung die Aufdeckung der objektiven Formen und Gesetzmäßigkeiten des Organisationsmechanismus der Leitung in den Vordergrund tritt. In diesem Sinne kann man annehmen, daß die in den 20er Jahren unter dem unmittelbaren Einfluß der Ideen Lenins entwickelten theoretischen Ansichten zu Problemen der Organisation und Leitung der Produktion in gewisser Hinsicht einige Gedanken vorweggenommen haben, die später von der Kybernetik formuliert wurden. Die sowjetische Theorie von der Organisation und Leitung der Produktion bediente sich der Marxschen Methode der Analyse durch Bildung von Abstraktionen und bemühte sich, die untersuchten Prozesse zu formalisieren; sie hielt das notwendige Maß an Abstraktheit ihrer Konstruktionen ein, ließ sich aber zugleich von Lenins These leiten, daß die Wahrheit immer konkret ist und daß die Untersuchung jeder Erscheinung- unter Berücksichtigung ihrer objektiven Zusammenhänge und Vermittlungen erfolgen muß. Gerade aus diesem Grunde war für sie der Versuch von A. A. Bogdanow unbrauchbar, eine Tektologie oder allgemeine Organisationswissenschaft als besonderes Wissensgebiet zu begründen. Bogdanow war bestrebt, die allgemeinen Organisationsaspekte der verschiedenartigsten Erscheinungen aus der lebenden und nichtlebenden Natur, der Psychologie und dem gesellschaftlichen Leben zu finden. Er enthüllte jedoch nicht die Struktur des Organisationsmechanismus und seiner Bewegung, sondern beschränkte sich auf eine schematische Beschreibung der untersuchten Prozesse, die ohne konstruktive Bedeutung war. Die Abstraktheit des Bogdanowschen Denkens bedingte das Fehlen einer unmittelbaren Verbindung zu den aktuellen, lebenswichtigen Problemen der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion im Prozeß ihrer Entstehung. Uns scheint auch, daß man nicht so sehr die Tektologie Bogdanows als vielmehr die weiter oben charakterisierten theoretischen Konzeptionen des ZIT und des Instituts für Leitungstechnik als eine Vorwegnahme von Ideen der Kybernetik ansehen muß. 8 8

Für Gastews Position ist charakteristisch, daß er sich, ausgehend von der Analyse und Rationalisierung der Bewegungen bei der Arbeit, später Problemen der

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Anfang der 30er Jahre schlugen die theoretischen Arbeiten zu Fragen der Organisation und Leitung der Produktion eine etwas andere Richtung ein. bedingt durch die Bedürfnisse der Weiterentwicklung dieser Wissenschaft und besonders durch ihre Einführung als Lehrfach an den Hochschulen. Das beim Volkskommissariat f ü r Schwerindustrie gebildete zentrale wissenschaftliche Forschungsinstitut f ü r Organisation der Produktion und Leitung der Industrie brachte das erste sowjetische Lehrbuch der Produktionsorganisation heraus. B. J. Kazenbogert, der Leiter des theoretischen Sektors dieses Instituts, arbeitete gemeinsam mit K. J. Kornizki, A. W. Michailow und dem Autor des vorliegenden Artikels an der Klärung des Gegenstandes der Wissenschaft von der Leitung der Produktion, ihrer Stellung unter den anderen Wissenschaften von der Produktion, ihrer Systematik und ihrer Grundgesetze. Ergebnis dieser Arbeit waren die von Kazenbogen verfaßte umfassende Einführung in die Organisation des Maschinenbaus 9 und auch das später von J. O. Ljubowitsch publizierte Buch „Sozialistische Produktionsorganisation als Lehrgegenstand" 1 0 . Die genannten Arbeiten waren Versuche, den eigentlichen Gegenstand der Wissenschaft von der Produktionsorganisation zu bestimmen als Lehre vom System der unmittelbar gesellschaftlichen, kollektiven Tätigkeit der Arbeiter, die im gemeinsamen Prozeß der Produktion materieller Güter durch eine stabile sozialistische Kooperation verbunden sind. Beide Autoren betonten die Spezifik dieses Kreises von Erscheinungen und Zusammenhängen, die die Wissenschaft von der Produktionsorganisation untersucht, gegenüber der Technologie und den ökonomischen Wissenschaften. Zugleich wurde bei der Ausarbeitung der organisatorischen Fragen der Produktion ein enger Zusammenhang zwischen Technik und Ökonomie festgestellt. Die Autoren waren bestrebt, die Spezifik jener Gesetzmäßigkeiten zu zeigen, mit deren Untersuchung sich die Wissenschaft von der Produktionsorganisation befassen muß. Da die Autoren aber von den früheren umfassenden Positionen abgingen, die f ü r die Ausarbeitung von Problemen der Organisation und Leitung in den

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Analyse und Rationalisierung der Produktionsinstrumente zuwandte, insbesondere der Metallbearbeitungsmaschinen, und erstmalig den Gedanken ihrer Zusammenfassung zu Aggregaten vertrat. Er ging also von der Organisation der Arbeit zur Maschine über, während die Kybernetik von der Maschine zur Leitung der Produktion kommt. (Es sei bemerkt, daß die „kybernetischen" Maschinen selbst, d. h. die Rechenmaschinen, infolge der extrem zugespitzten Notwendigkeit der Mechanisierung und Automatisierung bestimmter Arten der Leitungsarbeit entwickelt wurden. — Anmerkung der sowjetischen Redaktion) Produktionsorganisation im Maschinenbau. Lehrmaterial, Moskau 1937 (russ.1. / . 0. Ljubowitsch, Sozialistische Produktionsorganisation als Lehrgegenstand, Moskau 1938 (russ.).

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20er Jahren charakteristisch waren, behandelten sie die Wissenschaft von der Produktionsorganisation als eine rein industriezweiggebundene Disziplin; das verlieh ihr einen ausgeprägt angewandten Charakter. Diese Tendenz entsprach zweifellos den Bedürfnissen und Anforderungen der Hochschule, die fast ausschließlich Kader mit Industriezweigspezialisierung für die Produktion ausbildet. Dennoch führte sie zu einem ernsthaften Rückgang des theoretischen Niveaus der Wissenschaft von der Produktionsorganisation, indem sie weitergehende Verallgemeinerungen und den Übergang der Forschung vom Maßstab einzelner Betriebe zur Analyse der Produktionsbeziehungen zwischen den Betrieben und besonders zwischen den Zweigen behinderte. Eine Ausnahme bildeten nur die Probleme der operativen Dispatcherleitung der Produktion, die dank den Forschungen von N. G. Lewinson in einer prinzipiellen, für die ganze Industrie gemeinsamen Form bearbeitet wurden; dem entsprach in praktischer Beziehung ein einheitliches System technischer Mittel der Kommunikation, Signalisierung, Fernmessung und visuellen Kontrolle, die gleichsam das materiell-technische Gerüst der entsprechenden organisatorischen Formen für die zentralisierte kontinuierliche Führung der Produktion bildeten. Auch bei Beschränkung auf den Industriezweigrahmen entwickelte sich, wie wir weiter unten zeigen werden, die Ausarbeitung von Problemen der Produktionsorganisation natürlich weiter; es wurde umfangreiches und wertvolles wissenschaftliches Material gesammelt, das in theoretischer Hinsicht das Niveau der Fachliteratur des kapitalistischen Auslands zu diesem Fragenkreis bei weitem überragt.

2. Probleme der Organisation der Produktionsprozesse im Betrieb Bis hierher haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die allgemeinen Prinzipien für die Organisation und Leitung der Produktion konzentriert, die das theoretische Niveau und die Richtungen bei der Ausarbeitung der entsprechenden Probleme bestimmen. Nun wenden wir uns der Theorie von der Organisation der Produktionsprozesse zu, die im Betrieb als der Elementarzelle der materiellen gesellschaftlichen Produktion ablaufen. Auf diesem Gebiet hat das theoretische Denken in der Sowjetunion Ergebnisse von fundamentaler Bedeutung hervorgebracht, wie man sie in der Literatur anderer Länder vergeblich suchen würde. Das gilt vor allem für die Verallgemeinerung der technisch-ökonomischen Prinzipien der Organisation des Produktionsprozesses durch N. F. Tscharnowski. Unter den von ihm entwickelten technisch-ökonomischen Prinzipien sind folgende besonders wichtig: das Prinzip der Kontinuität und Verdichtung (Konzentration) der technologischen Prozesse, der Spezialisierung und Kombination der Produktion 7

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und der komplexen Nutzung von Roh- und Brennstoffen, Materialien und Energie bei maximaler Nutzbarmachung der Abfälle und der sekundären materiellen und energetischen Ressourcen; das Prinzip der vollständigen Auslastung der Produktionskapazitäten bei rationeller Nutzung der Ausrüstung und der technologischen Ausstattung, der Ökonomie der Arbeitszeit auf der Grundlage einer präzisen Arbeitsteilung und der Sicherung einer hochproduktiven Arbeit in allen Gliedern der Grund- und Hilfsprozesse der Produktion im Betrieb. Besonders tiefgehend und detailliert wurden Probleme der zeitlichen Dynamik der Produktionsprozesse, ihrer Gesetzmäßigkeiten und Formen ausgearbeitet. Grundlegende Bedeutung haben auf diesem Gebiet zweifellos die Arbeiten von 0 . I. Neporent, der Professor am Leningrader Polytechnischen Institut war, insbesondere seine fundamentale Untersuchung „Technische Grundlagen der kalendarischen Bewegung der Produktion" 11 . Der Gedanke Neporents von den Bewegungsformen der Produktion (aufeinanderfolgende, parallel-aufeinanderfolgende und parallele Bewegung) ist zum festen Bestandteil der Theorie von der Organisation der materiellen Produktionsprozesse geworden; er war das stabile Fundament aller nachfolgenden Überlegungen und wissenschaftlichen Untersuchungen auf diesem Gebiet. Daneben lieferte Neporent eine originelle Ausarbeitung der Frage einer optimalen Aufeinanderfolge längerer und relativ kurzer Operationen des technologischen Prozesses vom Standpunkt einer minimalen Gesamtdauer des Produktionszyklus, untersuchte die Frage der zweckmäßigsten Größe der Partien von Einzelteilen und Teilgruppen in der Serienproduktion und schuf Grundlagen zur Untersuchung der Bewegungsgesetze der unfertigen Erzeugnisse in der unvollendeten Produktion. In den Werken Neporents wurde erstmalig das Problem eines rhythmischen Produktionsablaufs aufgeworfen; er betrachtete es allerdings ziemlich formal (als notwendige Wiederholung unveränderter Proportionen im Produktionsablauf) und bestritt in diesem Zusammenhang den rhythmischen Charakter der Arbeit bei der Fertigung von Einzelmaschinen auf Bestellung. Obwohl der Autor selbst die von ihm geschaffene Theorie von der Bewegung der Produktionsprozesse als eines der Elemente der allgemeinen Theorie von der Produktionsorganisation ansah, wurde sie vorzugsweise auf einem engeren Gebiet angewandt und entwickelt - bei der Ausarbeitung der Methodologie für die sogenannten Kalenderberechnungen (teilweise auch Umfangsberechnungen) der Produktion. Zu den gründlichsten und wertvollsten Publikationen auf diesem Gebiet, die für die Entwicklung der Theorie von der Organisation und Leitung der Produktion von Bedeutung sind, zählen die Monographien von 11

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0.1. Neporent, Technische Grundlagen der kalendarischen Bewegung der Produktion, Leningrad-Moskau 1933 (russ.).

P-. W. Krepisch 1 2 , G. W. Teplow 13 , M. S. Demin 14 und anderen. Neben den monographischen Werken erschienen zahlreiche methodische Anleitungen und andere Materialien, weiterhin auch Lehrbücher zu diesem Fragenkreis. Einige Veröffentlichungen enthielten wertvolle theoretische Überlegungen zu ungenügend ausgearbeiteten Problemen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang die Materialien einiger wissenschaftlich-technischer Konferenzen zur innerbetrieblichen Planung, die von der wissenschaftlich-technischen Allunionsgesellschaft der Maschinenbauer und anderen gesellschaftlichen Organisationen veranstaltet wurden. Eine wichtige Stellung unter diesen Konferenzen gebührt den wissenschaftlich-technischen Beratungen zur Organisation einer rhythmischen Produktion und eines gleichmäßigen Produktionsausstoßes. Innerhalb des ganzen Fragenkomplexes, der die rationelle Organisation der Arbeit eines Betriebes auf der Grundlage strenger Koordination und Abstimmung aller seiner Glieder betrifft, nimmt das Problem des Produktionsrhythmus unzweifelhaft eine zentrale, führende Position ein. Es kann kaum verwundern, daß dieses Problem in seiner ganzen prinzipiellen Bedeutung wie auch in einzelnen seiner Abschnitte und Methoden in den theoretischen Forschungen, die die bürgerliche Wissenschaft von der Produktionsorganisation unternommen hat, nicht erfaßt wurde. Gewiß, die Literatur zur operativen Produktionsplanung oder, nach der amerikanischen Terminologie, zur Produktionskontrolle, ist sehr umfangreich und in vieler Hinsicht interessant und instruktiv. Es handelt sich dabei jedoch hauptsächlich um eine systematische Beschreibung praktischer Regeln zur Ausarbeitung und Formulierung der Produktionsaufgaben unter Verwendung von Formularen und Tabellen, Kartotheken und Verteiler- oder Kontrolltafeln, Maschinen und Vorrichtungen zum Kopieren oder Vervielfältigen von Dokumenten, zur Ausführung verschiedener Berechnungen usw. Neben Berechnungen der Serienproduktion, die den Hauptinhalt der genannten sowjetischen Werke bilden, muß man auch die Theorie der Fließproduktion erwähnen, die in der Sowjetunion in engstem Zusammenhang mit den aktuellen Forderungen der Organisationspraxis entstand und entwickelt wurde. Die sozialistische Industrialisierung, vor allem der Aufbau spezialisierter, mit modernster Technik ausgerüsteter Großbetriebe, setzte die Einführung von 12

J3

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7*

P. W. Krepisch, Struktur und Berechnung des Produktionszyklus, Moskau 1935 (russ.); P. W. Krepisch, Berechnungen der unvollendeten Produktion im Maschinenbau, Moskau 1948 (russ.); P. W. Krepisch, Die Methode der Kalenderplanung der Produktion im Maschinenbaubetrieb, Moskau 1961 (russ.). C. W. Teplow, Berechnung und Analyse der unvollendeten Produktion im Maschinenbau, Moskau-Leningrad 1939 (russ.). M. S. Demin, Die Rolle der optimalen Partien in der Produktionsorganisation. Moskau 1932 (russ.)

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Methoden der Fließfertigung auf die Tagesordnung, die von den fortgeschrittensten kapitalistischen Firmen, besonders in der Automobilproduktion, bevorzugt wurden. Es ist jedoch in höchstem Grade charakteristisch, daß die amerikanischen Organisatoren über keinerlei ausgearbeitete systematische Theorie der Fließbandproduktion verfügten; sie empfahlen einfach, die vorhandenen praktischen Beispiele zu kopieren, und sich dabei von den autoritativen Hinweisen hochbezahlter Konsultanten leiten zu lassen. Daher erschien die erste Literatur zur Analyse der Fließproduktion in der Sowjetunion in Form von Ubersetzungen aus dem Deutschen. Sie litt jedoch an Simplifizierung und Schematismus und desorientierte in vielen Fällen die sowjetischen Organisatoren. Deshalb hatten die nach amerikanischem Muster gebauten Werke lange Anlaufschwierigkeiten und bedurften dringend einer wissenschaftlichen Lösung der organisatorischen Fragen, die bei der Einrichtung der Fließproduktion auftraten. Um diesem unaufschiebbaren Bedürfnis zu entsprechen, wurde im Zentralen Forschungsinstitut für Organisation der Produktion und Leitung der Industrie beim Volkskommissariat für Schwerindustrie eine spezielle Gruppe unter der Leitung von K. J. Kornizki gebildet. Die Ergebnisse ihrer Arbeit wurden in einer speziellen Monographie veröffentlicht, die erstmalig eine komplexe Darstellung aller Seiten und aller Elemente der Organisation der Fließproduktion enthielt. 15 Die Monographie war ein eigenständiger und wertvoller Beitrag zur wissenschaftlichen Ausarbeitung dieses Problems und gab vielen speziellen Untersuchungen auf diesem Gebiet eine Orientierung. Dazu gehörten insbesondere die Arbeiten von K. J. Kornizki und A. W. Tjomkin zur Systematik der unfertigen Erzeugnisse und zur Methodik ihrer Berechnung in'verschiedenen Typen der Fließproduktion, die von J. P. Gertschuk vorgenommenen fundamentalen Untersuchungen über die Bewegungsgesetze der unvollendeten Erzeugnisse bei der Fließfertigung, die verallgemeinernde Arbeit von S. A. Dumler zur Planung und Berechnung der Fließproduktion 16 , aber auch andere Forschungsmonographien und zahlreiche prinzipielle Verallgemeinerungen der fortgeschrittenen Praxis. Ein besonderer Platz gebührt den Arbeiten von B. J. Kazenbogen; neben der Schaffung verallgemeinernder Monographien erarbeitete er erstmalig die theoretischen Grundlagen der Arbeitsorganisation mit Hilfe sogenannter VerteilerConveyer. Das Wesen dieses Systems besteht in der Einrichtung differenzierter Arbeitstakte für verschiedene Arbeiter in Abhängigkeit von ihrer faktischen Produktivität; auf dem Conveyer sind Vorrichtungen angebracht, die eine 13

16

Die Organisation der Produktion an den Fließbändern der Auto-Traktoren-Werke, Moskau-Leningrad 1934 (russ.). S. A. Dumler, Methoden der Fließproduktion im Maschinenbau, Moskau 1958 (russ.).

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spezielle Markierung tragen, so daß jeder Arbeiter je nach seiner Produktivität vom vorhergehenden Takt diese oder jene Anzahl von Teilen erhält. Große Bedeutung hatten in der Folgezeit die von den Schöpfern der ersten automatischen Maschinensysteme, I. P. Inotschkin und A. P. Wladsijewski, durchgeführte Untersuchungen zur Organisation automatischer Linien und Fließbänder und die Arbeiten von L. N. Koschkin über zyklische Linien. Im ganzen kann man feststellen, daß die Theorie von der Organisation der Fließproduktion in ihren verschiedenen Varianten von sowjetischen Wissenschaftlern so vollständig, detailliert und begründet ausgearbeitet worden ist, daß sie die vorhandenen ausländischen Werke zu diesen Problemen weit übertrifft. Ein wesentliches methodologisches Spezifikum der sowjetischen Wissenschaft bei der Untersuchung der Fragen, die mit der Berechnung der Bewegung der Produktion, der Organisation der Fließbandarbeit, der rhythmischen Fertigung und des rhythmischen Produktionsausstoßes zusammenhängen, ist die komplexe Betrachtung der untersuchten Probleme; dadurch wird Tiefe der theoretischen Verallgemeinerungen in Verbindung mit ihrer Konkretheit und Wirksamkeit erreicht. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die Ausarbeitung von Fragen der operativen^ Produktionsplanung. Schon auf der ersten Allunionskonferenz zur innerbetrieblichen Planung im Jahre 1931 wurde festgestellt, daß die operative Produktionsplanung nach verschiedenen Systemen aufgebaut werden muß, und zwar entsprechend den Besonderheiten der wichtigsten Organisationstypen der Produktion - der Einzel-, Serien- und Massenfertigung; dabei sollte auch die Eigenart der einzelnen Varianten jedes Typs berücksichtigt werden. Bei den Untersuchungen, Projekten, Experimenten und praktischorganisatorischen Arbeiten zur operativen Produktionsplanung stand deshalb stets das Problem des rationellen Aufbaus eines ganzheitlichen Planungssystems, das den konkreten Anforderungen dieses oder jenes Produktionstyps entspricht, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die fortgeschrittenen Betriebe, die um die Sicherung eines rhythmischen Arbeitsganges in allen Gliedern des Produktionsprozesses bemüht waren, schufen entsprechende organisatorische Varianten der operativen Kalenderplanung und des Dispatchersystems. Die umfangreichen gesammelten Erfahrungen bedurften klarer Systematik und theoretischer Duchdringung; diese Aufgabe wurde in den Jahren 1964 und 1965 im Forschungslaboratorium des Moskauer Ingenieur-Ökonomischen Instituts gelöst. Die Grundvarianten für die Organisation der operativen Produktivplanung wurden systematisiert auf Grund einer Analyse der Proportionen innerhalb der Produktion, deren Einhaltung die rhythmische Arbeit des Betriebes sichert. Dadurch gelang es, grundlegende Verfahren für die Harmonisierung (Abstimmung) der verschiedenen technologischen Stadien der Produktion zu finden, die die wesentlichen Besonderheiten der operativen Kalenderplanung bestimmen. Außerdem wurden durch gründliche Analyse 101

die wichtigsten Parameter ermittelt, die die Bedingungen des Ablaufs von Produktionsprozessen charakterisieren und Kriterien für den Einsatz der verschiedenen Systeme der operativen Planung in bestimmten konkreten Betrieben oder in Komplexen miteinander verbundener Werkstätten sind. Der reiche Inhalt der sowjetischen Wissenschaft von der Produktionsorganisation ist mit dem bisher Ausgeführten nicht erschöpft. Neben der Theorie von der Organisation der Hauptproduktionsprozesse zur unmittelbaren Herstellung der Produkte ist auch die Organisation der Hilfsproduktionen und der Wartung, deren Niveau in vieler Hinsicht die Effektivität der Hauptproduktion vorausbestimmt, ein Gebiet umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Ermittlung der Gesetze eines rationellen Wartungsregimes für die Produktion ist seit langem Thema theoretischer Forschungen und experimenteller Arbeiten in wissenschaftlichen und technischen Einrichtungen der sowjetischen sozialistischen Industrie. Von fundamentaler Bedeutung war dabei der Gedanke eines vorbeugenden Service, der auf die Vermeidung von Mängeln, erzwungenen Unterbrechungen der Arbeit und verschiedenartigen Störungen gerichtet war, welche im Verlauf der Produktion auftreten können, weil irgendein notwendiges Element defekt ist oder fehlt. Im Grunde ergibt sich die Idee eines solchen Service direkt aus dem Prinzip der Planmäßigkeit und des rhythmischen Charakters der grundlegenden Produktionsprozesse. Sie stützt sich auf das ganze Arsenal der Mittel, mit deren Hilfe der störungsfreie Ablauf der Prozesse in der Zeit (d. h. kalendarisch) und im Raum (d. h. nach Arbeitsplätzen und Produktionsabschnitten, die die einzelnen technologischen Operationen ausführen) gewährleistet wird. Hauptorientierungspunkt des vorbeugenden Service ist der graphische Plan des rhythmischen Produktionsablaufs, den er sichern muß. Ein sehr charakteristischer Ausdruck für die Gesetzmäßigkeiten des vorbeugenden Service der Produktion ist das von wissenschaftlich-technischen Organisationen der sozialistischen Industrie ausgearbeitete System der planmäßigen vorbeugenden Reparaturen und der Wartung der Anlagen. Dieses System basiert auf der Theorie vom Verschleiß der Maschinenteile und auch auf theoretischen Feststellungen über den Arbeitsaufwand bei Reparaturen und ihren periodischen Wechsel sowie über die Faktoren, die Dauer und Zusammensetzung (Struktur) des Reparaturzyklus bei unterschiedlichen Arten der Ausrüstung unter verschiedenen Arbeitsbedingungen bestimmen. Die theoretischen Grundlagen des Systems planmäßiger periodischer Reparaturen kommen in einem bestimmten Komplex miteinander verbundener Normative und Normativrechnungen zum Ausdruck, die es ermöglichen, hinreichend zuverlässig den Gesamtumfang der Reparaturarbeiten zu planen und Graphiken ihres zeitlichen Ablaufs zu entwerfen. Das wiederum liefert die notwendigen Richtwerte für die konkrete Organisation des vorbeugenden Reparaturwesens und der laufenden Wartung der Anlagen. 102

Ein einheitliches System für die planmäßige periodische Reparatur der Ausrüstungen wurde erstmalig Anfang der 30er Jahre vom Zentralen Forschungsinstitut für Organisation der Produktion und Leitung der Industrie beim Volkskommissariat für Schwermaschinenbau der UdSSR ausgearbeitet. Später entwickelte das Experimentelle Forschungsinstitut für Metallbearbeitungsmaschinen bedeutende Vervollkommungen und Präzisierungen für dieses System. Die sowjetische Wissenschaft von der Produktionsorganisation arbeitete die theoretischen Grundlagen der Werkzeug Wirtschaft aus, von den Methoden zur Ermittlung des Bedarfs an technologischer Ausstattung und zur Planung der Werkzeugausgabe bis zur laufenden Versorgung der Arbeitsplätze mit vorbereitetem Werkzeug. Auf dem Gebiet einer rationellen Organisation der technischen Kontrolle sind die Arbeiten von A. I. Gostew und N. A. Borodatschew vor großer Bedeutung. Entscheidend für die wissenschaftliche Organisation des Transportwesens und der Material- und Lagerwirtschaft ist auch die vorbeugende kontinuierliche Bedienung der Hauptproduktion bei zweckmäßigster Nutzung und Beschleunigung des Umlaufs der entsprechenden technischen Mittel. Die solidesten wissenschaftlichen Arbeiten zu diesen Fragen stammen von M. A. Preobrashenski, T. A. Judin und G. I. Demitschew. Die ständige planmäßige Entwicklung der sozialistischen Produktion verlangt die systematische Ausarbeitung neuer Konstruktionen, Modelle und Muster der herzustellenden Erzeugnisse, die Vervollkommnung der bereits laufenden Produktion, die Projektierung und Einführung moderner technologischer Prozesse und einer hochproduktiven Ausrüstung, die Mechanisierung und Automatisierung der Produktion. Deshalb sind organisatorische Probleme der Schaffung und Einführung neuer Technik ebenso aktuell wie Probleme einer rationellen Organisation der laufenden Produktion. In dieser Beziehung erzielte die sowjetische Wissenschaft von der Organisation der Produktion beachtliche theoretische Ergebnisse. Autoren gründlicher Arbeiten zu diesen Fragen sind A. P. Sokolowski, B. S. Balakschin, N. A. Borodatschew, E. A. Satelj, W. B. Gokun, S. P. Mitrofanow, L. J. Schuchgalter, T. S. Chatschaturow, K. I. Klimenko und S. A. Konsson. Zu den Problemen der Schaffung und Einführung einer modernen Produktionstechnik, die gründlich theoretisch untersucht wurden, gehören vor allem ökonomische Fragen der Qualitätsverbesserung, der Erhöhung von Zuverlässigkeit und Lebensdauer der hergestellten Erzeugnisse, der Entwicklung ihrer konstruktiven Vereinheitlichung, Standardisierung und Normierung, der weitgehenden Sicherung einer technologiegerechten Konstruktion, der Senkung ihres relativen Gewichts und der Vervollkommnung der verwendeten Materialien. Zu diesem Komplex von Fragen eines rationellen Konstruierens gehören zweitens auch Probleme einer progressiven Technologie, insbesondere der 103

Typisierung technologischer Prozesse, die Schaffung auswechselbarer Ausrüstungen und universell zusammensetzbarer Vorrichtungen sowie die Ausarbeitung von Kriterien und Methoden zur Auswahl der ökonomisch zweckmäßigsten technologischen Varianten. Der dritte Kreis von Fragen bei der Einführung der neuen Technik betrifft die Planung und Organisation der technischen Ausarbeitungen, der experimentellen Arbeiten und Versuchsproduktionen und schließlich des Prozesses der Uberleitung neuer Erzeugnisse und technologischer Methoden in die normale Serienproduktion. Auf Grund der wissenschaftlichen Leistungen sowjetischer Forscher wurde in enger Zusammenarbeit mit Praktikern in der sozialistischen Industrie ein System zur raschen Aufnahme neuer Produktionen und zur beschleunigten Einführung der neuen Technik geschaffen. Leider haben sich die theoretischen Ergebnisse, die auf der Verallgemeinerung der progressiven Praxis in den besten Betrieben basieren, noch nicht überall durchgesetzt. Das ist jedoch bedingt durch vorübergehende Umstände ökonomischen Charakters, die nicht unmittelbar zur Organisation und Planung der neuen Technik gehören. Die vierte Gruppe der untersuchten Probleme, die die sowjetische Wissenschaft von der Produktionsorganisation erfolgreich ausgearbeitet hat, betrifft schließlich die ökonomische Seite der technischen Entwicklung. Hier geht es insbesondere um die Kriterien der zu planenden Effektivität der neuen Technik im Vergleich mit der zu ersetzenden früheren Technik und um die Methoden der Bewertung von Projektvarianten. Eine lange Forschungsarbeit und eine umfassende Diskussion der verschiedenen prinzipiellen Positionen zu dieser Frage führte schließlich zu einem einheitlichen Vorgehen bei der Ermittlung der ökonomischen Effektivität der neuen Technik. Kriterium ist die Amortisationsfrist der einmaligen Aufwendungen (Kapitalaufwendungen) für ihre Schaffung und Einführung oder der Jahreskoeffizient der Effektivität, der die durch die Einführung der neuen Technik erreichte Effektivität im Jahresdurchschnitt relativ zur Summe der einmaligen Aufwendungen charakterisiert. Außerdem wurde eine Methodik zur Berechnung des sogenannten technologischen Selbstkostenpreises geschaffen, der alle Arten von Produktionskosten erfaßt, die von dieser oder jener technologischen Variante der Ausführung bestimmter Operationen abhängen. Zu dieser Methodik wurde ein System von Rechennormativen ausgearbeitet, das die leichte und rasche Ausführung entsprechender Rechnungen gewährleistet. Ein wichtiges Ergebnis der Organisationspraxis auf dem Gebiet der Schaffung und Einführung der neuen Technik ist das System der Netzwerkplanung, das in jüngster Zeit in der UdSSR in verschiedenen Varianten immer umfassender angewandt wird. Theorie und Praxis der Produktionsorganisation im Kapitalismus haben kein abgestimmtes, wissenschaftlich begründetes System zur planmäßigen Einführung der neuen Technik hervorgebracht.

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3. Probleme der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation Unabdingbarer Bestandteil der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion ist die wissenschaftliche Arbeitsorganisation, die zugleich ein selbständiges und ausgedehntes Wissensgebiet bildet. In gewissem Sinne erfaßt es auch die ganze Problematik der Organisation von Produktion und Leitung, denn entscheidendes Element der Organisation ist stets der Mensch und seine zielgerichtete produktive Tätigkeit, und Leitprinzip und Kriterium einer rationellen Organisation ist unbedingt die rasche Steigerung der Arbeitsproduktivität. Lenin begründete die Theorie von der sozialistischen Arbeitsproduktivität und den Wegen ihrer Steigerung von der grundlegenden ökonomischen Bedeutung ihres Wachstums für den vollständigen und endgültigen Sieg der neuen Gesellschaftsordnung über den Kapitalismus, von den wichtigsten Faktoren und der objektiven Gesetzmäßigkeit einer ständigen Erhöhung der Arbeitsproduktivität im Sozialismus, von den prinzipiellen Vorzügen der sozialistischen Arbeitsorganisation gegenüber allen früheren Formen, von der neuen gesellschaftlichen Arbeitsdisziplin und den Verfahren zu ihrer Entwicklung und Festigung, von der materiellen Interessiertheit und den Methoden der Verteilung nach der Arbeitsleistung und schließlich vom sozialistischen Wettbewerb als wichtigster Triebkraft einer progressiven Entwicklung und einer ständigen Vervollkommnung der Produktion. Die Erforschung und wissenschaftliche Ausarbeitung von Problemen der Arbeitsorganisation in der UdSSR gründet sich fest auf die marxistisch-leninistische Theorie, der sie die leitenden Kritiken und bestimmenden Gesetzmäßigkeiten entnimmt, die Wissenschaft und Organisationspraxis beachten müssen. Das schließt natürlich keineswegs die Eigenart des .Inhalts und der Methoden der Arbeit verschiedener Forscher auf diesem Gebiet aus. In den 20er Jahren wurden Arbeiten von A. K. Gastew, P. M. Kershenzew, P. A. Popow, S. G. Strumilin und 0 . A. Jermanski bekannt. Letzterer kritisierte scharf das Taylorsystem und behauptete seine prinzipielle Unannehmbarkeit für die sowjetische sozialistische Praxis der Arbeitsorganisation; dabei hatte Lenin schon vor der Revolution das Taylorsystem studiert und bereits damals festgestellt, daß es mit der raffinierten Bestialität des bürgerlichen Systems zur Ausbeutung der Arbeitskraft wertvolle wissenschaftliche Ergebnisse auf dem Gebiet des Arbeitsstudiums, der Einsparung überflüssiger Bewegungen und der Anwendung rationellster Arbeitsverfahren verbindet. Lenin forderte ein aufmerksames, kritisches Studium des Taylorsystems und seine Anpassung an die Bedingungen und Aufgaben des sozialistischen Systems der Arbeit. Die Idee von Jermanski trug jedoch ausgeprägt mechanistischen Charakter. Mit der Untersuchung von Problemen der sozialistischen Arbeitsorganisation vom physiologischen und psychologischen Standpunkt befaßte sich I. Schpil-

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rejn, der in den 20er Jahren mit einigen Untersuchungen zur beruflichen Eignung von Arbeitern hervortrat und psychologische Aspekte der Arbeitsorganisation ausarbeitete. Einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Klärung von Problemen der Arbeitsphysiologie leistete K. K. Kektschejew, der ein Laboratorium im Zentralinstitut für Arbeit leitete und bei der Untersuchung der Arbeitsprozesse und der Aneignung beruflicher Fertigkeiten durch die Arbeiter bedeutende Leistungen vollbrachte. Im Institut für Leitungstechnik beim Volkskommissariat für die Arbeiter- und Bauerninspektion der UdSSR unternahm A. P. Brushes beachtliche Forschungen und Experimente; er untersuchte die physiologischen Grundlagen einer rationellen Arbeitsorganisation für Mitarbeiter des Leitungsapparates und beteiligte sich aktiv am Entwurf und an der Erprobung entsprechender Einrichtungen, Ausrüstungen, Möbel und anderer Anlagen, die eine günstige Atmosphäre erzeugen, die Ermüdbarkeit herabsetzen und die Arbeit erleichtern. Umfangreiche Forschungen zu Problemen der Psychophysiologie der Arbeit betrieb auch ein Speziallaboratorium des Zentralrates der sowjetischen Gewerkschaften. Eng verbunden mit der physiologischen Rationalisierung der Arbeitsprozesse sind auch Probleme der Organisation und rationellen Gestaltung der Arbeitsplätze, der Verteilung der Arbeitskräfte, der Aufteilung der Arbeit zwischen ihnen und der Organisation der primären Produktionskollektive (Brigaden, Produktionsgruppen, Abteilungen). Zu erwähnen ist die lange und fruchtbare Arbeit von M. R. Shurawljow, der während vieler Jahre die Grundlagen einer wissenschaftlichen Organisation der Arbeitsplätze untersuchte und eine gegliederte Systematik des Wissens über diesen Gegenstand entwickelte. Shurawljow analysiert die Organisation des Arbeitsplatzes in engem Zusammenhang mit dem umfassenderen Problem der Produktionskultur als primärem Glied des einheitlichen Prozesses der kollektiven, unmittelbar gesellschaftlichen Arbeit. Eine etwas andere Betrachtungsweise der gleichen Fragen findet man in den Arbeiten von N. P. Guljajew, der die Organisation und Einrichtung der Arbeitsplätze vorzugsweise unter physiologischem Aspekt analysierte, d. h. als Komplex der Bedingungen und Mittel, die die Arbeitsbewegungen erleichtern und beschleunigen. Guljajew untersuchte hauptsächlich die Bedingungen der Großserien- und Massenproduktion und orientierte sich auf die entschiedene Mechanisierung der verschiedenartigen Hilfsarbeiten, die mit der laufenden Bedienung der Arbeitsplätze im Arbeitsprozeß verbunden sind. Eine wertvolle Untersuchung komplexen Charakters, die die wissenschaftlichen Grundlagen der Arbeitsorganisation im Rahmen von Produktionsabschnitten und Werkstätten darstellt, wurde von einer Brigade des Zentralinstituts für Arbeit angefertigt und unter dem Titel „Arbeitsorganisation im Maschinenbau" veröffentlicht. Sie zeigte überzeugend die Möglichkeit,

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durch vollständige Ausnutzung des Arbeitstages und durch Verringerung der Anzahl der Umstellungen mit Hilfe einer rationellen Organisation der Vorbereitungsarbeiten die Arbeitsproduktivität wesentlich zu erhöhen. Ein selbständiger, umfangreicher und wichtiger Komplex von Problemen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation ist die technische Normung, d. h. die Feststellung des objektiv begründeten Aufwandes an Arbeitszeit je Produkteneinheit oder für die Ausführung einer Einheit nützlicher Produktionsarbeit. Die Notwendigkeit einer gründlichen theoretischen Ausarbeitung von Problemen der technischen Normung ergibt sich vor allem aus der Bedeutung der Nonnen selbst, die als wissenschaftliche Berechnungsgrundlage für die Organisation der Arbeit und die Planung der Produktion dienen müssen. Dank einer langjährigen und fruchtbaren, mit Experimenten und Verallgemeinerungen verbundenen Forschungsarbeit der auf dieses Gebiet spezialisierten Ingenieure und Wissenschaftler verfügt die sozialistische Industrie heute über eine sorgfältig begründete Theorie und Methodologie der technischen Normung, differenziert nach Industriezweigen, konkreten technologischen Arbeitsarten und Organisationstypen der Produktion. Um eine Vorstellung von der Vielfalt der wissenschaftlichen Kräfte zu vermitteln, die an der Schaffung der prinzipiellen Grundlagen des sowjetischen Systems der Arbeitsnormung beteiligt waren, nennen wir nur J. M. Punski, I. A. Prijmak, W. M. Joffe, P. P. Fajnglus, N. N. Sacharow, A. G. Spach, I. M. Rasumow, G. I. Obraszow, A. W. Michailow, N. W. Galzow, F. L. Kowaljow und andere. Aus dem Komplex der wissenschaftlichen Arbeiten dieser Forscher sind die Werke W. M. Joffes hervorzuheben, der eine Theorie und Methodologie der Normung nach Mikroelementen ausarbeitete. Wichtig war die langjährige Arbeit von R. 0 . Chissin zur Schaffung von Berechnungsnormativen für die Ermittlung von Zeitnormen. N. N. Sacharow erarbeitete eine Methodologie zur Normung von Operationen der Metallbearbeitung an automatischen und halbautomatischen Maschinen einerseits und von Reparaturarbeiten andererseits. I. M. Rasumow verbindet sorgfältige Untersuchungen zur Normung von Prozessen der Bearbeitung von Buntmetallen mit weitreichenden wissenschaftlichen Verallgemeinerungen auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation und des Arbeitslohnes. In der umfangreichen schöpferischen Zusammenarbeit der sowjetischen Wissenschaftler zu Fragen der technischen Normung verbinden und ergänzen einander also verschiedene methodologische Betrachtungsweisen und Richtungen. Die daraus hervorgehenden theoretischen Folgerungen tragen daher nicht den Charakter eines unbeweglichen Dogmas, sondern sie entwickeln sich ständig uncl werden verallgemeinert unter dem Einfluß der neuen Untersuchungen und der ständigen Veränderungen, die in der Praxis durch Vervollkommnung der Technik und der Produktionsorganisation vor sich gehen. 107

Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die Mehrmaschinenbedienung in der Form, wie sie in der sozialistischen Industrie auf Initiative fortschrittlicher Arbeiter entstanden ist. Um die vollwertige Nutzung der Ausrüstung bei gleichzeitiger Bedienung von zwei oder mehr Maschinen durch einen Arbeiter zu gewährleisten, war es notwendig, die Prinzipien der Zusammenstellung und Verknüpfung der Arbeiten zu ermitteln, die der Aufgabe einer engeren Verbindung von Ausrüstung und Arbeiter genügen. Wertvolle Untersuchungen über diese Fragen wurden zu verschiedener Zeit von J. M. Punski, A. N. Jefimow und anderen Spezialisten durchgeführt. Die Arbeit von Jefimow ist in wissenschaftlicher und praktisch-methodologischer Hinsicht besonders gelungen. Die Fragen der technischen Normung sind eng mit einer rationellen Organisation des Arbeitslohnes verbunden. Die Bezahlung der Tätigkeit der Arbeiter in der sozialistischen Industrie beruht bekanntlich auf einem Tarifsystem, d. h. auf einer klaren Einteilung der Arbeiten und der Arbeiter nach ihrem Qualifikationsniveau. Die Schaffung des Tarifsystems war zweifellos eine große Leistung der sowjetischen Organisation des Arbeitslohnes, die die praktische Verwirklichung des objektiven ökonomischen Gesetzes der Verteilung nach der Arbeitsleistung unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Kompliziertheit gewährleistet. Das Tarifsystem ist aber nicht einfach nur ein bequemes Instrument zur Regulierung des Lohnes der Arbeiter. Es ist auch eine direkte Anwendung der Marxschen Lehre von der Zurückführung (Reduktion) der komplizierten Arbeit auf einfache. Die Reduktionstheorie bildet die Grundlage der Tarifkoeffizienten, die es ermöglichen, das Qualifikationsniveau der Arbeiten einzuschätzen nach ihrem Verhältnis zur ersten Kategorie, die der einfachsten Arbeit zugeordnet ist. Das von sowjetischen Ökonomen und Organisatoren geschaffene Tarifsysten ist kein starres und absolut unveränderliches Gebilde. Es entwickelt und vervollkommnet sich in Abhängigkeit von der Veränderung der Produktionsbedingungen und vor der gesammelten Organisationserfahrung. Prinzipiell bestätigt es jedoch stets die Überlegenheit der planmäßigen sozialistischen Organisation der Arbeit und des Arbeitslohns über die tief widersprüchliche, antagonistische Praxis des Arbeitslohns im Kapitalismus. Fragen der Organisation des Arbeitslohns in der sozialistischen Industrie wurden in Werken von S. G. Strumilin, A. J. Grigorjew, J. L. Manewitsch. J. I. Kapustin und anderen ausgearbeitet und theoretisch geklärt. Die Formen des Arbeitslohns, die Bedingungen seiner Anwendung, stimulierende Formen und Methoden der Bezahlung für Arbeit mit erhöhter Qualität und für systematische Überbietung der Normen, das Verhältnis des Grundlohns zu verschiedenen Zuschlägen und zum Zusatzeinkommen - alle genannten Fragen wurden ausführlich untersucht und verallgemeinert. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Praxis der Entlohnung in den Betrieben 108

einwandfrei und vollständig den strengsten Anforderungen genügt. Im Gegenteil, in vielen Fällen sind hier wesentliche Verbesserungen nötig, um die Wirksamkeit der materiellen Stimuli zur Steigerung der Qualität der Erzeugnisse, zur rationelleren Nutzung der Ausrüstung, zur Ökonomie der materiellen Ressourcen usw. zu erhöhen. Solche Verbesserungen erfordern jedoch keine grundlegende Änderung der Theorie von der Organisation des Arbeitslohnes, sondern eher eine konsequentere Verwirklichung der bereits entwickelten theoretischen Prinzipien, deren Wirkung oft durch verschiedenartige Nebenumstände eingeschränkt wird. Deutlichster Ausdruck der neuen kommunistischen Arbeitsdisziplin ist der Massenwettbewerb der Arbeiter in der sozialistischen Produktion um die vorfristige Erfüllung und Ubererfüllung der Planaufgaben des sowjetischen Staates in allen Kennziffern, um die ständige Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus der Kader, die Vervollkommnung der Technik und Organisation der Arbeit und den weiteren Aufschwung ihrer Produktivität. Das sorgfältige Studium und die Verallgemeinerung progressiver Erfahrungen bei der Organisation des Massenwettbewerbs, der kommunistischen Arbeitsformen, der Massenbewegung der Rationalisatoren und der Arbeit mit den Neuerern bilden einen außerordentlich wichtigen Abschnitt der Wissenschaft von der sozialistischen Organisation von Arbeit, Produktion und Leitung. Probleme der Entwicklung des sozialistischen Wettbewerbs und der kommunistischen Arbeitsformen werden in Monographien und Übersichten vieler Autoren behandelt. Die wertvollsten Arbeiten zu diesen Fragen verfaßten N. P. Masiowa, I. I. Tschangli, G. N. Jewstafjew und I. J. Kassizki. In jüngster Zeit leisten I. I. Kusiminow und die von ihm geleitete Gruppe in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften eine wichtige und erfolgreiche Arbeit zu Grundproblemen des kommunistischen Verhältnisses zur Arbeit; sie haben einen interessanten Sammelband veröffentlicht.17 Eine verallgemeinernde, synthetische Richtung bei der wissenschaftlichen Ausarbeitung von Problemen der sozialistischen Arbeitsorganisation ist die Untersuchung der Reserven, Faktoren und Wege zur systematischen Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Auf diesem Gebiet unternahmen S. G. Strumilin, P. A. Chromow, I. J. Kassizki, G. A. Prudenski, M. M. Demtschenko und andere Ökonomen bedeutende Forschungen. Besondere Beachtung gebührt den noch nicht abgeschlossenen, aber überaus wichtigen und aussichtsreichen Untersuchungen zur Ermittlung des gesamtvolkswirtschaftlichen Arbeitsaufwandes für die wichtigsten Erzeugnisarten, die auf Initiative und unter der wissenschaftlichen Leitung von N. P. Fedorenko von sowjetischen Ökonomen angestellt werden. Es geht hier um die „Dechiffrierung" der materiellen Komponenten der Produktion, die im 17

Das sozialistische Produktionskollektiv, Moskau 1964 (russ.).

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wesentlichen vergegenständlichte Aufwendungen lebendiger Arbeit auf den vorangegangenen Etappen der Herstellung der Poduktionsmittel darstellen, und um die Berechnung des vollen Arbeitsaufwandes je Erzeugnis unter Berücksichtigung des Anwachsens dieser Aufwendungen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die Arbeitsproduktivität nicht nur auf der Ebene der in jedem einzelnen Betrieb aufgewandten Arbeitszeit zu messen, sondern auch nach dem Gesamtaufwand, der den Verbrauch von Roh- und Brennstoffen, Materialien, Energie, Werkzeugen und den Verschleiß der Grundmittel einschließt. So ergibt sich die Möglichkeit, pro Erzeugnis den Aufwand an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit gemeinsam zu messen und damit im volkswirtschaftlichen Maßstab alle Elemente der Produktion im Komplex rationell zu nutzen. Die bereits unternommenen Forschungen zur Anwendung der elektronischen Rechentechnik haben die prinzipielle Richtigkeit und Fruchtbarkeit, aber auch die praktische Realisierbarkeit der vorliegenden theoretischen Konzeption bestätigt. Ihre Durchführung wird nicht nur auf die weitere Vervollkommnung der Arbeitsorganisation, sondern entscheidend auch auf alle Seiten der Ökonomie und Wirtschaftsführung in der sozialistischen Produktion einen großen positiven Einfluß ausüben.

4. Probleme der Ökonomie und Organisation der Produktions- und Wirtschaftstätigkeit eines Betriebes Die Probleme der Ökonomie des Industriebetriebes, der rationellen Nutzung der produktiven Fonds und der Aufdeckung und Nutzung der innerwirtschaftlichen Reserven bilden einen wichtigen Abschnitt der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der sozialistischen Produktion. Auf diesem Gebiet sind die Werke von S. J. Kamenizer, E. A. Satel, W. I. Ganschtak, J. G. Liberman, S. K. Tatur, I. M. Rasumow, M. M. Fjodoro witsch, E. J. Lokschin, G. J. Mette, A. N. Klimow, I. J. Kassizki, S. A. Sokolizyn, N. S. Spiridonowa, N. S. Burmistrow, M. N. Jurjew und anderen bedeutenden Spezialisten zu erwähnen, die die sowjetische Wissenschaft mit wertvollen Arbeiten zu den Fragen der Ökonomie des Betriebes tmd der Organisation und der Methoden der Leitung seiner wirtschaftlich-produktiven Tätigkeit bereichert haben. Heute hat die Lehre von der Organisation des Industriebetriebes als der primären selbständigen wirtschaftlichen und technisch-ökonomischen Produktionseinheit einen relativ abgeschlossenen und gut gegliederten Inhalt. Im Gegensatz zu der umfangreichen und überaus buntscheckigen bürgerlichen Literatur zu diesen Fragen beschränkt sie sich dabei nicht auf die empirische Beschreibung der wichtigsten Tätigkeitsbereiche des Betriebes,

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seiner juristischen Stellung als Wirtschaftseinheit und seiner Wechselbeziehungen mit der äußeren Umgebung. Der wesentliche Inhalt der sowjetischen Lehre vom. Betrieb besteht in der Untersuchung des Wirkens der objektiven ökonomischen Gesetze der sozialistischen Produktionsweise im Rahmen der Produktions- und Wirtschaftstätigkeit des Betriebes. Natürlich bestehen bei der theoretischen Ausarbeitung der Grundprobleme, die mit der weitferen Vervollkommnung der Organisation der Industriebetriebe und der wirtschaftlichen Führung ihrer Tätigkeit zusammenhängen, ungeachtet der Gemeinsamkeit der theoretischen Leitprinzipien bei den verschiedenen Autoren beträchtliche Unterschiede in den Ansichten, und es bilden sich verschiedenartige wissenschaftliche. Richtungen. Auf diesem Boden erwachsen ausgedehnte Diskussionen, wobei in einigen Fällen die Durchführung entsprechender Experimente der einzige Weg zur Lösung der strittigen Fragen ist. Schon das bloße Faktum eines umfassenden Meinungsaustausches zu prinzipiellen Fragen von wissenschaftlicher Bedeutung und die Existenz recht tiefgehender, und mit diffizilen Argumenten begründeter Differenzen zeugen jedoch von der unablässigen Bewegung des theoretischen Denkens auf dem Gebiet der Lehre von der Organisation und Ökonomie des Industriebetriebes als Bestandteil der Wissenschaft von der sozialistischen Organisation und Leitung der Produktion. Unter diesen prinzipiellen Fragen sind vor allem folgende zu nennen: das System der Kennziffern, die die wirtschaftlich-produktive Tätigkeit eines Betriebes charakterisieren und bestimmen; das Kriterium zur objektiven Einschätzung des Erfolges dieser Tätigkeit; das Maß der Selbständigkeit und Handlungsfreiheit eines Betriebes sowohl bei der Aufstellung von Plänen seiner Arbeit als auch im Prozeß ihrer operativen Erfüllung; die Verfahren zur Erreichung einer aktiven Interessiertheit des Betriebes und seiner Arbeiter an der ständigen Erhöhung der Qualität der Produkte und des technischen Niveaus ihrer Produktion, an der Nutzung aller Ressourcen der vergegenständlichten und der lebendigen Arbeit und an der Verbesserung der ökonomischen Ergebnisse seiner Tätigkeit. Besonders gründlich sind in der sowjetischen Wissenschaft von der wirtschaftlichen Führung der Betriebe die Probleme der betrieblichen technisch-ökonomischen Planung ausgearbeitet. In enger Zusammenarbeit mit der Praxis der Neuerer der sozialistischen Produktion hat die sowjetische Wissenschaft ein System der Pläne der produktionstechnischen und wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit des Betriebes (Techpromfinplan) geschaffen, das heute zu einem wichtigen und unentbehrlichen Element der Organisation und Leitung der Produktion geworden ist. Es sei daran erinnert, daß der Techpromfinplan auf Initiative von Stoßbrigaden für wirtschaftliche Rechnungsführung in Leningrader Betrieben der Elektroindustrie während der ersten Jahre des Kampfes um die sozialistische Industrialisierung entwickelt worden ist. Das Zentrale

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Forschungsinstitut für die Organisation der Produktion und Leitung der Industrie beim Volkskommissariat für Schwerindustrie griff diese Initiative auf und erarbeitete sorgfältig begründete Leitfäden zur Methodologie des Techpromfinplan. Später wurden die einzelnen Fragen der technisch-ökonomischen Planung gesondert untersucht und bildeten den Gegenstand gründlicher selbständiger Ausarbeitungen. Das Techpromfinplansystem blieb jedoch im Grunde Richtschnur für die Arbeit des Betriebes und wurde mit dem Wachstum der sozialistischen Industrie unter dem Einfluß der sich verändernden Bedingungen ihrer Tätigkeit lediglich partiell verändert. Das Techpromfinplansystem ist ein wichtiges Ergebnis von Theorie und Praxis der Wirtschaftsführung. Es kann nur formal mit dem sogenannten System der Budgetkontrolle verglichen werden, das von Spezialisten für die Leitung kapitalistischer Betriebe ausgearbeitet worden ist. Die Budgetkontrolle basiert auf einer Gesamtheit von Kostenanschlägen, die die Betriebsleitung zusammenstellt, wobei sie von dem in der vorhergehende Periode erzielten Verkaufserlös ausgeht. Die Kostenanschläge dienen der Feststellung von Limiten für die Betriebsausgaben in den verschiedenen Abteilungen des Unternehmens, damit die Ausgaben den Rahmen der zulässigen Summen nicht überschreiten und der Betrieb im ganzen den veranschlagten Gewinn als Differenz zwischen der aus der Realisierung der Produkte erwarteten Summe einerseits und der Gesamtsumme der Budgetausgaben andererseits erzielen kann. Im Gegensatz dazu ist der Plan der produktionstechnischen und wirtschaftlichfinanziellen Tätigkeit eines sozialistischen Betriebes ein entwickeltes und allseitiges Programm seiner Arbeit; er sichert dip Erfüllung der quantitativen und qualitativen Aufgaben des Staatsplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft durch Aufdeckung und rationelle Nutzung aller Reserven innerhalb der Produktion, durch Schaffung und Einführung technischer Neuerungen und wissenschaftlicher Resultate, moderner Formen der Produktionsorganisation und Methoden der Arbeit und Leitung. Die Ausarbeitung des Betriebsplans stützt sich auf die .schöpferische Aktivität des ganzen Werkkollektivs; das verleiht der Tätigkeit dieses Kollektivs eine ausgeprägte Zielstrebigkeit und fördert die Entwicklung des gesamtstaatlichen sozialistischen Wettbewerbs um die ständige Hebung der Produktionskultur, das Wachstum der Arbeitsproduktivität und die allseitige Vervollkommnung der ökonomischen Arbeit des Betriebes im Interesse der Gesellschaft. Einen großen Beitrag zur Ausarbeitung theoretischer Fragen der technisch-ökonomischen Planung leisteten G. W. Teplow, M. N. Jurjew, W. J. Kantorowitsch und andere Wissenschaftler. Eine zentrale Stellung im Techpromfinplansystem nimmt die Aufstellung von Plänen der technisch-organisatorischen Maßnahmen ein, die die Vervollkommnung aller Glieder der Produktion und aller Seiten der Betriebstätigkeit gewährleisten. Sowjetische Wissenschaftler haben größere Untersuchungen zu 112

den prinzipiellen Grundlagen und der Methodologie der Planung produktionstechnischer und organisatorisch-ökonomischer Maßnahmen durchgeführt. Die Planung der organisatorisch-technischen Maßnahmen ist verbunden mit der Schaffung und regelmäßigen Erneuerung eines Systems progressiver technisch-ökonomischer Normative, die für die Pläne der 'produktionstechnischen und wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit als Berechnungsgrundlage dienen. Die Klassifizierung dieser Normative, die richtige Gestaltung ihrer Wechselbeziehungen, eine objektiv begründete Methodologie ihrer Ausarbeitung und aucli die Schaffung einer abgestimmten und elastischen Organisation der Normativwirtschaft des Betriebes sind wichtige Ergebnisse der sowjetischen Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion. Man muß leider feststellen, daß in dieser Frage die Wirtschaftspraxis oft hinter dem theoretischen Denken zurückbleibt. Vorrangige Bedeutung unter den Rechnungen und Normativen des Plans der produktionstechnischen und wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit haben zweifellos die Berechnungen der Produktionskapazitäten, die eine Art komplexer Normativkennziffer darstellen, welche das allgemeine technische und organisatorische Niveau in der Ausnutzung der Grundfonds des Betriebes charakterisiert. Das Problem der Produktionskapazitäten, ihre prinzipielle ökonomische Bedeutung, der Inhalt dieser Kategorie und die Verfahren ihrer Messung waren Gegénstand gründlicher Untersuchungen vieler sowjetischer Wissenschaftler. Heute sind Theorie und Methodologie der Bestimmung von Produktionskapazitäten genügend ausgearbeitet; das ist eine unbestreitbare und wesentliche Errungenschaft der sowjetischen Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion. Es ist bezeichnend, daß das Problem der Normative ebenso wie das der Produktionskapazitäten von der bürgerlichen Wissenschaft weder aufgeworfen noch untersucht wird. In gewissem Maße erklärt sich das aus dem privatkapitalistischen Charakter der Betriebe, in noch höherem Grade aus der chronischen Unterausnutzung der Kapazität des Produktionsapparates in den kapitalistischen Ländern. Unter solchen Bedingungen wird die in technischökonomischer und organisatorischer Hinsicht mögliche obere Grenze der Erzeugung von Produkten für den Unternehmer oder Manager überhaupt nicht aktuell. Die amerikanischen Ökonomen deuten den Begriff der Produktionskapazität meist nur als faktisch erreichten Stand des Produktionsausstoßes in der Periode des höchsten Konjunkturaufschwungs. Diese konjunkturellstatistische Vorstellung hat nichts gemein mit unserer Auffassung von der Produktionskapazität als einer technisch-ökonomischen Kategorie von erstrangiger Bedeutung für die sozialistische Planwirtschaft. Während die Produktionskapazität und ihre rationelle Auslastung als komplexer Ausdruck für die Nutzung der Grundfonds des Betriebes fungieren, ist die materiell-technische Versorgung der Betriebe die Organisationsform

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für die Sicherung der produktiven Umlauffonds und ihre Nutzung. Ihr System ist organisch mit der Verteilung der materiellen Ressourcen verbunden und unterscheidet sich prinzipiell von der kommerziellen Einkaufstätigkeit unter den Bedingungen kapitalistischer Firmen. Die wissenschaftliche Ausarbeitung von Fragen der materiell-technischen Versorgung umfaßt eine Reihe selbständiger, wenn auch eng miteinander veibundener Richtungen. Dazu zählt vor allem die Lehre von der produktiven Nutzung der materiellen Ressourcen, ihrer Nomenklatur und den Besonderheiten ihrer Verwendung im Prozeß der Fertigung der Produkte (oder im Bauablauf). Auf dieser Lehre basiert die Methodologie der Aufstellung progressiver Verbrauchsnormen für Rohstoff, Materialien, Energie, Brennstoff und andere stoffliche Elemente der Umlauffonds der Produktion. Außerdem ist diese Lehre die theoretische Basis für die Analyse der Reserven und die Ausarbeitung von Organisationsformen für die Ökonomie der materiellen Ressourcen, der Senkung der Verluste im Prozeß ihrer produktiven Nutiung, der Verwertung sekundärer Rohstoff-, Brennmaterial- und Energiereserven und der Einführung hocheffektiver Substituenten für nicht ausreichend vorhandene Ressourcen. Ein spezifisches Gebiet wissenschaftlicher Untersuchungen ist die Planung der materiell-technischen Versorgung; dazu gehören die Ermittlung des Bedarfs an den entsprechenden Ressourcen für die Erfüllung der Produktionsund Baupläne, die Ermittlung der realen Möglichkeiten zur Beschaffung der entsprechenden Fonds, die Ausarbeitung von Materiälbilanzen und Plänen bis hin zu jedem unmittelbaren Verbraucher und die Erteilung konkreter Anweisungen an die Lieferanten, um die Verbraucher mit Produkten im erforderlichen Sortiment zu versehen. Dieser weite und methodologisch mit großer Verantwortung verbundene Problemkreis ist Gegenstand grundlegender Untersuchungen und theoretischer Ausarbeitungen, die die Vervollkommnung der Arbeit mit den Bilanzen und die Beseitigung ernsthafter Mängel im gegenwärtigen System zur Planung der materiell-technischen Versorgung und in der Tätigkeit der Versorgungs- und Absatzorgane zum Ziel haben. Große Aufmerksamkeit widmet die Wissenschaft von der materiell-technischen Versorgung der Ausarbeitung der organisatorisch-ökonomischen und juristischen Fragen, die mit der Herstellung rationeller Wirtschaftsbeziehungen zwischen Lieferanten und Verbrauchern der Produktionsmittel, mit dem Aufbau des Systems von Versorgungs- und Absatzorganen und mit der Leitung seiner Arbeit verbunden sind. Eine zentrale Frage der Theorie von der Organisation der Versorgung ist die Bestimmung von rationellen Formen der Warenbewegung und von Kriterien zur Auswahl dieser oder jener Form in Abhängigkeit vom Umfang und vom Charakter der Lieferungen. Ein wichtiges theoretisches Problem der Versorgungsorganisation ist auch der Charakter der wirtschaftlichen Lieferverträge, der gegenseitigen Ver-

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pflichtungen der Seiten und der finanziellen Sanktionen, die die Erfüllung der Verträge und Verpflichtungen garantieren müssen. Daran schließen sich unmittelbar die prinzipiellen Fragen der Kontrolle durch den Rubel und der ökonomischen Hebel zur Lenkung der materiell-technischen Versorgung in verschiedenen Gliedern und auf verschiedenen Stufen ihrer Organisationsstruktur. Besonders große wissenschaftlich-theoretische Bedeutung haben schließlich die Probleme der Organisation des Umlaufs der zirkulierenden Produktionsfonds, speziell die Theorie der Bildung, Verwendung, Erneuerung, Kontrolle und Regelung des notwendigen Bestandes an Vorräten in verschiedenen Stadien der Warenbewegung der Produktionsmittel in der sozialistischen Industrie. Eine Theorie der Vorräte (Reserven) wird nicht nur in der sowjetischen Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion ausgearbeitet. Die Lenkung der Vorräte ist eines der zentralen Probleme einer optimalen Planung der Absatz-, Produktions- und Einkaufstätigkeit der kapitalistischen Betriebe. Diesem Problem ist eine in ihrem Ausmaß und ihrer Vielfalt schwer überschaubare spezielle Literatur in den USA und in letzter Zeit auch in Frankreich, Großbritannien und anderen kapitalistischen Ländern gewidmet. Die Methoden zur Berechnung der optimalen Vorratsbestände und die Hauptvarianten der „Strategie" ihrer Regulierung kann man als hinreichend erforscht und geklärt betrachten. Im Kapitalismus wird jedoch die Optimierung der Vorräte ausschließlich von den kommerziellen Interessen der einzelnen Betriebe oder ihrer Vereinigungen bestimmt; sie entspricht nicht dem schon von Marx gefundenen objektiven Gesetz, wonach die Vorräte bei den Verbrauchern, bei den Lieferanten und in den Kanälen der Warenbewegung miteinander verbundene Größen sind und zusammen den gesellschaftlichen Gesamtvorrat bilden. Die sowjetische Theorie der Vorräte geht gerade von dieser objektiven Gesetzmäßigkeit aus und ist bestrebt, die optimale Höhe der Gesamtvorräte unter den Bedingungen der rationellsten Organisation der Bewegung der materiell-technischen Ressourcen und der komplexen und störungsfreien Sicherung des Produktionsbedarfs der gesamten Volkswirtschaft zu ermitteln. Die Probleme des Umlaufs der zirkulierenden Produktionsfonds (wie auch der Ausnutzung der Grundfonds) grenzen unmittelbar an die Organisation der wirtschaftlichen Rechnungsführung in Industrie und Bauwesen, die Kontrolle durch den Rubel und die gesamte Finanzwirtschaft der Betriebe. Der genannte Fragenkreis gehört zu denen, die in der sowjetischen Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion unter breiter Mitwirkung der Spezialisten für Finanzprobleme, Buchhaltung und Analyse der Wirtschaftstätigkeit der Betriebe am intensivsten diskutiert werden. Die sozialistische wirtschaftliche Rechnungsführung als Methode der planmäßigen Leitung von Produktion und Bauwesen unterscheidet sich grund8*

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sätzlich von der kommerziellen Rechnungsführung der kapitalistischen Betriebe. Die sozialistische wirtschaftliche Rechnungsführung gründet sich auf das Zusammenwirken des Wertgesetzes, des Gesetzes der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft und des Gesetzes der Verteilung nach der Arbeitsleistung unter den Bedingungen der sozialistischen Wirtschaft und ist ein System der Ausnutzung von ökonomischen Hebeln und Organisationsformen der Leitung, das diesen objektiven Gesetzen entspricht. Die Theorie von der wirtschaftlichen Rechnungsführung des sozialistischen Betriebes wurde zum Gegenstand gründlicher Untersuchungen seitens vieler sowjetischer Wissenschaftler. Gegenwärtig verleihen die Aufgaben zur Vervollkommnung der ökonomischen Arbeit in der Volkswirtschaft der Entwicklung und Festigung der wirtschaftlichen Rechnungsführung eine besondere Aktualität und stellen der Wissenschaft neue Fragen, deren Lösung auf die allseitige Erweiterung der wirtschaftlichen Initiative, die Verstärkung der materiellen Stimuli und die Verbesserung der Methoden zur Kontrolle durch den Rubel, die die Erzielung maximaler Resultate bei geringstem Aufwand im Interesse der Gesellschaft fördert, gerichtet ist. Auf dieser Basis wurden einige Diskussionsstandpunkte formuliert, die sich auf mehr oder minder überzeugende theoretische Ausarbeitungen, experimentelle Untersuchungen und Verallgemeinerungen praktischer Erfahrungen aus der sowjetischen Industrie und der Industrie anderer sozialistischer Länder stützen. Objekte der Untersuchungen und neueren Ausarbeitungen sind insbesondere Probleme der Ersetzung des Wertes der Produktionsgrundfonds, ihrer Amortisation, des moralischen Verschleißes, der Finanzierung und det Nutzungsrichtung der Kapitalanlagen; Probleme der Berechnung der Selbstkosten der Produkte und ihrer Rentabilität, der Planung des Mehrprodukts und des vollen Reingewinns sowie der Preisbildung; Probleme der Umlaufmittel, der Berechnung des Bedarfs an ihnen und der Bestimmung der Quellen für ihre Beschaffung, der wirksameren Gestaltung der Verfahren zur Kontrolle der finanziell-wirtschaftlichen Tätigkeit des Betriebes durch Kredite, der Beschleunigung des Umschlags der Umlaufmittel und der Verbesserung ihrer Struktur. Die in theoretischer Hinsicht bedeutendsten wissenschaftlichen Arbeiten zu dem genannten Komplex von Problemen, stammen von A. W. Dodonow, A. M. Birman, S. A. Margulis, S. B. Barngolz, P. G. Bunitsch, A. A. Arakeljan, D. D. Kondraschew, L. A. Waag, I. A. Malyschew und W. P. Djatschenko. Die Suche nach optimalen technisch-ökonomischen Lösungen, die •die vollständigste und rationellste Nutzung aller Ressourcen der sozialistischen Industriebetriebe fördern, führte zur Ausarbeitung entsprechender mathematischer Methoden. Schon seit den ersten Entwicklungsschritten der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion verwendeten die sowjetischen Wissenschaftler zur Lösung verschiedener Probleme umfassend

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den klassischen Apparat der mathematischen Analysis und nutzten ihn erfolgreich zur quantitativen Bestimmung der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des Ablaufs von Produktionsprozessen, zur Bewältigung konkreter Aufgaben der Arbeitsorganisation, der technischen Normung und des Arbeitslohnes und zur Aufstellung einer Methodologie zur Planung und Bewertung der Effektivität der Arbeit von Betrieben. Mit der Vertiefung und Komplizierung des Inhalts der Wissenschaft von der Produktionsorganisation wurden jedoch spezielle ökonomisch-mathematische Methoden immer dringlicher erforderlich, die ein hohes Niveau der Forschungen und eine erfolgreiche Lösung der Optimierungsaufgaben auf dem Gebiet der Nutzung der verschiedenartigen Produktionsressourcen auf verschiedenen Stufen der Leitung und Planung gewährleisten. Es ist kein Zufall, daß sowjetische Mathematiker die ersten warçn, die spezielle Methoden zur Lösung von Aufgaben der Organisation und Planung der Produktion ausarbeiteten und anwandten; diese Methoden fanden in der Nachkriegszeit unter der Bezeichnung „lineare Programmierung" umfassende Verwendung. Die erste wissenschaftliche Arbeit zu mathematischen Methoden der Organisation und insbesondere der Planung der Produktion wurde 1939 von L. W. Kantorowitsch 18 veröffentlicht. Ihm gelang es damals, seine Methodologie der „Lösungsmultiplikatoren" (wie er sie ursprünglich nannte) nicht nur theoretisch zu begründen, sondern ihre Anwendung auf eine Reihe industrieller Objekte auch praktisch zu erproben. Die Initiative dieses Mathematikers war kein Zufall, sondern entsprang der objektiven Entwicklung und der Situation des wissenschaftlichen Denkens auf dem Gebiet der Produktionsorganisation. Von unbestreitbarem Interesse ist auch die Arbeit von A. A. Kisseljow zur Anwendung der Determinantentheorie und überhaupt mathematischer Methoden zur Lösung des Problems einer optimalen Ausführung von Nomenklaturaufträgen im Produktionsprogramm eines Maschinenbaubetriebes. • Die Ideen von Kisseljow, eines der bedeutendsten Spezialisten auf dem Gebiet der Produktionsplanung, harmonieren eindrucksvoll mit der Konzeption des berühmten Mathematikers, obwohl beide Wissenschaftler gegenseitig über ihre Arbeiten nicht informiert waren. Leider beendete der Tod schon sehr früh die wissenschaftliche Arbeit von Kisseljow auf dem Gebiet der Theorie von der Organisation und Leitung der Produktion. Die Werke von L. W. Kantorowitsch, W. S. Nemtschinow und W. W. Nowoshilow begründeten die ökonomisch-mathematischen Methoden zur Untersuchung und Optimierung der Nutzung produktiver Ressourcen. 18

L. W. Kantorowitsch, Mathematische Methoden der Organisation und Planung der Produktion, Leningrad 1939 (ru9s.).

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Eine große Bedeutung in der mathematischen Theorie der Lösung von Organisationsproblemen haben die Werke des hervorragenden sowjetischen Mathematikers A. J. Chintschin, der mit N. Wiener das Verdienst teilt, die Korrelationstheorie der Zufallsprozesse begründet zu haben. Unter den Ökonomen, die einen wesentlichen Beitrag zur Ausarbeitung ökonomisch-mathematischer Methoden geleistet haben, ist M. M. Fjodorowitsch zu nennen 19 , der das Matrixsystem des Techpromfinplans schuf. Dieses System besteht in der Ausnutzung des Matrizenkalkiils durch Aufbau der Grundformen des Planes der technischen und wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit eines Betriebes in Gestalt schachbrettartiger Bilanztabellen. Es sichert die strengste Koordinierung aller Kennziffern und Rechnungen; das ist unter den Bedingungen einer vielfältigen und verzweigten Produktions- und Wirtschaftstätigkeit außerordentlich wichtig. Außerdem ermöglicht es das Matrixsystem, das ganze Kennziffernsystem mit Hilfe von Elektronenrechnern schnell durchzurechnen; auf diesem Wege kann der Plan eines Betriebes in mehreren Varianten projektiert werden, und es wird möglich, gemäß den konkreten Bedingungen der jeweiligen Periode die effektivsten Varianten auszuwählen. Neben den eigentlich mathematischen Methoden hat die Verwendung der mathematischen Statistik zur Untersuchung einer Reihe empirischer Gesetzmäßigkeiten, zur Aufstellung bestimmter Normative und zur Messung des Zusammenhangs zwischen Erscheinungen in der Wissenschaft von der Organisation und Leitung der Produktion eine große Bedeutung. Zu diesen Zwecken ist die Anwendung der Theorie der mehrfachen Korrelationen, mit der sich die Arbeiten von J. I. Lukomski befassen, besonders geeignet. Unter den wertvollen Untersuchungen, die die Theorie von der Organisation und Leitung der Produktion mit geeigneten ökonomisch-mathematischen Methoden bereichern, sind die Arbeiten von J. P. Gertschuk, A. L. Lurje, A. G. Aganbegjan, S. I. Dudorin und S. A. Sokolizyn besonders zu erwähnen. Wir übergehen absichtlich die ökonomisch-mathematischen Untersuchungen im Maßstab der Volkswirtschaft, der Zweige und der Rayons, weil sie ihrem Inhalt nach den Kompetenzbereich der Wissenschaft von der Organisation und Leitung im Betrieb überschreiten. Wenn man die sowjetischen ökonomisch-mathematischen Untersuchungen zur Produktionsorganisation einschätzen soll, so muß man feststellen, daß die sowjetische Wissenschaft ungeachtet wichtiger theoretischer Ergebnisse auf diesem Gebiet bei weitem noch nicht die reichen Möglichkeiten ausschöpft, über die sie dank den Vorzügen der sozialistischen Planwirtschaft 19

M. M. Fjodorowitsch, Mathematische Methoden in der Planung. Lehrmaterial, Teil I, Moskau 1961 (russ.).

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verfügt. Dieser Rückstand äußert sich in der relativen Begrenztheit der angewandten Methoden und der Thematik der ökonomisch-mathematischen und mathematisch-statistischen Untersuchungen zur Organisation der Produktion. Die Überwindung dieses Rückstandes ist eine aktuelle Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit und eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Anwendung der elektronischen Rechentechnik zur optimalen Lösung von Organisations- und Planungsfragen der wirtschaftlichen Führung der Produktion. Ungeachtet der Unvollständigkeit und des skizzenhaften Charakters unseres Resumes kann man einige Überlegungen zu den nächsten Aufgaben der theoretischen Arbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft von der Organisation der sozialistischen Produktion aussprechen. Vor allem muß man das Vorhandensein umfangreicher wissenschaftlicher Materialien konstatieren, die auf diesem Wissensgebiet gesammelt worden sind und unzweifelhaft einen bedeutenden theoretischen Wert haben. Bisher trägt jedoch ein großer Teil der wissenschaftlich-theoretischen Arbeiten Industriezweigcharakter, und die entsprechenden Forschungen bleiben in der Regel auf den Rahmen der Zweige beschränkt. Heute ist die Zeit für umfassende und kühne Verallgemeinerungen herangereift, denn Organisation und Leitung sind sehr eng miteinander verbunden, wobei dieser Zusammenhang nicht äußerlichen Charakter trägt, sondern das Wesen des Problems betrifft. Zur Ermittlung und Erforschung der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten von Organisation und Leitung der Produktion ist es notwendig, eine planmäßige Arbeit zu den allgemeinen theoretischen Problemen dieser Wissenschaft zu entwickeln. Eine andere Schlußfolgerung, die aus der gegenwärtigen Lage bei der wissenschaftlichen Untersuchung der sozialistischen Produktionsorganisation zu ziehen ist, besteht in der Notwendigkeit, die wissenschaftliche Arbeit zu Problemen der Leitung allseitig zu entwickeln, weil diese in den letzten drei Jahrzehnten aus einer Reihe von Gründen nicht grundlegend untersucht wurden und auf diesem Gebiet ein unzulässiger Rückstand des theoretischen Denkens gegenüber der Organisationspraxis besteht. Außerdem ist eine noch nicht überwundene Unterschätzung der konkreten soziologischen und sozial-psychologischen Untersuchungen auf dem Gebiet der Organisation und Leitung der Produktion festzustellen. Das behindert die Ausarbeitung der theoretischen Probleme dieser Wissenschaft zweifellos beträchtlich. Deshalb muß man als dritte wichtige Richtung der theoretischen wissenschaftlichen Arbeit zu Fragen der Produktionsorganisation die planmäßige Untersuchung ihrer soziologischen und psychologischen Aspekte ansehen. Schließlich muß man, wie bereits bemerkt, energisch das quantitative Herangehen an die Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der Organisation und

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Leitung der Produktion entwickeln. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die ökonomisch-mathematischen und mathematisch-statistischen Untersuchungen von Organisationsproblemen systematisch zu erweitern und das entsprechende methodische Rüstzeug auszuarbeiten und zu vervollkommnen. Insbesondere ist es nötig, die mathematische und statistische Modellierung von Organisationsaufgaben geschickt zu nutzen; dabei kann man sich auf die umfangreichen Möglichkeiten stützen, die die Kybernetik und die moderne elektronische Rechentechnik bieten.

J . A . ALEXANDROW

Einige Probleme der heuristischen Programmierung

Organisierte Kollektive können ohne bestimmtes Wissen über das umgebende Milieu, das durch Sammlung und Bearbeitung von Daten gewonnen wird, ohne Studium und Transformation der gewonnenen Information in verschiedenen Richtungen und schließlich ohne effektive Einwirkung auf die Umgebung und auf sich selbst bei der Realisierung der getroffenen Entscheidungen nicht bestehen. Deshalb muß die allgemeine Theorie von der Organisation der leitenden und ausführenden Tätigkeit diese Prozesse untersuchen. Die Komplizierung der gesellschaftlichen Beziehungen hat zur Entwicklung verschiedener technischer Mittel (Rechenmaschinen, Kommunikationsmittel usw.) für die Lösung vieler praktischer Aufgaben und zu ihrer breiten Anwendung geführt. Das Steigen der Kompliziertheit der Beziehungen und der enorme Bedeutungszuwachs der Organisation, der durch die weitgehende Automatisierung der leitenden und ausführenden Tätigkeit hervorgerufen wird, erweitert den Kreis der Aufgaben, die mit technischen Anlagen gelöst werden können. Eine dieser Aufgaben ist die Modellierung des menschlichen Denkens. Fragen der Modellierung des menschlichen Denkens und des damit verbundenen Aufbaus selbstorganisierender Systeme finden in letzter Zeit immer mehr Beachtung. Auf diesem Gebiet liegen zwar bestimmte Ergebnisse vor, aber es gibt weder eine hinreichend allgemeine Betrachtungsweise dieser Fragen noch eine abgeschlossene Theorie. Deshalb ist ein Versuch, diese Frage zu analysieren, im Rahmen der allgemeinen Theorie von der Organisation der leitenden und ausführenden Tätigkeit am Platz. 1. Eine effektive Ausnutzung elektronischer Rechenmaschinen für die Lösung verschiedenartiger wissenschaftlich-technischer Aufgaben erfolgte bisher hauptsächlich unter der Voraussetzung der Stationarität und Diskontinuität der mit Hilfe dieser Maschinen modellierten realen physikalischen Prozesse. Auf diese Weise ist es möglich, die dem betrachteten physikalischen Prozeß adäquate Sprache aus dem Arsenal der modernen Mathematik auszuwählen, die entsprechenden Algorithmen auszuarbeiten, einen Satz von Programmen zusammenzustellen und mit Hilfe der Elektronenrechner die benötigten Resultate zu ermitteln. Wesentlich ist dabei die relative Einfach121

heit des modellierten physikalischen Prozesses (und daher auch die Effektivität seiner Algorithmisierung) und die Eindeutigkeit und Vollständigkeit der Information bei beträchtlichem Informationsumfang. In manchen Fällen ist es jedoch schwierig, mitunter auch unmöglich, ein genaues logisch-mathematisches Modell des untersuchten Prozesses zu konstruieren; das beruht beispielsweise auf der hohen Kompliziertheit dieses Prozesses (etwa bei kombinierten Aufgaben), auf dem Fehlen notwendiger und hinreichender Information usw. Zudem verzerrt jede absichtliche Vereinfachung, jede Idealisierung zum Zweck der Anwendung eines adäquaten mathematischen Apparates das Wesen eines solchen Prozesses und setzt damit den praktischen Wert der Resultate herab. Unseres Erachtens erklärt das auch die Tatsache, daß die Elektronenrechner für die Lösung vieler komplizierter Aufgaben - darunter auch ökonomischer Aufgaben bei der Steuerung besonders komplizierter Systeme - nur unzureichend eingesetzt werden. Zugleich werden derartige Aufgaben von Menschen, die ihnen in der Alltagspraxis begegnen, ohne Anwendung komplizierter mathematischer Mittel und sogar beim Fehlen einer ausreichenden Menge von Ausgangsdaten gelöst. Diese Lösung ist mitunter sogar besser als die Lösung der gleichen Aufgabe mit Hilfe eines Elektronenrechners, der von einem idealisierten Schema des untersuchten Prozesses ausgeht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zur Lösung besonders komplizierter Aufgaben mit Hilfe von Elektronenrechnern qualitativ neue Methoden auszuarbeiten, die einzelne Seiten des menschlichen Denkens modellieren. Es handelt sich um Methoden zur effektiven Lösung besonders komplizierter Aufgaben bei unvollständiger, unzureichender laufender Information. Solche Methoden werden als heuristische bezeichnet. Die algorithmischen Methoden werden unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion mehr oder minder äquivalenter Modelle des untersuchten Prozesses verwendet; auf dieser Grundlage werden hier die Programme für die Elektronenrechner ausgearbeitet. Im Unterschied dazu decken die heuristischen Methoden Faktoren auf, die die Zeit der Lösungssuche verkürzen, ohne im allgemeinen Fall das Finden der Lösung zu garantieren; darauf basieren die heuristischen Programme.1 Eine charakteristische Besonderheit der heuristischen Programme ist die weitgehende Ausnutzung bestimmter Verfahren der menschlichen Arbeit bei der Lösung von Aufgaben unter den Bedingungen unvollständiger laufender Information mit Hilfe der vorhergehenden Sammlung von Daten über die Lösung verschiedener Aufgaben, die der gegebenen analog sind (frühere Erfahrung), durch Zergliederung des Prozesses der Informationsverarbeitung in „elementare Informationsprozesse" 2 . 1 2

In der kybernetischen Literatur nennt man diese Faktoren gewöhnlich Heuristiken. A. Newell]]. Show, Elements of a Theory of Human Problem Solving. Psychological Rev., vol. 65, Nr. 3, 1958.

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Die heuristischen Programme unterscheiden sich daher prinzipiell von den gewöhnlich benutzten (algorithmischen) Programmen, die nach entsprechenden Algorithmen aufgebaut sind. Die Grundlage des Prozesses bildet ein Suchprogramm. Wenn die Lösung der gestellten Aufgabe beginnt, dann fehlen der entsprechende Algorithmus und Angaben über Existenz und Eindeutigkeit der Lösung. Dabei erfolgt im Prozeß der Abwicklung eines heuristischen Programms eine zusätzliche Sammlung notwendiger Information gemäß der allgemeinen Suchstrategie, die die Resultate der vorangegangenen Zwischenproben berücksichtigt. Diese Besonderheit der heuristischen Programme macht es möglich, das Gebiet auszuschließen, in dem das Suchen aussichtslos ist, das Gebiet der möglichen Lösungen einer Aufgabe zu erfassen und dort (und nur dort) eine mögliche Lösung zu suchen. Obwohl die heuristische Programmierung aussichtsreich ist, wurden bisher nur wenige Programme dieser Art ausgearbeitet, die tatsächlich funktionieren, und die Ergebnisse ihrer Analysen sind noch nicht systematisiert worden. Deshalb ist es notwendig, den Umfang der Arbeiten zur Lösung konkreter Aufgaben auf der Basis dieser Methoden und zu ihrer Analyse zu erweitern, mit dem Ziel, auf dieser Grundlage eine Theorie heuristischer Lösungen zu schaffen. Diese Theorie und die mit ihr verbundene Entwicklung der Ideen der heuristischen Programmierung wird zusammen mit den algorithmischen Methoden die Lösung eines weiten Kreises von Aufgaben in Gebieten mit einer komplizierten Struktur (zum Beispiel in der Wirtschaft) gewährleisten. Außerdem wird sie eine präzisere Antwort auf die bereits traditionelle Frage ermöglichen, ob Maschinen denken können. 2. Die Schaffung einer Theorie heuristischer Lösungen ist mit der Ausarbeitung zahlreicher Probleme aus den Natur- und Gesellschaftswissenschaften und aus verschiedenen Gebieten der Kybernetik (und nicht nur der Kybernetik!) verbunden. Der zentrale Platz in der Theorie heuristischer Lösungen gebührt offensichtlich den Problemen des Wesens und der Einteilung der Methoden zur Lösung bestimmter vorliegender oder vorgeschlagener Aufgaben, die die typischen Probleme der Erkennung eines Bildes oder des Auffindens des günstigsten Weges verallgemeinern. Das Wesen dieser Probleme kann folgendermaßen dargestellt werden. Man betrachtet es als erwiesen, daß die vererbten Merkmale dem lebenden Organismus genetisch nur in allgemeinen Zügen und Umrissen übertragen werden, wobei die vorgezeichnete Organisation des Hirns nullten oder jedenfalls sehr geringen Grades ist. 3 Später erfolgt die Organisation des Hirns, das Sammeln von Erfahrung beim aktiven Austausch mit dem äußeren Milieu (Erkennen, Klassifizieren u. a.) nach diesem oder jenem Verfahren (Lernen, trial and error u. a.). „Kinder, die die Sprache der Men3

A. G. Iwachnenko, Selbstlernende Systeme, Kiew 1963 (russ.). 123

sehen nicht rechtzeitig erlernen konnten und in die Umgebung von Tieren gerieten, waren genötigt, ihre eigene, auf jeden Fall neue primitive Sprache zu erfinden, die trotzdem die .Sprache der Tiere' nach der Anzahl der Begriffe, Laute und Intonationen um ein Vielfaches übertraf." 4 Den Anlagen zur Erkennung von Bildern und zur Auswahl optimaler Methoden für die Lösung von Aufgaben liegen die heuristischen Prinzipien der Arbeit des Großhirns zugrunde. In der -Sprache der Forderungen an Anlagen zur Erkennung von Bildern kann man diese Prinzipien so formulieren: a) Eine Anlage zur Erkennung von Bildern muß zunächst mit äußerer Hilfe (zum Beispiel mit Hilfe des Menschen) die betrachteten Objekte auf verschiedene Weisen in Klassen zerlegen; dabei muß die Anlage durch Verallgemeinerung der einzelnen Beispiele, die ihr im Stadium des „Lernens"' dargeboten worden sind, selbständig festlegen, nach welchem Prinzip in. einer gegebenen Aufgabe die Einteilung vorzunehmen ist. b) Im „Examen" muß die Anlage neue Objekte gemäß den ausgearbeiteten Kriterien klassifizieren, und eine positive Wertung (..Aufmunterung") von außen muß den Prozeß der Klassifikation verbessern. Auf dieser Grundlage erhielt Brawerman für einige Spezialfälle des Problems der Bilderkennung interessante Resultate (Kompaktheitshypothese). Neben anderen Vorteilen bringt die positive Lösung dieses Problems die Möglichkeit, aktuelle angewandte Fragen zu lösen, so die Frage der Eingabe von Information in einen Elektronenrechner in der für den Menschen gewohnten Gestalt (in schriftlicher Form oder in Form von Sprechsignalen usw.), die Probleme der Diagnostik in Medizin, Technik und anderen Gebieten usw. Zusammen mit der Lösung einiger anderer Fragen wird das Problem der Bilderkennung dazu beitragen, die Prinzipien der Konstruktion selbstorganisierender Systeme zu klären. Aus dem Gesagten ergibt sich noch ein weiterer Unterschied zwischen Algorithmen und Heuristiken. Die Algorithmen kann man mit den unbedingten Reflexen vergleichen, die dem lebenden Organismus genetisch übertragen werden, die Heuristiken hingegen mit den einschränkenden Faktoren, die der lebende Organismus beim aktiven Austausch mit der Umwelt ausbildet und die über die bedingten Reflexe in Erscheinung treten. In diesem Zusammenhang spielt die Lehre Pawlows über die Bildung bedingter Reflexe eine große Rolle; interessant sind auch die in letzter Zeit von Attley, Steinbuch und anderen Forschern vorgenommenen Untersuchungen über die Bildung neuer Strukturen durch die Herstellung neuer Verbindungen zwischen Neuronen. Einen wichtigen Beitrag zur Schaffung der Theorie heuristischer Lösungen leistet die Untersuchung elementarer Informationsprozesse auf verschiedenen Ebenen. Unter dem Auffinden elementarer Informationsprozesse versteht man 4

Ebenda.

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gewöhnlich „Zerlegung in Faktoren, Einteilung, Programmierung des Denkprozesses" 5 . Die Hauptaufgabe der Untersuchung ist die Ermittlung von Regeln zur Verbindung der elementaren Tnformationsprozesse zu komplizierten Programmen. Die Forscher gehen von der Annahme aus, daß es möglich ist, die Arbeit des Gehirns zu untersuchen, indem man die im Hirn auf verschiedenen Ebenen ablaufenden. Informationsprozesse bestimmt und beschreibt. Wenn man das Gehirn als selbstorganisierendes System betrachtet und annimmt, daß seiner Arbeit eine Hierarchie subordinierter Algorithmen (Wiener) und Heuristiken zugrunde liegt, dann sind drei Ebenen zu unterscheiden - eine untere (Systemebene der unbedingten und bedingten Reflexe), eine mittlere (Systemebene der Regeln des Lernprozesses) und eine obere (eine Ebene, die die vorhergehende formiert und korrigiert). Das System der Informationsverarbeitung, das die Hierarchie der Algorithmen und Heuristiken sichert, dient der Gewährleistung eines zweckmäßigen Verhaltens des lebenden Organismus bei beliebigen Veränderungen des Milieus. Die weitere Komplizierung des äußeren Milieus und seiner Verbindungen mit dem lebenden Organismus führt zur Konstruktion eines formalen Modells der heuristischen Tätigkeit, einer Theorie des Suchens in einem abstrakten Labyrinth 6 , und zur Lösung des verwandten Problems der Auswahl zuverlässiger und, widerspruchsfreier Information, die unmittelbar mit dem Ziel verbunden istj Dabei werden nicht nur die Prozesse betrachtet, die im Gehirn ablaufen, sondern auch die Veränderungen, die infolge aktiver Handlungen des lebenden Organismus im äußeren Milieu eintreten (direkte Kopplung und Rückkopplung) . Diese Betrachtungsweise ermöglicht es, einzelne Aspekte des Denkens bei der Lösung konkreter Aufgaben zu modellieren, neue Gesetze der höheren Nerventätigkeit zu entdecken, Methoden der Formierung von Systemen aus Teilzielen bei der Erreichung des Hauptziels zu finden und eine effektive Auswahl der notwendigen Information im Prozeß der Lösung eines Problems zu organisieren. Mit Hilfe spezieller Experimente wurden die Regeln der Informationsverarbeitung im Gehirn festgestellt; auf dieser Grundlage wurde das heuristische Programm GPS® geschaffen. Untersuchungen dieses Programms am Beispiel der Lösung konkreter Aufgaben (beispielsweise aus der mathematischen Logik) haben gezeigt, daß dieses Programm Lösungen liefert, die der sprachlichen Produktion des Menschen ziemlich nahe kommen. Dieses Programm A. Newell/'J. Show.H.

7

s

Simon, The Processes of Creative Thinking — Contemporary

Approach to Creative Thinking, New York 1962. Ebenda; siehe auch: H. Simon/A. Newell, Heuristic Problem Solving, in: Operational Res., 1958, Nr. 1. S. N. Brajnes/A. W. Napalkow/W. B. Swetschinski, Neurokybernetik, Moskau 1962 (russ.). Anfangsbuchstaben von „General Problem Solver".

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vereinigt zwei allgemeine Aufgaben, erstens die Analyse der Mittel und Ziele und zweitens die Planung der Problemlösung. Die Aufgabenstellung im Programm GPS erfolgt durch Vorgabe der wirklichen und der erwünschten Situation, ausgedrückt durch ihre Beschreibungen. Die Situationen werden Objekte genannt. Die Spezifik der Objekte wird durch die Unterschiede bestimmt. Die Verbindung zwischen den Unterschieden und den Quasiregeln wird durch eine logische Verknüpfungstabelle angeben. Das Problem gilt als gelöst, wenn eine solche Folge von Quasiregeln gefunden worden ist, die es ermöglicht, die vorgegebene (wirkliche) Situation in die gewünschte zu überführen. Wenn man den Prozeß der Lösung einer Aufgabe rein funktional betrachtet, so unterscheidet man gewöhnlich Ziele dreier Typen: G. 1 - Umwandlung des Objekts A in das Objekt B; G. 2 — Anwendung der Quasiregel R auf das Objekt A; G. 3 - Verringerung des Unterschiedes D zwischen den Objekten A und B. Das Wesen der Methoden zur Erreichung der Ziele G. 1, G. 2 und G. 3 ist in den Zeichnungen 1, 2 und 3 dargestellt. Um das Ziel G. 1 zu erreichen, muß man die Objekte A und B vergleichen und zwischen ihnen den Unterschied D feststellen [ (A = B) Wenn kein Unterschied besteht [D = 0 ] , ist das Ziel erreicht [G. ! ! ! ] ; wenn ein Unterschied vorliegt \D ^ O], dann muß man zur Erreichung des Zieles G. 3 übergehen und erhält im Ergebnis ein Objekt C [G. 3 ! C], das über die Rückkopplung [ < A -+ C > !; (A = B) =£> D; . . . ] in B umgewandelt wird. Wenn diese Operation ausgeführt werden kann [G. 1 ! ! ! ] , dann ist das gestellte Ziel G. I erreicht; gelingt sie nicht, dann muß man neue Versuche mit neuen Objekten unternehmen. Erhält man die Umwandlung trotzdem nicht, dann ist das Ziel nicht erreicht. Das Erreichen des Zieles G. 2 erfolgt folgendermaßen. Es wird die Möglichkeit festgestellt, das Objekt A in eine Form zu überführen, die für die Anwendung der Quasiregel R geeignet ist [R < A > =£> ?] ; wenn das nicht gelingt („nein"), dann ist das Ziel nicht erreicht [G. 2 =#> ' ? ? ] ; wenn es gelingt („ja"), dann ist die Quasiregel R auf die so gewonnene Form anzuwenden [Ä < A > !] ; im Ergebnis wird das gestellte Ziel erreicht [G. 2=#> ! ! ! ] . Für die Erreichung des Zieles G. 3 sucht man anfangs die Quasiregel Rj, die man auf das Objekt A zur Beseitigung des Unterschiedes D anwenden kann. Wenn eine solche Quasiregel gefunden worden ist („ja"), dann erfolgt der Ubergang zum Ziel G. 2 [G. 2 ^ ! R\A]\ wenn sie nicht gefunden worden ist („nein"), dann wird die Möglichkeit des Ubergangs zur folgenden Quasiregel iüfc aus der logischen Verknüpfungstabelle geklärt Rk) ?]. Besteht eine solche Möglichkeit nicht („nein"), dann ist das Ziel unerreichbar [G. 3 =£>???]; wenn diese Möglichkeit existiert, 126

dann wird der ganze Prozeß über die Rückkopplung [(Rj ->- Rj) • Rk (A/D) ? ; . . . ] wiederholt. Daraus ist ersichtlich, daß das Programm GPS als Folge von Umwandlungen einer Aufgabe — Zerlegung dieser Aufgabe, Umwandlung des Objekts, Elimination der Unterschiede u. a. — äußerlich an das Suchen des Weges in einem Labyrinth erinnert. Um das Ziel G« 1 effektiv zu errreichen, Abb. 1 ist ein besonderer Typ der Planung ausgearbeitet worden, der es ermögG.2 licht, zunächst den Plan der Lösung in allgemeinen Zügen zu konstruieren (Makroentwurf) und dann zu den Details überzugehen (Mikroentwurf). Große Bedeutung in der Theorie heuristischer Lösungen gewinnt das ProAbb. 2 blem der schöpferischen Tätigkeit des Menschen und das damit verbundene Problem der Extrapolationsprozesse; auf dieser Grundlage soll der Mechanismus ermittelt werden, der im lebenden Organismus die Voraussicht von Ereignissen ermöglicht. 3. Schon dieser flüchtige Überblick, der bei weitem nicht alle Grundprobleme der Theorie heuristischer Lösungen erAbb. 3 faßt (hier wurden zum Beispiel die Probleme der Semiotik überhaupt nicht berührt), gibt eine Vorstellung von den Schwierigkeiten, die mit der Schaffung automatischer Anlagen verbunden sind, welche einem lebenden Organismus in bestimmten Eigenschaften funktionell ähneln, d. h. bei einer unzureichenden Datenmenge auf Grund einer Analyse der entstehenden Situationen, auf der Basis einer effektiven Ausnutzung früherer Erfahrungen usw. Entscheidungen treffen. Diese Schwierigkeiten entstehen unter anderem deshalb, weil einige philosophische Probleme der Theorie heuristischer Lösungen noch nicht gelöst sind. Das zentrale Problem ist dabei die Bestimmung der heuristischen und praktischen Bedeutung der Prozesse der Modellierung des Denkens mit Hilfe von Elektronenrechnern. Die erstaunliche Fähigkeit lebender Organismen, mit Wachstum und Lernen ihre Organisiertheit zu erhöhen, wirft methodologische 127

Probleme der lernenden und selbstorganisierenden Systeme auf. Es ist von praktischem Wert, Natur und Wesen jener Schwierigkeiten bei der Unterscheidung und Identifizierung von Objekten zu klären, die nun bereits in der technischen Kybernetik (bei Arbeiten zur Erkennung von Bildern) aufgetreten sind. Nicht minder wichtig sind die Probleme der Analyse und Synthese heuristischer Lösungen, die Untersuchung des Wesens der Heuristiken, die Klärung der Fähigkeit lernender Maschinen, Analoga abstrakter Begriffe zu bilden, Modelle von Erscheinungen und Prozessen der Außenwelt zu schaffen usw. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, daß „das Gebiet der Heuristik noch nicht ganz klar umrissen und als ein Bereich klassifiziert ist, der zur Philosophie, zur Logik, zur Psychologie oder in unseren Tagen zur Kybernetik gehört" 9 . Die Schaffung einer Theorie heuristischer Lösungen als Arbeitsinstrument zur Lösung eines weiten Kreises besonders komplizierter Aufgaben mit Methoden, die dem menschlichen Denken nahestehen (sofern man nicht überhaupt sagen kann, daß sie ihm eigen sind), ist undenkbar ohne die Ausarbeitung der ganzeil damit verbundenen Problematik in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Noch eine letzte Bemerkung. Obwohl die Theorie heuristischer Lösungen erst im Entstehen begriffen ist, zeugt auch sie davon, daß man den Prozeß des Denkens nicht als etwas Geheimnisvolles betrachten darf. 9

M. I. Bobnewa, Heuristische Programme, „Labyrinthe" und einige Probleme der Psychologie, in: Voprosy psichologii, 1964, Nr. 5.

J. A. Alexandrow/W. P. BOGOLEPOW

Einige organisatorische Kriterien der Funktionsqualität von Systemen Zur Frage der Schaffung des mathematischen der Organisationstheorie

Apparates

1. Eine Organisationstheorie in systematischer Gestalt existiert bisher nicht. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß eine solche Theorie notwendig ist. Diese Theorie muß vor allem die verschiedenen angewandten organisationstheoretischen Richtungen, die in den letzen Jahren entstanden sind, zu einem organisch gefügten System vereinigen. Mit der Bildung der Organisationstheorie entsteht auch das Bedürfnis nach Aufbau ihres mathematischen Apparates. Die Schaffung der Theorie wird darüber hinaus in beträchtlichem Maße selbst davon abhängen, ob es mit Erfolg gelingt, einen solchen Apparat zu schaffen. Man kann annehmen, daß die Organisationstheorie, die sich auf die neuen organisationswissenschaftlichen Richtungen stützt, auch die schon in gewissem Maße ausgearbeiteten mathematischen Mittel dieser Richtungen in bestimmten Grenzen benutzen kann. Ähnlich wie den allgemeinen theoretischen Überbau über diese Richtungen muß aber die Organisationstheorie auch eine Art „logisch-mathematischen Uberbaus" schaffen, der sich über den von diesen Spezialwissenschaften benutzten mathematischen Mitteln erhebt. Wir wollen dazu einige unserer Überlegungen mitteilen, ohne den Anspruch zu erheben, diese erforderliche Untersuchung im vorliegenden Artikel vorwegzunehmen. 2. Frühere Versuche, eine mehr oder minder allgemeine Theorie der Organisation zu schaffen, waren nicht vom gleichzeitigen Aufbau eines mathematischen Apparates begleitet. Insbesondere die Überlegungen von A. Bogdanow 1 beschränkten sich in dieser Beziehung vorzugsweise auf die Wiederholung der bekannten Gedanken von Marx über die Erhöhung der individuellen Produktivkraft durch Kooperation und über die Schaffung der neuen Produktivkraft, die ihrem Wesen nach Massenkraft ist. Dabei „erzeugt bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesellschaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erregung der Lebensgeister (animal spirits), welche die individuelle Lebensfähigkeit der einzelnen erhöhen . . . " 2 . 1

2

A. Bogdanow,

Allgemeine

Organisationslehre.

Tektologie,

Bd. I, Berlin

1926,

Bd. II, Berlin 1927, Bd. III, Moskau 1929 2 . K. Marx/F. Engels. Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 345. An dieser Stelle ziliert Marx: „Während ein Mann nicht fähig ist, eine Tonnen-

9 Laltko

129

Zur Einschätzung der „Fragen der quantitativen und strukturellen Stabilität" nahm Bogdanow an, daß „sich die Organisiertheit dann quantitativ erhöht, wenn im Rahmen einer gegebenen Form mit ihrer gegebenen Struktur eine beträchtlichere Summe von Element-Aktivitäten angehäuft und vereinigt wird, zum Beispiel wenn die Masse eines Planeten oder eines Nebels auf Kosten von Material aus den umgebenden Räumen zunimmt. Strukturell erhöht sich die Organisiertheit dann, wenn im Rahmen eines Systems seine Aktivitäten mit geringsten Verlusten vereinigt werden, wenn zum Beispiel in einem Mechanismus die schädlichen Reibungen der Teile verringert werden oder wenn sich der Ausnutzungskoeffizient der Energie erhöht, d. h. ihre unfruchtbaren Aufwendungen abnehmen." 3 Gleichzeitig betonte Bogdanow, daß die quantitative Zunahme der Organisiertheit in gewissen Fällen mit ihrer strukturellen Abnahme verbunden sein kann und umgekehrt. 4 Schließlich wollen wir noch den richtigen Gedanken Bogdanows über die „tektologische Ungleichheit der mathematischen Gleichheit von Gegensätzen" anführen: „In der Tat vermehrt jeder Prozeß, der sich in der Richtung der Organisierung bewegt, die weiteren organisatorischen Möglichkeiten, während ein Prozeß in entgegengesetzter Richtung, in der Richtung der Desorganisierung, umgekehrt die desorganisatorischen Möglichkeiten vermindert. Hat sich die hundertmillionenköpfige Bevölkerung eines Landes im Laufe eines Jahres infolge des Überschusses des Geburtenzuwachses über die Sterblichkeit um eine Million vermehrt, so muß sie unter den gleichen Bedingungen im darauffolgenden Jahre in noch größerem Umfange sich vermehren, um 1 0 1 0 0 0 0 . . . Hat sich in einem anderen Lande bei derselben Bevölkerungszahl der gleiche Sterblichkeitsüberschuß ergeben, so wird im zweiten Jahre, bei der Unveränderlichkeit der übrigen Bedingungen, die Bevölkerung nicht um eine Million, sondern um eine geringere Größe, 990 0 0 0 . . . , abnehmen . . . So ist der Fortschritt in der Praxis immer größer als der Rückschritt, der organisatorische Prozeß immer größer als der desorganisatorische, wenn ihre Größe gleich ist." 5 Dieser Gedanke wird heute auch von Price 6 und anderen Autoren vertreten. 3. Die angeführten Überlegungen tragen natürlich nur sehr vorläufigen Charakter. Es ist offenbar von Nutzen, die Arbeit zur Schaffung des mathematischen Apparates der allgemeinen Organisationstheorie in zwei miteinander wechsellast zu heben, und 10 Mann sich dabei anstrengen müssen, können es einhundert Mann aber mit der Kraft nur je eines ihrer Finger tun." 3 4 5 6

(/. Bellers, Proposais for raising a colledge of industry, London 1696, p. 21) A. Bogdanow, Allgemeine Organisationslehre, Bd III, S. 89. Ebenda, S. 89-90. A. Bogdanow, Allgemeine Organisationslehre, Bd. II, S. 185. D. Price, Kleine Wissenschaft - große Wissenschaft, in: Die Wissenschaft von dpi Wissenschaft, Moskau 1966, S. 287-288 (russ.).

130

wirkenden Richtungen voranzutreiben, wobei sowohl die Forderungen der Organisation als auch die Möglichkeiten der Mathematik genutzt werden. Was soll eigentlich gemessen werden? Die Organisation erstreckt sich ja sowohl auf die Leitung als auch auf die Ausführung, und zwar in Hinblick auf die Funktion wie auf System und Struktur. Die Wissenschaft von der Steuerung, d. h. die Kybernetik, und die Systemtheorie verfügen dabei schon über einen gewissen mathematischen Apparat. Die allgemeine Steuer- und Regeltheorie besitzt solche Mittel zwar noch nicht, aber die übrigen Abschnitte der Kybernetik, die Informationstheorie, die Algorithmentheorie und andere, sind schon in bedeutendem Umfang mathematisiert. Was bleibt dann noch für die Organisation selbst? Jede Organisation muß letzten Endes bestmöglich auf folgende Fragen antworten: Was ist zu tun, um eine gestellte Aufgabe zu erfüllen, womit, d. h. mit welchen Kräften und Mitteln, wo, wann und wie, d. h. unter welchen Umständen des Ortes und der Zeit und mit welchen Methoden und Verfahren, muß man es tun? Bedingungen für die gleichzeitige freie Auswahl von Lösungen für alle aufgezählten Fragen bestehen selten. In den meisten Fällen hat man es mit einer Reihe von Einschränkungen zu tun: bald ist von vornherein bekannt, was getan werden soll, d. h. es ist nicht nur das Ziel der Handlungen gegeben, sondern auch die Aufgabe, bald sind wir in der Wahl der Kräfte, Mittel und bestimmter Bedingungen eingeschränkt usw. Nach der Kombinatorik ist die Gesamtzahl der Kombinationen zu je 1, 2, 3, 4 und 5 aus 5 Elementen gleich 31. Davon interessieren uns hier zwei, die offensichtlich grundlegenden Charakter tragen: — Optimierung der Verfahren zur Verknüpfung, Umverteilung und Nutzung oder Funktion eines gegebenen Komplexes von gleichartigen und ungleichartigen Elementen und der Operationen, um bei gestellter Aufgabe und gegebenen Bedingungen den maximalen Effekt bei minimalen Aufwendungen zu erreichen. — Bestimmung des minimal notwendigen Komplexes der gleichen Elemente und Operationen, um eine gegebene Aufgabe unter bestimmten Bedingungen zu erfüllen. In der konkreten Wirklichkeit müssen beide Aufgaben sowie ihre Derivate für alle Gebiete der gesellschaftlichen Tätigkeit gelöst werden - für die Volkswirtschaft mit allen ihren Zweigen, die Kultur usw. Mit der Methodologie zur Lösung solcher Aufgaben muß sich jedoch im wesentlichen die Operationsforschung befassen. Die Lösung praktischer Aufgaben auf der Grundlage dieser Methodologie erfolgt dann in den entsprechenden konkreten angewandten Wissensgebieten. Die Operationsforschung bildet also nicht nur einen Teil der Kybernetik, sondern auch einen Teil der allgemeinen Organisationswissenschaft. Es fragt sich nun, ob es überhaupt ein konkretes Maß der Organisation 9«

131

geben kann. Die tägliche Erfahrung lehrt jedoch, daß sich der Grad der Organisation ändert, daß er zu- oder abnehmen kann; deshalb muß es offenbar möglich sein, diesen Grad der Organisation, den Grad der Anpassung an eine Aufgabe unabhängig von deren Charakter irgendwie zu messen. Die Erfahrung lehrt auch, daß dieser Grad von Null (beispielsweise die Brownsche Bewegung) bis zu einem Maximum variiert; es wäre wahrscheinlich möglich und vorteilhaft, dieses Maximum mit Eins zu bezeichnen. Ohne die Umstände der quantitativen Zu- und Abnahme der Organisation bestimmter Systeme im Ergebnis der Wechselwirkung mit der äußeren Umgebung zu berühren, wollen wir nun versuchen, die Möglichkeiten zur Messung des Organisationsgrades bei geschlossenen Systemen in allgemeiner Form zu analysieren. 4. Gegeben sei ein geschlossenes System. Seine Organisation kann relativ zur maximalen Desorganisation bestimmt werden, seine Ordnung relativ zur maximalen Unordnung, seine Bestimmtheit relativ zur maximalen Unbestimmtheit usw. Den Organisationsgrad werden wir, wie bereits gesagt, durch eine Zahl zwischen Null und Eins ausdrücken. Diesen Bedingungen genügt die Redundanz des untersuchten Systems, die wir als grundlegendes, primäres organisatorisches Kriterium für die Funktionsqualität /?j (t) heranziehen, welche den Ordnungsgrad des Systems bestimmt: (o =

V H(t) (i) " max H (t) — Entropie des betrachteten Systems im Moment t H m a x — maximale Entropie des Systems Aus (1) ergeben sich die Extremfälle: H

m

H (t) = #max H(t) = 0

Rl (t) = 0 i?t (HP(t)

Daraus folgt unter Benutzung von (1) unmittelbar: Hl p(t)

H

_

max

H (t)

P >1 •ßl T W fimax — H ? (t) Der Organisationsgrad der Militärabteilung wird also bedeutend größer sein als der der unorganisierten Ansammlung. 5. Indem es funktioniert, verändert sich ein System mit der Zeit. Dabei sind hinsichtlich seiner Entropie drei Fälle der Veränderung eines Systems möglich : die Entropie nimmt ab, bleibt unverändert oder nimmt zu. Entsprechend bestimmt das zweite Organisationskriterium für die Funktionsqualität Ä2 (i) die Richtung und die Geschwindigkeit des Funktionierens eines Systems:

* ( < ) = - £

(2)

7

Nach G. Förster nennen wir die Systeme bei R2 (t) < 0 selbstorganisierende, bei R2 ( 0 thermodynamische. Durch Differentiation von (1) kann man die beiden eingeführten Kriterien verbinden : dBt

_

B2(t)

dt

H max.

oder =

(4)

Aus (3) folgt, daß für den Begriff „Zunahme der Organisation" eines selbstorganisierenden Systems ein Antipode existiert - die „Zunahme der Desorganisation" eines thermodynamischen Systems; daraus ergibt sich, daß der Grad der Zunahme der Organisation zweier Systeme x und y gleich ist, wenn gilt: ¿ff, max

dH, m,xx

y dt

dt

6. Zur weiteren Untersuchung eines Systems ist es zweckmäßig, für die Funktionsqualität ein drittes Organisationskriterium R3 (t) einzuführen, das die absolute Organisation eines Systems ausdrückt: R3(t)

= H

i a

„ - H ( t )

(5)

Unter Berücksichtigung von (1) : n 3 (0 = H m i x R l (t) ' G. Förster, Über selbstorganisierende Systeme und ihre Umgebung. organisierende Systeme, Moskau 1964, S. 114 (russ.).

(6) Selbst-

133

Auf dieser Grundlage können wir eine quantitative Beschreibung für die erwähnte grundlegende Eigenschaft der Organisation vorschlagen. Gegeben seien zwei abhängige Systeme, die durch ihre Zustände x und y charakterisiert werden (x = 1,2, m; y = 1,2, n). Dann beträgt die maximale Entropie jedes der Systeme: #max* Hmaxy

—Kirim =

Kinn

Die Gesamtentropie beider Systeme beträgt: oder

#ma **r =

Klnm-n

^maJLxy ^max* + ^moxy Wir drücken nun R3x (i), Riy (i) und Ra (i) gemäß (5) aus und setzen sie in die von Shannon® angegebene Ungleichung ein: Hzy ( t ) ^ H x ( t ) + B y ( t )

Wenn wir die ähnlichen Glieder kürzen und mit —1 multiplizieren, dann erhalten wir nach (7) die genannte Eigenschaft der Organisation: R3xy(t)^R3x(t)

+ JR3y(t)

(8)

Die absolute Organisation eines Systems ist größer als die algebraische Summe der absoluten Organisation seiner Teile. Gleichheit ist in (8) nur dann möglich, wenn x und y unabhängig sind. 7. Wenn man weiter berücksichtigt, daß sich jedes System unter dem Einfluß zweier einander ergänzender gegensätzlicher Faktoren (des organisierenden und des desorganisierenden) ändert, und wenn man diese Faktoren als „Signal" und „Rauschen" interpretiert, dann kann man annehmen, daß die Definition des Begriffes „Organisation" durch die Entropie um so fruchtbarer ist, als in diesem Fall viele Eigenschaften der Organisation auch weiterhin mit Hilfe des recht entwickelten Apparates der Informationstheorie untersucht werden können. 8

K. Shannon, Mathematische Theorie der Kommunikation. Arbeiten zur Informationstheorie und Kybernetik, Moskau 1963, S. 262 (russ.).

A . A . MALINOWSKI

Einige Fragen der Organisation biologischer Systeme

DJfe Untersuchung der allgemeinen Prinzipien der Organisation biologischer Systeme im heutigen Sinne des Wortes beginnt erst. In dieser Beziehung ist in der Biologie noch verhältnismäßig wenig getan worden. Nur in einer Reihe einfachster Fälle ist es bereits möglich, bestimmte Verallgemeinerungen zu geben. Bevor wir aber hierzu kommen, wollen wir auf den Begriff der Organisation in Anwendung auf biologische Systeme eingehen. In letzter Zeit wird der Begriff der Organisation in der Biologie häufig mit dem Begriff der Ordnung identifiziert. Vom rein biologischen Standpunkt ist das jedoch nicht sehr rationell. Der Terminus „Ordnung" oder „strukturelle Negentropie" bedeutet nur eine gewisse Abweichung von der wahrscheinlichsten Zufallsverteilung der Elemente, cie zu einem organisierten Ganzen gehören. Diese Ordnung ist unter biologischem Aspekt aber nur eine notwendige, keineswegs eine hinreichende Bedingung für die Organisiertheit eines Systems. Ein organisiertes biologisches System ist notwendig auch durch die Vollkommenheit gekennzeichnet, mit der es seine Funktionen erfüllt. Deshalb muß man zur Einschätzung der Organisiertheit eines Systems neben dem Grad der Ordnung seiner Elemente auch noch den der Aufgabe adäquaten Charakter der Ordnung und schließlich den mittels der Organisation erreichten Anpassungse^e&t (funktionellen Effekt) heranziehen. Dabei ist es durchaus möglich, daß in bestimmten Fällen die höhere Organisiertheit eines Systems nicht bei einem maximalen, sondern bei einem bestimmten optimalen Ordnungsgrad erreicht wird, während eine (in dieser Richtung) maximale Ordnung bereits die Erfüllung der Funktionen beeinträchtigt. Mitunter wird der Organisationsgrad oberhalb einer bestimmten Grenze sogar fast gleichgültig. Um diesen Gedanken zu erläutern, wollen wir ein einfaches Beispiel anführen, das nicht aus der Biologie entnommen ist. Wenn wir eine Mauer mit einer Stärke von zwei Ziegeln bauen, dann stellen wir eine bestimmte Ordnung der Ziegel her. Dabei sind zwei Fälle möglich. Im ersten fallen die Lücken zwischen den Ziegeln der ersten Reihe mit den Lücken zwischen den Ziegeln der zweiten Reihe zusammen. Im zweiten Fall tritt ein solches Zusammenfallen nicht ein, und die Lücken zwischen den Ziegeln der ersten

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Reihe liegen an den Seitenflächen der Ziegel der zweiten Reihe. Offensichtlich ist der Ordnungsgrad im ersten Fall höher, denn als Zufallsergebnis sind am ehesten Verhältnisse des zweiten Typs zu erwarten. 1 Trotzdem wird, wenn der Mörtel die Ziegel weniger fest verbindet, als die Teilchen eines Ziegels verbunden sind, die Mauer des zweiten Typs wesentlich haltbarer sein, d. h. der gestellten Aufgabe besser entsprechen. Hier geht es um eine vom Menschen gestellte Aufgabe. In biologischen Systemen treffen wir auf eine ähnliche Situation, obwohl die „Aufgabe" hier von der Natur selbst gestellt wird und in der Regel die Herstellung jener Funktionsweise des Systems fordert, die das Überleben des Individuums oder der Art am vollständigsten sichert. Zum Begriff der Organisiertheit biologischer Systeme gehört also außer dem Ordnungsgrad als notwendiger Bestandteil der Grad der Steigerung einer bestimmten Funktion einschließlich der Entstehung völlig neuer Funktionen. Während wir bei der Abschätzung der Ordnung abstrakt vorgehen, unabhängig von Typ und Effekt, müssen wir die Organisiertheit eines biologischen Systems konkret untersuchen, in bezug auf die Vervollkommnung irgendeiner bestimmten Funktion. Ein in einer Beziehung hochorganisiertes System kann in einer anderen Beziehung gering organisiert sein.2 Der Begriff der Organisation ist folglich nicht mit dem der Ordnung identisch: organisierte Systeme sind ein Spezialfall der geordneten, Organisiertheit ist ein engerer Begriff als Ordnung. Die Organisiertheit charakterisiert ein System nicht notwendig total, sondern kann es auch in irgendeiner bestimmten Beziehung kennzeichnen. Beispielsweise kann ein bezüglich der Fortbewegungsfunktion hochorganisiertes Tier in Hinblick auf den direkten Kampf mit Raubtieren wenig organisiert sein. Das Maß der Ordnung sagt nichts über ihre Richtung aus. Organisation setzt jedoch immer eine mehr oder minder bestimmte, wenn auch mitunter recht breite Gerichtetheit voraus. Während wir den Ordnungsgrad heute in der Regel schon durch ein bestimmtes quantitatives Maß ausdrücken können, gibt es für den Grad der Organisiertheit bisher noch keinen allgemein anerkannten quantitativen Ausdruck. Andererseits werden unter den organisierten Systemen bereits funktionell verschiedene Kategorien unterschieden. In gewisser Näherung 3 kann man 1

2

3

Dazu gehört eine ganze Serie von verschiedenen großen Verschiebungen der ersten Reihe gegenüber der zweiten, die sich voneinander in ihrer Haltbarkeit nicht sehr unterscheiden, aber stets den ersten Fall übertreffen. In jedem konkreten Fall muß man stets auch die Ordnung konkret einschätzen. (Anmerkung der sowjetischen Redaktion) Auch in jedem steuernden System kann man „ausführende" Elemente feststellen, und in einem „ausführenden" System gibt es in vielen Fällen Elemente, die in gewissem Maße eine steuernde Rolle spielen.

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die organisierten Systeme speziell in steuernde, ausführende und selbständige (wie z. B. ein ganzer Organismus) einteilen. Die selbständigen Systeme vereinigen als einzelne Glieder steuernde und ausführende Untersysteme. Mit anderen Worten, in der Biologie sind die steuernden Systeme ein Spezialfall der organisierten Systeme. Der Begriff des organisierten Systems ist umfassender als der des steuernden Systems. Wenn wir von geordneten zu organisierten und weiter zu steuernden Systemen voranschreiten, gehen wir von allgemeinen Fällen zu spezielleren über. Die Untersuchung der Organisationsformen in der Biologie überschreitet deshalb den Rahmen des Studiums der steuernden Systeme und erstreckt sich notwendig auf alle Typen der Organisation. In biologischen Systemen wäre wegen der Kompliziertheit und Vielfalt der Wechselbeziehungen die gesonderte Untersuchung der steuernden Systeme überdies sehr erschwert. In bestimmten Fällen treten Systeme ein und desselben Typs hier bald als steuernde, b$ld als ausführende auf, und die Grenzen zwischen ihnen verwischen sich. Andererseits hat eine so umfassende Betrachtungsweise des Problems, die nicht nur steuernde Systeme, sondern auch andere berücksichtigt, auch methodische Vorteile. Insbesondere wird die Möglichkeit vergleichender Untersuchungen erweitert. Das sei an einer aus der Biologie selbst entnommenen Analogie erläutert. Die Grundrichtung der Entwicklung ist die progressive Evolution, und für den Biologen ist sie auch die interessanteste Richtung. Würden wir uns nun aber darauf beschränken, nur die progressive Evolution zu untersuchen, und die Fälle von Regreß ignorieren, so würden wir zweifellos wesentlich weniger über die progressive Evolution selbst erfahren, denn wir könnten die Wege, auf denen sie in Sackgassen führt, und die Bedingungen, die mitunter den Regreß aufhalten und der Art erneut eine progressive Entwicklung sichern können, nicht vollständig genug berücksichtigen. Wenn wir die Organisationsformen lebender Systeme von den dargestellten Positionen aus betrachten, dann müssen wir als eine der Grundfragen das Problem behandeln, wie eine bestimmte Funktion durch die Struktur eines Systems gewährleistet wird oder welche Gesetzmäßigkeiten für jeden Systemtyp charakteristisch sind. Dabei sind wir bestrebt, nach Möglichkeit solche Formen zu untersuchen, die verschiedenen Systemebenen von den primitivsten bis zu den höchsten gemeinsam sind. Deshalb werden wir nicht auf die weitgehend erforschten spezifischen Organisationsformen des Zentralnervensystems eingehen, deren moderne Auffassung von Setschenow und Pawlow begründet worden ist. Diese höchsten Typen von Systemen eines Organismus berühren wir nur deshalb, weil auch in ihnen solche Grundformen der Systemorganisation wie beispielsweise die diskrete Organisation in Erscheinung treten, die auf allen biologischen Stufen festzustellen sind. Wir werden auch die klassischen Vorstellun137

gen von Bernard, Barcroft 4 und anderen nur beiläufig erwähnen, weil sie in der Literatur bereits dargestellt sind. 5 Wenn wir die verbreitetsten biologischen Systeme in sehr allgemeiner Form klassifizieren, so können wir zwei einfache Extremfälle hervorheben - die diskreten oder korpuskularen und die starr fixierten Systeme.6 Zum ersten Typ gehören Systeme aus Einheiten gleicher Art, die einander mehr oder minder ersetzen können. Das sind Individuen gleicher Art und gleichen Geschlechts oder Zellen des gleichen Gewebes, z. B. rote Blutkörperchen oder Zellen des Hautepithels. Dazu gehören auch allelomorphe (gepaarte) Gene und, mit gewissen Einschränkungen, mehrfach auftretende Organe in einem Organismus, zum Beispiel Finger an den Händen, Zähne, gleichartige Läppchen in der Leber usw. Dieser Systemtyp ähnelt jenen Systemen in der anorganischen Natur, in denen im Gegensatz zu den streng organisierten mechanischen Systemen .statistische Gesetzmäßigkeiten gelten. Dieser Unterschied ist bereits mehrfach vermerkt worden, insbesondere von Schrödinger. 7 Ihn hat hier allerdings stärker die energetische Seite interessiert: die gesetzmäßige Zunahme der Entropie in statistischen Systemen (z. B. in einem Gas oder einer Flüssigkeit, die aus sich ungeordnet bewegenden Molekülen bestehen) und die theoretisch mögliche Bewegung fast ohne Entropiezunahme in einem ideal konstruierten „mechanischen" System (Planetensystem, ideale Uhren ohne Reibung usw.). Uns interessieren umgekehrt in den betrachteten Systemen nicht die energetischen, sondern die Organisationsbesonderheiten. Solche Systeme bestehen in reiner Form aus Einheiten, die praktisch nicht miteinander verbunden sind (Individuen einer Art von Pflanzen oder Tieren, rote Blutkörperchen im Blutstrom) . Diese Systeme vereinigt die gleichartige Beziehung zur Umgebung, die sie zwingt, sich ähnlich zu verhalten, auch ohne direkte Beziehung miteinander. Ein anschauliches Beispiel solcher Systeme in der nichtlebenden Natur bildet die Bewegung einzelner Sandkörnchen in einem Fluß, die zwar 4

J

6

7

/ . Barcroft, Features in the architecture of physiological functions, Cambridge 1934. A. Dorn, Das Prinzip des Funktionswechsels, Moskau 1937 (russ.); F. Müller/ E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1872; I. I. Schmalhausen, Der Organismus als Ganzes in der individuellen und historischen Entwicklung, Moskau 1938 (russ.). A. A. Ljapunow, Über Steuersysteme in den Organismen und die allgemeine Auffassung ülter Lebensprozesse, in: Probleme der Kybernetik, Bd. 7, Berlin 1966; A. A. Malinowski, Typen biologischer Steuersysteme und ihre Anwendungsmöglichkeiten, in: Probleme der Kybernetik, Bd. 4, Berlin 1964; A. A. Malinowski, Die Bedeutung der qualitativen Untersuchung von Steuersystemen für die theoretische Biologie, in: Die Anwendung mathematischer Methoden in der Biologie, Bd. 3, Leningrad 1964 (russ.). E. Schrödinger, Was ist Leben?, München 1951.

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nicht miteiander verbunden sind, aber infolge ihrer Ähnlichkeit in Gestalt und Gewicht trotzdem am gleichen Ort abgelagert werden und mächtige Anschwemmungen in Form von Sandbänken und Landzungen bilden können. In der lebenden Natur sind, wie bereits aus den angeführten Beispielen ersichtlich, solche Systeme sehr verbreitet. Die Vereinigung einer Vielzahl von Einheiten gleichen Typs zu einem derartigen System erhöht an und für sich das Niveau ihrer gemeinsamen Organisation im Vergleich mit einer einzelnen Einheit in der Regel nur wenig. In bestimmten Fällen kann ein solches System fast als einfache Summe seiner Einheiten betrachtet werden (Individuen einer Art Erythrozyten usw.). Mitunter ist es jedoch von größerem Anpassungswert. Solche Systeme zeichnen sich durch hohe Plastizität aus. Die Einheiten, aus denen sie bestehen, sind voneinander relativ unabhängig und beweglich. Deshalb sind sie unter dem Einfluß äußerer Faktoren zu verschiedenartigen Verschiebungen und Kombinationen in der Lage. Ein Beispiel dafür ist die passive mechanische Vorwärtsbewegung der Elemente des Blutes durch die Gefäße. Die Individuen einer Art, die sich selbständig ausbreiten, .besetzen sehr komplizierte Areale. Bei der geschlechtlichen Vermehrung können sich Individuen mit verschiedenartigen Merkmalen in verschiedenen Kombinationen kreuzen, so daß unabhängig voneinander entstandene nützliche Merkmale vereinigt werden. Im Vererbungssystem ist jeder neue nützliche Erbfaktor imstande, einen alten zu verdrängen und sich frei mit anderen Faktoren zu kombinieren, die andere Merkmale bestimmen. So kann es für Tiere wie den weißen und den blauen Polarfuchs beim Vordringen nach dem Norden vorteilhaft sein, eine dunklere Färbung durch eine weiße zu ersetzen, ohne die anderen äußeren Merkmale wesentlich zu verändern. Mit der Freiheit des Kombinierens kann man auch viele Besonderheiten der Erbmechanismen erklären, die wegen ihrer für biologische Objekte unverständlichen Einfachheit und Detailliertheit bisweilen Befremden erweckt haben, so die offene lineare Anordnung der Gene im Chromosom, die ihre maximal freie Kombination gewährleistet, wie Berechnungen gezeigt haben, den relativ engen Einfluß der meisten Erbfaktoren auf ein Merkmal oder eine kleinere Gruppe von Merkmalen, den geringen Grad ihrer Wechselwirkung usw. s Hier sind scheinbare Einfachheit und „korpus8

.4. A. Malinowski, Die Rolle genetischer und phänogenetischer Erscheinungen in der Evolution einer Art. I. Pleiotropie, in: Isw. AN SSSR, ser. biol.. 1939; A. A. Malinowski, Die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung im Lichte der Darwinschen Lehre von der Selektion, in: Usp. sowr. biol., 1941, H. I; A. A. Malinowski, Die Vereinigung nützlicher Merkmale im Prozeß der natürlichen Auslese, in: Referate der Arbeiten der Abteilung für biologische Wissenschaften bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR von 1941 bis 1943, Moskau 1945 (russ.); A. A. Malinowski, Typen biologischer Steuersysteme und ihre Anwendungsmöglichkeiten, a. a. O.

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kularer" Charakter mindestens teilweise sekundär erreicht worden, weil nur sie die leichte Trennung und Kombination der Merkmale und den größten Effekt der natürlichen Auslese sichern. Eine analoge Evolution der lebenden Systeme vom geometrisch Komplizierten zum Einfachen kann man beispielsweise bei den Bewegungsorganen feststellen. So ist die Bewegung eines Wurmes sehr kompliziert, aber die progressive Evolution überführt die Bewegungsorgane in das einfachere, wenn auch nicht korpuskulare System hebelartiger Extremitäten bei höherentwickelten Formen (Wirbeltiere, Gliederfüßler). Diese mechanische „Einfachheit" ist unter beträchtlichen Schwierigkeiten entstanden, aber sie gewährleistete eine vollkommenere Anpassung der Tiere und wurde erst im Verlaufe einer langen natürlichen Selektion erreicht. Einen ebenso komplizierten Weg wie die Erbmechanismen hat auch ein anderes korpuskulares System zurückgelegt - das System der einfachen reflektorischen Reaktionen. Einige Wissenschaftler aus anderen Ländern haben die Lehre von Pawlow kritisiert, weil sie den Mechanismus des Verhaltens übermäßig vereinfache. Die Vorstellung von einem korpuskularen System des Verhaltens, das aus einzelnen gut voneinander abgegrenzten unbedingten und bedingten Reaktionen zusammengesetzt ist, wurde Pawlow direkt zum Vorwurf gemacht. Koghill 9 hat experimentell gezeigt, daß das Verhalten von Amphibienlarven in frühen Entwicklungsstadien nicht in einzelne Reaktionen zerfällt, sondern undifferenzierten Charakter trägt. Auf dieser Basis zog Koghill den unrichtigen Schluß, daß der gleiche Reaktionstyp auch bei erwachsenen, entwickelten Individuen der grundlegende ist. Die angeführte Tatsache verweist jedoch nur auf den Entwicklungsweg von einer zusammenhängenden Reaktion zu einem Verhalten, das aus korpuskularen Reaktionen zusammengesetzt ist, wie zum Beispiel auch die Entwicklung des Organismus aus einer Zelle (befruchtetes Ei) nichts an der Tatsache seiner komplizierten Zellstruktur in erwachsenem Zustand ändert. Übrigens ist der korpuskulare Charakter vielleicht nicht der wichtigste, aber doch ein wesentlicher Vorteil des vielzelligen Aufbaus. Er ermöglicht die Verlagerung von Zellen im Verlauf der Embryonalentwicklung und in verschiedenen Prozessen beim erwachsenen Organismus, und er gestattet auch, absterbende Zellen (Hornepithel, Blutzellen, geschädigte oder überalterte Zellen verschiedener Gewebe usw.) so zu beseitigen, daß sich das nicht auf das Schicksal der anderen Zellen auswirkt, die nicht nur unbeschädigt erhalten bleiben, sondern auch die abgestorbenen Zellen ersetzen. Das erfolgt gesetzmäßig auch im Prozeß der Embryonalentwicklung. 10 Alle absterbenden Zellen werden so beseitigt, daß die ungünstige Auswirkung auf die anderen Zellen minimal wird. 9

10

/ . E. Koghill, Die Anatomie und das Problem des Verhaltens, Moskau 1934 (russ.). G. W. LopaschowfO. G. Strojewa, Die Entwicklung des Auges im Lichte experimenteller Untersuchungen, Moskau 1963 (russ.).

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Im ganzen kann man sagen, daß der korpuskulare Bau von Systemen die Kombination und die Prozesse der Selektion in ihnen erleichtert. Auf diesen Umstand halte schon Timirjasew hingewiesen. Er betonte, daß die Unabhängigkeit der Merkmale voneinander (sie lösen sich bei Kreuzung nicht auf) die Grundlage für eine erfolgreiche natürliche Selektion bildet und den Einwand gegen die-Theorie der natürlichen Selektion widerlegt, den Darwin als den gefährlichsten angesehen h a t t e W i e wir sehen, gilt das gleiche auch für die meisten anderen Besonderheiten der genetischen Mechanismen. Andererseits wird zum Problem des Verhaltens und des Denkens in den Arbeiten zeitgenössischer Kybernetiker betont, daß man „als vernünftig ein System betrachten muß, das befähigt ist, eine adäquate Auswahl zu vollziehen" 12 . Allerdings hat bereits Timirjasew die Frage nach der Einheit der Mechanismen des geistigen Schaffens des Menschen und des unbewußten Schaffens der Natur aufgeworfen. Dabei führte er beide auf Prozesse des überschüssigen Entstehens neuer Formen (Organismen, Ideen) und ihrer nachfolgenden strengen Selektion zurück. 13 Während also die Kritiker der Genetik und die Kritiker Pawlows den korpuskularen Aufbau dieser Systeme hervorhoben, betonten andere Autoren, daß gerade die Wirkungsmechanismen dieser Systeme mit den Selektionsprozessen verbunden sind. Weiter oben haben wir bereits gezeigt, daß diese Übereinstimmung nicht zufällig ist und daß der Anpassungswert von Systemen solcher Struktur — sei es nun das System einer Art selbst, das System ihrer genetischen Mechanismen oder das System der Funktionen des Zentralnervensystems — gleichermaßen in ihrer Elastizität besteht, in der Fähigkeit zur Kombination der einzelnen Einheiten des Systems und zur Selektion sowohl einzelner Einheiten als auch ihrer Kombinationen. Im Ergebnis dessen sind die betrachteten Systeme in der Lage, sich den verschiedensten äußeren Bedingungen adäquat anzupassen. Bildhaft ausgedrückt: Sie bestehen aus einer Menge einzelner Bausteine, aus denen zeitweilige oder dauernde Gebäude von beliebiger Architektur errichtet werden können, was natürlich für monolithische Systeme, in denen die Einheiten und Komponenten starr miteinander verbunden sind, nicht möglich ist. Dabei können die Faktoren, die solche Systeme umbauen, sowohl mit den äußeren Bedingungen als auch mit hochorganisiertcn integrierenden Mecha11

12

13

K. A. Timirjasew, Charles Darwin, in: Erinnerungen an Darwin, Moskau 1910 (russ.). W. R. Ashby, Was ist eine denkende Maschine?, in: Sarubeshnaja elektronika, 1962, Nr. 3. Hier spricht Ashby natürlich nur von einer Seite der Frage, von einer notwendigen Bedingung, die die ganze Kompliziertheit des Gegenstandes noch nicht erschöpft und für eine vollständige Definition der Verstandestätigkeit nicht ausreicht. K. A. Timirjasew, Die historische Biologie und der ökonomische Materialismus in der Geschichte. Die historische Methode in der Biologie, Moskau 1922 (russ.).

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nismen des Organismus selbst verknüpft sein. Der Genotyp einer Art formiert sich durch Selektion, die im Grunde von Faktoren des äußeren Milieus bewirkt wird. Auch eine Kombination von Verhaltensreaktionen kann durch die Kombination der sie hervorrufenden äußeren Faktoren erzeugt werden. 14 In anderen Fällen ist die Architektur des Verhaltens, zu der die genannten Reaktionen gehören, jedoch durch bestimmte höhere Integrationsfaktoren im Zentralnervensystem bedingt. Mitunter liegt also eine spontane Auswahl vom Typ der natürlichen Selektion vor, mitunter dagegen eine Auswahl, die im Organismus selbst erfolgt, aber nicht spontan, sondern auf der Grundlage von Mechanismen, die im Prozeß einer langen Evolution ausgearbeitet worden sind (Auswahl von Reaktionen, Aussonderung von überalterten und defekten Zellen usw.). Die korpuskularen Systeme gewährleisten stets gleichermaßen eine unökonomische, aber elastische Anpassung an ungerichtete, vorher nicht prognostizierbare Veränderungen des Milieus, einerlei, ob sie in der Evolution einer Art, im individuellen Verhalten usw. wirken. Der entgegengesetzte Grenzfall unter den Systemen zeichnet sich durch starr fixierte Kopplungen der Glieder aus, wobei Existenz oder Funktion eines jeden von ihnen notwendige Bedingung für das Funktionieren des ganzen Systems ist. Von dieser Art sind zum Beispiel die aufeinanderfolgenden Etappen in der Embryonalentwicklung des Auges, wo sich aus der primären Nervenplatte der Augenbecher und später die Netzhaut entwickelt, die ihrerseits die Entwicklung der Augenlinse induziert usw. Dazu gehören auch die beiden einander ergänzenden Geschlechter in einer Population, von denen jedes eine notwendige Funktion erfüllt, die bei höheren Tieren nicht von Individuen des anderen Geschlechts übernommen werden kann (bei niederen Tieren sind Fälle einer parthenogenetischen Entwicklung möglich). Zu diesem Typ rechnet auch die Wechselbeziehung der verschiedenen Systeme des Organismus, zum Beispiel des Blutkreislaufs und des Verdauungssystems. Jedes von ihnen ist notwendig und kann nicht durch ein anderes ersetzt werden. Natürlich sprechen wir hier von starren Kopplungen nicht in mechanischem Sinne, sondern in Hinblick auf die Organisation. Sokönnen Individuen verschiedenen Geschlechts ohne Schaden für sie selbst leicht räumlich voneinander getrennt werden. Das starre System der Vermehrung, das die Funktion beider Geschlechter voraussetzt, wird dadurch aber vollständig zerstört. Die starr fixierten Systeme haben vielfältigere Formen und Strukturen als die korpuskularen. Gemeinsam ist ihnen nur die Starrheit der Kopplungen. Dabei können viele Arten von Strukturen dieses Typs das Organisationsniveau des Systems im Vergleich mit seinen einzelnen Gliedern 14

Die Zweckmäßigkeit dieser einfachen Kombinationen ist dadurch bedingt, daß schon jede Reaktion im einzelnen zweckmäßigen Charakter trägt, der in vergangenen Epochen durch natürliche Auslese ganzer Organismen erreicht worden, ist.

142

außerordentlich stark erhöhen. Bekannt sind die lichtempfindlichen Organe niederer Tiere, die keine Linse oder ähnliche Vorrichtungen (Diaphragmen oder zahlreiche orientierte Facetten) besitzen, welche ein deutliches Wahrnehmungsbild der umgebenden Gegenstände ermöglichen. Solche primitiven Organe liefern sehr wenig Information im Vergleich mit dem Auge, bei dem die Netzhaut durch lichtbrechende Medien ergänzt ist und ein genau geformtes Bild aufnehmen kann. Zugleich ist aber der lichtbrechende Apparat ohne den lichtempfindlichen vollkommen nutzlos. In der Regel sind solche in bestimmten Beziehungen hochorganisierten und ökonomischen Systeme jedoch sehr viel weniger elastisch und zum Umbau befähigt als die korpuskularen Systeme. Im Fall vollständiger Starrheit der Kopplungen bestimmt sich die Effektivität der betrachteten Systeme nach dem „Prinzip vom Minimum", das der deutsche Chemiker Liebig seinerzeit für die Pflanzen formuliert hatte. Danach hängt das Wachstum einer Pflanze direkt vom Quantum desjenigen ihrer notwendigen Nährstoffe ab, der im Boden besonders wenig enthalten ist. Später erwies sich, daß dieses Prinzip in Anwendung auf die Pflanzen gewisser Präzisierungen bedarf. 15 Dieses Prinzip ist jedoch auch in anderen, sehr verschiedenartigen Fällen anwendbar. Gebräuchliche Beispiele sind, daß die Festigkeit einer Kette von ihrem schwächsten Glied abhängt, daß die Geschwindigkeit eines Geschwaders (sofern die Schiffe nicht in Schlepp genommen werden) vom Tempo des langsamsten Schiffes bestimmt wird usw. In lebenden Systemen hängt der Gesamtverlauf des Stoffwechsels wesentlich vom schwächsten Glied ab. Das schwächste Glied kann dabei das Verdauungssystem als Grundlage für den Stoffwechsel im Organismus, das Ausscheidungssystem, das Atmungssystem oder irgendein anderes Zwischenglied sein. Noch besser kann man das an den Ketten chemischer Umwandlungen veranschaulichen, wo der Ausfall auch nur eines einzigen notwendigen Ferments durch Mutation die ganze Kette unwirksam macht. Ein Beispiel ist die Störung der Pigmentbildung beim Albinismus. 16 Einige Autoren, in erster Linie Bogdanow 17 , haben die Ansicht vertreten, das Prinzip des Minimums sei auf allen Gebieten unseres Wissens universell anwendbar. Andererseits nahmen verschiedene Kritiker (besonders ausführlich Kolbanowski 18 ) an, dieses Prinzip treffe auf nichtlebende Systeme vollständig, auf biologische Systeme unvollständig und auf soziale Systeme überhaupt nicht zu. 15

10 17

18

A. G. Kirsanow, Die Theorie von Mitscherlich, Moskau - Leningrad 1930 (russ.). W. P. Efroimson, Einführung in die medizinische Genetik, Moskau 1964 (russ.). A. A. Bogdanow, Allgemeine Organisationswissenschaft (Tektologie) Bd. I, Moskau 1925 3 , Bd. II, Moskau 1927», Bd. III, Moskau 1929 2 (russ.). W. N. Kolbanowski, Über einige strittige Fragen der Kybernetik-Philosophische Fragen der Kybernetik, Moskau 1961 (russ.).

14a

In de* Tat kann man kein unbeschränkt gültiges „Prinzip vom Minimum" annehmen. Weiter oben haben wir den korpuskularen Systemtyp analysiert, und es ist ganz offensichtlich, daß hier auch der vollständige Ausfall einer Einheit aus einem solchen System keineswegs zu seiner vollständigen Zerstörung oder zum Verlust seiner Funktion führt. Das System verkleinert sich lediglich unbedeutend - eine Art um ein Individuum, Blut um eine Blutzelle usw. Deshalb kann man das „Prinzip vom Minimum" nicht auf korpuskulare Systeme anwenden. In dieser Beziehung ist es auch nicht universell. Nur auf absolut starre Systeme ist es vollständig anwendbar. Gleichzeitig kann man aber der Ansicht von Kolbanowski, dieses Prinzip treffe auf biologische Systeme nur unvollständig und auf soziale Systeme überhaupt nicht zu, nicht zustimmen. In biologischen Systemen wird, wie wir gesehen haben, die Anwendbarkeit dieses Prinzips nicht dadurch bestimmt, daß es sich um lebende Systeme handelt, sondern hängt davon ab, ob das System starr fixiert oder korpuskular ist. Ebenso verhält es sich offensichtlich auch in sozialen Systemen. Das Prinzip vom „schwächsten Glied" ist nicht anwendbar, wenn ein System nicht starr ist, dagegen ist es gültig, wenn das System zum Typ der starren Systeme im oben beschriebenen Sinne gehört. Es sei zum Beispiel daran erinnert, daß es Lenin durchaus für möglich hielt, dieses Prinzip auf die Frage eines Blocks von Parteien anzuwenden. Ein kleiner Artikel, den Lenin 1917 zu diesem Thema schrieb, trägt sogar den Titel „Die Stärke einer Kette wird durch die Stärke ihres schwächsten Gliedes bestimmt" i 9 . Man könnte noch weitere Beispiele' ähnlicher Art anführen, aber das Gesagte genügt bereits, um zu zeigen, daß das Problem hier nicht im Anwendungsbereich des Prinzips besteht, sondern im Charakter der Systeme. Dieses Prinzip gilt auch für soziale Systeme, wenn auch nicht in allen Fällen. Wir können also sagen, daß die Universalität des Selektionsprinzips und des „Prinzips vom Minimum" keineswegs absolut ist. Insofern sind die Kritiker dieser Prinzipien im Recht. Sie haben aber unrecht, wenn sie den Anwendungsbereich dieser Prinzipien auf die Sphäre der Mechanik oder der Biologie einschränken. Es geht hier nicht um den Bereich, zu dem die untersuchte Erscheinung gehört, sondern um den Systenityp: auf bestimmte Systeme ist das Selektionsprinzip anwendbar, nicht aber das Prinzip vom Minimum (statistische oder korpuskulare Systeme). Auf andere ist das Prinzip vom Minimum anwendbar, nicht aber das Selektionsprinzip (starre Systeme). Es sind auch andere Systemtypen möglich, wobei die Anwendbarkeit der betrachteten Prinzipien unvollständig sein kann. Wir haben hier nur die einfachsten Grenzfälle untersucht. Dabei muß man jedoch berücksichtigen, daß ein und dasselbe biologische System oft in verschiedenen Beziehungen 19

W. I. Lenin, Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 522.

144

verschiedenen Typen zugerechnet werden muß. So kann man das System einer Art allgemein als ein korpuskulares System betrachten, das aus Individuen besteht. Untersuchen wir die Art aber unter dem Gesichtspunkt der Vermehrung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, dann ist sie bereits ein starres System: jedes Geschlecht ist ein notwendiges Glied, das nicht durch das andere Geschlecht ersetzt werden kann. Noch deutlicher zeigt sich das an den reflektorischen Reaktionen. Auch recht komplizierte

reflektorische

Reaktionen im Organismus können in beträchtlichem Maße kombiniert und ausgetauscht werden. Tiere sind imstande, eine bestimmte Bewegung entweder auszuführen oder durch eine andere zu ersetzen. Aber in einer Reaktionskette, die bereits auf das Erreichen bestimmter Resultate gerichtet ist (zum Beispiel Verfolgung einer Beute, Geschlechtsakt, Verteidigung gegen einen Angriff), kann schon der Ausfall einer einzigen Reaktion die Wirksamkeit der ganzen Kette zerstören. E s genügt, nur ein Glied wegzunehmen (Orientierung oder Ausmachen der Beute oder eine der Handlungen während der Verfolgung oder den Angriff auf die Beute usw.), damit alle weiteren Teile des Verhaltens ihren Sinn verlieren und das Raubtier keine Nahrung erhält. Folglich kann die Struktur ein und desselben biologischen

Systems auf

verschiedenen

Ebenen ganz unterschiedlich sein, und entsprechend sind auch die Prinzipien verschieden, die den Ablauf der Prozesse und ihre Wirksamkeit bestimmen. Vollständig ausgeprägte Systeme der beschriebenen Grenztypen bilden in der Biologie eher eine Ausnahme. Man trifft jedoch recht oft auf Formen, die ihnen so nahe stehen, daß sie die diesen Typen eigenen Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Beim Übergang von den niedrigsten Stufen an der Grenze der Molekularbiologie zu allen höheren Stufen (Zellen, Gewebe, Organismus, Art usw.) offenbart sich eine ziemlich regelmäßige -Abwechslung der einfachsten Organisationstypen von Systemen, des korpuskularen und des starren Typs. Bei haploiden 2 0 Chromosomen, bei denen ein Defekt eines Chromosoms nicht durch die Wirkung eines anderen (mit dem ersten gepaarten)

ausgeglichen

wird, zerstört in der Regel auch der Ausfall eines kleinen Abschnitts das ganze System der erblichen Steuerung der Entwicklung und führt zum Tode des Organismus. Ein System, das auf ungepaarten Chromosomen basiert, trägt starren Charakter und gehorcht dem Prinzip des „schwächsten

Gliedes".

Eine solche Situation besteht in haploiden Organismen. In diploiden Organismen trifft sie auf die ungepaarten Abschnitte der Chromosomen von Geschlechtszellen zu. In der Regel ist der Organismus jedoch davor geschützt, denn beim Übergang von der Stufe der Chromosomen zur Stufe der Zellkerne stellen wir gewöhnlich fest, daß die Chromosomen gleichen Typs mehrfach vorhanden sind, meist gepaart (Diploidie), mitunter auch in noch größerer 20

10

Die Chromosomen sind hier im Kern nur mit einem Satz vertreten, der von einem Elternteil stammt, nicht aber mit zwei Sätzen von beiden Elternteilen (letzteres ist die Regel, außer bei Geschlechtszellen). Liitko

145

Anzahl, zum Beispiel im Makronucleus der Protozoen oder bei der Polyploidie der Pflanzen und in einzelnen Geweben von Tieren. Auch das Zytoplasma einer Zelle besitzt eine Reihe sich wiederholender molekularer Strukturen und Organellen. Dabei ist die Wiederholbarkeit gleichartiger Elemente des Zytoplasmas wesentlich größer als die Wiederholbarkeit der Gene im Kern, wo sie in zwei Sätzen vertreten sind, selten in vier oder acht und nur in besonderen Fällen (Makronucleus der Einzeller) in der Größenordnung von zehn oder hundert Sätzen. Damit erklärt Astaurow 21 die hohe Beständigkeit gegenüber ionisierenden Strahlen, die das Zytoplasma im Vergleich mit dem Kern auszeichnet. Im Zellkern ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß einige von tausenden Erbfaktoren, die insgesamt in zwei (oder vier) Chromosomen vertreten sind, in allen zwei (oder vier) Repräsentanten geschädigt werden. Das kann bereits ausreichen, um den ganzen Kernapparat unwirksam zu machen. Wenn wir aber die Zelle als ein Ganzes betrachten, so bemerken wir wiederum, daß Kern und Zytoplasma zusammen ein starres System bilden, in dem der Verlust eines der genannten Glieder dazu führt, daß die Zelle entweder abstirbt oder nicht mehr vollwertig ist. In einem normalen Organismus existieren einige Typen kernloser Zellen (Erythrozyten), aber nur deshalb, weil sie hochspezialisierte Funktionen erfüllen. Ihre Aktivität als lebende Zellen sinkt ab, und sie sind unfähig zur Vermehrung und zu längerer Existenz. Trotzdem bilden die starr aufgebauten vollwertigen Zellen in einem Organismus große korpuskulare Kollektive - Gewebe, in denen in der Regel jede einzelne Zelle durch eine andere ersetzt werden kann. So sind Epithelgewebe, Bindegewebe, Knochengewebe und andere beschaffen. Sogar im Nervensystem wird die Funktion einzelner abgestorbener Zellen in gewissem Maße von anderen Zellen gleichen Typs übernommen. 22 Auf noch höherer Stufe bilden mehrere Gewebe verschiedenen Typs zusammen eine minimale Einheit, die eine spezifische Funktion besitzt. Mitunter ist das ein Organ (beispielsweise das Herz oder die Harnblase, die im Organismus einfach vertreten sind), mitunter ein Organ aus einem Organpaar (Auge, Keimdrüse), mitunter eine minimale Funktionseinheit eines Systems (ein Leberläppchen, eine Lymphdrüse usw.). 23 In einem derartigen Subsystem bildet jedes Gewebe ein notwendiges Glied, und die Leistungsfähigkeit eines jeden dieser Subsysteme 21

22

23

B. L. Astaurow, Primäre Mechanismen der biologischen Wirkung ionisierender Strahlungen, in: Trudy Moskowskogo ob-wa ispytatelej prirody, Bd. VII, Teil 3, 1963, S. 1 4 0 - 1 6 1 . Das ist natürlich nur der Fall, wenn nicht ganze große Abschnitte des Gehirns ausfallen. Diese Hervorhebung eines Subsystems aus einem System (aus der Leber, aus dem Lymphsystem) ist richtiger als die gebräuchliche Einteilung in Organe, wobei sich die Beziehung Organ mitunter auf eine nicht ersetzbare Einheit (Herz u. a.)

146

(Zahn, Auge, Leberläppchen usw.) bestimmt sich vorzugsweise nach der schwächsten Cewebekomponente. Ganze Systeme (Leber, System der optischen Analysatoren, System der Ausscheidungsorgane, Kauapparat usw.) treten als mehr oder minder korpuskulare Strukturen auf, die sich aus minimalen Funktionseinheiten oder Subsystemen gleichen Typs zusammensetzen. Hier gibt es natürlich Ausnahmen — die bereits erwähnten ungepaarten Organe, die nicht aus Subsystemen bestehen. Die Haut kann insofern als korpuskulares System betrachtet werden, als einzelne Abschnitte imstande sind, die durch Verletzung oder Verbrennung ausgefallenen Teile zu ersetzen, aber zwischen den Hautabschnitten gibt es keine Grenzen, und sie zerfallen nicht in deutlich ausgeprägte Einheiten. Im Regelfall besteht aber jedes für den Organismus notwendige System (Leber, Nieren, Sinnesorgane und viele andere) aus einzelnen in Paaren oder mehrfach auftretenden, in gewissem Grade autonomen und teilweise zu gegenseitiger Ersetzung fähigen minimalen Einheiten (Subsystemen). Ausscheidungs-, Atmungs-, Verdauungs-, Blutkreislauf-, Bewegungs-, Nervensystem und andere Systeme sind Glieder des Organismus, die einander ergänzen und nicht zu ersetzen sind. Damit ist dieser Wechsel der Systemtypen noch nicht beendet. Die Individuen gleichen Geschlechts in einer Tier- oder Pflanzenpopulation sind zahlreich vertreten und können einander ersetzen. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander haben den Charakter unersetzbarer und einander ergänzender Glieder im System der Population. Wir werden die Aufzählung der biologischen Stufen, auf denen mehr oder minder starre und annähernd korpuskulare Organisationstypen einander abwechseln, hier nicht weiter fortsetzen. Wir haben bereits hinreichend gezeigt, daß ein solcher Wechsel ungeachtet einiger Abweichungen und Ausnahmen eine im allgemeinen recht deutlich ausgeprägte Regel darstellt. Diese Aufeinanderfolge ist logisch nicht schwer zu verstehen. Die einander ergänzenden Beziehungen verschiedenartiger Glieder innerhalb eines Systems von starrem Typ sind für die Erhöhung des Organisationsniveaus und der Effektivität des Systems notwendig. Sie gewährleisten jedoch nicht die erforderliche Elastizität und Vitalität des Systems. Deshalb werden solche starren Systeme auf der folgenden Stufe einmal oder mehrfach wiederholt, wobei sie bereits als Einheiten eines korpuskularen Systems fungieren. Dadurch wird sowohl die höhere Zuverlässigkeit als auch die quantitative Elastizität der folgenden Organisationsstufe garantiert. Hochentwickelte Systeme in einem Organismus müssen in gewissem Grade Forderungen verschiedener Art genügen - Elastizität, Ökonomie und Koordination. Weil jeder einfache Systemtyp (der korpuskulare und der starre Typ) bestimmte von diesen Eibezieht, mitunter auf einen Vertreter eines Paares gleichwertiger Glieder, die ein System bilden (Nieren, Lungen), mitunter auf einen Vertreter von vielen Objekten, die in ihrer Grundeinheit vom gleichen Typ sind. 10»

147

genschaften sichert und andere automatisch ausschließt, wird eine optimale Verknüpfung durch die Aufeinanderfolge beider Typen auf benachbarten Organisationsstufen erreicht. Es ist jedoch auch noch ein anderer Weg möglich, der das korpuskulare und das starre Bauprinzip optimal vereinigt: eine Systemstruktur, die auf einer Stufe bestimmte Züge beider Typen verbindet. So ist es für die Phylogenese sehr wichtig, daß sich die evolutionäre Veränderung eines Organs nicht auf die anderen auswirkt. Zum Beispiel kann selbst eine vorteilhafte Veränderung des Augenbechers mit großer Wahrscheinlichkeit die Vollkommenheit der Linse stören, die in ihrer Entwicklung von dem sie stimulierenden Augenbecher abhängt. Eine solche Lage erschwert sehr die freie Evolution der in der individuellen Entwicklung früher auftretenden Organe. Sie evolutionieren deshalb langsamer. Daraus erklärt sich in erster Linie, daß die Wiederholung jener Stadien, die die Art in ihrer Evolution durchlaufen hat, in der individuellen Entwicklung eines einzelnen Organismus (vielleicht in zu kategorischer Form) als biogenetisches Gesetz formuliert werden konnte. 24 Andererseits besitzt die gleiche Abhängigkeit der Entwicklung der Linse vom Augenbecher auch Anpassungswert: sie gewährleistet, daß die Linse stets gerade vor dem Augenbecher entsteht, wie es für die vollwertige Entwicklung des Auges erforderlich ist. Die Forderungen einer koordinierten Entwicklung geraten hier in Widerspruch zu den Forderungen nach der evolutionären Unabhängigkeit der Organe, die die Möglichkeit der Vervollkommnung eines Organs sichern soll, ohne die Vollkommenheit eines anderen zu beeinträchtigen. Wenn die Koordination durch die Aufeinanderfolge erreicht wird, dann ist hier nur das letzte Glied evolutionär unabhängig (beispielsweise E), denn seine Veränderung wirkt sich nicht auf ein anderes Organ aus, weil kein anderes von E abhängt. Für eine vollständige evolutionäre Unabhängigkeit wäre es ideal, wenn sich jedes Organ vollkommen selbständig entwickelte. Das System wäre dann korpuskular, und bei jedem beliebigen Organ könnte eine neue Variante in den folgenden Generationen die alte ersetzen, ohne andere Organe zu beeinflussen. Ein System, das die Vorzüge beider Grenztypen (Unabhängigkeit und Koordination) absolut vereinigt, ist kaum möglich, wohl aber eine beträchtliche Annäherung an diese Situation. An anderer Stelle haben wir diese Frage ausführlicher untersucht. 25 Wir wollen hier nur erwähnen, daß dieser Effekt beim sternförmigen Systemtyp eintritt, wobei ein Organ A die Entwicklung der Organe oder Funktionen B, C, D und E direkt stimuliert. A steht dann 34

25

I. I. Schmalhausen, Der Organismus als Ganzes in der individuellen und historischen Entwicklung; A. A. Malinowski, Die Rolle genetischer und phänogenetischer Erscheinungen in der Evolution 'einer Art. I. Pleiotropie, a. a. 0 . A. A. Malinowski, Typen biologischer Steuersysteme und ihre Anwendungsmöglichkeiten, a. a. O.

148

gleichsam im Zentrum, und die übrigen Organe sind mit ihm wie die Strahlen mit einem Stern verbunden. Das ist natürlich ein Schema und darf nicht geometrisch aufgefaßt werden - der räumliche Zusammenhang kann ein ganz anderer sein. Beispielsweise ruft die weibliche Keimdrüse, der Eierstock, die endgültige Entwicklung der primären Geschlechtsmerkmale (Uterus u. a.) und die Entstehung einer Reihe sekundärer Merkmale (Brustdrüsen, erweitertes Becken, verstärktes Wachstum des Kopfhaares usw.) hervor. Das erfolgt unabhängig von der räumlichen Beziehung der aufgezählten Merkmale zu den Eierstöcken. Ähnlich stimuliert die Schilddrüse bei der Kaulquappe eine Vielzahl von Merkmalen, deren Verbindung zu ihrer Umwandlung in einen Frosch führt. Bei diesem sternförmigen Beziehungstyp ist nur ein Organ, das die anderen Merkmale vereinigt (in unserem Fall die Drüsen der inneren Sekretion) evolutionär gebunden, weil sich seine Veränderung sofort auf alle abhängigen Organe auswirken würde. In der Tat sind die Drüsen der inneren Sekretion sehr konservativ. Die von einer solchen Drüse bestimmten Merkmale sind im allgemeinen sämtliche Endglieder in einer Kette von Abhängigkeiten. Deshalb können sie frei evolutionieren und sind bei unterschiedlichen Arten völlig verschieden. Mit dem Hormon der Keimdrüse ist beim Hirsch das Geweih verbunden, beim Löwen die Mähne, bei einer Reihe von Vögeln ein charakteristisches Gefieder usw. Zugleich sind im Entwicklungsgang eines Organismus die Merkmale, die von ein und derselben Drüse bestimmt werden, über diese eng miteinander verknüpft. Nur ein einziges Glied trennt sie voneinander, und deshalb ist ihr Zusammenhang außerordentlich fest. Um jede Drüse gruppieren sich Merkmale ein und derselben Anpassungsrichtung - um die Keimdrüse die Merkmale, die die Vermehrungsfunktion sichern, um das Adrenalinsystem die Funktionen, die die Potenzen des Organismus in extremen Situationen (Flucht, Kampf usw.) mobilisieren, und um eines der Nebennierenrindenhormone eine Plejade von Funktionen, die Reaktionen auf Erkrankungen hemmen. Wir können hier feststellen, daß die Merkmale ein und derselben Anpassungsrichtung so evolutionieren, daß sie sich gleichsam „freiwillig" in Abhängigkeit von der Drüse begeben, die sie vereinigt. Ein ähnliches Beispiel bemerken wir,, wenn wir zwei verwandte Fischarten vergleichen, die teilweise zum Leben auf dem Festland übergegangen sind den Boleophtalmus und den Periophtalmus. Beim ersteren hängt ein Teil der Merkmale des Landlebens noch nicht von der Schild rüse ab. Beim letzteren, der besser an die neue Lebensweise angepaßt ist, ist die Evolution weiter fortgeschritten, und fast alle Veränderungen, die das Leben auf dem Trockenen ermöglichen, sind nun von dieser Drüse abhängig. 2 " Ähnlich 26

J. Harms, Wandlungen des Artgefüges, Tübingen 1934; A. A. Malinowski, Die Rolle genetischer und phänogenetischer Erscheinungen in der Evolution einer Art. I. Pleiotropie, a. a. O.

149

wird eine optimale Verknüpfung der Freiheit der Erbfaktorenkombination mit ihrer Vereinigung, die die richtige Trennung bei der Zellteilung sichert, durch die lineare Anordnung der Gene im Chromosom erreicht.27 Eine bestimmte Verbindung der beiden einfachen Systemtypen kann also dazu führen, daß ein beträchtlicher Teil der Vorzüge beider Typen erhalten bleibt. Bei sternförmiger Kopplung wird die ontogenetische Koordination fast maximal erreicht, ebenso wie in einem starren System, und die evolutionäre Elastizität geht nur iür ein Glied verloren — für das zentrale Organ, das alle anderen verbindet. Auf diesem Wege werden optimale Resultate erreicht. Der sternförmige Typ ist in lebenden Systemen weit verbreitet, am deutlichsten ausgeprägt im System der Drüsen der inneren Sekretion. Der Organisationswert eines bestimmten Systemtyps wird dadurch bestätigt, daß die Evolution in verschiedenen unabhängigen Zweigen des Tierreiches zu gleichartigen Organisationsformen geführt hat.2® Wir erkennen das am Beispiel der in mehrfacher Hinsicht parallelen Entwicklung des endokrinen Systems bei den Wirbeltieren und bei den Insekten. Bei ihnen sind auch andere Organe in vielen Beziehungen ähnlich: hebelartige Extremitäten, Flügel, Anordnung der Augen (gepaarte Organe, die sich an den Seiten des Kopfes befinden, obwohl die Struktur des Sehorgans bei ihnen ganz verschieden ist) usw. Ungewöhnlich ähnlich ist der Bau der Augen bei den Wirbeltieren und bei den höheren Kopffüßlern, ungeachtet dessen, daß ihre gemeinsamen Vorfahren noch kein solches Sehorgan besessen haben konnten und daß es sich in beiden Zweigen unabhängig entwickelt hat. Die Entstehung analoger 29 Anpassungen zeugt davon, daß wir es nicht mit einem Zufall, sondern mit einer Gesetzmäßigkeit zu tun haben. Weil sich hier nicht Details der Form wiederholen, sondern bestimmte allgemeine Formen der Organisation (korpuskulares, starres und sternförmiges Bauprinzip, ähnliche Anordnung der Sehorgane usw.), muß man zu dem Schluß kommen, daß der jeweilige Organisationstyp gesetzmäßige Vorteile aufweist. Die Natur schafft sozusagen eine bestimmte Struktur aus Material verschiedenen Ursprungs, aber nach dem gleichen Modell. Im Grunde kann man

A. A. Malinowski, Die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung im Lichte der Darwinschen Lehre von der Selektion, a. a. O. 9 8 Noch eindrucksvoller wird das durch die Parallelität von Vorrichtungen bei Pflanzen and Tieren bewiesen — vgl. W. I. Talijeie, Die Einheit des Lebens, Moskau 1925 (russ.). ® Es sei betont, daß die Analogie Ähnlichkeit bei verschiedenem Ursprung voraussetzt, im Unterschied zur Homologie, bei der die Organe einen gemeinsamen Ursprung haben, ihre Struktur aber sowohl ähnlich als auch verschieden sein kann. Analog sind zum Beispiel die Extremitäten bei Insekten und Wirbeltieren. Homolog sind die Flügel der Vögel und die vorderen Extremitäten der Säugetiere. 27

150

eine Analogie als ein natürliches Modell und ein Modell als eine künstlich geschaffene Analogie betrachten. Beide beruhen _ auf der Isomorphie von Systemen. Unter diesem Aspekt zeigen einige gemeinsame Anpassungen und Evolutionstendenzen, die in verschiedenen systematischen Gruppen parallel verlaufen, die grundlegenden Organisationsprinzipien der lebenden Systeme. Wir wollen kurz auf einige dieser Prinzipien eingehen, insbesondere auf jene, die den Organismus im ganzen betreffen, denn gerade auf dieser Stufe finden wir die am meisten komplexe Organisationsform des Lebens. Als erstes bemerken wir eine Tebdenz zu immer größerer Konstanz des inneren Milieus, d. h. der physikalischen und chemischen Zusammensetzung von Blut und Lymphe, der Körpertemperatur usw. Diese Tendenz wurde schon von. Claude Bernard festgestellt. Heute sind mehrere Wassertiere bekannt, die nicht in der Lage sind, die Konzentration der Salze im Blut hinreichend konstant zu halten, wenn sie in Wasser mit einem gegenüber ihrem normalen Lebensmilieu veränderten Salzgehalt gelangen, so daß die Möglichkeiten ihrer Migration begrenzt sind. Andererseits gibt es Arten, die in dieser Hinsicht schon Vollkommenheit der Regulation erreicht haben und gleichermaßen fähig sind, in Süß- und Salzwasser zu leben. Auf höherer Entwicklungsstufe entstehen bei den Warmblütern Mechanismen, die auch eine konstante Körpertemperatur gewährleisten. Dabei gibt es Arten (zum Beispiel einige Nagetiere), bei denen diese Regulation noch unvollkommen ist und die Körpertemperatur in Abhängigkeit von der Außentemperatur etwas schwankt. Hohe Konstanz des inneren Milieus dient nicht nur der freien Fortbewegung, wie bereits Claude Bernard betont hat. 30 Der konservative Charakter dieses Milieus erleichtert auch evolutionäre Veränderungen der Zellen und Organe, weil diese damit von der zusätzlichen Notwendigkeit befreit sind, die neuen Anpassungen mit der Erhaltung der Anpassung an die ganze Skala physikalischer und chemischer Bedingungen zu verbinden, die in einem instabilen Milieu möglich sind. Diese Funktion der Konstanz des inneren Milieus wurde oft nicht beachtet, aber sie ist von großer Bedeutung. In der Regel betrachtet man die Konstanz des inneren Milieus neben anderen Merkmalen einer hohen Organisation als Ergebnis einer erfolgreichen Evolution. Es ist jedoch möglich, daß in bestimmten Fällen gerade die aus irgendwelchen Gründen früher erreichte Stabilisierung des Milieus auch die Bedingungen für eine raschere Evolution der übrigen Merkmale schafft. Dabei ist die Stabilisierung des Milieus also nicht nur ein Ergebnis der Entwicklung, sondern auch einer der Faktoren, die die Erhöhung des gesamten Organisationsniveaus im Evolutionsprozeß begünstigen. 30

]. Barcroft, Features in the architecture of physiological functions, Cambridge 1934.

151

Viele Autoren 31 betonen die im Evolutionsprozeß zunehmende Differenzierung der Teile des Organismus. Besonders präzis hat Sawarsin 3 2 nachgewiesen, wie die Gewebedifferenzierung erfolgt. Gewebe, die auf einer niederen Evolutionsstufe mehrere Funktionen besaßen, gliedern sich bei entwickelteren Organismen in Formen auf, von denen jede nur einen Teil der Funktionen ausübt. Hier erkennen wir einerseits die Vorteile der Arbeitsteilung (Intensivierung der Funktionen) und andererseits eine Verbesserung der Kombinationsmöglichkeiten, weil irgendeine nützliche Verteilung von Zellen mit einer bestimmten Funktion nicht mit der Notwendigkeit der gleichen (viel-, leicht unnützen) Verteilung auch anderer Funktionen verbunden ist. Die Differenzierung muß jedoch unausweislich von integrierenden Mechanismen ergänzt werden, weil anderenfalls die Übereinstimmung in Entwicklung und Funktion der verschiedenen Subsysteme verloren gehen kann. Wir werden nicht näher auf die allgemein bekannten Rückkopplungsmechanismen eingehen, zumal ihre Rolle für biologische Vorgänge nicht spezifisch ist und von uns in anderen Arbeiten ausführlich dargestellt wurde. 33 Es sei lediglich erwähnt, daß die Stabilisierungsprozesse hier ebenso wie in technischen Systemen durch negative Rückkopplungen bewirkt werden (zum Beispiel: Hypophyse - Keimdrüse, Keimdrüse - Kamm beim Hahn u. a.). Nach diesem Typ erfolgt die Regelung des Blutdrucks, die Bewahrung der Gleichgewichtshaltung usw. Auch in sternförmigen Strukturen ist die Existenz einer Rückkopplung der peripheren Organe zu den zentralen die Regel, wobei das zentrale Organ die peripheren gewöhnlich anregt, während es von diesen unterdrückt wird. In der eisten Entwicklungsperiode finden wir jedoch vorzugsweise positive Rückkopplungen. Vom Standpunkt des Biologen kann man dabei zwei Typen unterscheiden. Erstens sind es die eigentlich positiven Kopplungen, wobei zwei Glieder einander stimulieren (Wechselwirkung vom Typ „plus - plus" in der Terminologie von Sawadowski). Ein Beispiel sind die Wechselbeziehungen von Uterus und Frucht: die Frucht stimuliert die Entwicklung des Uterus, der sich unter ihrem Einfluß auf ein Mehrfaches erweitert. Der 31

32

33

V. Franz, Der biologische Fortschritt, Jena 1935; H. Miln-Edwards, Introduction ä la Zoologie generale, Paris 1851; /. I. Schmalhausen, Der Organismus als Ganzes in der individuellen und historischen Entwicklung. A. A. Sawarsin, Über die evolutionäre Dynamik der Gewebe, in: Archiv biologitscheskich nauk, Bd. 36, Serie A, H. I, 1934. A. A. Malinowski, Typen biologischer Steuersysteme und ihre Anwendungsmöglichkeiten, a. a. O.; A. A. Malinowski, Typen der Wechselwirkung und ihre Bedeutung im Organismus, in: Referate der Arbeiten aus der Abteilung für Biologische Wissenschaften in der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in den Jahren 1941 bis 1943, Moskau 1945 (russ.); A. A. Malinowski, Rückkopplungen in biologischen, speziell in pathologischen Systemen, in: Die Anwendung mathematischer Methoden in der Biologie, Bd. I, Leningrad 1960 (russ.).

152

Uterus stimuliert die Entwicklung der Frucht, indem er die dafür notwendigen Bedingungen schafft. Ein anderes Beispiel sind Fälle, in denen die von einem bestimmten Gewebe ausgeschiedenen Stoffe die weitere Entwicklung dieses Gewebes verstärken und die Umwandlung anderer Gewebe (mit unabgeschlossener Entwicklung) in jene Form begünstigen, die diese Stoffe absondert (bestimmte Fälle bei Kühen, wo die Hormone des männlichen Zwillings sogar den Bau der Keimdrüsen des weiblichen Zwillings dem männlichen Typus annähern u. a.). Der zweite Typ positiver Rückkopplung ist die gegenseitige Unterdrückung zweier Organe („minus - minus"). Diese beiden Richtungen von Einflüssen sind ähnlich, so daß man diese Kopplung begründet positiv nennen kann. Die Ähnlichkeit mit der positiven Kopplung ist auch an den Resultaten sichtbar: die Tendenz ist nicht auf das Gleichgewicht gerichtet, sondern auf seine Durchbrechung. In anderen Beziehungen gibt es jedoch Unterschiede. Dort, wo eine Polarität mit einem Gradienten (z. B. Stoffwechsel) entstehen muß, der in der Längsrichtung des Organismus abnimmt, gibt es anscheinend an den beiden Enden der Achse des Organismus eine Tendenz zu gegenseitiger Unterdrückung. Jede äußere Einwirkung, die einen Pol bevorzugt, ermöglicht es diesem, die Unterdrückung des ihm entgegengesetzten zu verstärken, dessen hemmende Wirkung auf ihn selbst abzuschwächen und damit noch mehr zu erstarken. Der Prozeß verläuft bis zur Erreichung der physiologisch möglichen Grenzen. Wir wollen ein noch anschaulicheres Beispiel angeben. Wenn man zwei Tritonen verschiedenen Geschlechts an den Seiten zusammenheftet, dann erfolgt zwischen ihnen ein Honnonaustausch. Die männlichen und die weiblichen Drüsen hemmen einander, aber weil dieses Gleichgewicht instabil ist, hemmen die Drüsen des einen Individuums (gewöhnlich die des Männchens) das entgegengesetzte Geschlecht etwas stärker und befreien sich zugleich von dessen hemmenden Einfluß auf sich selbst. 3 ' 1 Der biologische Sinn dieser Erscheinung ist verständlich. Dieser Mechanismus sichert, daß der für die Vermehrung ungeeignete Hermaphroditismus (Vorhandensein von Drüsen beider Geschlechter) automatisch beseitigt wird und daher relativ selten auftritt. Eine besondere Art von Rückkopplung liegt dann vor, wenn irgendeine Funktion nur in zwei extremen Formen (Schlafen - Wachen, Ansammlung von Harn - Harnausscheidung usw.) für den Organismus günstig, in Zwischenformen jedoch ungünstig ist. Solche systematischen Übergänge von einer extremen Situation zur anderen werden durch die Verknüpfung positiver und negativer Rückkopplungen automatisch bewirkt. 3 5 34 33

E. Allen, Sex and Internal Secretion, Baltimore - London 1932. A. A. Malinowski, Typen biologischer Steuersysteme und ihre Anwendungsmöglichkeiten, a.. a. 0 . ; A. A. Malinowski, Typen der Wechselwirkung und ihre Bedeutung im Organismus, a. a. O.

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Auf einige spezifisch biologische Züge der Struktur von Rückkopplungen werden wir weiter unten eingehen. Die Rückkopplungen sind jedoch nur ein Regelmechanismus, einer der Typen von notwendigen Bausteinen, die das Gesamtgefüge der Zusammenhange des Organismus bilden. Weiter unten wollen wir dieses Gesamtgefüge kurz skizzieren. Hier sind zunächst einige Worte über die Wege erforderlich, auf denen sich der Organismus aus dem relativ undifferenzierten befruchteten Ei entwickelt. Der Organismus ist durch den genetischen Kode zwar ziemlich vollständig programmiert, aber alles das, was nicht programmiert werden kann, enthält das Programm entweder gar nicht oder als eine Möglichkeit unter anderen, jedoch nicht als starr determininierte Notwendigkeit. So ist es bei verschiedenen Organismen in der ersten Entwicklungsetappe notwendig, daß eine Polarität entsteht, die zum Beispiel die künftige Richtung der Achse „KopfSchwanz" mit der daraus folgenden Verteilung der Organe bestimmt usw. So erfolgt auch die Determination der Symmetrieebene, die den Organismus in ähnliche linke und rechte Seiten teilt. Die Notwendigkeit der Entwicklung dieser Achsen und Ebenen (und danach der Organe und Gewebe) ist in der Erbinformation programmiert. Die Richtung und Lage der Achsen und Ebenen ist jedoch, mindestens bei vielen Arten von Tieren, nicht von vornherein bestimmt. Bei einigen Arten wird sie durch rein äußere Faktoren bedingt: zufällige Ungleichheit der Temperatur (eine höhere Temperatur stimuliert zum Beispiel die Entwicklung des Kopfteils), Ort des Eindringens der befruchtenden Samenzelle in eine noch unbefruchtete Eizelle (Orientierung der Symmetrieebene) , Lage zu den mütterlichen Geweben, Richtung der Schwerkraft usw. Alle genannten Faktoren sind zufällig, sofern sie in bezog auf das Ei verschieden orientiert sein können, aber zugleich notwendig, sofern sie unbedingt auf das Ei einwirken, so daß seine Achsen und Ebenen zwangsläufig so oder so bestimmt werden. Diese Wahrscheinlichkeitsdetermination der Entwicklung ist für den Organismus mindestens in zweifacher Hinsicht von Nutzen. Erstens reduziert sie ohne Schaden die Bestimmtheit der „Aufzeichnung" im Ei und verringert damit bisweilen auch den notwendigen Umfang der Information im Chromosomenapparat oder in der Gesamtstruktur des Eies. Andererseits erhöht dieser Weg in verschiedenen Fällen die Elastizität

dann besteht das grundlegende Speziflkum der dynamischen Struktur lebender Systeme in ihrer Fähigkeit zur Autoreproduktion. Sie assimilieren die Elemente der äußeren Umgebung und erzeugen daraus Systeme, die ihnen selbst ähnlich sind: DNS- oder Eiweißmoleküle, Zellen, ganze Organismen usw. Dieses Vermögen, das man auch Fähigkeit zur Assimilation nennen kann, bringt viele andere allgemeine Besonderheiten der biologischen Systeme hervor: Wachstum der Zellen und des Organismus durch Autoreproduktion der molekularen und der zellulären Einheiten; Vermehrung in geometrischer Progression; Vererbung, die in der Genauigkeit der Autoreproduktion besteht, besonders in der Autoreproduktion der Erbinformation in den Chromosomen. Schließlich hat auch die Veränderlichkeit oder Abweichung von der genauen Reproduktion für die Evolution nur deshalb Bedeutung, weil die veränderte Form (Mutation) ebenfalls fähig ist, sich selbst zu reproduzieren und dabei die in den Veränderungen gewonnenen neuen Züge beizubehalten. Im Ergebnis der überschüssigen Autoreproduktion entsteht unvermeidlich eine natürliche Auslese. Die ganze Bedeutung der Autoreproduktion als Fundament aller Lebenserscheinungen und als Grundlage des Evolutionsprozesses hat Darwin in seinem Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" folgendermaßen dargestellt: „ . . . daß alle diese so kunstvoll gebauten, so sehr verschiedenen und doch in so verzwickter Weise voneinander abhängigen Geschöpfe durch Gesetze erzeugt worden sind, die noch rings um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, heißen: Wachstum mit Fortpflanzung; Vererbung (die. eigentlich schon in der Fortpflanzung enthalten ist); Veränderlichkeit infolge indirekter und direkter Einflüsse der Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; so rasche Vermehrung, daß sie zum Kampf ums Dasein führt und infolgedessen auch zur natürlichen Zuchtwahl-, die ihrerseits wieder die Divergenz der Charaktere und das Aussterben der minder verbesserten Formen veranlaßt." 4 3 Durch die Autoreproduktion geht die einfache Auslese, die ir der nichtlebenden Natur nur die bereits vorhandenen stabilen Formen erhält, in die natürliche Auslese über, die damit verbunden ist, daß sich die erhalten bleibenden Formen vermehren und alle neuen nützlichen Merkmale akkumulieren. In lebenden Systemen erfolgt auf diesem Wege eine Anhäufung der nützlichen und eine Elimination der schädlichen Merkmale. Das alles unterscheidet die lebenden Systeme grundsätzlich von den spontan entstandenen Systemen der nichtlebenden Natur und führt auf dem Wege einer langen Evolution zur Schaffung äußerst komplizierter Gebilde bis hin zur Entstehung der höchsten Formen des Lebens und der menschlichen Gesellschaft. 43

CA. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig 1949, S. 440.

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Die gesellschaftlichen Systeme behalten die Fähigkeit zur Selbstreproduktion bei und übertragen sie auch auf neue G e b i e t e ; das betrifft insbesondere die Reproduktion

(wenn auch nicht Selbstreproduktion) verschiedener Produkte

des Menschen (technische Anlagen usw.) nach geeigneten Modellen. Deshalb wird auch die Auslese aus dem B e r e i c h lebender Organismen in den B e r e i c h der Produkte des gesellschaftlichen Lebens von den Maschinen bis zu den Ideen übernommen. Das ist j e d o c h nicht der wichtigste Unterschied der sozialen Systeme von den biologischen. Biologische Systeme können nur durch Summation solcher Veränderungen evolutionieren, von denen j e d e einzelne für sich von Nutzen ist. Deshalb sind ihnen viele Vervollkommnungen unzugänglich, die durch Verbindung mehrerer Veränderungen erreicht werden könnten, welche einzeln die Anpassung herabsetzen. M a n kann leicht zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen Auftretens auch nur dreier schädlicher Veränderungen bei einem Individuum, noch dazu solcher, die zusammen die Anpassung erhöhen, praktisch gleich Null ist. W e n n a b e r diese schädlichen

Mutationen

getrennt entstehen, dann werden sie als negative von der Auslese beseitigt, ehe sie sich verbinden und einen positiven Effekt ergeben können. Die Natur vermag solche Kombinationen nicht zu schaffen und zu nutzen, denn in ihr entstehen die Vervollkommnungen

als E r g e b n i s eines spontanen

Auswahl-

prozesses, und kein noch so großer, aber entfernter Vorteil für eine Art kann zur Verbreitung von M e r k m a l e n führen, wenn sie im jeweiligen Moment auch nur in geringem M a ß e schädlich sind. Das wird durch ein interessantes Experiment

von T i m o f e j e w - R e s s o w s k y v e r a n s c h a u l i c h t .

E r kombinierte

bei

Drosophila künstlich Mutationen, die die Lebensfähigkeit herabsetzten, und erhielt eine Kombination, die sogar lebensfähiger als die Normalform war. Offensichtlich würde die Natur eine solche Kombination aufgreifen und durch ihre detaillierte B e a r b e i t u n g auf dem W e g e der natürlichen Selektion festigen. In der Natur könnte diese Kombination j e d o c h nicht entstehen, denn j e d e Mutation würde im Daseinskampf einzeln ausgemerzt werden. Die natürliche Auslese geht also, bildlich ausgedrückt, kurzsichtig vor.' 4 5 F ü r die Evolution stehen viele, aber keineswegs alle W e g e offen/' 6 E s gibt auch

„verbotene"

Wege. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die T a t s a c h e , daß eine der frühen Erfindungen des Menschen, die Drehachse mit einer S c h r a u b e (vom T y p der Schiffsschraube oder des Flugzeugpropellers), niemals in der Natur entstanden ist. Prinzipiell kann man durchaus annehmen, daß eine solche Vorrichtung 44

N. W. Timofejew-Ressowsky, Uber die Vitalität einiger Genomutationen und ihrer Kombinationen bei Drosophila funebris und ihre Abhängigkeit vom genotypischen und äußeren Milieu, in: Zeitschr. Ind. Abst. u. Ver. lehre, 66, 1934,

45

J. B. S. Haidane,

4li

S. Wright, The role in evolution of mutation, inbreeding, crossbreeding and selection, in: Proc. 6-th. Int. Congr. Genet. I, 1932.

160

Faktoren der Evolution, Moskau 1936

(russ.).

realisiert werden und unter bestimmten Bedingungen von Nutzen sein könnte. Bei aller Vielfalt der mehr oder minder vollkommenen Organe und Gebilde, die in hundert Millionen Jahren bei Milliarden Organismen entstanden sind, ist ein derartiger Apparat anscheinend niemals aufgetreten, denn es waren Zwischenstadien erforderlich, die die Lebensfähigkeit für einige Generationen herabgesetzt hätten; diese Generationen wären aber im Wettbewerb mit der früheren Form zugrundegegangen. Der Mensch ist dagegen in seinem technischen Schaffen fähig, neue Vervollkommnungen vorauszusehen und zu planen, darunter auch solche, die der biologischen Evolution nicht zugänglich sind. Hinsichtlich der Kompliziertheit der Gebilde wird die lebende Natur vielleicht noch lange ihren Vorrang behalten. Das wissenschaftlich-technische Schaffen des Menschen hat jedoch nicht nur die Materialien und Energiequellen der Evolution, sondern auch die qualitative Breite der möglichen Wege überflügelt. Das gilt weitgehend auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Auch hier ermöglicht die Fähigkeit zur Voraussicht der Resultate Formen zu schaffen, die spontan entweder überhaupt nicht entstehen könnten oder kolossale Zeitabschnitte erfordern würden, wenn die Entwicklung wie in biologischen Systemen nach dem Prinzip von trial and error oder auf Umwegen verliefe. Die Rolle dieser Voraussicht zeigt sich am deutlichsten am Beispiel der vor fast einem Jahrhundert aufgestellten Prognosen über die Grundzüge der sozialistischen Gesellschaft. Dadurch werden die sozialen Bewegungen organisiert und außerordentlich beschleunigt. Auch jede vorher geplante gewöhnliche Reform, um so mehr eine mit zeitweiligen Nachteilen verbundene, ist ein Beispiel für diese Funktion der Prognose in gesellschaftlichen Prozessen, die Wege eröffnet, welche ihrem Charakter nach für die biologische Evolution nicht zugänglich sind. Wenn wir das alles berücksichtigen, dann können wir auf die Frage nach der Anwendbarkeit der von uns untersuchten Organisationsprinzipien biologischer Systeme in anderen Bereichen eine Teilantwort geben. Offensichtlich gelten nur einige extrem allgemeine Organisationsprinzipien, die wir in biologischen Systemen festgestellt haben, auch für das Gebiet der nichtlebenden Natur. Diese Prinzipien können nur verwendet werden, soweit sie weder die Autoreproduktion der Elemente noch jene komplexe Struktur voraussetzen, die für lebende Systeme auf der gegebenen Etappe ihrer Entwicklung charakteristisch ist. Die Gemeinsamkeit der Organisationsprinzipien zwischen den gesellschaftlichen und technischen Systemen einerseits und den lebenden Systemen andererseits ist größer, denn in beiden Fällen existieren komplexe selbstorganisierende und selbstregelnde Systeme mit Prozessen der Reproduktion und Autoreproduktion. Gleichzeitig gibt es für biologische Systeme gewisse „verbotene" Entwicklungswege infolge des spontanen Charakters der Haupttriebkraft der Evolu11

Laitko

161

tion, der natürlichen Auslese. Die Auslese ist unfähig zur direkten Schaffung komplizierter Vorrichtungen, die eine zeitweilige Herabsetzung der Anpassung erfordern würden. Umgekehrt stehen diese Wege gesellschaftlichen und technischen Systemen offen. 47 Umwege wie das Prinzip des Funktionswechsels 4 ® verlaufen sehr langsam; auch mit ihrer Hilfe können in der Natur bei weitem nicht alle technisch möglichen Formen der Organisation genutzt werden. Neben den generellen Unterschieden ist zu erwähnen, daß sich auch die konkreten Organisationsformen der biologischen und der gesellschaftlichen Systeme auf verschiedenen Wegen herausgebildet haben. Die Entwicklung eines Individuums bei den höchsten Formen liefert Beispiele einer sehr hohen Organisation. Im Unterschied zu einer Art in der Biologie und zu der Gesellschaft auf einer bestimmten sozialen Stufe ist das einzelne Individuum ungeachtet der von uns weiter oben besprochenen Elastizität der Entwicklung in einigen Beziehungen jedoch starrer programmiert Das bedeutet, daß die Grenzen seines Wachstums, seiner Entwicklung und seiner Lebensdauer bestimmt sind. Sowohl eine Art als auch die Gesellschaft können sich theoretisch unbegrenzt entwickeln. Für das Individutun ist sein Tod programmiert, denn dieser Tod ist für die Art und ihre Evolution nützlich, und das Individuum existiert nicht außerhalb der Art. Das Individuum ist bei aller Vollkommenheit in der Entwicklung beschränkt. Aber auch die Art im ganzen unterscheidet sich in ihrer Organisation deutlich von der Gesellschaft. In der Gesellschaft bilden sich mit der Entwicklung immer mehr verschiedenartige koordinierende Funktionen und Zusammenhänge — von den durch Transport und Information realisierten einfachen Kommunikationsmitteln bis zu den ökonomischen, geistigen und politischen Zusammenhängen. Die Gesellschaft erzeugt eine bestimmte Hierarchie von Zusammenhängen, die nicht notwendig in einer Klassenhierarchie ausgedrückt sein muß und dieser letzten Endes sogar entgegengesetzt ist; in dieser Hinsicht nähert sich die Gesellschaft nach Komplexität und T y p der Organisation den höchstentwickelten Organismen, jedoch ohne deren von vornherein festgelegte Entwicklungsbegrenzung. Eine Art evolutioniert hingegen im Grunde nicht wie die Gesellschaft durch Erhöhung ihrer Ganzheit, sondern durch Vervollkommnung ihrer Individuen. Sie ist zum Unterschied vom Individuum in den Räumen und Fristen der Entwicklung unbeschränkt, wohl aber beschränkt im T y p der Entwicklung und in den Möglichkeiten der Koordinierung. Das gesellschaftliche Entwicklungsniveau von Systemen zeichnet sich also 47

48

Ein charakteristisches, rein biologisches Beispiel ist die Schaffung von ertragreichem Hybridmais durch den Menschen; die Natur kann einen solchen Mais nicht hervorbringen, denn für den größeren Endeffekt sind als Zwischenstufen Linien mit geringem Ertrag erforderlich. A. Dorn, Das Prinzip des Funktionswechsels.

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neben anderen, bereits mehrfach erwähnten Besonderheiten dadurch aus, daß es höher steht als das Niveau biologischer Systeme - erstens hinsichtlich der Fähigkeit zur Selbstorganisation durch Prognose und zweitens hinsichtlich der Verknüpfung einer komplexen und zunehmenden Koordination in der Entwicklung, die auf der Stufe der Art nicht erreicht werden kann, mit der Unbegrenztheit der Evolution, die auch dem höchstentwickelten Individuum nicht zugänglich ist. Dadurch unterscheidet sich das biologische Niveau deutlich vom gesellschaftlichen; Analogien zwischen einem biologischen System im ganzen (Zelle, Individuum, Art) und der Gesellschaft sind daher unbegründet, wie bereits F. Engels mehrfach festgestellt hatte. Das schließt jedoch nicht aus, daß eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten oder speziellen Organisationsformen auf verschiedenen Stufen ähnlich sein können; wir haben das am Beispiel der diskreten und der starr determinierten Systeme gesehen. Das gleiche finden wir zu speziellen Zwecken in der Bionik, die Technik und Biologie einander annähert. Biologische Systeme, die in Millionen Jahren sehr komplizierte Vorrichtungen akkumuliert haben, sind ein wichtiges und ergiebiges Objekt für das Studium der Prinzipien der Organisation von Systemen.

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