Organisation und Geschäft: Unternehmensorganisation in Frankreich und Deutschland 1890-1914 9783666370038, 9783525370032, 9783647370033

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Organisation und Geschäft: Unternehmensorganisation in Frankreich und Deutschland 1890-1914
 9783666370038, 9783525370032, 9783647370033

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jrgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler Band 185

Vandenhoeck & Ruprecht

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Heinrich Hartmann

Organisation und Geschft Unternehmensorganisation in Frankreich und Deutschland 1890 – 1914

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 11 Abbildungen, 17 Grafiken und 8 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37003-2 Umschlagabbildung: Titelblatt der deutschen Zeitschrift »Organisation«, 1900. Gedruckt mit Untersttzung der FAZIT-Stiftung, Frankfurt am Main, der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Fçrderer und Ehemaligen der Freien Universitt Berlin e.V. und der Schmçlders-Stiftung fr Verhaltensforschung im Wirtschaftsleben, Mnchen.

 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Lektorat: Textgrtnerei – Bernd Degener, Bremen Druck und Bindung: a Hubert & Co, Gçttingen Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung – Perspektiven und Methoden eines internationalen Unternehmensvergleiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Chemische Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Unternehmensentwicklung . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Akteure und Praktiken der Unternehmensplanung

. . . .

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1.3. Hierarchien in der Organisationsgestaltung . . . . . . . .

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Unternehmer, Direktoren, leitende Angestellte (53) – Visionen, Projekte und Plne – Theorie und Praxis organisatorischer Entwrfe bei Bayer (61) – Den Raum schreiben – Ein Organigramm entlang des Rheins (66) Die Trger von Organisations- und Produktionswissen – Techniker, chemisches Personal und Werksmeister (69) – Funktionstrger Wissen (76) – Kommunizierte Organisation – Praktiken versus Regeln (84)

1.4. Organisation durchsetzen und Organisation anzweifeln . .

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Arbeiter und Handwerker bei Bayer (87) – Kulturangebote und Bindungskraft als Lenkungsmechanismus (96) – Wege der Disziplinierung (101)

2. PCAC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.1. Unternehmensentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.2. Organisation durch unternehmerische Strategie – Akteure und Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die Rolle des Unternehmers in permanenter Neudefinition (109) – Kapital und Unternehmenskontrolle (115) – Zwischen fehlenden Plnen und vorhandenen Visionen (118) – Der Aufbau eines Kommunikationsnetzes (122)

2.3. Autonome Zonen in der Produktionsgestaltung . . . . . . 125 Der corps technique als Trger von Wissensnetzwerken (125) – Arbeitsdelegation an Teamstrukturen (130)

2.4. Organisation oder Strukturen? Die unteren Hierarchieebenen als stabilisierender Faktor . . . . . . . . 134 Der corps intermdiaire – die Rolle der Contrematres (134) – Heterogene Arbeiterschaft als Determinante der Organisa-

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tion (137) – Personal disziplinieren und Personal binden (145) – Konvergenz unternehmerischer Interessen und lokaler Rume (149) – Organisationslogiken (153)

3. Planung und Kontingenz – Determinanten und Optionen in der Organisation von chemischen Unternehmen . . . . . . . 156 II. Warenhuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Franzçsische Warenhuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Vom Eckgeschft zum Huserblock – Der Aufstieg der grands magasins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 161 . . 165 . . 165 . . 168

Einsame Unternehmer und neue Verwaltungsformen (168) – Die „Corps Intermdiaires“ des Warenhauses – mittlere Hierarchiestufen (171) – Im Herzen des operativen Geschfts – an der Peripherie der Organisation. Die Angestellten im Warenhaus (174) – Prekre Arbeit gleich weibliche Arbeit? Die Konstruktion marginaler Verhandlungspositionen (181)

1.3. Die Vermittlung der Organisation . . . . . . . . . . . . . . 185 Visionen planerischen Handelns (185) – Jenseits des Familienunternehmens – Verwaltung der Grands Magasins (187) – Bildung oder Ausbildung: Von individueller Qualifikation zur systemischen Wissensverwaltung (191) – Der Raum des Unternehmens als çffentlicher Raum (194) – Hierarchische Kontrollen und Gruppenautonomie (196) – Disziplin und Bindung – unternehmerische Personalstrategien (200) – Brgerliche Kultur als handlungsleitendes Ideal (203) – Kollektives Handeln als Kristallisation interaktiver Organisation (207)

2. Deutsche Warenhuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.1. Aus der Provinz nach Berlin und zurck – die Entwicklung der deutschen Warenhuser . . . . . . . . . . 213 2.2. Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Unternehmer, Familien und wenige leitende Angestellte (217) – Vielfltige Formen der mittleren Hierarchiestufen (223) – Angestellte im Warenhaus – Marginalisierung durch Aufstiegschancen (228) – Im Spannungsfeld zwischen Diskurs und unternehmerischer Praxis – weibliche Angestellte im Warenhaus (235)

2.3. Instrumente der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Visionen des planerischen Handelns und deren Wirkung (243) – Netzwerke als Grundlage der Kapitalisierung – Verwaltung und Aufsicht der Warenhuser (245) – (249) – Bildung und Ausbildung: Wissen im Warenhaus (250) – Verkaufsrume und çffentliche Rume: das Warenhaus in seiner urbanen Umwelt (252)

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2.4. Hierarchien, Teams und Kontrollen . . . . . . . . . . . . . 256 Die Entwicklung neuer, disziplinierender Diskurse und die Notwendigkeit zur sozialen Bindung (260) – berformungsprozesse in der Unternehmenskultur – brgerliche Kultur als inszeniertes Leitbild (263) – Kollektives Handeln und divergierende Interessen in den frhen Angestelltengewerkschaften (267)

3. Vorbilder und Divergenzen. Deutsche und franzçsische Warenhausorganisation als komplexer Transfer . . . . . . . . . 271 III. Dynamische Wechselwirkungen zwischen Unternehmen, Gesellschaft, Wissenschaft und staatlicher Wirtschaftspolitik . . . 1. Organisationswissenschaften – von der Evolutionsbiologie zur technischen Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Konstituierung der Organisationseinheiten – Unternehmen, Branchen, kollektive Handlungsoptionen . . . . 2.1. Grenzen der Unternehmen – Wahrnehmungsstile . . . . . 2.2. Konstituierung von kollektiver Aktion und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regulieren und normieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Reglementieren im Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Normieren durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schulen und verschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Organisieren will gelernt sein – Anfnge der Verschulung und ihre Einflsse auf die Unternehmen . . . . . . . . . . 4.2. Lernen aus der Praxis: Schulbildung im Verhltnis zur Situation der Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Taylor und Fayol – Brche oder Kontinuitten vorhandener Unternehmenspraktiken? . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung und Ausblick: Zwischen Branchen und Nationen. Die unterschiedlichen Bezugsebenen des Unternehmensvergleiches . . 323 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Verwendete Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Vorwort Mit diesem Buch kommt eine lange Arbeitsphase an ihr Ende. ber all die Jahre habe ich mich dabei immer wieder auf die Hilfe vieler Menschen verlassen kçnnen. Ihnen mçchte ich mit den folgenden Zeilen danken. Hier ist zunchst die Untersttzung meiner beiden Betreuer zu nennen, die von deutscher und franzçsischer Seite immer den Fortgang der Arbeit im Auge behielten. Patrick Fridenson und Jrgen Kocka haben dabei nicht nur darauf geachtet, dass fachliche Entscheidungen zum angemessenen Zeitpunkt gefllt wurden; ohne mich in meinen Gedanken einzuengen, haben sie durch konstruktive Ratschlge immer wieder geholfen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu rumen. Nicht zuletzt ihrer wohlwollenden Betreuung ist es zu danken, dass die Fragen der Arbeit immer in einem inspirierenden institutionellen Rahmen diskutiert werden konnten. Den Kollegen und Freunden aus dem Berliner Kolleg fr Vergleichende Geschichte Europas, den Seminaren an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft am Wissenschaftszentrum Berlin, vor allem aber dem Centre Marc Bloch Berlin zusammen mit seiner Direktorin Pascale Laborier sei hier besonders gedankt. Die offene Gesprchsatmosphre half, die mitunter schwierigen Phasen zu berwinden. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und dem Centre Marc Bloch gilt zudem fr die finanzielle Untersttzung mein besonderer Dank. Fr die Finanzierung der vorliegenden Publikation gebhrt der Schmçldersstiftung, der Fazit-Stiftung und der Ernst-Reuter-Gesellschaft großer Dank. Keine historische Arbeit ohne Quellenmaterial. Die Suche danach fand teilweise auf hçchst verschlungenen Pfaden statt. Nur einige Personen, die bei dieser Suche behilflich waren, kçnnen hier persçnlich genannt werden: Zunchst Hans-Hermann Pogarell und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bayer-Unternehmensarchivs, Florence Hachez-Leroy und ihre ehemaligen Kollegen vom Institut pour l’histoire de l’aluminium, Herr Herning, der als Einziger wusste, dass Karstadt doch ein Archiv besitzt, und Laurent Seigneurin, der sich mit unermdlicher Kraft dafr einsetzt, dass die Geschichte der chemischen Fabriken in Salindres nicht in Vergessenheit gert. Von verschiedenen Seiten kamen gute Ratschlge zur Durchfhrung der Arbeit. Yves Lequin und Hartmut Kaelble haben sich sehr darum verdient gemacht, dass die Arbeit auf ihren Weg gefunden hat. Thomas Welskopp, Jakob Vogel und Petra Overath haben durch gute Hinweise geholfen, unnçtige Umwege zu vermeiden. Mit außerordentlicher Sorgfalt und Umsicht hat Bernd Degener das Endlektorat durchgefhrt. 9

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Gerade die Schlussphase der Arbeit wre kaum zu meistern gewesen, wenn nicht viele Freunde wertvolle Untersttzung geleistet htten. Sie hatten immer ein offenes Ohr fr die Probleme „meiner“ Arbeit und eine kritische Feder fr die notwendigen Korrekturen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, kann hier nur einigen ausdrcklich gedankt werden: Sina Teigelkçtter, Thomas Wrtz, Susanne Dodillet und Sophie Schfer sei fr die kritischen Anmerkungen und Korrekturen gedankt. Immer wenn guter Rat teuer war, waren Christoph von Ungern-Sternberg und Elise Julien da, um auszuhelfen. Sylvia Heinrichs hat mir geholfen, den Mut nicht zu verlieren. Ohne die Untersttzung meiner Eltern wre das Studium nicht mçglich gewesen. Sie haben mir auch vermittelt, dass die wichtigsten Erkenntnisse immer dort sind, wo man es am wenigsten erwartet. Weit ber jede materielle Untersttzung hinaus haben sie ihren Anteil an dieser Arbeit, die ihnen gewidmet sein soll. Berlin, im September 2009 Heinrich Hartmann

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Einleitung – Perspektiven und Methoden eines internationalen Unternehmensvergleiches

„Auf das Heranwachsen eines verantwortlichen Industrievolkes, einer internationalen IndustrieNation kommt alles an, die einmal eine echte und rechte europische Wirtschaftsgesellschaft bilden kann, in der werden alle Gestaltungsimpulse liegen, und liegen keimhaft schon jetzt, nicht bloß zur technischen Durchfhrung einer neuen Wirtschaftsorganisation, nicht nur zu einer durchgreifenden Hygienisierung der naturalen Lebensbezge, sondern auch zur Begrndung neuer politischer Ordnungen.“ Thomas Mann, Doktor Faustus „Quand l’effet produit n’est plus en rapport direct ni en proportion gale avec sa cause, la dsorganisation commence.“ Honor de Balzac, Csar Birotteau

In einer seiner ersten Ausgaben verçffentlichte das Unternehmermagazin Organisation 1899 einen Bericht ber die Neuerungen „moderner“ Unternehmensorganisation. Ziel einer neuen Organisation von Fabriken msse es demnach sein: „Eigentmlichkeiten ihrer Arbeiter [zu] bercksichtigen und am meisten dafr [zu] tun, deren Lebensbedingungen und Streben zu optimieren.“ Der Autor ließ sich dabei von Beispielen ausgewhlter deutscher, allerdings anonymer, Industrieunternehmen inspirieren. Kenntnisse und Erfahrungen der Arbeiter wrden in diesen Betrieben kontinuierlich abgefragt und in die Organisation mit eingebracht. Dabei werde sehr genau auf Partizipation und Gedankenaustausch zwischen allen Teilen der Belegschaft geachtet und hierdurch „zur Schaffung und Entwicklung eines allgemeinen¸Esprit de Corps‘ in jeder Abteilung […] unter Bercksichtigung der Qualitt, Quantitt und des Kostenpunktes der erledigten Arbeit, sowie der Gesundheit und Pnktlichkeit der Angestellten eine systematische Rangordnung geschaffen.“1 1 „Eine moderne Fabrikorganisation“, in: Organisation, Nr. 8/1899.

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Solche Bilder einer „modernen Unternehmensorganisation“ passen kaum zu unserer Vorstellung eines streng patriarchalen und hierarchisierten Produktionsbetriebs, der vermeintlich so prgend fr die Industrialisierung Deutschlands und Europas war. Vielmehr kçnnten sich die Ausfhrungen des Autors, mit einigen stilistischen Anpassungen, in jedem beliebigen betriebswirtschaftlichen Organisationslehrbuch unserer Tage wiederfinden. Lange vor den Verçffentlichungen des amerikanischen Vordenkers Frederick W. Taylor interpretierten diese berlegungen den Betrieb als ein soziales Experimentier- und Erfahrungsfeld der modernen Gesellschaften. Sie orientierten sich ihrerseits an ausfhrlichen Diskussionen ber den Stellenwert von Organisation als Grundlage gesellschaftlicher Kohrenz. Ein neues Wissensfeld entstand, in dem die Organisation von Produktion und Handel nicht nur einen neuen Platz im wirtschaftlichen Produktionssystem einnahm, sondern auch zum Kristallisationspunkt des sozialen Eigenverstndnisses wirtschaftlicher Akteure und eines optimistischen Zukunftsdiskurses wurde. Die Genese und die unterschiedlichen praktischen, diskursiven und institutionellen Bezugssysteme von Organisationswissen und Organisationshandlungen nachzuzeichnen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Das neue Wissensfeld der Organisationslehre verband praktisches Erfahrungswissen mit neuen wissenschaftlichen Anstzen. Kulturelle Annotationen standen damit in engem Dialog mit der Vorstellung von modernem wirtschaftlichen Handeln. Ein ursprnglich eher medizinisch-biologistisch aufgeladenes Konzept von organischer Gliederung bersetzte sich in einen çkonomischinstitutionellen Zusammenhang.2 Um diese Knotenfunktion der Unternehmensorganisation angemessen analysieren zu kçnnen, soll in dieser Arbeit der Begriff der „Organisation“ als eine Schnittmenge von normativ kulturell aufgeladenen Handlungen und wirtschaftlichen Strukturen aufgefasst werden.3 Der nationale Vergleich, aber auch der Vergleich verschiedener Unternehmen und Branchen ermçglicht es hier, sowohl nationale Besonderheiten als auch allgemeine Grundmuster eines solchen neuen Wissensfeldes zu verdeutlichen. Schon in den frhen wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen der deutschen Nationalçkonomen spielte die Darstellung von Unternehmen und ihrer Entwicklung zu komplexen, brokratisierten Einheiten eine wichtige Rolle in der Analyse des zeitgençssischen wirtschaftlichen Wachstums.4 Insbesondere Max Webers idealtypische Analogie zwischen der Brokratisierung staatlicher Herrschaft und der Lenkung von Unternehmen5 wurde zur Grundlage einer Tradition unternehmenshistorischer und organisationssoziologischer Perspektiven, die bis heute eine paradigmatische Wirkung auf die 2 3 4 5

Zu dieser Bedeutungsverschiebung: Bçckenfçrde, S. 587 ff. und S. 608 f.; Sarasin/Tanner, S. 30 ff. Luhmann, S. 16. Schmoller, Geschichtliche Entwicklung. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 2, Kap. 9, Absch. 2, S. 551 ff.

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historische Analyse des Unternehmens haben.6 Betriebssoziologische und mikropolitische Erweiterungen der unternehmenshistorischen Untersuchungen çffneten in den letzten 15 Jahren diese Perspektive in entscheidendem Maße,7 doch die Brokratisierungsthese stellt nach wie vor einen wichtigen Bezugspunkt dar. Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit versteht sich aus dieser Entwicklung der theoretischen Debatte in der deutschen Unternehmensgeschichte, die ber lange Zeit zu den eher theoriefeindlichen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft gehçrte, sich aber in den letzten Jahren rasch den neueren Theoriediskussionen geçffnet hat.8 Gleichzeitig greift sie Fragen der franzçsischen Forschung auf, die bislang weit weniger auf eine Analyse brokratischer Herrschaftstechniken fixiert war und vielleicht gerade aus dieser Tradition heraus von deutschen Unternehmenshistorikern in ihren Vergleichen lange Zeit wenig beachtet worden ist. Whrend gerade in den letzten Jahren an Vergleichen deutscher Unternehmen mit englischen oder amerikanischen kein Mangel herrschte, beschrnkte sich eine transnationale Unternehmensgeschichte in deutsch-franzçsischer Perspektive im Wesentlichen auf die Rolle des Unternehmers oder die Anwendung des Taylorsystems.9 Ausgehend von Fallstudien aus Deutschland und Frankreich ist es das Ziel der Arbeit, die Anfnge unternehmerischer Reflexionsprozesse in beiden Lndern in den Blick zu nehmen und hierdurch ihre Grundlagen zu historisieren. Die Untersuchung vergleicht dabei zunchst ausgewhlte deutsche und franzçsische Unternehmen, um eine Fixierung auf die nationalen Ebenen zu vermeiden. Sie stammen aus zwei unterschiedlichen Branchen, die fr die binnenkonjunkturell gesttzte wirtschaftliche Entwicklung der Zweiten Industrialisierung10 zwischen den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg charakteristisch sind. Dies ist zum einen die Chemiebranche, zum anderen – als Fallstudie aus dem wachsenden Dienstleistungssektor – die entstehende Warenhausbranche. Bewusst stehen damit zwei 6 Kocka, Industrielles Management; Kocka, Management; Welskopp, Der Betrieb, S. 125; Dornseifer S. 69 – 91. 7 In erster Linie durch den Bochumer Arbeitskreis fr Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte. Beispielhaft: Lauschke/Welskopp, Mikropolitik; auch Sss, Mikropolitik und Spiele, S. 116 – 136. 8 Nach einer Vielzahl von Beitrgen zur theoretischen Grundausrichtung des Faches, versuchten in letzter Zeit gleich zwei berblicksdarstellungen verschiedene Theoriestrnge in der Unternehmensgeschichte zusammenzufhren: Pierenkemper, Unternehmensgeschichte; Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. 9 Levy-Leboyer, Le patronat; Fridenson, Unternehmenspolitik, S. 428 – 450; Cohen/Manfrass, Frankreich und Deutschland; Eck, Les entreprises franÅaises. 10 Der Begriff der Zweiten Industrialisierung wird heute mehrheitlich durch die vernderten Leitsektoren und die technische und soziale Intensivierung der Produktion definiert. Etwa Ziegler, Industrielle Revolution, S. 101 ff.; Bsch, S. 28 ff.; Hahn, S. 51 ff. Zur Einordnung des deutschen Falls in einen grçßeren Kontext; Kaelble, Mythos, S. 106 – 118; fr Frankreich spricht Hubert Bonin fr die Zeit von 1895 – 1914 von der „dmarrage de la seconde industrialisation“; Bonin, S. 24; auch Levy-Leboyer, Le patronat.

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Bereiche im Mittelpunkt, die in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht keine direkten Beziehungen zueinander hatten und damit Unterschiede wie Gemeinsamkeiten deutlich hervortreten lassen. Der Vergleich der hieraus resultierenden vier Flle soll es ermçglichen, auf drei verschiedenen Ebenen zu Ergebnissen zu kommen: 1. Er zeigt Gemeinsamkeiten unterhalb einer rein nationalen Ebene auf, bietet also auch Zugriff auf Bereiche der Unternehmensorganisation, die von anderen Bezugsrahmen abhingen. 2. Er deutet auch auf nationale Charakteristika unternehmerischer Handlungen. 3. Durch das internationale Beziehungsnetz von Unternehmen wird implizit auch eine transnationale Ebene in den Blick gerckt, die auf gemeinsame Entwicklungen oder gegenseitige Abgrenzungsbemhungen verweist. Wenn es darum geht, die spezifischen Kapazitten von Unternehmen in ihrem operativen Geschft zu untersuchen, bietet die Untersuchung der Produktionsorganisation in bestimmten Kontexten, also in den Produktionsanlagen einzelner Unternehmen, hierzu den geeigneten Schlssel. Es soll dadurch analysiert werden, wie Firmen çkonomische Zielsetzungen an eine vorgefundene soziale Struktur anpassten und auf welchen Wegen sie wiederum versuchten, diese soziokulturelle Umwelt in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Entwicklung einer brokratischen Verwaltung ist hierbei nur ein Element im Katalog mçglicher Organisationsprozesse. Neuere Perspektiven der soziologischen Forschung legen darber hinaus einen breiteren Organisationsbegriff nahe. Gerade fr die Einbeziehung des franzçsischen Falls scheint eine solche Perspektive entscheidend zu sein. Hypothetisch ließe sich formulieren: Die hufig vermutete Dominanz des deutschen brokratischen Modells der Unternehmensorganisation gegenber dem franzçsischen Fall kann erst dann gewinnbringend hinterfragt werden, wenn auch die theoretischen Bewertungsmaßstbe fr eine wirtschaftliche Organisation mit in die Fragestellung einbezogen und im Sinne neuerer organisationssoziologischer Fragestellungen erweitert werden. Dabei lassen sich auch auf epistemologischer Ebene durch einen ausgewogenen Vergleich Rckschlsse auf die Entwicklung der Organisationslehre und die damit verbundene Erschließung neuer Wissensfelder ziehen.11 Durch eine Perspektive, die die parallele Entwicklung von Institutionalisierungsprozessen neuer Wissensformen und die Vernderung von Organisationspraktiken in Produktionszusammenhngen gemeinsam in den Blick nimmt, kann die Untersuchung die unterschiedlichen Wissenstopographien und ihre Wechselwirkung mit lokalen unternehmerischen Praktiken beschreiben.12 Es gibt wohl kaum eine so gut ausgebaute Achse transnationaler Geschichtsschreibung wie diejenige zwischen Deutschland und Frankreich. 11 Zum Konzept der Wissensfelder, Bourdieu, S. 113 – 120. 12 Zur Interaktion von Wissenschaft und Praxis: Geertz, S. 167 – 234; Turner ; Vogel, Wissensgesellschaft, S. 644 ff. und S. 650 f.; auch Burke, S. 18 f.

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Beide Lnder sind in vielfltiger Form miteinander in Beziehung gesetzt worden, ob im Sinne einer komparativen und kontrastierenden Feststellung von hnlichkeiten und Unterschieden oder durch eine Beschreibung der wechselseitigen Einflsse.13 Doch ist dieses grenzberschreitende Interesse in den historischen Studien zu Deutschland und Frankreich nicht in allen Gebieten gleich stark. Gerade die wirtschaftliche Entwicklung stand weit seltener im Mittelpunkt eines solchen Vergleiches als etwa Fragen der politischen Kultur.14 Aus der sozialhistorischen Tradition beider Lnder heraus entwickelte sich zwar ein Vergleich der Unternehmer als der zentralen Akteure in Unternehmen15 und Gesellschaft,16 aber eine vergleichende Untersuchung in Bereichen der Technik- und Unternehmensgeschichte blieb bis heute weitgehend aus. Hierdurch sind fr die Forschung in diesen Bereichen zahlreiche Perspektiven ungenutzt geblieben; diese seien hier in zwei Punkten zusammengefasst: 1. Das besondere Interesse, das einem solchen Vergleich zukommt, besteht zunchst darin, dass beide Flle außerhalb des angloamerikanischen Bezugsrahmens liegen. Dabei gibt es keinen Grund, den Erfolg deutscher und franzçsischer Modelle in Zweifel zu ziehen.17 Beide Lnder gehçrten zu den vier grçßten Industrienationen vor dem Weltkrieg. Um die Erfolgspfade der Unternehmen beider Lnder erkennen und angemessen darstellen zu kçnnen, wre es nicht sinnvoll, sie mit amerikanischen oder britischen Fllen zu vergleichen. Allzu leicht wrde dies nur zu einer Besttigung eines One-best-waySchemas fhren, das seit beinahe einem Jahrhundert die Diskussionen um die Organisation von Unternehmen begleitet. 2. Frankreich und Deutschland waren nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich in besonderem Maße voneinander abhngig. Bei Einfuhren und Ausfuhren belegte das Deutsche Reich fr Frankreich den dritten, Frankreich fr Deutschland den vierten Platz auf der Liste der wichtigsten Handelspartner.18 Was fr die Volkswirtschaften vor dem Krieg ohnehin galt – eine weitgehende gegenseitige Abhngigkeit und Verflechtung –, traf in besonderem Maße auf Wirtschaft und Unternehmen der beiden Nachbarn zu. Hieraus ergab sich eine aufmerksame wechselseitige Beobachtung der beiden Lnder. Dabei ging es nicht nur um die wirtschaftliche Leistungsfhigkeit einzelner

13 Als letzte umfassende Zusammenschau zu diesem Thema: Kaelble, Nachbarn; zur Frage des Transfers: Espagne/Werner ; Werner/Zimmermann. 14 Als berblick: Kott/Nadau, S. 103 – 111. 15 Lvy-Leboyer, Le patronat; daneben Homburg, Warenhausgrnder ; auch Locke. 16 Fçllmer, Verteidigung. 17 Smith; Caron, Histoire conomique. 18 Frankreich lag dabei hinter England und den USA, aber relativ gleich auf mit Handelspartnern wie sterreich-Ungarn und Russland; Fischer, Deutschland 1850 – 1914, S. 412; auch Anhang Nr. 4 zu: Statistisches Jahrbuch, Jg. 34/1913.

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Produktionen und Industrien, sondern auch um deren politische und institutionelle Umrahmung.19 Die mçglichen Ertrge eines solchen Vergleiches bauen in mehreren Etappen aufeinander auf: Zunchst schrfen sie das Verstndnis fr die Funktionsweise der Unternehmen. Lassen sich hnliche Organisationselemente in verschiedenen Lndern und Branchen wiederfinden, oder muss zur Funktionsanalyse der Unternehmen vielmehr ein breiteres Verstndnis funktionaler quivalente herausgearbeitet werden? Auf diese Weise ist es wiederum mçglich, bersetzbarkeiten und Lernfhigkeiten zu bestimmen. Konnten die Zeitgenossen in Deutschland und Frankreich berhaupt voneinander lernen? Waren nicht die Determinanten, auf die sich die Organisation der Unternehmen aufbaute, so unterschiedlich, dass unternehmerische Konzepte singulr bleiben mussten? Hierdurch kann die Arbeit dabei helfen, eine nach Paul Erker zentrale Leitfrage des unternehmenshistorischen Erkenntnisinteresses zu beantworten: „die Frage nach nationalen Stilen versus Branchenspezifika.“20 Die methodischen Probleme, die jeder historische Vergleich ohnehin impliziert, verschrfen sich zustzlich fr das Untersuchungsobjekt „Unternehmen“. Die hufig schwierige Quellenlage verhindert den Zugang zu vielen unternehmensspezifischen Themenkomplexen, die oft nicht schriftlich dokumentiert oder nicht archiviert wurden. Das Ausgangsproblem liegt also im Rekonstruieren von Strukturen und Aktivitten des Unternehmens. Fr die Unternehmensarchive existieren keinerlei einheitliche Sammlungskriterien. Die berlieferung der eigenen Geschichte ist somit auch ein frher Akt der Selbstinszenierung des Unternehmens und verweist auf die Problematik von Eigendarstellung und Fremdwahrnehmung.21 Fr die Rekonstruktion bestimmter Prozesse ist es notwendig, neben Unternehmensberlieferungen zustzliches Quellenmaterial aus çffentlichen Archiven heranzuziehen, um die Geschichtskonstruktion des Unternehmens kritisch zu berprfen.22 Ein anderes Problem, das kennzeichnend fr die Unternehmensgeschichte ist, stellt grundstzlichere Fragen an die komparatistische Methode: Das Problem unterschiedlicher Grçßenmaßstbe im Vergleich verschiedener Unternehmen, insbesondere, wenn es sich um einen internationalen Vergleich handelt. Hier geht es nicht nur um differierende Umsatz- und Belegschaftszahlen; auch die Beziehungsnetze des Unternehmens kçnnen auf verschiedenen Niveaus verankert sein. Die Fragen, woher ein Unternehmen sein Personal bezieht, mit wem es Handel treibt oder ber welche Wege es Einfluss

19 Verwiesen sei hierbei auf eine große Zahl franzçsischer Reiseberichte ber die Wirtschaft in Deutschland, wichtigster Vertreter war Jules Huret. 20 Erker, Aufbruch, S. 327. 21 Dartevelle/Eck, S. 55 ff.; Pierenkemper, Angestellte, S. 178. 22 Fridenson, Une ncessaire complmentarit, S. 50.

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auf politische Entscheidungen zu nehmen versucht, mssen je nach Unternehmen anders beantwortet werden. Schon Marc Bloch hat in seiner frhen Schrift zum historischen Vergleich europischer Gesellschaften auf die Bedeutung der Grçße der Untersuchungsobjekte fr die zu erwartenden Ergebnisse hingewiesen. Die vergleichende Studie, so Blochs Auffassung, sei eine abstrahierende Studie, die kenntnisreich auf einer Vielzahl von Einzelstudien aufbaue, deren zugrunde liegenden Schemata herausarbeite und diese in einen grçßeren Kontext stelle. Der Vergleich des Besonderen hat hier zunchst nur Platz, wenn es als Modalitt der Regelmßigkeit gedacht werden kann.23 Haupt und Kocka betonen dagegen, dass der quellengeschulte Blick des Historikers gerade zur Erkenntnis des Besonderen tendiere, ja, dass eine vollstndig abstrahierende, an Gesetzmßigkeiten orientierte Perspektive dem Sinn der Geschichtswissenschaften widerspreche.24 Daraus resultieren fr sie die Notwendigkeit und auch die Tendenz zur Verschiebung der Betrachtungsebenen im historischen Vergleich. Dem nationalen Vergleich stnden mehr und mehr lokale Untersuchungen und Mikrostudien gegenber, eine Tatsache, die fr die Wirtschaftsgeschichte in noch grçßerem Maße gelte.25 Oft genug ist eine solche Maßstabsverschiebung auch mit einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses verbunden, das sich von einer abstrahierenden Strukturebene hin zu einer verstehenden Handlungsebene verlagert.26 Das Unternehmen lsst sich schwerer in ein Raster von Mikro-, Meso- und Makroebene einordnen, das fr die Beschreibung vieler historischer Untersuchungsobjekte eine bedeutende Rolle spielt, auch wenn die einzelnen Analysen jeweils eigenen Kriterien folgen.27 Die individuelle Handlungsebene einzelner Akteure ist in einem çkonomischen Kontext zwar konstitutiv, erst durch die Handlungen der Akteure erlangt das Unternehmen schließlich seine çkonomische Bedeutung; allerdings steht es auch im Dialog mit gesellschaftlichen Strukturen, wird durch diese bestimmt und verndert. Das Unternehmen ist zwar wie kaum eine andere Entitt in einem festen Raum – etwa einem Fabrikgelnde – zu verorten; allerdings greift die Analyse zu kurz, wenn sie anhand einer streng rumlichen Festlegung des Objektes vorgeht. Das Unternehmen besteht nicht nur aus klar definierten Produktionshandlungen, sondern ist auch ein konstruiertes System, das sich durch stndig verschiebende Grenzen und permanente Neuverhandlungen zwischen den Akteuren definiert. Innen und Außen des unternehmerischen Systems gehen somit fließend ineinander ber. Das Unternehmen wird auf diese Weise zum

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Bloch, S. 37. Haupt/Kocka: Historischer Vergleich, S. 21 f. Ebd., S. 19. Hierzu auch Kaelble, Interdisziplinre Debatten, S. 480 ff. Revel.

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Scharnier zwischen einer internen Handlungs- und einer externen Strukturebene.28 Die unterschiedlichen Bezugssysteme des Unternehmens sind nach verschiedenen Kriterien zu differenzieren. Zu nennen sind hier insbesondere: 1. Der Bezugsrahmen fr die Kapitalisierung des Unternehmens: Ein Unternehmen kann sich auf unterschiedliche Netzwerke zur Akquirierung des Unternehmenskapitals sttzen. Fr die Unternehmen der Industrialisierung sind diese Netzwerke hufig – aber nicht immer – regional. 2. Die kommerziellen Netze, also die Produktmrkte, auf denen das Unternehmen anbietet: In vielen Unternehmen, unter anderem auch in den hier untersuchten, differenzierten sich diese kommerziellen Netze wiederum nach der Anzahl angebotener Produkte. In der Regel erreicht ein Unternehmen in diesem Bereich seinen weitesten Wirkungsradius. 3. Die Arbeitsmrkte, auf die es zurckgreift: Hierunter ist zunchst das am Produktionsstandort vorhandene Arbeitsangebot zu verstehen, das einen der klassischen Standortfaktoren darstellt.29 Daneben werben Unternehmen immer wieder in anderen Regionen Arbeiter an und schaffen somit breite Migrationsstrçme. Was schon fr die Rekrutierung der Arbeiter gilt, lsst sich umso mehr fr die Rekrutierung des hçher qualifizierten Personals besttigen. 4. Das Engagement des Unternehmens zur Vertretung seiner eigenen Interessen: Hier geht es um die Koordination von Interessenvertretungen, aber auch um die Ausbung sozialer Verantwortung zur Stabilisierung des unternehmerischen Umfeldes. Ein solches Engagement kann sich an lokalen ebenso wie an nationalen Maßstben orientieren. 5. Schließlich die gesellschaftliche Wahrnehmung als entscheidender Faktor in der Situierung des Unternehmens. Die ffentlichkeit wurde, so Wolbring, zu einer „Institution der Gesellschaft, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Machtfaktor zunehmende Bedeutung gewann“, und erlangt auch fr die Kommunikationsstrategien der Unternehmen eine enorme Bedeutung.30 Die Frage, wer ber das Unternehmen spricht und ob solche Diskussionen auch in staatlich-politische Zusammenhnge getragen werden, bestimmt in entscheidendem Maße die Bedeutung, die dem Unternehmen als komplexer, gesellschaftlicher Institution zugeschrieben wird, und die Grenzen, die dem unternehmerischen Handlungssystem gesetzt werden. Das Unternehmen soll also in der Vermittlung und im Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen angemessen dargestellt werden,31 statt bloß ein Teil eines nationalen Musters zu bilden. Auch in dieser metho-

28 Paulmann, S. 678 f. 29 Schon in den ersten Lehrbchern zur Fabrikorganisation sind diese berlegungen zu den Standortfaktoren ausformuliert: Balewski, S. 5 ff.; kurze Zeit spter folgte die mathematische Modellierung durch Alfred Weber ; Weber, Standort. 30 Wolbring, S. 11. 31 „Es ist das Prinzip der Variation, auf das es ankommt, nicht die Wahl eines bestimmten Grçßenmaßstabes“, Revel, S. 19.

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dischen Perspektive kann die Unternehmensgeschichte mithelfen, umfassendere Fragestellungen weiterzuentwickeln.32 Damit solche heterogenen Objekte wie Unternehmen erfolgreich miteinander verglichen werden kçnnen, mssen also nicht nur Unterschiede und Gemeinsamkeiten,33 sondern auch bergreifende Untersuchungskategorien gesucht werden, durch die die Feststellung funktionaler quivalente, ber spezifische Kontexte hinaus, mçglich wird.34 Diese Untersuchungskategorien sollen hier vor dem Hintergrund der Entwicklung der unternehmenshistorischen Forschung kurz vorgestellt werden. Bereits die nationalçkonomische Schule suchte nach adquaten Erklrungsmustern fr den Prozess der Industrialisierung in Europa und den USA. Die Entwicklung der Unternehmen in ihrem strukturell-organisatorischen Aufbau bot dabei einen Angriffspunkt, um die Faktoren dieser Industrialisierung zu analysieren.35 Neben der Funktion als Analysewerkzeug verdankt die Unternehmensgeschichte ihre Entstehung auch der Tatsache, dass seit dem 19. Jahrhundert anlsslich von Firmenjubilen immer hufiger Festschriften verçffentlicht wurden.36 Ziel dieser Publikationen war und ist es unter anderem, durch das Erzhlen der eigenen Erfolgsgeschichte eine gemeinsame Identitt im meist disparaten unternehmerischen Handlungsfeld zu schaffen.37 Solche Versatzstcke von „Meistererzhlungen“38 stellen damit hufig wichtige Kommunikationsakte der Unternehmensleitung dar und finden hierber bis heute Eingang in die aktuellen Forschungen zur Unternehmensgeschichte. Die Unternehmensgeschichtsschreibung steht also der Organisationsforschung nicht neutral gegenber ; vielmehr bewegt sie sich in einem semantischen Feld, das zu konstruieren sie selbst mitgeholfen hat. Die Entstehung der modernen Organisation der Unternehmen sowie ihre wissenschaftliche Reflexion rekurrierte in einem gewissen Maße immer auf „storytelling“ als Zugangsmethode. Doch gerade die wissenschaftliche Form von unternehmenshistorischen Arbeiten, die aus diesen beiden Traditionslinien hervorging, unterlag immer wieder Konjunkturen und Paradigmenwechseln, war zeitweise sogar beinahe vollstndig verschwunden. Eine der wichtigsten Kontinuitten, die trotz aller 32 Diebolt, S. 103 f.; Fridenson, Organisations, S. 1467. Allerdings sind sich die Autoren bei den Forderungen nach Unternehmensvergleichen nicht immer der impliziten methodischen Schwierigkeiten bewusst, so Spoerer. 33 Im Sinne von Marc Blochs Wechselspiel zwischen hnlichkeiten und Unterschieden auf verschiedenen Ebenen, Bloch, S. 17. 34 Haupt/Kocka, Historischer Vergleich, S. 19. 35 Jahn; Krger, S. 92 f. Als Beispiele: Schmoller, Grundriß, S. 190 ff. und S. 456 ff.; Sombart, Luxus, S. 177 ff. 36 Pierenkemper, Unternehmensgeschichte, S. 28 ff. und S. 82. 37 Gabriel, S. 359. 38 Hierfr nur einige Beispiele: Historique de Salindres; Py 00/13/19953; Geschichte und Entwicklung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Elberfeld in den ersten 50 Jahren, 1918; BAL 108 – 10.

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historiographischen Verwerfungen in den Debatten prsent blieb, war die Untersuchung der Akteure, in erster Linie der Figur des Unternehmers39 – eine Perspektive, die durch die sozialgeschichtliche Wende der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine neue Konjunktur erfuhr.40 Daneben wurden aber auch die Untersuchungen zu unternehmerischen Strukturen stark gemacht. Vor allem die wesentlich durch Jrgen Kocka41 angestoßenen und an Max Weber angelehnten Untersuchungen zur Analogie von unternehmerischer und staatlich-administrativer Brokratie erlangten hier große Bedeutung. Diese Perspektive behlt bis heute eine herausragende Bedeutung, die sich, nicht zuletzt befçrdert durch die Arbeiten Alfred Chandlers,42 auf andere Lnder ausgedehnt hat.43 Aus dieser dialektischen Bewegung zwischen der akteursfixierten Perspektive und der Untersuchung der Institution des Unternehmens als Kernelement der kapitalistischen und gesellschaftlichen Entwicklung ergab sich eine Grunddisposition der deutschen Unternehmenshistoriographie bis in die allerjngste Zeit. In der Kontinuitt dieser Entwicklung bildete sich eine handlungstheoretische Lesart der Interaktionen im Unternehmen heraus,44 in der es nicht mehr darum ging, das Unternehmen als ein von der Spitze unilateral beherrschtes hierarchisches Modell aufzufassen, in dem sich Entscheidungen mit gewissen Reibungsverlusten in Handlungen bertrugen. Vielmehr standen der Betrieb und sein Charakter als mikropolitisch interaktives Aushandlungsfeld im Vordergrund.45 Hierbei ging es darum, nicht mehr den Plan hinter einer Handlung zu suchen,46 sondern durch eine handlungstheoretische Perspektive das Verstndnis fr die Konstruktion der Aktion selbst zu schrfen.47 Gerade spieltheoretische Anstze aus den Wirtschaftswissenschaften konnten hier bislang nur auf konzeptioneller Ebene einen Beitrag leisten.48 Neben dieser Interaktionslogik trat die Unternehmensgeschichtsschreibung allerdings auch in den Dialog mit einer eher systemischen Lesart des Unternehmens, die hierarchische Strukturen,49 ob formeller oder informeller Art, in den Mittelpunkt der Untersuchung rckt. Dies gilt in besonderem 39 Frhe Studien zum Unternehmertypus: Sombart, Kapitalismus, S. 6 ff.; Schumpeter, Josef A.: Theorie; Schumpeter, konomie. Levy-Leboyer, Patronat franÅais, (1979). 40 Kaelble, Evolution, S. 15 – 36; Kocka, Unternehmer. 41 Kocka, Unternehmensverwaltung; vor allem auch Kocka, Industrielles Management; Berger/ Offe, Rationalisierungsdilemma. 42 Chandler, Visible Hand. 43 Gardey, Dactylographe; Zunz. 44 Sss, Mikropolitik und Spiele; daneben die beiden konzeptionell wohl wichtigsten Einzelstudien: Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung; Welskopp, Arbeit und Macht. 45 Lauschke/Welskopp, Mikropolitik. In hnlicher Perspektive Jrgens. 46 Etwa Fiedler, Entwicklung. 47 Welskopp, Der Mensch. 48 Crozier/Friedberg, Acteur ; Sss, Mikropolitik und Spiele, S. 122 ff. 49 Chandler, Visible Hand, S. 145 ff.; im Anschluss etwa Maurice/Sellier, besonders S. 518 ff.; Lefebvre.

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Maße fr die franzçsischen Anstze der Paternalismusforschung, die in den letzten Jahren traditionelle Vorstellungen hierarchischer Gliederungen erheblich dekonstruiert haben.50 Aber auch die Austauschpfade zwischen der unternehmerischen Organisation und ihrer Umwelt rckten mehr und mehr in das Interesse der Historiker.51 Kommunikation52 und Kultur53 wurden zu Schlagwçrtern fr neue Untersuchungsfelder, die in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Forschungen inspirierten. Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass Kultur sich weder historisch noch soziologisch zu einem geschlossenen Forschungsfeld zusammenfassen lsst.54 Widerspricht dieser wiederholt artikulierte Zweifel am Wert der Unternehmenskultur fr die Unternehmensgeschichte nicht einer kulturwissenschaftlich erweiterten Perspektive auf das Unternehmen? Eine solche Perspektive beschftigt sich mit den ungleich verteilten Machtressourcen in den Organisationen, und berschreitet hierdurch die Grenzen des Unternehmens deutlich. Diese Arbeit wird versuchen, die unterschiedlichen unternehmenshistoriographischen Entwicklungslinien durch einen offenen Organisationsbegriff zu integrieren, der das Unternehmen als Ort versteht, an dem innerbetriebliche soziale Dynamiken mit vielfltigen gesellschaftlichen Verhltnissen in Austausch treten. Die historische Darstellung der Verwissenschaftlichung der betrieblichen Verwaltungslehre steht dagegen der Unternehmensgeschichte verhltnismßig unvermittelt gegenber. Wissenschaftlichkeit und unternehmerische Praxis scheinen dabei meist nur als Anbieter und Nachfrager gedacht worden zu sein. Im Sinne neuerer Anstze einer Wissensgeschichte, die den Dialog von praktischem und theoretischem Wissen unterstreicht und dabei die persçnlichen Handlungsspielrume der Akteure betont, ist dieses Verhltnis noch kaum untersucht worden. Auch das Wechselverhltnis zwischen einer entstehenden Wissenschaft ber das Unternehmen mit der Generierung von neuen Wissensformen im Unternehmen ist bislang von den Historikern kaum 50 Umfassend diskutiert etwa in der Nummer des Mouvement Social Nr. 144/1988; die letzten sehr produktiven Beitrge zum Thema Bourginat; Vandecasteele-Schweitzer, Comment; Bourdelais, Reprsentations; Lefebvre. 51 Inspiriert von der zunehmenden Aufmerksamkeit, die Kommunikationsprozesse erfahren, kommt der Schnittstellenanalyse eine immer grçßere Bedeutung zu. Minssen, Rationalisierung; Mintzberg; Fr erste Anwendungen mit einem unternehmenshistorischen Hintergrund: Tacke, Systemrationalisierung; Murmann, Knowledge. 52 Yates. Wischermann. In jngster Zeit die Marketinggeschichte als Form der Kommunikation zwischen dem Unternehmen und seinem ußeren; Berghoff, Marketinggeschichte. In dieser Perspektive der Redynamisierung der Unternehmensgeschichte als Versuch partieller Stabilitt in einem Umfeld steter Vernderung Lamoreaux/Raff/Temin. 53 Alvesson/Berg; Kieser, Organisational Culture; Rhli, S. 297 f. Zum anfnglichen Interesse der unternehmenshistorischen Fcher, aber auch der Grenzen Petzina/Plumpe, vor allem S. 15; Schreyçgg, Unternehmenskulturdiskussion; Berghoff, Unternehmenskultur, S. 175 ff.; Kocka, Deutsche Unternehmenskultur. 54 Welskopp, Unternehmenskulturen; interessant auch die Perspektive als „nichtinstitutionelle Verhaltensweisen der Akteure“, Nieberding, Unternehmenskultur.

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bercksichtigt worden.55 Doch gerade fr diese Arbeit, die die praktischen Wissensbestnde in den Unternehmen mit der Geschichte der theoretischen Organisationsdiskurse zu verbinden sucht, sind auch die Studien zu verschiedenen betriebswirtschaftlichen Feldern56 wie auch zur sozialen Praxis betriebswirtschaftlicher Ausbildung57 von Bedeutung. Die Eckdaten der vorliegenden Untersuchung – 1890 und 1914 – sind hufig und in verschiedenen Zusammenhngen von Historikern als Grenzpunkte gesellschaftlicher Dynamiken benutzt worden. Die Zeitspanne wurde in kultureller Perspektive immer wieder als temporre Einheit gesellschaftlicher Erneuerung beschrieben.58 Und auch in der Geschichtsschreibung von Politik und politischer Kultur hat sich die Periodisierung fest etabliert.59 Doch neben dieser eher geistesgeschichtlichen Annherung bildet sie auch in wirtschaftshistorischem Zusammenhang eine Einheit.60 Die auf Schumpeters Analyse der Konjunktur- und Krisenperioden basierende Aufteilung in wellenfçrmige, gleichmßige Konjunkturbewegungen (sogenannten Kondratieffs) im nachrevolutionren Europa61 belegt fr die Periode zwischen 1895 und 1913 eine Phase nachhaltigen Wirtschaftswachstums.62 Sowohl fr Deutschland als auch fr Frankreich ist damit die Periodisierung einer geschlossenen wirtschaftlichen Phase zwischen dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg zu einer klassischen Zeiteinteilung geworden.63 Die volkswirtschaftliche Phase dieser „Zweiten Industrialisierung“ hatte nachhaltige Vernderungen in den Unternehmen zur Folge; so ist diese Periode die Zeit einer umfassenden Konsolidierung der unternehmensspezifischen Leitungs- und Besitzverhltnisse, aber auch die Phase, in der viele Unternehmen ihre Produktion neu ordneten.64 Neue Unternehmen und Branchen wurden immer bedeutender. In Frankreich waren dies in erster Linie die Elektroindustrie, die Elektrochemie und weite Teile der Metallproduktion und des metallverarbeitenden Gewerbes sowie der Maschinenbau.65 Die tra55 Als Ausnahme: Cohen, Organiser, insb. S. 10 f. 56 Als Beispiel die Arbeiten zu Henri Fayol: Peaucelle, Henri Fayol; Peaucelle, Inventeur ; Reid, Gen se. Besonders interessant auch die kaum bearbeitete Geschichte der Unternehmensberatung: Weexsteen; Kipping/Engewall, Management Consulting. 57 Etwa Franz; Mantel; Pierenkemper, Unternehmensgeschichte, S. 148 f. 58 Etwa Frick/Mçlk; Lindenfeld/Marchand; Kafitz. 59 Nur drei Beispiele unter vielen: Besslich; Stçber; McLean. 60 Torp spricht etwa fr die Zeitspanne von 1890 bis 1914 von einer „Belle Epoque der Weltwirtschaft“; Torp, S. 14. 61 Schumpeter, Wellenbewegung. 62 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 594 ff. 63 Kellenbenz, Wirtschaftsgeschichte, S. 315 f.; etwas abgewandelt bei Hentschel, S. 212 ff.; Caron, Croissance, S. 115 f. 64 „The number of firms declined, the average size increased“; Blackbourn, Long, S. 321. 65 Diese Branchen verzeichneten durchgehend Wachstumsraten von ber sechs Prozent jhrlich in den Jahren 1904 bis 1913 (Metallverarbeitendes Gewerbe 6,2 %, Metallproduktion 6,8 %, Chemie

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ditionellen Wirtschaftszweige stagnierten dagegen in der gleichen Phase oder schrumpften sogar.66 In Deutschland waren strukturelle Vernderungen noch deutlicher. Whrend der Bevçlkerungsanteil, der in der Landwirtschaft beschftigt war, von ber 50 % auf etwa ein Drittel zurckging,67 entwickelten sich neue Wirtschaftszweige wie der Maschinenbau, die chemische und die elektronische Industrie. In beiden Lndern stieg außerdem der Anteil der im Dienstleistungssektor beschftigten Personen unablssig. Durch diese Strukturvernderungen der Volkswirtschaft erhielten wirtschaftliche Neuerungen eine bis dahin unbekannte çffentliche Aufmerksamkeit. Der Begriff der Organisation entwickelte um die Jahrhundertwende auch im transdisziplinren Dialog eine ungeahnte Dynamik. Die Metapher des Organismus, der mehr ist als die Anzahl seiner einzelnen Organe, gewann in der Biologie und der Medizin schon seit Darwin eine Eigendynamik, die schnell in andere intellektuelle Kontexte wanderte. Ohne die Geistesgeschichte des Organisationsbegriffes an dieser Stelle en dtail ausfhren zu wollen, bleibt festzuhalten, dass der Begriff seine wirtschaftlich-unternehmerischen Zuschreibungen erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erhielt.68 Damit deutet sich auf der Begriffsebene bereits an, dass kulturelle Faktoren, neue Formen der Verwissenschaftlichung und wirtschaftliche Interessen stark miteinander verwoben sind. Der Beginn der Untersuchung um 1890 beruht nicht allein auf externen Dynamiken, auch in den hier untersuchten Fallstudien war das Ende des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt markanter Vernderungen. So begann in der chemischen Industrie eine Expansionsphase, die strategische Neuausrichtungen und dadurch zahlreiche Restrukturierungsmaßnahmen in Bezug auf die Technik, die Arbeitsbeziehungen sowie die Kapitalstrukturen auslçste. Viele Unternehmen des Dienstleistungssektors wurden dagegen erst in den Jahren nach 1890 gegrndet. Das gilt vor allem fr die Warenhausunternehmen. Durch einen Umzug oder wesentliche Erweiterungen der Verkaufshuser transformierten sich zunchst kleine Einzelhandelsunternehmen zu neuen 6,2 % und in der mechanischen Industrie 8,0 %); andere Sektoren, wie etwa die Automobilindustrie zeigten zwar noch weit beeindruckendere Wachstumsraten (in der Zeit von 1900 bis 1914 etwa eine Vervierzigfachung von Umsatz und Belegschaft), allerdings war die absolute Hçhe noch so gering, dass dies zunchst kaum ins Gewicht fiel; Caron, Histoire conomique, S. 122 f. 66 Dies gilt insbesondere fr die Landwirtschaft und die Textilindustrie, der relative Anteil an der Erwerbsbevçlkerung ging hier deutlich zurck; Caron, Histoire conomique, S. 123. Allerdings weist der Autor darauf hin, dass der Anteil der Beschftigten in den zukunftstrchtigen industriellen Sektoren bis 1914 trotz rasanter Steigerung relativ schwach geblieben ist. So lag er in der Phase 1905/13 bei nur 25 %, whrend sowohl Land-, Forst- und Grundwirtschaft, also auch die traditionellen Versorgungsindustrien (etwa Textil), weiterhin jeweils ber 30 % der Arbeitsbevçlkerung beschftigten; Bonin, S. 29 f. 67 So gibt Erker fr 1867 den Anteil der landwirtschaftlichen Arbeitsbevçlkerung mit etwa 51,5 % an, fr 1913 nur noch mit 34,5 %; Erker, Dampflok, S. 88. 68 Vatin, Travail, S. 23 ff.; Sarasin/Tanner, Physiologie, S. 30 ff.

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urbanen Großbetrieben und nderten durch den gestiegenen Kapitalbedarf auch ihre Besitzstrukturen.69 Die Untersuchung endet mit dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg vernderte einige gesellschaftliche Determinanten sowie eine Vielzahl der direkt auf die Unternehmen einwirkenden wirtschaftlichen Faktoren grundlegend. Die vollstndige Vernderung der Belegschaftsstrukturen,70 der Produktnachfrage sowie die kriegsbedingte Einfhrung von Produktionsplnen fhrte zu einem radikalen Wandel der Organisation von Arbeit und Produktion in den untersuchten Unternehmen. Die Analyse einer solch deutlichen externen Diskontinuitt ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu leisten und im Sinne der oben beschriebenen Fragestellung auch von nachrangigem Interesse. Der breite Ansatz der Arbeit, die umfassend die Organisation der Unternehmen in den Blick nimmt, hat zur Folge, dass kaum eine Quellengattung aus dem Umfeld eines Unternehmens von vornherein aus der Untersuchung ausgeschlossen werden kann. Personalakten, Aufsichtsratsbeschlsse oder zufllige Zeugnisse der Kommunikation im Unternehmen sind ebenso wichtig wie die bewusst tradierten Denkschriften der Unternehmer oder die Beobachtungen außen stehender Zeitgenossen. Da zudem die berlieferten Quellen, je nach Unternehmen, hçchst unterschiedlich sind, ist eine solch offene Perspektive ußerst vorteilhaft, um eine Basis fr die Untersuchung der Unternehmen zu legen. Viele Prozesse und Strukturen sind nur dann zu erkennen, wenn Lcken in ihrer Dokumentation durch die Nutzung zustzlichen Quellenmaterials geschlossen werden kçnnen. Fr die Untersuchungen in der Chemiebranche wurden mit den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer AG und der Socit des Produits chimiques d’Alais et de la Camargue (PCAC) zwei Unternehmen gewhlt, die durch ihr berliefertes Quellenmaterial innerbetriebliche Organisationsprozesse verhltnismßig gut dokumentiert haben. Beide haben ihren Quellenbestand durch institutionalisierte Archivstrukturen vollstndig zugnglich gemacht.71 Aufgrund der angestrebten zentralisierten Struktur Bayers wurden in Leverkusen zahlreiche Kommunikationsakte dokumentiert wie etwa Direktionsrundschreiben oder Verbesserungsvorschlge. Hinzu kommen vielfltige Formen von Zeugnissen, die die soziale Situation und die Funktion der Akteure im Unternehmen beschreiben, etwa in Form von Personalakten. Bei 69 Diese formellen Entwicklungen werden im jeweils ersten Abschnitt der entsprechenden Fallstudien eingehend beschrieben. 70 Am besten belegt fr den Fall von Krupp; Tenfelde, S. 56 ff. 71 Im Falle von PCAC wird ein großer Teil dieser Archivalien seit 1986 vom Institut pour l’histoire de l’aluminium verwaltet. Bei Bayer existiert ein eigenstndiges Unternehmensarchiv, das um die Jahrhundertwende wohl auch im Rahmen einer statistischen und sozialen Erfassung des Unternehmens eingefhrt worden war und ber die notwendigen Ressourcen verfgt, einen Großteil des archivierten Materials nutzbar zu machen.

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PCAC ist besonders die Korrespondenz zwischen den einzelnen Produktionssttten und Verwaltungssitzen hervorzuheben, die eine wichtige Quelle darstellt. Darstellende Quellen, wie etwa unregelmßige Berichte ber die einzelnen Werke und Material aus der Personalabteilung, wurden ebenfalls herangezogen. Neben statistischem Material und einer großen Anzahl interner Kommunikationsakte sind es die Protokolle der Direktoriumssitzungen, respektive des conseil d’administration, die in beiden Unternehmen zugnglich sind und die Entscheidungsstrukturen direkt miteinander vergleichbar machen. Im Falle der Warenhuser in Deutschland und Frankreich ist die Quellenlage komplizierter. Neben wenigen Akten und einigen gesonderten Dokumenten, die meist unter „Marketing“-Aspekten ausgewhlt wurden, existieren in den Unternehmen kaum zugngliche Archivbestnde. In den franzçsischen Husern gibt es zwar zum Teil umfangreiches Quellenmaterial, das von Forschern allerdings nicht mehr eingesehen werden kann.72 Einige deutsche Warenhusern sind prinzipiell bereit, ihre Unternehmensarchive zu çffnen, durch die zahlreichen Fusionen und Umzge sowie durch die Kriege sind jedoch so gut wie keine Archivalien in den Unternehmen verblieben.73 Es muss festgestellt werden, dass es keine hinreichende interne Dokumentation gibt, um hierauf eine breite Darstellung aufzubauen. In bedeutendem Maße war daher auf Publikationen kritischer Zeitgenossen, Dokumentationen der Vergewerkschaftungsprozesse oder der polizeilichen Beobachtung der Unternehmer und Unternehmen zurckzugreifen. Was zunchst als Schwche der Quellenbasis ausgelegt werden kann, zeigt sich bei nherer Betrachtung als unverzichtbares Mittel in der Rekonstruktion interner Organisationsprozesse, sozialer Strukturen und kulturell vermittelter Disziplinierung, denn in einem çffentlich zugnglichen Unternehmen wie dem Warenhaus kann die Handlungspraxis der Akteure noch weniger als anderswo vom Diskurs ber das Unternehmen getrennt werden. Diese spezifische Quellensituation ist auch der Grund dafr, die Warenhausbranche insgesamt zu analysieren, da einzelne Unternehmen keine hinreichend quellengesttzte Analyse zulassen wrden. Im abschließenden Teil der Arbeit werden die jeweiligen staatlich-politischen und nationalen Rahmenbedingungen der Unternehmensorganisation im Mittelpunkt stehen. Die breite Perspektive dieses Kapitels macht es notwendig, die Quellenauswahl in erster Linie auf gedrucktes Material zu beschrnken. Nur hierdurch ist es mçglich, die Vielzahl zu besprechender Problembereiche zu erfassen. Das wird in erster Linie dadurch durchfhrbar, dass in beiden Lndern die jeweiligen Prozesse von einer breiten çffentlichen 72 Dies gilt vor allem fr die große Sammlung des Bon March; Miller. In anderen Husern, etwa in den Galeries Lafayette oder dem Printemps, ist die Situation deutlich besser, die Sammlungen dagegen nur klein. 73 Dies gilt fr den Karstadt-Quelle Konzern und fr die Kaufhof AG. Obwohl Karstadt sukzessive die Unternehmen Theodor Althoff, Hermann Tietz, Adolph Jandorf, A. Wertheim aufgekauft hat, ist kaum Quellenmaterial dieser Firmen vorhanden.

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Diskussion begleitet wurden. Diese brachte verschiedene Publikationsformen hervor. Whrend sich in Deutschland aus den untersuchten Fallstudien eine verallgemeinernde Form der Unterrichtsliteratur zu diesen Fragestellungen entwickelte,74 kamen in Frankreich die Arbeiten zu den entsprechenden Themengebieten zum großen Teil aus den juristischen Fakultten. Ein großer Teil der zeitgençssischen Doktorarbeiten, der thses de droit, beschftigte sich mit den neuen Fragen, die sich aus der Reformulierung der Beziehungen zwischen dem Staat, den Unternehmern und den Arbeitern ergaben. Ziel der jeweiligen Fallstudienkapitel ist es, zunchst Aufbau und Funktionsweise der Unternehmen in ihren einzelnen Elementen und deren Zusammenspiel zu verstehen. Zu diesem Zweck werden einzelne organisationsrelevante Punkte analytisch voneinander getrennt. Erst hierdurch werden diese unternehmensspezifischen Ergebnisse systematisch vergleichbar gemacht. Um die branchentypischen Eigenarten herausarbeiten zu kçnnen, wird die Untersuchung von Chemieunternehmen und Warenhusern voneinander getrennt und erst in einem weiteren Schritt der nationale Vergleich betont. Diese Darstellungsform hilft, die Unternehmen zunchst nach ihren eigenen Maßstben zu bewerten und nicht von vornherein nationale Pfade berzubetonen. Die jeweiligen Fallstudien werden wiederum durch einen Abschnitt eingeleitet, der die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen vor und whrend der untersuchten Periode vorstellt, um die teils sehr speziellen analytischen Einzelstudien in eine grçßere Entwicklung einordnen zu kçnnen. Die erste Fallstudie behandelt das Unternehmen Bayer. Die Darstellung fasst jeweils bestimmte Formen der Organisationshandlung, ihre jeweiligen Akteure und Bezugssysteme zusammen. Dabei wird ein planerischer Bereich von einem Bereich der praktischen Produktionsgestaltung und von einer Analyse des betrieblichen Feldes als Durchsetzungs-, aber auch Widerspruchsbereich fr planerische und technische Entwrfe getrennt. hnlich gliedert sich der daran anschließende Abschnitt zu PCAC. Das nachfolgende Kapitel der Arbeit untersucht die Warenhuser. Anders als im Fall der chemischen Unternehmen werden dabei die vielfltigen Akteursgruppen und ihre Handlungsdispositionen im urbanen Umfeld des Unternehmens darstellerisch getrennt von der Analyse der Organisationsinstrumente im Unternehmen. Vergleichende Zusammenfassungen schließen beide Kapitel – die Untersuchungen zur chemischen Industrie und zu den Warenhusern – ab. Das abschließende Kapitel erweitert die Perspektive wieder und fhrt sie von den einzelnen Unternehmen auf nationale Zusammenhnge. Einzelne Problembereiche, die in der Untersuchung zu den Unternehmen eingefhrt worden sind, werden hier in ihrer bergeordneten Tragweite aufgegriffen. Dabei wird verdeutlicht, wie Staat, ffentlichkeit und Unternehmen diese 74 Als bestes Beispiel: Lilienthal.

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Probleme in einem konfliktuellen Aushandlungsprozess diskutierten. Dazu mssen zunchst Wahrnehmungsformen des Unternehmens oder konkurrierender Organisationseinheiten bestimmt werden. Erst hierber ist ein Verstndnis dafr zu erlangen, auf welcher Ebene die Zeitgenossen das Problem der Organisation wirtschaftlicher Produktion verorteten. Neben dem staatlichen Bereich, der hier eine regulierende Rolle spielt, wurde ber den Prozess zunehmender Organisation auch in der ffentlichkeit kritisch diskutiert. Diese ffentlichkeit hatte einerseits Einfluss auf die Verhandlungspositionen innerbetrieblicher Akteure, indem etwa die soziale Rolle der Unternehmen hinterfragt wurde, andererseits determinierte sie hierdurch auch den wirtschaftlichen Aktionsradius der Unternehmen. Gerade in der kritischen Debatte in Bezug auf die Tendenz, in vielen Branchen Kartelle zu bilden, oder auf die Interessenkoordination von Staat und Wirtschaft waren solche Prozesse von herausragender Bedeutung. Diese Fragen bilden die Grundlage dieses abschließenden Kapitels. In ihm werden die Unternehmen und die jeweils unter- und bergeordneten Organisationsebenen, also die Organisation produktiver Arbeit in kleineren Einheiten und die Organisation von Branchen, im Organisationsdiskurs der beiden Lnder dargestellt. Institutionelle Einrahmungsprozesse sollen in den beiden folgenden Teilkapiteln im Mittelpunkt stehen. Die wohl deutlichste Form der Intervention bilden die Reglementierungsprozesse. Dabei ist zu fragen, wer im Unternehmen die Arbeit reglementieren konnte und wie peu  peu der Staat ein Interesse an diesen Dynamiken entwickelte. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Diskussionen um die Betriebsordnung oder rglements intrieurs. Hinzu kommt der entstehende Themenkomplex der Arbeitsgesetzgebung, etwa in Form der beginnenden Tarifregulierung oder der Arbeitszeitbegrenzung. Allerdings zeigen die Beispiele der Diskussion um die Arbeitssicherheit oder die Normierung betrieblicher Ablufe durch neue Formen brokratischen Wissens, dass nicht alle Normierungs- und Regulierungsprozesse den Weg der staatlichen Gesetzgebung gingen. In diesem zweiten Abschnitt wird also der Prozess innerbetrieblicher Regulierung als ein Prozess nachgezeichnet, in dem der Staat als mçglicher dritter Gesprchspartner neben Unternehmern und Beschftigten vorkommen konnte, ohne dass es einen Zwang fr eine solche Integration staatlicher Institutionen in unternehmerische Prozesse gab. Im dritten Abschnitt des Schlusskapitels werden Lern- und Institutionalisierungsprozesse beschrieben. Dabei ist zu problematisieren, ob und unter welchen Abhngigkeiten sich ein eigenstndiges Wissensfeld des Organisationswissens in den beiden Lndern bildete. Zu diesem Zweck wird zunchst der Einfluss vernderter Wissensnachfrage durch die Unternehmen beschrieben. Hieran anschließend stehen neue staatliche Institutionalisierungsformen im Mittelpunkt. Hierdurch wird ein Perspektivwechsel vollzogen, der die Frage aufnimmt, wie die in beiden Lndern entstehenden Handelsschulen zu einer Befçrderung der Entwicklung neuer Felder des administrativen Wissens gefhrt haben. Dies ermçglicht eine Fokussierung auf die 27

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Wahrnehmung neuer Organisationsschulen, etwa der um die Jahrhundertwende aufkommenden Ideen von Frederick W. Taylor und Henri Fayol.

Zum Organisationsbegriff Die Organisationsforschung – aus der positivistischen Wissenschaftsanschauung des frhen 20. Jahrhunderts entstanden – geriet im Verlaufe der letzten Jahrzehnte in eine ernsthafte Argumentations- und Legitimationskrise. Schon mit den Hawthorne-Experimenten in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde deutlich, dass eine technodeterministische Vision des Verhltnisses von System und Individuum, wie sie die frhen Managementforschungen seit den Zeiten Frederick W. Taylors nahegelegt hatten, nicht aufrechtzuerhalten war.75 Da eine rein soziale Analyse das Unternehmen ebenfalls nicht vollstndig beschreiben konnte, teilte sich die Forschung auf. Zum einen wendeten sich die Wissenschaftler der Analyse individueller Handlungsmotivation und in der Folge der Soziologie der Arbeit zu. Zum anderen bildete sich die betriebswirtschaftliche Analyse der Unternehmensorganisation heraus, die weitgehend auf die Einbeziehung individueller Akteure verzichtete.76 Die schon seit vielen Jahren geußerte Forderung nach einer historischen Unternehmensorganisationsforschung77 bekommt in dieser Perspektive ein neues Gewicht, allerdings nicht, um die methodische Zersplitterung der Organisationsforschung zu reproduzieren, sondern durch die historische Analyse dazu beizutragen, verschiedene Perspektiven zusammenzubinden.78 Dies soll nicht den Rckfall in eine positivistische Form der methodischen Homogenisierung im Sinne einer histoire totale des Unternehmens bedeuten, sondern das Verstndnis fr die verschiedenen Ebenen schrfen, auf denen Organisationsprozesse vollzogen werden kçnnen. Dabei soll weder das Zusammenwirken und Ineinandergreifen verschiedener Elemente dieser Organisation noch der genuin wirtschaftliche Charakter des Untersuchungsobjektes aus den Augen verloren werden.79 Es geht somit um mehr, als nur das bloße Zusammenstellen einer „mçglichst großen Zahl von einzelbetrieblichen Informationen.“80 75 Mehr zu dem Experiment, in dem zum ersten Mal die Interaktion zwischen Aufsehern und Arbeitern mitgedacht wurde, in: Bernoux, Organisations, S. 71 ff. 76 Prost, S. 79 ff. 77 Erker, Aufbruch, S. 324 ff.; Sss, Mikropolitik und Spiele, S. 117 ff.; Tolliday/Zeitlin, S. 5 f.; Fridenson, Organisations (1989). 78 Berlanstein, Big Business, S. XI. 79 Siegenthaler. 80 Hanf, S. 146.

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Dass sich die Bedeutung des Begriffes der Organisation gegen Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend erweiterte und er unterschiedliche Wissens- und Praxisfelder miteinander verbindet, haben wir oben bereits angedeutet. Doch die Grunddisposition des Begriffes macht es ebenfalls notwendig, ihn fr den Fortgang einer historischen Analyse genauer zu fassen und damit zu operationalisieren. Ein so breiter Begriff kann dabei notwendigerweise nicht umfassend hergeleitet werden. Fr diese Arbeit interessieren primr die Spannungen, die sich aus ihm ergeben und die ihn mit der Unternehmensgeschichte verbinden. Aus dieser Perspektive entwickeln sich unserer Ansicht nach Fragen, die bei der Darstellung der Fallstudien besonders bercksichtigt werden sollten. Sie werden gegen Ende des folgenden Abschnitts kurz erlutert. Der Austausch zwischen einer Organisationsforschung mit wirtschaftlichem Hintergrund und den Geistes- und Sozialwissenschaften ist bis heute selektiv geblieben. Gegenseitige Anleihen bleiben eindimensional.81 Dabei teilen viele Studien aus den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie eine gemeinsame Grunddisposition, die sich schon aus historisch gewachsenen Ansatzpunkten erklren lsst. Als erster wichtiger Referenzpunkt steht auch in der soziologischen Forschung das Werk Max Webers, dessen Sichtweise des Unternehmens eng mit seiner Vision der Wirtschaft und des Wirtschaftens als Handlungsmodus verbunden ist.82 In dieser Perspektive ist Webers Erklrungsansatz wirtschaftlichen Handelns richtungweisend fr die weitere Diskussion gewesen; so nimmt er mit der Einfhrung des Begriffes der Verfgungsgewalt ein Konzept vorweg, das erst mit den Anfngen der Institutionençkonomie zwanzig Jahre spter langsam Eingang in die wirtschaftswissenschaftliche Forschung im engeren Sinne fand.83 Organisation als idealtypisches Leitungsinstrument einer brokratischen Herrschaft wird bei Weber im Spannungsfeld von Handlungsoptionen und den Verfgungsrechten ber unternehmensrelevante Faktoren erklrt: „Die beherrschende Stellung des jenem Herrschaftsgebilde [Organisation] zugehçrigen Personenkreises gegenber den beherrschten ,Massen‘ ruht in ihrem Bestande auf dem neuerdings sog. ,Vorteil der kleinen Zahl‘, d. h. auf der fr die herrschende 81 Mc Kinley/Starkey ; Geiger/Schreyçgg; Koch. 82 „,Wirtschaft‘ soll ein autokephal, ,Wirtschaftsbetrieb‘ ein betriebsmßig geordnetes kontinuierliches Wirtschaften heißen“; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1 II, § 1, S. 31. 83 Coase. Als kurze Paraphrasierung dieses Ausgangsgedankens von Coase: „Die Beziehungen des Personals innerhalb einer Organisation sind zu kompliziert, um durch einen Preismechanismus vollstndig dezentralisiert zu werden. Wenn dem nicht so wre, drfte nach Coases Argument die Firma nicht existieren.“ Rosen, S. 85; hierzu auch der Klassiker der Neuen Institutionençkonomie: Williamson, Economic Institutions. North’s emphatisches „History matters“ schlug dabei die Brcke zur Unternehmensgeschichte North, Institutions, S. VII. Vonseiten der Unternehmenshistoriker wurden diese Anregungen zum Teil aufgegriffen Nieberding/Wischermann; Gorissen.

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Minderheit bestehenden Mçglichkeit, sich besonders schnell zu verstndigen und jederzeit ein der Erhaltung ihrer Machtstellung dienendes, rational geordnetes Gesellschaftshandeln ins Leben zu rufen und planvoll zu leiten […].“84

Webers Ausfhrungen sind leicht auf die Erfahrungen seiner Zeit zurckzufhren. Der wachsende Einfluss staatlicher Herrschaft auf die Organisation der Unternehmen kommt in der Analogie mit staatlich-brokratischen Herrschaftsmechanismen zum Ausdruck. Der Begriff der Organisation wird selbst von Weber als die „Verteilung der Befehlsgewalten“ verstanden.85 Die Massenpsychologie, die um die Jahrhundertwende verstrkt untersucht wurde, und eine diffuse Angst vor den sozialen Dynamiken innerhalb der neu entstehenden großen Belegschaften der Fabriken wurden hier ebenfalls aufgegriffen. Als Antwort hierauf schließt sich Weber einem technodeterministischen Begriff moderner Arbeit an. Seine Analysen des Arbeitsprozesses, gesttzt auf die Ideen Frederick W. Taylors86, kommen zu dem Schluss, dass es eine Kontinuitt der disziplinarischen Maßnahmen und Regeln in den Herrschaftsstrukturen des Staates und der Organisation gibt. Webers Gegenbild dazu ist die brokratische Lenkung des Unternehmens.87 Damit waren Webers Reflexionen zur Organisation zugleich Spiegel der wirtschaftlichen Dynamiken seiner Zeit und Ausgangspunkt einer soziologischen Reflexion, die bis heute die Debatte um Brokratisierung prgt. Den Begriff der Organisation allein mit einem weberschen Instrumentarium zu untersuchen, hieße, in eine Art autoreferenzielles Denkmuster zu geraten, dessen Analysemaßstbe in unserem Fall ußerst nahe an den zu untersuchenden Objekten selbst entwickelt wurden. Das brokratisierende Großunternehmen wrde sich zu schnell zu einem idealtypischen Fluchtpunkt entwickeln. Wichtigster Gegenpol zu einer rein endogenen Analyse der Organisation, in der Legitimationen und Vorstellungen einer Hierarchie problematisiert werden und in der die Organisation damit letztlich als ein Bndel relevanter Handlungen verstanden wird,88 sind die systemischen Forschungsanstze. Diese begreifen die Organisation als selbststndige Einheit, die ihrerseits das Handeln der einzelnen Akteure erst kodiert.89 Die Organisation ist danach Unterform eines sozialen Systems und damit eines zunchst selbstreferenziellen Gebildes. In dieser Auffassung hat das Unternehmen keine Organisation, es ist eine Organisation. Vollstndig andere Untersuchungspunkte ersetzen die Analyse hierarchischer Handlungsbeziehungen, wie sie ber beinahe 84 85 86 87 88 89

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2 IX § 3, S. 548. Ebd., 2 IX § 3, S. 549. Taylor, Grundstze. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2 IX, Kap. 5, § 3, S. 686. auch ebd., 1 II § 25, S. 86 f. Etwa Dietz. Ausgangspunkt hierfr sind Luhmanns Reflexionen zu sozialen Systemen, die mit dem Begriff der doppelten Kontingenz auch Anregungen in Richtung neuer spieltheoretischer Analysen geben; Luhmann, S. 44; als Anwendungsbeispiel: Tacke, Systemrationalisierung.

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hundert Jahre charakteristisch fr die Organisationsanalyse war. Die „postmoderne“ Organisationsforschung90 sucht im Kern nicht mehr nach der Rationalitt çkonomischer Zielvorstellungen in interessegeleiteten Organisationen, sondern nach der Bestimmung und Genese dieser Rationalitt.91 Im Mittelpunkt stehen also Modalitten des Austausches zwischen Organisation und Umwelt, die ihrerseits dadurch bestimmt werden, wie die Organisationsgrenzen gestaltet sind,92 die durch die Austauschkanle – etwa die wechselseitig fließenden Informationen93 – stabilisiert werden. Eine Einflussnahme auf das System als Ganzes kann daher nur ausgehen von der Optimierung der bersetzbarkeiten der sprachlichen Vermittlung verschiedener innerbetrieblicher Akteure. Die unterschiedlichen Logiken, nach denen diese Akteure vorgehen und mit denen sie eigene Ansatzpunkte glaubhaft darlegen wollen, mssen in die Zielorientierung des sie umgebenden Rahmens eingepasst werden, was sich mit Priddat auch als ein bersetzungsproblem ausdrcken lsst: „Diese Polylingualitt bedeutet, viele divergente Semantiken, die nicht ohne weiteres ineinander bersetzbar sind, auf spezifische Unternehmens- und Organisationsziele hin zu koordinieren.“94 Als besonders wichtige Fhigkeit des Unternehmens erweist sich hierbei die Kapazitt, interne Subsysteme zu bilden. Die Gestaltung solcher Untersysteme ist im unternehmenssoziologischen Sinne als Hierarchisierung zu verstehen. Ihre interne Differenzierung, durch die sie ihren Wirkungsgrad erreichen, hngt von den Potenzialen zur Selbstorganisation ab.95 Die Hierarchie ist in dieser Form der systemischen Analyse nicht mehr der Ort der Umwandlung innerbetrieblichen Wissens in Produktionszusammenhnge, sondern vielmehr der Austauschpunkt von endogenen und exogenen Rationalitten und Mittel zur Reduktion eines Komplexittsgeflles.96 Das Unternehmen bildet in seiner relativen Geschlossenheit und gleichzeitigen Abhngigkeit also einen interessanten Fall zur Anwendung der Systemtheorie, die von der Geschichtswissenschaft bislang hufig ausgeklammert wurde.97 Im Sinne der historischen Forschung ist es allerdings keine befriedigende Option, dass in der Systemtheorie der einzelne Akteur und seine jeweiligen Handlungsmotivationen nahezu vollstndig ausgeblendet werden. Andere Konzepte, die den Akteuren grçßere Aufmerksamkeit schenken, wie der so90 Als Begriff immer hufiger zu finden, etwa Schreyçgg, Organisation und Postmoderne; Holtbrgge. 91 Tacke, Systemrationalisierung; Luhmann, S. 16. 92 Ebd., S. 40. 93 Lyotard; Koch; Ortmann, S. 187; Geiger/Schreyçgg; Mummert, S. 87; Aderhold, S. 160 ff. 94 Priddat, Soft Factors, S. 25 f. 95 Zum betriebswirtschaftlichen Begriff der Selbstorganisation nach Hayek Hinterberger; Faust e.a., S. 37 f.; Kappelhoff; Bardmann; Aderhold/Jutzi, Selbstorganisation; fr den unternehmenshistorischen Bereich wegweisend Berghoff, Zwischen Kleinstadt. 96 In theoretischer Perspektive hierzu auch Buskotte, S. 50 ff. 97 Becker, S. 8 ff.

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ziologisch erweiterte Neue Institutionalismus,98 die rational-choice-Analyse99 oder der identittstheoretische Ansatz,100 schienen im Sinne einer historischen Forschung eher operationalisierbar zu sein. Doch auch in der Soziologie gibt es Versuche, die eine Vermittlung zwischen einer systemischen und einer Handlungsperspektive anregen. Dies gilt in erster Linie fr die Untersuchungen von Michel Crozier und Eberhard Friedberg, die Artikulationsmçglichkeiten zwischen Akteur und System in den Mittelpunkt rcken.101 Nach den Untersuchungen der beiden Autoren ist es zwar mçglich, die Individuen als Mitglieder eines Systems zu beschreiben, von dem sie in ihrer Logik abhngig sind, da dieses sie erst in ihrem Akteursstatus festlegt.102 Allerdings betonen die Autoren: „Das Verhalten gegenber seinen Vorgesetzten in der Hierarchie entspricht keinesfalls einem einfachen Modell von Gehorsam und Konformismus, auch wenn man dieses Modell durch passiven Widerstand ergnzt.“103 Der Akzent ihrer Untersuchung liegt darauf, dass die Akteure dazu tendieren, in stndigen Neuverhandlungen ihre Positionen und die von ihnen verwalteten Unsicherheitszonen weitgehend auszubauen: Die Spannung zwischen den offiziellen Regeln und dem Versuch der Akteure, ihre eigenen Prferenzen durchzusetzen, macht das Wesen der kollektiven Handlungen aus.104 Fr Crozier und Friedberg ergibt sich daraus eine spieltheoretische Herangehensweise, in der nach asymmetrischer Verteilung der Handlungsressourcen gefragt wird. Dabei unterscheiden sie vier Quellen fr diese systemisch umschriebenen Ressourcen: 1. aus einer bestimmten Qualifikation hervorgehende, 2. aus einem Organisations-Umwelt-Verhltnis entstehende, 3. aus der Dominanz von Kommunikation und Information hervorgehende und 4. in den Regeln der Organisation festgeschriebene Machtverhltnisse.105 Die Tatsache, dass also eine vermeintlich fixierte Organisation stndig wieder durch die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder infrage gestellt wird, macht sie zu einem fluiden, in jedem Moment interaktiven Geflecht. Crozier und Friedberg betonen dabei: „Es ist nicht so sehr das interne, situationsabhngige Handlungssystem, das es zu untersuchen gilt, sondern die Regulationsmechanismen, die das Verhltnis von System und Umwelt bestimmen.“106 Doch anders als in einer rein systemischen Perspektive werden hier die Perzeption und dadurch auch die Vernderlichkeit durch den Akteur mitgedacht. Die Organisation des Unternehmens zeigt sich als weder von der 98 Rehberg, S. 39 ff. 99 Voss, S. 170 f. Zur grundstzlichen Infragestellung der çkonomischen Rationalitt auch: Beckert, S. 25 ff. 100 Lhrmann. 101 Crozier/Friedberg. 102 Ebd., S. 11. 103 Ebd., S. 43. 104 Bernoux, Entreprises, S. 26 ff.; Edeling, S. 226 ff. 105 Crozier/Friedberg, S. 83. Jrgens/Naschold. 106 Crozier/Friedberg, S. 162.

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Technik noch von der sozialen Konstellation determiniert107 und eine handlungsorientierte Analyse wird mçglich.108

Fragen an die historische Organisationsanalyse Aus diesen methodischen Vorberlegungen und den aktuellen Fragen der unternehmenshistorischen Organisationsforschung in Deutschland und Frankreich ergibt sich ein Untersuchungskatalog endogener und exogener Elemente unternehmerischer Organisation. Zwar verbietet das zu untersuchende Objekt jeden Anspruch auf absolute Vollstndigkeit und Ausschließlichkeit, die angefhrten Punkte erscheinen uns allerdings fr die hier untersuchten Fallstudien als aussagekrftige Elemente, um hierauf einen komplexen Organisationsvergleich zwischen den Fallstudien aufbauen zu kçnnen, ohne dabei den Blick fr die spezifischen Entwicklungslinien zu verstellen.

Grafik 1: Organisation und Umwelt.

Das Untersuchungsraster besteht aus folgenden neun Punkten: Neben der Beschreibung der Akteure und ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Handlungsdispositionen gilt es, die dynamischen Vernderungen des Systems im Untersuchungszeitraum durch die Verwendung von Wissen, organisati107 Eine Tatsache, die die Organisationssoziologie ber einen gewissen Zeitraum in eine Art Sinnkrise gestrzt hat; Prost, S. 79 ff.; Beckenbach, Rationalisierung, S. 92; Docks, S. 151 ff.; erste produktive Lçsungen der Dichotomie von Plnen und situativen Aktionen etwa durch Suchman, S. IX f. 108 Etwa Bernoux, Entreprises, S. 26 ff.; Sainsaulieu/Segrestin, S. 335 ff.

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onsspezifische Kulturangebote, die Kommunikation und die Disziplin im Unternehmen darzustellen. Ferner mssen die Konstruktion von Hierarchien, die sich hieraus ergebenden Handlungslogiken und schließlich die Logik der Grenzziehungen zwischen System und Umwelt behandelt werden. Miteinander in Beziehung gesetzt, ergeben diese Punkte das Schema, das in Grafik 1 dargestellt ist. Aus der Doppelbeziehung von Organisation und Umwelt ergibt sich eine Bewegung, die nicht eindeutig einer der beiden Sphren zuzuordnen ist, sondern ihren Impuls aus der Interaktion und der hybriden Abgrenzung gewinnt.109 Im Sinne einer begrifflichen Operationalisierung werden die exogenen und endogenen Elemente der Unternehmensorganisation im Folgenden kurz zusammengefasst, bevor sie in den Fallstudien angewendet werden sollen.

Exogene Organisationselemente Die Frage, ob sich ein System rationalisiert und was es als ratio annimmt, kann nicht nur durch die interne Handlungsanalyse beantwortet werden, wie dies lange Zeit vonseiten der Rationalisierungsforscher geschehen ist. Sie ist vor allem auch eine Frage der ußeren Grenzen und ihrer Durchlssigkeit fr den Austausch verschiedener Rationalittsnormen. Veronika Tacke hat auf dieses Problem aufmerksam gemacht und gleichzeitig festgestellt, dass die Rationalitt eines Unternehmens auch darin bestehen kann, verschiedene Kreise der Grenzziehung im Unternehmen zuzulassen.110 Die Rationalitt eines Unternehmens wird zu einer Synthese verschiedener konkurrierender Umwelteinflsse, die untereinander in einer strengen Hierarchie stehen. Die Analyse einer Organisation, die von einer Mikrodimension ausgeht, birgt eine ernst zu nehmende Gefahr in sich: Sie entkoppelt die verschiedenen Analyseebenen und verstellt den Blick fr die Tatsache, dass sich ein System nicht nur ber seine Binnenbeziehungen, sondern gerade auch ber seinen Außenbezug und die Verbindung von lokalen, nationalen und internationalen Bezgen definiert. Um dieser Gefahr angemessen zu begegnen, ist eine Forschungsmethode notwendig, die die Geschichte eines Unternehmens nicht induktiv auf einer rein mikrohistorischen Ebene untersucht, sondern Bezge zu außen stehenden rumlichen und sozialen Einheiten in die Funktionsanalyse einbezieht. Im Unternehmen treffen rumliche und soziale Ordnungen aufeinander. Einen ersten Aspekt, durch den die Organisation des Unternehmens auch in ihren externen Bezugssystemen zu untersuchen ist, stellt etwa die Analyse von Wissensflssen dar. Die Verbindungen zwischen dem produktions- sowie organisationsspezifischen Wissen und externen Institutionen, etwa den akade109 North, Institutions, S. 48 ff. 110 Tacke, Systemrationalisierung, S. 7.

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mischen Forschungsinstitutionen oder den nach der Jahrhundertwende entstandenen Mrkten fr professionelle Unternehmensberatung, werden von der aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Literatur hoch bewertet.111 Da die Stabilisierung des Produktionssystems in einem stets dynamischen Umfeld, also in einem latent instabilen Gefge, die entscheidende Funktion der Unternehmensorganisation ist, erhalten die Schnittstellen zu externen Kontexten auch in einer spezifisch systemischen Analyse eine hervorgehobene Bedeutung. Hier sind Fragen nach Institutionen, aber auch nach den jeweiligen Trgern von neuen Wissensformen und ihrer Integration in die Unternehmen zu untersuchen. Mit seinem direkten Bezug zur Anwendung stellt das Unternehmen eine interessante Verbindung von akademischer Wissenschaftlichkeit und praktischem Erfahrungswissen dar. Es ermçglicht prinzipiell auch die Interaktivitt von Wissen zwischen gesellschaftlichen Institutionen, etwa in Form staatlicher Ausbildungssysteme,112 und wirtschaftlicher Anwendung in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne werden in dieser Arbeit auch Fragen zur Wissensgesellschaft und der entstehenden Verwissenschaftlichung behandelt. Wissen im Unternehmen kann nicht von breiteren gesellschaftlichen Wissenszyklen entkoppelt werden. Dies gilt etwa fr die Geschichte unternehmensinterner Sozialstatistiken, die sich in vielen deutschen Unternehmen parallel zu entsprechenden staatlichen Bemhungen entwickelten.113 Anhand solcher statistischer Abteilungen ist auch die Geschichte der Institutionalisierung von Wissensformen in Unternehmen und beim Staat zu beobachten.114 Wenn Tendenzen, wie die zu einer statistischen Erfassung der Bevçlkerung oder der Ausweitung wissenschaftlicher Felder als allgemeine Indikatoren einer sich diversifizierenden Wissensgesellschaft gelesen werden,115 ist zu fragen, ob eine solche Entwicklung sich im Inneren der unternehmerischen Systeme spiegelbildlich reproduzierte oder ob es autonome unternehmerische Entwicklungspfade gab, die auf neue gesellschaftliche Wissensformen lediglich als „Inputfaktoren“ zurckgriffen. Stellt man die innere Dynamik als Ergebnis der Interaktion mit der Außenwelt dar, dann ist allerdings auch klar, dass nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig, auf makroçkonomischer, also nationaler Ebene nach dominanten Vernderungsschemata gesucht werden kann. Die Untersuchung der Unternehmensorganisation muss also jenseits der beinahe reflexhaften und historisch kontingenten Beschreibung Taylorismus-Fordismus-Toyotis111 Williamson, Economic Institutions, S. 281 ff.; Chandler, Scale and Scope, S. 33. Zum Beratungswesen gibt es allerdings bis heute nur wenige systematische Studien, etwa Kipping, American Management; Werr. 112 Thelen. 113 In dieser Hinsicht relevant Tooze, S. 3; Stehr, S. 16 f. 114 Murmann spricht in diesem Zusammenhang vom methodischen Beitrag der „organizational ecologists“; Murmann, Knowledge, S. 6 f. 115 Etwa im Sinne von Raphael.

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mus durchgefhrt werden.116 Eine solche paradigmatische Verdichtung zu bestimmten Produktionsmustern wrde den Blick auf die Dynamiken einer andauernden Grenzverschiebung und das Wechselverhltnis zwischen dem Unternehmen und seiner Umwelt verstellen.117 Zur Genese der Verhandlungsmacht der unternehmerischen Akteure gehçrt es, die sozialen Ungleichheiten in Arbeitsprozessen als Basis der individuellen Handlungsressourcen nicht nur zu konstatieren. In einem gewissen Maße impliziert dies auch die Analyse des jeweiligen sozialen Kapitals der Akteure, der Netzwerke, in denen sie sich situieren, und der Ressourcen, derer sie sich in ihren Forderungen bedienen.118 Die Angehçrigen eines Systems bestimmen sich durch die Abgrenzung zu anderen Entitten. Wenn allerdings das Unternehmen als Identittsschçpfer verstanden wird, so muss auch danach gefragt werden, ob ein solches System klare Grenzen aufweist oder ob es unterschiedliche Grade der Zugehçrigkeit geben kann. Ist es den Akteuren etwa mçglich, sich mit bestimmten Unternehmensteilen zu identifizieren, aber eine klare Distanz zum Gesamtunternehmen zu behalten? Eine solche Frage rckt die kulturellen Bezge der Unternehmensangehçrigen in den Blick und kommt nicht an der Frage der Kultur im Unternehmen vorbei. Kultur im Sinne einer „Corporate Culture“ schien in der betriebswirtschaftlichen Diskussion zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine praktikable neue Ressource aufseiten des Managements zur Homogenisierung autoritr schwer zu durchdringender Freirume in einer Organisation darzustellen.119 Mit verhltnismßig geringem Kostenaufwand schien es mçglich, Zielabgleichungen unter den Organisationsmitgliedern herzustellen.120 Seit der „Entdeckung“ dieses frhen positiven Konzeptes wurde diese Auffassung der Unternehmenskultur allerdings immer wieder kritisch hinterfragt.121 Die Interaktivitt von Kultur, also wenn Kultur umgehend mit Gegenkultur beantwortet wird,122 und das Abhngigkeitsgeflecht, in dem sich solche Partikularkulturen bewegen, hat die anfngliche Euphorie infrage gestellt. Zwar ist kaum zu bestreiten, dass Leitbilder und informell vermittelte Normen eines wie immer gearteten Systems von denen außerhalb dieses Systems differieren kçnnen; die grundstzliche Frage besteht allerdings darin, ob und in welchem Maße es einzelnen Akteuren im Unternehmen mçglich ist, 116 Fear, S. 5; Erker, Aufbruch, S. 328 f.; Cohen, Organiser, S. 9 ff.; als Beispiele einer relativ einfachen Perspektive auf diese Beziehung Faust e.a., S. 12; Sheldrake. 117 In diese Richtung die neueren evolutionstheoretischen Anstze, die auf der Perspektive von interaktiven Spielen und Aushandlungsprozessen beruhen, zusammengefasst in North, Hayeks Beitrag. 118 Adler/Seok-Woo, S. 97 f. 119 Als prototypisches Beispiel: Schein, S. 28. 120 So unterschied schon Rhli diese „instrumentellen“ Konzepte der Unternehmenskultur von dem sehr viel differenzierteren „institutionellen“ Verstndnis; Rhli, S. 296 f. 121 Eine systematische Zusammenfassung der Diskussion bietet Welskopp, Unternehmenskulturen. 122 Wittel, Belegschaftskultur ; Nieberding, Unternehmenskultur, S. 282 ff.

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diese Kultur zu instrumentalisieren. Ist Kultur im Unternehmen nicht in erster Linie eine Handlungsressource, die sich wesentlich aus externen sozialen Kontexten preformiert? Gefragt werden muss hier beispielsweise nach der Integration konfessioneller Prgungen oder der sozialen Herkunft der im Betrieb beschftigten Arbeiter. Ferner gehçren dazu auch die Austauschverhltnisse mit kulturellen Institutionen auf einer geographisch beschrnkten Ebene. Vor dem Hintergrund einer linguistischen Hinterfragung fasst diese Perspektive das Unternehmen als semantisches Feld auf und rckt die prinzipielle Schwierigkeit der Akteure, miteinander zu kommunizieren, in den Mittelpunkt.123 Die Schnittstellen zwischen Umwelt und Organisation sind damit in erster Linie sprachliche Grenzen, die allerdings durch die unterschiedlichen sozialen Handlungsformen im Inneren der Organisation kontinuierlich reproduziert werden. Die entscheidende Rolle in einem solchen polylinguistischen Feld kommt dabei dem bersetzer zu, eine Aufgabe, die Casson den Unternehmern zuschreibt.124 Doch nicht nur in der Analyse von Handlungsressourcen spielt die Frage nach der Kultur eine Rolle, die die strukturellen Grenzen des Unternehmens weit berschreitet. Soziokulturelle Werte normieren auch die innerbetrieblichen hierarchischen Strukturen und ihre positiven und negativen Sanktionen. Dies gilt in besonderem Maße fr die Frage der innerbetrieblichen Disziplinierung. Der Begriff der Disziplin spielte seit dem Beginn der Organisationsforschung eine Schlsselrolle im Verstndnis von wirtschaftlichen Systemen. Max Weber sah neben dem Heer im çkonomischen Großbetrieb den „zweiten großen Erzieher zur Disziplin“, dessen „aufgebaute rationale Abrichtung und Einbung von Arbeitsleistungen“ im „Scientific Management“ nach Frederick W. Taylor seinen Hçhepunkt erreicht habe.125 Whrend allerdings Weber fr den vormodernen Betrieb die Ausbung kçrperlicher Gewalt als Begrndung geltend machen kann, fhrt er keinen entsprechenden Mechanismus fr den modernen, gewaltfreien Großbetrieb an, der die vollstndige Disziplinierung der Belegschaft, teilweise weit ber die Grenzen der Betriebe hinaus, htte erklren kçnnen. Als Begrndung wurden hier bereits frh Selbstorganisations- und Selbstdisziplinierungsmçglichkeiten eines Systems angefhrt. So beschrieb Antonio Gramsci ein solches System wie folgt: „Ein kollektiver Organismus wird von einzelnen Individuen gebildet, indem sie sich eine Hierarchie und eine bestimmte Fhrung gegeben haben und dies akzeptieren.“126 Die Organisation wurde zu einer sich selbst disziplinierenden Einheit, deren Mitglieder den Sinn nicht mehr infrage stellten, weil sie ein gemeinsames Ziel akzep123 124 125 126

Priddat, Soft Factors, S. 25 f. Casson, Unternehmer, S. 525 ff.; Casson, Information, S. 5 f. Weber Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 2, Kap. IX 5, § 3, S. 686. Gramsci, S. 365 und 370 ff.

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tierten. Diese Form der Selbstorganisation, die spter in deutlich optimistischerer Lesart einen wichtigen Ansatz in der liberalen Interpretation des Unternehmens spielen sollte,127 wurde von Foucault in Zweifel gezogen. Die Disziplin setzte seiner Auffassung nach ein Mittel voraus, das in erster Linie durch die berwachung der Arbeiter wirken konnte. Von entscheidender Bedeutung war dabei, neben der festen Einschreibung dieses disziplinierenden Verhltnisses in die Architektur des Unternehmens, auch der Netzwerkcharakter der berwachung: „Mit ihr wird die Disziplinargewalt ein ,integriertes‘ System, das von innen her mit den konomien und den Zwecken der jeweiligen Institution verbunden ist und das sich so zu einer vielfltigen, autonomen und anonymen Gewalt entwickelt. Denn die berwachung beruht zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz ,hlt‘ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig sttzen: pausenlos berwachte berwacher.“128

Besonders die Paternalismusforschung – gerade in Frankreich eines der klassischen Untersuchungsfelder der Unternehmensgeschichte – hat dieses Geflecht von normierten und symbolisch vermittelten Gewaltformen im Unternehmen erkannt und zu beschreiben versucht.129 Eine der entscheidenden Fragen dabei ist, wie diese Gewalt von der umgebenden Gesellschaft sanktioniert und akzeptiert wird, als „Analyse der Entstehung paternalistischer Instrumente“130 ganz im Sinne der Paternalismusdefinition von Noiriel. Er beschreibt den Begriff als „strukturiertes Ensemble materieller, ideologischer und politischer Mittel zur Ausbildung und Erneuerung der fr einen Produktionsprozess notwendigen Arbeitskrfte in einer bestimmten Region“ .131 Die soziokulturelle Analyse des Unternehmens stellt die Frage nach den Grenzen des Wirkungsbereiches bestimmter Wertekataloge. Fr welche Personengruppen erlangen sie ihre Wirkung und sind multiple Zugehçrigkeiten zu verschiedenen Systemen dabei vorstellbar? Diese Frage stellt sich insbesondere fr Arbeiter, die in einem peripheren Verhltnis zu diesem System stehen, wie beispielsweise Familienmitglieder von Stammarbeitern, Zulieferer, Saisonarbeiter etc. Sie stellen das Bild des Unternehmens als geschlossene Entitt infrage. Ein Hilfsmittel kann hier die Verbindung zur Organisation des Raumes sein, die das Unternehmen schon rein physisch von seiner Umwelt abgrenzt.132 Die Frage nach den Mechanismen solcher Abgrenzungsprozesse, nach den berbrckungen des Raumes als trennendem Faktor, aber auch die 127 128 129 130

Hayek, S. 30 ff. Foucault, Surveiller, S. 208 (bersetzung nach: Foucault, berwachen, S. 228). Gueslin, S. 203; Kott, Enjeux, S. 647; Schweitzer, „Paternalisme“, S. 15. Bourguinat, S. 44. Als Beispiel der immer noch gngigen klassischen Verwendung Bortz, S. 172. 131 Noiriel, Longwy, S. 164. 132 Cohen, Organiser, S. 14.

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Aneignungsstrategien eines Raumes als Bezugsrahmen individueller Handlungen bilden einen weiteren Schwerpunkt der Analyse der Unternehmensorganisation. Der Bezug zum lokalen Umfeld ist nicht nur deswegen zentral fr die Genese der Organisation, weil ein Raum erst durch seine soziale und wirtschaftliche Nutzung berhaupt eine Existenz annimmt und dadurch als Objekt den „Berhrungspunkt zwischen Rumlichem und Sozialem“ darstellt,133 sondern auch, weil die Aneignung des Raumes erstes und wichtigstes Anliegen einer zentralisierten Planung ist.134 Der wohl direkteste Bezug zwischen unternehmerischem Produktionssystem und Umwelt liegt auf einer lokalen Ebene. Vor dem Hintergrund jngerer historischer Forschungen treten dabei immer wieder die Prgungen in den Vordergrund, die bestimmte Unternehmen ihren rumlichen Umwelten zu geben verstanden. fter, als dies das Bild der deutschen Großindustrie zunchst vermuten lsst, siedelten sich Unternehmen bewusst in lndlichen, strukturschwachen Regionen an und nutzten diese nicht nur als offenen Handlungsspielraum fr ihre Organisation,135 sondern sttzten sich auch auf die vorhandenen Sozialstrukturen als wichtige Ressource fr die innere Strukturierung des Unternehmens.136 Gerade diese lndlichen Kontexte bieten allerdings nicht nur Raum fr Erfolgsgeschichten, sondern immer wieder auch fr mangelnde Adaption und daraus bedingte Dysfunktionen.137 Die Wahl zwischen dem Versuch, die bestehenden Verhltnisse zu adaptieren und in das Unternehmen zu integrieren oder sie vollstndig neu zu gestalten, ist eine aktive und gleichzeitig kontingente Entscheidung der Akteure, die ein wichtiges Element historischer Analyse bildet. Endogene Organisationselemente Wenn das Unternehmen in seinem internen Organisationsaufbau analysiert wird, verndern sich notwendig auch die Analyseebenen. Die zuvor strker systemischen, von den Organisationsgrenzen und -schnittpunkten her gedachten Analyseelemente treten zugunsten einer strker akteursfixierten Perspektive in den Hintergrund. Die erste Gruppe von Akteuren, die dabei deutlich hervortritt, ist die der Unternehmer und Unternehmensleiter, die nicht nur in der historischen, sondern auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung im Mittelpunkt der Diskussion stand.138 Ihre Autorenschaft fr die Organisation des Unternehmens, ihr sozialer Hintergrund und die Reichweiten ihrer Handlungs133 134 135 136 137 138

Auriac, S. 10. Ebd., S. 40. Blaschke. Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 248. Bourginat. Redlich, Anfnge, S. 40; Redlich, Unternehmer ; Kocka, Unternehmer, S. 110 ff.

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spielrume sollen in der Analyse der jeweiligen Fallstudien kritisch beleuchtet werden. Neben ihren Strategien und Entwicklungsvorstellungen fr das Unternehmen stehen Fragen nach ihrer Legitimation im Unternehmen und ihren Spielrumen in einem Aushandlungsprozess formeller und informeller Regelkodizes im Vordergrund.139 Doch schon die Konfrontation der Wirtschaftswissenschaften mit der offenkundigen Entwicklung vieler Unternehmen fhrte zu einem Mangel an Erklrungskapazitt dieses Modells, in dem in erster Linie eine einzelne Person die Dynamik des Systems verkçrperte. Wie wichtig der Beitrag anderer professioneller Gruppen im Aushandlungsprozess des Unternehmens ist und wie wenig die Realitten der Produktion teilweise vom Willen des Unternehmers gelenkt werden kçnnen, machen verschiedene seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandene Studien deutlich, die die Freirume der Werksmeister untersucht haben.140 Seit dieser Zeit ist die soziale Ungleichheit am Arbeitsplatz und die Differenzierung innerhalb der Arbeitergruppen ein beherrschendes Paradigma der Forschung.141 In dieser Perspektive untersuchen die Fallstudien etwa die Aushandlungsprozesse zwischen den divergierenden Interessen im Unternehmen. Zudem stellt sich die Frage, wie sich das Selbstverstndnis der Akteure in der sozialen Dynamik am Arbeitsplatz verorten lsst. Wie schon bei der Gruppe der Unternehmer ist auch fr die brigen Akteursgruppen eine sozialgeschichtliche Analyse zunchst der wichtigste methodische Zugang zur Beschreibung ihrer Handlungsoptionen in der Organisation. Zahlreiche Studien sttzten sich auf eine solche Methode, etwa zum bergang vom Unternehmertum zum modernen Management,142 zu Kompetenzverschiebungen zwischen akademischem Personal, Werksmeistern und Aufsehern143 in der Produktion, aber auch zu sozialem Aufstieg und Prekarisierung bestimmter Arbeits- und Anstellungsformen, gerade auch im Kontext der Geschlechtszuschreibung bestimmter Arbeitsformen.144 Darber hinaus schrieb die Formalisierung von Autorittsbeziehungen Freirume fest, die ohne die Institutionalisierung von Arbeitsbeziehungen, etwa durch Werksordnungen, nicht mçglich gewesen wren.145 Schließlich gilt es auch das Autoritts- und berwachungspersonal zu betrachten, steht es doch in einem konstanten Widerspruch divergierender Handlungslogiken, da es hufig eine exekutive und eine kontrollierende Funktion gleichzeitig inne hatte.146 139 140 141 142 143 144 145 146

Kocka, Großunternehmen, S. 42 und S. 56; Kocka, Legitimationsprobleme, S. 10 f. Kocka, Unternehmensverwaltung, S. 223 ff.; als weitere Beispiele Siegrist; Lefebvre. Kaelble, Industrialisierung, S. 61. Pollard, S. 3; zu diesem bergang zu einem professionellen Management auch Kocka und Chandler: Kocka, Management; Chandler, Visible Hand. Lefebvre; Lepsius. Frevert, Vom Klavier; Nienhaus. Braun/Eberwein/Tholen, S. 310. Vandecasteele-Schweitzer, Comment, S. 95; Bourguinat, S. 53.

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Als umfassender Schlssel zu einer solchen Sozialgeschichte des Unternehmens behlt das Konzept des Paternalismus nach wie vor eine entscheidende Bedeutung. Im Sinne eines kulturhistorisch erweiterten Umgangs mit diesem Konzept erscheint es allerdings notwendig, industriellen Paternalismus nicht ausschließlich als unmittelbare Form der Herrschaftsausbung zu untersuchen, sondern ihn auch als diskursive Strategie in den Blick zu nehmen. Welches sind die sprachlichen und symbolischen Strategien, durch die Loyalitt und Disziplin in hierarchischen Linien erzeugt werden?147 Und welche Akteure gebrauchen zu welchem Zeitpunkt die Rede vom Paternalismus als Strategie zur Verteidigung ihrer Interessen? Die kulturelle Inszenierung von Machtverhltnissen fhrt unter bestimmten Umstnden zu Bereichen formalisierter Primrmacht und informell kodierter Sekundrmacht,148 bei der berwachungsszenarios, aber auch kulturelle Codes, wie der der Werksfamilie entscheidende Bedeutung erlangen, um Belegschaften zu orientieren, Handlungen zu stabilisieren, Kontrollkosten zu minimieren und kostenintensive Hierarchietiefen abzubauen.149 Die untersuchten Unternehmen konnten vielfach auf solche Symbole und symbolische Handlungen zurckgreifen. Dies legt nahe, auch in einer historischen Perspektive die Frage nach diesem offiziellen Angebot nicht als Frage nach der „Unternehmenskultur“, sondern als Frage nach dem Angebot von „Firmenideologie“ zu fassen.150 Doch die Frage nach der Kultur in einer Organisation bleibt nicht auf diese „ideologischen“ Aspekte beschrnkt. Eine Analyse der Unternehmenskultur sollte sich darber hinaus auch mit mçglichen Gegenkulturen auseinandersetzen. Diese anhand der hufig lckenhaften Quellenlage nachzuvollziehen, ist oft schwierig. Wenn auch nicht immer ein dichtes Bild dieser „anderen“ Kultur des Unternehmens gezeichnet werden kann,151 so ist es umso wichtiger, aufzuzeigen, in welchen Institutionen eine solche Kultur entstand, wer die innerbetrieblichen Akteure waren oder wie groß der Raum war, der ihr vonseiten der Werksleitung eingerumt wurde. Fr die Analyse der nicht formalisierten kulturell konnotierten Faktoren der Unternehmensorganisation ist ferner die Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Kommunikation – so heben heute Forscher aller Fachrichtungen hervor152 – ist einer der wesentlichen Schlsselpunkte, um die „knowledge based organization“ zu verstehen.

147 Reid, Le nom. 148 Hierzu die Unterscheidung in eine unmittelbare Primrmacht und eine kollektiv ausgehandelte Sekundrmacht; Jrgens, S. 61. 149 Kieser, S. 1577. 150 Hesslinger; Wittel, Firmenideologie. 151 Hierzu Alvesson, S. 64. 152 Als Beispiel: Welskopp, Das institutionalisierte Misstrauen; als Leitfaden in einer Flle verschiedenster Forschungsprojekte: Jablin/Putnam.

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Außer Zweifel steht allerdings, dass es hierbei nicht allein um den Austausch von Informationen geht. In einer umfassenderen Interpretation reproduziert jeder Kommunikationsakt ein Machtgefge. Gerade in einer großen Organisation wird nach bestimmten, teils expliziten Regeln kommuniziert. Es ist festgelegt, wie oft und von wem Berichte zu schreiben und an welche Instanzen diese zu leiten sind. Durch die soziale Praxis, diese Regeln zu befolgen, wird eine Hierarchie geschaffen, die offizielle Schemata, etwa in Form von Organigrammen, entscheidend ergnzen kann. Durch den Verstoß gegen diese Regeln, so Putnam und Fairhurst, werden diese infrage gestellt und neue Regeln etabliert: „The study of rules that govern language use in particular settings extends the research on speech communities. Communication rules are guidelines for appropriate actions; […] through commonsense knowledge and past experiences, individuals share agreement on and an understanding of communication rules. Reactions to rule-governed behaviour include compliance, non-compliance, ignorance, forgetfulness, and reflectiveness. In cases where misunderstandings occur and rules are violated, interactants may negotiate new rules for language use.“153

Priddat spricht in diesem Zusammenhang von sprachlichen Spielen, die das Regelverhalten einer Institution erst kodifizieren. Zwar sind solche Spiele prinzipiell vernderlich, allerdings zeigen sie eine erstaunliche Persistenz gegenber kurzfristigen Vernderungen, da sie tief in den sozialen Handlungsgewohnheiten der Akteure verwurzelt sind.154 Fr die Analyse des von verschiedenen Machtverhltnissen durchzogenen Diskursraumes des Unternehmens scheint es notwendig, die verschiedenen Ebenen und Funktionen auseinanderzuhalten, aus denen sich die Kommunikation im Unternehmen zusammensetzt.155 Mit den internen Kommunikationsstrukturen des Unternehmens eng verbunden ist ein letztes Element der internen Strukturierung des Unternehmens: Die Organisation der Wissensflsse. Ein Unternehmen hat ein vitales Interesse daran, Wissensreserven unter seinen Mitgliedern ausfindig und nutzbar zu machen. Dies gilt sowohl in einem wissenschaftlich-technischen Wissensverstndnis als auch in Bezug auf ein Organisationswissen, also die Kapazitt der Akteure, hierarchische Verhltnisse zu berblicken und in ihrem Sinne zu verwenden. Wirtschaftswissenschaftler haben hier eine erstaunliche Renitenz wirtschaftlicher Einheiten gegen Neuerungen ausgemacht, eine Feststellung, die die Basis des Konzeptes der Pfadabhngigkeit bildete.156 Um die Widersprche zwischen den Strategien verschiedener Akteure und das Verhalten niedriger Hierarchiestufen gegenber solchen Zen153 154 155 156

Putnam/Fairhurst, S. 94. Priddat, Zeit, S. 29. Yates. Arthur.

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tralisierungsversuchen zu untersuchen, erscheint es sinnvoll, das Element des Wissens mit einzubeziehen. Die Ordnung des Wissens ist ein Spiegel der Machtordnungen im Unternehmen. Hieraus ergibt sich einerseits die Frage, welches Wissen oder welche Disziplinen als „Herrschaftswissen“ an der Spitze des Unternehmens anerkannt werden; andererseits ist zu fragen, welches Wissen die Organisation erlangen kann und welche Elemente die Akteure gegenber der Unternehmensleitung zu verteidigen suchen.

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I. Chemische Industrie Die chemische Industrie war einer der Industriezweige, die in der zweiten Industrialisierung, also der Grndungs- und Wachstumsphase zwischen den frhen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und 1913, einen markanten Aufstieg erlebte. Auch wenn ihr Anteil an der gesamten volkswirtschaftlichen Produktion in dieser Zeit noch hinter den klassischen Industriesektoren der Metallindustrie zurckblieb, war und ist sie wegen ihrer Dynamik sowohl fr die Zeitgenossen als auch fr die historische Forschung von besonderem Interesse.1 Grafik 2 zeigt die Entwicklung der Beschftigten in der Chemiebranche.2 Neben allen Unterschieden der einzelnen chemischen Produktionen bilden ein Bndel struktureller und technischer Faktoren sowie einige gemeinsame Elemente der çffentlichen Wahrnehmung die Vergleichsbasis fr die Unter-

Grafik 2: Entwicklung der Beschftigten in der Chemiebranche absolut und relativ, 1890 – 1914.

1 Abelshauser, Von der Neuen Industrie, S. 11. 2 Entwicklung der Beschftigung in der chemischen Industrie in Deutschland, Zahlen nach: Fischer, Deutschland 1850 – 1914, S. 404 f.

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nehmen in Deutschland und Frankreich. Die wesentlichen Vernderungen fr den Konsumenten durch die Entwicklung neuer chemischer Produkte fhrten dazu, dass das innovative Potenzial der Branche schnell fr weite Bevçlkerungskreise sichtbar wurde. Die schwierigen und belastenden Arbeitsbedingungen, die einen großen Personaldurchlauf zur Folge hatten,3 sowie die wachsenden Umweltbelastungen durch die neuen Industrien4 waren Grnde, warum innerhalb der Bevçlkerung und der Politik heftig ber die neuen Produktionszweige der Chemiebranche diskutiert wurde. Gerade das Problem der hohen Fluktuationsrate der Beschftigten stellte die chemischen Unternehmen vor gemeinsame Herausforderungen. So wurden schnell die Probleme einer Personalverwaltung deutlich, die auf der einen Seite um Flexibilitt bemht sein musste, andererseits die Erhaltung eines stabilen Arbeiterstammes zum Anliegen hatte. Die schwierigen Arbeitskonditionen fhrten zudem dazu, dass viele Arbeiter freiwillig den Betrieb verließen, was bald in zahlreichen Unternehmen zu einem Problem wurde. In einem deutsch-franzçsischen Vergleich sind die vordergrndigen Unterschiede zwischen den Unternehmen zunchst auffllig. Die chemische Produktion war in Frankreich in erster Linie anorganisch,5 in Deutschland in weit strkerem Maße auch organisch.6 In Deutschland hing sie damit insbesondere von der Kohle als Rohstoff ab, in Frankreich dagegen eher von mineralischen Rohstoffvorkommen, unter anderem der Meersalzgewinnung. Trotz dieses grundstzlichen Unterschiedes stellte die Logik der chemischen Produktion die Unternehmen doch vor vergleichbare technische Probleme. So charakterisiert Boudet die Produktion der chemischen Industrie wie folgt: „Die Komplexitt der chemischen Vorgnge fordert nicht nur eine bedeutende technische Ausstattung, die hufig zu verndern und zu erneuern ist, und dadurch eine hohe fixe Kapitalausstattung mit den entsprechend teuren Gerten, sondern auch eine hoch bezahlte Arbeiterschaft, die mit hohen Temperaturen, großen Stromstrken und den unterschiedlichen chemischen Reaktionsketten umzugehen weiß.“7

Es ergab sich also fr die Produktionsorganisation ein Katalog gemeinsamer Problemstellungen, mit denen die Unternehmen jeweils spezifische Umgangsformen entwickelten. Die außerordentliche Bedeutung von Wissen als Inputfaktor gehçrt ebenso zu diesen gemeinsamen Problemstellungen, wie die große Zahl von Unternehmenseigentmern, die sich aus der Kapitalintensitt der Produktionsanlagen ergab. Ein weiteres aufflliges Element ist, dass der Einsatz kçrperlicher Arbeit schwer zu analysieren ist. Die Transfor3 4 5 6 7

Nieberding, Unternehmenskultur, S. 318. Andersen, Technologiefolgeabschtzungen, S. 88 ff.; Radkau, S. 276 f. Smith. Kiesewetter, S. 233 ff. Boudet, S. 173.

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mationsprozesse – in den Fertigungsindustrien die Kernaufgabe der Arbeiter, untersttzt von Maschinen – vollzogen sich in der chemischen Industrie abseits der Blicke der Belegschaft. Reflektierte die Unternehmensleitung also die Optimierung dieser Prozesse, bezog das die Arbeiter a priori nicht mit ein. So erklrt Tacke: „Taylorismus hat es in der chemischen Industrie […] zu keinem Zeitpunkt als typische Arbeitsform gegeben.“8 Hierdurch wurde die chemische Industrie weniger empfnglich fr neue Formen industrieller Rationalisierung und der Verwissenschaftlichung von Arbeitsverwaltungsaufgaben, die durch die frhen Arbeiten von Frederick W. Taylor und seiner optimierenden Bewegungsanalysen, durch ergonomische Studien oder die Anfnge des Fließbandsystems ab der Jahrhundertwende in vielen Unternehmen angewendet wurden. Die Chemie war somit eine Branche, in der sich die Eigenheiten der Unternehmen im Wesentlichen auf den technischen Bereich bezogen. Die Qualifikation der Arbeiter, aber auch die Definition ihrer manipulativen Aufgabenbereiche machte sich zwischen den einzelnen Unternehmen weniger bemerkbar als in anderen Branchen. Hierdurch kçnnen auch Unternehmen miteinander verglichen werden, die – wie im Fall von Bayer und PCAC – nur wenige Gemeinsamkeiten in Hinblick auf ihre technische Ausstattung und ihre Produktpalette hatten. Verglichen werden in erster Linie Aspekte der Arbeitsorganisation und der Hierarchisierung des Unternehmens vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Austauschprozesse mit der Umgebung der Firma. Unternehmen aus der Chemiebranche bieten sich fr die Fallstudien auch an, da die chemische Industrie in vielfacher Hinsicht auf Austauschprozesse setzt. Wie spter zu zeigen sein wird, war nicht nur die Personalfluktuation zwischen chemischen Unternehmen sehr hoch, auch der Austausch von produktions- und organisationsspezifischem Wissen war hier besonders vielfltig. Schließlich waren chemische Unternehmen immer durch den Austausch von Produkten, also durch Liefervertrge, und persçnliche Netzwerke miteinander verbunden. Implizit spielen solche Elemente eine hervorgehobene Rolle, wenn ihre Organisationsstruktur zu bewerten ist. Die Fallstudien werden auch darstellen, in welchem Maße die Akteure ber Unternehmensgrenzen hinweg agierten und durch diesen offenen Aktionsradius auch rein endogene Organisationsentwrfe infrage zu stellen vermochten. Die beiden in diesem Kapitel untersuchten Unternehmen standen allerdings selbst kaum miteinander in Beziehung. Sicherlich war der Weltruhm von Bayers Teerfarben bis in die sdfranzçsischen Cevennen vorgedrungen und sptestens seit dem Beginn der industriellen Aluminiumproduktion war auch PCAC zu einem Akteur mit internationalem Renommee geworden. In einigen Produktsegmenten berschnitten sich auch Bayers verhltnismßig kleine anorganische Abteilung und PCAC. Doch gegenseitige Produktionsbeziehungen lassen sich nicht nachweisen. Die folgenden beiden Abschnitte be8 Tacke, Rationalittsverlust, S. 17.

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schreiben die beiden Unternehmen zunchst unabhngig voneinander, um hieraus anschließend Schlsse ber prgnante hnlichkeiten und Unterschiede ziehen zu kçnnen.

1. Bayer 1.1. Unternehmensentwicklung Die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer9 durchliefen seit ihrer Grndung eine rasche Expansion, parallel zu vielen anderen Unternehmen der Chemieindustrie im Deutschen Reich.10 Die sprunghafte Entwicklung von Bayer hatte ihren Ausgangspunkt im Jahr 1863 in der proto- und kleinindustriellen Produktion der Region um Elberfeld und Barmen im bergischen Land. Sie sttzte sich auf die Nachfrage nach Textilfrbestoffen durch die çrtliche, traditionelle Textilindustrie. Die beiden Unternehmensgrnder Friedrich Bayer (1825 – 1880) und Friedrich Weskott (1821 – 1876) erkannten die Chancen dieser Nachfrage und konnten neue Produktionsmethoden anwenden, die auf eigenen Erfahrungen beruhten und den Kenntnissen, die sie aus ihren mit der Textilindustrie verbundenen Familien mitbrachten.11 Dabei ging es um die neue Technologie der Farbstoffherstellung aus Steinkohleteerderivaten, in deren Anwendung die Konkurrenten – in erster Linie die Berliner „Actiengesellschaft fr Anilinfabrikation“ (Agfa), Meister Lucius in Hçchst und die „Badische Anilin- und Soda-Fabrik“ (BASF) – zunchst fhrend waren.12 Diese Unternehmen waren etwa zur gleichen Zeit wie Bayer gegrndet worden, hatten aber von Anfang an konsequenter auf die neue Technologie der Teerfarbenproduktion gesetzt. Die strukturelle und strategische Wachstumsgeschichte von Bayer ist heute in ihren Grundzgen13 bekannt. Sie war zunchst von einem recht moderaten Wachstum, seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts dann von einer rasanten Aufholjagd geprgt,14 der systematische Einsatz neuer Forschungen, der auch patentrechtlich abgesichert wurde, 9 Aus Grnden der Vereinheitlichung und Vereinfachung wird das Unternehmen von nun an unter dem Namen Bayer in der Untersuchung erscheinen; auch wenn diese Namensverwendung fr die behandelte Zeitspanne im Prinzip nicht mehr oder noch nicht korrekt war, denn nach dem Tod von Friedrich Bayer versuchte sich das Unternehmen vorbergehend auch von dessen Namen zu lçsen. In den Quellen findet man immer wieder auch die Kurzform Farbenfabriken. 10 So stieg der deutsche Anteil an den weltweiten Chemieexporten bis 1913 auf 28,5 Prozent; Chandler, Scale and Scope, S. 565 f.; dazu auch Abelshauser, Von der neuen Industrie, S. 11. 11 Verg u. a., S. 24 f. 12 Zur Geschichte einzelner Konkurrenten von Bayer liegen inzwischen Arbeiten vor : Abelshauser, BASF; Schreier/Wax. 13 Fr einen berblick sei etwa auf die Aktivitten des Unternehmensarchivs anlsslich des 125jhrigen Jubilums des Unternehmens verwiesen: Verg. Daneben auch Plumpes Beschreibung der Vorgeschichte und der Entwicklung der IG Farben, Plumpe, IG-Farbenindustrie. 14 Erker, Bayer, S. 37 ff.; Murmann, S. 147 ff.

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Grafik 3: Umsatzzahlen Bayer 1896 – 1904.

spielte hierbei eine entscheidende Rolle.15 Die oben abgebildete Grafik zeigt die Umsatzzahlen von Bayer im Zeitraum 1896 bis 1904.16 Im Untersuchungszeitraum lassen sich vier Entwicklungsphasen voneinander unterscheiden, die auch den chronologischen Hintergrund fr die folgende Untersuchung abgeben sollen. In der ersten Phase bis 1895 wuchs das Unternehmen in seinen internen Strukturen zunchst ohne den Versuch einer strukturellen Anpassung oder Neuordnung. Die starke wirtschaftliche Expansion, welche die deutsche Wirtschaft und die Farbindustrie in besonderem Maße erfasst hatte, war von der Unternehmensplanung noch nicht „eingeplant“, eine Entwicklung, die am deutlichsten durch den Platzmangel am bisherigen Produktionsstandort Elberfeld belegt ist. Diese mangelnde Planung galt allerdings ausschließlich fr die internen Strukturen des Unternehmens, in seiner Expansionsstrategie zeigte es ein durchaus planvolles Vorgehen. Der technologische Aufholprozess gelang insbesondere, weil das Unternehmen ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Nhe zur universitren Forschung suchte. Dieser Schulterschluss sollte bis zum Krieg seine Bedeutung behalten; institutionelle Beziehungen wurden in dieser Zeit gefestigt.17 Eine besondere Rolle spielten dabei regelmßige Verbindungen zu den Universitten Gçttingen, Wrzburg, 15 Mller-Thurow; allgemeiner Wengenroth, Germany. 16 Nieberding, Unternehmenskultur, S. 46. 17 Johnson; Marsch, Transfering Strategy, S. 217.

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Tabelle 1: Umsatzzahlen Bayer und Hoechst 1906 – 1913a) Umsatz in Mio. Mark

1906 1907 1908 1909 1910 1911

1912

Bayer

71,9

77,5

71,0

89,3

92,2

94,8

107,1 113,3

Meister Lucius (Hoechst)

55,6

64,8

59,3

63,5

68,8

73,7

k.A.

a)

1913

102,9

Fr Bayer; Plumpe, IG-Farbenindustrie, S. 41; fr Hoechst: Schreier/Wax (1990).

Mnchen und Straßburg.18 Hierdurch begann das Unternehmen, sich dem schrfer werdenden Wettbewerb unter den deutschen Farbproduzenten zu stellen, der zeitlich mit der Periode der großen Depression zusammenfiel.19 Die kapitalintensive Farbenindustrie wurde durch diesen wirtschaftlich schwierigen Kontext bei der geplanten Expansion entscheidend gehemmt, da die hierfr notwendigen Finanzmittel nicht mehr unbegrenzt zur Verfgung standen. In dieser Situation entschloss sich das Unternehmen nach dem Tod von Friedrich Bayer durch eine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft unter Fhrung von Carl Rumpff, entsprechende Kapitalmittel fr diesen Wachstumsprozess zu beschaffen.20 Diese Expansionsstrategie, die von einer Entpersonalisierung der Kapitalstrukturen begleitet wurde, fhrte das Unternehmen ab 1895 in eine zweite Phase der organisatorischen Entwicklung. Die wirtschaftliche Expansion wurde in dieser Zeit von einer rumlichen begleitet und die Planung dieses Raumes – der neuen Fabrikanlagen von Leverkusen – war prgend fr alle weiteren Versuche, die Organisation des Unternehmens zu reformieren. Eine rumliche Expansion hatte sich im Unternehmen bereits in der Frhphase gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts ergeben. In der ersten Betriebssttte in Barmen-Rittershausen wurde zu dieser Zeit zwar weiterhin produziert, sukzessive wurden aber die wichtigeren Produktionen auf einem großen Gelnde im benachbarten Elberfeld angesiedelt. Dieser Prozess wiederholte sich gut zwanzig Jahre spter mit dem Umzug nach Leverkusen, der zwischen 1891 und 1895 stattfand. Grund war in beiden Fllen, dass es nicht mçglich war, die Produktionskapazitten zu erweitern, nachdem Bayer schon dazu bergegangen war, neue Stockwerke auf die alten Fabrikhallen zu bauen. Mit dem Umzug des Unternehmens im Jahr 1895 an den neuen Standort in Wiesdorf am Rhein, das bald den Namen Leverkusen erhielt, wurde auch die rumliche Grundlage fr eine weitere Expansion gelegt. Dem Bau der neuen Produktionsanlagen folgte die Grndung einer Vielzahl neuer Abteilungen. Die Struktur dieser Abteilungen richtete sich im Wesentlichen nach den angebotenen Produkten. Um 1905 teilte sich die Produktion in folgende Abteilungen auf: 1. Anorganische Abteilung, 2. Organische Zwischenproduktab18 Stoltzenberg, S. 61; Marsch, Zwischen Wissenschaft, S. 53; Johnson, S. 18; Carl Duisberg, S. 5. 19 Blaschke, S. 21. 20 Verg, S. 64.

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teilung, 3. Anilinfarbenabteilung, 4. Alizarinabteilung, 5. Pharmazeutische Abteilung, 6. Trocknerei und Mllerei. Innerhalb dieser Abteilungen wurden „Betriebe“ eingerichtet, die sich jeweils nach der aktuellen Produktpalette richteten und kurzfristig erweitert oder verndert werden konnten. Hinzu kamen die wissenschaftliche Abteilung mit den verschiedenen Laboren, die Statistik und Buchhaltung, die Verkaufsabteilung und die Wohlfahrtsabteilung (ab 1904), die photographische Abteilung (ab 1912), die Lager sowie die Fabrikkontore, denen die Anwerbung des Personals zukam.21 Die wissenschaftliche Abteilung wie auch die Verwaltung blieben dagegen bis kurz vor dem Krieg in Elberfeld. Gleichzeitig war das Unternehmen durch die rumliche Distanz – immerhin vierzig Kilometer – zwischen Verwaltung und Produktion mit einem neuen Kommunikationsproblem konfrontiert, das in seiner zentralisierten Struktur vorher nicht vorgesehen war. Die bedeutende rumliche Expansion und die Ausweitung der wirtschaftlichen Aktivitten hatten auch die Konsequenz, dass mehr Personal bençtigt wurde. So wuchs die Zahl der Arbeiter und Angestellten bei Bayer allein innerhalb des Untersuchungszeitraums von etwa 3000 auf ber 10 000.22 Die Arbeiterschaft teilte sich dabei in Handwerker und Arbeiter, eine Aufteilung, die in erster Linie auf einem Qualifikationsunterschied zwischen den ausgebildeten Handwerksberufen und dem neuen Typ des ungelernten Chemiearbeiters beruhte. Gleichzeitig nahm die Zahl akademisch ausgebildeter Mitarbeiter berproportional zu, und die frher so wichtige Institution der Werksmeister wurde in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zeitweilig vollstndig abgeschafft.23 Die dritte Phase der Entwicklung begann um 1904. Prgendes Moment war die Systematisierung unternehmensinterner Prozesse, gerade auch im Bereich der Personalverwaltung. Ausgelçst wurde diese neue Phase von verschiedenen Faktoren. In dieser Zeit etablierte sich Carl Duisberg, seit 1900 Direktor des Unternehmens, immer deutlicher in der Unternehmensfhrung.24 Er gab gleichzeitig in den Jahren zwischen 1903 und 1905 den Anstoß zum ersten Kartell in der Farbenindustrie, eine Entwicklung, die 1925 mit dem Aufbau der IG Farben abgeschlossen war.25 Das wesentliche Problem bei der Grndung des Vorgngers, des Dreibundes, waren die großen Unterschiede in den Strukturen der drei kooperierenden Unternehmen. Die notwendige Anpassung der Leitungsfunktionen veranlasste Bayer zu vielfachen verwaltungstechnischen Vernderungen, eine Entwicklung, die sich daran ablesen lsst, dass von nun an die eigene Organisation mit denen der direkten Konkurrenten

21 22 23 24 25

Rundschreiben ohne Datum [etwa 1905], BAL 10 – 4. BAL 265 – 5.3. Marsch, Zwischen Wissenschaft, S. 59 f. Flechtner, S. 172. Plumpe, IG-Farbenindustrie, S. 45 ff.

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verglichen wurde.26 Das kam nicht zuletzt im Verlauf des ersten großen Streiks, den Leverkusen im Jahr 1904 erlebte, zum Ausdruck. Das Ereignis stellte fr die Unternehmensleitung den wohl wichtigsten Wendepunkt in der Strategie der Personalpolitik dar. Die unternehmerische Reflexion, die das Personal bislang weitgehend vernachlssigt hatte, richtete sich nun verstrkt darauf, innerbetriebliche Wohlfahrtsinstitutionen zu entwickeln, die als Instrument dienen sollten, eine stabile Stammbelegschaft zu schaffen. Die letzte Phase dieser Vorkriegsentwicklung begann 1912, als Carl Duisberg endgltig den Posten des alleinigen Generaldirektors des Unternehmens erhielt. Die Leitung des Unternehmens lag nun in den Hnden einer einzelnen Person. Auch wenn Duisberg schon lange die prgende Person im Unternehmen gewesen war, wurde doch erst durch diese Formalisierung zum ersten Mal das Prinzip der polypolaren Entscheidungsfindung, die eine Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Direktoren voraussetzte, infrage gestellt. 1913 nahm Bayer, dank seiner stetigen Wachstumsraten, knapp hinter der BASF den zweiten Platz in der deutschen Farbindustrie ein.27 Zusammen hatten die deutschen Farbproduzenten zu diesem Zeitpunkt nahezu ein weltweites Monopol erreicht.28 Neben ihrer rein wirtschaftlichen Bedeutung waren sie vor dem Krieg dadurch nicht mehr nur eine wesentliche Sttze der deutschen Volkswirtschaft, sondern auch nationales Prestigeobjekt.29 Die Monopolstellung im limitierten Marktsegment der Farbenproduktion war fr die Unternehmen keine dauerhafte Absicherung. So bilanziert Marsch: „The German chemical industry, or more specifically, the organic and dyestuff industry, despite its enormous growth and success, remained a minor industry which grew along narrow paths of closely related technologies until 1914. Because of this specialization and a resulting path dependency in choosing new fields for research and production, the organic chemical industry was in danger of losing its ability to innovate and to diversify in completely new areas of activity.“30

Dieser Gefahr versuchte sich Bayer schon bald mit der ffnung hin zu anderen Produktbereichen zu entziehen. Ab 1888 begann die pharmazeutische Produktion, 1892 kam die Pflanzenschutzproduktion hinzu und in den direkten Vorkriegsjahren experimentierte das Unternehmen mit der photographischen Produktion, einem Bereich, der allerdings zunchst marginal bleiben sollte. Bis 1914 war damit die Herstellung von Farben mit Abstand die wichtigste Produktionssparte im Unternehmen. 26 „Bericht der Ausschsse fr Arbeiterangelegenheiten ber Anstellung von Arbeitern im Wochenlohn“, BAL 212 – 3; auch Aufsichtsratssitzungen von 1905, BAL 11 – 3. 27 Blaschke, S. 28; Bayer setzte 1913 etwa 113 Millionen Reichsmark um, sein direkter Konkurrent BASF 120 Millionen; Plumpe, IG-Farbenindustrie, S. 41. 28 Marsch, Transfering Strategy, S. 220 f. 29 Andersen, Chemie, S. 91. Fr eine Kontinuitt ber den Krieg hinaus Szçllçsi-Janze. 30 Marsch, Transfering Strategy, S. 218.

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1.2. Akteure und Praktiken der Unternehmensplanung Unternehmer, Direktoren, leitende Angestellte Bayer entwickelte sich innerhalb des Untersuchungszeitraumes zu einem Unternehmen, dessen interne Strukturen in hohem Maße von der Unternehmensleitung bestimmt wurden. Die Vorstellung, welche die Unternehmensfhrung von der Organisation des Unternehmens entwickelte, sollte den leitenden Angestellten, insbesondere aber dem Unternehmer an der Spitze, eine permanente Kontrolle ermçglichen. Doch eine solche „geplante“ Vorstellung der Unternehmensorganisation war abhngig von Visionen, Ambitionen und Handlungen einzelner Akteure und ihren persçnlichen Strategien. Die Fhrungsgremien des Unternehmens, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges nahezu vollstndig von einer Person – Carl Duisberg – dominiert wurden, waren bis zum Umzug des Unternehmens nach Leverkusen im Jahr 1895 noch komplex, eine einheitliche Vision vom Unternehmen war zunchst nicht zu erkennen. Tabelle 2: bersicht ber das leitende Personal von Bayera) Datum

Aufsichtsrat

Vorstand

Zahl der Prokuristen

1.10.1888 Carl Rumpff (Vorsitzender), August Viefhaus, Eduard Tust, Paul Jonas, Ernst v. Eynern

Friedrich Bayer, Henry T. Bçttinger, Hermann Kçnig

vier (u. a. Carl Hlsenbusch, Carl Duisberg)

19.7.1889 August Viefhaus (Vorsitzender), Ernst v. Eynern, Eduard Tust, Paul Jonas

unverndert

unverndert

1.1.1892

unverndert

unverndert

sechs

1.5.1892

unverndert, hinzu kommt Carl Leverkus

unverndert

unverndert

1.1.1900

unverndert

Friedrich Bayer, Henry vier T. Bçttinger, Hermann Kçnig, Carl Duisberg, Carl Hlsenbuschb)

1.1.1901

unverndert

unverndert

Erhçhung auf 28

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(Fortsetzung) Datum

Vorstand

Zahl der Prokuristen

9.10.1902 Ernst v. Eynern (Vorsitzender), Paul Jonas, Eduard Tust, Carl Leverkus

Friedrich Bayer, Henry T. Bçttinger, Carl Duisberg, Carl Hlsenbusch

unverndert

1907

Henry T. Bçttinger (Vorsitzender), Paul Jonas, Eduard Tust, Carl Leverkus

Friedrich Bayer, Carl Duisberg

unverndert

1912

unverndert

Carl Duisberg (Generaldirektor)

a)

Aufsichtsrat

Nach Auflistung des Bayerarchives, BAL 11 – 1.

b)

In der bergabe der Kompetenzen schien diese Vernderung bereits lange vorbereitet worden zu sein. Bereits im Sommer 1899 wurden in den internen Rundschreiben Hlsenbusch und Duisberg zum Kreis des Direktoriums gezhlt; sie erhielten auch die entsprechenden Kompetenzen fr große Geschftsbereiche; Rundschreiben Juni 1899, BAL 10 – 4.

Das leitende Personal von Bayer zeichnete sich durch eine hohe Kohrenz sozialer und verwandtschaftlicher Bindungen wie auch durch hnliche Sozialisierungs- und Ausbildungsmuster aus. Nicht nur auf der Ebene von Vorstand und Direktorium, sondern auch bei den Abteilungsvorstnden zeigen sich Kontinuitt und soziale Einbettung des Fhrungspersonals in Verwaltung und Betriebe als entscheidendes soziales Kapital auf dem Weg in die Leitungsgremien. Schon seit der Grndung versuchten die Unternehmer, allen voran die Grnder Friedrich Bayer und Friedrich Weskott, die Leitung des Unternehmens durch Heiratspolitik in ihrem Sinne zu steuern. Das Geflecht der sozialen Beziehungen innerhalb des Fhrungspersonals von Bayer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war dicht und familire Verbindungen unter den leitenden Angestellten an der Tagesordnung. Hier sollen zunchst einige Knotenpunkte dieser „Familiengeschichte“ dargestellt werden, um das Gewicht des persçnlichen Faktors zu verdeutlichen. Die Fhrungsgruppe des Unternehmens, die neben dem Direktorium aus einigen Produktionsleitern und dem Aufsichtsrat bestand, rekrutierte sich zunchst aus einer mittelstndischen Textilfabrikantenschicht des Bergischen Landes. ber diese Gruppe wurden wiederum andere Funktionstrger in das Unternehmen gezogen. Dies war etwa der Fall bei Henry Theodor Bçttinger,

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dem spteren Vorstandsmitglied,31 oder auch bei der Integration der Familie Leverkus, die durch den Verkauf ihrer kleinen Ultramarinfabrik in Wiesdorf erst die Erschließung des spteren Werksgelndes in Leverkusen ermçglichte. Mit der Ernennung von Carl Leverkus’ Sohn Otto zum Aufsichtsratsmitglied im Jahr 1892, seiner Hochzeit mit der Nichte des Aufsichtsratsvorsitzenden Ernst von Eynern32 und mit der Benennung des neuen Fabrikstandortes nach dem alten Besitzer gelang neben der geschftlichen auch die persçnliche und symbolische Integration der erworbenen Betriebe. Die Grnder Bayer und Weskott standen im Vergleich zu anderen Großunternehmen zwar nur verhltnismßig kurz an der Spitze der Firma, Zugehçrigkeit oder enges Verhltnis zu diesen Familien bildeten allerdings noch lange die Legitimationsgrundlage fr bestimmte Fhrungsansprche und Funktionen. Der Sohn Friedrich Bayers, der den Namen seines Vaters trug, war bis 1907 im Vorstand, spter im Aufsichtsrat. Der Neffe der Frau des Unternehmensgrnders, Carl Hlsenbusch, sollte spter an der Leitung des Unternehmens, ab 1900 als Vorstandsmitglied, ab 1906 als Aufsichtsratsmitglied, beteiligt werden. Die Tatsache, dass Carl Duisberg sich auch spter immer wieder auf diese familiren Beziehungen berief, durch die er seine erste Stellung bei Bayer bekam,33 belegt die Bedeutung dieser Verbindungen. Nicht ganz so einflussreich war die Familie des zweiten Firmengrnders, Friedrich Weskott. Nach dessen Tod spielte die Familie kaum noch eine Rolle. Ihr Name galt allerdings noch so viel, dass Weskotts Sohn 1901 in kurzer Zeit zum Prokuristen aufstieg.34 Fr den hier betrachteten Zeitraum um die Jahrhundertwende war Carl Rumpff und sein familires Umfeld ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Als Schwiegersohn von Friedrich Bayer war Rumpff ab 1872 einer der wichtigsten Mnner der Firma, da er sich neben Bayer als stellvertretender Direktor etablieren konnte und nach dessen Tod die Unternehmensleitung zum großen Teil in seine Hand nahm. Diese Funktion konnte er durch seinen frhen Tod allerdings nur bis 1889 ausben. Dennoch blieb der Verweis auf eine Beziehung zu Rumpff ein wichtiges Argument in der innerbetrieblichen Legitimation. Dies galt vor allem fr Duisberg, der seine Heirat mit der Nichte Rumpffs, die mit dessen Einverstndnis geschlossen wurde, als einen ersten großen Erfolg im Aufstieg zur Spitze der Farbenfabriken wertete.35 Auch Carl Gamp, Mitglied des Aufsichtsrates, gehçrte zur „Rumpff-Familie“, nachdem er dessen Witwe geheiratet hatte. Ab 1903 fungierte er im Aufsichtsrat, ab 1907 31 Bçttinger war mit der Tochter von Friedrich Bayer verheiratet und dadurch in das Unternehmen aufgenommen worden, seit 1883 war er Mitglied des Vorstandes; Flechtner (1981), S. 62. 32 BAL 11 – 1. 33 Duisberg, Lebenserinnerungen; Flechtner, S. 65 ff. 34 Er hatte schon vorher eine Stellung als kaufmnnischer Beamter bei den Farbenfabriken inne. BAL 11 – 1. 35 „Die Jubilumsfestlichkeiten zu Ehren C. Duisbergs am 19. September und 2. Oktober 1909“, in: Duisberg, Abhandlungen, S. 409 ff.

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als dessen Vorsitzender. Und auch Henry Theodor Bçttinger kann man durch seine Heirat in die Familie Gamp zu diesem Netzwerk zhlen. Als 1925 die familiren Verbindungen intern dokumentiert wurden, stellte man fest, dass etwa die Hlfte der Angehçrigen von Vorstand und Aufsichtsrat in einem verwandtschaftlichen Verhltnis zueinander standen.36 Es ist nicht einfach, die Funktionalitt solcher familirer Beziehungen angemessen zu bewerten: Sie waren keine conditio sine qua non fr den Eintritt in die hçhere Verwaltungsebene des Unternehmens, nur ein kleiner Teil der Angestellten wurde aus dem Kreis von Verwandten und Bekannten rekrutiert. Doch schienen sie eine erfolgreiche Arbeit in den Leitungsgremien des Unternehmens erheblich erleichtert zu haben. Dies macht deutlich, welche Bedeutung der Verortung der leitenden Akteure in einem Netz regionaler Wirtschaftseliten zukommt. Nicht zuletzt fr die Kapitalakquise waren solche Verbindungen von entscheidender Bedeutung in der Unternehmensstrategie. Durch die Existenz dieser Netzwerke lsst sich nicht nur die These sozialer Persistenz unterstreichen37 und die Langlebigkeit familirer Beziehungen als dominantes Element unternehmerischen Kalkls ausmachen. Sie unterstreicht auch die Tatsache, dass ein Großunternehmen, welches eine Tendenz zur Brokratisierung und Entpersonalisierung seiner Strukturen zeigte, sich im Gegenzug auch auf die Bildung persçnlicher Netzwerke zum Aufbau der Unternehmensfhrung sttzte.38 Nach diesem Prinzip verlief auch die Entwicklung der Direktion des Unternehmens nach 1890, die seit Friedrich Bayers und Friedrich Weskotts Zeiten immer von zwei Personen geleitet wurde, und weitgehend unabhngig in ihren Entscheidungen von dem Aufsichtsrat des Unternehmens war. Dem Aufsichtsrat kam im Grunde kaum mehr als eine affirmative Funktion zu.39 Eine wichtige Etappe in der Ausformulierung der Kompetenzen der Direktion war der Entwurf zur Direktionsarbeit, der im Juni 1899 verabschiedet wurde. Damit sollte in erster Linie erreicht werden, die Verantwortung des Direktoriums auf mehrere Schultern zu verteilen: „Die Leitung der Farbenfabriken in allen inneren und usseren Angelegenheiten erfolgt z. Zt. durch ein aus 5 Mitgliedern bestehendes Direktorium, in welchem unter selbstverstndlicher Bercksichtigung der Erfahrungen der lteren Mitglieder von Seiten der jngeren alle gleiche Rechte und gleiche Pflichten [ausben].“40

36 37 38 39

BAL 11 – 1. Kaelble, L’evolution; Kocka, Unternehmer, S. 30 ff. Kocka, Legitimationsprobleme, S. 8. Weiterreichende Kompetenz hatte der Aufsichtsrat dagegen in Fragen der Unternehmensfinanzierung und der Verhandlung mit dem Konsortialpartner, der Deutschen Bank. Vertrag zwischen den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co zu Elberfeld und der Deutschen Bank in Berlin, September 1898, BAL 19 A 4. 40 Entwurf einer Organisation der Direktionsarbeit vom Juni 1899, BAL 10 – 4.

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Das Direktorium von Bayer sollte nach diesem Entwurf aus fnf unabhngigen Mitgliedern bestehen. In institutionalisierten Konferenzen sollten sie untereinander Einigkeit erzielen, ihre Kompetenzen berschnitten sich in vielen Bereichen, wichtige Entscheidungen sollten nie von Einzelnen getroffen werden kçnnen. Der Text legte die formelle Gleichstellung der Direktoriumsmitglieder fest und gibt gleichzeitig Auskunft ber informelle Machtverhltnisse im Direktorium. Den fnf Mitgliedern Bçttinger, Bayer, Duisberg, Kçnig und Hlsenbusch wurden nicht symmetrische Zustndigkeitsbereiche zugeordnet. Whrend sich die ersten drei mit den Fragen einer strategischen Grundausrichtung sowie großen Investitionsprojekten, aber auch mit der chemischen Forschung der Farbenfabriken beschftigten, stellte fr Kçnig und Hlsenbusch die innere Verwaltung, also lediglich die Organisation rein technischer Verwaltungsvorgnge und auch die Organisation der Buchhaltung, die Basis ihrer Ttigkeit in der Direktion dar. Die Grundtendenz war eindeutig: Unternehmensfhrung und Autoritt wurden an technisches Wissen gebunden, Kompetenz fr den Produktionsprozess, aber auch fr die kaufmnnischen Bereiche und die Produktvermarktung war im Direktorium nicht vertreten.41 Dieser Entwurf stellte lediglich eine Zwischenetappe dar, die es dem neuen starken Mann, Carl Duisberg, ermçglichte, eine prgende Rolle im Prozess der Strukturierung des Unternehmens einzunehmen. Als zum 1. 1. 1900 nur noch zwei Direktoren das Unternehmen an der Spitze vertraten, war Carl Duisberg einer von ihnen, damit war er an einem vorlufigen Hçhepunkt seiner steilen Karriere im Unternehmen angelangt. Carl Duisberg – selbst ernannter Autor des Organisationsdiskurses Duisberg war wohl der wichtigste einzelne Akteur fr die Organisation des Unternehmens vor 1914.42 Durch seine Versuche, Bayer zu einem zentralisierten Unternehmen umzuformen, in dem Entscheidungen in erster Linie von einer Person getroffen wurden, prgte er mehr als seine Vorgnger die Geschicke des Unternehmens. Neben seiner Rolle als entscheidender Gestalter der Organisation zeigt sein Aufstieg auch die Bedeutung des sozialen Kapitals als relevanter Handlungsressource in der Organisation. Carl Duisberg trat 1883 in die Firma ein, vermittelt durch Beziehungen, die heute wohl als „Vetternwirtschaft“ bezeichnet werden kçnnen, da er seine Anstellung im Unternehmen alten Schulkontakten seiner Mutter zu verdanken

41 Von entscheidender Bedeutung war, dass Duisberg sich schon zu diesem Zeitpunkt fr den strategisch vermeintlich unwichtigen sozialen Bereich bei Angestellten und Arbeitern zustndig erklrte. BAL 10 – 4; Punkt 12 der Kompetenzenverteilung (Wohlfahrtseinrichtungen) wurde noch offengelassen, whrend Punkt 13 (Pensionszahlungen aller Art) von Duisberg und Bçttinger direkt bearbeitet wurde. 42 Zur historisch viel beachteten Figur von Carl Duisberg: Flechtner ; Bhrer; Mittag. Daneben verçffentlichte Duisberg selbst seine Lebenserinnerungen; Duisberg, Lebenserinnerungen.

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hatte.43 Der junge Chemiker, der sein Studium an der Universitt Gçttingen ein Jahr zuvor mit der Promotion abgeschlossen hatte und hierdurch die Grundlage vielfltiger Kontakte in die wissenschaftliche Welt legte, machte sich bald durch erste Erfindungen fr den Konzern einen Namen und brachte daneben dem Unternehmen auch eine wichtige neue Einnahmequelle durch die Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Herstellung des roten Farbstoffes Benzopurpurin.44 In den ersten Jahren prgte Duisbergs wissenschaftliche Ttigkeit im unternehmenseigenen Laboratorium seine Vorstellung der Ttigkeit des Unternehmens und seine eigene Arbeitserfahrungen nachhaltig. Im Verlauf seiner Karriere wirkten sich diese frhen Berufserfahrungen auch auf seine Vision der Organisationsstruktur des Unternehmens aus. Als Leiter des Zentrallabors bekam Duisberg 1888 die Prokura und wurde damit erstmals in den Kreis der Entscheidungstrger des Unternehmens aufgenommen. Diese Funktion, die er in den folgenden sieben Jahren ausbte, entwickelte er mehr und mehr von der Forschungsttigkeit hin zu einer Verwaltung der vielfltigen Forschungsaktivitten des Konzerns.45 Mit dem Umzug großer Produktionsteile nach Leverkusen ab 1895 etablierte sich Duisberg als Beauftragter fr das neue Werk und wurde am 1. 1. 1900 zusammen mit Henry T. Bçttinger zum Mitglied des Vorstandes von Bayer ernannt. Daneben wurde ihm ab 1904 auch die Leitung des neu gegrndeten Dreibundes bertragen, dem zunchst neben Bayer auch die BASF und Agfa angehçrten.46 Diese Funktion sollte ihm nach dem Krieg auch die Leitung der neu zu grndenden IG Farben einbringen, die er ab 1925 bernahm. Parallel dazu wurde er zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der deutschen Industrie gewhlt. Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zog er sich mehr und mehr von seinen Geschften zurck und starb im Alter von 73 Jahren 1935 in Leverkusen. Ungeachtet der Bildung, Menschenkenntnis und „Herzensgte“,47 die nach Duisbergs Tod immer wieder seine bemerkenswertesten Charaktereigenschaften hervorgehoben wurden, beruhte seine Karriere im Unternehmen zunchst auf anderen Fhigkeiten: Wie kaum ein anderer Industrieller schaffte er in den Jahren vor der Jahrhundertwende den Sprung vom ange43 Carl Duisbergs Mutter war mit dem Unternehmensgrnder Friedrich Bayer in die Schule gegangen. Kurz nach dessen Tod hatte sie Kontakt zu dem Schwager Friedrich Bayers, Carl Rumpff, aufgenommen, der Vorstandsvorsitzender des Unternehmens war. Flechtner, S. 65 ff. 44 Carl Duisberg, S. 6. 45 Duisberg, Abhandlungen, S. 738 ff. Laut seines Biographen war dieser Schritt fr Duisberg sehr schmerzhaft und strzte ihn in eine vorbergehende Krise. Flechtner, S. 112 ff. 46 Plumpe, IG-Farbenindustrie, S. 45. 47 Flechtner, S. 6 ff.; Stock. Der Mythos des verstndigen und geduldigen Unternehmers wurde aber auch von Duisberg selbst in einer Vielzahl seiner Reden und Schriften inszeniert, vgl. z. B. die Reden zu den Jubilarsfeiern im Werk ab 1909 oder seine Reden vor den industriellen Verbnden, in: Duisberg, Abhandlungen, S. 409 ff. und 738 ff. „Ich bilde mir ein, dass ich auch mit sozialem l gesalbt bin “, S. 739.

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stellten Forscher zum Unternehmer, wofr er seine Stellung als Leiter der wissenschaftlichen Abteilung nutzte.48 Beim Aufbau der neuen Produktionsanlagen in Leverkusen gelang es Duisberg durch diese technischen Kenntnisse, den Planungsprozess zu dominieren. Durch seine im Winter 1894/95 angefertigte „Denkschrift ber den Aufbau und die Organisation der Farbenfabriken zu Leverkusen“ erlangte er eine Art Meinungsfhrerschaft und kombinierte hierdurch seine technische Vision des Unternehmens mit einer strategischen Neuausrichtung.49 Die Analyse von Duisbergs Aufstieg an die Spitze des Unternehmens zeigt, dass persçnliches Fortkommen im Unternehmen durch technisches Wissen und eine entsprechend mechanisierte Organisationsvision vermittelt wurden. Sein hufig angefhrtes soziales Engagement50 war in erster Linie eine Reaktion auf Konflikte, die entstanden waren, als er seine Plne im Unternehmen umsetzte. Solche Reaktionsmechanismen wurden vor allem durch die Streikerfahrung von 1904 relevant. Duisberg wendete eine hnliche Strategie an, wie bereits beim Neubau des Zentrallabors 1891 und spter bei der Vorbereitung und Grndung des Dreibundes.51 In allen drei Fllen legte er ungefragt eine Denkschrift vor, durch die er sich schnell als Beauftragter fr ein bestimmtes Projekt etablieren konnte. Die planmßige Durchdringung des Unternehmens wurde immer wieder zum Karrierewerkzeug, durch das sich Duisberg verschiedene Aufgabenbereiche aneignen konnte. Diese Tatsache stellt einen entscheidenden Schlssel zum Verstndnis der „Planungs“-Lastigkeit von Bayer – also einer stark konzeptionalisierten Organisationsvision des Unternehmens von sich selbst – dar. Die Systematisierung der Direktion mit dem Ausscheiden von Bçttinger Mit der Grndung des Dreibundes im Jahr 1904 war das Unternehmen bestrebt, auch auf der Leitungsebene die Strukturen besser aufeinander abzustimmen.52 Diese Anschauungen beruhten in erster Linie auf der Vision Carl Duisbergs, der mit dem ersten IG-Versuch von 1903/04 weitreichende Ambitionen verfolgte. Ihm ging es nicht nur um ein Verkaufskartell, wie es in diesem ersten Anlauf durchgefhrt wurde, sondern um „weitestgehende Arbeitstheilung“ unter den Werken und „mçglichst gute[…] Bezahlung der 48 Flechtner, S. 90 f. 49 Flechtner, S. 135. 50 Hierzu seine zahlreichen Stiftungen und Spenden; Rundschreiben „An unsere Abteilungsvorstnde“, August 1913, in: Beckerath, Anhang 5. 51 „ber die Vereinigung der deutschen Farbenfabriken“, 1903, BAL 4 A 4. 52 „Denkschrift ber die Vereinigung der deutschen Farbenfabriken von Dr. C. Duisberg“, 1904, BAL 4 A 4. Die Praxis war dagegen eher von Verstimmung, mangelnder Koordination und gescheiterten gemeinsamen Projekten geprgt. So das Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 28. April 1905, BAL 11 – 3; Brief von Duisberg an Agfa von 1906, BAL 10 – 4; auch Brief von Duisberg an Bçttinger vom 13. 2. 1907, BAL 11 – 1.

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Beamten und Arbeiter und entsprechende[…] Frsorge fr sie und ihre Angehçrigen.“ So sollte zumindest sichergestellt werden, dass die jeweiligen Verhandlungspartner ber analoge Kompetenzen verfgten. In allen drei Werken wurde daher ein Großteil der Prokuristen zu stellvertretenden Direktoren gemacht.53 Und auch in Fragen der Statistik oder der Gehaltszahlungen begannen sich die Unternehmensleitungen der drei beteiligten Unternehmen mehr und mehr gegenseitig zu konsultieren.54 Dazu kam der bertritt des bisherigen Direktors Henry T. Bçttinger in den Aufsichtsrat.55 Diese Maßnahmen fhrten einerseits zu einer deutlichen funktionalen Differenzierung der „Governance-Strukturen“ des Unternehmens. Die neuen stellvertretenden Direktoren waren nun neben ihrem externen Vertretungsanspruch auch intern in einer weisungsbefugten Position. Andererseits verfestigte sich hierdurch die Stellung von Carl Duisberg an der Spitze des Unternehmens. Gleichzeitig betonte Duisberg, der Aufsichtsrat kçnne sich kontrollierend in die Unternehmensentscheidungen einmischen. Die Kompetenz des Gremiums schien in Bezug auf Finanzierungsfragen mit dem Wechsel Bçttingers in den Aufsichtsrat entscheidend gestrkt worden zu sein. Von nun an war dieser Rat in Fragen der Unternehmensfinanzierung und der Verhandlungen mit dem Konsortialpartner, der Deutschen Bank, zustndig. Gleichzeitig wurde der Aufsichtsrat auch der Ort, an dem Firmeninteressen gerade gegenber den Banken verteidigt wurden.56 Im Kontext der Ausweitung des Direktoriums durch die Befçrderung der Prokuristen zu stellvertretenden Direktoren ist es bezeichnend, dass Carl Duisberg die Denkschrift zur Neuorganisation, gleich nachdem er die Arbeit daran 1906 abgeschlossen hatte, einem Juristen schickte, der prfen sollte, ob die neuen stellvertretenden Direktoren mit der Umstrukturierung nicht zu viele Kompetenzen erhalten wrden.57 Die effektive Leitungsfunktion sollte dem Direktor und seinem Direktorium vorbehalten bleiben, die Ansprche von Aufsichtsrat und Stellvertretern nur formal anerkannt werden. Trotz der dominanten Position Duisbergs ließ sich die informelle Fhrung des Unternehmens 1906 noch als eine Art Oligarchie lesen. Durch die bedeutende Expansion nach der Jahrhundertwende und die sich verkomplizie53 Denkschrift BAL 10-3-1; Brief der Agfa an Carl Duisberg und dessen Antwort sowie Brief des Justizrates Krll an das Direktorium von Bayer, 18. 2. 1906, BAL 10 – 4. 54 Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 17. 8. 1911, BAL 12 – 3; fr die Koordination der Arbeiterentlohnung: Protokoll vom 1. 8. 1907; zur Koordination zwischen den verschiedenen Werken auch BAL 10 – 5. 55 Dazu auch die lange Vorbereitung durch die Rundschreiben vom 1. 4. 1906 und vom 9. 2. 1907, BAL 10 – 4. 56 Brief von Duisberg an Bçttinger vom 13. 2. 1907 und Antwort vom 14. 2. 1907, BAL 11 – 1. 57 Es ist nur noch das Antwortschreiben des Justizrates Krll berliefert, in welchem er die Kontrolle der Befugnisse der einzelnen Direktoriumsmitglieder gegenber dem Generaldirektor besttigt; Brief an Duisberg vom 18. 2. 1906, BAL 10 – 4.

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renden Entscheidungsprozesse im Rahmen des Dreibundes motiviert, entwickelte sich im Unternehmen das Bedrfnis, eine einzelne Fhrungsperson zu strken.58 Daher wurde 1912 der Posten eines Generaldirektors eingefhrt, der an der Spitze des gesamten Direktoriums stand. Nach den neuen Vorschriften war er nicht mehr nur fr die ußere und innere Verwaltung verantwortlich, sondern auch aufgefordert, in die Kompetenzgebiete der anderen Direktoren einzugreifen: „er hat […] das Recht und die Pflicht, berall einzugreifen, wenn er dies im Interesse des Geschfts fr erforderlich erachtet. Will er einzelne Abteilungen des Geschfts ganz oder teilweise, vorbergehend oder dauernd bernehmen, so steht ihm dies nach vorheriger Besprechung in der Direktoriumskonferenz, wenn immer er es wnscht, frei. Die brigen Mitglieder des Direktoriums haben die vom Aufsichtsrat durch den General-Direktor zu erlassenden Vorschriften unter genauer Beachtung der gesetzlichen und statutarischen Bestimmungen zu befolgen.“

Es ist nicht nur der Inhalt dieser neuen Richtlinien, es ist auch ihre Form, die sie zu einem Zeugnis einer organisatorischen Vernderung der Herrschaftsstrukturen machen. Die neuen Richtlinien zur „Organisation des Direktoriums“ wurden gedruckt und an die Mitglieder des Direktoriums und der Verwaltung ausgegeben.59 Damit war das Aufgabengebiet jedes einzelnen Mitgliedes des Direktoriums klar umrissen. Es wurde im Unternehmen çffentlich und hierdurch kontrollierbar gemacht. Faktisch stimmte das brige Direktorium seiner Entmachtung widerspruchslos zu.60 Ein Unternehmer, der weder Eigentmer noch Kapitalgeber der Firma war, erlangte bei Bayer eine Herrschaftsflle, die in der Geschichte des Unternehmens seit dem Tod des Unternehmensgrnders beispiellos war.

Visionen, Projekte und Plne – Theorie und Praxis organisatorischer Entwrfe bei Bayer Mehr als bei den meisten anderen Unternehmen wurden Reflexionen der innerbetrieblichen Strukturen bei Bayer um die Jahrhundertwende verschriftlicht. Die Schriftzeugnisse erlangten einen bedeutenden Stellenwert in den internen Strukturierungsprozessen des Unternehmens. Gleichzeitig legte auch die Form dieser Reflexionen fest, welche Akteursgruppen sich an diesen Aushandlungsprozessen beteiligen konnten. Der diskursive Organisationsprozess muss als Konkurrieren um die interne Vorherrschaft in der Ent58 Hierzu die Vorschriften ber die Organisation des Direktoriums, die am 1. 1. 1912 in Kraft traten, BAL 10 – 4. 59 Dies geschah nach dem Vorbild der Richtlinien fr die Beamten, Arbeiter und auch Abteilungsvorstnde des Unternehmens, BAL 10-8-7. 60 Protokoll ber die Direktorialkonferenz vom 1. Mrz 1906, BAL 12 – 3.

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wicklung neuer Konzepte und neuer Deutungsmuster verstanden werden. Gingen schriftliche Reflexionen auch von der Direktionsebene aus, gaben sie in einer negativen Lesart auch Aufschluss ber gegenlufige Krfte in der organisatorischen Wirklichkeit von Betrieb und Unternehmen. Jedes Dokument, das Organisation zu fixieren suchte, war gleichzeitig der Versuch, vorhandene Autonomien zu begrenzen und bisherige Strukturen zu dominieren. Die Entwicklung formeller Organisationsentwrfe Das wohl erste Schriftstck, welches die Organisation der Betriebe nachhaltig beeinflusste und die kaum formalisierten Arbeitsbeziehungen festschrieb, war die Fabrikordnung von 1877. Lange bevor eine solche Form durch die Novellierung der Gewerbeordnung von 1891 verpflichtend wurde,61 machte Bayer die Fabrikordnung damit zu einem prgenden Werkzeug in der Strukturierung interner Prozesse. Die Werksleitung ergnzte diese erste Ordnung durch die sukzessiv ausgearbeiteten Versionen von 1888, 1899 und 1905.62 Die Arbeiter bekamen die Fabrikordnung bei der Einstellung ausgehndigt, um sie genau zu studieren. Etwaige nderungen sollten in den Betrieben der Belegschaft vorgelesen werden. Da die Vorschriften immer vielfltiger wurden, ihre Zugnglichkeit nicht abgesichert war und die Werksleitung durch die hohe Fluktuation und eine instabile soziale Situation in Leverkusen das Bedrfnis sah, auch in das außerbetriebliche Leben der Arbeiter einzugreifen, wurden ab der Jahrhundertwende zustzlich Handbcher an die Arbeiter und Beamten der Farbenfabriken verteilt,63 die sich in ihrem unilateralen, autoritren Grundtenor kaum von den Fabrikordnungen unterschieden. Diese Ordnungen und Handbcher waren zunchst ein Mittel der Direktion, Handlungsspielrume der Arbeiter einzugrenzen. Sie legten die Arbeiter im Umgang mit dem Produktionsinstrumentarium und dem Zugang zu den Arbeitssttten fest. Die Produktionsprozesse wurden in den Fabrikordnungen bis 1899 weder positiv beschrieben noch die Hierarchien, in die sich die Arbeiter einzufgen hatten, genau erlutert. Die einzige direkte Handlungsanweisung schrieb den Arbeitern vor: „Kommt an Maschinen oder Gertschaften etwas in Unordnung oder wird daran etwas zerbrochen, so muß der Arbeiter sogleich seinem Betriebsfhrer oder Meister, resp. Aufseher von dem Vorfall Anzeige machen.“64 Nicht nur die Arbeitsordnungen ließen den Raum der konkreten Produktionsgestaltung zunchst wenig spezifiziert. Auch die Organisationsentwrfe, die die Handlungsrume der Abteilungsleiter gliedern sollten, waren kaum festgelegt. Erst mit dem Umzug nach Leverkusen wurde der Unternehmensleitung diese Leerstelle in der Beschreibung der Ttigkeiten der einzelnen 61 62 63 64

Hromadka, S. 10. BAL 10 – 15. BAL 10-8-2 und BAL 10-8-7. § 16 der Fabrikordnung von 1899, BAL 10 – 15.

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Beamten bewusst und sie versuchte, im neuen Unternehmensteil klarere Verhltnisse zu erreichen.65 In der Beschreibung der hierarchischen Verhltnisse zwischen den einzelnen Beamten in dem neuen Werk beschrnkte sich das Direktorium allerdings darauf, die Beziehung der einzelnen Vorgesetzten als „coordiniertes Verhltniss [!]“66 festzulegen und verzichtete darauf, die jeweiligen Zustndigkeiten genau zu erlutern. Dem Direktorium schien eine hierarchische Vorstellung vom eigenen Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend zu fehlen. Genau diese Leerstelle versuchte der aufstrebende Carl Duisberg 1895 zu fllen und sich damit als „Organisator“ des gesamten Unternehmens zu legitimieren. Das leere Terrain des neuen Werksgelndes in Leverkusen in Parzellen einzuteilen, wurde zum bestimmenden Transmitter seiner Unternehmensvision.67 Daneben entwickelte er in seiner Schrift auch zum ersten Mal eine einheitliche hierarchische Gliederung der Produktionsabteilungen. Duisberg schrieb eine fnfgliedrige Hierarchiekette fest, die bis zum Krieg das beherrschende hierarchische Modell im Unternehmen blieb: Sie bestand aus der Direktion, den Abteilungsleitern, den Betriebsleitern, den Werksmeistern und Aufsehern und den Arbeitern.68 Doch neben der Erfindung der „Hierarchielinie“ im Unternehmen stattete Duisberg die einzelnen Hierarchiestufen auch mit einem zustzlichen Personalstab aus, sodass sein Konzept systematisch zwischen Wissen und Verantwortung unterschied. Fr Duisberg waren nicht nur Raum und Hierarchien im Zentrum seiner Organisationsvorstellung, sondern auch technische Ablufe. So legte er in seinem Entwurf fest, in welchem Maße Maschinen aufeinander abgestimmt, Stcke austauschbar und Versorgungseinrichtungen zentralisiert werden sollten. Verwirklichung einer brokratischen Vision nach 1904 Gerade in der dritten der eingangs beschriebenen Entwicklungsphasen des Unternehmens gehçrte zu den signifikanten Vernderungen, dass die Verwaltungsvorgnge systematisiert wurden. Bei Bayer und vielen anderen großindustriellen Betrieben wurden vor dem Krieg die Plne zur Organisationsstruktur nicht mithilfe der heute blichen Organigramme dokumentiert. Diese zweidimensionale Darstellungsform setzt ein besonderes Verstndnis von horizontalen und vertikalen Hierarchielinien und Positionsquivalenten voraus, das in der chemischen Produktion der Jahrhundertwende noch nicht ausgeprgt war. Stattdessen orientierten sich viele schriftlich fixierte Orga65 „An die Beamten der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co Leverkusen“, 19. 12. 1894, BAL 10 – 15. 66 Ebd. 67 Denkschrift ber den Aufbau und die Organisation der Farbenfabriken zu Leverkusen, S. 1, BAL 003-004-001. 68 Denkschrift, S. 5 ff.; damit waren diese hierarchischen Ketten schon in ihrer formalen Anlage tiefer als dies bei Dornseifer und Plumpe dargestellt ist; Dornseifer, S. 83 f., Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 70.

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nisationsentwrfe an einem brokratischen Idealtypus des Geschftsablaufes und benutzten alternative Wege, um Hierarchien abzubilden. In den Jahren nach 1904 kam es zu einer neuerlichen organisatorischen Vernderung bei Bayer, die nicht mehr mit der Konstruktion neuer Anlagen, sondern mit zu hohen Produktionskosten und strukturellen Dysfunktionalitten einherging. Diese Erfahrung war durch den Streik von 1904 und den Einbruch der Umsatzzahlen im Verlauf der Konjunkturkrise von 1907/08,69 aber auch durch verwaltungstechnische Probleme in der Koordination der nunmehr fnf Filialen (Elberfeld, Rittershausen, Leverkusen, Moskau, Flers) bedingt. Zur Lçsung dieser Probleme wurde von der Direktion, hnlich wie in anderen großen deutschen Unternehmen,70 ein brokratisches Leitbild herangezogen. Nirgends war dieses Leitbild besser zu fassen, als in der Art, in der das Unternehmen in einer hauseigenen Schrift gegen Ende des betrachteten Zeitraums die Verwaltung der neu erçffneten pharmazeutischen Abteilung beschrieb –, eine Abteilung, die durch ihr hohes Zukunftspotenzial fr das Unternehmen eine besondere Modernitt verkçrperte: „Wir betreten zunchst das Bureau, die Seele des Betriebes. Ein reges Leben und Treiben herrscht hier unter den Beamten und Beamtinnen […]. Das Gerusch der drei unausgesetzt in Betrieb befindlichen Avisierschreibmaschinen, wovon jede gleichzeitig zehn Durchschlge liefert, wird stndig durch das Geklingel der vier im Bureau einmndenden Fernsprechleitungen, die den directen Verkehr mit den Elberfelder Werken, mit der ganzen Provinz, sowie den internen Verkehr mit den einzelnen Betriebsabteilungen ermçglichen, unterbrochen. Ein Ferndrucker ist in fortwhrender Ttigkeit, um Geschftsdepeschen nach Elberfeld zu befçrdern bezw. von dort aufzunehmen. Vermittelst einer elektrischen Schwebebahn und einer Rohrpost, deren Linien sich nach den verschiedenen Arbeitsrumen hin verzweigen, verkehrt das Bureaupersonal in zeitsparender Weise mit allen Abteilungen des Lagers. In der Tat, das Muster eines modernen Bureaus, in dem alle Neuerungen im Bureauwesen in vorteilhaftester Weise ausgenutzt sind und in welchem alles darauf hinausluft, durch mçglichstes Einschrnken der Schreibarbeit und der Laufereien Zeit zu gewinnen, um dadurch die rascheste Erledigung der Geschfte herbei zu fhren.“71

Die Beschreibung dieser neuen Abteilung verzichtete weitgehend auf die wirklichen Produktionsablufe. Das brokratische Modell wurde zu einer Chiffre, durch die rational nicht zu bewertende – weil nicht formalisierte – autoritre Zusammenhnge berdeckt wurden. Singulre Ablufe sollten durch Abstraktion von konkreten Umstnden vergleichbar gemacht und in ein repetitives Schema eingeordnet werden kçnnen. Die unterschiedlichen Arbeiten waren in der Regel nicht objektiv fassbar, da sie kaum typologisiert 69 Rundschreiben der Direktion an alle Abteilungsleiter von 1908, BAL 12 – 18. 70 Kocka, Management. 71 „Das pharmazeutische Lager“ von G. Bezon (Manuskript), 1911, S. 4 – 5, BAL 108 – 10.

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werden konnten, eine Tatsache, der sich die Leiter des Unternehmens durchaus bewusst waren. So stellte das Direktorium im Jahr 1905 fest: „Die Eigenart der Fabrikation auf chemischem Gebiete bringt es mit sich, dass in der chemischen Industrie die Verhltnisse wesentlich anders, als in der Metall- und Textilindustrie liegen. Whrend hier die Ttigkeit und Leistung des Arbeiters im innigsten Zusammenhange mit derjenigen von Maschinen steht, gehen die chemischen Reaktionen meist, unbeeinflusst von Hand- und Maschinenkraft, weiter ; sie lassen sich nur selten ohne Stçrung unterbrechen und sind in ihrem Verlauf auch je nach Art des Produktes an verschiedene Zeiten gebunden.“72 [Hervorh. im Original]

Ein Ziel der organisatorischen Entwrfe war es, Ablufe systemisch darzustellen, ohne zwangslufig auf ein festes Organigramm zurckgreifen zu mssen. Mit der Neugliederung der Verkaufsabteilung nach dem Ausscheiden von Henry T. Bçttinger legte das Direktorium zum ersten Mal nicht nur seine eigenen Zustndigkeiten bersichtlich fest, sondern darber hinaus auch die der einzelnen Angestellten.73 Aufgrund der tabellarischen bersicht sollte es mçglich sein, Zustndigkeiten in der Vorstandsarbeit nachvollziehbar zu machen und damit zum ersten Mal auch ein innerbetriebliches Handlungsschema auf der leitenden Ebene zu etablieren. Diese matrizenartige Darstellung der betrieblichen Organisation sollte im Unternehmen zur bestimmenden Reprsentationsform werden. Eine Schlsselrolle kam in diesem Prozess der brokratischen Organisation von Kommunikationsakten zu. Schon 1904 war die Kommunikation durch die Vorgaben fr die zu unterschreibenden Rundschreiben standardisiert worden. Acht Jahre spter wurden die Laufwege dieser Rundschreiben zum Anlass genommen, die Organisation des Unternehmens in eine tabellarische Reihenfolge zu bringen.74 Damit war die Direktion nicht nur gençtigt, alle Abteilungen aufzulisten und zu benennen und damit gleichsam eine Bestandsaufnahme des Unternehmens zu verfassen. Auch die inneren Zustndigkeiten mussten definiert werden. Fr jeden Bereich wurde nicht nur ein verantwortlicher Direktor, sondern auch entsprechende Abteilungsleiter und „Bureauvorsteher“ benannt.

72 „An unsere Arbeiter zu Elberfeld, Leverkusen und Barmen-R.“, 7. 11. 1905, BAL 12 – 2. 73 Rundschreiben an die Abteilungsleiter vom 9. 2. 1907, BAL 10 – 4. 74 Ausfhrungs-Bestimmungen fr das Unterschreiben der Briefe und sonstiger Schriftstcke, Rundschreiben vom 8. 1. 1912, BAL 10 – 7; kurze Zeit spter wurde diese Tabelle zur Vorlage fr den Druck einer großen Tabelle genommen, die nun berall bei Bayer ausgelegt wurde und als Standard diente; Beckerath, Bd. V, Anlage 7.

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Den Raum schreiben – Ein Organigramm entlang des Rheins Die rumlichen Bedingungen, in denen sich Bayer entwickelte, waren immer von Einschrnkungen geprgt. Die Grndungssttten in Barmen-Ritterhausen waren schon 1866 zu klein, da die Teerfarbenproduktion massiv ausgebaut worden war und die Produktpalette kontinuierlich ausgeweitet wurde. Die Firma war gezwungen, sich einen neuen Sitz fr die Produktion zu suchen. Dieser wurde im nahe gelegenen Elberfeld gefunden, wohin das Unternehmen bald mit fast der gesamten Produktion umzog.75 1878 wechselte auch die Verwaltung ihren Standort, und Elberfeld wurde zum neuen Unternehmenssitz, Barmen dagegen zu einem eher unbedeutenden Nebenstandort. Was in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorexerziert worden war, sollte sich etwa zwanzig Jahre spter wiederholen. Auch die Flche des Betriebsstandortes von Elberfeld war rumlichbegrenzt von den an beiden Seiten aufsteigenden Anhçhen des Bergischen Landes, so dass es nçtig wurde, die Produktionen mehrgeschossig bereinander aufzubauen. Die Betriebe waren nach einem kumulativen Prinzip aufgebaut, die Geschwindigkeit des Wachstums machte es unmçglich, nach produktionsoptimierenden Prinzipien beim Bau neuer Anlagen vorzugehen. Um 1890 war ein neuer Umzug unausweichlich. War die Firma noch mit wenigen Hundert Arbeitskrften nach Elberfeld gegangen, so waren es zu diesem Zeitpunkt schon 3155, zusammen mit den Beamten ber 3500.76 Die Werksleitung entschloss sich, diese Situation zu verbessern, indem man beim nchsten Umzug jeglichen rumlichen Begrenzungen aus dem Weg ging. Die Gelegenheit hierzu ergab sich im rheinischen Wiesdorf, wo durch den Tod von Carl Leverkus dessen Farbenfabrik mit einem dazugehçrigen großen Gelnde zum Verkauf stand.77 Bis auf den Fluss gab es hier zunchst keinerlei rumliche Restriktionen. Die Werksleitung sah sich in einer Art Pionierrolle,78 die allerdings in den ersten vier Jahren nach Erwerb der Fabrik von Leverkus nur zçgerlich angenommen wurde. Das Terrain wurde ber mehrere Jahre kaum genutzt und erst nach und nach nahm man die freie Flche in Besitz.79 Eine Reflexion der verschiedenen rumlichen Vorstellungen, die in der Verwaltung herrschten, war in dieser Situation fr die Farbenfabriken von essenzieller Bedeutung. Bis Weihnachten 1894 schien man in der Unternehmensfhrung nur einen langsamen und von spontanen Erfordernissen in75 76 77 78

Verg, S. 51 ff. Allerdings zogen hiervon in der ersten Phase nur knapp 800 in das neue Werk um; BAL 265 – 5.3. Flechtner, S. 136 f. Carl Duisbergs „Wild-West-Topos“ in der Stilisierung der Raumplanung in Leverkusen findet sich immer wieder ; etwa „Mein geliebtes Leverkusen, wie ich es mitschaffen durfte, und wie es heute als eine Mustersttte der chemischen Industrie dasteht“; Dankesrede Duisbergs anlsslich seines 25-jhrigen Dienstjubilums am 2. 10. 1909, zu dem ihm ein Bronzerelief Leverkusens geschenkt wird, Duisberg, Ausfhrungen, S. 411; auch: Carl Duisberg, S. 21. 79 Hierzu auch Hartmann, Projektionsflche.

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spirierten Ausbauprozess der bestehenden Fabrik im Auge zu haben.80 Mit Duisbergs „Denkschrift ber den Aufbau und die Organisation der Farbenfabriken zu Leverkusen“ und dem Beschluss des Direktoriums, diesen Plan weitgehend zu bernehmen, nderte sich das grundlegend.81 Bezglich der Organisation des Raumes stellte der Plan drei neue Grundprinzipien auf: 1. Der Raum wurde austauschbar gemacht. Er wurde in gleich große Parzellen zerlegt, die dann den einzelnen Produktionen und Betrieben zugeteilt waren. Bei einem dauerhaft gesteigerten Bedarf an einem Produkt wurde knftig nicht mehr der Betrieb solange vergrçßert, bis ihm der Platz fehlte, sondern ein zweiter Betrieb fr das gleiche Produkt ergnzte den ersten. Dies hatte eine gewisse Standardisierung der Abteilungs- und Betriebsgrçßen zur Folge. 2. Die Produktionsbetriebe mussten zu diesem Zweck in eine dauerhafte Ordnung zueinander gesetzt werden. Die Versorgungsbetriebe, die nur Zwischenprodukte herstellten oder die mit der Anlieferung verbunden waren, wurden an einer zentralen, fr alle anderen Betriebe erreichbaren Stelle errichtet. Diese Hierarchisierung fand auch bei der Aufteilung der Betriebe zwischen Elberfeld und Leverkusen statt. Auf das neue Gelnde in Leverkusen kamen in erster Linie die neuen zukunftstrchtigen Abteilungen fr Endprodukte. Dagegen blieben in Elberfeld zunchst die Verwaltung und das zentrale wissenschaftliche Labor. 3. Hiermit ging eine Festschreibung der Arbeiter an einen rumlich eng umgrenzten Arbeitsplatz einher. Die Arbeitsvertrge, die im Folgenden in der Farbenfabrik abgeschlossen wurden, legten fest, dass es dem Beschftigten nur noch erlaubt war : „diejenigen Fabrik-, Bureau-, Comptoirs-, Lager- und sonstigen Arbeitsrume zu betreten, welche ihm fr seine Thtigkeit angewiesen sind.“82 Der Zugang fr nicht dem Werk Zugehçrige war vollstndig ausgeschlossen. Dieser Grundsatz hatte direkte Konsequenzen fr die Autonomie der Arbeitseinteilung, denn dem Arbeiter war es nun nicht mehr mçglich, sich seine Arbeit selbststndig einzuteilen. Insgesamt war Duisbergs Konzeption des Leverkusener Werks erstaunlich nah an der foucaultschen Vision des großen Unternehmens als panoptisches Gebilde, das durch dauerhafte Kontrolle mehr noch als durch hierarchische Arbeitsbeziehungen die Disziplinierung seiner Arbeiter erreichte.83 Der Raum sollte von der Direktion einsehbar sein, die verschiedenen Abteilungen zu jedem Zeitpunkt vom Unternehmer kontrolliert werden kçnnen. Dieser Grundsatz war fr Duisberg umso selbstverstndlicher, als er ein hnliches System schon in dem Bereich, fr den er am Anfang seiner Karriere verant80 Dagegen wendete sich Duisberg vehement: „Man htte besser getan, alles abzureißen und vollkommen neue Gebude zu bauen.“ Carl Duisberg, S. 17. 81 BAL 003-004-001. 82 Vertragsvordruck von 1903, BAL 213.1. 83 Foucault, Surveiller, S. 201 ff.

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wortlich war, dem Zentrallabor in Leverkusen, durchgesetzt hatte. In der Gedenkschrift zu seinem Todestag heißt es hierzu: „Whrend es bis dahin in der chemischen Industrie eine ererbte Regel war, dass jeder Chemiker einen durch Wnde und Tren abgegrenzten Raum hatte, fhrte er das Boxsystem ein, so dass alle wie in einem Universittslaboratorium ohne geistige und rumliche Schranken beieinander waren.“84

Dahinter verbarg sich neben dem Grundsatz des schrankenlosen Zirkulierens von Ideen auch die dauerhafte Kontrollierbarkeit der Arbeitskrfte. Es erstaunt nicht, dass Duisberg dieses Prinzip spter auch auf den Neubau der Produktionsanlagen in Leverkusen anwandte. Die Planung von Konstruktion und Klassifikation des Raumes wurde in der Folgezeit, sptestens mit Duisbergs Eintritt ins Direktorium, zum allgemeinen Prinzip erhoben. 1903 wies er die Betriebsfhrer an, bei allen weiteren Vorgngen seinem Beispiel zu folgen: „Soll ein Betrieb von Elberfeld nach Leverkusen verlegt, oder dort ein neuer Betrieb errichtet oder ein solcher vergrçssert oder umgebaut werden, so hat derjenige Abteilungsvorstand und derjenige Betriebschemiker, der mit der Verlegung bezw. Errichtung oder Vergrçsserung des Betriebes und der spteren Betriebsfhrung betraut wird, zuerst eine allgemein gehaltene Beschreibung der gesamten Operationsfolge unter Angabe der Art und Folge der Apparate, nebst einer Handskizze anzufertigen und diese dann in einer Besprechung mit dem Vorsteher des Konstruktionsbureaus in Gegenwart des mit der Ausfhrung der Konstruktionsarbeit zu betrauenden Ingenieurs zu erlutern.“85

Die organische Chemieindustrie war in Deutschland weit weniger von rumlichen Determinanten geprgt als der Bergbau oder die Fertigungsindustrie. Die Frage, wo sich ein chemisches Unternehmen ansiedelte, war in viel geringerem Maße von Standortfaktoren abhngig. Zwar stellte die Versorgung mit Rohstoffen eine Notwendigkeit dar, sie war allerdings quantitativ und qualitativ weniger von einer bestimmten Quelle dieser Rohstoffe abhngig als beispielsweise die Stahlindustrie des Ruhrgebietes. Hiermit verbunden war eine große Handlungsfreiheit fr das Unternehmen, sich den gewhlten Raum im Sinne seiner Organisation zu strukturieren. Die Planung des Raumes wurde damit zu einem initialen Organisationsakt, durch den ein System auf einer bestimmten Flche festgeschrieben wurde. Ein entsprechender Aneignungsprozess fand dagegen nicht dadurch statt, dass ein Plan vollstndig umgesetzt wurde, vielmehr mussten die Grenzen des Systems und deren Durchdringbarkeit festgestellt, aber auch die einzelnen Subsysteme in ein hierarchisches Gefge zueinander gesetzt werden. 84 Stock, S. 12. 85 Rundschreiben von Carl Duisberg an alle Chemiker und Ingenieure vom 31. Juli 1903, BAL 210.

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1.3. Hierarchien in der Organisationsgestaltung Die Trger von Organisations- und Produktionswissen – Techniker, chemisches Personal und Werksmeister Der Zeitraum zwischen 1890 und 1914 zeichnete sich durch wichtige Verschiebungen in der mittleren Hierarchieebene des Unternehmens aus. Sowohl die personelle Struktur als auch die Handlungsrume der hierarchisch zwischen Unternehmensleitung und Arbeiterschaft angesiedelten Akteursgruppe wurden neu verhandelt. Wie in anderen Produktionsbetrieben86 war auch bei Bayer die Produktion lange Zeit bestimmt vom Werksmeister, der durch sein praktisches Produktionswissen Autoritt ber große Teile der Belegschaft erlangte und im Verhltnis zur Werksleitung deutliche Handlungsspielrume hatte. Doch frher als in anderen Branchen zeigte sich die Werksleitung bei Bayer gewillt, die Freirume der Werksmeister einzuschrnken und diese Position in der Tendenz abzuschaffen. Schon 1881 versuchte die Werksleitung, auf diese Institution weitestgehend zu verzichten und sie stattdessen durch akademisch qualifiziertes Personal zu ersetzen.87 Obwohl schon vor dem Untersuchungszeitraum die akademisch ausgebildeten Chemiker und Ingenieure grçßere Bedeutung fr die Organisation des Unternehmens erlangt hatten, wurde diese Entwicklung endgltig durch den Neuaufbau von Bayer in der Unternehmensstruktur systematisiert. Was in Elberfeld noch eine simple Verdrngung der alten Funktionstrger durch neue war, wurde in Leverkusen nicht nur in die entsprechenden schriftlichen Organisationsplne eingetragen, sondern auch durch die Konstruktion der neuen Produktionsbetriebe mit ihren jeweiligen Brorumen und Bibliotheken als Ort fr die Betriebschemiker und Ingenieure in der Architektur festgeschrieben.88 Doch ungeachtet des Bestrebens, die Produktion durch Akademiker fhren zu lassen, zeigten die traditionellen Trgerschichten des Produktionsprozesses nicht nur eine soziale Permanenz, sondern auch eine funktionale Notwendigkeit. Deutlich wird dies daran, dass ab ungefhr 1895 immer hufiger versucht wurde, die Belegschaft des Unternehmens statistisch zu erfassen. Wurden in den frhen Statistiken Mitte der neunziger Jahre die Angestellten der Farbenfabriken lediglich in Chemiker, Ingenieure und kaufmnnische Angestellte unterteilt, wurden diese Kategorien in der Folge durch weitere ergnzt. Die Statistik von 1904 listete neben den genannten auch die Chemiker der Frberei, die Techniker, Handwerksmeister, Aufseher, Photographen, 86 Die strkste Rolle haben dabei die Werksmeister in der Metall- und Fertigungsindustrie gespielt. Die historischen Studien zu diesen Betrieben besttigen ihre starke Stellung, die sich in erster Linie aus ihrer hohen qualifikatorischen Autonomie in den rasch expandierenden und tendenziell unbersichtlichen Unternehmen am Ende des 19. Jahrhunderts ergaben; Siegrist, S. 120 f.; Kocka, Unternehmensverwaltung, S. 344 ff. 87 Marsch, Zwischen Wissenschaft, S. 59 f. 88 Anhang zu BAL 003-004-001.

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Grafik 4: Absolute Zahl der Handwerksmeister und Aufseher bei Bayer, 1899 – 1912.

Mediziner, Juristen und Kleinbahnbeamte als Beamte mit einem Monatsgehalt auf. Grafik 4 zeigt die absolute Zahl der Handwerksmeister und Aufseher bei Bayer.89 Whrend die meisten dieser Kategorien auf der funktionellen Ausdifferenzierung der Produktion und der mit ihr verbundenen Stabsdienste beruhen, gilt das nicht fr Kategorien wie Aufseher und Handwerksmeister. Die Stellung der Aufseher und Meister im Unternehmen war so stark, dass ihnen der Status von Angestellten zuerkannt wurde. Trotz der Bedeutung, die akademisches Wissen in der chemischen Produktion spielte, war Bayer keine Ausnahme in Bezug auf die hohe Autonomie, die die zwischengeordnete Hierarchiestufe der Werksmeister und Aufseher vor dem Ersten Weltkrieg erlangte.90 Zwar verdrngte akademisches Wissen die lteren Institutionen von Werksmeistern und Aufsehern nicht aus dem Produktionsprozess, der steigende Anteil von Akademikern und ihre wachsende Bedeutung fr das Unternehmen steht jedoch außer Zweifel. Akademiker wurden bei Bayer ausschließlich als Beamte eingestellt. Ihr Anteil an der gesamten Beamtenschaft stieg von 16,1 Prozent im Jahr 1899 auf 17,2 Prozent 1906 und 18,4 Prozent im Jahr 1912 langsam aber stetig an.91 89 Zahlen nach Nieberding, Unternehmenskultur, S. 105. 90 Gispen spricht fr die Zeit um 1890 etwa von der Wiedergeburt der nichtakademischen technischen Ausbildung; Gispen, S. 160 ff.; zu den Werksmeistern bei Siemens nach 1890: Kocka, Unternehmensverwaltung, S. 228 ff.; fr Frankreich spricht Philippe Levebvre von der „empire du contrematre“; Lefebvre, S. 195. 91 Auf Grundlage der Belegschaftszahlen BAL 265 – 5.3 und BAL 10 – 1.2.

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Tabelle 3: bersicht Beamtenzahlen bei Bayer 1897 – 1912a) 1897

1904

1906

1912

Beamte insgesamt

695

1317

1362

2126

Kaufmnnische Beamte

419

788

789

1227

Technische Beamte

276

529

571

890

Akademiker außerhalb der Produktion

k.A.

k.A.

2

9

Akademische Ausbildung in %

k.A.

k.A.

17,2

18,4

a)

Diese Angaben beziehen sich auf die Beamtenstatistik von 1906 und 1912, Beckerath.

Und auch das Verhltnis der Beamtenschaft zu den Arbeitern im Unternehmen nahm zu: Tabelle 4: bersicht Beamte und Arbeiter in Unternehmen und Betrieben absoluta) Elberfeld

Leverkusen

Insgesamt (mit anderen Werken)

1896

1907

1912

1896

1907

1912

1896

1907

1912

Arbeiter

2142

1758

1870

733

3700

5087

3155

4875

7885

Beamte

k.A.

593

254

44

435

1205

487

1360b)

2117

2351

2124

777

4135

6292

3643

6235

10.002

Total a)

Nachfolgende Statistiken beziehen sich auf das statistische Material zu den Belegschaften von Bayer, BAL 265 – 5.3. b) In den Angaben zu dieser Statistik wird darauf hingewiesen, dass man zu diesem Zeitpunkt schon mit der BASF zusammen Beamte in Berlin hatte, die fr beide Firmen gearbeitet haben. In einer Alternativrechnung werden diese zur Hlfte gerechnet und es ergibt sich damit eine Gesamtzahl von 1503.

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Tabelle 5: bersicht Beamte und Arbeiter in Unternehmen und Betrieben relativa) Arbeiter pro Beamter Leverkusen

Elberfeld

Total

1896

16,66

k.A.

6,48

1907

8,5

2,96

3,58

1912

4,22

7,36

3,72

a)

Ebd.

Dieses Verhltnis von Arbeitern zu Beamten, das in der chemischen Industrie signifikant hçher lag als in anderen Industrien,92 begrndet sich durch den hohen Anteil kaufmnnischer Beamter, die zeitweise ber die Hlfte der gesamten Beamtenschaft ausmachten. Aber auch innerhalb der Branche war der Anteil der Beamten bei Bayer signifikant hçher als etwa bei den Konkurrenten BASF und den Farbwerken Lucius Meister in Hçchst.93 Neben der insgesamt hohen Zahl war auch die Altersstruktur der Beamtenschaft ungewçhnlich. 1906 waren 44 Prozent der Beamten jnger als dreißig Jahre, nur 15 Prozent dagegen ber vierzig. Der von der Unternehmensleitung berechnete Schnitt lag bei 33,5 Jahren. Die Beamtenschaft war – mehr noch als die brige Belegschaft – besonders jung. Dies kann durch die starke Expansion um die Jahrhundertwende und vor allem die Erçffnung des Werkes in Leverkusen erklrt werden, wodurch ein großer Bedarf an Arbeitskrften entstand. Eingestellt wurden vorwiegend Beamte. Die Fluktuation, die fr die chemische Industrie im Allgemeinen charakteristisch war, insbesondere aber bei Bayer beobachtet werden konnte,94 wurde zu einem bestimmenden Element fr das Unternehmen. Die von der Werksleitung eingesetzten chemischen Beamten hatten durchweg eine akademische Ausbildung. Im Regelfall wurden sie ber das festgefgte Netzwerk zwischen dem Unternehmen und der universitren Forschung in die Firma integriert. So galt der Grundsatz, dass vorrangig unter den besonders guten Studenten eines dem Unternehmen „bekannten Hochschullehrers“ nach Beamten gesucht werden sollte.95 Wenn mçglich sollten sie 92 Von den grçßten deutschen Industrieunternehmen, deren Belegschaftszahlen heute bekannt sind, hatte Bayer im Jahr 1907 danach fr das Gesamtunternehmen mit 1:4,1 das niedrigste Verhltnis von Beamten zu Arbeitern. Berechnung auf Grundlage von Kocka/Siegrist: Die hundert grçßten, S. 98 ff. 93 Nieberding, Unternehmenskultur, S. 106. Whrend die BASF 1900 eine Relation von Beamten und Arbeitern von etwa 1:12 und Hçchst von 1:9 hatte, lag diese Relation bei Bayer schon unter 1:5. Zu den Hçchster Zahlen auch Schreier/Wax (1990). 94 Die extrem hohe Fluktuation, gerade in den ersten Dienstjahren, ist von Anne Nieberding berzeugend und detailliert belegt worden; Nieberding, Unternehmenskultur, S. 317 ff. 95 Bestimmungen ber die Anstellungen von Chemikern, Koloristen und sonstigen akademisch gebildeten, chemisch-technischen Beamten, Januar 1911, BAL 12 – 18.

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bei diesen „befreundeten“ Professoren ein Assistenzjahr absolviert haben, um hierdurch ihre Qualifikation umfassend zu belegen. In jedem Fall wurde eine Promotion fr eine solche Anstellung vorausgesetzt. Ungeachtet dieser universitren Qualifikationen gab es fr die neuen Angestellten eine regulre, innerbetriebliche Ausbildung.96 Akademische Bildung trat also bei Bayer zunchst im Produktionsprozess auf. Aus der Gruppe dieser Ingenieure oder Chemiker wurde das Fhrungspersonal des Unternehmens rekrutiert; außerhalb eines solchen Karriereweges waren kaum Akademiker im Unternehmen ttig. Die ersten beiden akademisch ausgebildeten Beamten, die nicht im Produktionsprozess ttig waren, waren zwei Juristen im Jahr 1906.97 Es versteht sich von selbst, dass die Chemiker in einem Chemieunternehmen eine Schlsselfunktion in der Produktion innehatten. Umso erstaunlicher waren ihre verhltnismßig eng umrissenen und stark reglementierten Handlungsspielrume. Zwar leiteten sie in den einzelnen Betrieben fr die Herstellung chemischer Hauptsubstanzen die Produktion: „wird [dem Betriebschemiker] ein Produkt zur Fabrikation zugewiesen, so ist es seine Aufgabe, vor der Aufnahme der Fabrikation die Reaktionen im Laboratorium genau durchzuarbeiten“;98 ihre Aufgabe schien sich dabei allerdings auf die richtige Einfhrung der Produktionsschritte im Sinne einer maschinell prozesshaften Produktion bezogen zu haben. Dabei war es zunchst vollkommen unerheblich, in welchem Bereich diese Chemiker arbeiteten, die Direktion wnschte sogar explizit, dass sie zu jedem Zeitpunkt von einem Betrieb zum anderen oder auch in die innerbetriebliche Forschungsabteilung wechseln konnten.99 Dem chemischen Betriebsleiter kam keine direkte Fhrungsposition im Produktionsprozess zu, vielmehr verstand die Werksleitung ihn als Wissenschaftler.100 Zwar war der Chemiker auch zustndig fr die Auswahl der Arbeiter und die Kontrolle der Ergebnisse; in der Arbeitsbeziehung zu den Arbeitern „untersttzte“ er allerdings in erster Linie den Aufseher.101 Die Aufgaben des Betriebschemikers waren damit auf drei Kernbereiche beschrnkt: 1. die Kontrolle der Produkte und die berwachung der Ordnung im eigenen Betrieb, 2. die Weiterentwicklung und Optimierung von Prozessen, 3. die Kommunikation mit hçheren Hierarchieebenen und Kollegen zur Sicherung eines adquaten Wissensaustausches. 96 Beckerath, Bd. V, S. 13. 97 Dies geht aus der Angestelltenstatistik hervor, BAL 265 – 5.3. 98 Handbuch fr die Beamten der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909], S. 36. 99 „Bestimmungen ber die Anstellung von Chemikern, Koloristen und sonstigen akademisch gebildeten, chemisch-technischen Beamten“, BAL 12 – 18. 100 Standardvertragsvorlage fr Chemiker, BAL 213.1; daneben Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909], S. 35 ff. 101 Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909], S. 38.

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Zahlreiche Direktiven der Unternehmensleitung begrenzten wiederum diese Handlungsfelder und brachten die Beamten in ein Netz gegenseitiger Kontrolle, in dem sie untereinander auf mçglichst rationellen und intensiven Arbeitseinsatz zu achten htten.102 Nach diesen Richtlinien waren die Beamten dazu angehalten, die Zahl der in der Produktionsorganisation eingebundenen Arbeiter mçglichst zu verringern oder diese Organisation von vornherein entlang eines vollstndig technisierten Planes aufzubauen.103 Folge dieses Grundsatzes war auch, dass neue Techniken in allen Bereichen der Broarbeit genutzt wurden. Dies galt in der zentralen Verwaltung ebenso, wie in den einzelnen Betrieben. Wie in anderen Branchen und Verwaltungsbereichen, die diesem Prozess einer langsamen Brokratisierung unterlagen,104 ging auch bei Bayer mit einer steigenden Zahl von Frauen einher, die fr die spezifischen Broposten eingestellt wurden.105 Jeder einzelnen Produktionsabteilung bei Bayer war neben einem Chemiker auch ein Betriebsingenieur zugeordnet. Seine Funktionen ergnzten wesentlich die des Chemikers. Whrend dem Chemiker die Anpassung eines wissenschaftlichen Verfahrens an die Massenproduktion zukam, beschftigte sich der Ingenieur mit der Konstruktion von Anlagen, mit der Energiezufuhr und den Transportmçglichkeiten im Betrieb. Er hatte auch die Aufsicht ber die Produktionsschritte, die die meisten Arbeitskrfte banden. Ihm oblag es, dafr zu sorgen, dass „alle Apparate so çkonomisch wie mçglich“ arbeiteten.106 Hinzu kamen die Reparaturttigkeiten, die aufgrund der anflligen und meist kurzlebigen chemischen Anlagen wichtig waren.107 Hohe Flexibilitt charakterisierte mithin seinen innerbetrieblichen Aufgabenbereich. Im Gegensatz zu den Chemikern stellten die Ingenieure hierdurch auch Bezugspunkte in der innerbetrieblichen Autorittsarchitektur dar. Waren sie in Elberfeld noch in einer zentralen Ingenieursabteilung zusammengefasst,108 integrierte der Plan von Duisberg diese Funktion in die einzelnen Abteilungen, wodurch die Ingenieure zu einer unabhngigen hierarchischen Institution in der Produktionshierarchie wurden.109 102 Streng vertrauliches Rundschreiben an die Abteilungsleiter, 26. 7. 1908; BAL 12 – 18. 103 Rundschreiben „An unsere Herren Chemiker und Ingenieure zu Elberfeld, Leverkusen und Barmen-R.“, 31. 7. 1903, BAL 210. 104 Kittler. 105 So stieg der Anteil der weiblichen Beamten auf vier Prozent im Jahr 1906. Da diese nicht auf den technischen oder Produktionsposten ttig waren, drfte ihr Anteil an den Brottigkeiten annhernd zehn Prozent ausgemacht haben; Beamtenstatistik 265 – 5.3. 106 Vertraulicher Entwurf der anorganischen Grossbetriebe in Leverkusen [um 1900?], BAL 10 – 15. 107 Pflichten und Obliegenheiten des Oberingenieurs und der Betriebs- und Werksttteningenieure (Rundschreiben), von 1894, BAL 10 – 15; Hippel, S. 79. 108 So galt in Elberfeld noch lange das Prinzip der zentralen Ingenieursabteilung „Vorschriften fr die Einteilung der Arbeiten im Ingenieurbureau der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co in Elberfeld“, BAL 12 – 18. 109 Denkschrift Duisberg Leverkusen, BAL 003-004-001.

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Da es aufgrund der kaum standardisierten Arbeitsablufe wenig Mçglichkeiten zur direkten Autorittsvermittlung gab, wurde diese ber Kontrollmechanismen kommuniziert. Der Ingenieur war in diesem Feld indirekter Autorittsausbung die Person, die den Arbeitern Verbote und Ermahnungen erteilen konnte, wenn es um die Sicherheit des Betriebes ging.110 Die Betriebsfhrer ihrerseits unterlagen den Kontrollmechanismen durch die Abteilungsleiter der Produktionsabteilungen und dem jedem Werk zugeordneten Oberingenieur. Diese hatten die explizite Aufgabe, ber die richtige Allokation von Produktionsmitteln und Arbeitern in den Betrieben sowie ber die Kosten der Produktion zu wachen. Hierzu fhrten sie tglich Betriebsinspektionen durch.111 Die Funktionen von Produktionsdisposition, Kontrolle und sozialer Instanz innerhalb der Belegschaft, die in vielen Großbetrieben allein von den Werksmeistern ausgebt wurden,112 waren bei Bayer funktional voneinander getrennt. Die hufig behauptete Autonomie der Betriebsleiter galt also gerade in dieser Zeit nur eingeschrnkt.113 Sie hatten weder eine vollstndige Weisungshoheit in Bezug auf die operative Arbeit noch waren sie hierarchisch autonom. Sie unterlagen vielmehr einer direkten Kontrolle sowohl durch die statistischen Bros als auch durch Oberingenieure und Abteilungsleiter. Im Umkehrschluss zu diesem wenig geschrften Profil der Betriebsleiter ergibt sich der Spielraum fr die Werksmeister und Aufseher, die fest in den Produktionsprozess eingebunden waren. Er bestand aus den Aufgaben, die die Betriebsfhrer nicht wahrnahmen: Autoritt auszuben, Handlungsanweisungen zu geben sowie nicht verstetigte und nicht mechanisierte Prozesse zu organisieren. Am wichtigsten dabei war, universell und flexibel einsetzbar zu sein, was auch fr die Arbeiter im Leverkusener Werk galt.114 Die Posten der Werksmeister und Aufseher waren nicht an eine direkte fachliche Qualifikation gebunden, sondern vielmehr an ihre Qualitten als Fhrungspersonen im Betrieb und ihre Fhigkeit, durch Kontrolle Autoritt auszuben:

110 111 112 113

Vertragsvorlage, BAL 213.1. Rundschreiben an die Betriebsfhrer aller Filialen vom 15. November 1894, BAL 12 – 18. Siegrist, S. 120; Lepsius, S. 33. Beckerath, S. 8; Marsch, Zwischen Wissenschaft, S. 60; angefhrt wird dieses Moment auch fr andere chemische Unternehmen, etwa fr die BASF, von der Hippel annimmt, dass sie sich in eine Vielzahl weitgehend autonomer Betriebe aufteilte, die jeweils von einem unabhngigen Betriebsleiter gefhrt wurden. Wenn diese Einschtzung zutreffend ist, so bildet dies einen wesentlichen Unterschied zur Stellung der Betriebsleiter bei Bayer, die nur vordergrndig autonom waren; Hippel (2002), S. 58. 114 So heißt es im Formvertrag fr Meister und Aufseher fr die Jahre nach 1900: „Es ist in Aussicht genommen, Herrn X als x-Meister (Aufseher) je nach Wahl der Farbenfabriken in einem ihrer Betriebe in Elberfeld, Barmen, Leverkusen oder Schelploh zu beschftigen. Herr X verpflichtet sich jedoch, statt oder neben dieser Beschftigung auch alle ihm sonst etwa von seinen Vorgesetzten bertragenen Arbeiten zu verrichten“; BAL 213.1.

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„Den Betriebschemikern und Betriebsingenieuren sind Aufseher resp. Meister zugetheilt und unterstellt, welche sich um den chemischen und mechanischen Theil der Fabrikation selbst nur in soweit zu kmmern haben, daß sie die dort vorzunehmenden Arbeiten berwachen und dafr sorgen, daß dieselben richtig, pnktlich und ordentlich, wie vom Betriebsfhrer oder vom Abtheilungsvorstand angeordnet, ausgefhrt werden. Zu diesem Zwecke sind ihnen die Arbeiter unterstellt, deren Lohn und sonstige persçnliche Angelegenheiten sie auf Grund der erlassenen diesbezglichen Verfgung zu berwachen und zu ordnen haben. Bei ihrer Controlle haben sie darauf zu sehen, daß von den Arbeitern die richtigen Materialien verwandt, die vorgeschriebenen Gewichte und Maßmengen genommen, die festgesetzten Temperaturen eingehalten werden und daß mit Wasser, Gas, Dampf, Licht und Kohlen so sparsam wie mçglich umgegangen wird. Alles was sie Stçrendes bei der Fabrikation, bei den Apparaten etc. beobachten, melden sie sofort dem Betriebsfhrer bezw. Ingenieur, ohne jemals selbststndig einen Versuch zur Abnderung oder evtl. Verbesserung zu unternehmen.“115

Wenn auch die technische und prozessbezogene Autonomie dieser Hierarchiestufe weitgehend eingeschrnkt war, hatten sie umso grçßere Handlungsspielrume in Bezug auf den letztgenannten Aufgabenbereich.

Funktionstrger Wissen Vor dem Hintergrund der sozialen Wandlungsprozesse in der Hierarchie der Produktionsabteilungen wird schnell deutlich, dass die Verfgungsrechte ber den Faktor des Wissens im hier besprochenen Zeitraum zum Schlsselfaktor in der Entwicklung der Unternehmensorganisation wurden. Dabei standen sich die Bemhungen der Unternehmensleitung, durch eine Verwissenschaftlichung den Produktionsprozess zu zentralisieren, und die Verteidigung von Handlungsspielrumen in Form eines dezentralen praktischen Wissens gegenber. Mehr als in jeder anderen Industrie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war der Austausch zwischen Wissenschaft und Produktionswirklichkeit fr die chemische Industrie im Allgemeinen und die Farbenindustrie im Besonderen von entscheidender Bedeutung. Hierbei ging es keineswegs um einen einmaligen Wissensinput im Sinne einer technologischen Idee, die dann zum konstanten Aufbau eines Fertigungssystems gefhrt htte.116 Vielmehr handelte es sich darum, einen konstanten Zufluss von Wissen zu organisieren und dieses im Unternehmen zu sichern.117 Auch die Zeitgenossen sahen die originre Bedeutung, die hieraus fr diese Industrie erwuchs und sie zu einem 115 Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909]. 116 Locke, S. 60 f. 117 Andersen, Technologietransfer ; Murmann; Marsch, Zwischen Wissenschaft; Johnson.

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besonders fortschrittlichen Element in der industriellen Landschaft Deutschlands machte: „Die Farbenindustrie ist mehr als jeder andere Zweig der chemischen Industrie direkt abhngig von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung, aber sie hat auch mehr als jede andere dazu beigetragen, der Forschung immer neue Bahnen zu erschliessen, immer neues Material zuzufhren. […] es ist nicht zu bestreiten, dass die Farbenindustrie in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr die Forschung auf dem Gebiete, welches diese bearbeitet, in ihre eigenen Hnde genommen hat. An die Stelle einer geschickten Ausnutzung der gelegentlichen Entdeckung unabhngiger Forscher ist eine planmssige Durchsuchung des bebauten Gebietes in den speciell von der Industrie zu diesem Zwecke unterhaltenen Forschungslaboratorien getreten.“118

Damit wurde Wissen zur entscheidenden Machtressource; die Versuche, dieses Wissen zu zentralisieren, die es auch bei Bayer gegeben hat, lassen sich allerdings bei dem Chemieproduzenten in zweierlei Weise verstehen. Es war zum Ersten das wissenschaftlich erarbeitete, in technologisch-praktische, operative Zyklen bersetzte Wissen um die Produktion. Dieses Wissensgebiet ging zunchst aus akademischem Wissen hervor, beschrnkte sich aber nicht darauf. Vielmehr waren daneben die von der gesamten Belegschaft erzeugten produktionsspezifischen Kenntnisse von entscheidender Bedeutung fr die Fortentwicklung und Stabilisierung der Produktionssysteme. Diese internen Wissenszyklen wurden bei Bayer vor allem am Ende der Untersuchungsperiode in ihrer Relevanz erkannt. Die mehr theoretisch-wissenschaftlichen und die praktischen Formen von Wissen in der Organisation lassen sich unter dem Begriff des Produktionswissens zusammenfassen. Im Gegensatz hierzu stand eine zweite Form des Wissens: Die Kenntnis der sozialen Realitten im Unternehmen und ihrer Konsequenzen fr die Organisation der Betriebe. Beide Formen sollen im Folgenden soweit mçglich nachgezeichnet werden: 1. Schon frh war der Unternehmensleitung daran gelegen, das Produktionswissen fr die Verwaltung zugnglich zu machen und gleichzeitig die einzelnen Forschungen den Bedrfnissen der Produktion unterzuordnen. Die Chemieindustrie war traditionell darauf ausgerichtet, dass der Erfinder eines Verfahrens auch mit seiner Umsetzung betraut wurde. Wenn er nicht selbststndig ein Unternehmen grndete, arbeitete er hufig in einer Art Subunternehmerfunktion fr grçßere Firmen, die damit in erster Linie als Geldgeber fungierten.119 Bayer bemhte sich, diese verhltnismßig lockere Form der Organisation von Forschung und Produktion zu straffen. Gleichzeitig wurde die Forschung durch das Entstehen des Zentrallabors im Jahr 1881 zentralisiert und in ihren Methoden auf die Entwicklung bestimmter Produkte aus118 Witt, S. 203. 119 Fr die BASF spricht Hippel von Betriebsfhrern, die „fr gewçhnlich eiferschtig ihre volle Selbstndigkeit [wahrten], und diese Haltung wurde institutionell nicht nur gefçrdert, sondern geradezu gefordert“; Hippel, S. 58.

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gerichtet. Dadurch war es die Unternehmensleitung, die das Ziel der jeweiligen Forschungen vorgab und die Erfolge der Chemiker kontrollierte. Daneben konnte auf diese Weise auch die çkonomische Rentabilitt einzelner Forscher und des gesamten Labors zu jeder Zeit beurteilt werden.120 Im Sinne einer fortschreitenden Arbeitsteilung auf der Ebene der Beamten wurde jedem Chemiker ein abgegrenztes Gebiet zugeteilt, zu dem er zu forschen hatte. Jede Erkenntnis sollte dabei festgehalten werden. Zu diesen Informationen wurden diejenigen hinzugefgt, die von den einzelnen Betriebsfhrern in tglichen, wçchentlichen und monatlichen Berichten ber ihre jeweiligen Experimente und Prozessoptimierungen gemacht wurden: „Wir wollen aber ber alle Laboratoriumsversuche, ob sie positiver oder negativer Art sind, orientirt [!] sein und wir wollen auch ber die Betriebe wissen, welche Verbesserungen resp. welche Verschlechterungen im Laufe der Wochenarbeit gemacht sind.“121

Auf diese Weise sollte ein nahtloses Ineinandergreifen von Wissenschaft und Produktion sichergestellt werden.122 Als Konsequenz waren die Farbenfabriken vertragsgemß Eigentmer der Erfindungen, vergteten ihre Wissenschaftler allerdings auch nach den erzielten Erfolgen.123 Die Vielzahl von Maßnahmen, die daneben getroffen wurden, um die wissenschaftlichen Informationsflsse im Unternehmen sicherzustellen, zeugen von der außerordentlichen Bedeutung, die dem Produktionswissen zugemessen wurde. Neben den Grundstzen einer vertikalen Kommunikation zwischen der betrieblichen Hierarchie und den einzelnen Produktionsbetrieben gab es in Leverkusen und Elberfeld auch die Institution der Chemiker-, Koloristen- oder Pharmazeutenkonferenzen.124 In welchem Maße diese horizontale Kommunikation eine Besonderheit von Bayer bildete, wird deutlich, wenn sie mit der Wissensorganisation der BASF verglichen wird. Hier galt der Grundsatz, dass die Kommunikation der Wissenschaftler zwischen den einzelnen Produktionsbetrieben nicht erwnscht war, sie standen vielmehr in einer Art gegenseitigem Konkurrenzverhltnis.125 Der Erfolg dieser Neuerung zeigte sich in der großen Zahl angemeldeter Patente, die in den Folgejahren registriert wurden. Ein wesentlicher Teil entfiel dabei in der Phase vor 1895 auf den Leiter des Zentrallabors, Carl Duisberg.126 Doch neben der Zentralisierung des akademischen Wissens lenkte die Unternehmensleitung ihre Aufmerksamkeit nach der Jahrhundertwende 120 BAL 15 – 11.1. 121 Rundbrief der Direktion an die Betriebsfhrer und Chemiker vom 11. Januar 1897, BAL 12 – 18. Dazu auch die Verordnung des Direktoriums vom 29. Dezember 1895, BAL 12 – 18. 122 Murmann, S. 138 – 163, besonders S. 150 ff. 123 Auf diesen Grundsatz legte Duisberg besonderen Wert; Duisberg, Abhandlungen, S. 738 ff. 124 Beckerath, Vl. I, S. 18 f. 125 Hippel, S. 58. 126 Duisberg, Abhandlungen, S. 35 – 115.

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Grafik 5: Anteile der Berufsgruppen an den erfolgreichen Vorschlgen.

mehr und mehr auch auf das praktische Produktionswissen. Hierin sah gerade Duisberg eine Mçglichkeit zur Optimierung der ansonsten schwer zu analysierenden Produktionsarbeit. Beginnende Reflexionsprozesse ber die Intensivierung und Organisation der Arbeit lassen sich bei Bayer schon um die Jahrhundertwende an den neuen Entlohnungsmethoden ablesen. So mahnten die beiden Direktoren Bçttinger und Duisberg 1902 die Produktionsverantwortlichen in ihren Betrieben: „In einer grossen Anzahl unserer Betriebe werden den Arbeitern seit einiger Zeit neben den Tage-, Stunden- und Akkordlçhnen und ausser den fr Leverkusen eingefhrten Dienstaltersprmien auch noch besondere Arbeitsprmien bewilligt, um ihr Interesse an der Qualitt ihrer Leistungen zu erhçhen und eine gewisse Regelmssigkeit in der Gte der Arbeiten herbeizufhren. Es ist aber auch vorgekommen, dass quantitative Leistungen, die in der Bemessung der Lohn- und Akkordstze zum Ausdruck gelangen, mit solchen Arbeitsprmien belohnt werden.“127

Diese Trennung von quantitativen und qualitativen Merkmalen der Arbeit in der chemischen Industrie ist Zeichen fr einen Versuch eines analytischreflexiven Ansatzes zur Typologisierung; die beschriebenen Schwierigkeiten in ihrer Anwendung sind dagegen Beleg fr die problematische Einpassung solcher Denkmuster in die chemische Produktion. Statt einer verstrkten Anwendung eines Differenziallohnsystems, das im Zentrum der oben be-

127 Rundschreiben „An unsere Herren Chemiker, Ingenieure, Meister und Aufseher“, 15. 11. 1902, BAL 215 – 8.

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schriebenen Bemhungen stand, versuchte die Unternehmensleitung bald andere Wege zur Verbesserung der Produktionseffizienz zu finden. Bereits 1903 – kurz nach den angefhrten Schwierigkeiten in der leistungsabhngigen Bezahlung – wurde von der Unternehmensfhrung auf Initiative Duisbergs ein systematisches Vorschlagswesen eingefhrt. Alle Betriebsfhrer, Meister und Vorarbeiter konnten nun Verbesserungsvorschlge zur Produktionskostenersparnis einreichen.128 So wurde dem Frbermeister Ott kurze Zeit nach dieser Entscheidung eine beachtliche Prmie zuerkannt, da er seinen Personalbedarf mit einer einfachen Erfindung um fnfzig Prozent senken konnte.129 Diese Maßnahme des innerbetrieblichen Vorschlagswesens wurde nach guten Erfolgen 1909 auf die gesamte Belegschaft ausgedehnt und so ein Ansatz zur Zentralisierung von Wissensflssen fr alle hierarchischen Stufen des Unternehmens eingefhrt. Ein erster Schritt in diese Richtung war bezeichnenderweise ein 1908 eingefhrtes Prmiensystem, das denjenigen belohnte, der den Fehler eines Kollegen aufdeckte. Ein Jahr spter ließ die Unternehmensleitung in allen Aufenthaltsrumen Ksten aufhngen, in die jeder Arbeiter oder Handwerker seine Vorschlge einwerfen konnte.130 Laut den Listen, die die gemachten Vorschlge erfassten, waren es vor 1914 in erster Linie Handwerker, die durch das System ihr Gehalt aufbessern konnten. 2. Eine andere Wissensform bekam bei Bayer vor dem Krieg eine wachsende Bedeutung: das Wissen um die sozialen Realitten des Unternehmens. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Konjunkturkrisen der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts schien es immer wichtiger, das Unternehmen zu jeder Zeit so zu berblicken, dass die mçglichen Ursachen von Dysfunktionalitten schnell erkannt werden konnten. Bereits 1886 bot dies Carl Rumpff den Anlass zur Grndung des „Statistische Bureaus“, dessen Hauptziel es war, den berblick ber die Geschftszahlen zu gewhrleisten,131 – eine Aufgabe, die durch die mittlerweile fnf Standorte des Unternehmens erschwert wurde.132 Von Anfang an orientierte sich die statistische Erfassung an den staatlichen Erhebungsmethoden, die sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Mittel der staatlichen Kontrolle etabliert hatten.133 Dieses Prinzip wurde vor allem von dem ersten Leiter des Bros, dem Nationalçkonom Dr. v. Kostanecki, aufgebaut. Aufgabe der Abteilung war es, neben kommerziell relevantem Zahlenmaterial, „Zahlen jeder Art ber Betriebs-, Beamten- und Arbeiterverhltnisse sowie ber Wohlfahrtseinrichtungen“ zu liefern.134 Dieses zweite bestim128 129 130 131 132

Rundschreiben an die Chemiker und Ingenieure vom 31. Juli 1903, BAL 210. Brief des Meisters Ren Ott vom 7. September 1903, BAL 210. Auszge aus den Direktorenkonferenzen vom April 1908 und 21. Mai 1909, BAL 210. BAL 110 – 1.41. Organisation und Ttigkeit der Betriebsbuchhaltung, in: Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909], Anlage 22. 133 Desrosires. 134 „Geschichte des Statistischen Bureaus“ ohne Datum [1906]; BAL 110/1.41.

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mende Interesse wurde ebenfalls durch den Umzug nach Leverkusen ausgelçst. 1892 wurde die bis dahin gltige „Rendementsberechnung“ in zwei Teile geteilt. Neben der kaufmnnischen Abteilung wurde auch eine rein statistische Abteilung aufgebaut, die die bersicht ber die internen Verhltnisse der Werke zum Ziel hatte.135 Der erste erhaltene Bericht ber diese Verhltnisse stammt von 1895 und beruhte auf einer Statistik, die die beschftigten Arbeiter nach ihrem Alter aufschlsselte.136 Diese Statistik ber die Arbeiter und deren effektive Arbeitszeit verstand sich auch als vorbeugende Maßnahme fr eine eventuelle staatliche Intervention in Hinblick auf Jugend- oder Sonntagsarbeit. Diese Form der statistischen Erfassung betrieblicher Realitten wurde in der Folgezeit im Unternehmen zu einer hufig vollzogenen Praxis. Die ein Jahr spter vom statistischen Bureau angefertigte Statistik ber die beschftigten Arbeiter zeigt gleichzeitig, dass diese statistische Erfassung der Belegschaft auch durch den brancheninternen Vergleich motiviert war : Tabelle 6: Vergleich der Beamtenanzahl bei Bayer und BASFa) Chemiker

Ingenieure

Kaufm. Beamte

Arbeiter

Seitens der Badischen

100

30

230

480

Seitens den Farbenfabriken

100

23

228

258

a)

BAL 265/5.3. Aufgrund der innerbetrieblichen Anwendung dieses Vergleiches mit der BASF sind die Statistiken im Wortlaut zitiert.

Die Einschrnkungen der Zahlen durch die Autoren der Statistik und die nachtrglichen Korrekturen deuten darauf hin, dass es bei Bayer vor 1895 tatschlich keine systematische Erfassung der Belegschaftszahlen gegeben hatte. Das Augenmerk der Direktion scheint, wie bei der ersten – in relativen Zahlen ausgedrckten – Statistik, schon zu diesem Zeitpunkt auf dem Verhltnis von Arbeitern und Angestellten oder, anders ausgedrckt, zwischen produktiver Arbeit und Verwaltung gelegen zu haben.

135 BAL 110 – 1.41. 136 Anhang zu Beckerath, Bd. V, Anlage 1.

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Tabelle 7: Arbeiteranzahl bei Bayer und der BASF vor 1895a) Die Zahl der Arbeiter insbesondere betrug Bei der Badischen

Bei den Farbenfabriken

1865

30

ca. 40

1870

520

ca. 70

1875

835

119

1880

1534

298

1885

2377

555

1890

3600

995 ?b)

1895

4450

2132 ?b)

a)

Ebd. Die Fragezeichen sind in der Tabelle kurz nach Erstellung der Statistik eingefgt worden, jeweils andere Zahlen (fr 1890 1264, fr 1895 2506) sind hier ergnzt worden. Hier sind die ursprnglichen Zahlen bernommen worden.

b)

Die Anfnge der Statistik und das Bestreben, komplexe, unternehmensinterne Vorgnge in verhltnismßig einfachen Zahlenverhltnissen zu erfassen, waren also zunchst von Krisenerfahrung und Konkurrenzsituation motiviert. Mit der zunehmenden Tendenz zur Brokratisierung der Verwaltung entwickelte sich allerdings dieser zielgerichtete Grundsatz der statistischen Erfassung in eine andere Richtung. Bereits 1897 schlsselte die Abteilung die Arbeiter nach Geschlecht und nach Werkszugehçrigkeit auf und ergnzte die Beschftigungsfelder der Beamten.137 Mit der Einfhrung der sogenannten Sozialingenieure in Leverkusen und der gleichzeitigen Grndung des „Allgemeinen Arbeiterausschusses“ als Reaktion auf den Streik von 1904 vervielfachte sich auch das Interesse der Direktion an den unterschiedlichen sozialen Dynamiken innerhalb des Unternehmens. Dies schlug sich nachhaltig in der Produktion von Statistiken nieder.138 In diesen bersichten rckten immer mehr die sozialen Hintergrnde und Segregationslinien der Belegschaft sowie deren Zugang zu den sozialen Institutionen des Unternehmens in den Blick. Gleichzeitig gelangte das Unternehmen zu der Erkenntnis, dass die so ausgedrckten Effekte direkten Einfluss auf Gewinne und Verluste hatten. Den sozialen Faktor zu integrieren und ihn zu modellieren, wurde zum entscheidenden Anliegen der Direktion.

137 BAL 265 – 5.3. 138 Vgl. Anhnge an die Sozialberichte von 1907, respektive 1909, BAL 212 – 1; BAL 214 – 4.

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Der Unternehmensleitung schien es 1906 angemessen, Buchfhrung und Statistik wieder unter einem Dach zusammenzufhren. Im diesem Jahr berichtete das Bro mit Stolz: „Die Arbeiten der vereinigten Bureaux wurden immer mehr ausgedehnt und vervollkommnet, sodass heute ber smtliche Angelegenheiten des Betriebes und des Verkaufs ziffernmssige Nachweise vorhanden sind.“139

Im Jahr 1909 beschftigte das vereinigte Bro 42 Beamte, von denen 14 die kaufmnnischen Vorgnge und zehn die innerbetriebliche Statistik erfassten.140 Die Arbeiten des statistischen Bros, der Sozialingenieure und des Allgemeinen Arbeiterausschusses wurden in zwei großen Sozialberichten im Jahr 1907 und 1909 dokumentiert.141 Diese Berichte sollten der Unternehmensleitung ermçglichen, die soziale Lage der Arbeiter, ihre Herkunft, ihr Alter, ihr Geschlecht und eine Vielzahl weiterer sozialer Daten zu berblicken. Daneben spiegelt der Bericht von 1907 aber auch das Selbstverstndnis wider, welches das Unternehmen durch die bloße Aufstellung einer Statistik von sich geben wollte. Nach Auffassung der Autoren verlief die Entwicklung solcher interner Wissensgenerierung im Unternehmen linear : „[Es entwickelten sich] angeregt und gezwungen durch die sociale Gesetzgebung der 80er Jahre des verflossenen Jahrhunderts ein allmhliches Anwachsen der statistischen Zahlen und schliesslich – mit eine Folge der Erkenntnis, welchen Wert fr eine Weltfirma in einer bis ins Kleinste ausgebildeten Statistik und deren verstndnisvoller Verwertung liegen – eine grosse Summe bearbeiteten Zahlenmaterials.“142

Aufbau und Nutzung der statistischen Abteilung wurden neben ihrem praktischen Nutzen auch zu einer Selbstvergewisserung des Unternehmens und seiner Wachstumsprozesse, die in jedem Detail zunehmend vom Unternehmen untersucht wurden. In der Erfassung komplexer sozialer Situationen lsst sich nicht nur ein Absolutheitsanspruch der Unternehmensleitung gegenber der Belegschaft ablesen, sondern auch der Wille, gleichzeitig einsetzende staatliche Formen der Wissenserfassung143 und die hierber erzielten Modellierungen sozialer Realitten im Inneren des Unternehmens zu reproduzieren.

139 140 141 142 143

Geschichte des Statistischen Bureaus; BAL 110 – 1.41. Brief des Brovorstehers an Carl Duisberg, 28. 1. 1909; BAL 110 – 1.41. Sozialberichte, BAL 212 – 1; BAL 214 – 4. Sozialbericht 1907, BAL 212 – 1 Raphael, S. 173 ff.; Tooze.

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Kommunizierte Organisation – Praktiken versus Regeln In einem Kontext, in dem verschiedene Akteure direkt miteinander kommunizieren kçnnen, bilden kommunikative Praktiken nicht nur eine wichtige Voraussetzung fr die organisationelle Strukturierung, sondern sind auch Determinanten der Autorittsausbung. Die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt das Wort ergreift und mit wem kommuniziert wird, ist in kommunikativen Beziehungen essenziell fr die Frage nach den sozialen Praktiken einer Organisation. Kommunikation stellt so einerseits den Zugang zu Ressourcen der Information dar, andererseits ist die Art, wie Akteure miteinander kommunizieren, eine Art der Produktion und Reproduktion von Machtverhltnissen.144 Das Direktorium von Bayer bemhte sich intensiv darum, auch die kommunikativen Praktiken zu zentralisieren und damit Ordnung in den unternehmensinternen Diskurs zu bringen. Zentrale Bedeutung bekam dieses Werkzeug fr die Autorittsausbung Carl Duisbergs, des spteren Direktors der Farbenfabriken. Neben der bereits analysierten Praxis, Denkschriften zu verfassen, setzte die Direktion weitere kommunikative Werkzeuge ein: Die Rundschreiben, die ab der Jahrhundertwende im Unternehmen immer hufiger verwendet wurden. Jedes Problem in den internen Ablufen, jede Disziplinfrage und auch scheinbare Marginalitten veranlassten die Direktion dazu, Rundschreiben in Umlauf zu bringen, die im Regelfall entweder an das Direktorium und die Abteilungsleiter,145 zustzlich noch an die Betriebsleiter146 oder auch an die gesamte Arbeiterschaft147 gesendet wurden und çffentlich verlesen wurden. Die Wirkung solcher Rundschreiben ist in zwei Richtungen zu interpretieren: 1. Die Laufwege der Schreiben wurden vom Unternehmen genau festgelegt. Die Frage, wer Adressat dieser Rundschreiben war und in welcher Reihenfolge diese zu unterzeichnen waren, wurde wiederum durch Direktiven der Unternehmensleitung geregelt. Auf diese Weise besttigten, reproduzierten oder ersetzten die Kommunikationswege dieser Rundschreiben in entscheidender Weise eine offizielle, statische Gliederung des Unternehmens durch die Direktion. Die einzigen bersichten, die vor dem Weltkrieg eine hierarchische Ordnung wiedergeben, waren diese tabellarischen bersichten der Laufwege der Rundschreiben. So hieß es in der entsprechenden Verordnung der Direktion: „Es drfen nur die zum Unterschreiben berechtigten Herren geschftliche Schriftstcke aller Art mit ihrer Unterschrift versehen, die nhere oder wenigstens allge144 145 146 147

Priddat, Zeit, S. 29. Rundschreiben an die Abteilungsleiter, 26. 7. 1908; BAL 12 – 18. „Bestimmungen betreffend das Unterzeichnen der Korrespondenz“, BAL 10 – 7. „An unsere Arbeiter zu Elberfeld, Leverkusen und Barmen-R.“, 7. 11. 1905, BAL 10 – 15. Zahlreiche weitere Beispiele dieser Rundschreiben unter der gleichen Signatur.

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meine Kenntnisse von den in denselben behandelten Angelegenheiten haben und deshalb den Inhalt auch voll und ganz verantworten kçnnen.“148

2. Auf der anderen Seite schrieb diese Form der Kommunikation eine unilaterale Hierarchieauffassung fest. Zirkulare waren keine interaktiven Kommunikationsmittel. Im Gegensatz zu der Situation, die spter fr PCAC zu beschreiben sein wird, gab es kaum Bereiche, die es den untergebenen Akteuren erlaubten, diese Weisungen zu modifizieren. Es handelte sich um Anordnungen, die in der Regel in ihrem autoritren Charakter wenig Interpretationsspielraum boten. Damit soll keineswegs die prinzipielle Interaktivitt der Kommunikationsvorgnge in Zweifel gezogen werden. Zwischen der Direktion und den einzelnen Betrieben und Werken wurde eine solche Interaktivitt schon frh durch ein Rapportwesen institutionalisiert. Es ging zunchst darum, „eine innigere Beziehung“ zwischen den Abteilungen und der Zentralverwaltung in Elberfeld herbeizufhren.149 Das System wandelte sich dann allerdings rasch in eine stark reglementierte Kommunikationsform. Noch konsequenter institutionalisiert war dabei die Form der wçchentlichen Konferenzen zwischen Abteilungsleitern und Betriebsleitern. Das Konzept, das in Elberfeld noch vor der Jahrhundertwende getestet worden war, wurde 1899 nach Leverkusen bertragen.150 Neben den betroffenen Betriebsfhrern sollte bei diesen Konferenzen auch immer ein Direktoriumsmitglied anwesend sein, um sicherzustellen, dass Kommunikation nicht nur im horizontalen, sondern auch im aufsteigenden Sinne mçglich war. Hierfr wurden wiederum spezielle Schemata herausgegeben, die solche Informationsflsse optimieren sollten.151 Die Normalisierung solcher Kommunikationsformen stellte damit einen weiteren Schritt in der Eingliederung des neuen Werkes in die Organisation des Unternehmens dar. Die zahlreichen Betriebsordnungen besttigten, diese Kommunikationsstruktur wurde als vorteilhaft angesehen. In seinem ersten Bericht ber die soziale Lage der Arbeiter vor 1907 geht der Berichterstatter Gartenschlger davon aus, dass sich durch die sukzessiven Betriebsordnungen von 1877, 1888, 1899 und 1905 die Strukturierung der Arbeitskrfte im Werk ungemein verbessert habe. So beschreibt er : „Was heute den festen Rahmen bildet in dem Verhltnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, kommt in der in jedem grçsseren Betrieb vorhandenen Fabrikordnung zum Ausdruck.“152 Dieser 148 „Verordnung ber das Unterschreiben von Briefen und Schriftstcken aller Art“, 8. 1. 1912, BAL 10 – 7. 149 „An die Herren Chemiker und Betriebsfhrer unserer Filialfabrik Leverkusen“, 11. 1. 1897; BAL 212 – 5.1. 150 „An die Herren Betriebsfhrenden Chemiker und Ingenieure zu Leverkusen“, 8. 2. 1899; BAL 212 – 5.1. 151 Etwa „Schema fr die kaufmnnischen und technischen Farbenkonferenzen, welche alle 14 Tage mittwochs vormittags 10 12 Uhr stattfinden“, 26. 3. 1906; BAL 10 – 4. 152 BAL 212 – 1.

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Logik nach war die Situation zuvor unbestimmt und wechselhaft. Das lsst die idealtypische Kommunikationsstruktur erkennen, die sich die Direktion vorstellte, fr die die sozialen Verbindungen der Arbeiter im Prinzip erst durch unternehmerische Kommunikationsakte fixiert wurden. Im Vergleich zu anderen Industrien institutionalisierte Bayer erst relativ spt die Kommunikation mit den unteren Hierarchiestufen in Form von Werkszeitschriften. Im Jahr 1909 begann die Werksleitung die Planungen fr eine solche Zeitschrift mit dem Titel „Die Erholung“,153 in der versucht werden sollte neben Werksneuigkeiten auch „volkstmlich-belehrende Aufstze aus allen Gebieten“ abzudrucken. Zu den explizit erwhnten Sujets gehçrten auch „Aufstze ber Blumen- und Gartenpflege“ oder „Beschreibungen schçner Wanderungen in unserer Umgebung“.154 Die Zeitschrift richtete sich an die Arbeiter des Werkes, fr die bereits ein neues Erholungsheim erçffnet und eine Werksbibliothek eingerichtet worden war. An die Mitglieder der Bibliothek wurde das Blatt gratis verteilt. Kommunikation wurde hier zum Werkzeug einer Unternehmenskultur, die normativ und von oben herab gelenkt werden sollte.155 Einen weiterreichenden Anspruch erhob ein zweites Zeitschriftenprojekt der Unternehmensleitung. Die neuen „Nachrichten aus Leverkusen“ wendeten sich ab 1913 im Gegensatz zur „Erholung“ ausschließlich an die Beamten des Unternehmens. Ihre Artikel beschftigten sich eingehender mit Fragen, die die Organisation und Produktion des Unternehmens betrafen. Die erste Nummer der Zeitung druckte bereits auf der Titelseite einen Bericht ber das neue „Scientific Management“ in den USA.156 Gleichzeitig ist dieser Artikel von Dr. Friedberg, zusammen mit einem kurzen von ihm verfassten internen Bericht aus dem Jahr 1910,157 das einzige Zeugnis einer Rezeption der Ideen von Frederick W. Taylor bei Bayer vor 1914. Doch nicht nur die strkere inhaltliche Ausrichtung war spezifisch fr die neue Zeitschrift. Sie verstand sich auch als Ergnzung zur „Erholung“ und reproduzierte damit die inneren Hierarchieverhltnisse. So beschloss die erste Redaktionskonferenz: „Das Papier soll weiss und besser als das der Erholung sein.“158 Mit seinen Versuchen zur Zentralisierung der Kommunikation ist Bayer im Prinzip ein Beispiel fr die modellhafte Entwicklung der Unternehmenskommunikation, wie sie von JoAnn Yates159 beschrieben wird. Doch die vollstndige Zentralisierung der Kommunikation war ein Ziel der Unterneh-

153 154 155 156

Planungsunterlagen BAL 96 – 2. „Was die neue Zeitschrift will“, in: Die Erholung, Nr. 1/1910, BAL 96 – 2. Nieberding, Unternehmenskultur, S. 226 ff. „Scientific Management“, in: Nachrichten aus Leverkusen. Zeitschrift fr Beamte der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Nr. 1, August 1913, BAL 96 – 1. 157 Bericht Friedmann, BAL 210. 158 Protokoll der Sitzung des Redaktions-Ausschusses, 7. 1. 1913, BAL 96 – 1. 159 Yates.

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mensleitung, das bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nie vollstndig erreicht werden konnte.

1.4. Organisation durchsetzen und Organisation anzweifeln Arbeiter und Handwerker bei Bayer Die produktive Arbeit gliederte sich bei Bayer in zwei Bereiche: Die chemischen Arbeiten und die handwerklichen Arbeiten, die dem eigentlichen Produktionsprozess vorausgingen. Die Vorgnge der chemischen Produktion waren, wie schon beschrieben, kaum durch Strategien der Prozessrationalisierung zu straffen, vielmehr handelte es sich um Arbeitsgnge, wie das Nachfllen von Reaktionsgefßen, den Transport von Chemikalien oder das konstante Bewegen chemischer Lçsungen.160 Die geringe Qualifikation, die diese Arbeit voraussetzte, machte den Einsatz menschlicher Arbeit fr die Werksleitungen zu einem Produktionsfaktor, der nach Mçglichkeit durch Mechanisierung zu minimieren war. Das zweite typische Ttigkeitsfeld dagegen, die handwerkliche Arbeit, unterschied sich erheblich von der ersten Form. Fr die Organisation der chemischen Produktion wurde eine relativ große Zahl neuer Apparate, Behlter und auch Gebude gebraucht. Neue Produktionszyklen oder eine Vernderung in der Produktionsformel konnten umfassende Umwandlungen der technischen Anlagen notwendig machen.161 Viele Apparaturen, vor allen Dingen die fr die chemischen Reaktionen vorgesehenen Fsser und Behltnisse, waren nur fr wenige oder auch nur einen einzigen Produktionsgang vorgesehen. Sie mussten stndig ausgetauscht, berarbeitet oder neu konstruiert werden, eine Arbeit, die die Prsenz und Bedeutung der Handwerker im Betrieb erklrt. In diesen Arbeitsbereichen waren die Qualifikationsanforderungen hçher. Doch gerade der schwankende Bedarf fr diesen Arbeitseinsatz machte diese Ttigkeiten wenig regelmßig und prinzipiell unzugnglich fr eine arbeitstypologisierende Rationalisierungskonzeption. Anteil und Verhltnis der reinen Arbeiterzahlen in den Werken vernderten sich im Untersuchungszeitraum deutlich. Whrend in Elberfeld (siehe Grafik 6)162 die Zahl der Handwerker etwa in proportionalem Verhltnis zu der ebenfalls sinkenden Zahl von Arbeitern stand, ergab sich in Leverkusen (siehe 160 Es existieren wenige Zeugnisse der Arbeitsformen bei Bayer, deshalb mag hier die Beschreibung einer typischen Ttigkeit gengen: In den Frbereibetrieben waren die Arbeiter damit beschftigt, den Farbstoff auf den spteren Trgerstoff zu bringen. Dazu war es notwendig, Flanelllappen in dem Farbstoff unablssig mit langen Glasstben zu bewegen. Brief von Aufseher Ott an die Direktion vom 7. September 1903, BAL 210. 161 Hippel, S. 58. 162 Daten beruhen auf dem Sozialbericht von 1907, BAL 212 – 1.

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Grafik 6: Arbeiter und Handwerker im Werk Elberfeld, 1894 – 1907.

Grafik 7)163 eine tendenzielle Abnahme der Menge von Handwerkern, die sich aus dem sukzessiven Abschluss der ußerst umfangreichen Konstruktionsarbeiten erklren lsst: Im Sinne der spezifischen Handlungspositionen im unternehmerischen Organisationsfeld sind allerdings neben der bloßen Zahl der Arbeiter auch zahlreiche andere Faktoren zur Beurteilung ihrer sozialen Situation zu bercksichtigen. Anstellung der Arbeiter Sowohl in Elberfeld als auch in Leverkusen machte das Unternehmen recht frh gute Erfahrungen mit der Einfhrung von Personalbros, den sogenannten Fabrikkontoren. Die zunchst in beiden großen Werken gebte Praxis, Arbeiter an den Werktoren anzuwerben, erwies sich nach und nach als unpraktikabel, da die unterschiedlichen Betriebe untereinander in Konkurrenz traten und die Betriebsfhrer dem brokratischen Aufwand nicht mehr gewachsen waren.164 Die Zentralisierung dieser Personalfunktion vollzog sich in Elberfeld schon in den siebziger Jahren, in Leverkusen ab 1894.165 Einziges formales Aufnahmekriterium fr die Arbeiter war, dass sie die Fabrikordnung akzeptierten und der betrieblichen Sozialkasse beitraten.166 Daneben sollten sie nachweisen kçnnen, wo sie in den drei vorangegangenen Monaten ttig

163 164 165 166

Ebd. Beckerath, Bd. V, S. 8; Hromadka, S. 10. Bericht ber die Arbeiterverhltnisse in Leverkusen von R. Grabendçrfer, 1909, BAL 212 – 1. „Fabrik-Ordnung“ von 1907, BAL 10 – 15.

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Grafik 7: Arbeiter und Handwerker im Werk Leverkusen, 1894 – 1907.

gewesen waren.167 ber ein geregeltes Kontrollnummern- und Personalkartensystem wurden die einzelnen Arbeiter vom Fabrikkontor erfasst und auf die Betriebe verteilt. Fr die Betriebsleiter bedeutete dies, dass ihnen mehr oder minder jeglicher Mçglichkeit benommen waren, Personal nach direkten und nicht formalisierten Qualifikationskriterien auszuwhlen. Die Arbeit sollte vielmehr so flexibel wie mçglich gehalten werden. Selbst die ersten Unterweisungen im Betrieb fielen dem Aufseher oder Meister zu, sodass ein direkter Kontakt mit dem Betriebsleiter nicht vorgesehen war.168 Fr die Vorgesetzten gab es kaum eine Mçglichkeit, die soziale Zusammensetzung in den Betrieben zu kontrollieren. Nach dem ersten großen Streik der Chemiearbeiter im Werk von Leverkusen im Jahr 1904 wurde sich die Werksleitung allerdings bewusst, dass sie jegliche soziale Kontrolle und Interventionsmçglichkeit aus der Hand gegeben hatte. Sie versuchte, dieser Entwicklung entgegenzutreten, indem sie einerseits schwarze Listen fhrte, auf denen die Arbeiter aufgefhrt waren, die sich beim Streik aktiv hervorgetan hatten. Diese Listen wurden auch den çrtlichen Polizeibehçrden bergeben.169 Darber hinaus und çffentlich setzte die Unternehmensleitung, kurz nach dem Streik und noch unter dem Eindruck der Ereignisse, einen Arbeiterausschuss ein, dem verschiedene Betriebsleiter angehçrten. Aufgabe dieses Ausschusses war es, dem Fabrikkontor beratend zur 167 Handbuch fr die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co [um 1900], BAL 10-82. 168 Ebd. 169 Bekanntmachung, 30. Juli 1904, BAL 216 – 2.

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Seite zu stehen. Die Betriebsleiter waren nun dafr zustndig, unter anderem „Erkundigungen ber die Persçnlichkeit des Eintretenden und ber die Grnde des Austritts einzuziehen.“170 Neben seinem Charakter als Beschwerdeinstanz war es also die Allokation der Arbeiter nach sozialen Gesichtspunkten, die im Mittelpunkt der Arbeit dieses Ausschusses stand. Der Streik war fr die Unternehmensleitung der erste Misserfolg eines ausgearbeiteten Planes gegenber der Realitt des Betriebes als sozialem Raum. Die Einstellung von Arbeitskrften wurde fr das Unternehmen zu einem gewissen Problem, da die Gegend von Leverkusen zwar nahe an den großen Ballungsrumen lag, selbst aber nicht viele Einwohner hatte und somit ber keine ausreichend hohe Zahl von Arbeitskrften verfgte. Das Problem der Personalrekrutierung bei Bayer bezog sich dabei weniger auf das qualifizierte Stammpersonal, das eine zahlenmßig kleine Gruppe ausmachte und teilweise aus Elberfeld mit nach Leverkusen gekommen war.171 Vielmehr wurde zu beinahe jedem Zeitpunkt in großem Maßstab ungelerntes Personal gesucht. Daraus resultierte eine offene Anstellungspraxis. In Leverkusen war der Bedarf noch grçßer als in den Elberfelder Werken, weswegen die einzelnen Betriebe hufig „von der Straße weg“ engagierten. Wie schon beschrieben wurde diese „wilde“ Einstellungspraxis durch die sozialen Probleme und die wachsenden gesetzlichen Restriktionen zunehmend schwieriger. Nach dem Streik von 1904 wurden die einzustellenden Arbeiter verstrkt nach ihrem Alter ausgewhlt. Die Unternehmensleitung versuchte, die große Zahl Minderjhriger zu reduzieren und schrieb fr sie eine Beschrnkung der Arbeitszeiten sowie der Arbeitsttigkeiten fest. Jugendliche unter 14 Jahren durften nur noch eingestellt werden, wenn sie eine Schule besucht hatten. Arbeiter zwischen 14 und 18 Jahren durften nicht in der Produktion beschftigt werden.172 Die Tatsache, dass bis 1914 allerdings immer noch ein gewisser Teil der im Betrieb ttigen Arbeiter unter 18 Jahre alt war,173 unterstreicht die Bedeutung dieser jungen Arbeiter in der Personalstruktur des Unternehmens. Der weiterhin schwierigen Rekrutierung neuer Arbeitskrfte fr die stark fluktuierende Belegschaft, versuchte die Werksleitung mit Prmienzahlungen fr die erfolgreiche Anwerbung von Arbeitern entgegenzutreten. Hiervon versprach sich das Direktorium auch, zuverlssigere Arbeiter zu finden: „Da unter den sich zur Zeit auf dem Fabrikkontor zur Einstellung meldenden Arbeitern nur ausnahmsweise wirklich gute und brauchbare sind, von denen anzunehmen ist, dass sie auf die Dauer hier zu bleiben gesonnen sind, so beabsichtigen wir 170 Verordnung der Direktion vom August 1904, BAL 214 – 6. Die Vorsitzenden waren sowohl Chemiker als auch Ingenieure. 171 Bericht ber die Arbeiterverhltnisse in Leverkusen von R. Grabendçrfer, 1909, BAL 212 – 1. 172 Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Leverkusen [1909], S. 44. 173 Verwiesen sei auf das Schreiben von Duisberg an Gartenschlger vom Juli 1914; BAL 12 – 18, Vol. 2.

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im Einverstndnis [!] folgenden Versuch zur Verbesserung unseres Arbeiterstammes zu machen: Aeltere, zuverlssige Arbeiter von uns sollen aufgefordert werden, Leute aus ihrer Heimath, ihren Verwandten- & Bekanntenkreisen (und zwar mçglichst Verheiratete) zu veranlassen, bei uns Arbeit zu nehmen. Fr jeden auf diese Weise geworbenen Arbeiter, der sich als brauchbar erweist und der mindestens 1 Jahr lang bei den Farbenfabriken in Leverkusen gearbeitet hat, erhlt der Werbende eine Praemie von Mk. 20.– Wir bitten Sie demgemss freundlichst, uns in unserem Vorhaben zu untersttzen, indem Sie diejenigen Ihrer Arbeiter, die Ihnen besonders geeignet zu sein scheinen, von Obigem in Kenntnis setzen und sie auffordern, sich zu dem genannten Zwecke zu bethtigen.“174

Doch dieser Anspruch schien sich zunchst kaum zu erfllen. Erst nach einer entsprechenden Erhçhung der Prmien wurde das System der Selbstrekrutierung der Arbeiter zu einem wichtigen Werkzeug fr die Unternehmensleitung in der Erhaltung eines kontinuierlichen Arbeitszuflusses.175 Lçhne Lçhne spiegeln die soziale Ungleichheit in der Arbeiterschaft bei Bayer wider. Daneben zeigen sie aber auch unterschiedliche Kriterien der Honorierung und damit die Versuche der Werksleitung, die Struktur der Arbeiterschaft in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Werksleitung war im Zeitraum vor 1914 in der Festlegung der Lohnzahlungen weitgehend autonom.176 Offizielle Lohntabellen wurden von der Werksleitung nur fr die jugendlichen Arbeiter festgelegt,177 fr die brigen Lçhne galt im Prinzip vollstndige Flexibilitt. War die Bezahlung in der Anfangsphase des Unternehmens ins Belieben der Werksmeister gestellt, konnte sie mit Einrichtung der Fabrikkontore zentral geregelt werden. Die lokalen Gehaltsverhltnisse außerhalb des Werkes fielen dabei als Gestaltungsrahmen kaum ins Gewicht, da die meisten Arbeiter von außerhalb nach Elberfeld und Leverkusen zuzogen. Vor diesem Hintergrund kçnnen also auch die Lohnzahlungen und -statistiken des Unternehmens als eine Quelle zum Verstndnis von Planung und Gestaltung der Arbeitsverhltnisse verstanden werden.

174 Rundschreiben des Ausschusses fr Arbeiterangelegenheiten, 17. 1. 1905, BAL 10 – 15. 175 Jahresbericht des Allgemeinen Ausschusses der Arbeiter fr das Werk Elberfeld 1912, BAL 214 – 4. 176 Plumpe spricht fr die Zeit vor 1914 von informellen, flexiblen und kaum sichtbaren Tarifbeziehungen. Bei Bayer galt ebenso, dass es bestimmte Bezahlungsgewohnheiten vonseiten der Werksleitung gab, auf die allerdings die Arbeitskrfte keinerlei Einfluss hatten; Plumpe, Tarifsystem, S. 26. 177 Lohntabelle fr die Arbeiter im Alter von 14 – 20 Jahren, 1892, BAL 215 – 2.

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Der Sozialbericht fr 1907178 teilte die Arbeiter nach dem jeweiligen Stundenlohn ein.179 Danach gab es Schichtarbeiter und Arbeiter mit einem Stundenlohn ber und unter dreißig Pfennig. Die Bezahlungsverhltnisse richteten sich zunchst nach dem Qualifikationsgrad der Arbeiter. Handwerker wurden im Vergleich zu den angelernten Chemiearbeitern deutlich besser bezahlt. Geringer wurden dagegen Frauen und technische Arbeiter bezahlt. Zwei Drittel der Produktionsarbeiter verdienten dreißig Pfennig pro Stunde oder mehr, womit sie eine verhltnismßig homogene Gruppe bildeten. Werden hierzu die zwanzig Prozent Schichtarbeiter gerechnet, die tendenziell besser verdienten als ihre nach geleisteten Arbeitsstunden bezahlten Kollegen, ergibt sich allerdings eine eindeutige und differenzierte Binnenhierarchisierung der Arbeiter. Zu der kleinen Gruppe fest angestellter Schichtarbeiter, welche die kontinuierliche Produktion sicherstellten,180 kam das Gros der nach Arbeitsstunden bezahlten Arbeiter, die ergnzt wurden von einer ebenso großen Zahl gering qualifizierter Arbeiter, die auch schlechter bezahlt wurden und meist nur kurzzeitig in den Farbenfabriken ttig waren. Allerdings gab es auch innerhalb dieser Gruppe wiederum signifikante Bezahlungsunterschiede. So wurde etwa das nichtwissenschaftliche Hilfspersonal in den Laboratorien außergewçhnlich schlecht bezahlt. 56 Prozent der in diesem Bereich ttigen Arbeiter verdienten weniger als dreißig Pfennig pro Stunde; ihre Zahl war fast doppelt so hoch wie in der Produktion. Damit waren die Produktionsarbeiter, wahrscheinlich aufgrund ihrer weitgehenden Autonomie, die hçhergestellte Gruppe in der internen Hierarchie der Arbeiter. Dass die Strukturierung der Belegschaft durch Hçhe und Form der Bezahlung ein durchaus wichtiges Topos in der Reflexion des Direktoriums war, wird durch den Direktoriumsbeschluss deutlich, der die Heraufsetzung von stndlicher auf wçchentliche Bezahlung als besondere Honorierung einzelner Arbeiter festlegte. Diese Mçglichkeit wurde den einzelnen Betrieben als Instrument der Auszeichnung und der innerbetrieblichen Bindung explizit empfohlen.181 Die wçchentliche Entlohnung war blicherweise ein Privileg der Angestellten und brachte den Arbeitern neben einer stabileren sozialen Situation auch eine grçßere soziale Anerkennung. Verbunden war ein solches Privileg auch mit der Festlegung einer Kndigungsfrist. Sie stellte ein wichtiges Mittel dar, formell oder informell qualifizierte Arbeitskrfte an das Unternehmen zu binden.

178 BAL 212 – 1. 179 Eine solche Differenzierung war durch die Einfhrung der Bezahlung nach Arbeitsstunden von 1905 mçglich geworden, BAL 12 – 2. Die im Folgenden gemachten Angaben zu den Stundenlçhnen vor diesem Zeitpunkt beruhen auf unternehmensinternen Berechnungen von 1907. 180 Rundschreiben der Direktion vom 7. November 1905, BAL 12 – 2. 181 Bericht der Ausschsse fr Arbeiterangelegenheiten zu Arbeitern im Wochenlohn, BAL 212 – 3.

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Grafik 8: Lohnentwicklung bei Bayer, 1890 – 1907.

Doch ungeachtet solcher Differenzierungsvorgnge deutet die Entwicklung der Lçhne auf eine tendenzielle Anpassung der verschiedenen Qualifikationsstufen:182 Arbeitszeiten Bei Bayer galt, wie bei den meisten Unternehmen der kontinuierlich produzierenden Gewerbe in Deutschland, eine Produktionseinteilung in zwei Schichten. Die einzelnen Schichten der Arbeiter deckten jeweils die Zeitspanne von sechs Uhr bis 18 Uhr, respektive von 18 Uhr bis sechs Uhr ab. In den Jahren zwischen 1890 und 1914 wurde diese Arbeitszeit bei Bayer kontinuierlich verkrzt. Das ursprngliche Prinzip einer kompletten Abdeckung dieser Schichten durch die einzelnen Arbeiter konnte bald nicht mehr aufrechterhalten werden. Zunchst wurde also die Arbeit durch gelegentliche Pausen so aufgelockert, dass es fr die Arbeiter mçglich war, ber einen Zeitraum von zwçlf Stunden zu arbeiten. Dieses Prinzip setzte eine relativ große Autonomie in der individuellen Arbeitseinteilung voraus, da diese durch die einzelnen Produktionsgruppen vorgenommen wurde. Die Fabrikordnung von 1899 formalisierte dieses Verhltnis: Knftig war die Arbeitszeit auf zehn Stunden begrenzt,183 die Pausenzeiten wurden aus dieser Arbeitszeit herausgenommen. Einzige zentrale Vorgabe war, dass die Arbeiter vormittags eine halbe Stunde und mittags eineinhalb Stunden pausieren sollten. Analog galt das fr die Nachtschicht. Weiterhin betrug die 182 BAL 212 – 1. 183 § 4 Fabrikordnung 1899, BAL 10 – 15.

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Anwesenheit im Betrieb zwçlf Stunden. Damit schrieb das Unternehmen auch die bislang autonom geregelten Pausenzeiten fest und çkonomisierte so die Erholungszeiten im Sinne der Arbeitsleistung. Dieses Prinzip spiegelt sich wider in den Maßnahmen der Fabrikleitung zur Vorbereitung und berwachung dieser Pausen sowie in den ersten Alkoholverboten whrend dieser Pausen.184 Doch im Laufe der nchsten Jahre reduzierte Bayer auch kontinuierlich die Arbeitszeiten. In der Fabrikordnung von 1905 wurde diese Arbeit schon auf effektive neun Stunden festgesetzt, bei Abschaffung der halbstndigen Pause blieb dabei die eineinhalbstndige Mittags- und Mitternachtspause erhalten.185 Durch die Beibehaltung des Zwei-Schichten-Systems wurden damit im Grundsatz Anfang und Ende der individuellen Arbeitszeit flexibilisiert, sie konnten innerhalb kurzer Zeit um eineinhalb Stunden variieren. Hierdurch wurden Schicht- und Arbeitsberschneidungen notwendig. Allerdings wurde hierdurch die koordinative Funktion der Betriebsfhrer ausgeweitet,186 ihre dispositiven Funktionen nahmen nun einen wesentlich grçßeren Teil ihres Arbeitsaufkommens ein, da sie ber die Prsenzzeiten der einzelnen Arbeiter mitzubestimmen hatten; auf Dauer schien eine Neuregelung unumgnglich, wollte man die Funktion der Betriebsfhrung in ihrem frheren Umfang beibehalten. Dieser Grundsatz nderte sich erst 1911, als die ersten Betriebe auf eine kontinuierliche Drei-Schichten-Produktion umgestellt wurden.187 Die individuellen Arbeitszeiten wurden nun teilweise berlappend angelegt, Pausenzeiten grundstzlich aus der Arbeitszeit herausgerechnet oder so angelegt, dass durch sie „der Gang des Betriebes in keiner Weise beeintrchtigt“ wurde. Als Grundsatz galt allerdings immer, dass der Arbeitseinsatz in der Nacht mçglichst gering gehalten werden sollte, da diese Produktion im Prinzip als Puffer bei Kapazittsberlastung durch steigende Nachfrage dienen sollte.188 Diese Nachtarbeit wurde in der Regel von Arbeitern ausgefhrt, die nicht von Aufsehern oder Meistern berwacht wurden.189

184 „Vorschriften ber die Controlle der durch Unternehmer beschftigten Arbeiter bei unserem Werk in Leverkusen“, 11. 2. 1902, BAL 10 – 15, Rundschreiben der Direktion vom 7. November 1905, BAL 12 – 2. 185 § 3 Fabrikordnung von 1905, BAL 10 – 15. Wenn sich die Arbeitszeit der individuellen Arbeiter auch im Laufe der Zeit verschob, blieb doch die Zwei-Schichten-Logik bis zur Einfhrung des Acht-Stunden-Tages unangetastet. 186 Rundschreiben vom 7. November 1905, BAL 12 – 2. 187 § 3 Fabrikordnung 1911, BAL 10 – 15. 188 Ausfhrung ber die Organisation der Anorganischen Grossbetriebe, BAL 10 – 15. 189 Rundschreiben an die smtlichen technischen Beamten vom 20. Mai 1895, BAL 12 – 18.

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Arbeiterinnen Neben Vollzeitarbeitern, Hilfsarbeitern, Handwerkern und jugendlichen Arbeitern trat nach der Jahrhundertwende in der Farbenfabrik eine neue Kategorie von Arbeitskrften auf: die Arbeiterinnen. Die Zahl der weiblichen Arbeiter stieg rasch, sodass ihr Anteil eine immer grçßere Bedeutung bekam. ber die genauen Ttigkeitsfelder der Arbeiterinnen in der Firma ist verhltnismßig wenig bekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden sie als Hilfsarbeiterinnen im Brodienst eingesetzt, das war aber sicher nicht ihr einziger Arbeitsbereich. Die Tatsache, dass Frauen im Schnitt lnger als ihre mnnlichen Arbeitskollegen bei den Farbenfabriken beschftigt waren, spricht dafr, dass es ihnen nicht so leicht mçglich war, den Arbeitsplatz zu wechseln.190 In den ab 1907 erscheinenden Sozialberichten der Unternehmensfhrung sind keine Hinweise auf ihre reale soziale Lage zu finden. Schon 1896 waren 92 Arbeiterinnen in den verschiedenen Werken beschftigt, was einem Anteil von knapp drei Prozent der Belegschaft entsprach. Bis 1913 stieg dieser Anteil bis auf knapp neun Prozent. Die Bezahlung dieser Arbeiterinnen, aber auch der wenigen Beamtinnen, war von der Unternehmensleitung systematisch auf achtzig Prozent des Lohnes ihrer mnnlichen Kollegen festgelegt worden.191

Grafik 9: Arbeiterinnen in den Werken Leverkusen und Elberfeld, 1896 – 1907.

190 Whrend 1913 59,7 % der Handwerker und nur 52,5 % der ungelernten Arbeiter lnger als ein Jahr bei Bayer arbeiteten, lag der Anteil bei den Frauen bei 67,6 %; Jahresbericht des Allgemeinen Ausschusses der Arbeiter, 1913, BAL 214 – 4. 191 Rundschreiben an die Betriebsfhrer vom 7. 11. 1905, BAL 10 – 15.

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Auffllig ist, dass die Zahl der Arbeiterinnen bei Bayer nicht kontinuierlich anstieg. Immer wieder gab es Bestrebungen, die Zahl weiblicher Arbeitskrfte wie auch Jugendlicher im Werk zu beschrnken. Whrend sich bei den Arbeiterzahlen eine kontinuierliche absolute Steigerung beobachten lsst, war die Anstellung von Frauen nicht ausschließlich von der wirtschaftlichen Entwicklung des Werkes abhngig. Besonders hervorstechend ist der Anstieg des weiblichen Beschftigungsanteils im Werk Leverkusen im Jahr 1904. Er ist ein Indiz fr den Einsatz von Arbeiterinnen in der Produktion nach dem Streik (siehe Grafik 9).192 Eine Analogie zur Arbeitssituation in anderen Branchen wie den Warenhusern ist zu erkennen; auch hier folgte die Beschftigung von weiblichen Arbeitskrften – wie spter zu zeigen sein wird – nicht ausschließlich der konjunkturellen Lage. Die Arbeiterinnen konnten durch ihre prekre Anstellungssituation vielmehr auch als Druckmittel in unternehmensinternen Aushandlungsprozessen benutzt werden. In der Phase vor dem Ersten Weltkrieg wurde zwar die Zahl der Arbeiterinnen signifikant erhçht und erreichte bis 1914 die Zahl von 505, stagnierte aber in der Relation zu den Mnnern.193 War der Anteil weiblicher Arbeit bei Bayer ohnehin gering, galt das erst recht fr hçhere Beschftigungsverhltnisse, beispielsweise im wissenschaftlichen Bereich. Bis zum Krieg wurden die Verhltnisse bei Bayer geprgt von Duisbergs Abneigung gegen weibliche Arbeitskrfte in der chemischen Industrie im Allgemeinen: „Meiner persçnlichen Ansicht nach hasse ich berhaupt alles chemisch-weibliche […].“194

Kulturangebote und Bindungskraft als Lenkungsmechanismus Um 1900 waren nur dreißig Prozent des Personals lnger als fnf Jahre bei Bayer ttig.195 Die Nachteile, die diese hohe Fluktuationsrate fr die Unternehmensleitung hatte, wurden vor dem Hintergrund des Streiks von 1904 deutlich: Das Hauptwerkzeug des Unternehmens war ein Wiedereinstellungsverbot fr die streikenden Arbeiter.196 Auf diese Weise sollte die Belegschaft abgehalten werden, zu streiken. Doch bei einer Arbeiterschaft, die an hufige Arbeitsplatzwechsel gewçhnt war, blieb dieses Druckmittel nahezu wirkungslos.197 192 Grafik 9 beruht auf dem Datenmaterial des Sozialberichtes von 1907, BAL 212 – 1. 193 bersicht ber die bei Bayer beschftigten Frauen zum Juli 1914, BAL 212 – 5.1. Das Durchschnittsalter dieser weiblichen Arbeitskrfte lag bei 19,2 Jahren, damit lag dieses Altersniveau in etwa im Trend der weiblichen Beschftigung in der Industrie. 194 Aus einem Brief von Carl Duisberg an F. Hoffmann, Zrich vom 29. Juni 1898, BAL 212 – 5.1. 195 Statistik BAL 265 – 5.3. 196 „Bekanntmachung“, 30. 7. 1904, BAL 216 – 2. 197 Boll, S. 250 ff.

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Grafik 10: Kndigungen im Werk Elberfeld, 1909 – 1912.

Grafik 11: Dienstaltersstrukur BASF – Bayer, 1900 (BAL 265 – 5.3)

Auch in dieser Perspektive ist der Arbeitskampf nur Kulminationspunkt einer latenten Problemlage in der betrieblichen Verhandlungssituation und unterstreicht eine Schwierigkeit im Verhltnis von Hierarchie und Arbeiterschaft, die sich als Dauerkonflikt bis zum Beginn des Krieges fortsetzen sollte. Eine

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Beschreibung der Unternehmensleitung mag das konstante Mißtrauensverhltnis zwischen Arbeiterschaft und Hierarchie illustrieren: „In der letzten Zeit haben wiederholt Arbeiter, die wegen dienstlicher Nachlssigkeiten zur Rede gestellt wurden, in rachschtiger Absicht die Meister und Aufseher ehrenrhriger Handlungen bezichtigt. Wir machen darauf aufmerksam, dass wir jeden derartigen Fall, in dem einem Meister oder Aufseher eine strafbare Handlung nachgesagt wird, unnachsichtig zur gerichtlichen Untersuchung und Aburteilung bringen werden. Zugleich geben wir zur Warnung vor grundlosen Verdchtigungen bekannt, dass krzlich ein entlassener Arbeiter, der seinen frheren Aufseher verleumdet hat, vom Kçniglichen Schçffengericht in Opladen zu 10 Tagen Gefngnis verurteilt worden ist.“198

Seit dem Streik bemhte sich die Unternehmensleitung, die fluktuierende Arbeiterschaft durch entsprechende Maßnahmen enger ans Werk zu binden. Gerade die Vergleiche mit den direkten Konkurrenten fhrten dabei der Unternehmensleitung vor Augen, dass die Fluktuationsrate auch im Branchenvergleich außerordentlich hoch lag. Einmal mehr scheint also der Vergleich – angeregt durch die Zusammenarbeit im Dreibund – Auslçser fr die Reflexion der unternehmenseigenen Sozialpolitik gewesen zu sein. Fr den Aufbau einer stabilen Stammarbeiterschaft gab es verschiedene Werkzeuge. Materielle Anreize und die Perspektive eines Aufstiegs in der Unternehmenshierarchie einerseits, und die Identifizierung mit dem Unternehmen andererseits, bilden hierbei wohl die beiden wichtigsten Maßnahmen des Unternehmens. Das erste Element – ein materielles Anreizsystem – wurde vom Unternehmen nur in begrenztem Maße genutzt. Es existierte ein Programm der Altersprmienzahlung, durch die versucht wurde, unabhngig von individuellen Qualifikationen eine lngere Verweildauer im Unternehmen zu honorieren. Allerdings erreichten diese Prmienzahlungen 1903 ihren Hçhepunkt mit 1,8 Prozent der Lohnkosten, um in den Folgejahren wieder zu fallen. Damit drfte diese Prmie fr den Durchschnitt der hiervon Betroffenen einen Lohnanteil von drei bis fnf Prozent kaum berschritten haben.199 Auch durch die weitgefcherten familiren Netzwerke der Werksangehçrigen, die zum Großteil nicht aus dem nheren Umkreis von Leverkusen kamen, gelang es in einem gewissen Maße, den Zugang zu einem berregionalen Arbeitsmarkt zu sichern. 1912 las sich die Bilanz der Anwerbungen fr das Werk Elberfeld wie folgt:200 126 Elberfelder Arbeiter warben 191 neue Arbeitskrfte an und bekamen dafr im Schnitt knapp 17 Mark Prmie pro Person. Von den angeworbenen Arbeitskrften waren allerdings nach vier 198 Bericht ber Arbeiterangelegenheiten, ohne Datum [kurz vor 1914], BAL 212 – 1. Die Quelle verdeutlicht, auf welcher Seite die Unternehmensleitung systematisch Stellung bezog und beleuchtet die neue Bedeutung, die man der Institution der Werksmeister beimaß. 199 Bericht Grabendçrfer, 1909, BAL 212 – 2. 200 Jahresbericht des Allgemeinen Ausschusses der Arbeiter fr das Werk Elberfeld, 1912, BAL 214 – 4.

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Wochen schon 28 aus dem Unternehmen ausgeschieden; nach einem Jahr waren noch sechzig Prozent im Unternehmen. Die bedeutendere Maßnahme zur Stabilisierung der Arbeitsverhltnisse lag in der Bindungskraft, welche die unternehmensinternen Sozialabteilungen entwickelten. Dabei waren kulturelle Werte und Institutionen fr das Unternehmen ein entscheidendes Mittel zur Herstellung einer unternehmensspezifischen Identitt, wie dies von Nieberding belegt worden ist.201 Die Sozialabteilung, die kurz vor dem großen Streik – zu Beginn des Jahres 1904 – unter Leitung des Major a. D. Mandel gegrndet worden war,202 wurde in den folgenden Jahren durch immer neue Angebote fr die Arbeiter ergnzt. Hinzu kam ab 1907 die Abteilung Bildungswesen unter Leitung von Dr. Caspari. Bis 1913 stellten beide Abteilungen ein umfangreiches Angebot von Wohlfahrtsaktivitten zusammen. Hierzu zhlten neben den unterschiedlichen Unternehmensprogrammen auch einige Stiftungen von ehemaligen Direktoriumsangehçrigen und deren Familien.203 Solche Bemhungen waren darauf ausgerichtet, die soziale Dynamik innerhalb des Unternehmens, aber auch das Privatleben seiner Angehçrigen zu zentralisieren und auf die Unternehmensinteressen auszurichten. Diese Bemhungen wurden zudem flankiert durch die immer wiederkehrende Kodifizierung „guter Sitten“ in den verschiedenen Fabrikordnungen.204 Maßnahmen wie die von Duisberg ausgesetzten Gartenbauprmien belegen nachdrcklich, dass auch die Freizeit der Arbeiter vom Direktorium und insbesondere von Duisberg mitreflektiert wurde.205 Dagegen mussten die wenig integrative und kaum qualifikationsorientierte Arbeitskultur und die gleichzeitig omniprsenten Disziplinierungswerkzeuge bei Bayer Protest hervorrufen. Nieberding hat darauf hingewiesen, dass das Protestverhalten der Arbeiterschaft bei Bayer aufgrund der Quellenlage schwer zu fassen ist; Selbstzeugnisse sind kaum erhalten.206 Doch ist die hohe Fluktuationsrate der Belegschaft ein deutliches Indiz fr die latente Unzufriedenheit weiter Teile der Belegschaft; dies gilt umso mehr, als ein hoher Prozentsatz der Arbeiter, die das Werk verließen, selbst kndigte.207 Wie immer Unternehmenskultur beschrieben wird, an den Protest- und Widerspruchsformen wird deutlich, dass das kulturelle Element keinesfalls als monolithisch gesehen werden darf. Es gab wohl kaum ein deutsches Unternehmen, das hnlich konsequent auf die Systemorientierung produktiver Arbeitsablufe setzte, wie Bayer unter der Fhrung von Duisberg. Ein systemisches Beziehungsgeflecht ersetzte mehr und mehr die einfachen hierar201 202 203 204 205 206 207

Nieberding, Unternehmenskultur, S. 128 ff. Beckerath, Anhang 6. Ebd., Anhang 5. BAL 10 – 15. Nieberding, Unternehmenskultur, S. 186 ff. Ebd., S. 285 ff. Ebd., S. 321 f.

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chischen Arbeitsbeziehungen. Reaktionen der Belegschaft waren wahrscheinlich. Als Beispiel der Differenzierungsprozesse in einer Unternehmenskultur, dem in aktuellen ethnologischen Organisationsstudien eine signifikante Bedeutung beigemessen wird, gilt dabei immer wieder die Pausenkultur eines Unternehmens.208 Auch vor den Zeiten des Kaffeeautomaten war dieses Moment Kristallisationspunkt divergierender Interessen. Wie oben beschrieben wurden die Pausenzeiten im Unternehmen zeitweilig zu relativ offen verhandelbaren Freirumen im Arbeitsalltag. Ihre Einteilung hing von der Belegschaft ab und konnte zum Artikulationspunkt unterschiedlicher Interessen werden. Fr die Unternehmensleitung boten solche Aushandlungsprozesse Anlass zu direkter Intervention, wie die Schrift „Ueber die Arbeitszeit der Arbeiter“ zeigt: „Da es hufig vorkommt, dass die Arbeiter vor Beginn der Vormittags-, Abends- & Nachts-Arbeitspausen schon ihre Arbeit verlassen, was streng verboten ist, um sich Kaffee zu kochen, so ist zur Vermeidung dieses Uebelstandes in jedem Betriebe bezw. fr jedes Lokal mit vielen Arbeitern, je 1 Arbeiter zu bestimmen, der fr seine Mitarbeiter die hierzu erforderlichen Vorarbeiten zu machen hat.“209

Obwohl die reale Bedeutung dieses Verhaltens auf den Produktionszusammenhang zunchst begrenzt erscheinen mag, belegt es doch, dass auch bei Bayer systemisch nicht kontrollierte Freirume wie diese Pausen Gelegenheit zu begrenztem Protestverhalten boten. Hieraus verstehen sich die zahlreichen Direktiven und Regelungen der Unternehmensleitung. Weitere Beispiele dafr, dass die betrieblichen Hierarchien und die Vorgaben des Unternehmens immer wieder infrage gestellt wurden, finden sich in den Akten des Ausschusses fr Arbeiterangelegenheiten, der in den letzten Vorkriegsjahren auch fr die Einsprche der Arbeiter zustndig war.210 Selbst einem Vorarbeiter, der 17 Jahre fr Bayer ttig war, wurde keinesfalls gestattet, die Weisungen von Vorgesetzten auch nur in Zweifel zu ziehen. Wie auch in anderen Fllen, reagierte die Unternehmensleitung auch hierauf mit außerordentlicher Strenge und kndigte dem Vorarbeiter umgehend.211 Die Verhinderungsstrategie durch solche Direktiven war bis zum Ersten Weltkrieg im Prinzip erfolgreich. Vor diesem Hintergrund bewies sich das Nicht-Vorhandensein einer starken Stammbelegschaft durchaus als Vorteil, den das Unternehmen auszunutzen wusste. Auch wenn die Entwicklung der betrieblichen Bindungskraft fr die Unternehmensleitung ein mit Nachdruck verfolgtes Ziel war, machte sie doch nur dann Sinn, wenn sie sich aus dem 208 Wittel, Belegschaftskultur. 209 BAL 10 – 15. 210 Protokolle der Sitzungen des Allgemeinen Ausschusses der Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co aus den Jahren 1912 – 1913, BAL 214 – 4. 211 Es handelte sich um Gustav Sahm; Jahresbericht 1912, BAL 214 – 4.

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Kontext einer generell stark fluktuierenden Belegschaft verstand. Erst in dem Zusammenspiel beider Elemente zeigt sich die Interaktion zwischen den Handlungen der Unternehmensleitung und dem Verhalten der Arbeiterschaft. Hat sich die vom paternalistischen Paradigma geprgte Unternehmenshistoriographie daran gewçhnt, das Phnomen einer starken Fluktuation in der Belegschaft als unternehmerisches Problem zu lesen und unter diesem Aspekt die Maßnahmen der Unternehmensleitung ausschließlich als Verhinderungsstrategien zu beschreiben, ist diese Sichtweise fr Bayer sicherlich nicht vollstndig. Auch die lose Bindung eines Teils der Belegschaft hatte im organisatorischen Gefge des Unternehmens eine funktionelle Logik.

Wege der Disziplinierung Die ohnehin hohen Risiken der chemischen Produktion wurden mit der Einrichtung der Unfallversicherung im Jahr 1884 zu einem institutionalisierten finanziellen Risiko fr das Unternehmen,212 welches eine verstrkte Reflexion der formellen Arbeitsbedingungen notwendig machte. Schon die zweite Fabrikordnung aus dem Jahr 1888 legte ihr Schwergewicht in hohem Maße auf die Einhaltung dieser Sicherheitsregeln. Und auch laut den Verordnungen von 1905 war es den Arbeitern unter anderem verboten zu rauchen (§11), ihre Schutzkleidung im Dienst abzulegen (§12), sie mussten alle Unregelmßigkeiten melden (§13), mussten sich vor jedem Essen waschen (§14), durften nur an bestimmten Orten essen (§15) etc.213 Diese allgemeinen Vorschriften wurden ergnzt durch Verordnungen fr jede einzelne Berufsgruppe, deren Zugnglichkeit nicht nur durch Aushang und Aushndigen eines Exemplars an jeden Arbeiter, sondern laut Gesetz auch durch çffentliches Vorlesen gewhrleistet wurde. Diese Verordnungen begannen, unabhngig von der betroffenen Berufsgruppe, stets mit folgenden Grundregeln: „1) Jeder Arbeiter soll sogleich nach seinem Eintritt in die Fabrik die in jedem Arbeits- oder Aufenthaltsraum aushngenden Vorschriften zur Verhtung von Unfllen und zur Fçrderung des Wohles der Arbeiter lesen. Ist ihm Einzelnes darin unverstndlich, so soll er sich dieses von dem ihm vorgesetzten Aufseher erklren lassen. 2) Damit Unflle mçglichst vermieden und eintretenden Falls in ihren schlimmen Folgen wenigstens abgeschwcht werden, ist Pnktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit bei der Arbeit und an den Apparaten Vorbedingung. 3) Sauberkeit am eigenen Kçrper kann nicht hoch genug geschtzt werden […].“ [Hervh. i. Original]214 212 Frerich/Frey, S. 130 ff. 213 Fabrikordnung von 1905, BAL 10 – 15. 214 Hier Betriebsvorschriften fr die neu einzustellenden Arbeiter, Azofarben. Entsprechende Verordnungen liegen vor fr ca. zwanzig weitere Produktionen, in: „Handbuch fr die Che-

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Auch die folgenden, auf den spezifischen Betrieb abgestimmten Verordnungen bestanden vorwiegend aus solchen negativen Handlungsanweisungen. Im Laufe der hier untersuchten Periode intensivierten sich Vielfalt und Charakter dieser Sicherheitsvorschriften exponentiell. Als illustratives Beispiel wurde im Werk fr die Arbeiter 1910 eine Verordnung zur Benutzung von Aufzgen erlassen.215 Durch das Gesetz zur Erlassung von Arbeitsordnungen vom 1. Juni 1891 war juristisch festgelegt worden,216 solche Sicherheitsregeln bekannt zu machen. Die Tatsache allerdings, dass sich Bayer vollstndig auf die Formulierung negativer Regeln in der Beschreibung der produktiven Arbeit beschrnkte, legt es nahe, sie auch als Instrument im Organisationsgefge des Unternehmens zu verstehen. Etwaige Freirume der Arbeiter wurden auf diese Weise in Gefahrenzonen transformiert, ber die allein das Unternehmen Weisungsbefugnis hatte. Reinlichkeits- und Hygienemaßregeln, die Verwendung von Schutzvorrichtungen und die berwachung der Arbeiter in Wasch-, Ess- und Umkleiderumen sowie das betriebliche Meldewesen waren in dieser Logik unternehmerischer Disziplinierungsmaßnahmen fest verankert.217 Das Verhltnis der Arbeiter zu ihren Vorgesetzten war mithin nicht mehr ausschließlich das, was Philippe Lefebvre als die „empire des contrematres“ beschreibt,218 also eine Situation, in der hierarchische Ketten durch direkte Autorittsbeziehungen geprgt waren, deren Hauptmerkmal es war, dass dauerhaft Handlungsanweisungen gegeben wurden, was einem „Kommandosystem“ entsprach. Aufseher und Meister wurden vielmehr zu den Personen, durch die „[…] dann die besondere Unterweisung ber die fr den Betrieb erlassenen Vorschriften zur Verhtung von Unglcksfllen, ber die Pfçrtnerkontrolle sowie ber die sonstigen Vorschriften welche der Arbeiter fr den Verkehr innerhalb der Fabrik kennen muß [erfolgt]. [Der Arbeiter] muß durch seine Unterschrift bescheinigen, daß ihm diese Vorschriften vorgelesen und erklrt wurden.“219

Auf diese Weise sollte eine hierarchische Autorittskonzeption im Prinzip durch einen systemischen Bezug ersetzt werden. Nach den Vorstellungen der Werksleitungen sollten weder die akademisch geschulten Betriebsfhrer noch

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miker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co“, Elberfeld o. J. [1909], Anlage 33b. Ebd., Anlage. Oertmann, S. 9. Fabrikordnung von 1905, § 10 Verhaltensmassregeln der Arbeiter, BAL 10 – 15. Ebenso die fr jeden Betrieb einzeln ausgestellten Betriebsvorschriften oder die Vielfalt der Polizeiverordnungen, die an die Arbeiter weitergereicht wurden, Anlagen zum Handbuch fr Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Leverkusen [1909]. Lefebvre, S. 195 ff. „Handbuch fr die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.“; ohne Jahr [nach 1900], S. 1, BAL 10-8-2.

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die Aufseher und Vorarbeiter die hierarchischen Funktionen gegenber den Arbeitern erfllen, wie dies vorher seitens der Werksmeister blich gewesen war. Vielmehr wurde das durch konkrete hierarchische Handlungsanweisungen gekennzeichnete Werksprinzip durch ein betriebliches Kontrollsystem ersetzt. Hierzu passte es, dass man die in den unternehmensinternen Texten nicht nher benannten Vorgesetzten220 mit vielfltigen Kompetenzen in Bezug auf die Verwaltung der Sicherheitssituation ausstattete, da diese Kompetenzen es ihnen erlaubten, in alle Ttigkeitsbereiche des Arbeiters zu intervenieren. Neben der Information ber die innerbetrieblichen Richtlinien oblag es den Vorgesetzten auch, die gesetzlichen Leitlinien immer wieder gegenber den Arbeitern zu unterstreichen.221 Das Bedrfnis der Werksleitung, die „Arbeiterverhltnisse und deren Lenkung in gesunde Bahnen“ zu bringen,222 tendierte durchgngig dazu, prozessbezogene Autorittsbeziehungen zu durchbrechen und informelle soziale Bindungen in Betrieb und Arbeitsgruppen zu unterminieren. Die Autorittszuschreibung ber Fragen von Sicherheit und Disziplin waren vielfltig. Sie betrafen nicht nur die direkten Vorgesetzten, sondern knpften ein ganzes Netz von Beziehungen. In diesem Beziehungsgeflecht nahmen betriebsinterne Institutionen einen wesentlichen Raum ein. So galt beispielsweise: „[…] Damit auch die Feuerwehr die fr ihren Beruf nothwendige Anerkennung von Seiten der Arbeiter erfhrt, bestimmen wir hiermit, dass von jetzt an alle Angehçrigen der Feuerwehr, sobald sie im Dienstanzug sich befinden, wozu das Tragen der Feuerwehrmtze gengend kennzeichnend ist, innerhalb unserer Fabriken incl. der Filialfabriken die Rechte und Befugnisse einer Polizei insofern erhalten sollen, als jeder Arbeiter verpflichtet ist, allen Anordnungen, welche von einem im Dienstanzug befindlichen Feuerwehrmann getroffen werden, unbedingt Folge zu geben.“223

Und vier Jahre spter wurde in der Fabrikordnung festgehalten: „Den Anordnungen der Feuerwehrleute, sobald sie umgeschnallt haben, und der Pfçrtner, sobald sie in Uniform sind, ist in allen Fllen unbedingt und ohne Verzug Folge zu leisten.“224

Das Spannungsfeld von partieller Autonomie der Arbeiter einerseits, und einer stndigen Kontrolle andererseits, wird bei der Ausbung dieser Kontrolle deutlich. Durch institutionelle Zuschreibungen wie im Fall der Werks220 „Die Arbeiter sind ihren Vorgesetzten pnktlichen Gehorsam schuldig. […]“ Fabrikordnung von 1905, § 10 Verhaltensmassregeln der Arbeiter, BAL 10 – 15. 221 Vorschriften ber die Controlle der durch Unternehmer beschftigten Arbeiter bei unserem Werke Leverkusen, 11. Februar 1902, BAL 10 – 15; Handbuch fr die Chemiker und Ingenieure der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld o. J. [1909], S. 37 – 42. 222 Bericht Grabendçrfer, 1909, BAL 212 – 1. 223 Rundschreiben an smtliche technischen Beamten vom 20. Mai 1895, BAL 12 – 18. 224 Fabrikordnung von 1899, BAL 10 – 15.

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feuerwehr war die Kontrollfunktion personell nicht mehr klar zu verorten. So wurde etwa die Nachtarbeit in der frhen Produktionsphase des neuen Werkes kaum noch von den Aufsehern, sondern erneut von der Werksfeuerwehr kontrolliert. Das wre nicht sehr erstaunlich, wenn die Aufgaben sich auf das Einhalten von Sicherheitsmaßregeln beschrnkt htten. Stattdessen oblag es den Feuerwehrleuten auch, die Intensitt der Arbeit im Rahmen ihrer Kompetenzen zu kontrollieren und mangelhafte Ausfhrung oder Disziplin zu sanktionieren.225 hnliche Rechte wurden den Portiers zugebilligt, denen die Kontrolle ber die Anwesenheit der Arbeiter oblag.226 Damit standen die Arbeiter in einem Geflecht hierarchischer Beziehungen, das von Betriebsfhrern, Aufsehern, Meistern und bergeordneten Kontrollinstitutionen aufgespannt wurde. Im Bereich des Werkes bildeten disziplinarische Regeln zudem Kriterien, nach denen das Verhalten der Arbeiter bewertbar gemacht wurde. Arbeiter, die beim Schlafen berrascht wurden oder ihren Sicherheitspflichten nur unvollkommen nachkamen, riskierten eine fristlose Kndigung227 oder spter die Herabstufung im betriebsinternen Benotungsverfahren, das nach dem Streik von 1904 eines der deutlichsten Zeichen einer innerbetrieblichen Disziplinierung und gleichzeitig auch Zeichen der Adaption an Verwaltungstechniken der BASF war. So wurden alle Arbeiter bei ihrem Austritt aus dem Unternehmen mit „Qualittsnummern“ versehen, die auch an die Unternehmen des Dreibundes weitergeleitet wurden und die nach folgenden Kategorien aufgeteilt waren: „No. 1 ,Gut‘; der Betreffende Arbeiter kann jeder Zeit wieder eingestellt werden, vor allem in dem Betriebe, in dem er zuletzt beschftigt war. No. 2 ,Gengend‘; der Arbeiter kann wieder eingestellt werden, gleichgltig in welchem Betriebe. No. 3 ,Minderwertig‘; der Arbeiter darf nur bei grossem Arbeitermangel wieder eingestellt werden. No. 4 ,Schlecht‘; der betr. Arbeiter darf berhaupt nicht wieder eingestellt werden.“228

Ziel war es, die betriebliche Disziplin auf diese Weise zu standardisieren. Auch die disziplinarischen Diskurse, die sich in erheblichem Maße auf das Motiv der Arbeitssicherheit sttzen, halfen mit, einen Kontext zu formulieren, in dem die Handlungsrume des Einzelnen weitestgehend minimiert und fr die Unternehmensverwaltung zugnglich gemacht werden konnten. 225 Rundschreiben an die smtlichen technischen Beamten vom 20. Mai 1895, BAL 12 – 18. 226 „Vorschriften ber die Controlle der durch Unternehmer beschftigten Arbeiter bei unserem Werke in Leverkusen“ (Duisberg), 11. 2. 1902, BAL 10 – 15. „Ueber die Arbeitszeit der Arbeiter“ [ohne Datum] BAL 10 – 15. 227 Rundschreiben an smtliche technischen Beamten vom 20. Mai 1895; BAL 12 – 18. „An die Herren Betriebsfhrer“ vom 10. Februar 1905, BAL 10 – 15. 228 Rundschreiben „An die Herren Betriebsfhrer“, 10. 2. 1905; BAL 10 – 15.

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2. PCAC 2.1. Unternehmensentwicklung Wie in Deutschland gehçrte auch in Frankreich die chemische Industrie zu den am dynamischsten wachsenden Branchen der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts. Ihr relatives Wachstum war strker als in allen anderen Bereichen der franzçsischen Wirtschaft. Im Zeitraum zwischen 1885 und 1912 wuchs sie um 150 Prozent und lag damit vor anderen Sektoren, wie Maschinenbau, Transport, Lebensmittel, Industrie, Textil, Landwirtschaft und Bauwesen, und beschftigte am Vorabend des Ersten Weltkriegs 2,6 Prozent der franzçsischen Erwerbsbevçlkerung.1 Anders aber als in Deutschland beruhte diese chemische Produktion in Frankreich in erster Linie auf der anorganischen Chemie. Die technischen Besonderheiten dieser Produktion wie auch die Struktur ihrer Absatzmrkte hatten zahlreiche Konsequenzen fr die strategische Entwicklung und fr die technische Organisation vieler Unternehmen. Das hier betrachtete Unternehmen PCAC hilft, diese besonderen Determinanten sowie Wahlmçglichkeiten der Akteure und Kontingenzen in der Entwicklung nachzuvollziehen. Die Socit des Produits Chimiques Henri Merle, ab 1876 Socit Alfred Pechiney und ab 1896 die Socit des Produits Chimiques d’Alais et de la Camargue (PCAC),2 entwickelte sich langsam von einem Chemieunternehmen zum grçßten franzçsischen Aluminiumproduzenten und einem der bedeutendsten Hersteller des neuen Hochtechnologiemetalls auf der Welt.3 Diese Entwicklung scheint zunchst die Einordnung des Unternehmens in den Bereich der chemischen Industrie infrage zu stellen. Doch was zunchst wie eine vollstndige Verschiebung in der wirtschaftlichen Aktivitt aussah, erweist sich in technologischer Perspektive als kontinuierliche Entwicklung des Produktzyklus und als Weiterentwicklung der anorganisch-chemischen Produktion des Unternehmens.4 Fr die Herstellung von Aluminium aus Bauxit, die in Frankreich durch die Entdeckung des Rohstoffs Bauxit im provenÅalischen Les Baux5 mçglich wurde, bençtigt man Tonerde (alumine). Diese Tonerde, oder auch Aluminiumoxid (Al(OH3)), konnte in Verbindung mit tzalkalie – etwa Natrium – eine Struktur entwickeln (Na[Al(OH)4]), aus der es durch einfache Elektrolyse 1 Levy-Leboyer, Capital Investment, S. 291; De Jonge, S. 330. 2 Zur Vereinfachung dieser verwirrenden Namenssituation wird im Weiteren im Zweifelsfall die Abkrzung PCAC verwendet, auch wenn dies in der zeitlichen Abfolge nicht immer vollstndig korrekt sein mag. 3 Der Anteil von PCAC blieb bis zum Weltkrieg unter dem von Socit lectromtallurgique franÅaise de Froges (SEMF); Statistik ber die Aluminiumproduktion aus Anlass der Fusion zwischen PCAC und SEMF 1920; Py 00/1/20028. 4 Le Roux, L’entreprise; Le Roux, Evolution, S. 160 ff. 5 Crepel.

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zu reinem Aluminium umgewandelt werden konnte. Die Produktion stand und fiel also mit der Mçglichkeit, dieses Bauxit in großen Mengen mit Natrium reagieren zu lassen. An diesem Punkt hatte PCAC einen Vorteil durch sein klassisches Bettigungsfeld, der Gewinnung von Meersalz (NaCl) aus dem Mittelmeer. Bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts diente diese Meersalzgewinnung und die Gewinnung anderer kristalliner Rohstoffe, die in den Cevennen vorkamen, der Herstellung von anorganischen Chlorverbindungen, die dann etwa als Dngemittel in der Landwirtschaft, in erster Linie im sdfranzçsischen Weinbau, zum Einsatz kamen. Da die chemische Fabrikation auf der effizienten Nutzung aller Nebenprodukte aufbaute, ergab sich hieraus eine lange Kette anorganischer Produkte (etwa das Kupfersulfat, lange Jahre eines der wichtigen Produkte des Unternehmens), die mit zur Produktion des Unternehmens gehçrten. Mit diesen Produktionszweigen vergrçßerte sich das Unternehmen seit der Grndung im Laufe der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts um das Zehnfache.6 Da die Chlor-Abspaltung des Meersalzes in der Produktion verwendet wurde, suchte das Unternehmen nach einer mçglichst ertragreichen Verwendung des zurckbleibenden Natriums. Bereits seit der Grndung experimentierte man daher mit der Produktion von Aluminiumverbindungen. Die ursprngliche Technik von Henry Saint-Claire Deville, die seit den fnfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine rein chemische Herstellung von Aluminium erlaubte, war allerdings so aufwendig, dass sie nicht in grçßerem Maße angewandt werden konnte.7 Zudem war der Markt fr das neue Metall noch nicht vorhanden. Lediglich als Luxusmaterial konnte es zu dieser Zeit abgesetzt werden, was keine wirtschaftliche Großproduktion gerechtfertigt htte.8 Erst durch eine Serie von Erfindungen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch Paul Hroult und Carl Bayer wurde ein rationelles Verfahren zur Herstellung des Metalls durch ein Elektrolyseverfahren entwickelt. Zunchst verweigerte sich das Unternehmen dieser Produktion aufgrund des Betriebskostenkalkls von Alfred Pechiney,9 um dann mit dem Ankauf der Elektrohtten in Savoyen ab 1897 doch wieder zur Produktion der Aluminiumverbindungen zurckzukehren. Auch diese Technik war im eigentlichen Sinne erst durch die hydroelektrische Energiegewinnung in den Alpen mçglich geworden, die einzige Technologie, die zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, die enormen Produktionstemperaturen fr das Aluminium (ber 2000 8C) zu erzeugen. Fr das Unternehmen bedeutete dies aber nicht eine vollstndige Umstellung seiner Produktion, sondern vielmehr einen Integra6 7 8 9

Toussaint, S. 9 ff. Tissier/Tissier, S. 114 ff. Grinberg. Brief Pechineys an ein Mitglied des Conseil de Surveillance, 7. August 1888; Py 00/12/20009; Le Roux, L’volution, S. 67 ff.

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tionsschritt in der Aluminiumproduktion, da das Unternehmen nie aufgehçrt hatte, die Tonerde in Salindres zu produzieren und von hier aus an andere Aluminiumfabrikanten weiterzuverkaufen. Die Produktion des Aluminiums stellte fr das Unternehmen also zunchst nur die Optimierung der wirtschaftlichen Verwertung seiner Nebenprodukte dar, nach kurzer Zeit sollte allerdings die Existenz der Firma vollstndig davon abhngen. Die jngere Generation um Pechineys Nachfolger Adrien Badin erkannte die wirtschaftlichen Perspektiven, die sich durch den Up-trading-Prozess des Aluminiums ergaben, und engagierte sich nicht nur in der Expansion der Produktion, sondern auch in der Koordination der Branche in Frankreich, um den Absatz zu stabilisieren. Die Preise waren seit dem Eintritt in die Massenproduktion stark gefallen, was die Unternehmen whrend der ersten Wirtschaftskrise um 1900 dazu zwang, unter der Rentabilittsgrenze anzubieten und ihre wirtschaftliche berlebensfhigkeit infrage zu stellen.10 Diese Krise hatte den Ausschlag zur Grndung der internationalen Aluminium Association im Jahr 1901 gegeben. Das Scheitern dieses ersten Kartells fhrte zur Grndung des Aluminium FranÅais,11 zu einem Expansionsversuch in die USA, der durch den Ersten Weltkrieg beendet wurde, und ber den Untersuchungszeitraum hinaus zum Aufkauf des Konkurrenten Socit Electro-Mtallurgique FranÅaise (SEMF) im Jahr 191912 Wie auch Bayers Farbenproduktion waren anorganische Chemie und Aluminiumindustrie forschungsintensiv. Mit den neuen Verfahrenstechniken wurden nicht nur die Techniken zur Massenproduktion ausgelotet, sondern auch neue Anwendungsformen und Mrkte gesucht und entwickelt.13 Fr diese Fragen richtete das Unternehmen seinen Blick auch auf wissenschaftliche Entwicklungen jenseits der franzçsischen Grenzen. Seit seinen Anfngen legte das Unternehmen wert auf diese internationalen Beziehungen. Sowohl Henri Merle als auch Alfred Pechiney unternahmen zu diesem Zwecke Reisen nach England und versuchten, diese Beziehungen durch direkten Wissenstransfer produktiv zu nutzen. Die Idee einer weitgehenden Vernetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse setzte auch Adrien Badin mit seinem Projekt eines Zentrallabors aller am 1911 neu gegrndeten Aluminium FranÅais beteiligten Unternehmen in Chambry fort.14 Die Forschungsabteilungen in den Werken selbst waren wenig ausgebaut, da die Forschung in der Regel außerhalb der Betriebe stattfand. In Salindres gab es zwar ein Labor, dessen Aufgabe allerdings nicht in der systematischen Neuentwicklung von Produkten, sondern in der Prozessoptimie-

10 Denkschrift SEMF, ohne Datum [vor 1914], Py 00/1/20029; Proc s verbal 9. 7. 1901; Py 072/13/ 29960, Wirtschafts- und Finanzstudie zu PCAC; 1913, ACL DEEF 21124. 11 Hachez-Leroy. 12 Caiullet. 13 Le Roux, L’volution, S. 181 ff. 14 Studie zu PCAC, 1913; ACL DEEF 21124.

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rung lag.15 Wie schon oben angefhrt, schien daneben auch sein Charakter als Ausbildungsort fr knftige mittlere Hierarchieschichten von einiger Bedeutung gewesen zu sein. Chemisches Personal kam meist von außen, brachte eigene Forschungsergebnisse und Verfahren ins Unternehmen ein und realisierte diese Verfahren dann in der Produktion. Eine wirkliche Forschungsttigkeit war in diesem System weit weniger vorgesehen als etwa bei Bayer.16 Die technologische Entwicklung des Unternehmens determinierte gleichzeitig die Expansionspfade und damit die geographische Ausweitung der Produktionsstandorte. Gegrndet 1855 in Salindres aufgrund seiner strategischen Nhe zu Wasser- und anderen Rohstoffvorkommen,17 kaufte das Unternehmen schon bald und noch unter der Fhrung des Grnders Henri Merle die Salinen in Salin-de-Giraud.18 Ab 1897 kam die Expansion in die hydroelektrischen Produktionsregionen hinzu, eine Expansion, die mit dem Kauf von Calypso im Tal der Maurienne begann, und sich mit dem Kauf von St. Jean und St. Flix im Jahr 1907 fortsetzte.19 Eine ganze Anzahl von Aufkufen kleinerer Konkurrenzfirmen im Bereich der Aluminiumherstellung einerseits und von Bergbauunternehmen20 andererseits gab es außerdem. In Bezug auf die chemische Produktion des Unternehmens fiel allerdings nur noch der Ankauf der Fabrik von Eguilles im Jahr 1914 ins Gewicht, einer Fabrik, die durch ihren Schwerpunkt auf dem Kupfersulfat sehr gut in das Netz von PCAC passte. Diese Unternehmensentwicklung, die sich immer mehr aus der technologischen Entwicklung der Aluminiumproduktion verstand, sollte allerdings nicht darber hinwegtuschen, dass die Produktion des Unternehmens bis zum Ersten Weltkrieg in erster Linie auf der chemischen Produktion und weniger auf der elektrochemischen beruhte. Das gilt im Prinzip in fast jeder Hinsicht, sei es in Bezug auf den Verwaltungssitz, der lange Zeit in Salindres angesiedelt war, sei es in Bezug auf die Umsatzzahlen oder sei es in Bezug auf die Anzahl der Angestellten und Arbeiter. Im Jahr 1890 waren in Salindres 670 Arbeiter, 80 Hilfsarbeiter, 17 Aufseher und 14 Werksmeister ttig.21 Diese Zahl erhçhte sich bis 1910 auf ber 1004 Arbeiter ; das Verhltnis von Arbeitern zu Vorgesetzten blieb dagegen in etwa gleich.22 Doch whrend bis zur Jahrhundertwende auch der unternehmerisch-innovative Schwerpunkt auf dieser 15 Ungeachtet dieser Tatsache verlangte die Unternehmensleitung in den tglichen Rapporten von Salindres auch Informationen ber die Aktivitten des Werkes; vgl. den Schriftwechsel zwischen Salindres und der Direktion; Py 00/12/20012. 16 So der Fall des Ingenieurs Blanc, der sich direkt mit einer bestimmten Erfindung in Salindres bewarb; Protokoll vom 29. 4. 1899; Py 072/13/29960. 17 Historique de Salindres [1919]; Py 00/12/20011. 18 Historique du Salin de Giraud, 1918; Py 00/13/19954. 19 Bericht ber St. Jean, 1920; Py 00/13/19950. 20 Untersuchung zu PCAC, 1913; ACL DEEF 21124. 21 Bericht ber die Industrie im Departement Gard im Jahr 1890; AD Gard 9 M 40. 22 Toussaint, S. 151.

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chemischen Sparte lag, nderte sich das deutlich mit Adrien Badin, der sich darum bemhte, das Aluminium in den Mittelpunkt der Aktivitten des Unternehmens zu stellen. Im 1907 erçffneten Werk von St. Jean wurden innerhalb weniger Jahre 300 Arbeitskrfte eingestellt.23 Ebenso viele Arbeiter waren auch in der Salzproduktion des Unternehmens in Salin-de-Giraud beschftigt.24 In der Zeit vor dem Krieg fhrte diese Expansion zu einer international konkurrenzorientierten Politik gerade gegenber der Schweizerischen Metallurgischen Gesellschaft, die in Neuhausen ansssig war, in erster Linie aber von deutschen Kapitalgebern gelenkt wurde und deren Umsatzzahlen noch wesentlich ber denen von PCAC lagen.25 Diese Situation veranlasste das Unternehmen, den nationalen franzçsischen Markt durch Fusionen und Absprachen tendenziell zu homogenisieren und die Absatzseite auf diese Weise zu stabilisieren. Durch seine technische Entwicklung, die schon unter Alfred Pechiney angestoßen worden war und von Adrien Badin mit ganz neuen Interessenschwerpunkten fortgesetzt wurde, verlegte das Unternehmen seine Verwaltung Schritt fr Schritt weg von den alten Produktionsstandorten. So wurden im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die spter stetig wachsenden Firmen- und Verwaltungssitze in Lyon und Paris begrndet.

2.2. Organisation durch unternehmerische Strategie – Akteure und Strategien Die Rolle des Unternehmers in permanenter Neudefinition Als Henri Merle 1876 plçtzlich starb, schien es fr eine kurze Zeit mçglich zu sein, dass das Unternehmen sich aus dem alleinigen Einfluss einer einzelnen Unternehmerperson lçsen wrde und sich die Verwaltungsstrukturen entpersonalisierten. Der Aufsichtsrat, zusammengesetzt vornehmlich aus Hndlern und Industriellen aus Lyon, einigte sich auf einen Interimskandidaten fr die Fhrung des Unternehmens: Alfred Ragot, der den Namen seines Ziehvaters Pechiney annahm.26 Es war geplant, dass Pechiney offiziell die Fhrung bernimmt, die Entscheidungsgewalt aber tatschlich von den Aufsichtsgremien des Unternehmens ausgebt wird. Doch statt eine zurckhaltende Rolle unter der direkten Kontrolle des Aufsichtsrates zu spielen, entwickelte sich Pechiney zum dominantesten Unternehmertyp in der Ge23 24 25 26

Ebd., S. 688 ff. Ebd., S. 597 ff. Untersuchung zu Neuhausen, um 1913; Py 00/12/20014. Cailluet (1995), S. 77.

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schichte des Unternehmens und vereinigte nicht zuletzt einen wichtigen Kapitalanteil des Unternehmens auf seine Person. Innerhalb weniger Jahre schaffte es Pechiney, die strategische Entscheidungshoheit ber das Unternehmen nahezu zu monopolisieren. Besonders auffllig wurde das 1888, als er entschied, die bis dahin in kleinem Umfang betriebene Aluminiumproduktion nicht fortzufhren. Nachdem er durch eine Analyse der Konkurrenzunternehmen vermeintlich weit vorteilhaftere Kostenstrukturen bei den englischen Aluminiumunternehmen festgestellt hatte, kam er zu dem Schluss, dass „es daher vernnftig sei, […] eine Beendigung unseres Aluminiumgeschftes ins Auge zu fassen.“27 Diese Meinung teilte er im Laufe desselben Jahres verschiedenen Entscheidungstrgern mit, die sein Votum ohne Diskussion zu akzeptieren bereit waren.28 Die Kapazitt des Unternehmers, die Geschicke der Firma eigenverantwortlich zu leiten, wurde in der Phase vor 1890 zunchst nicht infrage gestellt. Um allerdings Pechineys Einfluss auf die Organisation des Unternehmens angemessen beurteilen zu kçnnen, muss man sich seine Ttigkeitsbereiche ansehen. Nach außen wirkte Pechiney zunchst wie ein Unternehmer, der versuchte, in seinem Unternehmen eine absolute Kontrolle auszuben und Detailfragen der Produktion ebenso zu lenken wie die großen strategischen Entscheidungslinien. Doch bei nherer Betrachtung zeigt seine Unternehmensfhrung eine andere Logik: Seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ließ Alfred Pechineys Interesse an der chemischen Produktion in Salindres deutlich nach. Die Berichte, die ihm tglich zu senden waren, wenn er nicht in Salindres war, sind zu einem großen Teil noch erhalten. Aus ihnen ist nicht nur der Inhalt der am jeweiligen Tag vor Ort getroffenen Entscheidungen zu erkennen, sondern auch der Aufenthaltsort, die Informationslage und die jeweiligen Antworten Alfred Pechineys. ber bestimmte Zeitabschnitte sind diese Briefwechsel so vollstndig, dass sie eine relativ genaue Erfassung der Aufenthaltsorte Alfred Pechineys erlauben. Daraus geht hervor, dass sich Pechiney in den Jahren zwischen 1894 und 1897 immer seltener an den eigentlichen Produktionsstandorten seines Unternehmens aufhielt. Am Ende dieser Zeitspanne war Pechiney ber die Hlfte der Zeit nicht in seinem Unternehmen.29 Fr den Zeitraum nach 1897 ist eine solche Statistik nicht weiterzufhren, da die Korrespondenz nicht mehr systematisch berliefert ist. Die Untersuchung des Briefwechsels verdeutlicht einige Charakteristika seines Fhrungsstils: Zunchst weist die absolut gesehen hohe Abwesenheit des Unternehmers Pechiney von den Produktionsstandorten seines Unter27 Brief Pechineys an ein Mitglied des Conseil de Surveillance, 7. 8. 1888, Py 00/12/20009. Die Kostenanalyse, die der Hintergrund fr Pechineys Entscheidung war, nuanciert allerdings das Urteil Le Roux, die davon ausgeht, dass A. Pechiney die Perspektiven des neuen Metalls einfach nicht erkannte und daher das Angebot Hroults zur Monopolproduktion des Metalls ausschlug; Le Roux, L’volution, S. 69. 28 Schon ab Januar (12. 1. 1888) schrieb Pechiney hnliche Briefe; Py 72/01/9580. 29 Briefwechsel erhalten in Py 00/12/20010.

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nehmens auf ein abnehmendes Interesse an Fragen der Produktion hin. Zwar handelte es sich bei der Zeit, in der er nicht an diesen Standorten prsent war, nicht zwangslufig um Zeit, in der er sich nicht mit Firmeninteressen beschftigte. Vielmehr hufen sich gerade zum Ende dieser Zeit die Aufenthalte in Paris und Lyon, die fr Pechiney eine Gelegenheit boten, Administrationsund Reprsentationspflichten wahrzunehmen. Die Aufenthalte in verschiedenen Kurorten und vor allen Dingen in seiner Villa auf der provenÅalischen Halbinsel Hy res nahmen einen noch wichtigeren Teil seiner Zeit in Anspruch. Auch nach dem strategisch hochbedeutsamen Kauf der Aluminiumfabrik von Salindres war Pechiney im ganzen Jahr 1897 nur fnf Tage in der neuen Fabrik. Der Unterschied zu Duisbergs aktiver Rolle bei der Planung der Betriebe von Leverkusen ist augenfllig. Pechiney beschrnkte sich darauf, diese neue Fabrik in Augenschein zu nehmen, beteiligte sich aber nicht aktiv an ihrer Gestaltung. Auch formell wurde die Alleinherrschaft von Pechiney ber das Unternehmen ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts infrage gestellt, was nicht zuletzt auf die sich abzeichnende offensichtliche Fehleinschtzung in Bezug auf die Aluminiumproduktion zurckzufhren ist. Die Zeichen fr einen wachsenden Druck der brigen Kapitaleigner auf Pechiney wurden ab 1892 immer deutlicher. In zahlreichen Briefen und Sitzungen forderten mehr und mehr Mitglieder des Aufsichtsrates Alfred Pechiney dazu auf, die Alleinverantwortung fr den Lauf der Geschfte abzugeben: „Aus Anlass der neuen Expansion in Giraud haben mehrere Mitglieder des Rates, mit Sorge um die zu erwartende Mehrarbeit ber die tglich anfallenden Geschfte von M. Pechiney hinaus, ihm erneut den Vorschlag unterbreitet, den einige von ihnen bereits geußert hatten, dass es vernnftig wre, sich endlich einen festen Mitarbeiter zur Seite zu stellen, der ihm bei der Durchfhrung aller Geschfte assistieren kçnne, so wie dies bei vielen anderen großen Unternehmen bereits gngige Praxis sei. Der conseil gibt an, dass er in Hinblick auf einen solchen Schritt selbst nicht die Initiative zu ergreifen habe; aber als interessierte Aktionre des Unternehmens wrden die Mitglieder einen solchen Schritt Pechineys lebhaft begrßen […].“30

Auch wenn sich Pechiney gegenber diesen Forderungen außerordentlich widerwillig zeigte und lange die Aufforderungen des Aufsichtsrates mit der Begrndung ablehnte, geeignetes Personal zu seiner Entlastung sei nicht zu finden, sah er sich doch auf Dauer zu Konzessionen gençtigt. Zwar wurde er auch bei der Umstrukturierung des Unternehmens und der Grndung der socit anonyme PCAC wieder zum administrateur dlgu gemacht,31 doch schon ein Jahr spter begann der Aufsichtsrat, aktiv in seine Verwaltungshoheit einzugreifen. 1897 wurde ihm mit Salgu s zum ersten Mal ein secrtaire gnral zur Seite gestellt, der ihn von den administrativen Aufgaben entlasten 30 Sitzung des conseil d’Administration vom 11. 3. 1892; Py 072/13/29960: 31 Py 00/08/20566.

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und gleichzeitig eine bessere Kontrolle des Aufsichtsrates ber die Geschicke des Unternehmens gewhrleisten sollte. Ein Jahr spter war es wieder der Druck des Aufsichtsrates, der Pechiney dazu bewegte, seinen langsamen Rckzug aus dem Unternehmen einzuleiten. So heißt es im Protokoll des Verwaltungsrats: „M. Pechiney selbst findet, dass die Belastungen der Leitung des Unternehmens seit einiger Zeit zu hoch geworden sind und er fragt sich manchmal, ob sich nicht die Stunde eines langsamen Rckzugs nhert. […] Als Konsequenz hat er den Conseil d’administration fçrmlich darum gebeten, ihm einen Direktor zur Seite zu stellen, der vom conseil ernannt werde, von ihm seine Aufgaben zugewiesen bekomme und ihm gegenber verantwortlich sei. Dieser Direktor solle mit der Durchfhrung des Tagesgeschftes in Hinblick auf alle geschftlichen Beziehungen und alle Abteilungen des Unternehmens betraut werden. […] Die Rolle von M. Pechiney solle in Hinblick auf das allgemeine Tagesgeschft nicht mehr wie bisher aktiv sein, sondern sich auf eine kontrollierende Funktion im Bedarfsfall beschrnken.“32

Der Vorgang der Fhrungsbergabe an einen neuen Direktor wurde zu einem langwierigen Prozess. Pechiney scheint einen Nachfolger keinesfalls gesucht zu haben. Vielmehr mussten ihm die Vorschlge immer wieder von außen unterbreitet, ja, aufgedrngt werden, bis er sich endlich fr Adrien Badin entschied. Dieser Vorschlag ging auf die außerordentlich aktive Vermittlung durch Ferdinand Chalmeton – zwischen 1876 und 1916 Mitglied des Aufsichtsrates und Prsident der Compagnie Houilli re de Bess ges in Nmes – zurck.33 Nach der Anstellung von Badin im Jahr 1900 waren weitere zwei Jahre nçtig, bis dieser auch formelle Rechte zuerkannt bekam, und bis zum Weltkrieg zog sich Pechiney nie vollstndig aus dem Geschft zurck, sondern nutzte weiterhin seine Einflussmçglichkeiten weitestgehend. Zu diesem Zweck bediente er sich in erster Linie des neuen secrtaire gnral, Paul Vittenet, der in Salindres ttig war und als eine Art Gnstling von Pechiney unter dessen Protektion stand.34 Eine direkte Kommunikation mit Adrien Badin scheint dagegen nicht mehr stattgefunden zu haben. Anders als beim raschen Fhrungswechsel von Merle zu Pechiney, versuchte Pechiney seinen eigenen Ausstieg aus dem Unternehmen als eine Art Erbgang zu inszenieren. Die bertragung der Geschfte an seinen Nachfolger verstand Pechiney als eine funktionale Kontinuitt trotz eines personellen Wechsels. Badin hatte andere Auffassungen als Pechiney von der Fhrung des Unternehmens und dessen strategischer Ausrichtung, was zu persçnlichen

32 Sitzung des conseil d’administration vom 29./30. 4. 1898; Py 72/13/29960. 33 Der Briefwechsel zwischen den beiden ist in der Personalakte von Adrien Badin erhalten; Py 072/01/9686. 34 Vgl. etwa die Briefe vom 26. 2. 1912 und vom 9. 3. 1913; Py 00/12/20018.

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Spannungen zwischen den beiden fhrte.35 Die Bedeutung, die Alfred Pechiney sich selbst fr die Fhrung des Unternehmens zumaß, zeigt sich exemplarisch bei seinem Rckzug aus dem Unternehmen. Als Pechiney 1906 seinen Posten als administrateur des Unternehmens – den er in der Realitt ohnehin kaum mehr wahrnahm – vollstndig zur Verfgung stellte, hçrte er dennoch nicht auf, seine Person in den Vordergrund zu spielen. In seiner Antwort auf das Rcktrittsschreiben vom 12. Dezember 1906 dankte der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Emile Guimet, Alfred Pechiney fr das Vierteljahrhundert, in dem dieser seine Dienste dem Unternehmen zur Verfgung gestellt hatte. Mit purer Entrstung reagierte Alfred Pechiney nach Weihnachten auf diesen Brief, fasste er doch seine 31-jhrige Dienstzeit als ein Jahrhundertdrittel auf und sah seine Rolle durch Guimet damit geschmlert.36 Empçrt war Pechiney aber vermutlich vor allem deshalb, weil man sich dafr bedankte, was er fr die Firma getan hat. Nach seinem eigenen Selbstverstndnis war er nicht in den Diensten der Firma gewesen, sondern verkçrperte das Unternehmen. Aus seiner Sicht stand er selbst im Mittelpunkt der unternehmerischen Entwicklung. Die Socit des produits chimiques d’Alais et de la Camargue (PCAC) hatte sich in gewisser Weise zu einem Familienunternehmen ohne Familie entwickelt. Ludovic Cailluet stellt in seiner Arbeit ber die strukturelle und strategische Entwicklung des Unternehmens fest, dass Alfred Pechiney der erste angestellte Manager des Unternehmens war, eine Tatsache, die das Unternehmen zu einer modernen Firma der Zweiten Industrialisierung mache.37 Formell gesehen ist das zutreffend. Schaut man sich dagegen an, wie Pechiney ber das Unternehmen herrschte, berrascht die direkte Anlehnung dieser Methoden an das Muster des Familienunternehmens.38 Die verhltnismßig hohe Kapitalbeteiligung, die mit einem direkten Interesse fr die rein strategische Ausrichtung des Unternehmens einherging, und der personenbezogene Fhrungsstil, der seinen wohl deutlichsten Ausdruck in der Benennung des Unternehmens nach Pechiney fand, waren deutliche Indikatoren fr eine traditionelle Unternehmerpersçnlichkeit und eine traditionelle Form der Unternehmensfhrung. Ungeachtet seiner formalen Abhngigkeit verzichtete Pechiney gerade nicht auf die Stilisierung seiner Person, sondern setzte diese bewusst ein.39 Die Logik einer chandlerschen Unternehmerentwicklung zum Managementunternehmen40 wurde dagegen umso mehr durch die Figur von Adrien 35 36 37 38

Cailluet, S. 83. Briefwechsel Pechiney ; Py 072/13/29960. Cailluet, S. 73 f. Bezeichnenderweise erstreckte sich diese Funktion auch auf seine Frau: „In Salindres und in Salin de Giraud wird sie ein wenig als Chefin des hçheren Personals betrachtet und viele frchten sich vor ihren Entscheidungen“; Toussaint, S. 93 f. 39 Toussaint, S. 79. 40 Chandler, Visible Hand, S. 464.

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Badin greifbar. Von Anfang an war bei Badins Einstellung an die Nachfolge Alfred Pechineys gedacht worden, doch erst 1906, also sieben Jahre nach der faktischen bernahme der Verantwortung, lçste Badin Pechiney vollstndig in seinen Funktionen ab und wurde vom internen Direktor zum grant (Verwalter) des Unternehmens.41 Adrien Badin wies von seiner Persçnlichkeit durchaus große Parallelen zu einer Person wie Carl Duisberg auf. Beide wurden relativ jung eingestellt, sie hatten beide gerade ihre Ausbildung beendet. Badin schloss 1891 mit zwanzig Jahren die Ecole des mnes von St. Etienne ab und hatte nach einer kurzen Anstellung einen Posten an der Ecole des matres-mineurs in Alais angenommen, das in der Nhe von Salindres liegt. Sowohl Duisberg als auch Badin lag die strategische Weiterentwicklung und Modernisierung ihrer Unternehmen besonders am Herzen. Im Unterschied zu Duisberg war Badin allerdings weniger an der exakten planerischen Erfassung des Unternehmens interessiert. Vielmehr hielt er sich bewusst von dieser Aufgabe fern und delegierte entsprechende Entscheidungen weitgehend an die hierarchisch untergeordneten Institutionen. Whrend Pechiney sich mit der Zentralisierung aller Entscheidungsprozesse auf seine Person berlastete, viele Fragen einfach vernachlssigte und Entwicklungen blockierte, gab Badin Kompetenzen ab. Unter seiner Verwaltung wurden die Funktionen des Generalsekretrs oder der Fabrik- und Produktionsleiter an den einzelnen, weit verstreuten Produktionsstandorten entscheidend aufgewertet.42 Die Vernderung des Selbstverstndnisses der leitenden Person und ihrer Aufgabenbereiche schlug sich in der Kommunikationspraxis der Unternehmenszentrale mit den verschiedenen Produktionssttten nieder,43 die im Prinzip nur noch ber die tglichen Entscheidungen informierten. Doch auch Badin verzichtete nicht vollstndig auf eine Inszenierung seiner eigenen Person. Im Gegensatz zu seinem Vorgnger Pechiney sttzte er sich dabei allerdings auf einen anderen Bezugsrahmen. Nicht die alte Produktionssttte von Salindres stand im Mittelpunkt seiner Bemhungen und des dadurch artikulierten Selbstverstndnisses des Unternehmers, sondern die neuen Aluminiumproduktionssttten, kurz vor dem Weltkrieg dann in erster Linie die neuen Produktionsstandorte in den USA, denen er bezeichnenderweise den Namen Badinville gab.44 Im Gegensatz zu Pechiney war Badin tatschlich in jeder Beziehung ein angestellter Verwalter seines Unternehmens, der von den Kapitaleignern abhngig war. Doch gerade aufgrund des Respekts gegenber diesen formellen Strukturen erarbeitete er sich ber die Zeit eine wesentliche, auf weitgehen41 Protokoll des Verwaltungsrates vom 10. 1. 1907; Py 072/13/29960. 42 So die Bros in Lyon und Paris und der neue Brokomplex in Salindres (1908); Historique du Salindres [1919]; Py 00/12/20011; Protokolle des conseil d’Administration vom 17. 3. 1904; Py 072/13/29960. 43 Py 00/12/20012. 44 Nach dem Krieg wurden diese Expansionsbemhungen allerdings wieder aufgegeben. HachezLeroy, S. 81 ff.; Cailluet, S. 532.

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dem Vertrauen gegenber den unteren Hierarchieebenen aufbauende Autonomie.

Kapital und Unternehmenskontrolle Fr das Verstndnis der Verwaltung von PCAC ist die Unterscheidung von formalrechtlichem Status und der Organisationspraxis ber den gesamten Zeitraum von prgender Bedeutung. Seit dem Tod Henri Merles wurde das Unternehmen als Kommanditgesellschaft auf Aktien gefhrt. Seine Erben behielten bis 1895 in dieser Gesellschaft einen gewissen Einfluss, wurden doch weiterhin große Teile des Gewinnes direkt an sie ausgeschttet.45 Auch die brigen Kapitaleigner zeigten eine stabile Bindung an das Unternehmen; diese Gruppe setzte sich im Wesentlichen aus Teilen der Wirtschaftselite Lyons zusammen, als Beruf der meisten Kapitalgeber war lediglich ngociant angegeben.46 Alte, regionale Netzwerke prgten die Kapitalseite des Unternehmens.47 Die Struktur dieser Eigentmergruppe nderte sich bis zum Krieg nur insofern, als sich der Anteil der Aktionre aus der Elektroindustrie stetig erhçhte.48 Diese Prgung durch ein konservativ ausgerichtetes Kapital stand im Einklang mit einer wenig risikofreudigen strategischen Ausrichtung des Unternehmens, das sich nur mit großem Widerwillen an einem Experiment wie der Aluminiumproduktion beteiligte. Die Form der Kommanditgesellschaft erlaubte die spezifische Vermischung von Aufsichts- und Verwaltungsposten, die fr die Unternehmensfhrung bis 1896 charakteristisch war. Erst diese Rechtsform ermçglichte Alfred Pechiney seine eigentmliche, personenbezogene Herrschaftsausbung. So war er bis 1914 als administrateur dlgu kontinuierlich auch im conseil de surveillance, im Conseil d’administration und spter im comit de direction prsent.49 Trotz der konservativen Ausrichtung der Aufsichtsgremien blieb allerdings der undynamische Kurs Pechineys umstritten. Die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1896 lsst sich auch als Protestbewegung des Aktienkapitals gegen den personalisierten Fhrungsstil Alfred Pechineys lesen. Auch wenn sich der Prozess der formalrechtlichen Umformung ber einen lngeren Zeitraum erstreckte, vernderte diese Umwandlung das Unternehmen doch entscheidend. Am offensichtlichsten sind dabei die Streuung des Aktienkapitals und das beginnende Engagement institutioneller Anleger im Unternehmen.50 Die zunehmende Stckelung der Aktienpakete und relativ rasch aufeinanderfolgende Kapitalerhçhungen sorgten dafr, dass der Akti45 46 47 48 49 50

Finanzbericht ber PCAC, 1911; ACL DEEF 24546. Studie zu PCAC, 1913; ACL DEEF 21124. Cailluet, S. 46. Studie zu PCAC, 1913; ACL DEEF 21124. Py 00/8/20566. Archives Crdit Lyonnais; DEEF 24546.

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enbesitz tendenziell aus dem Lyoner Anlegerkreis herauswuchs,51 auch wenn dieser Kreis nach wie vor einen bedeutenden Einfluss behielt. Als Gegenstck zur starken Persçnlichkeit von Alfred Pechiney scheint es umso interessanter, die Entwicklung des Conseil d’administration um die Jahrhundertwende zu beobachten. Auch in diesem Gremium gab es im gesamten hier betrachteten Zeitraum eine prgende Person: Emile Guimet. Er saß dem Rat zwischen 1887 und seinem Tod im Jahr 1918 vor.52 Schon sein Vater war einer der wichtigsten Kapitalgeber fr das neu gegrndete Unternehmen von Henri Merle im Jahr 1855 gewesen. Auch er hatte schon den Posten des prsident du conseil inne. Die Familie Guimet war also eine Art Konterpart zu den jeweiligen Unternehmern und leitenden Angestellten an der Spitze des Unternehmens. Schon vor der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft bte sie eine stndige Kontrollfunktion aus. Die Festschreibung relativ weitgehender Kompetenzen fr den Conseil d’administration bei der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1896 geschah aller Wahrscheinlichkeit nach auf Initiative Guimets, der sich damit einmal mehr gegen die Person von Alfred Pechiney stellte. Besonderer Wert wurde dabei auf die Zustndigkeit des Gremiums fr Personalfragen gelegt: „[Der Rat] beruft und entlsst alle Direktoren, Ingenieure und Angestellten und bestimmt ihre Gehlter, Prmien, Honorierungen und ihre festen und proportionellen Vergtungen.“53 Daneben manifestierte sich die Interventionsmacht des Rates in erster Linie in Ausnahmesituationen und Grundsatzfragen, wie in der schon dargestellten Frage des Postens des Unternehmers und seines Nachfolgers, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts massiv stellte. Durch den Erfolg in diesem Machtkampf bestrkt, bemhte sich der neunkçpfige Rat in der Folgezeit immer wieder um aktive Intervention. In dem fr die Unternehmensentwicklung beinahe traumatischen Moment der Arbeiterunruhen von 1905/ 06 in den Aluminiumwerken war es das Aufsichtsratsmitglied Lazare Wolff, das sich in die Verhandlungen und Entwicklungen des Konfliktes aktiv einmischte.54 Die Rolle des Conseil d’administration sollte auch ein Mitspracheund Stimmrecht bei Direktionsfragen umfassen. Wolff wurde drei Jahre spter ebenfalls beauftragt, ein produktives Verhltnis zwischen conseil und direction zu institutionalisieren. In Lyon, also am Firmensitz, sollte ein Verbindungsbro angesiedelt werden, das den Ratsmitgliedern direkteren Einblick in die Entscheidungsprozesse sichern sollte.55

51 bersicht ber die Aktienemissionen des Unternehmens bei Toussaint, S. 190. Danach wuchs das Kapital des Unternehmens in dieser Zeit von 3,6 auf 16,8 Mill. Francs. 52 Ebd., S. 108. 53 Statusnderung des Unternehmens von 1896; ACL DEEF 41356. 54 Vgl. den entsprechenden Briefwechsel Py Fonds PRIM und die Protokolle des conseil d’Administration; Py 072/13/29960. 55 Protokoll vom 4. 2. 1909; Py 072/13/29960.

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Aber erst 1914 wurde das Verhltnis zwischen Direktion und Rat wirklich festgeschrieben und verstetigt. Der Neuentwurf der Organisation sah ein weiteres Gremium, das comit de direction, vor, das aus vier Mitgliedern bestand und vom eigentlichen Direktor Adrien Badin unabhngig sein sollte. Wesentliche Rolle dieses Comits sollte es sein: „[…] den stndigen Kontakt, sowohl mit der Generaldirektion als auch mit den Mitgliedern des Conseil d’administration zu halten, sodass Conseil und Direktion einheitliche Vorstellungen in Bezug auf den Fortgang der Geschfte des Unternehmens entwickeln kçnnen, wobei das comit keine Entscheidung anstelle des Conseil treffen kann, alle Probleme, die neue Beratungen nçtig machen, mssen immer auch dem Conseil vorgelegt werden.“56

Allerdings ermchtigte der Rat das Comit auch, ausnahmsweise und in besonders dringenden Fllen alle Entscheidungshoheiten zu bernehmen und im Namen des Unternehmens zu handeln. Die Ausweitung der Einflussmçglichkeiten fr die Mitglieder von conseil und comit im Verhltnis zu den directeurs und administrateurs war deutlich. Sie ging allerdings nicht damit einher, dass die Macht der Letzteren beschnitten wurde. Betrachtet man die Rolle Adrien Badins im Unternehmen, wird vielmehr deutlich, dass es auch ihm gelang, seinen Einfluss und seine Macht stetig auszuweiten. Badin durfte zunchst nicht den Titel des administrateur dlgu tragen, der fr Pechiney 1896 eingefhrt worden war, sondern wurde nur zum directeur ernannt. Auch 1907, als sich Pechiney formell von den Geschften des Unternehmens zurckzog, wurde der Titel nicht an Badin weitergegeben. Er erhielt vielmehr den Titel des directeur gnral. Diese Vorbehalte der Aktionre ließen sich nur mit den Erfahrungen begrnden, die sie mit Alfred Pechiney gemacht hatten. Es war ein strukturelles Misstrauen entstanden, das eine langfristige Sicherung von Entscheidungskompetenzen notwendig erscheinen ließ. Erst im Frhjahr 1914 wurde Adrien Badin der Titel des administrateur dlgu zuerkannt, ein Titel, der ihn nun auch formal auf die gleiche Stufe stellte wie seinen Vorgnger. Gleichzeitig stieg Emile Boyoud, der ber die ganze Zeit der zweite Mann neben Badin gewesen war, zum directeur auf.57 Dieser Schritt war Ausdruck einer langjhrigen berzeugungsarbeit Badins gegenber den Kapitalgebern und Mitgliedern des Conseil d’administration fr die Anerkennung seiner Fhrungsfunktion im Unternehmen.58 Die changierenden Machtverhltnisse und die Aushandlungsspiele zwischen Direktion und Conseil d’administration sind spezifisch fr das Unternehmen und die Entwicklungslinien seiner Kapitalstrukturen. Bezglich der Verwaltungsgremien lsst sich die starke Bedeutung der familiren Strukturen 56 Entwurf vom 24. 4. 1914; Py 00/15/20012, S. 3. 57 Proc s verbal des conseil d’Administration vom 10. 1. 1907; Py 072/13/29960. 58 Cailluet, S. 82.

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erkennen. Familien, wie Guimet oder Bitrix, prgten die Geschicke des Unternehmens und weiteten ihre Kontrolle mithilfe des Conseil d’administration tendenziell eher aus. Anders als bei Bayer wurden die Kapitalgeber und Kontrollgremien des Unternehmens bei PCAC durchaus zum relevanten Akteur in der Gestaltung der unternehmerischen Produktion.

Zwischen fehlenden Plnen und vorhandenen Visionen In einem dezentralen System wie dem regional weitverzweigten Unternehmen PCAC gab es zu den herkçmmlichen Formen der hierarchischen Festschreibung, die meist an Personen oder Posten festgemacht wurden, eine weitere Hierarchieform, die zentralisierte Systeme nicht in gleicher Form aufweisen: die Hierarchisierung der einzelnen Standorte im Verhltnis zueinander. Setzte sich ihre Bedeutung zunchst aus den natrlichen Gegebenheiten (Rohstoffvorkommen, Erreichbarkeit, Verfgbarkeit von Arbeitskrften, Lohnniveau etc.) und der Marktlage der hier produzierten Gter zusammen, war diese Bedeutungszuschreibung auch ein Instrument der aktiven Planung der Unternehmensleitung. Fr die Geschichte von PCAC ist diese Bemerkung von entscheidender Bedeutung, da das Unternehmen vor 1919 keine systematische Reflexion seiner Gesamtverwaltung kannte.59 Organisatorische Reflexionen und Entwrfe vor 1914 waren immer Reflexionen der einzelnen Produktionssttten und ihres Verhltnisses zueinander. Das Problem war damit ein Problem von Prinzipalen und Agenten.60 Im Mittelpunkt stand die Durchsetzung zentraler Entscheidungen in einem dezentralen Produktionskontext. Seit der Grndung des Unternehmens war die Verwaltung des Unternehmens immer wieder umgezogen. Nacheinander hatte sie sich ganz oder teilweise in Al s, Salindres, Arles und dann in Lyon und Paris angesiedelt. Die Frage danach, welcher dieser Verwaltungssitze die Fhrungsrolle spielte und in welchem Verhltnis dieser zu den Produktionsstandorten stehen sollte, ob sie weisungsbefugt waren oder nur Stabsfunktion hatten, wurde immer dringlicher fr das Unternehmen. Die Aushandlung solcher Konstellationen war nicht frei von Konflikten. Als sich Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts Alfred Pechiney entschloss, mit dem Posten eines secrtaire gnral eine koordinierende Position im Unternehmen zu installieren, die auch bergreifende Kompetenzen besaß, beschloss er gleichzeitig, diesen Posten in Salindres anzusiedeln.61 Damit war die Chemiefabrik auch formell ber die anderen Standorte des Unternehmens gestellt. 59 Sammlung von Schriften zur Organisation ab 1919; Py 00/10/10018. 60 Zu der institutionençkonomischen Begrifflichkeit und Theorie von Prinzipal und Agent: Nieberding/Wischermann (1998), S. 38; auch Berghoff, Transaktionskosten. 61 Toussaint, S. 70 f.

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Doch einige Jahre spter versuchte der Generalsekretr Salgu s selbst, seinen Kompetenzbereich weiter von der Produktion in Salindres abzulçsen und die Verwaltung des Unternehmens in Lyon anzusiedeln.62 Mit diesem Schritt hoffte er, sich die nçtige Autonomie von technischen Zwngen zu sichern und gleichzeitig Handlungsfreiheit gegenber dem in Salindres immer wieder intervenierenden Pechiney zu gewinnen. Die neue Zentrale war ein Schritt zur Entkopplung von Verwaltung und Produktion und gleichzeitig hin zu einer Zentralisierung der koordinativen und administrativen Einheiten. Von hier aus fhrte Salgu s alle Geschfte mit den verschiedenen Werken, gab Anweisungen und regelte auch alle wichtigen Personalfragen.63 Er empfing in Lyon die zustndigen Techniker der Fabriken und musste nur in Ausnahmefllen selbst an die Standorte reisen. Ab 1898 wurden auf Betreiben von Salgu s in Lyon auch ein technischer Service, die Buchhaltung, die Statistik und ein Sekretariat eingerichtet, Abteilungen, die zuvor in Salindres angesiedelt waren. Der Verkauf dagegen wurde nach wie vor in Paris abgewickelt.64 Pechiney stellte sich dieser Entwicklung allerdings vehement entgegen. Er zwang seinen secrtaire gnral bald wieder, Lyon zu verlassen und sich in Salindres niederzulassen.65 Pechineys Vorstellungen widerstrebte die brokratische Entkopplung von Administration und Produktion. So sehr er auch selbst auf eine dauerhafte Prsenz in der chemischen Fabrik verzichtete, verlangt er von seinem engsten Mitarbeiter, dass er in Salindres anwesend ist. Diese unterschiedlichen Auffassungen von der Unternehmensfhrung gingen so weit, dass Salgu s nicht mehr genug Vertrauen und Rckhalt fr seine Arbeit sah und zu Beginn des Jahres 1900 das Unternehmen verließ.66 Doch mit diesem entschlossenen Durchgreifen Pechineys blieb das Problem im Prinzip weiter bestehen. Die rumliche Aufteilung machte eine strkere Definition der Rechte und Befugnisse der einzelnen Werke notwendig. Immer wieder standen dabei die Salzproduktionssttten von Salin-deGiraud im Mittelpunkt des Interesses. 1898 wurde deren Unabhngigkeit gestrkt, indem man sie unter die Verantwortung eines eigenen Direktors stellte und die Zentralverwaltung zum guten Teil aus dem Alltagsgeschft zurckzog.67 Doch schon drei Jahre spter schien dieses System relativer Autonomie wieder reformbedrftig. Die Unternehmensleitung versuchte nun, die Verwaltung und die Produktion wieder strker aneinanderzubinden. Das kleinere Verwaltungsbro, das seit drei Jahren die Aktivitten in der Camargue von Arles aus koordinieren sollte, wurde nach Salin-de-Giraud zurckverlegt und 62 Kurz nach dem Beschluss vom 3. 10. 1896 zog Salgu s nach Lyon, wo er ab 1897 wohnte; Py 072/ 13/29960. 63 Vgl. Schriftwechsel zwischen Salgu s und Calypso zwischen 1897 und 1899; Py IHA 962502 Prim 6/9. 64 Protokoll vom 29./30. 4. 1898; Py 072/13/29960. 65 Toussaint, S. 69 ff. 66 Protokolle vom 14. 12. 1899 und vom 1. 2. 1900; Py 072/13/29960. 67 Proc s verbal du conseil d’administration, 28. 7. 1898; Py 072/13/29960.

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hier mit der Direktion des Werkes zusammengelegt.68 Ziel dieser Maßnahmen, wie auch schon der Beschlsse zu Salindres, war es, gewisse Knotenpunkte im immer unbersichtlicher werdenden Produktionsnetz des Unternehmens zu strken; die partielle Autonomie, die im Interesse des Unternehmens lag, wurde durch eine kontinuierliche Kontrolle ergnzt. Dennoch sollte es im Verlauf der nchsten Jahre zu einer wesentlichen Spezifizierung dieser Verwaltungsform kommen. Durch die Modifikation der Aufgaben der beiden leitenden Figuren Adrien Badin und Alfred Pechiney schien es notwendig, diese immer weiter von der technischen Produktionsleitung freizustellen. Bei seinem Eintritt in das Unternehmen hatte Adrien Badin noch den formalen Titel eines Ingnieur principal, doch bereits nach kurzer Zeit wurde er zum directeur, und ihm wurde der Ingenieur Lambert beigeordnet.69 Doch nachdem auch Lambert 1904 nach einem offenen Konflikt aus dem Unternehmen ausschied, wurde die technische Verwaltung wieder an die lokalen Direktoren zurckverwiesen, ein Jahr spter aber wieder gebndelt.70 In dem steten Wechselverhltnis von Zentralisierung der Weisungsbefugnisse und Autonomie lokaler Verwaltungsstrukturen der Produktionsstandorte fand das Unternehmen bis 1914 keine klare Linie und keine stabilen Verhltnisse. Beinahe jhrlich wechselten auf diese Weise die Zustndigkeiten innerhalb der Verwaltung von Salin-de-Giraud. Eine Stabilisierung fand nur statt, wenn ein Produktionsverwalter gefunden wurde, den die Direktion ber einen lngeren Zeitraum akzeptierte. Fr Giraud war dies zum ersten Mal 1905 der Fall, als Direktor Berne seinen Posten antrat. Vergleichbare Verhltnisse, die sich dadurch auszeichneten, dass die einzige Stabilitt die Vernderung war, gab es auch an anderen Standorten.71 Die Form steten Wechsels der Verwaltungsstrukturen legt nahe, das Verhltnis von zentraler Verwaltung und dezentraler Produktion bei PCAC nicht als ein immer wieder gestçrtes Ensemble zu begreifen, sondern es als Stabilisierung eines Systems in einer steten Spiel- und Aushandlungssituation zwischen Zentrum und Peripherie zu lesen. Der Prozess dieser Verhandlungen war dabei selbst Steuerungsmechanismus. Der relative Mangel an schriftlichen Organisationsentwrfen bei PCAC ist ein signifikantes Anzeichen fr die geringere Bedeutung planerischer Entwrfe im Vergleich zu Bayer. Doch wurde auch bei PCAC ber Organisation geschrieben. Die Form, in der solche Zukunftsplne fr die Organisation erschienen, gibt Aufschluss ber ihre Adressatengruppe und ber die Ziele der Kommunikation solcher Entwrfe. Zwar wurden die ersten rglements intrieurs – zu dieser Zeit in franzçsischen Unternehmen bereits hufig verwen68 69 70 71

Proc s verbal du conseil d’administration, 28. 11. 1901; Py 072/13/29960. Protokoll vom 29. 1. 1903; Py 072/13/29960. Protokolle vom 17. 3. 1904 und 29. 6. 1905; Py 072/13/29960. Protokoll vom 17. 3. 1904; Py 072/13/29960.

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det72 – bei PCAC erst 1919 fr die Verwaltung eingesetzt und fr einen grçßeren Kreis der Belegschaft erst mit der Fusion von 1921 zur gngigen Organisationspraxis,73 es gab aber eine Anzahl interner Papiere zu Organisationsproblemen, die nur fr einen sehr kleinen Kreis von Verwaltern, Direktoren und leitenden Angestellten bestimmt waren.74 Die wichtigsten Fragen der Organisation wurden daneben im Conseil d’administration besprochen und in Protokollen festgehalten.75 Erst im letzten Jahr vor dem Krieg wurde ein interner Plan fr eine einheitlich durchzusetzende Ordnung in den verschiedenen Bereichen des Unternehmens schriftlich festgelegt. Dieser sah die Aufteilung in vier Hauptabteilungen vor: die chemische Produktion in Salindres und Eguilles, die Aluminiumproduktion in Savoyen und Auzat, die verschiedenen Aktivitten in der Camargue (in erster Linie Salin-de-Giraud) und schließlich die Bergbauaktivitten des Unternehmens. Diese verschiedenen Produktionsstrnge wurden jeweils von einem Ingenieur oder chef de service gefhrt (Berne, Bertrand, Balensi und Lombard). Zu diesen Abteilungen kam ein wachsendes Netz kommerzieller Niederlassungen im Ausland. Die vier Abteilungen waren damit gleichberechtigt nebeneinandergestellt, die traditionelle Vorherrschaft des technischen Leiters von Salindres in der Hierarchie der verschiedenen Abteilungen war beendet. Die oberste Leitung der Aktivitten blieb in der Hand der Direction Gnral, doch gleichzeitig reflektierte das Unternehmen zum ersten Mal auf dem Papier seinen dezentralen Charakter : „Im von der Verwaltung skizzierten Rahmen [einer Dezentralisierung der Verwaltung] bleibt Platz fr alle ausfhrenden Mitarbeiter, die sich auf den verschiedenen Stufen der technischen und administrativen Abteilungen um die Vorbereitung zur Lçsung von Problemen kmmern mssen, die sie nicht selbststndig klren kçnnen. Die hieraus entstehende Dezentralisierung der Handlungen wird so durch eine Zentralisierung der Informationen, die fr die Direktion wichtig sind, komplettiert. Es ist Sache der diversen Abteilungsleiter, in ihren Berichten und Briefen, die Situation ihrer tglichen Geschfte zusammenzufassen.“ [Herv. i. Original]76

Die schriftlichen Spuren der „sichtbaren Hand“ Adrien Badins deuten auf eine sehr zurckhaltende Aktivitt des Direktors und der beteiligten Verwalter an der Spitze des Unternehmens hin. Es schien nicht im Interesse der Fhrung des Unternehmens zu liegen, einen zentralen Gesamtentwurf durchzusetzen. Vielmehr stabilisierte sich die Organisation des Unternehmens in einem 72 Lalle, S. 21; vgl. auch Kapitel 5.2.2. 73 Py 00/10/10018. 74 Etwa zur Kostenkontrolle am 21. 10. 1913 oder zur Organisation der Stabsabteilungen vom 5. 5. 1914; Py 00/12/20012. 75 Py 072/13/29960. 76 „Organisation des Services de la Compagnie“, 5. 5. 1914; Py 00/12/20012. Bereits im Februar desselben Jahres dem conseil d’Administration vorgestellt worden, Protokoll vom 6. 2. 1914; Py 072/13/29960.

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Aushandlungsprozess, der gerade durch die nicht vollzogene Fixierung von Regeln mçglich war. Dieses Fehlen zentraler Organisationsentwrfe deutet auf eine divergierende Vorstellung von der Organisation des Unternehmens bei Bayer und bei PCAC hin.

Der Aufbau eines Kommunikationsnetzes Die besondere geographische Lage des Unternehmens – verstreut ber weite Teile Frankreichs – machte die interne Kommunikation zur besonderen Herausforderung, von der hufig eine effektive Koordination und damit eine Entscheidung ber Erfolg oder Misserfolg strategischer Entscheidungen abhing. Das oben erwhnte Prinzipal-Agenten-Problem, die Generierung spezifischer Kosten durch die Delegierung von Verantwortung innerhalb einer Organisation, bersetzte sich in entscheidendem Maße in ein Kommunikationsproblem. Schon die hufige Abwesenheit Alfred Pechineys machte die Etablierung eines besonderen Kommunikationssystems notwendig, das es ihm erlaubte, immer ber die Entwicklung der Produktion und der wichtigen Personalentscheidungen auf dem Laufenden zu sein. Dieses System hing von dem Koordinationsgeschick des secrtaire gnral ab, dessen Aufgabe es war, einmal pro Tag einen Brief an Pechiney zu schreiben.77 Pechiney wurde in diesen Berichten konstant mit Informationen ber die Ertrge der jeweiligen Standorte versorgt. Dabei hielt der Generalsekretr Salgu s eine genaue Reihenfolge ein, nach der er die fr relevant gehaltenen Daten von Salin-deGiraud und den anderen Standorten in Salindres sammelte und von hier einen Tag spter an den jeweiligen Aufenthaltsort von Pechiney weitersandte. Wenn Pechiney auf diese Briefe antwortete, dann nur in Form telegraphischer Anweisungen, die jeweils am Kopf des nchsten Berichtes von Salindres als eine Art Eingangsbesttigung wiederholt wurden. Aus diesen Korrespondenzen lsst sich das Interesse Pechineys an strategischen Entscheidungen, technischen Details und ab 1893 auch fr den Fortgang der wissenschaftlichen Experimente in Salindres ablesen. Der relativ hohe Formalisierungsgrad dieser Kommunikation erlaubte es Pechiney, die Geschehnisse im Unternehmen im Detail zu erfassen, auch wenn er hufig nicht persçnlich anwesend war. Aus den Anweisungen, die Anfang 1898 dem neuen Werk in Calypso gegeben wurden, wird die Bedeutung, die das Unternehmen diesem Berichtssystem beimaß, deutlich: „Was ihre Korrespondenz mit unserem Unternehmen sowie dem Gesellschaftssitz als auch dem Bro in Paris und selbst mit Salindres anbelangt, verwenden sie zuknftig farbiges Papier. Jedes Schriftstck muss einzeln nummeriert werden. Fr jeden 77 Briefwechsel Pechiney-Salindres 1888 – 1890; Py 00/12/20009 und 1893 – 1897; Py 00/12/20010.

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Adressaten ist ein gesondertes Nummernsystem einzurichten; so sind die Briefe an unsere Adresse von 1 bis … zu beschriften, fr Paris von 1 bis … und ebenfalls fr Salindres von 1 bis … Von jedem Sonderbrief schicken sie eine Kopie an jede dieser Adressen.“78

Die an Salindres gerichtete Tageskorrespondenz diente dazu, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und die erwhnenswerten Vorkommnisse anschließend an die Direktion zu bermitteln. Schon allein in dieser Funktion wird die Bedeutung der Verwaltung in Salindres sichtbar, die auf diese Weise fr jedes Problem eine Mittlerrolle einnahm. Die Angaben, die Salindres so an Pechiney bermittelte, beschrnkten sich nicht nur auf eine detaillierte Schilderung der Produktion, sondern gingen auch auf vermeintlich nebenschliche Fragen wie die Wettervorhersagen ein. So konnten diese Berichte leicht fnf Seiten und mehr umfassen. Doch trotz der hohen Formalisierung verfasste der Generalsekretr diese Briefe weiterhin handschriftlich und persçnlich. Eine Modernisierung des brokratischen Systems fand im Unternehmen nicht statt. Dieses System wurde mit dem bergang der Direktion an Adrien Badin grundstzlich beibehalten, allerdings mit gewissen Vernderungen versehen.79 Der neue Sekretr in Salindres, Paul Vittenet, schrieb seine Berichte weder so hufig wie sein Vorgnger noch in einer hnlich formalisierten Weise. Vittenet informierte nicht mehr ausschließlich, sondern dokumentierte Entscheidungen und zeigte damit eine wachsende Unabhngigkeit in der Beziehung zum neuen Verwaltungssitz in Paris. Hiervon zeugen nicht zuletzt die wiederkehrenden Mahnungen des Verwaltungssitzes an den Sekretr, in seinen Informationen die Details nicht zu vernachlssigen und die Direktion auch ber die Vorgnge und nicht nur die Ergebnisse auf dem Laufenden zu halten. Allerdings erkannte Vittenet ein anderes Problem, das fr seinen Vorgnger weit weniger wichtig gewesen zu sein schien: Die Fragen von Personal und Organisation wurden mehr und mehr thematisiert. Die Vernderungen kçnnte man wie folgt paraphrasieren: Salgu s erfllte in Salindres die Funktion eines Informationssammlers, wohingegen im Verhltnis Vittenet-Badin ein Betriebschef einem Unternehmenschef gegenberstand. Vittenets gestiegenes Selbstbewusstsein lsst sich unter anderem daran ablesen, dass er seinerseits immer wieder Ermahnungen an die Verwaltung in Paris schickte. In erster Linie beklagte er sich, dass Verwalter und Direktoren immer seltener nach Salindres kamen und damit ein wachsendes Desinteresse am Standort zum Ausdruck brachten.80 Andererseits machte die Direktion Vittenet auch unmissverstndlich deutlich, dass die Produktion von Salindres

78 Brief vom 1. 2. 1898; Py IHA 962502 Prim6/9. 79 Dieser Briefwechsel ist erhalten fr die Zeit von 1906 bis 1912; Py 00/12/20012. 80 Etwa Briefe von Vittenet an die Direktion vom 8.9., 11.9. und 27. 10. 1906; Py 00/12/20012.

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fr sie nicht von großem Interesse war, sie daher umso mehr von seinen Entscheidungen abhing..81 Trotz der relativen Autonomie der Standorte legte die Direktion Wert auf einen stndigen Informationsfluss. Im Fall von Salin-de-Giraud forderte Direktor Boyoud wiederholt, dass auch Details mitzuteilen seien: „Sie mssen schon denken, dass Ihre letzten Briefe verloren gegangen sind oder dass ich zumindest nicht sehr eifrig sei, darauf zu antworten. Es liegt daran, dass ich nicht viel Zeit hatte und auch beim heutigen Brief bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich alles schreiben kann, was ich mitzuteilen habe. Ich fange daher damit an, Sie darum zu bitten, uns hufiger Bericht zu erstatten, auch wenn es wenig Hoffnung auf eine Antwort gibt. Es wre von hohem Interesse, wenn Sie uns die Ereignisse eines jeden Tages mitteilen wrden, auch wenn diese, fr sich gesehen, unwichtig erscheinen, zusammengenommen aber die ganze Existenz von Salin-de-Giraud ausmachen.“82

Die nderung der Kommunikationsmittel spiegelte auch die Vernderung der Hierarchien zwischen den Produktionsstandorten wider. Zum Zeitpunkt des Ankaufs der Fabrik von St. Jean-de-Maurienne im Jahr 1907, die spter die mit Abstand grçßte Aluminiumproduktionsanlage im Tal der Maurienne werden sollte, wurde auch entschieden, dass das kleinere Calypso die Kommunikation mit der Direktion zuknftig ber die neue Fabrik, statt ber Salindres fhren sollte. Von Anfang an wurde auf diese Weise die Hierarchie zwischen den beiden Werken deutlich, obwohl es keine offizielle Hierarchisierung der verschiedenen Standorte gab. Dass diese Umwandlungen der Kommunikationsmethoden keinesfalls neutral fr das Machtgefge des Unternehmens verliefen, zeigt ein weiteres Zitat. In einem Brief an den Direktor von St. Jean brachte die Direktion ihren Unmut ber die derzeitige Praxis des Informationsaustausches zwischen Calypso und St. Jean zum Ausdruck: „Anbei erhalten Sie die Kopie eines Briefes vom „Aluminium FranÅais“, in dem ein Auftrag gestoppt wird. Wie das Al. Fr. sind wir auch sehr erstaunt, dass Calypso erst auf wiederholte Mahnung die Ausfhrung aufgrund zu geringer Lagerbestnde abgesagt hat. Diese Beobachtung htte der Direktion von St. Jean bereits mit Erhalt des Auftrages mitgeteilt werden mssen. Diese unentschuldbare mangelnde Voraussicht htte fatale Folgen haben kçnnen, die vom Kunden zu recht auf uns abgewlzt worden wren. Sie sollten in dieser Hinsicht an Calypso eine strenge Kritik bermitteln.“ [handschriftlich hinzugefgt:] Mit den vorangegangenen Bemerkungen hatten wir die Intention, dass Calypso seit

81 Brief vom 29. 8. 1911; Py 00/12/20018. 82 Brief von Boyoud an den Direktor Perry in Salin-de-Giraud am 2. 12. 1910; Py 00/12/20018.

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einiger Zeit St. Jean untergeordnet ist. Aus diesem Grund kommunizieren wir mit Calypso ausschließlich ber den Umweg von St. Jean.“83

Trotz ihrer augenscheinlichen Bedeutung ist diese Form der Kommunikation entlang hierarchischer Linien nur ein kleiner Ausschnitt aus dem kommunikativen Netz, das ein Unternehmen ausmacht. Dieser Ausschnitt kann die prinzipielle Interaktivitt von hierarchischen Beziehungen verdeutlichen. Andere Formen wie die Kommunikation zwischen gleichen Hierarchiestufen oder zwischen Unternehmen und Umwelt bleiben dabei zunchst unbercksichtigt, da sie im Gegensatz zu Bayer kaum Spuren in den Archivbestnden des Unternehmens hinterlassen haben. Dabei ist es gerade diese Form der Kommunikation, die die Arbeitsbeziehungen und das tgliche Leben der Fabriken prgten. Genaueren Einblick kann hier nur eine tiefere soziale Analyse der Produktionswelten geben.

2.3. Autonome Zonen in der Produktionsgestaltung Der corps technique als Trger von Wissensnetzwerken Wie bei Bayer und in den chemischen Produktionsbetrieben im Allgemeinen, war auch bei PCAC charakteristisch fr die Produktion, dass zwischen dem akademisch ausgebildeten, technischen Personal und den kaum oder gar nicht ausgebildeten Arbeitern eine Qualifikationslcke klaffte. Der Abstand zwischen diesen beiden unterschiedlichen Wissensformen bildete eine Grunddeterminante in der unternehmerischen Organisation und forderte adquate Reaktionen der Unternehmensverwaltung. Schon in der Grndungsphase der Firma in den fnfziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellte Henri Merle akademisch ausgebildetes Personal fr den Produktionsbereich in dem Chemieunternehmen ein. Eine Ausweitung erfuhr der corps technique mit der bernahme der Firmenleitung durch Alfred Pechiney ; bis 1890 hieß dies aber nicht, dass mehr Akademiker eingestellt wurden. Die Techniker waren zunehmend erfahrene Werkmeister. Da fr diese frhe Zeit keine detaillierten Statistiken zum technischen Personal vorliegen, mssen die Betriebsfotografien als Quelle fr die Zahl der hçheren Angestellten dienen. 1882 ließ sich Pechiney mit seinen 17 technischen Mitarbeitern fotografieren, eine relativ große Zahl in Relation zur bescheidenen Grçße des Unternehmens.84 Das entsprechende Foto des Bropersonals zeigt weitere zwanzig Personen, daneben Pechiney und zwei weitere Mitarbeiter, die jeweils auch auf dem Foto des technischen Personals erscheinen.85 Hierbei handelte es sich um den Chemiker Gladysz und den Unterdirektor Reboul, zu diesem 83 Brief vom 19. 11. 1913; Py 00/12/20012. 84 Zu finden in der umfangreichen Fotosammlung; Py 00/12/20011. 85 Py 00/12/20018.

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Abbildung 1: Technisches Personal, 1882.

Zeitpunkt die beiden einzigen Angestellten in Salindres mit akademischer Ausbildung. Pechiney hatte also auch als einer von drei akademisch ausgebildeten Chemikern eine hervorgehobene Stellung im Unternehmen. Auch fr die Folgezeit bleibt die Betriebsfotografie in Salindres eine wichtige Quelle; schon 1890 ließ Pechiney wieder Gruppenfotos anfertigen. Auffllig ist hier, dass es nun eine deutliche Differenzierung des technischen Personals gab. Die Produktionsleiter wurden jeweils gemeinsam mit ihrer Abteilung abgelichtet und nicht mehr als geschlossene Gruppe. Die in der Laborforschung ttigen Mitarbeiter kamen auf ein separates Foto. Welcher Wandel verbarg sich hinter diesen vollstndig unterschiedlichen Fotoaufstellungen innerhalb weniger Jahre? Das Bild, welches das Unternehmen durch die Aufstellung der Fotomotive von sich zu geben suchte, lsst auf vernderte hierarchische Vorstellungen schließen. So kann aus der Trennung von Laborangestellten und Produktionsleitern auf weitreichende Vernderungen der jeweiligen Rolle im Inneren des Unternehmens geschlossen werden. Trotz ihrer bescheidenen Grçße differenzierte sich die wissenschaftliche Angestelltenschaft in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus.86 Hieraus ergibt sich die Frage nach der neuen technischen Qualifikation und der Ausbildung dieses technischen Personals in den Jahren bis zum Weltkrieg. 86 Toussaint, S. 73 ff.

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Zustzlich kçnnen Angaben zu einzelnen Biographien und Briefe ber die Einstellungspraktiken Auskunft geben und auf die in Anspruch genommenen Netzwerke hinweisen. Schon der Unternehmensgrnder Henri Merle war an der Ecole centrale de chimie ausgebildet worden.87 Auch Pechiney und Badin waren akademisch ausgebildete Chemiker. Pechiney erhielt seine Ausbildung auf einer einfachen Chemieschule in Paris,88 Badin dagegen besuchte die Ecole des Mines in St. Etienne.89 Das akademisch ausgebildete Personal neben Pechiney war zunchst sehr begrenzt. 1892 wurde mit der Einstellung von A. Salgu s eine wesentliche Erweiterung vorgenommen, da es nun auch einen Verwaltungsangestellten mit einer akademischen Ausbildung zum Chemiker gab.90 Auch Paul Vittenet hatte diese Ausbildung, er fhrte die Geschfte in Salindres bis in die letzten Vorkriegsmonate und nahm dadurch auch eine weisungsberechtigte Position gegenber den anderen Produktionssttten ein. Seine Karriere im Unternehmen wurde von Alfred Pechiney protegiert.91 Hierdurch, aber auch durch sein persçnliches Verhandlungsgeschick wurden Vittenets Zustndigkeitsbereiche immer grçßer. Ab Mrz 1914 war er im Pariser Bro Verwalter und damit wieder enger an die zentrale Verwaltung des Unternehmens angebunden.92 Vittenets Fall ist in gewisser Weise reprsentativ fr die technischen Karrieren bei PCAC, die jeweils von den rekrutierten Personen und ihrer Fhigkeit abhingen, sich neue Spielrume anzueignen. Auch die weiteren zugnglichen Aussagen zum leitenden und technischen Personal deuten an, wie wichtig persçnliche Netzwerke fr die Rekrutierung und den Aufstieg im Unternehmen waren. Ein weiteres Rekrutierungsfeld war die Ecole centrale de Lyon, die vom Unternehmen zur Sicherung der Ausbildung sogar Geldspenden erhielt.93 Einen Großteil der Ingenieure bernahm PCAC von anderen Unternehmen, die meist in der nheren Umgebung angesiedelt waren. Diese Rekrutierungspraxis ist fr den Fall eines neuen Chemikers fr Salindres dokumentiert.94 Der secrtaire gnral ließ sich von einem in der Region ansssigen Chemieunternehmen einen Vorschlag machen und holte die entsprechenden Erkundigungen ber die Kandidaten ein. Dieser Vorschlag wurde dann an die Pariser Verwaltungszentrale weitergeleitet, die sich zwar die letzte Entscheidung unbedingt vorbehielt,95 sich aber in der Regel fr den vorgeschlagenen

87 88 89 90 91 92 93 94 95

Geschichte von Salindres; Py 00/12/20011. Toussaint, S. 62 ff. Cailluet, S. 763. Toussaint, S. 114 f. Briefwechsel Pechiney-Vittenet; Py 00/12/20018. Glckwunschbrief von Pechiney an Vittenet vom 12. 3. 1914; Py 00/12/20018. Protokoll vom 17. 3. 1904; Py 072/13/29960. Briefe vom 22. und 27. 11. 1906; Py 00/12/20012. Brief vom 24. 9. 1912 an Vittenet in Lyon; Py 00/12/20012.

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Kandidaten entschied.96 In den Akten des Unternehmens sind nach 1900 zahlreiche hnliche Flle dokumentiert, die auf regionale Rekrutierungsnetzwerke fr technisches Personal hindeuten und die Beziehung des Unternehmens zu anderen im franzçsischen Sdosten ansssigen Unternehmen belegen. Fr den Ingenieur Vignaud fragte Boyoud etwa bei dessen frherem Arbeitgeber, dem Fabrikanten Lefalire, an: „Wir wren Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns mitteilen kçnnten – ußerst vertraulich, versteht sich –, was Sie von dem jungen Mann halten und ob Sie ihn zur Ausfhrung der fr ihn vorgesehenen Beschftigung fr fhig erachten. Bei der Anstellung eines neuen Ingenieurs handelt es sich bei uns immer um eine recht große Angelegenheit, auch wenn er fr den Anfang nur als Assistent ttig sein soll.“97

Etwas anders dagegen stellte sich die Ausbildung und Herkunft der jeweiligen Fabrikdirektoren nach der Jahrhundertwende dar. Von den zehn Direktoren, die Toussaint erwhnt, stammten drei von der Ecole Centrale de Paris und zwei von der Ecole Polytechnique, also von Frankreichs technisch-naturwissenschaftlichen Eliteschulen.98 Auch wenn die Abgnger dieser Schulen meist als normale Ingenieure ins Unternehmen kamen, wurden sie nach einigen Jahren auf die Direktorenposten befçrdert, fr die sie in der Regel schon von vornherein vorgesehen waren. Aus den Biographien und Rekrutierungspraktiken des gehobenen technischen Personals lsst sich also ableiten, dass sich das Unternehmen auf zwei verschiedene Formen der Rekrutierung sttzte: Zum einen waren das regionale Netzwerke, die in erster Linie auf Verbindungen zu den Schulen in Lyon, Arles und St. Etienne beruhten. Zum anderen wurde hçher qualifiziertes Personal auch ber den Verwaltungssitz in Paris angeworben. Die mit dem Fhrungswechsel von Pechiney zu Badin immer hufigere Einstellung von akademisch ausgebildeten Chemikern und Ingenieuren hatte ihren Grund nicht nur in der vermehrten Nachfrage nach fachlichem Wissen. Vielmehr spiegelte sich darin auch wider, dass sich die Aufgabenbereiche des produktionsleitenden Personals hin zu administrativen und koordinierenden Ttigkeiten immer mehr ausweiteten. In den Jahren vor 1900, in denen Pechiney das Unternehmen fhrte, hatten es die Ingenieure zunchst schwer, ihren Platz neben der dominanten Person des Unternehmensleiters zu finden. Mit der Expansion des Unternehmens im Laufe des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts wurde auch die stetige Ausweitung der Autonomie dieser leitenden Angestellten augenfllig. Ab der Jahrhundertwende kamen unter der Fhrung von Adrien Badin zahlreiche neue Firmenstandorte hinzu, womit eine Ausdehnung der Handlungsrume des technischen Personals, das in 96 Etwa der Quasiaustausch von Badin gegen Salgu s, Brief von Pechiney ohne Datum [1899 oder 1900]; Py 072/1/9686. 97 Brief von Boyoud an den Fabrikanten Lefalire aus St. Etienne vom 19. 1. 1911; Py 00/12/20018. 98 Toussaint, S. 688 ff.

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immer grçßerer Zahl bençtigt wurde, verbunden war.99 Die Aufgabe des Personals bestand mehr und mehr in der kontinuierlichen berwachung des Produktionsprozesses. Nur selten lag die Aufgabe der angestellten Ingenieure in einer systematischen Forschung. Dies galt umso mehr nach der Ausgliederung des Aluminiumlaboratoriums ins Zentrallabor nach Chambry im Jahr 1911, das unter dem Dach des Aluminium FranÅais den Namen Socit du Duraluminium angenommen hatte und sich hauptschlich mit neuen Anwendungsgebieten fr das Metall beschftigte.100 Ein signifikantes Merkmal des leitenden technischen Personals war zudem seine hohe Flexibilitt und lokale Ungebundenheit, die bis zum Krieg ein immer wichtigerer Faktor wurde. Es sind keine Flle von Ingenieuren oder Chemikern bekannt, die ihre Karriere nur an einem einzigen Produktionsstandort verfolgen konnten. Vielmehr rotierten die meisten zwischen Paris, Salin-de-Giraud, Salindres und den Aluminiumfabriken in Savoyen.101 Dabei mussten alle Angestellten und Ingenieure, die nach Monatsstzen und nicht nach Wochen- oder Tagesstzen bezahlt wurden, eine Konkurrenzklausel unterzeichnen, die es ihnen bei Geldstrafe verbot, sich von einem anderen Unternehmen einer verwandten Branche anwerben zu lassen. Dieses Verbot galt bis zu fnf Jahre nach Ausscheiden aus dem Unternehmen.102 Die Bezahlung des technischen Personals stieg im hier untersuchten Zeitraum wesentlich an und erreichte 1907 etwa ein Niveau von 10 000 Francs jhrlich fr die Direktoren der einzelnen Werke und zwischen 5000 und 8000 Francs fr die akademisch ausgebildeten Ingenieure. Allerdings bestand dieses Gehalt zu etwa einem Viertel aus Prmienzahlungen.103 Struktur, Herkunft und Qualifikation des technischen Personals waren im betrachteten Zeitraum einer starken Dynamik unterworfen. Die Produktionsleitung wechselte in die Hnde von Akademikern, ohne dass diese Kategorie unternehmensintern vollstndig von den Werksmeistern abgegrenzt worden wre. Die strikte Abgrenzung von Zustndigkeitsgebieten oder sozialem Status war weniger formalisiert als bei Bayer. Durch die Rekrutierung neuer Angestellter blieb das Unternehmen in permanentem Austausch mit Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen. Gleichzeitig wurden hierber regionale Netzwerke aufgebaut, durch die sich die Firma stabilisieren konnte. Anders als bei Bayer nahm das Produktionswissen eine weniger bedeutende Rolle einer impliziten Machtressource im organisatorischen Feld des Unternehmens ein. Mit der Expansion des Unternehmens dezentralisierte sich auch das technische Wissen zusehends und 99 Protokoll des Conseil d’Administration vom 30. 11. 1906; Py 072/13/20022. 100 Le Roux, L’volution, S. 203 ff.; Finanzbericht ber PCAC, 1911; ACL DEEF 24546. 101 Dieser typische Karriereverlauf lsst sich aus dem „Fichier des agents ns avant 1900“ ablesen, in dem die Karriereverlufe der einzelnen Angestellten nach dem Krieg zum Zweck der Rentenzahlung nachgehalten wurden; Py 080/12/25897. 102 Formvertragsvorlage, ohne Datum; Py 00/12/25897. 103 Gehaltslisten Februar 1906; Py 080/12/5814.

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die mittlere Hierarchieebene des wissenschaftlichen Personals gewann entscheidend an Autonomie hinzu.

Arbeitsdelegation an Teamstrukturen Die Eigenheiten der chemischen Produktion und die daraus resultierenden Aufgabenbereiche legten bestimmte Formen der Arbeitseinteilung nicht nur nahe, sondern setzten sie geradezu voraus. Wie auch bei Bayer machten bei PCAC die großen Rohstoffmengen und die regelmßig neu einzurichtenden Anlagen einerseits und die homogene, geringe Qualifikation der wenig spezialisierten Arbeiterschaft andererseits große Arbeitsgruppenstrukturen notwendig, die jeweils an einem Produkt vom Prozessbeginn bis zum Abschluss beschftigt waren. Bei PCAC gab es diese Produktionsteams vor allem in Salindres. Vierzig bis fnfzig Personen gehçrten hier zu einer Produktionsgruppe.104 Ihnen stand jeweils ein contrematre vor, dem ein bis zwei surveillants assistierten. Die jugendlichen Auszubildenden waren dabei in der Regel nicht in den chemischen Abteilungen untergebracht, sondern in den handwerklichen wie der Schmiede oder der Zimmerei. Bei der angegebenen Arbeitszeit von ungefhr zwçlf Stunden ergab sich also eine Prsenz pro Schicht von zwanzig bis fnfundzwanzig Arbeitern pro Gruppe. Die Produktion der einzelnen chemischen Stoffe war meist in jeweils einer großen Halle zusammengefasst. Diese Hallen waren in der Regel nur provisorisch aus Holz gezimmert, im Falle einer Produktionsnderung oder -erweiterung konnten sie einfach und schnell eingerissen oder verndert werden. Insgesamt gab es im Jahr 1909 18 solcher Abteilungen in Salindres. 14 davon waren mit der Herstellung chemischer Produkte beschftigt,105 vier weitere hatten Hilfsaufgaben zu erfllen.106 Abbildung 2 zeigt das Werk in Salindres.107 Die Gruppen waren im rumlichen, technischen und sozialen Sinne also in hohem Maße homogen. Doch dieser Grad an Konvergenz war nicht nur den technischen Besonderheiten der chemischen Industrie geschuldet. Das Unternehmen orientierte sich bei bestimmten Gliederungsmerkmalen an traditionellen Arbeitsbereichen der Region. Im nahe gelegenen Al s gab es seit 104 Als Quelle dienen hierbei die Werksfotografien, die zwischen 1890 und 1900 angefertigt wurden und auf denen die einzelnen Abteilungen jeweils vollstndig abgelichtet wurden; Py 00/ 12/20011. 105 Es waren dies: Schwefel- und Salpetersure, Natronsulfat, Chlorverfahren, Chlorcalcium, Chlorate, Fluorsure, Soda, Sodasalz, tzsoda, Aluminat Nr. 1, Aluminat Nr. 2, Aluminiumsulfat, Kalkschwefel, Kupfersulfat; nach Gehaltsbersicht 1909; Py 080/12/5814. 106 Dies war die Handwerksabteilung (Schmiede, Tischlerei, Schweißerei und Bau), die Transportabteilung (Zge, Pferdegespanne und Gaslaboratorium), Abteilung fr verschiedene Arbeiten und die Bahnhofsverladeabteilung; ebd. Py 080/12/5814. 107 Py 00/12/19952.

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Abbildung 2: Werksansicht Salindres, 1889.

langer Zeit bedeutende Bergbaubetriebe, in denen traditionsgemß in einem grçßeren Gruppensystem gearbeitet wurde, in dem der Meister eine Art Subunternehmerfunktion ausbte.108 Er bestimmte nicht nur die Ausfhrungskonditionen der zu verrichtenden Arbeit, sondern legte auch die Bezahlung fest. Diese starke Gliederung in Untergruppen wurde vom Werk in Salindres im Prinzip bernommen. Abbildung 3 zeigt die Abteilung fr Chlorproduktion in Salindres.109 Diese lokalen Arbeitsstrukturen in Salindres bertrugen sich gerade aufgrund ihrer technischen Bedingtheit allerdings nicht auf den Rest des Unternehmens. Sowohl in Salin-de-Giraud als auch in den Aluminiumproduktionssttten wurde in anderen Einheiten gearbeitet, die weitaus heterogener waren. In der Salzgewinnung der Camargue gab es vornehmlich drei Arten von Ttigkeiten, die jeweils von großen Gruppen ausgebt wurden. Die erste Gruppe sammelte das Salz, nachdem das Wasser destilliert war (batteurs). Danach wurde es von einer anderen Gruppe in Wagen verladen (chargeurs), die dann von einer dritten Arbeitsgruppe zu einem zentralen Sammelpunkt gebracht wurden (rouleurs), um hier das Salz auf einem großen Haufen zu lagern und trocknen zu lassen (camelot). Diese Gruppen waren durch die hohe Fluktuation und den damit verbundenen großen Personalbedarf im Laufe des Jahres keinesfalls stabil. Indiz fr die Heterogenitt der Arbeitsmuster ist das Konfliktverhalten der Arbeiter. Die Auseinandersetzungen gingen in der Regel 108 Sugier, S. 124 f. 109 Py 00/13/19952.

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Abbildung 3: Die Abteilung fr Chlorproduktion in Salindres, 1890.

von den rouleurs aus, die durch ihren stndigen Kontakt zu den verschiedenen Arbeitern dafr prdestiniert waren.110 In Salin-de-Giraud war die Belegschaft relativ heterogen und im Durchschnitt nur gering qualifiziert, was dem Unternehmen erlaubte, im Konfliktfall eine Politik sozialer Hrte durchzusetzen.111 Streikende oder sonst auffllige Arbeiter wurden einfach entlassen, waren sie doch meistens nicht mit dauerhaftem Wohnsitz, geschweige denn durch familire Beziehungen an den Ort gebunden. Auch in der Aluminiumproduktion in den Alpen gab es keine Homogenitt in den Strukturen der wesentlich kleineren Arbeitsgruppen. Etwa drei Fnftel der 175 Arbeiter in Calypso bzw. der 250 Arbeiter in St. Jean-de-Maurienne waren 1912 mit der Aluminiumproduktion beschftigt.112 In dieser Kernproduktion, also der Beladung und berwachung der Aluminiumçfen, in denen die Tonerde durch Elektrolyse in Aluminium umgewandelt wurde, arbeiteten vier Mnner gleichzeitig an jeweils fnf fen. berwacht wurden sie von einem surveillant. Bei einer generellen Arbeitszeit von acht Stunden ist also davon auszugehen, dass sich die 150 cuvistes von St. Jean in etwa zehn

110 So geht es hervor aus der eingehenden Beschreibung des Streiks im Briefwechsel zwischen Direktion und Salin-de-Giraud zwischen dem 6. und dem 11. 9. 1911; Py 00/12/20018. 111 Protokoll vom 26. 9. 1911; Py 072/13/29960. 112 Die Beschreibung des Produktionsprozesses in der allgemeinen Untersuchung des Crdit Lyonnais ber PCAC, 1913; DEEF 21124.

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Abbildung 4: Arbeiter an einem Aluminiumofen in Calypso, um 1900.

gleichzeitig ttige Teams aufteilten, die fnfzig fen zu betreuen hatten (siehe Abbildung 4).113 Die betrchtliche Anzahl von Arbeitern, die nicht in dieser Form an den Aluminiumçfen beschftigt war, wurde fr die Instandhaltung der Anlagen, vor allen Dingen der aus den Bergen ins Tal fhrenden Fallrohre, eingesetzt.114 Auch bei den in den Bergen liegenden Talsperren waren Arbeiter beschftigt, die in kleineren Gruppen fr die Aufrechterhaltung des Betriebes zu sorgen hatten.115 Diese Arbeiten konnten laut dem Bericht des Crdit Lyonnais pro barrage von zwei Gruppen mit vier Mnnern aufrechterhalten werden. Beaufsichtigt wurden sie von einem Chefmechaniker, von dem nicht klar ist, ob es ein ausgebildeter Ingenieur oder ein contrematre war. Hier wird eine relativ deutliche Spannbreite an Beschftigtenformen und Strukturen der Arbeitsgruppen erkennbar. Es gab in den Fabriken sowohl ungelernte als auch hoch qualifizierte Arbeiter mit elektrotechnischen Kenntnissen. Gerade in den Gruppen an den Aluminiumçfen wurden verschiedene Qualifikationsniveaus zusammengefhrt, da hier ein hçher qualifizierter Aufseher mit einer relativ kleinen Gruppe von Arbeitern in Kontakt stand, in der Regel aber auch jngere Arbeiter in diesen Gruppen ausgebildet wurden.

113 Py IHA Archives Photos Carton 1. 114 Brief der Direktion an Calypso vom 9. 5. 1912; Py 00/12/20018. 115 ACL DEEF 21124.

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Im innerbetrieblichen Vergleich dieser Arbeitsstrukturen wird das Gewicht deutlich, das den Arbeitskonditionen in der Gestaltung betrieblicher Praktiken zukam. So vernderte sich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft in St. Jean wesentlich hufiger, als das in den wenig dynamischen Strukturen von Salindres der Fall war. Einer wirklichen Rationalisierungslogik kamen die kleineren und flexibleren Gruppen der Aluminiumherstellung weit mehr entgegen.116 Die großen homogenen Arbeitsgruppen der chemischen Industrie waren dagegen gerade in einem Umfeld wie dem traditionell strukturierten Salindres dazu angetan, Konfrontationen in der Tendenz zu vermeiden oder sie zumindest innerhalb der sozialen Strukturen der Arbeitsgruppen auszutragen. In negativem Sinne fanden beide Erfahrungen in der Arbeitsorganisation in Salin-de-Giraud zueinander, wo gerade die großen Gruppen dazu beitrugen, dass die Konfrontationen wesentlich schrfer ausgetragen wurden, da sie keine sozialen Bindungen der Arbeiter untereinander zuließen.

2.4. Organisation oder Strukturen? Die unteren Hierarchieebenen als stabilisierender Faktor Der corps intermdiaire – die Rolle der Contrematres Die wachsende Bedeutung der akademisch ausgebildeten Chemiker und Ingenieure bei PCAC vernderte die Stellung der contrematres. Die Werksmeister hatten bis 1890 eine leitende Funktion, die in der Folgezeit teilweise von dem akademisch ausgebildeten Personal bernommen wurde. Auch hier sind die Fotos von 1882 und 1890 Beleg fr die soziale Verschiebung in der Position der Werksmeister. Ließ Alfred Pechiney sich 1882 mit den contrematres ablichten, erschienen diese knapp zehn Jahre spter nur noch auf den Fotos ihrer jeweiligen Produktionsgruppen. Auch bei PCAC verschob sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums langsam das Machtgefge zugunsten der Ingenieure.117 Diese generalisierende Aussage fordert zur genauen Analyse heraus. Es stellt sich die Frage, ob die Spielrume der Werksmeister wirklich eingeschrnkt wurden oder ob ein expandierendes Unternehmen wie PCAC nicht beiden Institutionen, Ingenieuren und Werksmeistern, unterschiedliche Handlungsrume erçffnete, ohne eine Akteursgruppe prinzipiell infrage zu stellen. Dies gilt umso mehr fr eine Industrie, die nicht in Produktionsserien arbeitete, und bei der eine systematische Kontrolle des Produktionsprozesses durch das wissenschaftliche Personal nicht in gleichem Maße mçglich war wie etwa in der Fertigungsindustrie. 116 Umgestaltung der Produktionsregime mit dem Gesetz zum Repos hebdomadaire im Jahr 1912. 117 Locke; Lefebvre, S. 195 ff. und S. 207 ff.

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Auf rein formaler Ebene ergibt ein Blick in die unternehmensinternen Statistiken ein klares Ergebnis: Anders als bei den Beamten der Farbenfabriken von Bayer gab es bei PCAC keine kategorielle Unterscheidung zwischen den Werksmeistern und den brigen Mitarbeitern, denen monatlich ein festes Gehalt gezahlt wurde. Auch in der Hçhe der Lçhne gab es nur graduelle Unterschiede zwischen leitenden Angestellten, Ingenieuren und contrematres. Am Stammsitz von PCAC in Salindres verdienten die Werksmeister zwischen 1900 und 1906 im Schnitt 2182 Francs pro Jahr.118 Auffllig dabei ist, dass das Unternehmen in dieser Phase versuchte, die Gehlter der Werksmeister in etwa auf ein Niveau von 2350 Francs, inklusive der Gratifikationen, zu vereinheitlichen. In diese Gehaltsstufe stiegen die Werksmeister nach fnf bis sieben Jahren Unternehmenszugehçrigkeit auf. Die Gehlter der Werksmeister stiegen bis zum Krieg signifikant an. Nach der Personalkartei der Mitarbeiter, die vor 1914 geboren worden waren, verdienten die Werksmeister in Salindres am Vorabend des Krieges (1910/1914) im Schnitt 2982 Francs, wobei neben den Gratifikationen nun noch ein Wohngeld von 180 Francs enthalten war.119 Dies entsprach also einer Gehaltssteigerung von 35 Prozent innerhalb von weniger als zehn Jahren. Nicht nur die Expansion des Unternehmens kommt hierin zum Ausdruck, sondern auch die Bedeutung, die das Unternehmen den contrematres bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes gab. An den brigen Produktionsstandorten des Unternehmens ging die Entwicklung prinzipiell in eine hnliche Richtung. Hervorzuheben ist allerdings gerade fr die Werksmeister das stark schwankende Lohnniveau zwischen den verschiedenen Standorten. Die Gratifikationslisten von Salin-de-Giraud lassen auf ein durchschnittliches Gehalt von 1787 Francs fr die contrematres schließen.120 Dieses Bild wird gesttzt durch die wesentlich niedrigeren Lohnzahlungen fr die Arbeiter in der Camargue. Allerdings war es hier durch die stark erfolgsabhngige Bezahlung in den Jahren vor 1914 auch mçglich, dass ein Werksmeister ein monatliches Gehalt von 3480 Francs erhielt. An den Aluminiumproduktionssttten in den franzçsischen Alpen lagen die Gehlter dagegen wesentlich hçher. Zwar ist die Anzahl der zur Verfgung stehenden Flle fr diese Werke außerordentlich unvollstndig, doch lsst sich zumindest feststellen, dass zwischen 1910 und 1914 im Tal der Maurienne fr die contrematres schon Gehlter ber 3000 Francs die Regel waren, der contrematre gnral bekam 1914 ein jhrliches Gehalt von 4000 Francs. Gerade in den letzten fnf Jahren vor dem Krieg wurden die Gehlter noch einmal in entscheidendem Maße gesteigert. Whrend die Ingenieure an den unterschied-

118 Dieser Schnitt beruht auf einer Analyse der Gehaltstabellen, die jedes Jahr anlsslich der Gratifikationszahlungen erstellt wurden. bersichten 1900/1909; Py 080/12/5814. 119 Fichier des agents ns avant 1914; Py 080/12/25897. 120 Py 080/12/5814.

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lichen Standorten hnlich bezahlt wurden, waren damit die Unterschiede in der Position der Werksmeister signifikant. Die Gehaltszahlungen spiegelten auch eine fachliche Qualifikation wider : Das Unternehmen versuchte, das Personal mit der besten Qualifikation fr die entsprechenden Posten zu finden. Dabei war das Kriterium des Alters nicht unbedingt von Bedeutung. Whrend viele Arbeiter, die schon lange der Firma angehçrten, zu surveillants (Aufsehern) befçrdert wurden, wurden Werksmeister hufig gerade nicht unter den Produktionsarbeitern gesucht.121 So heißt es in einer Anmerkung zu den Werksfotografien: „Fr Salindres gibt es die lange gebte Gewohnheit, die besten Gehilfen aus den Labors zu Werksmeistern zu befçrdern. Diese Praxis hat hufig zu exzellenten Ergebnissen gefhrt.“122 Ein solches Vorgehen wird auch durch die Personalakten besttigt: In mehreren Fllen begannen die Werksmeister ihre Karriere im Laboratorium des Unternehmens in Salindres und stiegen von dort bald auf.123 Und auch die umgekehrte Beziehung scheint von Bedeutung gewesen zu sein: die Sçhne der contrematres begannen von vornherein als Gehilfen im Laboratorium.124 Dies besttigt eine Praxis, die schon bei der Untersuchung des gehobenen technischen Personals beobachtet werden konnte: Die Karriere vieler Werksangehçriger war von Beginn an vorgezeichnet, sie waren seit ihrer Einstellung als potenzielle Kandidaten fr fhrende Posten vorgesehen. Von entscheidender Bedeutung waren dabei persçnliche Netzwerke und familire Bindungen. Zumindest in Salindres gehçrten sie auch unabhngig vom Unternehmen zu den lokalen Autoritten, hufig waren sie Familienvorstnde im Ort.125 Im institutionellen Aufbau dieser zwischengeordneten Hierarchieebene kam ein solches Autorittspotential dem Unternehmen zugute. Ein weiterer Hinweis fr die offenkundige Bedeutung, die den contrematres vonseiten der Direktion zugemessen wurde, war die Tatsache, dass sie in Ausnahmefllen hnlich wie das akademisch gebildete Personal von einer Produktionssttte des Unternehmens zur nchsten geschickt wurden. Zwei Flle kçnnen hier nachgezeichnet werden. Bei der Besetzung der Posten im neuen Werk von Calypso vertraute der secrtaire gnral A. Salgu s nicht etwa auf das vor Ort verfgbare Personal, sondern schickte einen contrematre aus Salindres nach Calypso. In dem aus diesem Anlass gefhrten Briefwechsel126 fllt auch der Verhandlungsspielraum des Werksmeisters in Bezug auf die 121 Beleg hierfr ist, dass die surveillants in Salindres im Schnitt etwas lter waren als die contrematres; Archives municipales de Salindres. 122 Historique du Salindres [1919]; Py 00/12/20011. 123 Es handelt sich hierbei um Henri-Eug ne Aberl ne und Joseph Fortun; Py 080/12/25897. 124 Als Beispiel Auguste Constant, Sohn eines Werksmeisters der Kupfersulfatherstellung, Py 080/ 12/25908. 125 Dies geht aus den registres de recensement des Ortes Salindres aus dem Jahr 1896 hervor, die die Verbindung von familiren Strukturen und Stellung im Unternehmen belegen. Archives municipales de Salindres. 126 Briefwechsel Salgu s-Lescure 6. 12. 1898 bis 3. 2. 1899; Archives IHA 962502 Prim 6/9.

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Gehaltsfrage auf, die zu dem verhltnismßig hohen Einstiegsgehalt von 3600 Francs fhrte. hnliches gilt fr den Fall von Louis Langero, der 1905 whrend des Streiks als contrematre von Salindres nach Calypso gesandt wurde,127 obwohl der Austausch von Arbeitern zwischen den beiden Werken generell nicht erwnscht war.128 Die Direktion sttzte sich in ihrem Verhltnis zu den Arbeitern vehement auf diese innerbetriebliche Institution und strkte ihre Position damit wesentlich. Besonders deutlich wurde dies beim Streik der Aluminiumarbeiter in den franzçsischen Alpen im Jahr 1905, bei dem die Konflikte zwischen Arbeitern und Werksmeistern ein wesentlicher Anlass fr die Auseinandersetzungen waren. Ungeachtet des massiven Widerstandes der Belegschaft stellte sich die Direktion – in diesem Fall Adrien Badin – sofort und kompromisslos hinter die contrematres und surveillants. Auch als Badin noch kaum Informationen ber die neuen Konflikte in den Werken hatte, entließ er lieber eine große Zahl von Arbeitern der Stammbelegschaft als einen surveillant, gegen den sich die Massenproteste der Arbeiter richteten.129 Diese mittlere Hierarchieebene wurde also – anders als bei Bayer – von der Unternehmensleitung weiter gesttzt. Obwohl der Anteil des neuen technischakademischen Personals stetig gewachsen war, wurde die Institution des Werksmeisters nicht infrage gestellt. Ihre Rolle in der sozialen Struktur der Werke war zu wichtig.

Heterogene Arbeiterschaft als Determinante der Organisation Zwischen 1866 und 1913 wuchs die Bevçlkerung, die in der franzçsischen Industrie aktiv war, im Schnitt nur um 0,6 Prozent pro Jahr.130 Das allgemeine Wirtschaftswachstum nahm dabei einen sehr viel schnelleren Verlauf. Fr die hier untersuchte Zeitspanne muss also mit einem tendenziellen Mangel an aktiven Arbeitskrften gerechnet werden, die viele Firmen veranlassten, sich eng an lokale Arbeitsmrkte zu binden und Arbeitskrfte aus dem landwirtschaftlichen Sektor zu gewinnen. Eine klare Zuordnung der Arbeiter zu den einzelnen Sektoren war hufig schwierig. So war auch an den Produktionsstandorten von PCAC die Struktur der Arbeiterschaft sehr eng verwoben mit der regionalen Bevçlkerung, und PCAC sah sich dadurch mit unterschiedlichen sozialen Kontexten konfrontiert. Gerade die Situation in Salindres war fr das Unternehmen dabei von entscheidender Bedeutung, da ihm als erstem 127 128 129 130

Dossiers des agents ns avant 1900; Py 080-12-25928. Brief von Salgu s am 23. 6. 1898; Archives IHA 962502 Prim 6/9. Protokoll des conseil d’Administration vom 21. 9. 1905; Py 072/13/29960. Zahlen nach Caron, Histoire conomique, S. 27. Caron schließt daraus: „Diese Zahlen lassen erkennen, dass das Wachstum der franzçsischen Industrie ebenso vom Transfer innerhalb der Sektoren mit qualifizierten Arbeitskrften abhing wie vom Transfer aus der Landwirtschaft.“

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und grçßtem Standort des Unternehmens eine zentrale Bedeutung als Erfahrungsort zukam, von dem aus Grundmuster der Personalpolitik auf die anderen Standorte bertragen wurden. Eine saisonal schwankende Produktion, wie sie typisch fr die anorganische Chemie war, wre nicht ohne das Dorf von Salindres denkbar gewesen. Wie sehr der Firma diese Identitt zwischen Dorf und Betrieb bewusst war, belegt ein Zitat des Direktors der nach dem Krieg aufgekauften chemischen Fabrik von Eguilles, in dem er sein Werk mit der Stammfabrik von PCAC verglich: „Wir haben in Eguilles keine Arbeiterschaft, die, um es direkt zu sagen, uns gehçrt.“131 Die besondere Situation von Salindres soll anhand eines Querschnittes durch die Bevçlkerung dargestellt werden. In den Jahren 1891, 1896 und 1906 wurden im Ort Volkszhlungen (recensements) durchgefhrt, deren Ergebnisse heute noch in den Archiven der Stadtverwaltung zugnglich sind.132 Die detaillierteste Aufschlsselung der Bevçlkerungsstruktur von Salindres erlaubt dabei die Zhlung von 1891. In diesem Jahr umfasste der Ort 391 Huser mit 675 Haushalten. Schon zu dieser Zeit gab es 59 Haushalte, die nur eine mnnliche Person umfasste. Diese Haushalte kçnnen in einem lndlichen Kontext eindeutig den Fabrikarbeitern zugeordnet werden. Insgesamt zhlte das Dorf 2559 Einwohner. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Haushaltsgrçße von 3,8 Personen. Angesichts der Arbeiterzahlen der Fabrik und der Tatsache, dass im Unternehmen nur Mnner angestellt waren, lsst sich hieraus ablesen, dass im Schnitt davon ausgegangen werden kann, dass der mnnliche Hauptverdiener ganz oder teilweise in der Fabrik ttig war.133 Da die Landwirtschaft um das Dorf herum fortbestand, ist gleichzeitig zu vermuten, dass ein großer Teil der Belegschaft zumindest in gewissen Perioden auch einer zweiten Ttigkeit in der Landwirtschaft nachging. Eine Quelle aus der Zwischenkriegszeit belegt außerdem: „Es kann beobachtet werden, dass ein Großteil der franzçsischen Arbeiter kleine Landbesitzer sind, die ihr Haus und einige kleine Felder haben.“134 Die Statistik belegt die Stabilitt der Bevçlkerungsstruktur : 1027 Einwohner oder gut vierzig Prozent waren in Salindres geboren worden; die Anzahl derjenigen, die im Departement Gard geboren waren, lag bei 1864 (73 Prozent) und nur 381 Bewohner kamen aus anderen Departements (hiervon wiederum 75 Prozent aus den benachbarten Departements Ard che, Bouche du Rh ne, Loz re und Vaucluse). Daneben gab es aber 1891 auch 207 Bewohner auslndischer Staatsangehçrigkeit, von 131 Zitat von 1922; Py 00/13/19944. 132 Archives municipales de la communaut de Salindres; die Bestnde sind leider nicht systematisiert. 133 So werden in einer Untersuchung der Departementsverwaltung fr das Unternehmen im Jahr 1890 670 Chemiearbeiter, 60 Hilfsarbeiter, 14 Werksmeister und 17 surveillants genannt, insgesamt also 762 Beschftigte, eine Zahl, die sich bis zum Krieg um 50 Prozent steigern sollte; AD Gard, 9 M 40. 134 Note sur Salindres von 1920; Py 00/13/19553.

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denen 17 schon in Frankreich (in aller Regel wohl auch in Salindres) geboren worden waren. Die allgemeinen Statistiken der beiden folgenden Zhlungen sind weniger detailliert, doch lassen sie Schlsse auf die allgemeine Struktur der Bevçlkerung zu: die Zahl der Bewohner blieb bis 1896 nahezu unverndert (2566). Auch die Anzahl der Huser und der Haushalte vernderte sich kaum (388 und 670). Dagegen stieg der Anteil der auslndischen Bevçlkerung signifikant von 207 auf 276. Dies besttigt die verstrkte Anwerbung von Arbeitskrften in Italien. Dagegen stagnierte die lokale, in Salindres geborene Bevçlkerung. Auch in den benachbarten Gemeinden und Regionen konnten augenscheinlich nicht in ausreichendem Maße Arbeiter rekrutiert werden. Fr die Zeit bis 1906 kann nur eine stabile Bevçlkerungszahl besttigt werden, die sich leicht auf 2541 verringerte. Auch die Anzahl der Haushalte verringerte sich wesentlich auf 627, dagegen stieg die Anzahl bewohnter Huser auf 410, was einerseits fr den Nachzug der Familien aus Italien, andererseits fr einen verstrkten Bau von Husern und Unterknften durch das Unternehmen spricht. Die Anzahl der Auslnder wurde in dieser Statistik nicht mehr explizit aufgeschlsselt. Fr das Jahr 1896 sind neben der zusammenfassenden Statistik auch die registres de recensement berliefert. Die Bewohner des Ortes wurden nach Straßen geordnet aufgelistet, ihr Berufsstand, ihr Alter, ihr Familienstand und die Nationalitt angegeben. Diese Daten besttigen und ergnzen die oben gemachten Beobachtungen.135 Von den mnnlichen Bewohnern kçnnen ber neunzig Prozent nach ihrem Berufsstand zweifelsfrei der chemischen Fabrik zugeordnet werden. Besonders deutlich ist dies fr die Kategorie der ouvriers (Arbeiter). Das Durchschnittsalter dieser mnnlichen arbeitenden Bevçlkerung lag demnach bei 37,8 Jahren. Sie teilte sich in der Stichprobe in 75 Prozent Arbeiter, 9 Prozent Angestellte, 4,5 Prozent contrematres, 2,5 Prozent surveillants und 9 Prozent anderweitig Beschftigte auf. Gerade die grçßte Gruppe – die Arbeiter – bieten einen verhltnismßig reprsentativen Querschnitt durch die Bevçlkerung. Von diesen 151 waren nur 82 gebrtig aus Frankreich. Die brigen 69 kamen aus Italien. Diese italienischen Arbeiter waren im Schnitt ein wenig lter (37,5 Jahre alt) als ihre franzçsischen Kollegen (35,7), waren aber weitaus seltener familir gebunden. Nur 42 Prozent waren verheiratet, im Gegensatz zu 56 Prozent bei den Franzosen. Hinzu kommt, dass aufgrund ihrer Adressen zu erkennen ist, dass die meisten Verheirateten dennoch allein oder in Wohngemeinschaften mit anderen Arbeitern lebten. Die Arbeiter ließen also zumeist ihre Familien in Italien zurck, wenn sie nach Salindres kamen. Der Aufenthalt vieler Arbeiter 135 Aufgrund der hohen Datenmenge konnte den folgenden Betrachtungen nur ein Ausschnitt dieses Registres zugrunde gelegt werden. Ausgewhlt wurden hierfr die Bewohner der Rue Henri Merle, der Hauptstraße des Dorfes. Damit kann auf eine Menge von 203 mnnlichen Arbeitnehmern zurckgegriffen werden.

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war vermutlich nur auf eine kurze Zeit angelegt. Bei der Anwerbung der Italiener wurden diese Kriterien nachgeprft. Je nachdem, ob sie ihre Familie mitbringen wollten oder nicht, wurden sie an unterschiedlichen Standorten eingesetzt.136 Die niedrige Zahl der Auslnder, die in Salindres dauerhaft ansssig war, tuscht ber ihre tatschliche Funktion und Bedeutung fr das Unternehmen hinweg. So konnte ihre Zahl kurzfristig stark ansteigen, ohne dass sie von der lokalen Verwaltung registriert wurden. Geringe Aufenthaltsdauer und mangelnde soziale Bindung hatten direkte Konsequenzen auf die Karrierewege im Unternehmen. So war es den Italienern trotz ihrer großen Zahl kaum mçglich, auf die Posten von surveillants und schon gar nicht von contrematres zu kommen. Sie wurden vielmehr als flexibles Arbeitskrftepotenzial eingesetzt. Die vereinzelt nachvollziehbare Anstellungspraxis der Italiener in den Abteilungen belegt die These, dass sie ein flexibler Faktor im Kalkl des Unternehmens waren. So standen in der Abteilung der Bahnarbeiter von April bis August 1909 78 Personen auf der Gehaltsliste.137 Allein hiervon waren 55 Italiener.138 Sie wurden durchschnittlich nicht lnger als drei Monate und zehn Tage auf der Liste gefhrt, viele von ihnen waren auch nur fr einen Monat in Salindres. Die Prsenz in Salindres richtete sich nach einer verhltnismßig kurzfristigen und periodisch schwankenden Nachfrage nach Arbeitskrften. Festzustellen ist, dass es dabei auch bei den italienischen Gastarbeitern zu einem Netzwerkverhalten kam. Angeworben wurden hufig Familienmitglieder, meist Sçhne oder Brder der Arbeiter. So waren allein in dieser kurzen Zeitspanne in der Bahnabteilung fnf Mitglieder der Familie Pistoresi ttig.139 Auch sechs weitere Arbeiter brachten jeweils einen Verwandten in das Unternehmen mit. Damit ergeben sich fr Salindres klar vorgezeichnete Karrierewege: Einerseits die der Stammarbeiter, die mit einem bestimmten Dienstalter und der richtigen Nationalitt gute Chancen hatten, befçrdert zu werden, zum anderen die Saisonarbeiter, die nach dem Winterhalbjahr wieder nach Italien zurckkehrten, und nach Bedarf eingesetzt werden konnten. In Hinblick auf Bezahlung und Karrierewege blieben sie aber marginalisiert. Die geringe Anzahl von Arbeitskonflikten in Salindres, die erst im Vergleich mit den anderen Produktionssttten des Unternehmens auffllt, besttigte eine solche Personalstrategie des Unternehmens.140 So stellte die Segregation der italienischen Arbeiter von den franzçsischen an anderen Produktionssttten des Unternehmens oft ein gewichtiges Konfliktpotenzial dar. Schon 136 Brief von Boyoud an Bernard 29. 11. 1910; Py 00/12/20018. 137 Die Angaben beziehen sich auf die vollstndigen Gehaltslisten der Abteilung fr den Zeitraum zwischen April und August 1909; Py 080/12/5814. 138 Zwar ist die Nationalitt nicht explizit aufgefhrt, dafr aber die Familiennamen. Man muss sich also nach einer Analyse der Patronyme richten, die relativ eindeutig zuzuordnen sind. 139 Es handelt sich dabei um die Familie Pistoresi. 140 Capello, S. 57 ff.

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Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind fr die Salzwerke von Salin-de-Giraud solche Konflikte dokumentiert. Die Werksleitung beschwerte sich ber die „Schlgereien zwischen Italienern und Franzosen“ auf dem Salinengelnde.141 Bis zum Krieg blieben diese regelmßig wiederkehrenden Konfrontationen in Salin-de-Giraud im Gegensatz zu anderen Standorten augenfllig. Von den etwa 300 Arbeitern, die das Unternehmen zur Salzgewinnung in der Camargue beschftigte, wohnten nur wenige dauerhaft in dem Ort.142 Die meisten Arbeitskrfte waren vorbergehend angestellt, eine Verwurzelung mit dem Ort ergab sich nicht.143 Eine dauerhafte Bindung dieser Arbeitskrfte scheint von der Werksleitung auch zu keinem Zeitpunkt intendiert gewesen zu sein. Es gab kaum paternalistische Maßnahmen zugunsten der Bevçlkerung, obwohl diese Arbeiter erst vom Unternehmen an dem eigens gegrndeten Ort angesiedelt wurden. Die meisten Arbeiter wurden in primitiven Wellblechhtten untergebracht, die Hygiene- und Gesundheitssituation war aufgrund der Lage im Moorgebiet der Camargue außerordentlich schwierig.144 Gerade die Hrte dieser Lebens- und Arbeitsbedingungen fhrte von vornherein zu einem noch hçheren Anteil von Migranten unter der Arbeiterschaft. Die relativ schlechte Behandlung durch die Werksleitung und die mangelnde soziale Rckbindung fhrten zu einer hçheren Konfliktbereitschaft. Dies kam in den Streiks in Salin-de-Giraud in den Jahren 1897, 1906 und 1911 zum Ausdruck. Die Strategie der Werks- und der Unternehmensleitung war in diesen Fllen immer wieder geprgt von Hrte. Die protestierenden Arbeiter wurden meist entlassen, eine Politik, die nur deswegen mçglich war, weil die soziale Lage am Ort durch solche Maßnahmen nicht zustzlich destabilisiert wurde. Im Gegensatz zu Salindres und hnlich wie Bayer in Leverkusen konnte das Unternehmen hier die offene Konfrontation suchen.145 Dabei war von entscheidender Bedeutung, dass die Arbeit von der Salzernte abhing, also im Prinzip eine Saisonarbeit war, die zum berwiegenden Teil in den Sommermonaten anfiel. In der brigen Zeit des Jahres war nur ein kleiner Stamm von Arbeitern vor Ort.146 Es war blich, die meisten Arbeiter zum Saisonende wieder zu entlassen. Die Organisation von Arbeiterstrçmen veranlasste das Unternehmen schon frh zu einer ungewçhnlichen Maßnahme, die gleichzeitig seine starke Bindung an landwirtschaftliche Strukturen unterstrich: die Direktion kaufte 1882 die Domne von Faraman, die in der Nachbarschaft von

141 Brief der Werksleitung von Salin-de-Giraud an den Direktor der Exploitations des Salins de Midi, ohne Datierung [zwischen 1893 und 1894]; Py 00/12/20010. 142 Toussaint, 597 ff. 143 Toussaint, S. 534 f. 144 Historique du Salin-de-Giraud; Py 00/13/19954. 145 Briefwechsel des Direktors Perry mit der Unternehmensleitung, September 1911; Py 00/12/ 20018. 146 Toussaint, S. 597 ff.

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Salin-de-Giraud lag.147 Auf dieser recht großen Domne konnte in der Jahreshlfte, in der keine Salzernte anstand, ein Teil des Personals beschftigt werden. Ein kleiner Teil der Arbeiter sollte durch die landwirtschaftliche Ttigkeit, hnlich wie in Salindres, dauerhaft an den Ort gebunden und dadurch zu einer Stammbelegschaft werden. Die Domne stellte fr das Unternehmen zwar ein latentes Verlustgeschft dar, wurde wohl aber wegen dieser Funktion gehalten.148 Daneben diente der hier betriebene Weinbau auch als Experimentierfeld fr die chemischen Dngemittel des Unternehmens. Wie schwer es fr das Unternehmen war, die aus den bisherigen Erfahrungen gewachsene Personalpolitik an neue Anforderungen anzupassen, zeigt das Beispiel der Aluminiumproduktion in Savoyen. Zunchst versuchte die Unternehmensleitung auch hier eine Politik der „eisernen Hand“. Forderungen der Arbeiter sollte keineswegs nachgegeben, stattdessen auch hier die Position der Arbeiter weitgehend marginalisiert bleiben. Allerdings erwiesen sich hier die lokalen Strukturen als widerstandsfhiger. Eine latente Konfrontation zwischen den Werksleitern und den Arbeitern konnte weder in Calypso noch in St. Jean-de-Maurienne bis zum Krieg beseitigt werden. Davon zeugen zahlreiche Protestbewegungen gegen schrfere Disziplinarmaßnahmen.149 In den Jahren 1905 und 1906 erreichte die Protestwelle in dem Tal ihren Hçhepunkt, alle Werke der Aluminiumproduktion waren davon betroffen.150 Verglichen mit Salindres und Salin-de-Giraud zeigten die Arbeiter des Tals der Maurienne ein starkes Selbstbewusstsein. Es ging ihnen in den beiden Streikjahren zwar auch um eine Lohnerhçhung von 0,50 Francs pro Tag, doch war dies nicht ihr einziges Ziel. Sie verlangten außerdem, dass die Betriebszugehçrigkeit in der Hierarchie des Unternehmens eine Rolle spielen151 und die Macht der surveillants bedeutend eingeschrnkt werden sollte. Um dies durchzusetzen, traten die Arbeiter 1905 in den Streik.152 Im Gegensatz zu den nicht oder mangelhaft organisierten Arbeiterinteressen in Salindres und Salin-de-Giraud gab es im Tal der Maurienne schon bald mehrere gewerkschaftliche Interessenvertretungen, die als Zeichen fr dieses gestrkte Selbstbewusstsein der Arbeiter verstanden werden kçnnen.153

147 148 149 150 151

Ebd., S. 103. Studie zu PCAC 1913; ACL DEEF 21124. Etwa Protokoll des Conseil d’administration vom 7. 2. 1901; Py 072/13/29960. Ausfhrlich dokumentiert durch einen Privatfonds; Py Fonds PRIM. So sollten bei den Entlassungen im Winterhalbjahr in erster Linie die Letzteingestellten entlassen werden und eben nicht mehr die ltesten, wie es bislang Praxis war. Forderungen des Syndicats des ouvriers lectromtallurgistes et similaires vom 21.4. 1906; Py Fonds PRIM. 152 Py 072/13/29960 und Brief des Conseil d’administration des Syndicat d’ouvrier des usines de la Maurienne vom 8. 9. 1905: Py Fonds PRIM. Aus gleichem Anlass der Lyon Rpublicain vom 15. 9. 1905: „Die Aufseher der Fabrik von Calypso tun, wie es aussieht, ihr Mçglichstes, um die Arbeiter zu provozieren, sie zu einer unvorsichtigen Wortwahl zu reizen und sie anschließend unnachgiebig zu entlassen.“ 153 Brief des Arbeiters Victorin Gagni re vom 7. 5. 1906; Py FondsPrim.

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Anders als an den anderen Standorten konnten sich die Arbeiter des Tales koordinieren. Auch die Qualifikationsanforderungen an die Arbeiter waren hçher als an Standorten wie Salindres oder Salin-de-Giraud.154 Nicolas Bourginat hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass sich die Personalpolitik eines Unternehmens nicht beschreiben lsst, ohne Erwartungen und Akzeptanz solcher Maßnahmen durch die lokale Bevçlkerung mit zu analysieren.155 Die Koordination der Arbeiter im ganzen Tal gehçrte zweifelsohne zu den lokalen Gegebenheiten, denen sich das Unternehmen zu stellen hatte. Der Arbeitsmarkt im Tal der Maurienne war nicht primr durch verschiedene Qualifikationsstufen segmentiert, sondern in erster Linie rumlich begrenzt. Diesen homogenen regionalen Strukturen versuchten die Arbeitgeber durch die Koordination ihrer Interessen zu begegnen. Die Tarifvereinbarungen fr ein bestimmtes Gebiet wurden etwa von allen dort ansssigen Arbeitgebern gemeinsam getroffen.156 So teilten die Arbeiter von PCAC umgehend ihre Forderungen auch den Arbeitern des Konkurrenten SEMF mit, damit diese „nicht benachteiligt“ wrden.157 Die Unternehmensleitungen reagierten hierauf ihrerseits mit gegenseitigen Absprachen.158 Daneben versuchte PCAC schon frh, Maßnahmen gegen die starke Stellung der Arbeiter im Tal zu ergreifen. Die Anwerbung von Italienern gehçrte zum erprobten Maßnahmenkatalog des Unternehmens, den es auch hier wie in Salindres anwenden wollte. Dagegen scheiterte die Direktion mit den Bemhungen, Arbeiter von Salindres nach Savoyen zu schicken, da dies lediglich zu einer latenten Anpassung der Gehaltsforderungen an die çrtlichen Gegebenheiten fhrte.159 Eine weitere Quelle gibt Aufschluss ber die Verhltnisse der Arbeiter bei PCAC: die Gehaltslisten des Unternehmens. Durch die nachtrglich in Auftrag gegebenen Berechnungen der Durchschnittseinkommen der Arbeiter in Salindres vor 1914 ist es nicht nur mçglich, deren soziale Verhltnisse zu beurteilen und mit den anderen Unternehmensstandorten zu vergleichen; daneben kann auch beurteilt werden, nach welchen Kriterien das Unternehmen seine Belegschaft zu differenzieren suchte.160 Wie schon bei Bayer ist dabei auch hier der Unterschied zwischen Produktionsarbeitern und Handwerkern 154 155 156 157

Cailluet, S. 33. Bourginat, S. 48. Statistiques des gr ves et des recours la conciliation, hrsg. v. Office du travail, Jahr 1905. Brief des Syndicats des ouvriers mtallurgiste et similaires de la Maurienne an die Direktion der SEMF vom 21. 4. 1906; Py Fonds PRIM; daneben Py 00/13/19941. 158 Aufruf an die Arbeiter der Compagnie des Mines de Maurienne, der Compagnie des Mines et Usines de St.Michel et Sordi res, der Papeterie du Mont-Denis und der Socit d’ElectroChimie; „Au personnel …“, Anhang zu Toussaint. 159 Brief von A. Salgu s vom 6. 6. 1898; Py IHA 962502 Prim 6/9. 160 Die Angaben beziehen sich auf ein Dossier, das von der Unternehmensleitung mit zeitlichem Abstand nach dem Zweiten Weltkrieg in Auftrag gegeben worden ist, und das versucht, die Lohnsituation an den einzelnen Standorten fr die Zeit vor 1914 mçglichst detailgetreu nachzuzeichnen; Py 080/12/5949.

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signifikant. Whrend ein Handwerker in Salindres im Schnitt 4,48 Francs pro Tag verdiente, kam ein Arbeiter nur auf 3,75 Francs. Wenn aus dieser Berechnung die surveillants herausgenommen werden, die einen Zuschlag von knapp zwanzig Prozent bekamen, so bleibt fr die Arbeiter ein durchschnittlicher Lohn von 3,54 Francs. Damit nderte sich die Bezahlung der Arbeiter zwischen 1890 und dem Kriegsbeginn kaum; im Jahr 1889 wurde die Entlohnung der Arbeiter mit 3 bis 3,50 Francs pro Tag angegeben.161 Gerade im Vergleich zu den anderen Standorten zeigt sich hier einmal mehr die wenig dynamische Entwicklung der Arbeiterschaft von Salindres, eine Situation, die wiederum mit dem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeiter zu begrnden ist. Die Arbeiter hatten wenige Mçglichkeiten, hçhere Lohnzahlungen durchzusetzen. Eine Prmienzahlung gab es nur fr die contrematres und surveillants. Eine wesentliche Steigerung des Einkommens fand damit nur am Karriereanfang statt. Die Arbeiter, die als apprentis ab einem Alter von 13 Jahren in dem Unternehmen arbeiten konnten, bekamen zunchst einen Tageslohn von 1,25 Francs. Nach ihrer Ausbildung oder einer sechsjhrigen Einarbeitungsphase wurde ihre Bezahlung dann auf drei Francs erhçht. In den nchsten drei bis fnf Jahren erreichten sie in der Regel ihre endgltige Lohnstufe. Wenn auch die Unterschiede der Bezahlung bei den einzelnen Ttigkeiten relativ gering waren, so fallen doch umso deutlicher die unterschiedlichen Arbeitszeiten auf. Whrend die Handwerker in der Regel schon einen freien Tag in der Woche hatten und damit ihr Lohn auf 310 Tage pro Jahr berechnet wurde, waren die Arbeiter im Prinzip fr 365 Tage im Jahr verpflichtet.162 Es ist wohl davon auszugehen, dass in der Praxis kaum ein Arbeiter ohne Unterbrechung ein Jahr fr das Unternehmen ttig war, da – wie schon beschrieben – viele von ihnen nebenher landwirtschaftliche Ttigkeiten ausbten oder nur zeitweise in Salindres waren. Die tglichen Arbeitszeiten sahen kaum Pausen vor. Der Tag war fr die meisten Produktionen in zwei Schichten zwçlf Stunden eingeteilt, in denen allerdings im Werk gegessen und etwaige Erholungsphasen verbracht wurden. Nur in den Produktionsbereichen, in denen unter erschwerten Bedingungen besonders sorgfltig gearbeitet werden musste, in erster Linie dort, wo hohe Temperaturen herrrschten oder Atemschutz dauernd nçtig war, lagen die Arbeitszeiten bei acht bis zehn Stunden.

161 AD Gard 9 M 40. 162 Py 080/12/5814.

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Personal disziplinieren und Personal binden In der Mehrzahl der großen Unternehmen liefen unternehmerische Handlungsanstze gegenber dem Personal auf eine Disziplinierung und Stabilisierung hinaus; auch PCAC bildete hier keine Ausnahme. Kristallisationspunkt einer solchen Strategie war der Umgang des Unternehmens mit Arbeitskonflikten, zu denen es an den verschiedenen Produktionssttten immer wieder kam. Fr das ruhige und konfliktarme Salindres gibt es in den Quellen zwischen 1890 und 1914 nur eine Erwhnung, die auf einen latenten Konflikt schließen lsst. Am 21. 5. 1890 spricht Alfred Pechiney gegenber dem in Paris lehrenden Professor Henry Saint-Claire Deville von den „Sorgen, die uns die anhaltenden Streiks in unserer Region machen“.163 Die genauen Ursachen dieser Streiks und ihre Auswirkungen auf Salindres sind nicht bekannt. Aus dem sprlichen Zitat lsst sich lediglich schließen, dass es sich um einen Konflikt handelte, der nicht allein auf Salindres beschrnkt war und dadurch wohl nicht auf Konflikten innerhalb der Fabrik beruhte. In Salindres, wo es vor den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts keinerlei gewerkschaftliche Bewegungen gab,164 waren Arbeitskmpfe sehr selten, an anderen Standorten des Unternehmens kam es hingegen hufiger zu Konflikten, auf die die Firmenleitung mit Hrte und Kompromisslosigkeit in den Verhandlungen reagierte. Immer wieder wurde von kleineren und grçßeren Unruhen in Salin-de-Giraud berichtet und nach dem Streik von 1905/06 galt Gleiches auch fr das Tal der Maurienne. In Giraud bemhten sich die Direktion des Werkes und auch Alfred Pechiney selbst immer wieder darum, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Die Mittel waren dabei zunchst drakonisch. In Abstimmung mit der nahe gelegenen Fabrik von Solvay deklarierte Pechiney die noch vor der Jahrhundertwende kontinuierlich anwachsende Arbeitersiedlung als Gemeinde und engagierte sich fr die Ansiedlung eines Polizeipostens. Auf diese Weise sollten staatliche Institutionen mithelfen, die fragile soziale Lage am Standort zu stabilisieren.165 Bereits ein Jahr spter freute sich Pechiney darber, dass die Einsatzkrfte des Polizeipostens eingriffen, als Konflikte unter den Arbeitern ausgebrochen waren.166 Ist diese Einbindung der Staatsmacht fr die Verfolgung der eigenen unternehmerischen Ziele schon erstaunlich genug, so wurden diese Maßnahmen noch bertroffen durch die Beschreibung, die Pechiney dem Conseil d’administration im Herbst 1897 vom Verlauf der Salzernte dieses Jahres gab: „Die Salzernte verlief in diesem Jahr sehr ruhig, was die Arbeiter angeht. Das konnte man nach den Vorkommnissen zwischen den franzçsischen und italienischen Arbeitern bei Solvay kaum erwarten. Es kommt von den gnstigen Maßnahmen, die vor 163 164 165 166

Py 00/12/20009. Capello, S. 54 ff. Protokoll vom 1. 8. 1896; Py 072/13/29960. Protokoll vom 26. 7. 1897; Py 072/13/29960.

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allem in einer sorgfltigen Auswahl der eingestellten Arbeiter und ihrer gleichzeitigen Isolierung von den nicht eingestellten bestanden.“167

Alles deutet also darauf hin, dass Pechiney nicht davor zurckschreckte, seine Arbeiter von der Außenwelt zu isolieren, um sie zu disziplinieren. Auch wenn die Arbeiter bei den Gehaltsverhandlungen hufig einen gewissen Ausgleich erzielen konnten,168 geriet diese repressiv-paternalistische Politik von Pechiney und dem jeweiligen Produktionsdirektor in Salin-de-Giraud immer mehr in die Defensive, als sich die Produktion ausweitete. Die autoritre Politik des Unternehmens war sptestens mit dem Streik von 1911 hinfllig. Auf diese Konflikte reagierte das Unternehmen mit hnlich drastischen Methoden, die allerdings den Arbeitskampf nur verschrften: Die streikenden Arbeiter wurden nicht wieder zur Arbeit zugelassen, sondern auf eine schwarze Liste gesetzt.169 Diese Politik wurde vor allem bei den drei Werken in den franzçsischen Alpen hufig angewendet. Seit den Streiks von 1905, die wie ein Schock wirkten, war Adrien Badin als Hauptbevollmchtigter fest entschlossen, den Arbeitern in den Aluminiumwerken nicht nachzugeben, auch wenn das Angebot an Arbeitskrften in dieser Region nicht unbegrenzt war. Badin beschrieb sein Vorgehen dem Conseil d’administration wie folgt: „[…] auf keine Forderung eingehen, die Produktion vollstndig anhalten, die Arbeiter entlassen und ausbezahlen und solange wie nçtig warten, bis sich das Personal neu zusammengefunden hat, mit handverlesenen Personen, die die aktuellen Arbeitsbedingungen ohne nderungen akzeptieren.“170

PCAC sprach sich mit den regionalen Arbeitgebern ab, insbesondere mit dem Prsidenten der SEMF, Emile Vielhomme, um, wie es in Giraud mit Solvay geschehen war, die Strategie gegenber den Arbeitern festzulegen. Vielhomme verfolgte jedoch augenscheinlich nicht die gleiche Politik wie Badin und bemhte sich, sehr zum rger des directeur von PCAC, um eine einvernehmliche Einigung mit den Arbeitern.171 Unbeeindruckt von den ersten Streiks stellte die Fabrikleitung schon im Herbst 1905 fest, dass es zwar zeitweilige Produktionsausflle von 300 Tonnen Aluminium gegeben habe, dass man allerdings nun von den stçrenden Elementen in der Belegschaft befreit sei und daher mit einer in Zukunft gesteigerten Produktivitt rechnen kçnne.172 Im nchsten Jahr zeigten noch intensivere Streikbewegungen im Tal das ganze Ausmaß dieser Fehleinschtzung. 167 168 169 170

5. 10. 1897; Py 072/13/29960. Toussaint, S. 597 ff. Briefwechsel vom 8. und 11. 9. 1911; Py 00/12/20018. Protokoll vom 25.4.1906. Py 072/13/29960. Brief von Badin an die streikenden Arbeiter mit der Aufforderung, sich auszahlen zu lassen; Py Fonds Prim. 171 Brief vom 16. 4. 1906 von Badin an Emile Vielhomme; Py Fonds Prim. 172 Protokolle vom 5. 7. 1905; Py 072/13/29960.

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Dennoch hielt Badin an seiner Auffassung fest, dass nur eine harte Politik des Unternehmens gegenber seinen Mitarbeitern zum Erfolg fhren kçnne und nur hierdurch langfristig verbesserte Produktionsverhltnisse erzielt wrden.173 Diese Einschtzung erwies sich auch spter als unzutreffend, da die Konflikte von 1906 die Situation ebenfalls nicht dauerhaft befriedeten. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es vielmehr immer wieder kleinere und grçßere Konflikte, wie die Krise um die Entlassung eines Arbeiters im Folgejahr174 oder die gerade noch abgewendeten Unruhen im ganzen Tal im Jahr 1911.175 Das Unternehmen nahm Konflikte immer wieder billigend in Kauf, Verhandlungen wurden kaum gefhrt. Wie schon im Fall von Bayer gesehen, fllt es schwer, diese Strategien mit gngigen Konzepten des Paternalismus angemessen zu interpretieren.176 Zwar kann die Situation in Salindres mit diesem Prisma erfasst werden, doch in den anderen Unternehmensteilen gelingt dies nur unvollstndig. Wichtigstes Ziel des Unternehmens war hufig nicht die Stabilisierung der Belegschaft, sondern die Einschrnkung der Handlungsspielrume der Arbeiter und ihrer Verhandlungsmacht. Im Tal der Maurienne wollte das Unternehmen in erster Linie erreichen, dass im Bedarfsfall ausreichend viele Arbeiter fr die Werke zur Verfgung standen, daneben aber auch Konflikte vermeiden, wenn diese Arbeiter in der weniger aktiven Wintersaison entlassen oder geringer entlohnt wurden. Diese Strategie funktionierte bei PCAC nur im Zusammenspiel mit der Einrichtung von Wohlfahrtsinstitutionen. Das latent konflikttrchtige Verhltnis zur lokalen Bevçlkerung an den Standorten der Aluminiumproduktion machte auch den Einsatz und die Ansiedlung einer ungebundenen, mançvrierfhigen Arbeiterschaft notwendig. Hieraus begrndete sich in Calypso, noch mehr aber im neu aufgekauften Werk von St. Jean, die Einrichtung von Institutionen zur Untersttzung des flexiblen Belegschaftsanteils, der im Unternehmenskalkl eine so große Rolle spielte. Der Bau von Unterknften war von entscheidender Bedeutung fr die Anwerbung von italienischen Saisonarbeitern. Kurz vor dem Krieg wurde eine caisse de secours gegrndet, in die jeder Arbeitnehmer einzahlen musste.177 Lebensmittellden und Kantinen vervollstndigten das Angebot von Wohlfahrtsinstitutionen.178 Bis 1919 wurde die Kapazitt der Unterknfte und der Kantine allerdings immer noch mit lediglich 38 Personen angegeben. Dies ist ein Hinweis auf die begrenzte Bedeutung solcher Einrichtungen im Unternehmen, wenn man bedenkt, dass rund 500 Personen im Tal bei PCAC beschftigt waren. Diese Maßnahmen

173 174 175 176 177 178

Brief vom 30. 8. 1906; Py Fonds Prim. Py Fonds Prim. Brief von Boyoud in St. Jean an Adrien Badin vom 19. und 20. 8. 1911; Py 00/12/20018. Noiriel, Longwy, S. 164. Bericht ber die sozialen Verhltnisse in St. Jean, 1919; Py 00/13/19941. Py 00/13/19950; Bericht ber die sozialen Verhltnisse in St. Jean 1919; Py 00/13/19441.

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richteten sich also nicht an die lokale Mehrheitsbevçlkerung, sondern an die italienischen Saisonarbeiter. Das Konzept eines industriellen Paternalismus reicht kaum aus, um die Situation bei PCAC umfassend zu erklren. Dort, wo Elemente eines klassischpaternalistischen Ideologie- und Sozialangebotes zu finden waren – in den Fabriken in Savoyen –, entsprachen diese weder mengenmßig noch nach ihrem Charakter den Bedrfnissen der lokalen Bevçlkerung, wie Nicolas Bourginat berzeugend gezeigt hat.179 Vielmehr waren sie an eine kleine Gruppe von Arbeitern gerichtet – zum guten Teil an die italienischen Saisonarbeiter –, um diese im Sinne des Unternehmens flexibel einsetzen zu kçnnen. In Salindres war hingegen die Personalpolitik der Firma eher auf die Stammbevçlkerung ausgerichtet. Pechiney selbst erluterte dem Conseil d’administration im Jahr 1903 den Sinn einer solchen Politik, durch die in Salindres nicht nur eigene Wohlfahrtsinstitutionen gegrndet wurden, sondern auch staatliche Institutionen wie die Schulen untersttzt wurden: „[Pechiney] denkt, […] dass es gnstig wre, den Blick auf die Patronage und hnliche Arbeitsformen zu richten, die – wenn sie gut organisiert sind, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kçnnten, die Traditionen und die Gutwilligkeit in Salindres aufrechtzuerhalten. Er schlgt daher vor, solche Vorhaben ebenso zu untersttzen, wie man es bisher bei den Werkschulen getan habe.“180

Und auch knapp zehn Jahre spter galt die Politik des Unternehmens im Dorf auch nach Ansicht der regionalen Presse als vorbildlich: „Auf lokaler Ebene verdient die Fabrik von Salindres besondere Erwhnung: sie hat die soziale Selbstversicherung der Arbeiter finanziell untersttzt: seit der Grndung hat sie fr ihre Arbeiter eine Rentenkasse eingerichtet, lange bevor die gesetzlich vorgeschrieben wurde, und sie gibt ihren frheren Arbeitern eine Untersttzung, die sich nach den Dienstjahren in der Fabrik richtet. Dies fhrte zur ungebrochenen Loyalitt der Arbeiterbevçlkerung von Salindres in den 55 Jahren der Existenz der Fabrik. Die Arbeitsmedaillen sind hier weitverbreitet und werden mit Stolz getragen, und man sieht nun hufig, wie die Vter ihre Sçhne damit auszeichnen und man stellt fest, dass drei Generationen derselben Familie den gleichen Weg gehen, der zur Fabrik fhrt.“181

Der Ort war geprgt von seinen landwirtschaftlichen Strukturen und von der damit verbundenen hohen Flexibilitt zwischen der im Winter besonders aktiven Fabrik182 und der landwirtschaftlichen Arbeit im Sommer. Er stellte 179 180 181 182

Bourginat. Protokoll vom 28. 5. 1903; Py 072/13/29960. Nmes et le Gard, August 1912, S. 11. Soviel geht aus einem Brief von Boyoud an einen Notar in Lyon hervor, 29. 11. 1910; Py 00/12/ 20018.

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ein weitgehend stabiles soziales Gefge dar. Die Beibehaltung dieser Stabilitt lag im Interesse des Unternehmens.

Konvergenz unternehmerischer Interessen und lokaler Rume Auch bei PCAC gab es ein verhltnismßig leicht zu fassendes unternehmerisches Angebot kultureller Institutionen und Werte, durch das die Unternehmensleitung eine gemeinsame Identitt in der Belegschaft zu erzeugen versuchte. Im Vergleich mit anderen Großunternehmen der Zeit und auch im Vergleich mit Bayer erreichten diese Angebote allerdings nur ein bescheidenes Ausmaß. Sie lehnten sich weitgehend an vorgefundene lokale Kontexte an, sie konnten also nicht vollstndig geplant werden. Die Untersttzung von staatlichen Schulen in Salindres, aber auch an anderen Standorten liefert hier ein erstes Beispiel fr die Funktionalisierung lokaler Institutionen.183 In diesem Sinne prgte das Unternehmen nicht nur die gesellschaftliche Struktur, sondern auch die politische Kultur der jeweiligen Produktionssttten. Der Unternehmer wurde nicht in Konkurrenz zu den lokalen Behçrden gesehen, sondern er bernahm deren Funktion mit. Seit der Grndung des Unternehmens bis weit nach dem Krieg wurde der Leiter des Unternehmens in Personalunion auch zum Brgermeister von Salindres gewhlt;184 und auch umgekehrt erschienen zwei Verwaltungsangestellte fr ihre Ttigkeit in der administration municipale in den Gehaltslisten des Unternehmens.185 Daneben gab es seitens der Werksleitung einen Kanon von kodierten Signalen, die an verschiedenen Orten und bei unterschiedlichen Gelegenheiten bermittelt wurden, und die einen gemeinsamen Wertekatalog bei den Werksangehçrigen verankern sollten. Hier sind zumindest einige Elemente einer solchen symbolischen Vermittlung von unternehmerischer Identitt darzustellen: In mehreren Dokumenten wird zum Beispiel erwhnt, wie wichtig Arbeitsmedaillen fr die Belegschaft in Salindres sind. Die Verleihung solcher Medaillen gehçrte nicht nur zu den Hçhepunkten einer Arbeiterkarriere, durch die sich ein Stammarbeiter endgltig von den flexiblen Saisonarbeitern abhob;186 die so Ausgezeichneten wurden vom Unternehmen auch gezielt eingesetzt, um die Bedeutung bestimmter Veranstaltungen zu unterstreichen. So erschien dem Direktor von Salindres fr die Beerdigung eines Arbeiters die Prsenz von „vier, mit der Unternehmensmedaille ausgezeich183 So etwa in Salin-de-Giraud; Protokoll vom 1. 8. 1896; Py 072/13/29960. 184 Archives municipales de Salindres. 185 Zu belegen fr den Chef de la Comptabilit der Administration gnrale Chatrier, der neben seinem normalen Verdienst fr das Unternehmen noch 600 Francs im Jahr von PCAC fr seine Arbeit bei der Stadt Salindres erhielt; Gehaltslisten Salindres Ende 1906; Py 080/12/5814. 186 Artikel in Nmes et le Gard, August 1912.

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neten Arbeitern“187 als angemessen. Die Unternehmensleitung versuchte hiermit, Stabilitt in den Arbeitsverhltnissen als positives Bild zu besetzen und eine Art Arbeiteradel auch in einem kleinen Ort wie Salindres zu installieren. Im Bewusstsein der lndlichen Bevçlkerung sollte damit eine ber Generationen dauernde potenzielle Verfgbarkeit fr das Unternehmen signalisiert werden, wobei die Wirkung sich vornehmlich auf die Stammbevçlkerung erstreckte und kaum die nur kurzfristig anwesenden Saisonarbeiter einbezog. Auch zur Kirche, deren Bedeutung im lokalen Kontext als besonders groß zu gelten hat, waren diese Beziehungen von Bedeutung. Bei einem Priesterwechsel kam nicht nur der neue Priester wie selbstverstndlich zunchst ins Werk und zum Unternehmensleiter, um sich vorzustellen.188 Dieses Ereignis wurde vom Unternehmen auch als wichtig genug erachtet, um die Direktoren und Werksleiter an den weit entfernten Standorten ber den neuen Mann in Kenntnis zu setzen. Auch der Bischof von Nmes kam immer wieder ins Werk, um dort Besuche bei den Arbeitern zu machen.189 In Ergnzung zur weitgehenden Nutzung und Untersttzung eines stabilen, lokalen Referenzrahmens, in den die betrieblichen Strukturen sowohl in sozialer als auch in rumlicher Hinsicht eingepasst wurden, experimentierte das Unternehmen allerdings auch mit Formen von klassischen, betrieblich gesteuerten Kulturinstitutionen, wie dem Werkschor oder einer Werksblaskapelle.190 Solche paternalistischen Angebote waren allerdings nur in Salindres von Bedeutung. Bei entsprechenden Anlssen waren die Werksleitungen der anderen Standorte sogar darauf angewiesen, die Musikkapelle von Salindres auszuleihen.191 Diese engen Beziehungen zwischen Ort und Werk machten interne Oppositionsbewegungen gegen das Unternehmen unwahrscheinlich und auch ein çffentlich-kritischer Diskurs ber das Unternehmen war selten, konnte allerdings auch immer wieder vorkommen.192 Schon zu Beginn der neunziger Jahre wurde von den Bewohnern des Ortes bei dem zustndigen Conseil d’Hygine des arrondissements d’Alais eine erste umfangreiche Klage gegen das Werk in Salindres eingereicht. Hauptpunkt der Beschwerden waren dabei einerseits die Ernterckgnge, andererseits das Sterben der Bume.193 Abbildung 5 zeigt ein Luftbild von Salindres:194 187 188 189 190 191 192 193 194

Brief an Badin vom 25. 11. 1912; Py 00/12/20012. Brief an Boyoud von Vittenet am 16. 10. 1912; Py 00/12/20012. Brief von Salindres an Badin vom 21. 1. 1913; Py 00/12/20012. Nach den Werksfotografien von 1890 bzw. 1896 sind demnach ein Chor mit 36 und eine Blaskapelle mit 43 Mitgliedern belegt; Py 00/12/20011. So eine entsprechende Anfrage von Direktor Perry in Salin-de-Griaud an die Direktion in Salindres, 30. 6. 1911; Py 00/12/20018. Hierzu auch Hartmann, Projektionsflche. Historique du Salindres [1919]; Py 00/12/20011. Py 00/13/19952.

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Abbildung 5: Luftbild von Salindres, um 1911.

Wie bei vielen frheren Beschwerden gegen die Industrie wurde auch in diesem Fall dem Unternehmen eindeutig recht gegeben. Daran nderte auch die Tatsache nichts, dass die Bauern einen sehr direkten materiellen Schaden geltend zu machen versuchten. Die Richter sahen das Unternehmen nicht in der Pflicht und schlossen: „Auch wenn zugegeben werden muss, dass hierdurch persçnliche Interessen betroffen werden und Anlass zu gerechtfertigten Forderungen geben kçnnen, sind diese Handlungen [des Unternehmens] doch zu begrenzt, um aus der Perspektive des allgemeinen Interesses Beachtung zu finden.“195 Die anderen Produktionsstandorte von Pechiney waren in ihrer Nutzung des Raumes ebenfalls nicht bescheiden. In Salin-de-Giraud, dem Salinengebiet in Sdfrankreich, war die Landschaft selbst ein Teil des Unternehmens. Die zur Verfgung stehenden Smpfe der Camargue waren nicht nur Produktionsort, sondern auch -werkzeug. Die Qualifikation der Arbeiter wurde darin gesehen, dass sie mit der geographischen Situation vertraut waren. In den Personalunterlagen findet sich hufiger der Vermerk, dass ein Mitarbeiter sich „gut im Landstrich auskennt.“196 Die ganze Landschaft war ber weite Strecken hinweg von der Salzgewinnung geprgt (siehe Abbildung 6).197 195 Urteil von 1890; Py 00/13/5814. 196 Brief von Berne an Salindres vom 28. 4. 1909; Py 080/12/5814. 197 Py 00/12/20012.

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Abbildung 6: Salzernte in Salin-de-Giraud [ohne Datum].

Die Aluminiumproduktion in den Alpen war angewiesen auf die Wasserkraft und damit auch auf die barrages (Talsperren), die ber dem Tal der Maurienne in Savoyen lagen. Arbeiter waren hierdurch nicht ausschließlich an einem Ort konzentriert. Sie arbeiteten nicht nur in den vielen kleineren Fabriken im Tal, sondern auch in den Bergen sowie an den Talsperren und berwachten die Wasserrohre. Mit dieser Konvergenz von Raum und unternehmerischer Kultur standen auch die Werte in Zusammenhang, die sich auch aus den Gratifikationsvorschlgen der Direktoren der einzelnen Werke herauslesen lassen. Selbststndigkeit der Mitarbeiter stellte das Unternehmen immer wieder gesondert heraus und war bereit, solche Qualitten entsprechend zu honorieren.198 Auch schien es dem Direktor erwhnenswert, wenn ein Meister die Fhigkeit hatte, von den ihm zugeteilten Arbeitern eine besonders hohe Leistung fordern zu kçnnen oder unter besonderer Arbeitsbelastung zu arbeiten. Ein M. Roux wurde der Verwaltung besonders ans Herz gelegt, da er sehr seriçs und arbeitsam sei und darber hinaus „– eine Sache, die gerade in unserer geographischen Lage von Bedeutung ist, ber die besten Beziehungen zu allen anderen Mitarbeitern verfgt.“199 Diese Kommentare mssen als eine Formulierung von Werten, die das Unternehmen in seinem Inneren durchzusetzen wnschte, gelesen werden. PCAC brachte seine Organisation immer wieder in Verbindung mit solchen Formen von „verborgenem“ und vor allem „lokalem“ Wissen der Belegschaft. Es ging dem Unternehmen dabei allerdings weniger um ein aktives Wissensmanagement als um den Versuch, durch eine stabile Organisationsstruktur solche lokalen Wissensressourcen zugnglich zu machen und im Sinne der unternehmerischen Organisation ihre Integration in einen unternehmerischen Wertekanon zu erzielen. 198 Entsprechend wurden die Arbeiter als selbststndig (dbrouillard) oder fhig, sich selbst aus einer schwierigen Lage zu befreien, charakterisiert. Gehaltsvorschlge von Salin-de-Giraud von Direktor Berne an die Verwaltung in Salindres vom 19. 4. 1909; Py 080/12/5814. 199 Py 080/12/5814.

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Organisationslogiken Eine dynamische Rationalisierungslogik, deren Anfnge oft auf die Zeit vor 1914 datiert werden, gehçrte nicht zu den bestimmenden Paradigmen der Organisation bei PCAC. Das Unternehmen legte vielmehr seit seinen Anfngen Wert darauf, bestehende Verhltnisse zu stabilisieren. Die lokalen und regionalen Strukturen, die das Unternehmen in Salindres vorfand, wurden nicht nur genutzt, sondern auch ihrerseits durch die Zuwendungen des Unternehmens gestrkt und durch die Tatsache, dass sowohl Pechiney als auch Badin Brgermeister von Salindres waren, weiter gefestigt. Fr einen Unternehmer wie Alfred Pechiney war die Stabilitt des Unternehmens ein hoher Wert, eine nderung dieser Verhltnisse dagegen nicht wnschenswert. ber eine Verbesserung der Produktion nachzudenken, hieß fr Pechiney, aber auch spter fr Badin, den Einsatz der Produktionsfaktoren zu verbessern,200 nicht die Produktionen umzustellen oder in die sozialen Strukturen der Belegschaft einzugreifen. Dieses Bild der Arbeit, das sie als Produktionsfaktor ansah (oder : wahrnahm), konnte die sozialen Realitten kaum erfassen, war aber doch Grundlage einer bestimmten Organisationsvision, die fr die Gestaltung der internen Logik des Unternehmens von entscheidender Bedeutung war. Das implizierte nicht nur, dass die Arbeiter immer auf die gleiche Weise und in mçglichst festen sozialen Hierarchien arbeiteten, sondern auch, dass der Faktor Arbeit in beliebigem Maße zur Verfgung stand und nicht nur eine steigende, sondern auch eine sinkende Nachfrage einfach ausbalanciert werden konnte. Die flexible Anpassung der regionalen Arbeitsmrkte war danach zentrales Anliegen der Unternehmensleitung. Schon frh spielte hierbei die Anwerbung italienischer Gastarbeiter fr das Unternehmen eine unverzichtbare Rolle. Dies belegt etwa ein Brief von Boyoud, in dem er auf die Anfrage eines italienischen Arbeiters einging, der bei PCAC arbeiten wollte: „Er msste uns sagen, ob er im Sommer nach Frankreich zu kommen gedenkt, um im Winter nach Italien zurckzugehen oder andersherum. Im ersten Fall wrden wir ihn in Savoyen einsetzen, wo wir Personal im Sommer bençtigen, im letzteren in Salindres, wo der Großteil der Arbeit im Winter stattfindet.“201

Doch beschrnkte sich eine solche Reflexion der flexiblen Strukturen nicht nur auf den Einsatz von Saisonarbeitern. Das Unternehmen nahm auch die flexiblen Mçglichkeiten eines landwirtschaftlich geprgten Arbeitsmarktes in Anspruch oder schaffte sich diese Strukturen selbst, wie das Beispiel der 200 So die Berechnung von Normalzeiten fr die Produktion in Salindres, 4. 4. 1905; Py 00/13/ 19953; Vorschlge zur Reduzierung der Stckkosten (prix de revient) in Giraud 26. 7. 1905; Py 00/13/19954. 201 Brief von Boyoud an den Notar Bernard in Lyon vom 29. 11. 1910; Py 00/12/20018.

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Domne von Faraman belegt,202 die in erster Linie gekauft wurde, um einen Kern von Saisonarbeitern auch in der Zeit zu beschftigen, in der keine Salzproduktion stattfand. Die dynamische Vernderung solcher Organisationslogiken kann nicht allein an der Figur des neuen Unternehmers Adrien Badin festgemacht werden, der ebenfalls ein weitgehend statisches Bild von der Produktionsorganisation hatte. Badin zog sich weiter aus dem Tagesgeschft sowie der Arbeitsorganisation zurck und berließ sie seinen Fabrikdirektoren. Vernderungen in der Gestaltung dieser Organisation wurden eher inspiriert durch die Vernderungen in der Produktion, sie geschahen also in Abhngigkeit von technischen Determinanten. Doch auch hier blieb die Organisationsvorstellung des Direktoriums weitgehend statisch. Als sich das Unternehmen 1901 in Calypso bemhte, die Produktivitt der Arbeit zu erhçhen, bestand die erste Maßnahme des neuen Direktors darin, den Druck an die Werksmeister weiterzugeben, damit diese fr eine Steigerung der Disziplin in ihrer Produktion Sorge trugen.203 Systemische Effekte, strukturelle Vernderung oder eine bloße Leistungsmotivation wurden von der Direktion nicht reflektiert. Staatliche Einflsse bewirkten allerdings, dass sich die Arbeitsorganisation vernderte. Ein Beispiel ist die Einfhrung des Gesetzes zum „Repos hebdomadaire“ im Jahr 1906, das einen Ruhetag in der Woche vorschrieb. Das Unternehmen weigerte sich lange Zeit, das Gesetz zu befolgen, zusammen mit den Vorschriften zum Acht-Stunden-Tag hielt es sich an den Standorten in den Alpen schließlich doch daran.204 Auf diese Weise waren die Direktionen der betroffenen Werke, also Calypso und St. Jean, darauf angewiesen, auch die Gruppeneinteilungen und die Arbeitsschichten zum ersten Mal zu berdenken. Auch wenn es ber lngere Zeit Mahnungen der Departementsverwaltung aufgrund der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes gab, so wurde es hier zumindest angewendet, whrend die Leitung von Salindres es bis 1914 weitgehend ignorierte.205 Diese Reflexion der Schichteneinteilung bildete die Grundlage fr die sptere Umstellung der Produktion von vier auf fnf gleichzeitig betriebene fen im Jahr 1911. Die Umstellung, so unscheinbar sie zunchst wirkt, war die erste Maßnahme, die die Gruppenarbeit effektiver gestallten sollte. Zum ersten Mal standen die Arbeitsgruppe und die Probleme der Arbeitsaufteilung im Mittelpunkt der berlegungen.

202 203 204 205

Toussaint, S. 103. 7. 2. 1901; Py 072/13/29960. 29./30. 4. 1906; Py 072/13/29960. Protokoll des conseil d’Administration vom 29./30. 4. 1908; Py 072/13/29960; Brief der Direktion in Paris vom 8. 9. 1906 zu den beiden Standorten; Py 00/12/20012; und Angaben zur Arbeitszeit in Salindres vor Ausbruch des Krieges; Py 080/12/5949; Fridenson, La multiplicit, S. 55 ff.

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Zeitgleich wurden in den Vorkriegsjahren auch die Lohnzahlungen umstrukturiert. Die Werksfhrung schaffte die alten Gratifikationszahlungen ab und ersetzte sie durch eine leistungs- und stckbezogene Bezahlung.206 Bei PCAC tauchten die ersten tayloristischen Zeitstudien erst 1944 auf.207 Lange Zeit war also das Unternehmen von einer systematischen Analyse im Sinne betriebswirtschaftlicher Arbeitsorganisation weit entfernt. Doch dessen ungeachtet bleibt fr die Zeit vor 1914 festzuhalten, dass sich das bislang statische Arbeitsfeld langsam dynamisierte. Die Genese einer systemischen Rationalitt, die heute im Vordergrund vieler berlegungen zur Handlungsnormierung und -orientierung im Unternehmen steht,208 wurde zum Ende des Untersuchungszeitraums langsam aus der Abhngigkeit von lokalen Strukturen gelçst.

206 20. 2. 1911; Py 00/12/20018. 207 Eine solche Studie wurde 1920 fr St. Jean angefertigt; Py 00/13/19950; Py 080/16/6235. 208 Luhmann; Tacke, Systemrationalisierung; Schreyçgg, Organisation und Postmoderne.

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3. Planung und Kontingenz – Determinanten und Optionen in der Organisation von chemischen Unternehmen Wird der Begriff der Organisation als Planungshandlung verstanden, sind die Unterschiede zwischen Bayer und PCAC offenkundig. Gerade unter der Fhrung Carl Duisbergs wurde bei Bayer versucht, jedes Moment des betrieblichen Lebens, aber auch des Privatlebens vieler Akteure schriftlich zu fixieren und zu normieren. Demgegenber waren die Eingriffe in solche betrieblichen Realitten bei PCAC weit weniger deutlich, das Unternehmen sttzte sich mehr auf die vorhandenen sozialen Strukturen der Belegschaft. Doch eine ausschließliche Analyse der planerischen Entwrfe wre nicht im Sinne der eingangs getroffenen Konzeptbestimmung einer interaktiven Organisation, die durch das Wechselspiel zwischen den betrieblichen Akteuren sowie dem Produktionssystem und seiner Umwelt gekennzeichnet ist. Im Sinne eines solchen Konzeptes sollen hier einige Kriterien gefunden werden, an denen sich Unterschiede und hnlichkeiten der beiden Unternehmen bestimmen lassen. Ein erster Indikator ist die Sozialstruktur der Unternehmen, zum einen in Hinblick auf die Belegschaften, zum anderen auf die Unternehmer und die mittlere Hierarchieebene. Sowohl in den lndlichen Regionen der franzçsischen Provinz als auch an dem zunchst noch kaum bewohnten Standort Leverkusen mangelte es an Arbeitskrften. In Salindres wurden zustzlich zu den regulren Arbeitskrften Saison- und Migrationsarbeiter angeworben, um dieses Problem zu bewltigen. Die vielen Arbeiter, die nur befristet eingestellt wurden, versuchte das Unternehmen auf verschiedene Art und Weise an den Betrieb zu binden; so war ein Großteil der Belegschaft gleichzeitig in der Landwirtschaft ttig. Diese hybride Kategorisierung der Arbeiter war in einem Großteil der franzçsischen Industriebetriebe blich, wenn auch bislang vorwiegend im Bergbau und in der Metallindustrie.1 Daneben rekurierte das Unternehmen auf Arbeitsmigranten, die es schnell und flexibel einstellte, ohne sie dauerhaft an das Unternehmen zu binden. Bei Bayer dagegen galt das Leitbild einer Vollbeschftigung der Arbeiter. Die Arbeiter, die aus teils weit entfernten Regionen nach Leverkusen kamen, arbeiteten ausschließlich im Werk, wenn auch hufig nur fr kurze Zeit. Doch auch an diesen Fluktuationsbewegungen der Arbeiter hatte das Untenehmen ein eigenes Interesse. Zwar waren die saisonal bedingten Produktionsschwankungen bei Bayer weniger ausgeprgt als bei PCAC, allerdings zeigte sptestens der Streik von 1904, dass sich das Unternehmen darum bemhte, eine zu starke soziale Vernetzung seiner Belegschaft zu verhindern. In diesem Sinne war auch bei Bayer der Aufbau einer stabilen Belegschaft nicht das einzige Interesse der Unternehmensleitung. 1 Kaelble, Mythos, S. 71.

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Aus diesen Erfahrungen entwickelte das Unternehmen ein Bewusstsein fr die sich verschrfenden sozialen Konflikte innerhalb der stark expandierenden Belegschaft. Gleichzeitig galt es, die Wirkung solcher Konflikte zu beschrnken, um eine mçglichst kontinuierliche und flexible Handhabung des Personalflusses zu gewhrleisten. Im Rahmen der Einfhrung der neuen Fabrikkontore sollte die Personalpolitik zu einem brokratischen Akt gemacht werden. Hierin lag ein deutlicher Gegensatz zur Personalpolitik bei PCAC. Das Unternehmen sttzte sich bewusst auf die sozialen Strukturen vor Ort, um sicherzustellen, gengend Arbeitskrfte zur Verfgung zu haben. Hinter beiden Strategien stand eine fr die gesamte Chemieindustrie typische Vorstellung der produktiven Arbeit: Die produktiven Ttigkeiten von Chemiearbeitern waren kaum in eindeutigen, womçglich ergonomisch fundierten Schemata zu typologisieren. Auch die Unternehmer und Betriebsfhrer hatten keinen direkten Zugriff auf die Arbeitsvorgnge selbst. Diese richteten sich vielmehr nach den sich verndernden Bedrfnissen der wechselnden Produktion. Arbeit wurde als Produktionsfaktor wahrgenommen, der zu strukturieren, nicht aber zu qualifizieren war. Personalstrukturen und -strategien hatten einen direkten Einfluss auf die Hierarchien im Unternehmen. Diese entwickelten sich nicht nur in Abhngigkeit von der Planung der Unternehmensleitung. Die langsame Rckkehr einer zwischengeordneten Hierarchieebene bei Bayer belegt diese Dynamik. Der latente Kompetenzverlust der Werksmeister wurde durch die akademisch ausgebildeten Betriebsleiter nicht kompensiert. Stattdessen wurden die Aufseher fr die Organisation der Produktion immer wichtiger. Beim franzçsischen PCAC, vor allem am Standort Salindres, blieben Funktion und Relation dieser zwischengeordneten Instanzen im Unternehmen dagegen relativ konstant. Das Unternehmen sttzte sich auf die Werksmeister, die auch außerhalb des Werkes soziale Autoritt verkçrperten. Auch wenn die bertragung solcher hierarchischen Strukturen auf andere Standorte nicht ohne Reibungsverluste vonstattenging, blieb doch die geringe Intervention in die Personalpolitik fr die Strategie der Unternehmensleitung charakteristisch. Soziale Dynamiken und Grunddispositionen sowie die aktive Planungsstrategie der Unternehmen fanden ihren Widerhall in der Organisation anderer Merkmale. Die Wissensflsse spiegeln in beiden Fllen grundlegende Prinzipien und die Konflikte wider, die sich hieraus ergaben. Mehr noch als in anderen Branchen waren in der chemischen Industrie sowohl der kontinuierliche Zufluss von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch produktionspraktische Neuerungen von entscheidender Bedeutung und machten die unternehmensinterne Kommunikation besonders dicht.2 Die stetig wechselnden Produktionsbedingungen machten dabei eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Wissensbereichen unmçglich und lassen Wissen eher als eine Ressource erscheinen, die die Akteure auf unterschiedliche Weise zu benutzen 2 Le Roux, L’volution, Johnson, Marsch, Transfering Strategy, Murmann.

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versuchten. Die Planungslastigkeit von Bayer schlug sich dabei in den Versuchen nieder, einzelne Wissensformen zu zentralisieren, wodurch das Unternehmen versuchte, die Spielrume, in denen Betriebsfhrer, aber auch Werksmeister und Aufseher, autonom entscheiden konnten, zu beschneiden. Dies setzte sich in den niedrigen Hierarchieebenen durch die Einrichtung eines internen Vorschlagswesens fort. Der Faktor Wissen wurde von der Werksleitung damit auch zu einem Transmitter einer entpersonalisierten autoritren Hierarchie gemacht. Eine solche Verwaltung des Wissens war auch bei PCAC ein wichtiges Element. Anders als bei Bayer beschrnkte sich die Werksleitung darauf, Kandidaten fr die Hierarchie auszuwhlen und produktionsrelevante Daten zu sammeln. Das Unternehmen verzichtete auf eine eigene große Forschungsabteilung und auch auf die Mçglichkeiten, praktisches Informationswissen zu erfassen. Ihre Verwaltung blieb im Wesentlichen Sache der entsprechenden Abteilungsvorstnde und besttigte die dezentrale Verwaltung der Produktion und die hohe Autonomie der Abteilungen und Betriebe. Die chemische Industrie hatte durch ihren Ressourcenverbrauch, durch die vielfltigen Standortfaktoren und die raumgreifenden Anlagen einen starken rumlichen Bezug, der sie auch fr viele Zeitgenossen sichtbar machte. Die technischen Vorgaben der chemischen Industrie setzen ein reflektiertes Raumverstndnis voraus. Aus dieser Perspektive wurde bald die Planung des Unternehmensraumes und auch dessen kartographische Erschließung zur initialen Aktion der Planung und Organisation im Unternehmen. ber diese Elemente drckten sich gleichsam die Planungsbestrebungen der Unternehmensleitungen aus, die vor der Wahl standen, den Raum an seine Produktion anzupassen oder andersherum diese Produktion auf die rumlichen Gegebenheiten abzustimmen. Zwischen den beiden hier untersuchten Unternehmen ergibt sich auch in dieser Beziehung ein gegenlufiges Bild: Whrend PCAC mit einer weitestgehend offenen Raumkonzeption arbeitete, die neben anderen Elementen die Strategie der Adaption an gegebene Strukturen unterstrich, bemhte sich Bayer darum, das Fabrikgelnde zu beschreiben, zum einen als rumliche Grenzen des unternehmerischen Machtbereiches, zum anderen als rumlichen Plan seiner eigenen Hierarchievorstellungen. Trotz aller Unterschiede weisen beide Unternehmen in ihrer Organisation Prinzipien auf, die fr die chemische Branche charakteristisch scheinen. In der Chemie, wo eine Typologisierung und Ergonomisierung der menschlichen Arbeit aufgrund technischer Vorgaben nicht vollzogen werden konnte,3 musste Rationalisierung vorwiegend ber Systemplne kommuniziert werden. Die von Unternehmenshistorikern hufig untersuchten Aspekte der Verwissenschaftlichung von unternehmerischer Verwaltung im Sinne tayloristischer Dekonstruktion und Rekomposition werden durch die Analyse der chemischen Branche relativiert. Nicht die individuellen Arbeitsleistungen 3 Tacke, Rationalittsverlust.

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wurden reflektiert, sondern die systemischen Bezge. Bei beiden Unternehmen ist dies besonders deutlich an der Reflexion von rumlichen Beziehungen abzulesen, auch wenn diese in beiden Fllen unterschiedlich auftraten. Im Fall von Bayer kommt die Rolle der Statistik hinzu, die schon frh innerhalb des Unternehmens staatliche Lenkungsmuster reproduzierte4 und spezifisch systemisches Organisationswissen generierte. Brokratische Verwaltungsmuster regelten hier das soziale Feld des Unternehmens, eine Funktion, die bei PCAC durch die Adaption an soziokulturelle Spezifika der jeweiligen Produktionsstandorte bernommen wurde. Bei aller Unterschiedlichkeit in der Durchfhrung der einzelnen Strategien bieten beide Unternehmen einen Ansatzpunkt, um Lenkungsmechanismen in Unternehmen zu erschließen, die sich jenseits der frhen Rationalisierungsdebatten bewegten.5 Es wird Aufgabe der folgenden beiden Fallstudien sein, vor allem aber des letzten Kapitels, diese Anstze in einem breiteren Kontext zu verallgemeinern und in Beziehung zu Verwissenschaftlichungsbestrebungen zu setzen.

4 Desrosires. 5 Hartmann, Projektionsflche.

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II. Warenhuser Der Dienstleistungssektor war einer der Schlsselsektoren der wirtschaftlichen Entwicklung am bergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. In Relation zu anderen Branchen war sein Wachstum besonders groß: So zeigt Heinz-Gerhard Haupt, dass der entsprechende Anteil der Erwerbsbevçlkerung in Deutschland zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1900 von zwanzig Prozent auf 25 Prozent zunahm, in Frankreich sogar von 21 Prozent auf 29 Prozent.1 Die unternehmerischen Formen dieser wirtschaftlichen Verlagerung in den Dienstleistungssektor wurden allerdings im Fach der Unternehmensgeschichte bislang weitgehend vernachlssigt. Nicht in der Katalysatorfunktion fr die volkswirtschaftliche Entwicklung,2 sondern in ihrer Ausformung neuer betrieblicher Organisationsformen sollen die Unternehmen des Dienstleistungssektors im nchsten Abschnitt in den Blick genommen werden. Fr diese Analyse bietet das Warenhaus einen geeigneten Rahmen. Sowohl in Bezug auf neue Konsumformen, die weiten Bevçlkerungskreisen offen standen, als auch durch seine arbeitsteilige Organisationsform galt es vielen zeitgençssischen Beobachtern als sichtbares Zeichen des Fortschritts. Sooft das Warenhaus auch in wirtschafts- und kulturhistorischen Abhandlungen fr verschiedene Lnder als innovatives Modell des spten 19. Jahrhunderts angefhrt wird, sooft fehlen Angaben darber, was diese Neuerung genau ausgemacht hat. Bevor auf die Untersuchung der Unternehmen eingegangen wird, soll daher auf den folgenden Seiten versucht werden, den Begriff des Warenhauses zu bestimmen und das innovative Potenzial der neuen Geschftsform um die Jahrhundertwende genauer zu beschreiben. Bereits den Zeitgenossen stellte sich das Problem der Definition dieser neuen Geschftsform, und die Suche nach einer adquaten Beschreibung wurde mit Nachdruck betrieben. Grund hierfr war zum einen das Interesse an dem historischen Bruch, den das Warenhaus darstellte und der in seinen Auswirkungen auf die Produktion noch keineswegs vorausgesehen werden konnte; fr viele Beobachter verbanden sich mit der neuen Geschftsform große ngste, befrchteten sie doch gerade durch diese neuen Großunternehmen eine Beschleunigung der Monopolisierungstendenzen in Wirtschaft und Einzelhandel.3 1 Haupt, Konsum, S. 116. 2 Hierzu bereits: Ebd., S. 65 ff.; Crossick/Jaumain, Cathedrals 1999. 3 Spiekermann, Warenhaussteuer, S. 32.

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Zum Zweiten bildeten gesetzgeberische Maßnahmen immer wieder den Ausgangspunkt fr Definitionsbemhungen. Wie im Verlauf des folgenden Vergleichs zu zeigen sein wird, wurde von verschiedenen Seiten nach einer solchen Gesetzgebung gerufen, durch die eine rechtliche Grundlage fr die neuen Huser geschaffen werden sollte. Doch wen meinte der Staat, wenn er versuchte, die „Warenhuser“ zu reglementieren? Je nachdem, welche Ziele anvisiert wurden, variierten auch die Zuschreibungen. Zwei verschiedene Definitionsstrnge lassen sich hierbei zunchst voneinander unterscheiden: 1. Im Vordergrund des ersten Bereiches stand die Vernderung der Konsummuster. Das Warenhaus – so das Postulat einiger Zeitgenossen und der frhen Historiographie dieser Betriebsform4 – habe nachhaltig das Konsumverhalten verndert und damit das Zeitalter des Massenkonsums eingeleitet. Diese Definition beschreibt das Warenhaus immer wieder im Spiegel seiner Verkaufsprinzipien, wie etwa dem breiten Angebot, den festen Preisen, der Ablehnung, Kunden Kredite zu gewhren, dem beschleunigten Umsatz des Betriebskapitals bei weitgehender Reduzierung der Gewinnmarge und hohem Einkaufskomfort fr die Klientel. Zu Recht hat allerdings Spiekermann darauf hingewiesen, dass die Werkzeuge zur Neustrukturierung dieser Konsummuster bereits lange vor der Jahrhundertwende bekannt waren.5 Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gab es bereits in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts Geschfte, die auf einzelne oder eine Kombination dieser Geschftsprinzipien setzten, um besondere Anziehungskraft auf das Publikum auszuben. In Frankreich erreichten sogenannte magasins de nouveaut schon im 18. Jahrhundert eine gewisse, wenn auch beschrnkte, Marktposition. Sptestens mit der Grndung der Belle Jardinire im Jahr 1824 waren diese großen Geschfte im Pariser Stadtbild fest verankert.6 Auch in Deutschland gab es schon seit langer Zeit grçßere Verkaufshuser. Die einen richteten sich an eine kaufkrftige Kundschaft, die anderen boten gnstige Produkte fr nicht so zahlungskrftige Kuferschichten an. Konsumvereine und Kaufhuser setzten auf das Prinzip der vergnstigten Vermarktung von Verbrauchsartikeln, entweder an Angehçrige einer bestimmten, eng begrenzten Kufergruppe oder durch den Aufkauf vergnstigter Produktposten.7 Der Begriff des Kaufhauses – heute analog zu dem des Warenhauses benutzt – stellte allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts fr Colze bereits eine Umschreibung eines kleineren Verkaufshauses dar, das eben nicht eine komplette Artikelvielfalt anbot, sondern sich meist auf bestimmte Bekleidungsbereiche beschrnkt hatte oder mit seiner Produktpalette nur auf 4 Beipiele: Boudet, S. 400 f. Faure geht davon aus, dass der Grund hierfr die bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vollkommen mangelhafte Erforschung der Geschichte des Einzelhandels in Frankreich, aber auch in anderen Lndern ist; Faure, S. 155. 5 Spiekermann, Basis, S. 226. 6 Faraut, Histoire, S. 48 ff. 7 Hirsch, S. 3.

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eine kleine Kuferschicht ausgerichtet war.8 Er wurde um die Jahrhundertwende also in etwa analog zum Begriff der magasins de nouveaut verwendet. Diese begrifflichen Verwirrungen und die undeutliche Definition der Marktmechanismen der Warenhuser sorgten auch im hier untersuchten Zeitraum dafr, dass den meisten Beobachtern unklar war, worin nun das spezifisch Neue der Huser bestehen sollte. Stresemann etwa betonte zwar die Bedeutung der Geschftsform, definierte sie aber nur als stark vergrçßerte Form des normalen Einzelhandelsgeschftes.9 Da das spezifisch Neue dieser Geschftsform in der Diskussion des Begriffes zunchst nahezu verloren ging, nahmen einige Autoren die Huser nur noch als verlngerten Arm der Großindustrie zur Organisation ihres Absatzes wahr.10 Vor diesem Hintergrund weitgehender begrifflicher Verwirrung schloss Biermer : „Verschiedene Nationalçkonomen haben sich abgemht, die einzelnen Typen Warenhaus, Großmagazin und Bazar begrifflich auseinanderzuhalten. Ich glaube, daß das schon um deswillen nicht angngig ist, weil die Entwicklung dieser Kaufhuser so sehr im Flusse ist, daß jede aufgrund der ursprnglichen Gestaltung gewonnene Unterscheidung nachtrglich wieder hinfllig wird.“11

Gleichzeitig erkannte er aber auch schon eine Dimension, die hinter der reinen Marktfunktion eine andere mçgliche Definitionsebene der Huser andeutete: „Immerhin gibt es hier gesellschaftliche Momente neben den rein technischen, wie z. B. die allgemeine und berufsmßige Bildung der Beteiligten und das Verhltnis zu ihren Gehilfen und zum konsumierenden Publikum.“12

Die eigentliche Definition versteckte sich hinter dieser Reformulierung betrieblicher und sozialer Beziehungen im Einzelhandel, also in einer Definition der betrieblichen Organisation. 2. Wagner erkannte ebenso, dass eine trennscharfe Unterscheidung der Betriebsformen von Warenhaus, Kaufhaus und Spezialwarengeschft ausschließlich ber die Frage der Organisation der Unternehmen geschehen konnte.13 Als bestimmende Elemente machte er dabei die Trennung der verschiedenen betrieblichen Funktionen von Verkauf, Einkauf und Kontrolle aus. Diese Neuordnung betrieblicher Hierarchien und die wachsende Bedeutung der Kontrolle wurden von vielen Zeitgenossen gerade nach der Jahrhundertwende als die bestimmenden Prinzipien der Huser angesehen. Sie brachten 8 Colze, S. 8. 9 Stresemann, S. 697. 10 Kçrner, S. 25 f. Zumindest die Tradition des Warenhauses als Expansionsinstrument der Industrie durch Integration der Handelsfunktion findet sich bis zu Chandler wieder. Chandler, Visible Hand, S. 225 ff. 11 Biermer, S. 102. 12 Ebd., S. 14. 13 Wagner, S. 3 f.

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den Husern sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in der ffentlichkeit zahlreiche Bewunderer ein und machten sie zu den am meisten beobachteten neuen Betriebsformen um die Jahrhundertwende. Hinzu kamen die zahlreichen sozialen Neuerungen, die sie durch die Vernderung der Qualifikationen und der Stellenprofile der Angestellten mit sich brachten.14 Das bedingte wiederum eine spezifisch paternalistische Beziehung zwischen Unternehmern und Mitarbeitern.15 Ohne Zweifel vernderte sich der Konsum im Verlauf des 19. Jahrhunderts entscheidend; ein brgerliches Konsumverhalten etablierte sich, daneben begannen durch den grçßeren Absatz vieler Produktgruppen die Preise zu fallen, und ein „Massenkonsum“, also ein erhçhter Umsatz durch Uniformierung der Nachfrage, griff Raum. Doch die Mechanismen, die zu dieser Dynamik fhrten, waren komplex. Die Warenhuser trugen fr dieses neue Konsumverhalten weder die Verantwortung, noch lag ihr wirtschaftlicher Erfolg ausschließlich hierin begrndet. Das Warenhaus zu verstehen, setzt ber die Erkenntnis der Geschftsidee hinaus voraus, dass man es als eine neuartige Form der Arbeitsorganisation begreift. Diese Entwicklung in ihrer Dynamik und dem Dialog mit den sie umgebenden Gesellschaften in Deutschland und Frankreich darzustellen, ist die Aufgabe des nchsten Kapitels und seiner beiden Abschnitte zu den Warenhusern in Frankreich und Deutschland.

14 Pasdermadjian, S. 25 f. 15 Nord, S. 63.

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1. Franzçsische Warenhuser 1.1. Vom Eckgeschft zum Huserblock – Der Aufstieg der grands magasins Das Warenhaus war fr die Pariser Bevçlkerung der Jahrhundertwende eine vollkommene Selbstverstndlichkeit und gleichzeitig eines der wichtigsten Zeichen der Moderne. „Es sieht zunchst nicht so aus, als ob die Organisation eines Kaufhauses ein wirklich interessantes Studienobjekt sei“,16 behaupteten Flavin und Cucheval-Clarigny am Anfang ihrer umfassenden Studie ber den Bon March, um dann detailreich das Gegenteil zu belegen. Denn gerade durch ihre Sichtbarkeit, aber auch durch die Originalitt der Geschftsorganisation erlangten die Huser große Aufmerksamkeit. Der stabile Absatz und die hohe Kaufkraft der Pariser Kundschaft erçffneten im Verlauf des 19. Jahrhunderts einigen risikofreudigen Unternehmern mit der Hilfe finanzkrftiger Partner eine neue, Erfolg versprechende Geschftsmçglichkeit im Einzelhandel. Durch ein wesentlich erweitertes Warenangebot und die daraus resultierende Anziehungskraft auf das Publikum wurde eine erhebliche Beschleunigung des Umsatzes erreicht. Hierdurch konnten diese Unternehmen zunchst anhaltend wachsen. Da diese Mçglichkeit auf verschiedene Kundenschichten ausgedehnt werden konnte und die Zahl der Einwohner der franzçsischen Hauptstadt immer weiter anstieg, schienen die Expansionsmçglichkeiten dieser neuen Unternehmen nahezu unbegrenzt und eine Stabilisierung des Marktes durch ein konkurrenzbedingtes Gleichgewicht in weiter Ferne zu sein. So lag der Anteil am Modemarkt der Hauptstadt, der fr den Umsatz der sechs grçßten Huser mit Abstand den wichtigsten Geschftsbereich ausmachte, auch zur Jahrhundertwende erst bei gut zehn Prozent.17 Verglichen mit dem Ruf, den sich die Huser nicht nur in Paris, sondern auch international erarbeitet hatten, war dieser Anteil immer noch bescheiden und ließ Platz fr weitere Expansionen. Das erste Unternehmen, das diese neuen Absatzformen nutzte, war der 1852 von Aristide Boucicaut bernommene Bon March. Michael Miller hat detailliert beschrieben, wie sich dieses Geschft in den Folgejahren, aber vor allen Dingen ab den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts vom Eckgeschft an der Rue du Bac zum ersten und grçßten Pariser Warenhaus entwickelte.18 Ihm folgte nach wenigen Jahren das grand magasin du Louvre, das von Heriot und Chauchard mit der Untersttzung des Bankhauses Pereire gegrndet wurde.19 Hiermit wurde der Anstoß gegeben, der nicht nur zur Grndung des Bazar de

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Cucheval-Clarigny/Flavien, S. I. Saint-Martin, S. 55. Miller. Bourienne, S. 266; D’Avenel, Mcanismes, S. 23; Zola, Carnets, S. 177.

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l’Hotel de Ville (BHV) von Ruel (1860), des Printemps von Jaluzot (1865)20 oder der Samaritaine von Cognaq (1869) fhrte, sondern auch eine Vielzahl kleinerer Huser hervorbrachte, die allerdings zum großen Teil nur eine geringe Lebensdauer hatten. Die grçßten der genannten Geschfte erreichten dagegen Umsatzzahlen, die bald bei ber 100 Millionen Francs jhrlich lagen. Damit verbunden war eine große Zahl von Angestellten. Nur ein Nachzgler schaffte nach dieser ersten Grndungsphase noch den Aufstieg in die Reihe der großen Warenhuser, die sich durch ein vollstndiges Warenangebot auszeichneten: die 1893 gegrndeten Galeries Lafayette.21 Begann auch dieses, von Thophile Bader und Alphonse Kahn geleitete Geschft seine Ttigkeit in einem gewçhnlichen kleinen Ladenlokal, so hatte es doch durch seine sehr rasche Expansion und den Konkurrenzkampf mit dem in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Printemps einen ausgesprochen hohen Kapitalbedarf. Hierin lag der Grund fr seine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1899.22 Im Gegensatz zu den zunchst hohen Reinvestitionsraten der frhen grands magasins, deren Geschftsmodell weitestgehend auf Eigenfinanzierung basierte, nderte sich die Unternehmensform mit der Umwandlung in Aktiengesellschaften grundlegend. Nach und nach wurde sie auch von den lteren Husern bernommen. Obwohl die meisten Unternehmen versuchten, den Kreis der Kapitaleigner zu beschrnken, bedeuteten diese Umwandlungen doch die Abkehr von der bislang dominanten Form des Familienunternehmens. Dieser Prozess vollzog sich im Bon March mit dem Tod der Witwe des bereits verstorbenen Unternehmensgrnders Boucicaut 1887, im Louvre und im Printemps durch die Verdrngung der ersten Unternehmergeneration im Jahr 1890 beziehungsweise 1905. Nur in der Samaritaine blieb eine familienbezogene Struktur bis 1914 erhalten. Doch die meisten Huser bemhten sich darum, trotz dieses Wechsels die grundlegenden Erfolgsstrategien nicht nur in der Lenkung, sondern auch in der Arbeitsorganisation beizubehalten.23 In allen franzçsischen Wirtschaftsgeschichten besteht seit jeher Einigkeit darber, dass das Wachstum der Warenhuser eine der großen Erfolgsgeschichten der konomie Frankreichs im 19. Jahrhundert war.24 Whrend sich andere Branchen zeitweise im internationalen Vergleich weniger dynamisch entwickelten, erlangten die neuen, großen Einzelhandelsgeschfte schnell Vorbildcharakter fr andere Lnder. Jedoch galt diese Erfolgsgeschichte in erster Linie fr die Geschfte in der franzçsischen Hauptstadt. In franzçsischen Provinzstdten war den vereinzelten Versuchen, solche Geschfte zu grnden, vor 1914 weniger Erfolg beschieden. Das noch am ehesten ver20 21 22 23 24

Lesselier. Aus finanzhistorischer Perspektive zu den Galeries Lafayette: Verheyde. Gaston-Breton, S. 26. Miller, S. 130. Smith; Boudet, S. 400 f.; Daviet, socit, S. 234 ff.

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gleichbare Haus außerhalb von Paris war der Grand Bazar de Lyon; doch auch hier waren bis 1914 nur wenige Hundert Angestellte ttig.25 Dagegen entwickelten sich alternative, an den Markt der kleineren Provinzstdte angepasste Geschftsformen, etwa ab 1904 die magasins runis, die mit einem sehr eingeschrnkten Sortiment in einer niedrigen Preisklasse und einem ausgedehnten Filialsystem arbeiteten.26 Die Geschftsform des grand magasin mit seiner charakteristischen Arbeitsorganisation beschrnkte sich vor 1914 also auf Paris. In den folgenden Abschnitten werden wir uns auf die Pariser Huser konzentrieren und die Geschftsformen in der Provinz nur fr ausblickartige Vergleiche heranziehen. Dies scheint fr den franzçsischen Fall umso legitimer, als die interessierte, kaufkrftige Kundschaft aus dem In- und Ausland die Pariser Huser in so großer Zahl besuchte, dass sie einen Markt hatten, der ihr eigenes Einzugsgebiet erheblich berstieg. Die Unternehmen erzielten ihre Gewinne, indem sie die Waren generell 25 Prozent ber ihrem Einkaufswert zu verkaufen suchten. Abzglich der Personal-, Abschreibungs- und Werbekosten blieb in der Regel eine Gewinnmarge von zwei bis vier Prozent des Umsatzes.27 Die Huser setzten schon zur Jahrhundertwende Waren im Wert von mehr als 500 Millionen Francs um.28 Da der Kapitalbedarf zwar latent hoch, das absolute Betriebskapital aber niedrig war, ergaben sich bei den Warenhusern verhltnismßig hohe Eigenkapitalrenditen, die sie fr Anleger interessant machten. Als Folge der zentralisierten Marktstrukturen waren die Expansionspfade der Unternehmen zunchst weniger auf eine territoriale Erweiterung des Marktes gerichtet, als vielmehr auf eine vertikale Integration. So versuchten sie, in Bezug auf die Textilfertigung, aber auch in komplett anderen Bereichen ihre Organisation auszuweiten, und sei es nur, um das Betriebskapital durch gnstige Investitionen zu vermehren.29 In diesem Sinne gab es bald neben dem klassischen Verkaufsgeschft auch noch weitere Arbeitsfelder, in denen eine zunehmende Zahl von Angestellten ttig war.

25 Selbst der Grand Bazar de Lyon, , mit seinen 225 Angestellten im Jahr 1912 eines der grçßten Warenhuser in der Provinz, war mit den Pariser Husern nicht vergleichbar, da es anders strukturiert war. Beau, S. 29. 26 „Etude conomique“ zur Entwicklung der Magasins Runis, 1929; ACL DEEF 61037. 27 D’Avenel, mcanismes, S. 47 ff. 28 Saint-Martin, S. 55. 29 So die vielfltigen umfangreichen Investitionen etwa in Zuckerraffinerien durch Jules Jaluzot, den Chef des Printemps, die zur kurzfristigen Liquidierung des Unternehmens im Jahr 1905 fhrten; Bericht ber die Restrukturierung des Printemps, 1905; ACL 98 AH 047.

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1.2. Akteure Einsame Unternehmer und neue Verwaltungsformen Die Bedeutung einzelner Unternehmerpersonen, aber auch ihre mystifizierende Selbstinszenierung war in kaum einer Branche so stark wie bei den Warenhusern. In Frankreich erreichten diese emblematischen Unternehmerfiguren eine kaum zu bertreffende Berhmtheit: Die Namen von Aristide Boucicaut (Le Bon March), Auguste Heriot (Grand Magasin du Louvre), Jules Jaluzot (Printemps), Ernest Cognaq (Samaritaine) oder Xavier Ruel (BHV) hatten bald einen Ruf, der Grçße und Bedeutung ihrer einzelnen Unternehmen bei Weitem berstieg und als Bezugsgrçße bis heute fest in den çffentlichen, urbanen Raum der franzçsischen Hauptstadt eingeschrieben ist. An Straßen und Gebuden finden sich die Namen dieser Grndergeneration. Doch im Verlauf des Untersuchungszeitraums nderten sich Funktion und Symbolkraft dieser Unternehmerfiguren wesentlich, nicht zuletzt durch den angesprochenen Generationswechsel. Doch auch innerhalb dieser ersten Generation von Unternehmern hatte es schon große Unterschiede in der Konzeption ihrer Huser gegeben. Dem zunchst auf Eigenfinanzierung und damit auf einem kontinuierlichen Wachstum beruhenden Modell von Aristide Boucicauts Bon March stand die Grndung des grand magasin du Louvre oder des Printemps gegenber, die von Beginn an durch hohen Fremdkapitalanteil und ohne hohes finanzielles Engagement der Unternehmer aufgebaut wurden.30 Hufig teilten sich zwei Personen die Leitung eines franzçsischen Warenhauses, wie beispielsweise im Fall der schon angesprochenen Hriot und Chauchaurd, im Fall von Cognacq und seiner im Unternehmen aktiven Frau Marie-Louise Jay, die als ehemalige Verkuferin einen Teil des Verkaufs selbst organisierte, oder auch Alphonse Kahn und Thophile Bader, den Grndern der Galeries Lafayette. Meist gab es in dieser Konstellation einen leitenden Direktor, der das operative Geschft fhrte, und einen kontrollierenden Partner, der die Beziehung zu den Geldgebern pflegte. Auch wenn keine kollektive Biographie dieser Unternehmer geschrieben werden kann, sind einige Charakteristika in ihrem Werdegang auffllig. Ihre regionale Herkunft ist unterschiedlich, doch war ihnen allen gemeinsam, dass sie in der Provinz geboren worden waren und spter nach Paris gezogen sind.31 Ihr heterogener konfessioneller Hintergrund unterschied sie von den deutschen Warenhausunternehmern, wie spter noch zu zeigen sein wird. Die franzçsischen Unternehmer waren zum berwiegenden Teil genauso skular geprgt wie große Teile ihrer brgerlich-urbanen Umwelt. Ein besonderes

30 D’Avenel, Grands magasins, S. 339. 31 Bourienne, S. 259.

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konfessionelles Engagement – auch wenn es im Fall von Boucicaut gelegentlich angefhrt wird32 – lsst sich nicht feststellen. Die Qualifikationen der Unternehmer waren sehr vergleichbar. Ein Großteil hatte eine Ausbildung im Einzelhandel erhalten und hier Berufserfahrungen gesammelt. Im Gegensatz zu den deutschen Unternehmern handelte es sich aber nicht um Erfahrungen im Betrieb der eigenen Familie. Vielmehr folgte diese Unternehmergeneration einer lange gebten Praxis, nach der die Mitarbeiter eines Einzelhandelsunternehmens nach einigen Berufsjahren die Firma verließen, um ihr eigenes Geschft zu grnden oder zu bernehmen. Im hier untersuchten Zeitraum verließen allerdings die meisten Angehçrigen dieser ersten Unternehmergeneration die Pariser Warenhuser. Keinem war es gelungen, eine „Unternehmerdynastie“ zu grnden und sein Unternehmen dauerhaft in ein Familienunternehmen umzuwandeln. Nur Aristide Boucicaut hatte mit seinem Bon March einen solchen Versuch gemacht. Doch weder seine Witwe noch ihr nur mßig begabter Sohn waren nach seinem Tod in der Lage, das Unternehmen zu leiten.33 Nachdem auch seine Frau gestorben war, wurde der Bon March im Jahr 1888 zum ersten der großen Pariser Warenhuser, das als anonymisierte Aktiengesellschaft weitergefhrt wurde. hnliches geschah kurze Zeit spter auch im grand magasin du Louvre durch die 1890 erfolgte Statusnderung des Unternehmens zur Aktiengesellschaft.34 Das Unternehmen, zuvor als Kommanditgesellschaft von den beiden Firmengrndern Chauchard und Hriot gefhrt, wurde nun von einem sechskçpfigen conseil d’administration geleitet. An dessen Spitze stand der neue Unternehmer, Honor, der alle wesentlichen Entscheidungskompetenzen auf sich vereinigte. Wurde bislang der Kontakt zu den Kapitalgebern von einem der Unternehmer gepflegt, gab es nun einen Direktor, der dem Conseil gegenber Rechenschaft schuldig war.35 Nicht in allen Fllen gelang ein fließender bergang vom alten zum neuen Unternehmertypus. Im Fall des 1865 von Jules Jaluzot gegrndeten Printemps wurde diese Vernderung zwangsweise vollzogen. Auch nachdem das Unternehmen schon weitgehend auf Fremdkapital und externe Anleger angewiesen war, glaubte sich Jaluzot soweit Herr im eigenen Hause, dass er mit dem Firmenkapitel nach seinem Ermessen verfuhr. Er investierte es in zahlreiche Nebenprojekte, darunter auch in den Aufbau einer Zuckerraffinerie. Offensichtlich fehlten den Kapitalgebern jegliche Kontroll- und Interventionsmçglichkeiten, um eine solche Zweckentfremdung des Kapitals zu verhindern. Stattdessen bedurfte es erst der Unternehmensinsolvenz

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Burckhardt, S. 46; Miller. Miller, S. 44; Faraut, EnquÞtes, S. 4 f. Statut von 1890; CAMT 65 AQ 116. Saint-Martin, S. 71.

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infolge des Bankrotts der Raffinerie, damit Jaluzot sich aus der Leitung des Unternehmens zurckzog.36 Anders als zunchst vorgesehen, wurde der Printemps aber nicht von drei Bevollmchtigten bernommen, sondern von einem langjhrigen Angestellten, Laguionie. Auch er hatte wieder eine starke Leitungsposition inne; aber im Gegensatz zum Unternehmensgrnder unterlag er nun einer Kontrolle durch die Finanziers des Unternehmens.37 Den sicherlich speziellsten Fall der Vernderung des Unternehmerstatus findet sich beim Bon March. Das Machtvakuum, das sich sptestens durch den Tod der Witwe Aristide Boucicauts ergab, wurde durch die Ernennung von drei administrateurs gefllt. Doch keiner von ihnen konnte auf diesem Posten lange genug bleiben, um zur Autorittsperson zu werden: Es wurde ein rotierendes System eingerichtet, durch das jeder der drei Fhrungsposten alle fnf Jahre neu besetzt wurde. Die Neubesetzung fhrte gleichzeitig auch zur Namensnderung des Geschftes. Hieß das Unternehmen 1897 im Beinamen noch Morin, Fillot, Ricois & Cie, so hatte sich dieser Name bis 1913 in Caslot, Dru, Chambeau & Cie. gendert.38 Hinzu kam, dass die Posten immer aus den Reihen der Angestellten zu besetzen waren, die nicht lter als fnfzig Jahre alt sein durften,39 wodurch ein korporativer Geist im Unternehmen geschaffen werden sollte. Jeder Angestellte sollte theoretisch zum Unternehmer des Hauses werden kçnnen, ein Punkt, der in der unternehmerischen Selbstdarstellung eine große Bedeutung erlangte: „So werden bei uns die Wrdigsten erwhlt, um den ungeheuren Bienenkorb zu lenken; die Fleißigsten, die Aktivsten, die Intelligentesten, diejenigen, die unter allen Umstnden eine vorbildliche Unterwrfigkeit an den Tag gelegt haben und dabei auch den Willen zu Hçherem bewiesen haben. […] Jeder von ihnen kam aus den Reihen der Verkufer und hat nach den gleichen Regeln gearbeitet.“40

Als erstes Unternehmen setzte damit der Bon March das Prinzip einer strikten Hausrekrutierung des Fhrungspersonals durch. Wer nicht als Angestellter im Unternehmen gearbeitet hatte, konnte in der Phase vor 1914 nicht in die Fhrungsetage des Hauses vorrcken,41 ein Prinzip, das nur durch den Juristen Plassard im ersten Vorstand durchbrochen wurde.42 Doch auch dieses komplexe Gebilde beruhte wieder auf einer funktionalen Aufteilung des Leitungsgeschftes. So waren nur zwei der drei administrateurs fr die operative Leitung des Geschftes zustndig. Der Dritte kmmerte sich 36 37 38 39 40 41 42

CL 98 AH 047. Documents Administratifs des GM du Printemps, BNF Cote 48Wz 3883. Satuten des Bon March, 1886 – 1913, CAMT 65 AQ T 201. Saint-Martin, S. 71. Historique des Magasins du Bon March, Paris 1905, S. 105. Berlanstein, Big Business, S. 113. Cucheval-Clarigny/Flavin, S. 24 f.

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ausschließlich um die Leitung der Finanzgeschfte.43 Tatschlich schien dieses Fhrungsprinzip zeitweilig mit einer grçßeren Nhe zu Fragen der Personalorganisation einherzugehen. FranÅois Faraut stellt fest, dass in den Besprechungen der drei Verwalter erstaunlich hufig Anstellungs- und Personalfragen problematisiert worden sind, Themenkomplexe die in den meisten anderen Unternehmen in diesen Gremien weitgehend ausgespart wurden.44 Ein solches Interesse sollte allerdings nicht bedeuten, dass der Bon March auch in der Realitt immer an einer besonders sozialen Personalpolitik interessiert gewesen ist. Im Laufe der folgenden Abschnitte wird zu sehen sein, dass oft genug das Gegenteil der Fall war.

Die „Corps Intermdiaires“ des Warenhauses – mittlere Hierarchiestufen Ein Teil der Leitungsautoritt in den franzçsischen Warenhusern bersetzte sich auf eine niedrigere Hierarchieebene, auf die der Abteilungsleiter, der premiers de rayon. Analog zu großen Betrieben in der industriellen Produktion bildete sich diese Hierarchiestufe als Autoritts- und Kontrollinstanz heraus, die eine hohe Entscheidungsautonomie in ihren Abteilungen besaßen: „Die Kommandanten dieser taktischen Einheiten, die Abteilungsleiter, denen jeweils mehrere ,Untergebene‘ assistierten “,45 hatten in Bezug auf die Arbeitseinteilung vollstndige Autoritt ber ihr Personal. Und nicht nur gegenber den Angestellten der Abteilung erlangte der Abteilungsleiter eine solch starke Position; durch die Funktion als Einkufer, die er in Personalunion ausbte, war er auch fr den Warenstrom verantwortlich.46 Sein Autorittsnetz dehnte sich weit ber das rumlich eng umrissene Feld seiner Verkaufsabteilung aus und erstreckte sich hufig auch auf Zulieferbetriebe. Gleichzeitig hatten solche Aufgaben auch zur Folge, dass sich der premier hufig aus seiner Abteilung entfernte. Hierdurch wurde eine Kette von Stellvertretern fr die Abteilungsleiter notwendig, die den reibungslosen Ablauf des Geschftes zu jeder Zeit sicherstellen konnten. Hufig bernahmen die seconds die Verantwortung fr das operative Verkaufsgeschft in der jeweiligen Abteilung, whrend sich der Abteilungsleiter selbst auf langen Geschftsreisen befinden konnte. Saint-Martin beschreibt den Abteilungsleiter wie folgt: „Im großen Warenhaus ist er der wahre Direktor eines kleinen Verkaufshauses, einer sehr einzigartigen und besonderen Verkaufseinheit.“47 Allerdings weist er darauf 43 44 45 46 47

Faraut, EnquÞtes, IV 17. Ebd., IV 18. D’Avenel, Grands Magasins, S. 362. Ebd., S. 347. Saint-Martin, S. 198 f.

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hin, dass eine solche Funktion der Kontrolle der Direktion des Hauses unterstellt blieb; ob eine solche Kontrolle in einem der Pariser Warenhuser mit ihren fnfzig bis einhundert Abteilungen und zunchst ohne vermittelnde Hierarchieebene von besonders hoher Effektivitt war, darf bezweifelt werden. Eine Bindung zwischen der Unternehmensleitung und diesen operativen Einheiten des Unternehmens wurde nur durch ein konstantes Vertrauensverhltnis mçglich, da es eine dauerhafte effektive Kontrolle kaum geben konnte. Hierzu musste eine weitgehende Interessenkonvergenz zwischen Hierarchiespitze und untergeordneter Hierarchiestufe geschaffen werden. Das grundlegende Problem war zunchst, diese mittleren Hierarchieebenen zu homogenisieren. Durch die kaum regulierten Karrierewege war dieses Ziel bei Weitem nicht selbstverstndlich: „Die Schwierigkeit der Aufgabe bestand nicht nur darin, Mitarbeiter nach ihrer Arbeit und ihren persçnlichen Fhigkeiten auszuwhlen, sondern auch in der Notwendigkeit, Charaktere zu gruppieren, die sich untereinander sympathisch sind, um eine einheitliche Gruppe zu schaffen, obwohl sie sich aus Elementen zusammensetzt, die unterschiedliche soziale Hintergrnde und unterschiedliche Kenntnisse haben.“48

Das Mittel fr eine solche Homogenisierung lag in einer außerordentlich attraktiven Bezahlung. Fr die leitenden Angestellten wurde diese Bezahlung durch Umsatzbeteiligungen oder sogar durch Bonuszahlungen in Form von Aktien aufgebessert. So waren die Abteilungsleiter beim Bon March in entscheidendem Maße am Umsatz beteiligt,49 wohingegen beim Printemps zu Zeiten Jules Jaluzots ein ausgearbeitetes System der Kapitalbeteiligung die Solidaritt der fhrenden Gruppen der Belegschaft garantieren sollte.50 In kaum einem anderen Großbetrieb – schon gar nicht in den Pariser Stadtgrenzen – konnte diese Gruppe mit einer formell geringen Qualifikation eine so hohe Entlohnung erreichen. Die Abteilungsleiter konnten relativ sicher mit einer Bezahlung von mindestens 10 000 Francs jhrlich rechnen. Auch die premires, die Verkaufsabteilungsleiterinnen, erhielten eine hnliche Bezahlung, ihre Zahl war allerdings recht gering. Und auch die seconds und secondes, die untergeordnete Hierarchiestufe, erhielt in der Regel noch eine Bezahlung von ber 6000 Francs.51 Allein die Tatsache, dass es den Verkufern unmçglich gewesen sein drfte, in ihrem nheren Umfeld eine hnlich gut bezahlte An48 So Jules Jaluzot in der Rede zur Vollversammlung der Aktionre des Printemps im Jahr 1903; ACL 38986. 49 Miller, S. 113; D’Avenel, Mcanismes, S. 18 f. und 89 f. 50 Ebd., S. 36 f. 51 Zahlen rekonstruiert aufgrund der Klageschriften vor dem Conseil des Prud’hommes, der sich ab 1909 den arbeitsrechtlichen Fragen der Warenhausangestellten annahm. Archives de Paris, D 1 U 10 862 bis 877.

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stellung zu finden, wirkte disziplinierend. Die Angestellten, die ber die verschiedensten Qualifikationen verfgten, versuchten allerdings auch immer wieder, ihr eigenes Geschft zu grnden. Das war schon bei Jules Jaluzot der Fall gewesen, der als ehemaliger Abteilungsleiter des Bon March mit dem Printemps sein eigenes Haus grndete.52 Das Modell des Rayons als funktionelle Einheit des Warenhauses blieb bis zum Beginn des Krieges unangetastet. Auch das letzte große Haus, das in Paris entstand, die Galeries Lafayette, sttzte sich auf diese Einheit und die damit verbundene große Autonomie der premiers de rayon.53 Sie machte den Posten des Abteilungsleiters zu einer multifunktionalen Instanz, ihre Anordnung und Ausrichtung waren ein wichtiges Instrument der Unternehmensstrategie.54 Dies hatte auch einen direkten Einfluss auf die strategische Aufgabendefinition der Angestellten. So wurden beim Bon March die stellvertretenden Abteilungsleiter zu den jeweiligen Angebotsaktionen in anderen Abteilungen des Hauses regelrecht abkommandiert und mussten sich flexibel an die stndig wechselnden Aufgabengebiete anpassen.55 Auch wenn die Handlungsspielrume der Abteilungsleiter hoch waren, standen sie auch unter stndiger Kontrolle.56 Die im eigentlichen Sinne systematische Kontrollfunktion, die eine Parallelhierarchie herstellte, begann allerdings erst unterhalb der hierarchischen Stufe der Abteilungsleiter. Hier arbeiteten die Inspektoren, die den Abteilungsleitern unterstellt waren.57 Sie standen jedoch ihrerseits nach Bezahlung und Weisungsbefugnissen deutlich ber den einfachen Angestellten im Verkauf oder in der Verwaltung. So erhielten die Inspektoren einen Jahreslohn von 3500 Francs, der damit deutlich ber dem durchschnittlichen Lohn der Verkufer lag, andererseits aber auch noch wesentlich unter der Bezahlung der premiers oder der seconds de rayon.58 Die Inspektoren gehçrten zu einer hçheren Hierarchiestufe, was auch daran deutlich wird, dass sie ber andere Qualifikationswege als die einfachen Angestellten in die Unternehmen gelangten: Die Posten wurden gerne an ehemalige Armeeangehçrige vergeben, was unter dem Verkaufspersonal besonderen Eindruck machen sollte.59 Aufgabe der Inspektoren war es, die Angestellten in der Ausbung ihrer Arbeit und in ihrem Verhalten gegenber der Kundschaft zu beobachten. Sie sollten jedoch auch kontrollieren, ob sich das Verkaufspersonal widerrechtlich an den Waren vergriff und an die morali-

52 Billot/Rey, S. 69. 53 Erinnerungen von Thophile Bader, verbunden mit einem Vorschlag zur Neuorganisation der Galeries Lafayette, Manuskript Archives Galeries Lafayette, nach 1944. 54 Du Marrousem, S. 934; Faraut, EnquÞtes, IV, S. 18. 55 So im Protokoll des conseil des intresss vom 14. 2. 1890; nach Ebd. IV, S. 5. 56 Ebd., IV, S. 7. 57 Lesselier, S. 116. 58 Lain, S. 27 f. 59 Lain, S. 28; Beau, Grand Bazar, S. 162.

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schen Maßgaben des Unternehmens hielt.60 Eine weitere wichtige Aufgabe der Inspektoren war, die gewerkschaftlichen Versammlungen zu berwachen, um bei bermßig aktiven Angestellten Bericht zu erstatten. Bei nahezu allen Versammlungen der Gewerkschaftsmitglieder in der Zeit bis 1914 versuchten Aufseher, die Angestellten verdeckt zu berwachen.61 Diese berwachung provozierte oft gewaltttige Konflikte. Die Bedeutung der Aufseher in den Husern darf nicht unterschtzt werden, ihr Einfluss fhrte immer wieder zu Entlassungen.62 Die Grçße dieser internen Kontrollinstanzen war allerdings innerhalb der Huser hçchst unterschiedlich. So begngte sich das grçßte Haus, der Bon March mit dreißig Inspektoren, der Louvre beschftigte sechzig, und die Samaritaine ließ ihr Verkaufspersonal von insgesamt achtzig Inspektoren berwachen.63

Im Herzen des operativen Geschfts – an der Peripherie der Organisation. Die Angestellten im Warenhaus Die Arbeit, welche die Angestellten in den Pariser Warenhusern zu verrichten hatten, wurde von den zeitgençssischen Beobachtern wenig differenziert wahrgenommen. Je nach Standpunkt des Beobachters war sie entweder Ausdruck einer fortschrittlichen Wirtschaftsentwicklung, die Hand in Hand mit sozialem Fortschritt ging, oder eine Etappe in einer fortschreitenden Pervertierung menschlicher Arbeit. Zwei Zitate mçgen den Spannungsbogen darstellen, der sich zwischen den unterschiedlichen Beurteilungen der neuen Arbeitspltze auftat. So erklrte La Petite Rpublique ihren Lesern: „Es fllt schwer, sich eine prekrere Situation vorzustellen, als die dieser Zwangsarbeiter, die gezwungen sind, sich wie Brgerliche zu kleiden, deren Gehalt aber hufig unter dem eines Industriearbeiters bleibt.“64

Der populre Volkswirtschaftler und Publizist Georges d’Avenel war dagegen der festen berzeugung: „In diesen riesigen Verkaufsfabriken hat der Verkufer, der Mann ohne jegliches Kapital außer seiner Intelligenz und seinem Arm, der Mann, den man oft genug Arbeiter oder Proletarier nennt, die Mçglichkeit, einen so hohen materiellen Vorteil zu erzielen, dass er nicht nur wohlhabend, sondern reich werden kann.“65 60 Saint-Martin, S. 68. 61 Archives de la prfecture de Police, APP Ba 153. 62 Entscheidungen ber Entlassungen einzelner Angestellter waren danach meist von den Berichten der Inspektoren abhngig. Da eine Gegenmeinung in der Regel nicht eingeholt wurde, hing das Wohl vieler Angestellter oft von diesen Berichten ab, Lain, S. 27. 63 Lesselier, S. 116. 64 La Petite Rpublique, 2.4.1900. 65 D’Avenel, S. 362.

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Die ffentlichkeit nahm die teilweise neu entstehenden, teilweise sich schlicht vergrçßernden Arbeitnehmerzahlen im Handel durchaus wahr. Ebenso wie die Errichtung der Warenhuser die Gemter der Zeitgenossen erregte, verhielt es sich mit der Situation der Angestellten, die in ihnen arbeiteten. Allein durch das außerordentliche Wachstum wurden die Warenhausangestellten zu einer der dynamischsten sozioprofessionellen Gruppen im urbanen Umfeld. Aufgrund der flexiblen Einstellungspraktiken der Huser und des schwankenden stdtischen Arbeitsmarktes, auf dem Angestellte auch in die Gastronomie oder ins Kleingewerbe wechseln konnten,66 ist es schwer, die Gesamtzahl der Einzelhandelsangestellten zu beziffern. Die in der Tendenz wahrscheinlich zu hohen Angaben der gewerkschaftlichen Organisationen machen zumindest die außerordentlichen Wachstumsraten deutlich. 1886 ging die chambre syndicale des employs von 150 000 Einzelhandelsangestellten in Paris und seinen Vororten aus, die potenziell organisiert werden kçnnten, acht Jahre spter hatte sich diese Schtzung etwa verdoppelt. Man ging nun davon aus, dass allein in den Warenhusern 150 000 Personen beschftigt waren,67 wobei auch viele kleinere Huser mit einbezogen worden sein drften. Berlanstein nimmt ebenfalls eine signifikante Steigerung der Zahl der Angestellten an, ist aber bei den absoluten Werten vorsichtiger. Seiner Meinung nach sei die Zahl der Pariser Handelsangestellten zwischen 1866 und 1911 von knapp 50 000 auf 180 000 gestiegen.68 Er beschrnkt sich dabei allerdings ausschließlich auf die Bevçlkerung, die innerhalb der Stadtgrenze lebte und unter diesen wohl auch nur auf die tatschlich Angestellten und nicht auf das vorhandene Angestelltenpotenzial. Um die Handlungsoptionen dieser Gruppe festzuhalten, erscheint es allerdings sinnvoller, den Arbeitsmarkt der Angestellten als einen flexiblen Pool aufzufassen, aus dem die Unternehmen schçpfen konnten. Fr die Beurteilung der latenten Konkurrenzsituation, in der sich die Angestellten befanden, zhlte das Potenzial des Arbeitsmarktes mehr als seine reale Grçße. In den Husern selbst machte sich das außerordentliche Wachstum der Beschftigtenzahlen ebenfalls bemerkbar. In der Phase zwischen 1890 und 1914 wurden die grands magasins gerade durch ihre Mitarbeiterzahlen zu wirklichen Großbetrieben. Im Bon March stieg die Zahl der Angestellten nach Michael Miller zwischen 1877 und 1906 von 1788 auf 4 500,69 wobei hier nur die Angestellten erfasst sind, die im operativen Geschft des Hauses selbst ttig waren. Die zahlreichen Personen, die zustzlich fr das Unternehmen arbeiteten, lassen sich nicht mehr verfolgen.70 Przise Zahlen der Angestellten 66 67 68 69 70

Fr Lyon dargestellt: Beau (2001), S. 151 ff. APP Ba 153, Protokoll vom 3. 7. 1886 und Flugblatt von Anfang 1894. Berlanstein, Working, S. 7. Miller, S. 46. Cucheval-Clarigny/Flavin, S. II.

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in den anderen Warenhusern sind schwer zu ermitteln, da sich die meisten Angaben widersprechen. Grund hierfr drften die starken, saisonabhngigen Vernderungen und die teilweise nicht eindeutigen Definitionen der Arbeitspltze gewesen sein. Am vertrauenswrdigsten scheinen die ungefhren Zahlen, die Lesselier fr das Jahr 1910 angibt. Demnach hatte der Bon March 4500 Angestellte, der Louvre 3500 – 4000, die Galeries Lafayette 2700, der Printemps 1350 und der BHV 1200.71 Die in dieser Zeit stark wachsende franzçsische Hauptstadt war auf die Zuwanderung von Arbeitskrften aus der franzçsischen Provinz angewiesen. Gerade die Warenhuser warben aktiv Arbeitskrfte in der Provinz an. Doch war es nicht nur der Arbeitskrftemangel, der die Unternehmen zu diesem Schritt veranlasste. Hufig forderten die von außerhalb kommenden Angestellten auch einen deutlich niedrigeren Lohn und hatten zudem eine bessere Ausbildung. Nach FranÅois Farauts Untersuchung zu den Angestellten im Bon March ergibt sich eine Verteilung der Geburtsorte zu jeweils einem Drittel zwischen Land, Kleinstdten und Paris selbst.72 Allerdings stellte das Haus zum großen Teil Personal ein, das zuvor bereits im Pariser Einzelhandel ttig gewesen war. Allein von Jules Jaluzot und seinem Printemps ist berliefert, dass sein Unternehmen die Verkufer zur Stellenannahme in Paris bewegte, in dem es Werbeaktionen in seiner Heimatregion, der Ni vre, veranstaltete und mit Prmien von zwanzig Francs versuchte, Arbeiter und Verkufer fr sein Haus zu werben.73 Hierfr wurde er allerdings von gewerkschaftlicher Seite scharf angegriffen: Jaluzot wrde alle arbeitsfhigen Jungen aus Ni vre abwerben, sie zu geringen Lçhnen in Paris arbeiten lassen, wo sie mit dreißig Jahren an Tuberkulose sterben wrden.74 In den meisten Fllen war der Zuzug nach Paris nicht auf die direkte Initiative der Warenhuser zurckzufhren, sondern auf die Attraktivitt der mçglichen Lçhne im Pariser Einzelhandel, der durch die urbane Verdichtung wesentlich leistungsfhiger und ertragreicher war als in anderen Stdten Frankreichs oder Europas. Viele zugewanderte Verkufer kamen aus Familien kleinerer Ladenbesitzer oder hatten zumindest eine Lehre in einem kleinen Einzelhandelsgeschft absolviert.75 Hierdurch konnten es sich die Pariser Unternehmen zudem erlauben, selbst nicht auszubilden. Auch wenn die neu Anzustellenden zumeist schon vorher gearbeitet hatten, akzeptierten die meisten Huser sie nur bis zu einem Alter von dreißig Jahren. Jenseits dieser Grenze hatten sie in der Regel keine Chance mehr, in einem Warenhaus beschftigt zu werden.76

71 72 73 74 75 76

Lesselier, S. 109 f. Faraut, EnquÞtes, V, S. 19. Protokoll vom 10. 2. 1890; APP Ba 153. Protokoll vom 2. 2. 1893; APP Ba 153. Miller, S. 78; Du Marrousem, S. 947. Protokoll vom 17. 3. 1893; APP Ba 153.

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Die Angestellten fanden in den großen Husern vollstndig andere Konditionen vor als in traditionellen Beschftigungsverhltnissen im Einzelhandel. Die „grande arme“,77 in der die Angestellten arbeiteten, war eine Arbeitsgruppe von hçchster Flexibilitt. Die neu angestellten Arbeitskrfte waren niemals sicher, wie lange sie in den Husern blieben. Hufig genug dauerte ihr Arbeitsverhltnis nur wenige Wochen oder Monate.78 Nicht nur durch Entlassungen, auch durch interne Umschichtungen konnten sich die Angestellten innerhalb von kurzer Zeit in ganz anderen Anstellungsformen wiederfinden als die, fr die sie eigentlich eingestellt worden waren.79 Im Ausgleich hierzu wurde nach einigen Dienstjahren einmal pro Jahr ein Urlaub gewhrt. Auch die Arbeitszeiten der Angestellten waren flexibel. Gerade in den Jahren nach der Entstehung der großen Huser gab es keinerlei feste Regelungen und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums sollte auch eine zentrale Lçsung durch den Staat fr dieses Problem ausbleiben. Allerdings wurde 1906 das Gesetz zum wçchentlichen Ruhetag, dem repos hebdomadaire eingefhrt. In der Diskussion dieses Entwurfes spielten die Warenhuser und die Situation der Pariser Einzelhandelsangestellten eine zentrale Rolle.80 Dass auf nationaler oder lokaler Ebene einheitliche Regelungen fehlten, bedeutete allerdings nicht, dass die Arbeitszeiten grundstzlich ungeregelt blieben. Vielmehr vollzog sich dies innerhalb der einzelnen Huser. Hufig waren entsprechende Regelungen in den Betriebsordnungen festgeschrieben und konnten von der Belegschaft eingefordert werden. Lain gibt 1911 die regulre Arbeitszeit in einigen Husern an. Danach betrug sie beim Bon March und den Galeries Lafayette gut zehn, bei Printemps und Louvre etwa 11 Stunden. Hinzu kamen Pausenzeiten von durchschnittlich einer Stunde.81 Abweichungen von diesen allgemeinen Zeiten waren allerdings in allen Husern mçglich und zu bestimmten Anlssen war es blich, dass die Angestellten auch bis Mitternacht und darber hinaus in den Husern arbeiten mussten.82 Die Galeries Lafayette wiesen die strksten Schwankungen bei den Arbeitszeiten auf. Das Haus konnte diesen flexiblen Arbeitseinsatz gegenber seiner Gewerkschaft trotz relativ großer Proteste in den Jahren vor dem Weltkrieg durchsetzen.83 Ohnehin lsst sich an den Regelungen zur Arbeitszeit die Schwche der Verhandlungspositionen der Angestellten gegenber den 77 Du Marrousem, S. 946. 78 Miller rechnet mit Entlassungen von etwa vierzig Prozent in den ersten fnf Jahren; hinzu kamen vierzig Prozent, die das Haus auf eigenen Wunsch verließen; Miller, S. 83. 79 Faraut, EnquÞtes, IV, S. 5 f. u. S. 20. 80 „Le Repos hebdomadaire des employs“, in: La Fronde, 10.8.1900. 81 Lain, S. 45. 82 La Petite Rpublique, 2.4.1900. 83 Wie etwa bei einem der grçßten Warenhausstreiks vor dem Ersten Weltkrieg vom 9.10.1907 bis zum 4.1.1908, APP Ba 152; Office du Travail, Statistiques des gr ves et des recours la conciliation.

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Unternehmern ablesen. Eine generelle Verkrzung – eines der Hauptziele der Gewerkschaften – konnte bis 1914 nicht durchgesetzt werden, die durchschnittliche Arbeitszeit wurde zwischen 1892 und 1911 lediglich um 20 Minuten reduziert.84 Noch individualisierter und weniger eindeutig als die Regelung der Arbeitszeiten war fr die Angestellten die Bezahlung. Weit entfernt von einem flchendeckenden Tarif fr die ganze Stadt, variierten die Zahlungssysteme nicht nur zwischen den Husern, sondern auch in den Husern selbst. Im Untersuchungszeitraum hatte sich zunchst eine fast ausschließlich flexible Bezahlung der mnnlichen Verkufer durchgesetzt. Saint-Martin gibt ein fixes Gehalt von lediglich 50 Francs fr die Verkufer an,85 das allerdings bei Weitem nicht ausreichend gewesen wre, um den Lebensunterhalt zu sichern. Viele andere Quellen beschreiben, dass gerade der Bon March nach dem Tod Boucicauts auf die Zahlung eines fixen Gehalts ganz verzichtete. Erst nach zehn Dienstjahren wurde den Angestellten ein Anrecht auf ein jhrliches Fixgehalt von 1000 Francs zugebilligt.86 Der weitaus grçßte Teil der Bezahlung bestand damit aus einer individuell-erfolgsabhngigen Komponente, der sogenannten guelte. Dieser Teil des Gehaltes richtete sich neben dem individuellen Verkauf auch nach der Abteilung, in welcher die Verkufer ttig waren. Die Undurchsichtigkeit dieses Entlohnungssystems einerseits und das Prinzip der hierdurch begrndeten gegenseitigen Konkurrenz unter den Verkufern andererseits fhrten dazu, dass das System der guelte mehr und mehr in die Kritik geriet. Das Prinzip einer Bezahlung, die weder das Alter der Verkufer noch ihre unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen bercksichtigten, wurde von immer mehr Angestellten als zutiefst ungerecht empfunden; das System „favorisiere vor allem die Jngeren, die durch ihre hçhere Beweglichkeit schneller und mehr verkaufen kçnnen.“87 Die Abschaffung der guelte beziehungsweise die Einrichtung eines Systems der Bezahlung nach dem Umsatz der ganzen Abteilung wurde zu einer zentralen Forderung der Gewerkschaften. Sie argumentierten, dass „diese Zahlung […] unmoralisch ist, da sie die Verkufer dazu bringt, die Kundschaft bezglich der Qualitt der Waren zu betrgen. Daneben ist sie aber auch der Grund der Rivalitten zwischen den Verkufern der gleichen Abteilung, da diese sich gegenseitig betrgen und sich in einem stummen Krieg befinden, der unversçhnliche Feinde hervorbringt, nur um jeweils die hçchsten Umsatzzahlen zu erreichen.“88 84 Rechenschaftsberichte der chambre syndicale des employs fr 1892 und 1911; APP Ba 153. 85 Saint-Martin, S. 64. 86 La Petite Rpublique, 2. 4. 1900; D’Avenel, Grands magasins, S. 351. Diese Aussagen werden auch durch die Statistik von FranÅois Faraut fr den Bon March besttigt; Faraut, EnquÞtes, V, S. 18; Miller, S. 81. 87 Lain, S. 55. 88 Protokoll vom 7. 12. 1893, APP Ba 153.

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Aufgrund des komplexen Bezahlungssystems war die reale Hçhe der Lçhne kaum festzustellen. Sie gingen in den Extremen weit auseinander. So gab d’Avenel an, dass die Angestellten unter 2000, aber auch weit ber 4000 Francs verdienen konnten.89 Auch die Prozessakten des conseil de prud’hommes beschreiben eine Spannbreite zwischen 1400 Francs und 3600 Francs jhrlich.90 Ein realistischer Mittelwert scheint zwischen 2400 und 2800 Francs pro Jahr gelegen zu haben.91 Die Frage nach der Bezahlung sollte auch die sozialen Leistungen fr die Angestellten nicht vernachlssigen, die von den Unternehmen noch vor dem Krieg eingerichtet wurden und die Teil der materiellen Vorzge der Anstellung in den Husern waren.92 So bleibt eine schwer zu bewertende Diskrepanz bestehen zwischen den hufigen Beschwerden der Belegschaft und der Tatsache, dass der Bon March auf der Weltausstellung von 1900 fr sein besonders soziales Entlohnungssystem ausgezeichnet wurde.93 Dieses System bestand gerade darin, dass die Angestellten auch am Gesamtgewinn des Unternehmens noch einmal beteiligt waren, dass aber dieser Anteil direkt der caisse de prvoyance (Sozialkasse) des Unternehmens zugute kam. Die fr die Jury der Weltausstellung beeindruckende Zahl von 1225 Angestellten, die von den Zahlungen dieser Kasse in den dreißig Jahren ihrer Existenz profitiert htten, muss allerdings in Relation zu der hohen Personalrotation des Unternehmens gesehen werden. Diese Perspektive zeigt die geringen Chancen des einzelnen Angestellten, tatschlich in den Genuss dieser Zahlungen zu kommen. Viele dieser sozialen Modelle drften bedeutend gewesen sein, weil sie disziplinierend wirkten. Die Angestellten hatten einen zustzlichen Anreiz, sich trotz widriger Arbeitsverhltnisse darum zu bemhen, dass das Arbeitsverhltnis verlngert wird. In Bezug auf die durchschnittlichen Gehlter, die Berlanstein fr diese Zeit fr die arbeitende Bevçlkerung von Paris angibt, zeigt sich folgendes Bild: Bei durchschnittlich 300 Arbeitstagen im Jahr konnte ein Arbeiter in der Hauptstadt zwischen 1 500 und 2 400 Francs pro Jahr verdienen, ein Handwerker zwischen 1 800 und 2 700.94 Die Warenhausangestellten befanden sich also auf einem Lohnniveau, das am unteren Rand des Durchschnitts liegen, aber auch weit ber alle anderen Entlohnungen der relativ niedrigen Qualifikationsstufen hinausgehen konnte.

89 D’Avenel, Grands magasins, S. 351. 90 So etwa Urteil des Conseil de Prud’hommes vom 3. 6. 1909, AP D 1 U10 863 oder Urteil vom 7. 9. 1911, AP D 1 U10 870. 91 La Petite Rpublique, 2.4.1900. 92 Miller, S. 102. 93 Exposition universelle internationale de 1900 Paris, Rapports du Jury international. Classe 102 – Rmunration du travail. Participation aux bnfices, festgehalten von Trombert, Exposition, S. 107 ff. 94 Berlanstein, Working, S. 44.

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Die Arbeitssituation der nicht im Verkauf ttigen Angestellten war in jeder Hinsicht stabiler. Sowohl Anforderungen und Arbeitszeiten als auch die Bezahlung waren in diesen Gruppen genau definiert. So begann ein Kassierer im Bon March mit einer Bezahlung von 2 000 Francs und bekam je nach Dienstalter regelmßige Erhçhungen, die bis zu einem Niveau von 3 600 Francs fhren konnten. Im Gegenzug lagen seine Arbeitszeiten noch ber denen der Angestellten, da sie morgens frher begannen.95 Mit am stabilsten war die Situation der Angestellten, die keinen Kontakt mit der Kundschaft hatten. Zwar bekamen sie weniger Lohn als die Verkufer, diesen dafr aber regelmßiger. So verdiente ein Buchhalter ber 3 000 Francs pro Jahr,96 ein einfacher Brogehilfe zwischen 1 800 und 2 000 Francs.97 Die Einzelhandelsangestellten, hnlich wie andere gering qualifizierte Berufsgruppen, waren eine weitgehend stumme Gruppe. Selbstzeugnisse oder Akte der Selbstinszenierung blieben selten. Wie sind diese Angestellten der Pariser Warenhuser zuzuordnen? Die statistiques des grves sind hier eindeutig und rechnen die Angestellten zu den ouvriers.98 Doch Formen und Hçhe der Bezahlung deuten in eine andere Richtung. Der Stabilitt der Arbeitsverhltnisse im Handwerk standen hier eine große Flexibilitt und volatile Bezahlungssysteme bei den Verkufern und Angestellten der Warenhuser gegenber, die sich zu ihrem Vorteil, aber auch deutlich zu ihrem Nachteil auswirken konnten. Besonders in Krisenzeiten fhrte das zu einer Unterminierung ihrer Verhandlungspositionen und machte die Angestellten beinahe zu einer frei mançvrierbaren Verhandlungsmasse. Das Arbeitsprofil der Pariser Warenhausangestellten lag im Spannungsfeld zwischen brgerlichem Habitus und prekren Lebensverhltnissen, ganz im Sinne von Andr Lain: „Durch seinen sozialen Hintergrund, seine Gebruche und seinen Umgang mit der Kundschaft und dem Vorgesetzten ist der Angestellte brgerlich. Leider ist er es sehr viel weniger durch die Ressourcen, die ihm zur Verfgung stehen.“99

95 96 97 98

„Les Employs de Magasins“, in: La Petite Rpublique, 2.4.1900. So das Urteil gegen einen Comptable vom Printemps vom 10. 11. 1910, AP D 1 U10 867. Urteile vom 24. 11. 1910 und 19. 1. 1911, AP D 1 U10 867 und 868. So etwa beim Streik in den Galeries Lafayette ab dem 7. 10. 1907, in: Statistiques des gr ves et des recours la conciliation, hrsg. v. Office du travail, 1907. 99 Lain, S. 144.

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Prekre Arbeit gleich weibliche Arbeit? Die Konstruktion marginaler Verhandlungspositionen Die kritische çffentliche Wahrnehmung des Warenhauses beschrnkte sich zumeist auf die regulren Arbeitskrfte, im Wesentlichen also das angestellte Personal im Verkauf. Unternehmensintern war diese Gruppe allerdings noch sehr viel bessergestellt als das Hilfspersonal, das çffentlich kaum in Erscheinung trat. Dieses leicht zu mançvrierende Personal war fr das Kalkl der Unternehmensfhrung ein sehr wichtiger Teil der Belegschaft. Im Warenhaus arbeiteten vor allem Frauen unter prekren Arbeitsbedingungen. Keine andere stdtische Großbetriebsform beschftigte einen vergleichbaren Anteil weiblichen Personals wie die Warenhuser.100 Zwar nahm der Prozentsatz weiblicher Arbeitskrfte im Verkauf ab, was die Warenhuser nach außen hin durchaus als eine soziale Leistung auszugeben suchten.101 Doch galt das nicht fr die Vielzahl von Anstellungsformen in den zuarbeitenden Diensten mit ihren vielfltigen Aufgabenbereichen. Die vielen Heimarbeiter bildeten die grçßte Gruppe dieser Dienstleister. So wurde die Zahl der beim Bon March beschftigten Heimarbeiter zeitweise auf bis zu 10 000 Personen geschtzt. Die Heimarbeiter hatten aber selbstverstndlich keine festen Vertrge, die sie dauerhaft an das Haus oder andersherum das Haus an die Arbeiter gebunden htten. Noch weniger war der Bon March ihnen gegenber zu Sozialleistungen verpflichtet. Die auftragsgesteuerte Zuarbeit fr diese Huser machte kurzfristig ganze Viertel der Hauptstadt von sich abhngig, so etwa die Spielwarenindustrie des Marais.102 Das Beschftigungsverhltnis der Heimarbeiter wurde allerdings nicht durch Arbeitsvertrge abgesichert, sodass sie offiziell nicht als Teil des Unternehmens betrachtet wurden und nicht mit einer sozialen Absicherung rechnen konnten, wenn die Nachfrage zurckging oder sich das Konsumverhalten der Kunden dauerhaft nderte. Diese Auslagerung von Arbeit konnte vielfltige Formen annehmen. So beschftigte der Bon March nicht nur stdtische Zuarbeiter, sondern ließ nach FranÅois Faraut einen Teil seiner Nharbeiten von einem Klosterkonvent ausfhren.103 Doch beschrnkten sich diese prekren Beschftigungsverhltnisse, in denen vor allem Frauen arbeiteten, nicht nur auf die produzierende Heimarbeit. Vielmehr gab es auch eine Vielzahl von Stellenprofilen in den Husern, die vorwiegend mit weiblichen Krften besetzt waren. Hierzu gehçrten Arbeiten, fr die keine besondere Ausbildung nçtig war, wie die neu geschaffene Stelle der dbitrice, die fr die Kunden Waren transportierte. Hinsichtlich ihres Status, der Arbeitszeiten, der Konditionen und Rechte, was beispiels100 101 102 103

Berlanstein, Working, S. 120. D’Avenel, Mcanismes, S. 80 ff. Du Marrousem, S. 927. Faraut, EnquÞtes, IV, S. 12.

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weise die Esssenspausen betraf, waren die Angestellten gegenber allen anderen benachteiligt. Die Gleichstellung dieser Ttigkeit war daher eine zentrale Forderung der Gewerkschaften.104 Auch in den Expeditionsdiensten waren die Frauen vertreten. Dagegen gab es kaum weibliche Arbeitskrfte in der Verwaltung der Huser. Nur beim Printemps waren Frauen im Schreibdienst ttig.105 Fr die anderen Huser galt auch in diesem Bereich, dass die meisten Angestellten Mnner waren. Eine Abbildung der Verwaltungsarbeit im Bon March besttigt dies.106 Mit der Diversifikation der Dienste entstanden in den Husern viele neue Anforderungen, beispielsweise musste die fremdsprachige Korrespondenz erledigt und das Versandgeschft betreut werden. Diese Stellen wurden mehr und mehr an Frauen vergeben.107 Auch unter dem gewçhnlichen Verkaufspersonal gab es immer einen gewissen Anteil Frauen, die in erster Linie in Zeiten kurzfristig erhçhter Arbeitsnachfrage eingesetzt wurden. Im Bon March und im Louvre waren im Jahr 1894 jeweils etwa 500 Verkuferinnen beschftigt.108 Nach der stichprobenartigen Untersuchung von FranÅois Faraut lag der Anteil der Frauen beim Verkaufspersonal im Bon March im untersuchten Zeitraum bei einem Verhltnis von etwa 1:6 zu den mnnlichen Angestellten. Ihr Lebensweg war dabei hnlich dem der Mnner : Zunchst arbeiteten sie eine Zeit lang in anderen

Abbildung 7: Bearbeiten der Korrespondenz im Bon March, 1890. 104 105 106 107 108

L’Aurore, 25.4.1900. Lesselier, S. 110. Cucheval-Clarigny/Flavin. Lesselier, S. 110. D’Avenel, Grands Magasins, S. 364.

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Pariser Einzelhandelsgeschften, um dann die Stellung im Bon March anzunehmen. Das Eintrittsalter lag zwischen 19 und 29 Jahren, da die Huser Frauen, die lter als dreißig Jahre waren, nicht einstellten .109 Die Frauen begannen allerdings nicht direkt als Verkuferinnen, sondern als bistots, eine Verkuferin, die nur zu speziellen Zeiten verkaufte.110 Insgesamt ist es sehr schwierig, die Zahl weiblicher Arbeitskrfte in den Warenhusern zu erfassen, da es teilweise hybride Arbeitsformen gab, die kaum eindeutig dem Unternehmen zuzuordnen sind. Nur Lesselier versucht, fr das Jahr 1910 przise Zahlen anzugeben: So habe der Bon March 1300 Mitarbeiterinnen gehabt, was etwa 29 Prozent der Belegschaft entspricht. Beim Louvre seien es etwa 1000 gewesen (25 Prozent).111 Der geringe Anteil weiblicher Beschftigter wird noch deutlicher werden, wenn die Zahlen spter mit denen der Warenhuser in Deutschland verglichen werden. Im direkten Vergleich mit den Arbeitsbereichen der Mnner war allerdings die weibliche Arbeit in den Husern gleich. Anforderungen und Arbeitskonditionen stimmten im Wesentlichen berein.112 Lediglich in einem Punkt waren die Unterschiede zwischen weiblichen und mnnlichen Angestellten betrchtlich – in der Bezahlung. Fr die Dienste, die außerhalb des Verkaufsbereiches stattfanden, fingen die jungen Arbeitnehmerinnen bei einem Tagessatz von 2 Francs 75 an und erhielten in den Folgejahren Gehaltssteigerungen bis hin zum Maximalgehalt von 5 Francs pro Tag.113 Bei einem Jahr mit 300 Arbeitstagen belief sich der Verdienst auf 825 bis 1 500 Francs. Auch die entsprechenden erfolgsabhngigen Gehaltszahlungen waren niedriger. Beim Printemps begann eine Verkuferin mit einem Fixgehalt von 700 Francs; es konnten zwischen 550 und 2 100 Francs guelte hinzukommen. 2 100 Francs drften allerdings erst nach langer Dienstzeit erreicht worden sein. Normal erscheint ein Verhltnis von festem Gehalt und guelte von 1:1, sodass mit einem Gehalt zwischen 1 300 und 1 500 Francs zu rechnen ist. Im Vergleich zu den Mnnern verdienten die Frauen also etwa dreißig Prozent weniger. Es sollte hinzugefgt werden, dass es nach einem eventuellen Aufstieg zur seconde oder premire de rayon beim Gehalt keine Grenze nach oben gab. Die Frauen konnten in diesen Fllen 6000 Francs und mehr verdienen.114 Doch war es fr die Frauen noch viel schwieriger als fr die Mnner, auf so eine Position 109 110 111 112

Faraut, EnquÞtes, V, S. 13 und 19. Lain, S. 13. Lesselier, S. 109. Dies hinderte allerdings die zeitgençssischen Beobachter nicht daran, nur die Situation der Frauen als skandalçs zu beschreiben. Dass die Situation der Mnner dabei exakt gleich war, schien die meisten Beobachter nicht zu interessieren; als gutes Beispiel Saint-Martin, S. 206. 113 „Les employs de Magasins“, in: La Petite Rpublique, 2. 4. 1900; hnliches gibt Lesselier fr die Hilfsmdchen beim Printemps an, die zwischen 3 Francs und 3,50 Francs verdient haben sollen; Lesselier, S. 114 f. 114 Ebd., S. 115; so auch die Angaben zu einer Premi re von Printemps und einer Seconde bei den Galeries Lafayette, die sich in den „Proc s Verbaux des conseil de prud’hommes“ finden; Prozesse vom 28. 10. 1909, D 1 U10 864 und 23. 4. 1914, D 1 U10 878.

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im Unternehmen zu gelangen; je hçher die Hierarchieebene war, desto geringer war der Frauenanteil.115 In Bezug auf Ausbildung und Herkunft der Angestellten lassen sich keine gravierenden Unterschiede zwischen weiblichen und mnnlichen Angestellten feststellen. Nur 37 Prozent der Verkuferinnen des Bon March kamen aus Paris, der berwiegende Teil war also aus der Provinz zugezogen.116 Zur ohnehin prekren Situation der weiblichen Angestellten kam der Druck durch die beobachtende ffentlichkeit hinzu. Die Arbeit der Frauen in den Warenhusern wurde meist als ein Problem der Gesellschaft gesehen, in der Regel wurde die Schuld hierfr aber direkt bei den Frauen selbst gesucht: „Die wahren Verursacher dieser unglcklichen Verhltnisse sind aber nicht die Warenhuser, sondern vielmehr diese Masse von Arbeiterinnen, die blindlings ihr lndliches Leben verlsst, um sich in den großen Stdten anzusammeln und von der Industrie und dem Handelsgeschft zu leben. Sie machen sich gegenseitig Konkurrenz; […] die Industrie hat bereits zu viele Hnde; der Landwirtschaft dagegen fehlt es daran. Lasst sie doch zurckgehen aufs Land: Aber sie wollen ja lieber in den Stdten leben. Pech fr sie und Glck fr die Gesellschaft, denn die triste Existenz, die sie hier fhren, ist der einzige Weg, die anhaltende Landflucht, die das große bel unserer Tage ist, zu stoppen.“117

Der hochmoralisierende Diskurs der Zeit stellte bald die Verbindung zwischen einem alten, in der brgerlichen Welt verbreiteten Bild der arbeitenden Fabrikarbeiterin und der neuen Form angestellter Arbeit in der Stadt her. Zum Bild der ouvrire isole118 kam die „employe constament enferme“ hinzu,119 und beide Typen wurden als Problem wahrgenommen. Dieser gesellschaftliche Druck bersetzte sich relativ direkt auf die schwache Verhandlungsposition im betrieblichen Kontext und auf eine prekre Entlohnung. Auch wenn die prekren Anstellungen und die Hilfsarbeit in den Warenhusern vorwiegend weiblich konnotiert war,120 gab es auch noch andere Formen der Hilfsarbeit. Den weiblichen Arbeitern standen die hommes de peine oder in einer etwas gelufigeren Ausdrucksweise die garÅons de magasins gegenber,121 die das paternalistische Bild der Unternehmensfamilie

115 Faraut zhlt in seiner Studie noch 4 Flle oder 8 Prozent an Befçrderungen in die nchsthçhere Hierarchiestufe, Faraut, EnquÞtes, V, S. 17. 116 Ebd., V, S. 13. 117 Demolins, Question, S. 17. 118 Scott, S. 122 ff. 119 Darvill, S. 168. 120 Chabault/Lomba, S. 160. 121 Den ersten Ausdruck verwendet D’Avenel, Grands Magasins, S. 354, der zweite dagegen kommt von den Angestellten selbst, die unter diesem Namen ihre ersten gewerkschaftlichen Vertretungen bildeten, APP Ba 152.

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vervollstndigten. Der Arbeitsbereich dieser mnnlichen Arbeiter war nicht exakt definiert, er betraf alle Bereiche, die nicht in direktem Kontakt mit der Kundschaft waren. Im Vordergrund stand hier in erster Linie der Einsatz kçrperlicher Arbeit. Der Rckgriff auf eine solche undefinierte und gleichzeitig meist vollstndig unqualifizierte Arbeit war je nach Haus unterschiedlich. Die meisten dieser Arbeitskrfte waren bei den Galeries Lafayette zu finden. Hier bildete diese Gruppe durch ihre geringe hierarchische Rckbindung eine weitgehende Eigendynamik heraus, die sich besonders an der steigenden Zahl der Arbeitskonflikte ablesen lsst.122 Fr den Bon March gibt Faraut an, dass 71 Prozent der Hilfsarbeiter vom Land stammten, unter ihnen war also der Anteil derjenigen, die aus nichturbanem Umfeld kamen, noch deutlich hçher als in den anderen Kategorien. Ihre Aufstiegschancen im Bon March waren gleichzeitig außerordentlich eingeschrnkt, so konnten nur 21 Prozent in die Kategorie der Angestellten wechseln.123 Insgesamt wird vermutet, dass es in Paris etwa 50.000 dieser Hilfsarbeiter gab, von denen allerdings nur ein Bruchteil in den grands magasins arbeitete.124

1.3. Die Vermittlung der Organisation Visionen planerischen Handelns Planerisches Denken und reflektierter Aufbau einer Organisation hatten in den Warenhusern von Paris einen ambivalenten Charakter. Einerseits wurde der Aufbau der Huser sowohl intern als auch extern als ambitioniertes Projekt wahrgenommen. Dies galt gerade in Bezug auf die „zweite Generation“ dieser Warenhuser, die in der Zeit nach 1870 von Beginn an als große Einheiten gegrndet wurden. Es handelte sich um nichts weniger als um den Aufbau einer vollstndig neuen Organisationsform, durch die unter anderem der Absatz großer Teile des franzçsischen Einzelhandels neu organisiert wurde. Andererseits kommt Miller zu einer deutlichen Bewertung der planerischen Visionen im Bon March: „organizational planning in a comprehensive way was simply not part of the Bon March’s thinking.“125 Gibt es also einen Grund, in Bezug auf das Warenhaus dennoch von einem Plan zu reden, der eine bestimmte Organisationsrealitt zu etablieren oder wiederzugeben versuchte?126 Wie kaum ein anderes Unternehmen stand das Warenhaus im Dialog mit der ffentlichkeit und entwickelte Vorstellungen von der eigenen Organisation erst in Wechselwirkung mit der entsprechenden Selbstrepr122 123 124 125 126

Protokoll des chambre syndicale des employs, 10. 3. 1903, APP Ba 152. Faraut, EnquÞtes, V, S. 20. APP Ba 1431, Protokoll vom 23.6.1893. Miller, S. 67. Faraut, EnquÞtes, VI, S. 9.

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sentation. Im Fall des Warenhauses scheint es legitim, anstelle von Plnen von Bildern und Visionen mit handlungsleitender Funktion zu sprechen. Die zentralen Elemente dieser Eigenvorstellung sollen hier festgehalten werden. Im Zentrum dessen, was man als organisatorisches Grundkonstrukt ausmachen kann, stand die Wechselwirkung zwischen der leitenden Hierarchie und den im franzçsischen Warenhaus weitgehend autonomen Entitten der rayons. So waren die einzelnen Huser in ihrer Selbstdarstellung sehr daran interessiert, die einheitliche Autorittskette zu betonen, die zu jedem Zeitpunkt die Entscheidungen im Unternehmen koordinierte: „Die Autoritt ist oben und die Einheit der Direktion ist komplett; ein Impuls wird ohne Reibungsverluste an alle Ebenen der Hierarchie weitergereicht, wo die allgemeine Disziplin durch das denkbar wirkungsvollste Mittel sichergestellt ist: das direkte materielle Interesse des Untergebenen.“127

Die Unternehmer versuchten, sich als Trger absoluter Autoritt zu inszenieren. Die Statuten sahen allerdings vor, dass die Verwalter an der Spitze der Unternehmen einen wichtigen Teil ihrer Entscheidungskompetenzen abzugeben hatten. Und in der Lenkung der unterstellten Hierarchie traten sie einen gehçrigen Teil ihrer Autoritt ab. So machten die Unternehmer den rayon nicht nur zur kommerziellen Einheit ihres Denkens, sondern bertrugen den Leitern dieser Abteilungen eine fast unbegrenzte Handlungsvollmacht gegenber ihrem Personal.128 Der rayon sollte zu einem unabhngigen Geschftsbereich gemacht werden, der seinen eigenen Profit zu erwirtschaften hatte.129 Doch bei aller funktionellen Autonomie der rayons waren die Budgets und Verkaufsgrundstze genau definiert; nicht die „Spielregeln“ selbst konnten vom Abteilungsleiter verndert werden, sondern nur die Durchfhrungspraktiken. Neben diesem offenen Spannungsverhltnis zwischen Einheit der Hierarchie und Autonomie der Entscheidungsebenen130 zeigten die unternehmerischen Organisationsreflexionen allerdings konvergierende Linien, die hufig in Form von technischen Bildern kommuniziert wurden. Das Warenhaus wurde als rouage, als Rderwerk gedacht, das die Bedrfnisse des modernen Lebens mit hoher Przision erfllte.131 Erst das Ineinandergreifen sich scheinbar autonom bewegender Rder fhrte in diesem Bild zur kontinuierlichen Funktion des Ganzen.

127 128 129 130 131

Historique du Bon March, S. 15. Saint-Martin, S. 61, Demolins, Question, S. 21. Lain, S. 33. Chabault/Lomba, S. 163. Dieses Motiv erscheint auch bei Emile Zola, der in seinen Untersuchungen zum Warenhaus schreibt: „Die Angestellten beiderlei Geschlechts sind nur noch Zahnrder“; Zola, Carnet, S. 182.

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Die technischen Vorrichtungen in den Warenhusern wurden auch nach außen hin als innovatives Moment prsentiert.132 So erregte die Erfindung des ersten Fließbandsystems fr die Bearbeitung des Postausgangs im grand magasin du Louvre die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen,133 ebenso wie das spter beim Einsatz der Fließbnder in der produzierenden Industrie der Fall sein sollte. Die Persistenz der Analogie von Warenhaus und Maschine ist so stark, dass sie auch in den aktuellen Arbeiten zu den historischen Unternehmen immer wieder hervorgehoben wird.134 Neben der Technik war es vor allem die Kontrolle, die eine zentrale Funktion in den Vorstellungen der Warenhausorganisation einnahm. Dreh- und Angelpunkt der Organisation der Huser sollte neben Hierarchie und Autonomie auch das Kontrollbro sein.135 Nach den Vorstellungen vieler Unternehmer sollte jede Handlung nicht nur nachgehalten, sondern rechnerisch berprfbar gemacht werden. Diese Form der buchhalterischen Kontrolle vermittelte ebenfalls eine Vision der Organisation, die auch eine Verbindung zu den spteren Arbeitskontrollen des Taylorsystems herstellt.

Jenseits des Familienunternehmens – Verwaltung der Grands Magasins Die Warenhausunternehmen waren in ihrer Struktur schon deswegen in stndiger Bewegung, da zwischen 1890 und 1914 die Architektur von Besitz, Kontrolle und strategischer Steuerung – der corporate governance – in stetem Umbruch war. Die Ablçsung der ersten Unternehmergeneration und der stets wachsende Bedarf an Betriebs- und Fixkapital sorgten dafr, dass an der Spitze der Unternehmen Vernderungsprozesse stattfanden. Gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung der Familie als leitendem Faktor in vielen franzçsischen Unternehmen der zweiten Industrialisierung136 ist es erstaunlich, wie frh die Pariser Warenhuser sich von der Prdominanz dieser familiren Strukturen zu lçsen begannen. Der bereits erwhnte latente Kapitalbedarf der Unternehmen machte bald nach der Grndung das Engagement institutioneller Anleger notwendig, womit regelmßig tagende Kontrollgremien verbunden waren. Eine alleinverantwortliche beziehungsweise nur gegenber einzelnen stillen Teilhabern verantwortliche Leitung eines Hauses existierte zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr. Die Unternehmen hatten ihre Rechtsform zum berwiegenden Teil in Kommanditgesellschaften auf Aktien (socits en commandite 132 133 134 135 136

Darvill, S. 167. Diese ersten Systeme wurden im Louvre eingesetzt; D’Avenel, Grands Magasins, S. 353. Etwa Faraut, EnquÞtes, IV, S. 13. Miller, S. 60. Levy-Leboyer, Le patronat, S. 142 ff.

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sur actions) umgewandelt.137 Insofern waren sie dazu verpflichtet, Statuten zu verabschieden und einen conseil d’administration einzusetzen. Das einzige Haus, das diese Trennung von Leitung und Besitz mehr oder weniger seit dem Anfang festgelegt hatte, war das Grand Magasin du Louvre. Diese Grunddisposition war bereits durch die versteckte Finanzierung des Unternehmens durch die Bankiersfamilie Pereire vorgegeben.138 Der Verwalter war von Beginn an der kritischen Kontrolle seiner Kapitalgeber unterworfen, auch wenn diese funktionale Unterscheidung formal erst 1890 durch die Grndung einer Aktiengesellschaft endgltig festgeschrieben wurde.139 Damit war der Louvre in Beziehung auf seine Lenkung und Kontrolle eine Art Vorbild, an dem sich die anderen Huser in den nchsten Jahren orientierten. Im Bon March wurde durch den Tod des Unternehmensgrnders und seiner Frau die Besitzfrage aufgeworfen. Der zunchst homogene Besitz wurde nun in die Hnde der Angestellten bergeben, ein Vorgang, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur innerhalb der Branche, sondern in der gesamten franzçsischen Unternehmensgeschichte einzigartig war. Das Aktienkapital des Bon March wurde in 400 Aktien aufgeteilt, die sich nochmals in je acht Teilaktien (coupures), insgesamt also 3 200 Anteilsscheine aufspalteten.140 Diese wurden dann zum grçßten Teil an die Mitarbeiter des Unternehmens vergeben, ein Prozess, der noch zu Lebzeiten der Witwe von Aristide Boucicaut, Marguerite Guesnin, begann. 1886, ein Jahr vor ihrem Tod, besaß sie selbst mit 226 Aktien zwar noch weit mehr als die Hlfte des Aktienkapitals, die anderen Aktien verteilten sich aber fast vollstndig auf die Angestellten des Hauses. So fanden sich auf der Aktionrsliste 14 Verwalter, 44 Abteilungschefs, zehn ihrer Stellvertreter, elf Inspektoren, vier Kassierer, acht Angestellte, fnf ehemalige Angestellte, ein Brochef und sein Assistent sowie vier nicht nher bezeichnete rentiers. Nur 15 Aktionre kamen von außerhalb. Mit ihrem Tod wurde der Grundsatz der innerbetrieblichen Zirkulation des Aktienkapitals endgltig in den Unternehmensstatuten festgeschrieben. Nach der Satzung durfte ein fremder Investor nur nach ausdrcklicher Zustimmung der Aktionrsversammlung Aktien des Unternehmens erwerben; innerhalb des Hauses war dagegen ein solcher Handel durchaus erlaubt.141 Diese Verteilung des Aktienkapitals unter der Belegschaft fhrte zu einer progressiven Streuung des Besitzes, die ihren Niederschlag in der immer kleineren Stckelung der Nennwerte fand.142 Fr die Leitung des Unternehmens bedeutete dies, dass

137 138 139 140 141 142

Homburg, Warenhausgrnder, S. 172. D’Avenel, Mcanismes, S. 23 f. CAMT 65 AQ 116. D’Avenel, Grands magasins, S. 338 f. Art. 4 des Statuts von 1897, CAMT 65 AQ T 201. Bis 1913 hatte sich so eine Stckelung des Firmenkapitals in 128 000 Aktien mit einem jeweiligen Nominalwert von 156,25 Francs ergeben; Statuts von 1913, CAMT 65 AQ T 201.

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die Kontrolle der Unternehmensfhrung nun durch eine große Zahl von Aktionren zu geschehen hatte, die noch dazu wiederum zum großen Teil in die Hierarchie eingebunden waren. Dennoch bte der Rat der Aktionre eine wichtige Funktion in der Leitung aus, da sie die neuen administrateurs ernannten, die durch das rotierende System an der Spitze des Unternehmens regelmßig ausgetauscht wurden.143 Durch diese Form der Angestelltenbeteiligung wurde auch der Bon March zu einem Vorbild, das Nachahmer unter den anderen Warenhusern der franzçsischen Hauptstadt fand. Jules Jaluzot, der Besitzer des Printemps, hatte schon vor 1905 begonnen, die Angestellten des Hauses am Kapital zu beteiligen. Das vergleichsweise hohe Firmenkapital von 35 Millionen Francs, das Jaluzot nach dem Brand des Hauses 1881 aufnahm, verteilte er in den folgenden Jahren zum guten Teil auf seine Angestellten, wodurch er sein eigenes finanzielles Risiko minimierte.144 Durch diese vollstndige Neufinanzierung war er auch gezwungen, Hypothekenbanken an seinem Unternehmen zu beteiligen, die sich allerdings zunchst weitgehend aus den Geschften heraushielten. Allerdings war die Kapitalhçhe, die vor 1890 beinahe doppelt so hoch war wie die von Bon March und Louvre, viel zu groß, als dass seine Angestellten hierdurch eine gnstige Rendite htten erzielen kçnnen. Das Unternehmenskapital war damit so unrentabel, dass Jaluzot neben dem Pariser Haus andere Bewirtschaftungsmethoden finden musste. Er legte das Kapital in Geschftsformen an, die mit dem Einzelhandel nichts zu tun hatten. Diese Strategie fhrte zur finanziellen Krise von 1905, die den Unternehmer vollstndig aus dem Unternehmen drngen sollte und erneut zur Rekapitalisierung des Unternehmens fhrte.145 Die Krise, die zunchst vor allem die Angestellten des Unternehmens belastete, fhrte nun dazu, dass neben dem Wechsel an der Unternehmensspitze die Kontrolle der Handlungen des Unternehmers eingerichtet wurde.146 Zunchst blieb die Kapitalhçhe bei 35 Millionen Francs, wurde aber in den Jahren bis zum Krieg sukzessive um ein Drittel reduziert. Die spter gegrndeten Galeries Lafayette richteten sich weit weniger nach diesem Vorbild. Das seit 1893 bestehende Unternehmen wandelte sich 1899 in eine Aktiengesellschaft um, die auf einem Nominalkapital von 2,3 Millionen Francs basierte. Diese Kapitalbasis war vergleichsweise gering und musste immer wieder erhçht werden.147 Doch auch der Kapitalstock von 10 Millio-

143 Cucheval-Clarigny/Flavin, S. 24 f.; Miller gibt allerdings an, dass sich diese Form der Mitsprache lediglich auf diejenigen Administrateurs beschrnkte, deren Kapitalanteil 200 000 Francs berstieg. Ohne diese Einschrnkung wre ein solches System auch kaum vorstellbar. Miller, S. 131. 144 D’Avenel, Mcanismes, S. 36. 145 ACL 98 AH 047. 146 CAMT 65 AQ T 1511. 147 Conseil d’administration, Proc s Verbal 25. 1. 1905, Archives Galeries Lafayette.

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nen Francs im Jahr 1905 machte noch eine Verteilung des Kapitals auf ein breiteres familires Netzwerk ohne direkte Beteiligung der Angestellten mçglich.148 Bei beiden Modellen blieb die Macht der Kontrollgremien, die durch den Status als Aktiengesellschaft vorgesehen waren, verhltnismßig gering. Bei den Galeries Lafayette folgten die Mitglieder des conseil d’administration weitestgehend den Vorschlgen von Thophile Bader und Alphonse Kahn. Das lsst sich an den Protokollen dieser Sitzungen ablesen.149 War dieser Rat theoretisch mit einem Großteil der Aufgaben betreut, welche die strategische Ausrichtung und Personalentscheidungen des Unternehmens betrafen, delegierte er doch die Aufgaben an Thophile Bader und verzichtete auf eine kritische Diskussion der Entscheidungen. Die Unternehmer und Verwalter wurden regelmßig ohne Gegenkandidaten am Ende ihrer Amtszeit wiedergewhlt, ohne dass eine Aussprache stattfand.150 Auch wenn die Kapitalstruktur eine vollstndig andere war, funktionierte der conseil d’administration des Bon March nicht sehr anders. Hier fand ebenfalls keine kritische Auseinandersetzung statt. Allerdings weist Faraut darauf hin, wie wichtig in diesen Sitzungen die Personalentscheidungen genommen wurden. Kaum eine Sitzung fand statt, in der nicht die neuen Anstellungen und die Entlassungen beziehungsweise die Frage der sozialen Leistungen fr bestimmte frhere Angestellte thematisiert wurden.151 Grund hierfr mag die starke Beteiligung der Mitglieder des conseil an praktischen Fragen gewesen sein, waren sie doch beinahe alle im operativen Geschft des Unternehmens ttig gewesen. Fr Du Marrousem hatte dieses Gremium folglich mehr eine beratende, als eine wirklich kontrollierende Bedeutung: „Die Mitglieder des Rates werden immer wieder hinzugezogen, da man ihnen gegenber niemals die Gepflogenheiten der Hçflichkeit vergisst. Sie bilden einen Senat, oder noch richtiger, einen Generalstab.“152 Ausfhrendes Werkzeug blieb hingegen die grance, die Unternehmensdirektion. Der besondere Status, den der Bon March inne hatte, und die Verteilung seines Besitzes unter seinen Mitgliedern machten ihn auch fr die Zeitgenossen zu einem interessanten, wenn nicht gar kuriosen Modell der Unternehmensverwaltung. Der Bon March wurde in einigen Publikationen als Republik dargestellt, der man die Monarchie des grand magasin du Louvre gegenberstellte.153 Doch die Funktion und Arbeitsweise der kontrollierenden Gremien – nicht nur im Bon March, sondern auch im Printemps oder den Galeries Lafayette – lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Kontrollfunktion auf dieser Ebene jemals eine so große Wirkung hatte, dass sich nachhaltige 148 149 150 151 152 153

Gaston-Breton, S. 26. Proc s Verbaux du conseil d’administration 1899 – 1914, Archives Galeries Lafayette. Ebd. Faraut, EnquÞtes, IV S. 18. Du Marrousem, S. 930. Saint-Martin, S. 71 ff., D’Avenel, Mcanismes, S. 21.

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Vernderungen der Organisation des operativen Geschftes ergaben oder auch nur htten ergeben kçnnen. Die wesentlichen Teile der unternehmerischen Funktion blieben unangetastet. Die Frage nach einer republikanischen Verfassung des Bon March im Sinne einer geradezu genossenschaftlichen Organisation des Unternehmens ist somit in Zweifel zu ziehen.

Bildung oder Ausbildung: Von individueller Qualifikation zur systemischen Wissensverwaltung Der Einzelhandel war ein Berufsfeld mit einer recht hohen, aber kaum formalisierten Durchschnittsqualifikation. Ungeachtet der Komplexitt und der vielfltigen individuellen Kompetenzen,154 die den Beruf des Verkufers ausmachten, gab es in den Warenhusern fr die Anstellungen und Klassifizierungen der Angestellten kaum Qualifikationskriterien. Die Unternehmen verzichteten außerdem auf eine deutliche Aufgabenzuweisung.155 Die in diesem Bereich ttigen Arbeitskrfte erhielten traditionell eine Ausbildung, die nicht nur die Kenntnis der Waren und den Umgang mit der Kundschaft umfasste, sondern auch die Grundlagen der Betriebsfhrung, setzte sich doch der idealtypische Lebensweg eines Einzelhandelsangestellten nach der Karriere im grand magasin mit der bernahme seines eigenen Geschftes fort. Erste Lehrbcher fr die Fhrung solcher Kleinhandelsgeschfte untersttzten die Systematisierung dieser Qualifikationen.156 Dennoch bedeutete das nicht die offizielle und formalisierte Anerkennung dieser Berufsgruppen. Zwar entwickelte sich zur gleichen Zeit auch eine erste schulisch-kaufmnnische Ausbildung, die sich im brigen an das deutsche Vorbild anlehnte;157 doch war diese Ausbildung nicht fr die kleinen Angestellten konzipiert. Die Einzelhandelsausbildung im oben beschriebenen Sinne bildete auch den Qualifikationshintergrund fr die meisten Warenhausgrnder.158 In den Jahren nach den Geschftserçffnungen schien sich die Praxis, dass die Verkaufsangestellten nach einer Lernphase in kleineren Einzelhandelsgeschften in die lukrativeren Posten der grands magasins wechselten, durchzusetzen. Doch wurde einerseits eine solche umfassende Ausbildung mit der funktionalen Diversifizierung der Geschfte obsolet. Andererseits war der Personalbedarf der Unternehmen bald so groß, dass sie die Zahl ausgebildeter Angestellter berstieg. In den Warenhusern fand eine Ausbildung nicht statt.159 Alternativ dazu wurde das Personal in den Husern nur noch mit dem eng begrenzten Fachwissen ihres Ttigkeitsbereiches ausgestattet und auf eine 154 155 156 157 158 159

Haendel, La vente. Beau, Grand Bazar, S. 29. Faure, S. 165. Broder, S. 67 f. Miller, S. 20, S. 39 f. Lain, S. 6.

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standardisierte Verkaufssituation vorbereitet.160 Ein Einsatz dieser Kenntnisse in anderen Einzelhandelsgeschften war hierdurch meist ausgeschlossen. Saint-Martin beschreibt das typische Qualifikationsprofil eines Verkaufsangestellten: „Um zu verkaufen, haben die Warenhuser erstaunlich intensivierte Stellen geschaffen. Eine sehr klare Aufgabenteilung, eine sehr przise Trennung zwischen den Rollen der einzelnen Angestellten erlauben fr das ganze Personal eine bemerkenswerte Przision. Auf ihrem begrenzten Aufgabenfeld erlangen die Angestellten schnell eine ußerste Souvernitt […]. Vorauszusehen, ob der Kunde tatschlich bereit ist, etwas zu kaufen, seine Bedrfnisse einschtzen, seinen Geschmack verstehen und hieraus einen mçglichst großen Umsatz machen, darin besteht in etwa das Ziel eines jeden Verkufers.“161

Mit dieser nicht ansatzweise formalisierten Qualifikation hatte das Personal nach einer eventuellen Entlassung aus einem grand magasin kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz im Kleinhandel, fr den weiterhin eine vollstndigere Ausbildung notwendig war. Vor dem Hintergrund dieser schwachen Ausbildungsstrukturen kommt Haendel zu der Erkenntnis, dass ein System der Personalfortbildung und der Wissensvermittlung von großer Bedeutung fr die Huser war. Daraus schließt er, dass „nur die Unternehmen, die aus eigener Kraft fr ihre Situation geeignete Methoden zur Erziehung und zur bung ihres Verkaufspersonals einfhren konnten, auf einem natrlichen Weg zum Erfolg sind.“162 Doch es ging den Husern nicht nur um die Ausbildung rein individueller und funktioneller Qualifikationen. Eine ebenso wichtige Rolle spielten zwei andere Wissensreservoirs, die von unternehmerischer Seite mit Bedacht gepflegt wurden: 1. Durch ihre sich stndig erweiternden Aufgaben, durch die Verwaltung der immer grçßeren Liegenschaften und durch die Konfrontation mit einer internationalen Kundschaft auf dem Pariser Markt bemhten sich die Huser um den Aufbau einer großen Qualifikationsreserve. Diese umfasste einerseits die immer wichtiger werdende Einstellung von Personal aus den professions librales, den selbststndigen Berufsgruppen, die in keinem direkten Zusammenhang mit dem operativen Geschftsfeld der Huser standen. So wurden im Louvre oder im Bon March ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts etwa Architekten oder Juristen eingestellt, die auch bis zur Ebene der Geschftsleitung aufsteigen konnten.163 Hinzu kam die Ausbildung des eigenen Personals in Bereichen, die nicht direkt zu den operativen Funktionen gehçrten. So versuchte der Bon March, fr mçglichst viele seiner 160 161 162 163

Michel, S. 142 f. Saint-Martin, S. 60 ff. Haendel, La vente, S. 18. Du Marrousem, S. 929; er fhrt hier das Beispiel der Direktoren Honor und Plassard an.

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Angestellten eine Fremdsprachenausbildung einzufhren. Weitere paternalistische Aktionen, von denen auch noch in anderem Zusammenhang zu reden sein wird, zielten auf die literarische Bildung der Verkufer.164 Auf diese Weise sollten die Kommunikation und die Akzeptanz zwischen Kunden und Angestellten gesichert werden. Das Personal sollte sich einem brgerlichen Habitus tendenziell annhern, natrlich ohne dabei die soziale Schwelle im Verhltnis zu ihrer Kundschaft grundstzlich infrage zu stellen. Dem Wissen wurde in diesem Zusammenhang weniger eine funktionale als eine soziale Bedeutung beigemessen. Daraus folgte auch, dass das Unternehmen definierte, welchen Qualifikationsstand die einzelnen Angestellten zu erreichen hatten; es whlte sie nicht nach einer bereits vorhandenen, formellen Qualifikation aus. Wie spter beim Lndervergleich der großen Warenhuser zu sehen sein wird, lagen die Grnde fr eine solche Diversifikation des Wissens bei Weitem nicht ausschließlich in den funktionalen Notwendigkeiten fr das Unternehmen, sondern in seiner ffentlichkeitsnhe begrndet. Wissen wurde zum sozialen Kommunikationsfaktor. 2. Beim zweiten neuen Element der Wissensverwaltung in den franzçsischen Husern handelte es sich um den Versuch einer systemischen Generierung und Verwaltung von Information, einer unabdingbaren Voraussetzung fr die korrekte Organisation der Warenstrçme, aber auch der Kostenstrukturen eines Unternehmens. Zweifellos hatten die Warenhuser durch diese Zwnge eine Vorbildfunktion fr die Inventarisierung eines Unternehmens oder der Entwicklung der Buchfhrung.165 Die Unternehmen entwickelten Systeme zur genauen Erfassung der verkauften Waren, die je nach Haus so detailliert waren, dass man jeden verkauften Artikel in Bezug auf den Fertigungsort und den Verkufer zurckverfolgen konnte.166 Natrlich steigerte ein solches System den Buchhaltungsapparat um ein Vielfaches und nicht alle Huser wendeten ein solches System in gleichem Maße an. Ein komplexes Buchfhrungssystem war im Prinzip jedoch allen Husern gemein.167 Auf diese Weise erlangten die Verwalter dieses Wissens, also die Buchhalter, aber auch die Kassierer, eine besondere Bedeutung in der Organisation. Schließlich lag die Bedeutung dieser Buchfhrung eben nicht mehr nur in der allgemeinen Kostenkontrolle, sondern war durch die Entwicklung der Registrierung der individuellen Verkaufsumstze auch eine berwachung des Personals.168 Diese neue Form der systematischen Erschließung von Wissensquellen war ein Bereich, der das Warenhaus zu seiner hohen Adaptionsfhigkeit an neue Situationen und Marktlagen brachte. Dieses dynamische Moment machte die 164 165 166 167 168

Trombert, Exposition, S. 111. Boudet, S. 404. D’Avenel (1894), S. 352 f. Delbousquet; eine genauere Beschreibung fr den Bon March bei Faraut, EnquÞtes, IV S. 14 f. Delbousquet, S. 110.

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Unternehmen zu innovativen Organisationen, in denen die Unternehmensleiter mehr noch als in den klassischen industriellen Unternehmen zu jedem Zeitpunkt Zugriff auf die relevanten Kennzahlen von Einkauf und Verkauf erlangten.169 War Qualifikation und Wissen im traditionellen Einzelhandel ein dem Individuum zugeschriebener Bereich gewesen, so ging im Warenhaus nun die geringere Ausbildung der Belegschaft einher mit der Zentralisierung des Wissens durch das Unternehmen.

Der Raum des Unternehmens als çffentlicher Raum Das Warenhaus ist geprgt von seiner stndigen Zugnglichkeit fr ein großes Publikum. Die Organisation der wichtigsten operativen Handlungen ist sichtbar. Ein offenes Unternehmen zu sein und im Herzen der Großstadt zu liegen, war fr die Organisation der Pariser Huser der Jahrhundertwende determinierend. Diese direkten rumlichen Bezge machten die Unternehmer abhngig von der sie umgebenden Infrastruktur.170 Zufahrtswege waren nicht nur wichtig fr die Kunden, sondern auch fr die Arbeitskrfte in den Husern. Die Stadt war nicht nur Markt, sondern auch Werkzeug der Organisation des Unternehmens. Die hufig ußerst hybriden Grenzziehungen zwischen der Umwelt und den betrieblichen Ablufen machten eine umso genauere Definition der untergeordneten Einheiten, der rayons notwendig.171 In diesem Sinne waren die Worte des neuen Verwalters des Printemps, Laguionie, im Jahr 1907 zu verstehen, der sich ber die rumliche Einengung des Unternehmens und die dadurch verursachten Konsequenzen beschwerte: „Aus dieser Situation ergeben sich zahlreiche Nachteile: zu viel und zu teures Personal, ein ernst zu nehmender Zeitverlust, eine wenig effektive berwachung.“172 Wie kein anderes Unternehmen dieser Grçße standen die Warenhuser in Beobachtung und kritischer Diskussion der brgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit. Gerade die frhen gewerkschaftlichen Bewegungen kommunizierten ihre Forderungen und erweiterten ihre Handlungsspielrume durch die Argumentation ber gesellschaftliche Moraldiskurse. Die Angestelltenvertretungen prangerten immer wieder skandalçse Zustnde in Bezug auf Ergonomie, Hygiene und Ernhrung an.173 Entscheidend war dabei, wie die brgerliche ffentlichkeit solche Argumente aufgriff. Tatschlich wurden sie nur allzu gerne in der Presse und Verçffentlichungen weitergetragen und in Verbindung 169 170 171 172 173

Projet de restructuration 1905, PVArchives Galeries Lafayette. Miller, S. 36. Als ein Beispiel: D’Avenel, Grands magasins, S. 346. Rede auf der Assemble gnrale von 1907, ACL DEEF 38986. Etwa durch ein Stck Schwarzbrot als Beweis fr schlechte Ernhrung, wie auf der Versammlung der Chambre syndicale des employs, 18. 8. 1892; APP Ba 153.

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gebracht mit der aktuellen Hygienedebatte.174 Dies galt umso mehr, als nicht nur die sozialistisch geprgten Teile der ffentlichkeit fr diese Argumente empfnglich waren. Vielmehr gab es auch in Frankreich eine konservative Mittelstandsbewegung, die sich gegen den wirtschaftlichen Erfolg der Warenhuser zur Wehr setzte.175 Diese Bewegung rekrutierte sich zumeist aus den kleinen Einzelhandelsunternehmern der Hauptstadt. Anders allerdings als die ungleich strkere deutsche Bewegung, gelang es dieser Strçmung in Frankreich nicht, eine dauerhafte Verbindung mit reaktionr-konservativen politischen Eliten einzugehen. Einige Unternehmer versuchten, diesen Kampagnen damit zu begegnen, dass sie die sozialen Leistungen fr die Angestellten herausstellten. Gerade der Bon March (siehe Abbildung 8)176 tat sich mit solchen Kommunikationsakten hervor. Die grndliche Vorbereitung auf die Weltausstellung und die daraus folgende Auszeichnung zeugen von dieser Strategie.177 Hinter der reinen Verkaufsttigkeit befand sich allerdings ein ganzes Netz von nicht sichtbaren Funktionen, die den Bezugsrahmen des Unternehmens auch rumlich weit ausdehnten. Das wahrscheinlich wichtigste Element stellte die Ausweitung der Unternehmen in Bereiche der Produktion dar. Schon frh ließen die Unternehmen Kleidungsstcke, aber auch andere kleinere Ver-

Abbildung 8: Verkauf in der Handschuhabteilung des Bon March, um 1890. 174 175 176 177

Lain, S. 35. Flugblatt der Chambre syndicale des employs, 10. 6. 1900, APP 153. Demolins, Question, S. 1. Cucheval-Clarigny/Flavin. Trombert, Exposition.

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kaufsgter wie etwa Spielwaren in Heimarbeit fertigen.178 Doch nicht nur durch diesen lokalen Bezug wurde die Grenze zwischen Unternehmen und stdtischer Umwelt tendenziell durchlssiger. Auch regionale und berregionale Bezge berschritten die Grenzen der integrierten Unternehmen. So wurde von den franzçsischen Husern schon frh der Versandhandel als zweites Standbein des Geschftes erkannt. Dieses Versandgeschft machte im Schnitt etwa zwanzig Prozent des Umsatzes aus, allerdings kamen die meisten Bestellungen nach wie vor aus Paris.179 Was zunchst allein als eine kommerzielle Maßnahme erscheint, um andere Mrkte zu erreichen, hatte Konsequenzen fr die Organisation der Arbeit. So konnte die operative Arbeit aus dem çffentlich zugnglichen Bereich in reine Versandabteilungen verlegt werden, in denen es keinen Publikumsverkehr gab. Hierdurch konnte eine vollstndigere Arbeitsteilung durchgesetzt werden, in der die einzelnen Angestellten nur noch mit einer Ttigkeit, wie dem ffnen der Briefe, deren Beantwortung oder dem Packen der Pakete beschftigt waren. Auch die Organisation des Einkaufes weitete die Grenzen der Unternehmen aus. In allen Teilen der Welt wurden Einkaufshuser gegrndet, deren Personal ebenfalls von den Unternehmen abhing.180 Schon 1910 hatten die verhltnismßig jungen Galeries Lafayette auf diese Weise Einkaufshuser in Argentinien, Chile, Peru, Brasilien, Kuba, gypten, der Trkei, Uruguay, Algerien, Mexiko, Italien, Schweiz, Deutschland, Rumnien und England.181 Trotz seines architektonisch klar umrissenen Haupthauses war das Warenhaus schwer auf einen genau definierten Raum eingrenzbar. Es bestand aus einem Netz von Rumlichkeiten, die zum Großteil, aber nicht vollstndig, fr das Publikum einsehbar waren. Zum anderen situierte es sich aber auch in einem imaginierten Raum, der von moralischen und kulturellen Vorstellungen der brgerlichen Gesellschaft eng umrissen war. Auf beide Raumkonzeptionen versuchte das Unternehmen gestaltend einzuwirken. Die Organisation dieses Raumes beinhaltete immer auch die Interessenorganisation in der ffentlichkeit und deren Kommunikation.

Hierarchische Kontrollen und Gruppenautonomie Eine entscheidende Neuerung des Warenhauses gegenber vielen klassischen Industriebetrieben lag im Antagonismus zwischen autoritr-hierarchischen Vorstellungen und einer praktischen Arbeitsorganisation, die sich auf eine teaminterne Aufgabenlçsung sttzte. Das Prinzip einer solchen Einteilung der Arbeit nach Gruppen fand bei den Pariser Warenhusern eine weitgehende 178 179 180 181

Du Marrousem, S. 927. D’Avenel, Grands magasins, S. 354 f.; Miller, S. 61 f.; Saint-Martin, S. 65. Faraut, EnquÞtes, IV, S. 10. Conseil d’administration, Proc s Verbal, 30. 7. 1910, Archives Galeries Lafayette.

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Umsetzung, die sich auf allen Ebenen des operativen Geschfts niederschlug, zumeist zielte diese Vision allerdings auf die Organisation der operativen Einheiten ab. Cucheval-Clarigny, Chronist des Bon March, beschrieb die Art und Weise, wie Hierarchien im Sinne eines vernnftigen sozialen Gefges konstruiert werden sollten. Der intelligente Unternehmer wrde vorsorgen, „indem er in seinem Haus eine regulre Hierarchie einrichtet, in der jeder Angestellte langsam die Karrierestufen erklimmen kann, ohne sich darum Sorgen machen zu mssen, dass ein externer Kandidat vorgezogen wird. Es ist unnçtig, andere Elemente als das Dienstalter und die Qualifikation hervorzustellen.“182

In einem solchen System sollten die einzelnen Hierarchiestufen durch eine direkte Symmetrie von Entscheidungsgewalt aufgebaut sein, die auf der Autoritt der nchsthçheren Stufe beruhte, also vom Abteilungsleiter bis hin zum Verwalter des Unternehmens. Innerhalb der Abteilungen sollte sich diese Hierarchie dann vom premier (Abteilungsleiter) auf den premier second, deuxime second oder troisime second (erster, zweiter und dritter Stellvertreter) bertragen.183 Auf diese Weise ergab sich eine Anzahl von hierarchischen Stufen und Unterstufen, die theoretisch eine einheitliche Hierarchielinie ermçglichen sollten, also ein System, in dem jeder Angestellte nur einen direkten Vorgesetzten hatte.184 Doch eine solche klassische Arbeitsorganisation passte kaum zu der konkreten Arbeitssituation, in der sich die Verkufer befanden. Schließlich fhrten sie ihre Arbeit – also das Gesprch mit dem Kunden und die Beeinflussung seiner Verkaufsentscheidung – in einer relativen Autonomie durch. Gegen dieses rein hierarchische Modell etablierte sich schon bald der rayon als arbeitsteiliges Gegenmodell. Die Vielfalt der zu erfllenden Aufgaben sowie die gleichzeitig zu beachtenden schwer vorauszusehenden Bedrfnisse fhrten zu einer Form des Verkaufes, die bis dahin noch nicht bekannt war : „In der Abteilung hat jeder Angestellte das gleiche Aufgabengebiet, wobei dennoch eine strikte Arbeitsteilung respektiert wird.“185 Auch die reine Verkaufsttigkeit wurde im Rotationsverfahren unter den Verkufern aufgeteilt. Durch die erfolgsabhngige Bezahlung war diese Ttigkeit – die Bedienung des Kunden – sehr gefragt. Hier beschrieb schon Emile Zola in seinen Vorstudien zu seinem 1882 erschienenen Roman „Au bonheur des Dames“, dass ein zirkulierendes System dafr sorgte, dass jeder Angestellte in regelmßigen Abstnden an die Reihe kam. Namensschildchen wurden der Reihe nach auf einer Liste bewegt, sodass zu jedem Zeitpunkt sichtbar war, wer zum Einsatz zu kommen hatte.186 Doch sei es, dass sich die Situation in der Folgezeit wesentlich nderte, sei 182 183 184 185 186

Cucheval-Clarigny/Flavin, S. 12. Lesselier, S. 115. Cucheval-Clarigny/Flavin, S. 25. Saint-Martin, S. 62 f. Zola, Carnet, S. 208.

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es, dass bereits Zola entscheidende Details in seiner Beschreibung nicht bercksichtigte; in jedem Fall weist die Beschreibung, die Lain von der ligne gibt, der Reihenfolge der Verkufer, ein weiteres entscheidendes Detail auf: „Die lteste Verkuferin bedient die erste Kundin und so geht es weiter, sodass die Hilfskrfte – die bistots, wie man sie nennt, nur am Nachmittag und zu den Stoßzeiten verkaufen kçnnen.“

Und spter fhrt er fort: „Nach dem Abteilungsleiter kommt ein Verkaufsleiter, ein Stellvertreter, manchmal ein zweiter Stellvertreter, schließlich kommt das Verkaufspersonal, das aus bis zu dreißig Personen bestehen kann und das sich in zwei Teile teilt: die erste und die zweiter Linie. Die Verkuferinnen der zweiten Linie, meistens diejenigen, die zuletzt eingestellt worden waren, drfen erst verkaufen, wenn die lteren Kollegen aus der ersten Reihe nicht mehr nachkommen. Zwischenzeitlich halten sie die Abteilung instand […]. “187

Whrend Zola annahm, die Verkufer seien gleichberechtigt, zeigt Lain mit seinen dreißig Jahre spter gemachten Beobachtungen, dass es ein Konkurrenzverhltnis in diesen Gruppen gab, das auf informellen, internen Hierarchien beruhte. Er zeigte, dass es sich keineswegs um ein Rotationssystem handelte, sondern vielmehr die ligne immer wieder von vorn begann, wodurch ein Großteil der Verkufer kaum eine Chance hatte, regelmßig lukrative Verkufe zu machen. Zwar gab es damit in den Teams formal gesehen kaum Hierarchien, dafr war diese Arbeitsorganisation dazu angetan, die gesamte Belegschaft in ein konstantes, internes Konkurrenzverhltnis zu setzen.188 Dieser nicht formalisierte, aber durchaus vorhandene Druck machte die Arbeitssituation gerade fr junge, wenig erfahrene Angestellte außerordentlich aufreibend. Hinzu kam ein negativer Existenzdruck, der sich durch das Entlohnungssystem der guelte durchgesetzt hatte. Wer nicht verkaufte, bekam ein Gehalt, das nicht zum berleben reichte. Das galt fr die mnnlichen Verkufer noch mehr als fr die weiblichen. Die Angestellten und ihre Gewerkschaften forderten daher immer wieder, die guelte abzuschaffen und durch eine regelmßige Beteiligung am Umsatz der Abteilung zu ersetzen.189 Eine Abschaffung dieser Bezahlungsform htte allerdings gleichzeitig auch das beschriebene Linienprinzip infrage gestellt. Doch nicht nur bei dem einfachen Verkaufspersonal gab es uneindeutige Hierarchiestufen, auch die darberliegenden Ebenen waren nicht klar strukturiert. Das galt insbesondere fr die Leitung des Bon March, fr die sogar eine kollektive Verwaltung vorgesehen war. Seit 1887 bestand die Unternehmensspitze aus einem Kollektiv von drei Personen, welches von den am Ka187 Lain, S. 13 und 33. 188 Saint-Martin, S. 73. 189 Protokoll der Sitzung der Chambre syndicale des employs, 8. 4. 1900, APP Ba 153.

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pital beteiligten Angestellten gewhlt wurde. Von ihrer Stellung her waren sie also zunchst den normalen Angestellten des Hauses kaum bergeordnet.190 Als das Haus anlsslich der Weltausstellung von 1900 beurteilt wurde, zeigte sich die Jury zwar beeindruckt von der Organisation, wies aber auch auf die Gefahren hin, die mit dieser besonderen hierarchischen Struktur fr ein Haus von der Grçße des Bon March einhergehen: „Bei aller Partizipation sollte doch die Beibehaltung einer respektablen und klaren patronalen Autoritt als Prinzip ber jeder Diskussion stehen.“191 Das Wechselverhltnis der autoritren hierarchischen Beziehungen einerseits und der in Teamstrukturen aufgeteilten Arbeit andererseits war ein Charakteristikum der Unternehmen und in den Augen vieler Zeitgenossen erst der eigentliche Grund fr ihre berdurchschnittliche Leistungsfhigkeit. So schloss D’Avenel, der eine außerordentlich positive Haltung zu den Warenhusern hatte: „Man sieht hier, dass dank ihrer Organisation diese immensen Verkaufslager einerseits ber die Motivationen des Individualismus, andererseits aber auch ber die Mçglichkeiten der vereinigten Krfte des Personals verfgen. Es handelt sich hier um ein neues, gemischtes System. Die Bndelung geteilter Arbeit, die Aufteilung von Gruppenarbeit.“192

Dieses System konnte allerdings nur durch die systematische Kontrolle erfolgreich zur Anwendung gebracht werden. Das gesamte System der guelte und ihrer Kontrolle und Rckbesttigung durch die Kassierer und das Buchungssystem konnte schon allein deshalb nicht fallen gelassen werden, weil es beinahe die einzige Zugriffsform der Unternehmensfhrung auf die einzelnen Arbeitskrfte darstellte. Es war also ein Mittel der Rationalisierung mangels einer hierarchisch funktionierenden Kette. Fr den Bon March stellt Miller fest: „Rationalization also took the shape of methods of control designed to monitor performance of both individual units and the store as a whole.“193 Diese systemische Kontrolle der Leistung der Einzelnen fand ihre Entsprechung in der Funktion der leitenden Angestellten und auch der Grndungsunternehmer, sofern sie noch in ihren Husern ttig waren. D’Avenel beschreibt die Form der „primitiven Kontrolle“,194 die Ernest Cognaq in seinem Unternehmen ausbte. Gemeint war damit, dass der Unternehmer selbst den berblick ber alle in seinem Hause ausgebten Ttigkeiten zu behalten und deren Ordnungsmßigkeit zu berwachen versuchte. Die Kontrolle der Ttigkeiten, die allein in der Souvernitt der einzelnen

190 191 192 193 194

D’Avenel, Grands magasins, S. 339. Trombert, Guide, S. 201. D’Avenel, Grands magasins, S. 352. Miller, S. 70. D’Avenel, Grands magasins, S. 345.

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Verkufer lagen und auch nicht in einzelne Komponenten zerlegt werden konnten – zumindest, wenn es um die Verkaufsttigkeit ging –, schien sich bis in die Fhrungsebene fortzusetzen. So kommt auch Faraut zu dem Schluss, dass die Inhaber und Verwalter des Bon March „mehr kontrollierten, als sie wirklich leiteten.“195

Disziplin und Bindung – unternehmerische Personalstrategien Kontrolle kann als das Leitmotiv in der Autorittskonstruktion der franzçsischen Warenhuser gelten. Neben einer ergebnisorientierten Leistungsberwachung durch buchhalterische Systeme wurde diese auch durch eine disziplinarische Kontrolle begleitet, die weit ber die bloße operative Arbeit hinausging. Das Personal sollte unter einer Art dauerhafter disziplinarischer Beobachtung stehen, die nicht nur die korrekten Handlungen am Arbeitsplatz, sondern auch Teile des Privatlebens einschloss. Bei manchen Bewerbern wurden zunchst Erkundigungen ber das Privatleben eingeholt, die sicherstellen sollten, dass die Angestellten auch einen integren Lebenswandel fhrten.196 Hçchst biedere Moralvorstellungen, gerade in Bezug auf das weibliche Personal aus der Provinz,197 gingen hierbei einher mit der stndig unterstellten Gefahr, zum Ladendiebstahl verfhrt zu werden.198 Dieses hufig angefhrte Argument, das sich vollstndig in die brgerlichen Diskurse der Zeit integrierte,199 diente als Vorwand dafr, dass das Personal von eigens dafr eingestellten Inspektoren fast stndig und berall berwacht wurde. Kontrollen außerhalb der Dienstzeit waren erwnscht, um den Angestellten jederzeit die Autoritt des Unternehmens symbolisch und real vor Augen fhren zu kçnnen. In der 1905 verçffentlichten Selbstdarstellung des Bon March hieß es: „Die Disziplin muss in gewisser Hinsicht militrisch sein.“200 Das Privatleben der Angestellten stand dabei im Mittelpunkt und die berwachenden Personen waren zeitweilig Menschen aus dem direkten Arbeitsumfeld der Angestellten. Ein Angestellter der hçchst dynamisch wachsenden Galeries Lafayette beschrieb das Problem um 1900.201 Nach seinen Angaben hatte sich die Arbeitsatmosphre schlagartig verndert, als das Unternehmen um die Jahrhundertwende von dreißig Angestellten auf ber 300 angewachsen war. Die Beschftigten lebten in stndiger Sorge vor den neu eingestellten Inspektoren, meist alte Kollegen, die ihre Position auch durchaus 195 196 197 198 199 200 201

Faraut, EnquÞtes, IV, S. 21. Lain, S. 20. Lesselier, S. 118 f. Mac, S. 274 ff. Dubuisson. Historique du Bon March, S. 39. Saint-Martin, S. 211.

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dazu nutzten, ihre Sympathien und Antipathien in ihr Verhalten gegenber den Mitarbeitern einfließen zu lassen. Diese Betrachtung nuanciert Millers Aussage von einer tendenziellen Entpersonalisierung der Autorittsstrukturen.202 Zwar ist es zutreffend, dass nicht mehr der Unternehmer Trger und Garant eines disziplinarischen Systems im Sinne eines klassischen Paternalismus war, doch fr die Angestellten entpersonalisierte sich ein solches disziplinarisches System keineswegs. Vielmehr standen sie mit ihrer ganzen Persçnlichkeit im Mittelpunkt der Beobachtung der Kontrollhierarchien.203 Einige Unternehmer versuchten allerdings, die Auswirkungen dieser psychologisch schwierigen Situation fr die Angestellten abzumildern und sie gleichzeitig zu objektivieren. So ist vom Bon March bekannt, dass er das einzige der Pariser Huser war, das die strenge Handhabung von Geldstrafen gegenber dem Personal schon vor 1890 abgeschafft hatte.204 Gleichzeitig regelten einige Huser die Arbeit des Personals durch Betriebsordnungen und versuchten auf diese Weise eindeutige Verhaltensmaßregeln aufzustellen, nach denen sich das Personal zu richten hatte. Doch auch diese Form von Reglementierung blieb ein streng autoritres, disziplinierendes Werkzeug der Unternehmensleitung gegenber ihren Angestellten. So beurteilte Lain diese Schriftstcke wie folgt: „Die Betriebsordnung des Warenhauses, die der Leiter allein ausgearbeitet hat – außer in den ußerst seltenen Fllen, in denen es durch einen Streik zur Diskussion der gegenseitigen Positionen gekommen ist – , diese Ordnung also wird vom Angestellten in jedem Fall akzeptiert. Es reicht dafr aus, dass er davon durch Aushang oder hnliches Kenntnis erlangt hat. […] Es wre sehr wnschenswert, wenn dieser Pseudovertrag, der fr die Vertragspartner zum Gesetz wird, unter die Kontrolle entweder der Gewerbeaufsicht oder der Arbeitsgerichtsbarkeit gestellt wird […].“205

Die Unternehmen nutzten die Betriebsordnungen und das persçnliche berwachungssystem allerdings auch in der sogenannten morte-saison, also in den umsatzschwachen Jahreszeiten, um einen großen Teil des Personals wegen marginaler Verstçße zu entlassen, sodass kurzfristig Ausgaben reduziert werden konnten.206 Dies wurde flankiert von paternalistischen Maßnahmen, die einen breiten Raum in den Selbstdarstellungen der Unternehmer und der Unternehmen einnahmen. Gerade die Wohlfahrtsinstitutionen wurden gerne in der ffentlichkeit dargestellt. Das verstrkte sich vor allen Dingen, nachdem das 202 Miller, S. 84 f. 203 Saint-Martin, S. 195; Du Marrousem, S. 955. 204 Cucheval-Clarigny/Flavin, S. 12; dagegen hafteten die Angestellten fr die eigenen Fehler ; Bureaux et magasins. Bulletin de la chambre syndicale des employs de la rgion parisienne, Nr. 1/1.10.1910. 205 Lain, S. 26. 206 Lesselier, S. 118.

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Testament der Witwe Aristide Boucicauts bekannt geworden war, die einen wesentlichen Teil ihres Vermçgens Institutionen berließ, die die Situation der Angestellten verbessern sollten.207 Die Ambiguitt zwischen intensiven disziplinarischen Maßnahmen und unternehmerischer Wohlttigkeit begleitete die Politik des Bon March seit seinen Anfngen.208 Tatschlich schien es im Interesse des Unternehmens zu liegen, gewisse Anreize und wirkungsmchtige Leitbilder fr sein Personal bereitzustellen. Doch die Einrichtungen wie die Caisse de retraite und die caisse de prvoyance209 waren nur an eine ußerst kleine Gruppe des Personals gerichtet. Auch so hufig zitierte Einrichtungen wie Schlafsttten fr Angestellte waren nur fr einen Bruchteil des Personals vorgesehen.210 Ihre reale Wirkung war marginal. Die Aufwendungen, die der Bon March und andere Unternehmen mit der Einrichtung dieser Institutionen hatten, waren vergleichsweise bescheiden. Die Galeries Lafayette richteten 1901, zwei Jahre nach ihrer Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, eine caisse de secours ein, fr die sie allerdings auch im Grndungsjahr nicht mehr als 0,15 Prozent des Umsatzes aufzuwenden hatten. 1907 kam eine caisse de retraite hinzu. Doch auch weiterhin bertrafen die Aufwendungen von Unternehmensseite fr diese beiden „paternalistischen“ Einrichtungen nicht mehr als 0,3 Prozent des Unternehmensumsatzes.211 Dem Personal war der wesentlich disziplinarische Charakter dieser Wohlfahrtsinstitutionen durchaus bewusst: „Wer fhrt denn die ,Solidarittskasse Boucicaut‘? Die Direktion (Art. 1 des Status). Wer leitet den Chor, die Blsergruppe, die Englischkurse, die Fechtkurse? Die Beauftragten der Direktion. Wer ist der Herr ber die Rentenkasse? Ein Rat, der von der Gesellschaft selbst ernannt wird und der zufllig mit der Direktion und den Verwaltern deckungsgleich ist. Man spart auf Befehl, man singt auf Befehl, man tanzt auf Befehl. In Wirklichkeit erinnert das eher an die alte Plantagenkultur von San Domingo, als dass es den Keim fr die zuknftigen Organisationen zeigt, die von dem Fortschritt des 20. Jahrhunderts bewegt werden. “212

Wie schon bei den Chemieunternehmen gezeigt und wie auch spter bei der Betrachtung der deutschen Warenhuser zu erkennen sein wird, war der Paternalismus der Unternehmen vor allen Dingen eine kommunikative Strategie. Seine Wirkung erzielte er durch die Vermittlung des positiven Außenbildes der Unternehmen. Im Sinne der unternehmerischen Strategie war eine Belegschaft, die schnell auf- und abgebaut werden konnte, mindestens ebenso im 207 208 209 210 211

Miller, S. 44 ff. Faraut, II, S. 3. Trombert, Exposition; D’Avenel, Grands magasins, S. 363 ff. Lain, S. 68 f. Exercice von 1901 und von 1907, Proc s Verbaux des Galeries Lafayette, Archives Galeries Lafayette. 212 Du Marrousem, S. 956.

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Interesse der Unternehmen, wie das Stammpersonal durch eine soziale Personalpolitik an das Unternehmen zu binden. Die Ambivalenz dieses paternalistischen Programms und seine klare Interessenleitung kamen wie kaum an anderer Stelle in der Entgegnung des Chefs des Printemps, Jules Jaluzot, in der hitzigen Diskussion bei der Hauptversammlung im Jahr 1903 zum Ausdruck: „Erlauben Sie mir festzustellen, dass ein Unternehmensleiter, der die Verantwortung fr ein solch großes Projekt trgt, darauf angewiesen ist, dass er intelligentes Personal hat, das ebenfalls nur an diese Angelegenheit denkt. Wir sind keine Arbeiter hinter einem Webstuhl oder Schriftsteller hinter einer Schreibmaschine. Ich bençtige meine Intelligenz und die all jener, die um mich herum sind. […]; es ist entscheidend, dass die Mitarbeiter fr mich Freunde sind, und dass sie da sind, wenn ich sie fr einen Handgriff brauche. Wenn ich sie am Sonntag brauche, mssen sie da sein, ohne dass ich dafr Kritik bekomme. […] Sie wollten das verhindern und die Handlungen des Hauses kritisieren und mich an der richtigen Fhrung hindern. Das ist nicht mçglich […] Ich werde niemals einen Vermittler zwischen mir und meinen Angestellten dulden. […] Das hieße ja, meine emotionale Bindung, die ich an sie habe, abzuschneiden. Das will ich nicht. […] Ich will, dass die Beziehungen hufig und freundschaftlich sind, und dass sie wissen, dass ich ihnen zur Verfgung stehe, wie sie auch mir zur Verfgung stehen.“213

Absolute Kontrolle stand in dieser Logik weit ber den wohlttigen Interessen der Unternehmer.

Brgerliche Kultur als handlungsleitendes Ideal Das Warenhaus verdankt einen Teil seiner Reputation der Neuformulierung berkommener stdtischer Arbeitsverhltnisse. Hierdurch wurde es zum ersten wirklich urbanen Großunternehmen. War der franzçsische Einzelhandel geprgt von familiren Bindungen, so wurde die Unternehmenskultur des Warenhauses schnell als chauvinistisch, als eine Kultur des „hire and fire“ wahrgenommen, in der der Einzelne nicht mehr viel zhlte.214 Jegliches Vertrauensverhltnis zwischen Angestellten und Vorgesetzten, aber auch innerhalb der Arbeitsgruppen wurde systematisch unterdrckt und die Denunziation von Kollegen ausdrcklich belohnt. Damit wurde die Unternehmenskultur des Warenhauses als Gegenbild zum Bild der traditionellen Arbeitsbeziehungen im Einzelhandel verstanden. Doch gerade im hier betrachteten Untersuchungszeitraum bildete sich auch eine andere Handlungskultur heraus, die nur deshalb nicht als Unternehmenskultur im engeren Sinne verstanden werden kann, weil die Sphren der Kommunikation mit der eigenen 213 Protokolle der Versammlung, in: La vie financire, 3.12.1903. 214 Saint-Martin, S. 212.

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Belegschaft oder der ffentlichkeit gerade in Unternehmen wie den Warenhusern nicht voneinander zu trennen sind; es ging den Unternehmern nicht nur um die Handlungsleitung der Angestellten, sondern ebenso sehr darum, sich selbst und ihre Unternehmen als philanthropische Institutionen darzustellen. Das Paradox zwischen realer Arbeitssituation und çffentlicher Ambition nahmen die Unternehmer zunchst nicht als Problem wahr. Die patrons stellten sich gegenber ihren Angestellten als Wohltter oder gar als vterlichverantwortungsbewusste Vorsteher einer Unternehmensfamilie dar ;215 gleichzeitig hinderte sie dies nicht, eine ußerst rigide Personalpolitik zu betreiben, die sich an dem Motto „Wer nicht fr mich ist, ist gegen mich“ orientierte.216 Die Vermittlung dieser Denkfigur wurde meist ber die Kommunikation eines starken Grndungsmythos versucht. Zumindest im Falle des Bon March wurde ein solcher Mythos auch noch in den Jahren nach dem Ableben des Grnders fortgeschrieben.217 Die Belegschaft kritisierte die Ambiguitt des unternehmerischen Verhaltens. Gewerkschaftliche Kreise sprachen von der „philantropie des pommes de terre“.218 Dieses ideologische Angebot der Unternehmer erreichte seine Wirkung erst durch seine weitgehende Kongruenz mit der brgerlich-stdtischen Kultur der franzçsischen Hauptstadt. Das unternehmerische „Kulturangebot“ war das eines brgerlich-urbanen Milieus. Die Angestellten sollten im Chor singen, Musik machen, lesen, Sprachen lernen, und den mnnlichen Angestellten wurden Fechtkurse angeboten.219 All diese Freizeitbeschftigungen hatten nur einen begrenzten Nutzen fr den Alltag der Angestellten. Eine Ausnahme war vielleicht das Erlernen einer Fremdsprache, was eventuell im Beruf von Nutzen sein konnte und unter Umstnden die Aufstiegschancen verbesserte. Umso mehr kamen diese Angebote der Unternehmensleitung jedoch dem Willen nach sozialem Aufstieg der zum großen Teil in prekren Verhltnissen lebenden Angestelltenschaft entgegen.220 In diesem Sinne nherten sich die unternehmerischen Kulturangebote und die brgerliche Kultur der Jahrhundertwende aneinander an. Das Warenhaus war Ergebnis und gleichzeitig gestaltender Faktor brgerlich-urbaner Kultur. Allein durch seinen regelmßigen und im Vergleich zum traditionellen Einzelhandel massiv beschleunigten Warenfluss standen die Unternehmen in

215 Vgl. das Livre d’or des Bon March zitiert nach Lesselier, S. 119. 216 Faraut, EnquÞtes, II, S. 3. Ebenso das R glement intrieur von Ernest Cognaq fr die Samaritaine. 217 Michel, S. 135 ff., Miller, S. 121 ff. 218 Protokoll der Sitzung der Chambre syndicale des employs vom 18. 6. 1887, APP Ba 153. 219 Inventar der Archive des Bon March, erfasst von FranÅois Faraut; Statuten von Wohlfahrtseinrichtungen des Printemps, wie Fecht- und Schießvereine um 1909, in: Archives Credit Lyonnais, DAF 188. 220 Miller, S. 108.

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einem dynamischen Austauschverhltnis zu der sie umgebenden Gesellschaft. Phnomene wie die zunehmende Feminisierung von Handel und Konsum am Ende des 19. Jahrhunderts221 wurden flankiert durch die neue Anstellung weiblicher Angestellter, die zum berwiegenden Teil in den Abteilungen mit besonders „weiblichen“ Produkten arbeiteten.222 Anders als in Deutschland gab es in den franzçsischen Warenhusern keine Generalisierung von Frauenarbeit aus Kostengrnden, sie blieb vielmehr an einen bestimmten Verkaufskontext gebunden. Solche Bilder wurden vom Personal zu einem gewissen Teil verinnerlicht und ließen sich in der Folge in den programmatischen Schriften bestimmter Angestelltenverbnde wiederfinden. So sah der 1899 gegrndete Cercle amical des employs du commerce et de l’industrie neben der wirtschaftlichen Untersttzung in Not geratener Mitglieder sein hauptschliches Ziel in der kulturellen und moralischen Erziehung seiner Mitglieder. Nach einem ganzen Katalog von zu planenden Aktionen, die einer solchen Erziehung entgegenkommen kçnnten, schließt der Vorstellungstext: „Zu allen unternehmenskritischen Punkten wird der Verband es vermeiden, an der individuellen Freiheit seiner Mitglieder zu rhren, die Gesellschafter sollen lediglich mit berzeugungskraft arbeiten und Gewaltanwendung nicht zulassen. Bei aller persçnlicher Freiheit gestattet sich der Kreis jedoch nicht, politisch Position zu beziehen.“223

hnliche Prinzipien galten fr die chambre syndicale des femmes caissires comptables oder den syndicat jaune des employs du Bazar de l’Htel de Ville.224 Ein so eingefhrtes Leitbild des Unternehmens wurde nicht allgemein akzeptiert. Ein großer Teil der Belegschaft ließ sich nicht im Sinne der Unternehmensziele vereinnahmen. Doch selbst im Protestverhalten des Personals ließen sich Elemente kultureller Leitbilder wiederfinden, die ihren Ursprung in den „Umerziehungsmaßnahmen“ der Belegschaft hatten. Fr den Streik bei den Galeries Lafayette im Jahr 1907 gab sich die chambre syndicale des employs die Ehre, zu einem großen Benefizball einzuladen. Diese Veranstaltung wurde nicht nur zum Geldsammeln verwendet, auch zahlreiche Politiker nutzten die Gelegenheit, um fr sich und ihre Ziele zu werben.225 Als im Jahr 1909 die Belegschaft des Bazar de l’Hotel de Ville (BHV) streikte, war die grçßte Attraktion das Streikorchester, das vor dem Haus unter anderem das hauseigene Streiklied spielte.226 Die Mitglieder dieses Orchesters spielten vermutlich fast alle auch im Hausorchester. Und wenn die Gewerkschaften an

221 222 223 224 225 226

Haupt, Konsum, S. 65 ff. Beau, Grand Bazar, S. 106. Statut von 1904, APP 1070 W 18, Dossier 11356. APP 1070 W 24. Einladungskarte vom 18. 11. 1907, APP Ba 152. Bericht von der Versammlung am 11. 11. 1909, APP Ba 882.

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die ffentlichkeit gingen, versumten sie es nicht, Referenzen an brgerliche Werte zu machen, die sie hauptschlich einem sozial-moralisch hochaufgeladenen Hygienediskurs entlehnten: „Man kann sicher sein, dass es weder in den verseuchtesten Kanalisationssystemen von Paris noch im schlimmsten infizierten Krankenhaus eine Ecke gibt, die ungesnder wre, als die Arbeitsbedingungen in einem Warenhaus am Ende eines langen Verkaufstages.“227

Die gleiche brgerliche Moral, die zunchst den Unternehmer in eine Machtposition gegenber seinen Mitarbeitern setzte, indem sie ihm die soziale Verantwortung auferlegte, konnte von den Angestellten also auch umgekehrt werden. Eine standardisierte Arbeitssituation und eine Normierung der Aufgaben konnten durch die allseitige Referenz auf einen festgelegten Wertekanon nicht mehr nur als Privilegien, sondern auch als einzufordernde Rechte der Angestellten verstanden werden. Gerade diese doppelte Verwendung von Leitbildern machte den Faktor „Kultur“ zu einem interaktiven Element im Unternehmen. Das „brgerliche Argument“ war umkmpft. Die Vermittlung ber die ußere, brgerliche Kultur ermçglichte nach dem Dafrhalten einiger Beobachter aber auch eine neue, konsensgeleitete Kultur, an deren Ende das Warenhaus als „soziale Organisation“ stehen sollte. Als nahezu einziges Großunternehmen im stdtischen Raum sollte das Warenhaus durch seine spezielle rumliche und soziale Lage Vorbildcharakter erlangen. Ganz in diesem Sinne standen die wirtschaftsfriedlichen Arbeitnehmerorganisationen im Untersuchungszeitraum, die das Ziel hatten, „durch das wirtschaftliche System die Mittel zu suchen, um eine neue Form der sozialen Organisation zu realisieren.“228 Im Sinne dieser Perspektive auf das Warenhaus lag auch die Auszeichnung, die der Bon March fr sein konsensorientiertes soziales System von der Acadmie des sciences morales et politiques erhielt.229 Bezeichnenderweise hatte diesen Preis einige Jahre zuvor Frdric Le Play bekommen, eben jener Wissenschaftler, der die soziale Stellung des Ingenieurs propagiert hatte und dessen Schler um die Jahrhundertwende wichtige Beitrge in die Diskussion neuer Unternehmenskonzeptionen einbrachten;230 auch das war ein klares Zeichen in Hinblick auf die soziale Komponente des Warenhauses.

227 Lain, S. 35. 228 Dossier du cercle amicale des employs du commerce et de l’industrie, APP 1070 W 18, Dossier 1356. 229 Faraut, EnquÞtes, V, S. 11. 230 Kalaora/Savoye, S. 94 ff. und S. 125 ff.

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Kollektives Handeln als Kristallisation interaktiver Organisation Gerade diese Verflechtung von meist schwachem sozialen Hintergrund und der Adaption an eine in hohem Maße brgerliche Kultur scheint ein Hauptgrund fr die Schwierigkeiten bei der Verstndigung auf gemeinsame Verhandlungspositionen und eine wirkungsvolle Interessenkoordination gewesen zu sein. Hinzu kam, dass die Angestellten im brigen Pariser Einzelhandel meist allein oder in kleinen Gruppen arbeiteten. Traditionell gab es damit keine Kontexte, die zu einer gegenseitigen Solidarisierung fhrten. Zudem fhrten die kleingliedrigen Strukturen des traditionellen Einzelhandels dazu, dass Konfrontationslinien meist nicht horizontal zwischen Vorgesetzten und Angestellten, sondern vertikal zwischen Konkurrenten aufgebaut wurden. Die langen Arbeitszeiten banden die Verkufer oft bis spt in den Abend oder die Nacht an die Geschfte, Zeit fr eine Politisierung und eine Koordination auf breiter Flche blieb kaum. Nach Schtzung der ersten Gewerkschaften waren auf dem Pariser Arbeitsmarkt schon 1886 etwa 150 000 Angestellte im Einzelhandel ttig oder kamen fr eine solche Ttigkeit infrage.231 Doch die grçßte Arbeitnehmervertretung in diesem Bereich, die chambre syndicale des employs, zhlte am Ende desselben Jahres nur etwa 500 bis 600 Mitglieder.232 So verliefen auch die Mobilisierung und die ersten Aktionen dieser Interessenkoalition eher verhalten. In Relation zur Gesamtzahl betroffener Ange-

Grafik 12: Mitgliederzahlen der chambre syndicale des employs. 231 3. 7. 1886, APP Ba 153. 232 18. 11. 1886, APP Ba 153.

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stellter blieb die Mitgliederzahl der chambre syndicale des employs zunchst verhltnismßig bescheiden. Die Organisation setzte sich selbst ein Ziel von 10 000 bis 15 000 Mitgliedern, um eine ausreichende Basis fr politische Aktionen zu haben. Diese Zahl konnte aber lange Zeit nicht erreicht werden. Zwar kam es nach der Grndung der Organisation zu einem sprunghaften Anstieg, allerdings reichte dies lange nicht aus, einen Großteil der Angestellten zu erfassen. Nach der Jahrhundertwende wuchs die Gewerkschaft deutlich langsamer. Die gewerkschaftliche Aktion konnte also in ihren Aktivitten nicht auf eine reine Massenmobilisierung setzen. Die Grçße des Arbeitskrfteangebotes unterminierte jede Aktion der organisierten Mitglieder, die in den großen Husern problemlos durch andere Verkufer ersetzt werden konnten. Stattdessen verlegte sich die Gewerkschaft ab der Jahrhundertwende auf eine andere Strategie. Sie gliederte die Arbeitnehmer nach den verschiedenen Belegschaften233 und unterteilte kurze Zeit spter zustzlich ihre Mitglieder in verschiedene Sektionen, die sich nach den Grenzen der Arrondissements richteten.234 Auf diese Weise erreichte sie kleine Handlungsradien, in denen sie die speziellen Forderungen auf den konkreten Kontext der Angestelltenschaft vor Ort abstimmen konnte. In der Folgezeit wurden fr jedes der großen Warenhuser eigene Forderungen festgelegt, auf einen einheitlichen Forderungskatalog wurde verzichtet. Ab 1905 zeigen die Akten der Polizeiverwaltung auch eine regionale Aufspaltung der Organisation. Von diesem Zeitpunkt wurden die Pariser Warenhausangestellten von der chambre syndicale des employs de la rgion parisienne vertreten. Neben dieser ersten Gewerkschaft etablierten sich andere Arbeitnehmerorganisationen mehr oder weniger fest in der Hauptstadt. Zu nennen sind in erster Linie die chambre fdrale syndicale des employs, eine Vertretung, die allerdings weit weniger Mitglieder hatte und sich in wesentlich geringerem Maße mit der Situation in den Warenhusern beschftigte.235 Zu diesen Vertretungen gehçrten ebenfalls der cercle amical des employs du commerce et de l’industrie und der syndicat jaune des employs du Bazar de l’Htel de Ville.236 Hatten diese Organisationen durch ihre bloße Existenz zwar einige Bedeutung fr die soziokulturelle Orientierung mancher Angestellter, waren sie quantitativ allerdings zu vernachlssigen. Die vielfltigen Segmentationslinien auf dem Pariser Arbeitsmarkt, die schon zuvor erwhnt worden sind, betrafen auch die Situation der Gewerkschaften. Besonders augenfllig wurde dies bei der Grndung der Vertretung der garÅons, also der Hilfsarbeiter. Da diese nicht in die Angestelltengewerkschaften aufgenommen wurden, grndeten sie ihre eigene Vertretung. Allerdings erreichten sie niemals auch nur annhernd die Grçße der Angestell233 234 235 236

Vgl. die Versammlungen der Hausbelegschaften ab April/Mai 1900, APP Ba 153. Diese Festlegung fand in der Sitzung vom 21. 10. 1900 statt, APP Ba 153. APP Ba 152. Syndicat jaune des employs du Bazar de l’Hotel de ville; APP 1070 W 18 und APP 1070 W 24.

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tengewerkschaft und teilten sich wiederum untereinander in mehrere Organisationen auf. So existierten parallel die chambre fraternelle des garÅons de magasin et de bureau de la ville de Paris237 und die chambre syndicale des garÅons de magasins et des cochers livreurs du dpartement de la Seine.238 Erst spt erkannten die Angestelltengewerkschaften die gemeinsamen Interessen, die sie mit den Organisationen der Hilfsarbeiter verband. So vertrat die Gewerkschaftszeitung 1910 die Meinung: „Die Abschaffung der Hilfsarbeit und die Regelung der Gehlter der Hilfsarbeiter sind Fragen, die alle Angestellten angehen, denn der Missbrauch der Hilfsarbeiter hat Einfluss auf die allgemeinen Arbeitsbedingungen im Warenhaus.239 Die verschiedenen Vertretungen begannen auch, unterschiedliche Formen des kollektiven Handelns zu entwickeln. Fr die chambre syndicale des employs ist zu erkennen, dass die Konfrontation mit den Arbeitgebern zur Durchsetzung eigener Forderungen im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz und darber hinaus nachrangig war. Vielmehr ging es zunchst darum, eine gemeinsame Identitt der Angestellten herzustellen und hierber ein positives Bild an die ffentlichkeit zu kommunizieren. Erst nach der Jahrhundertwende, also mit der Aufteilung der Gewerkschaft in Orts- und Unternehmensgruppen, begann eine weitaus aktivere Phase der chambre. Der Reihe nach wurden alle großen Warenhuser aufgefordert, fr eine Verbesserung der Arbeitssituation Sorge zu tragen. Diese Forderungen gingen direkt mit Streikdrohungen einher. Stolz berichtete der Vertreter des Bon March im Frhjahr 1900, wie es im Haus gelungen sei, die zunchst sich selbst blockierende Belegschaft auf eine gemeinsame Linie zu bringen, sodass nun auch die officiers und die brigadiers – womit er die Inspektoren und die Hilfsarbeiter meinte – die gleichen Interessen wie die Angestellten verfolgten.240 Es ist davon auszugehen, dass in der berwiegenden Zahl der Flle eine solche Interessenkoordination in den Husern nur unter großen Schwierigkeiten zustande kam. Der Erfolg beim Bon March hatte umso mehr Vorbildcharakter, als der Vorsitzende der Gewerkschaft, Martinet, dieses Haus als dasjenige beschrieb, welches die gewerkschaftlichen Forderungen am vehementesten zurckwies.241 Ein besonders fortschrittliches, wenngleich nicht vollstndig erfolgreiches Mittel wendete die Gewerkschaft im Falle des Printemps an. Durch den Erwerb von Angestelltenaktien erlangte sie Zugangsrecht zu den Aktionrsversammlungen und entsandte dorthin mit ihrem Vorsitzenden Martinet einen hochrangigen Interessenvertreter der Angestellten. Konform zu den Regeln

237 APP Ba 152. 238 APP 1070 W 8 (Dossier 737). 239 Bureaux et magasins. Bulletin de chambre syndicale des employs de la rgion parisienne, Nr. 2/ 15.10.1910. 240 11. 4. 1900, APP Ba 153. 241 22. 10. 1900, APP Ba 153.

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dieses Gremiums verlas dieser „kritische Aktionr“ einen Entwurf zur Errichtung einer geregelten Arbeitnehmervertretung im Haus. Doch nach Verlesung des ersten Satzes eines Resolutionsvorschlages „Die Versammlung der Aktionre […] spricht sich fr die Errichtung der Institution permanenter gewhlter Vertreter …“ wurde Martinet vom Protest der brigen Aktionre unterbrochen, die ihm androhten, physische Gewalt anzuwenden und ihn hinauszuwerfen.242 Dennoch gelang es den Angestellten mithilfe der Gewerkschaften spter tatschlich, einige ihrer Forderungen, gerade in Bezug auf die Abschaffung von Geldstrafen und die Verkrzung der Ladençffnungszeiten, durchzusetzen.243 Doch wurden die einmal erreichten Errungenschaften der Gewerkschaftler auch weiterhin immer aufs Neue infrage gestellt. Nach der ersten Verhandlungswelle begannen die Unternehmer nach einiger Zeit wieder, die gegebenen Konzessionen zur Arbeitszeitregelung zurckzunehmen, sodass sich 1906 beinahe die gleiche Situation ergab wie vor den ersten Streiks im Jahr 1900. In der Folge kam es zu einer großen Streikwelle, die beinahe alle Pariser Huser teilweise oder vollstndig betraf. Besonders radikalisiert waren die Hilfsarbeiter, die die ersten Anzeichen einer sich anbahnenden Konfrontation nutzten, um einen Streik in den Galeries Lafayette auszurufen. Eine solche Radikalisierung der Protestformen wurde dabei von den Unruhen, welche die ohnehin zumeist unzureichende Umsetzung des 1906 eingefhrten Gesetzes zum repos hebdomadaire mit sich brachten, weiter angeheizt.244 Im Laufe dieser Unruhen kam es zu schweren Zusammenstçßen zwischen den Streikenden und der Polizei, bei der es mehrere Verletzte gab. Weniger radikal verlief der Streik, der von der chambre syndicale im November 1909 am Bazar de l’Hotel de Ville organisiert wurde. Dadurch wurde aber nicht verhindert, dass der Leiter des Hauses, Xavier Ruel, neunzig seiner Angestellten aufgrund von Ungehorsam entließ. Im Gegenzug wurde die Ladenschlusszeit zunchst auf 18 Uhr 30 herabgesetzt. Daneben suchten die Gewerkschaften auch das Gesprch mit den Unternehmern, um auf dem Verhandlungswege Verbesserungen der Arbeitssituation herbeizufhren. Dabei entwickelten sie schnell Strategien, um Gewinn aus manchen schwachen Positionen der Unternehmer zu ziehen. So stellte die chambre syndicale im Verlauf der existenzbedrohenden Finanzkrise des Printemps im Jahr 1905 weitreichende Forderungen gegenber dem Haus.245 Doch genauso wurde eine solche dynamische Verschiebung der Handlungsspielrume auch aufseiten der Arbeitgeber ausgenutzt. Lange Zeit umgingen sie die Vereinbarungen mit den Gewerkschaften und die staatlichen Vorgaben zum Kndigungsschutz dadurch, dass sie den Vertrgen mit den Angestellten 242 243 244 245

Abdruck des Protokolls der Aktionrsversammlung, in: La vie financire, 3.12.1903. Dieses Resmee wird am 13. 4. 1901 gezogen, APP Ba 153. Berichte zu den Unruhen im Rahmen der loi du repos hebdomadaire, 1906/07; APP Ba 1542. 11. 8. 1905, APP Ba 152.

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einen Anhang hinzufgten, der sie dazu verpflichtete, im Falle einer Entlassung auf ihre Abfindungsansprche zu verzichten.246 Rechtlich meist unwirksam, war diese Maßnahme doch dazu geeignet, die meisten Angestellten einzuschchtern und tatschlich dazu zu bringen, auf individuelle Rechte zu verzichten. Bei den Rechtsstreitigkeiten vor den conseils de prud’hommes waren die Angestellten deutlich unterreprsentiert, auch wenn sie in nahezu allen Fllen, in denen es zu einer Klage kam, recht hohe Abfindungen zugesprochen bekamen.247 Dieses Verhalten veranlasste die Gewerkschaften, die Arbeitnehmer immer wieder an diese Mçglichkeit zu erinnern.248 Doch nicht alle Arbeitnehmerorganisationen identifizierten sich mit einer solchen Form der Mobilisierung in den Unternehmen. Gerade die Vertretungen der weiblichen Angestellten waren zunchst viel zu schwach, um eine Konfrontation mit den Unternehmern zu suchen. Auch waren die weiblichen Arbeitskrfte im Gegensatz zu ihren mnnlichen Kollegen unterreprsentiert. Beobachter gingen davon aus, dass die Arbeitnehmerinnenverbnde im Wesentlichen eine Funktion als soziales Auffangbecken erfllten und damit nicht in der gleichen Logik wie die Gewerkschaften standen.249 Insgesamt war der Prozess der Gewerkschaftsbildung in der Pariser Warenhausbranche außerordentlich langwierig. Gerade durch soziale, geschlechtliche und qualifikatorische Segregationslinien war eine erfolgreiche Koordination ganzer Belegschaften hufig unmçglich. Eine nur partielle Aktion war angesichts der autoritren Unternehmerposition in der Regel nicht erfolgreich, und die Streikenden wurden hufig entlassen. Mangelnde Solidarisierung der Belegschaften war damit ein Problem, mit dem die Gewerkschaften ber den gesamten Untersuchungszeitraum zu kmpfen hatten. In eine hnliche Richtung weist auch die Analyse von Berlanstein, der feststellt, dass die Warenhausangestellten nach einem ersten frhen Streik von 1869 fast bis zum Ersten Weltkrieg ein erstaunlich geringes Protestverhalten zeigten, das sich zumindest nicht in Form massiver Arbeitskmpfe artikulierte.250 Die Koordination der Angestellten sei fast durchgngig problematisch gewesen und wenn sie zum Erfolg gefhrt htte, dann meist auf dem Verhandlungsweg. Diese Argumentation sei noch um zwei Punkte ergnzt: 1. Die Zeit der mehr oder minder erfolgreichen kollektiven Verhandlungen in den Pariser Warenhusern war die Zeit, in der die erste Generation der Warenhausunternehmer nach und nach durch eine neue Generation professioneller Verwalter ersetzt wurde. Diese neue Unternehmergeneration verfgte nicht mehr in gleicher Form ber

246 Lain, S. 23 ff. 247 Im Vergleich zu anderen Arbeitnehmergruppen wagte nur ein Zehntel der Warenhausangestellten, Klage einzureichen; AP D1 U10 862 – 879. 248 Bureaux et magasins. Bulletin de la chambre syndicale des employs de la rgion parisienne, Nr. 3/15.11.1910. 249 Clamorgan, S. 160 ff. 250 Berlanstein, Working, S. 193 ff.

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eine unumschrnkte Autoritt und konnte nicht mehr auf das gleiche paternalistische Kapital zurckgreifen. 2. Im Gegensatz zu der Situation in den deutschen Warenhusern wurde die kollektive Verhandlungsfhrung der Angestellten nicht durch entsprechende Interessenkoordination auf Arbeitgeberseite begleitet. Eine nennenswerte Vernetzung der Warenhausunternehmer von Paris ist nicht belegt. Vielmehr herrschte hier ein weitgehendes und direktes Konkurrenzverhltnis. Obgleich immer noch von vielen Seiten blockiert, war dies ein Vorteil fr den gewerkschaftlichen Zusammenschluss der Warenhausangestellten.

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2. Deutsche Warenhuser 2.1. Aus der Provinz nach Berlin und zurck – die Entwicklung der deutschen Warenhuser Von Frankreich ausgehend traten die Warenhuser nach und nach ihren Siegeszug in vielen industrialisierten Lndern an. Schnell gelangte die Idee nach Amerika und ins viktorianische England.1 Erst deutlich spter und mit wesentlichen Vernderungen etablierte sich das neue Distributionssystem in Deutschland.2 Hierfr gab es vielfltige Grnde. Mangelnde Kaufkraft in vielen Regionen Deutschlands, nicht zuletzt eine relative Schwche des Berliner Marktes und begrenzte Mçglichkeiten, Unternehmenskapital anzuwerben, gehçrten mit zu den entscheidenden Hemmnissen in der Entwicklung der Betriebsform. Als erstes symboltrchtiges Unternehmen der neuen Branche wurde immer wieder das Berliner Unternehmen Wertheim3 hervorgehoben. „Wer Wertheim kennt, kennt auch die Anderen“, war sich Gçhre in Bezug auf die Organisationsinstrumente der neuen Branche sicher und fuhr fort: „Denn sie alle sind, soweit wenigstens deutsche Verhltnisse in Betracht kommen, mehr oder weniger gute, große, glnzende, genaue Abbilder der Organisation des Wertheimschen Hauses in der Leipziger Straße in Berlin.“4 Klein oder groß, dezentral oder zentral, luxuriçs oder niedrigpreisig, fr Gçhre hatten diese Kategorien keine nachhaltigen Einflsse auf die Organisation der Unternehmen selbst. Das Haus von Wertheim nimmt bis heute einen hervorgehobenen Platz in der Vorstellung von deutschen Warenhusern ein. Bild und Mythos verdecken die Realitten des komplexen deutschen Warenhauswesens um die Jahrhundertwende. Die Erfolgsgeschichte Georg Wertheims, der bis zum Weltkrieg in Berlin das Haus mit der grçßten Verkaufsflche Europas aufbaute, verdeckte tendenziell die unterschiedlichen Entwicklungspfade anderer Unternehmen, deren dauerhafter Erfolg ebenfalls unbestritten ist. Allerdings blieben die deutschen Unternehmen an ihren Umstzen gemessen noch bis ber den Ersten Weltkrieg hinaus weit hinter der Pariser Konkurrenz zurck, egal ob sie als Zentralhaus oder Filialunternehmen organisiert waren.5 Fr Stresemann war schon im Jahr 1900, also mitten in der Aufschwungphase der deutschen Warenhuser, klar :

1 Haupt, Konsum, S. 66. 2 Bisherige Publikationen zu den Warenhusern in Deutschland stellten in erster Linie ihren Charakter als neues Element einer brgerlichen Konsumkultur heraus, bzw. nuancierten dieses Element; hierzu Briesen; Spiekermann, Basis; Sedlmaier. 3 Fischer/Ladwig-Winters. 4 Gçhre, S. 88. 5 Steindamm, S. 14; in diesem Punkt irren etwa Fischer/Ladwig-Winters, Wertheim.

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„Auch die von uns konstatierte Thatsache, dass die Warenhuser an sich vielfach Neugrndungen sind, darf uns nicht veranlassen, in dieser Erscheinung selbst sozusagen etwas wirtschaftliches durchaus neues ohne Verbindung mit den vorhergehenden Entwicklungsperioden stehendes zu sehen.“6

Integrierte Geschftsformen, die sich um eine mçglichst hohe Anziehungskraft durch die Ausdehnung des Angebotes bemhten, gab es in deutschen Stdten wie auch in Frankreich schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Formen dieser neuen, großen Unternehmen waren allerdings unterschiedlich. Sie reichten zurck bis zu alteingesessenen Berliner Firmen wie Hertzog oder Gerson, die in ihrer Strategie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr expansiv ausgerichtet waren. Vielmehr hatten sie in ihrem Marktsegment, dem Handel mit hochwertigen Modeartikeln, eine feste Position erreicht. Auf ein vollstndig anderes Publikum zielten Betriebsformen wie die Abzahlungsgeschfte, die eher Produkte niedriger Qualitt anboten und mit einem System von Sonderaktionen und besonderen Finanzierungsangeboten lockten.7 Beide Geschftsformen erfllten nach ihren Organisationsformen die Definition der Warenhuser nicht, stellten aber in Hinblick auf die Ausweitung und Integration des Angebotes wichtige Etappen in der unternehmerischen Entwicklung dar. Vereinzelt gelang es diesen alteingesessenen Einzelhandelsgeschften auch, sich ganz oder teilweise in moderne Warenhausunternehmen umzuwandeln. Die Firma der Gebrder Emden aus Hamburg beispielsweise, die durch ihren Prokuristen Jandorf in Berlin Geschfte eines vollstndig neuen Typs erçffnete und sptestens mit der Beteiligung am KaDeWe im Jahr 1907 eine Integration in die neue Warenhausbranche geschafft hatte.8 Die gleiche Strategie wandte das Unternehmen zur gleichen Zeit auf dem Mnchner Markt an, wo es 1905 mit dem neuen Geschft Oberpollinger9 Hermann Tietz Konkurrenz machte, 10 dem bis dahin einzigen Warenhaus trat. Tietz erçffnete daraufhin ein neues modernes Haus..11 Doch in der Heimatstadt des Unternehmens, in Hamburg, beschrnkte Gebr. Emden sich nach wie vor auf die Geschftsform eines Engros-Lagers. Andere frhe Geschfte wandelten sich nicht um, sondern wurden von den neuen, finanzkrftigeren Unternehmen gekauft.12 Auch wenn die ersten Warenhuser in Deutschland als Familienunternehmen gegrndet wurden, waren sie doch lange Zeit anders strukturiert als ihre Pendants in Frankreich. Gegrndet zunchst berwiegend im Norden Deutschlands, waren es kleine Huser, die sich vorerst auf den Verkauf von Textilien 6 7 8 9 10 11 12

Stresemann, S. 707. StA Mnchen, 247. Colze, S. 27 f. StA Mnchen 315 ZA Firmen Oberpollinger. Busch-Petersen; Tietz, Hermann Tietz; Pinner; Hartmann, Oskar Tietz. StA Mnchen 325, ZA Firmen Tietz. Dies galt etwa fr Wertheims Konkurrenten Lubasch oder fr das alte Kaufhaus von Max Mannheim, das von Tietz bernommen wurde.

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beschrnkten. 1879 erçffnete Leonhard Tietz ein erstes Warenhaus in Rostock, ihm folgten 1880 Wertheim in Stralsund und 1881 Rudolph Karstadt in Kiel.13 Doch schon bald lassen sich in Deutschland zwei unterschiedliche Expansionspfade unterscheiden. Georg Wertheim und Oskar Tietz erkannten den stark expansiven Einzelhandelsmarkt Berlins und gingen mit ihren Geschften 1884 bzw. 1900 in die Hauptstadt. ber eine heute in den Unternehmensgeschichten hufig nicht mehr bercksichtigte Etappe als „Billigmrkte“ oder Bazargeschfte14 verschaffte sich Wertheim das notwendige Wachstumskapital und trat anschließend mit seinem Haus eine rasante Entwicklung an. Das andere Modell war hnlich erfolgreich und stellte eine Variante der Expansion dar, die fr Deutschland spezifisch wurde: die Organisation als dezentrales Filialkaufhaus.15 Im zweitwichtigsten deutschen Absatzgebiet, dem Rheinland, siedelte sich Leonhard Tietz16 mit vielen kleineren Husern an. hnlich war die Strategie von Theodor Althoff, der mit einem ganzen Filialnetz das Ruhrgebiet abdeckte.17 Ihre Umsatzzahlen erreichten allerdings vor dem Krieg bestenfalls die Hlfte der Berliner Zentralhuser. Der Nordwesten Deutschlands mit Schwerpunkt auf Hamburg wurde von Rudolph Karstadt18 abgedeckt, einem Unternehmen, das vor dem Krieg allerdings noch zu den kleineren der Branche zhlte. hnliches gilt fr Salman Schocken in den schsischen Kleinstdten oder fr Breuninger im deutschen Sdwesten.19 Das Warenhaus in Deutschland ist nicht nur durch die dominante Rolle des Unternehmers und seiner Familie als Familienunternehmen zu verstehen. Der Begriff bekommt auch im Hinblick auf seine Außenbeziehungen eine wichtige Bedeutung, da sich die Warenhuser in einem umfangreichen Netz familirer Beziehungen situierten. Die relativ enge soziale Bindung hatte Folgen, die zwar im Einzelnen aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht immer zu belegen sind, fr die es allerdings wichtige Indizien gibt. Nahmen unabhngige Beobachter am Anfang der Berliner Entwicklung von Wertheim und Hermann Tietz einen unerbittlichen Konkurrenzkampf zwischen beiden Unternehmen an,20 schien sich doch nach kurzer Zeit eine friedliche Aufteilung des Berliner Marktes abzuzeichnen; die Huser lagen zwar dicht nebeneinander, schienen aber einen Preiskampf zu vermeiden. Wertheim sicherte sich vielmehr das Luxussegment des Berliner Marktes, whrend Hermann Tietz vor allem die Mittelschichten anzog.21 Adolf Jandorf dagegen verlegte sich zum guten Teil auf eine Arbeiterklientel, siedelte seine Huser vorwiegend im populren Berliner Osten und 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Als vergleichende Studie zu den Unternehmensgrndern auch Homburg, Warenhausgrnder. Baumgarten, S. 21. Gerlach, Warenhaus, S. 43. Blumenrath. Hirsch, Warenhaus, S. 47. Lenz. Fuchs; fr Breuninger nur wenige Angaben in Peter, S. 5 f.; Lmmle, S. 149. Artikel „Tietz und Wertheim“, in: Die Zukunft, Nr. 32/1900, S. 537 – 545, besonders S. 541. Colze, S. 58 ff.

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Sdosten an und bot seine Waren im niedrigen Preissegment an. Erst mit der von ihm initiierten Erçffnung des neuen Kaufhauses des Westens (KaDeWe) im Jahr 1907 vernderte sich seine Strategie. Zuknftig setzte Jandorf ebenso wie Wertheim auf ein kaufkrftigeres Publikum. Doch auch die zunchst befrchtete starke Konkurrenz zwischen Wertheim und dem neuen Haus Jandorfs fiel schwcher aus als angenommen. Das KaDeWe deckte mit dem Westberliner Markt ein anderes Segment ab als das in der Mitte Berlins gelegene Haus von Wertheim. Der Wettbewerb auf dem Berliner, aber auch auf dem gesamten deutschen Markt war kein Verdrngungswettbewerb. Da die Kaufkraft des Berliner Marktes gerade in Hinblick auf Luxusgter geringer war als in Paris, schafften sich die deutschen Unternehmer einen Ausgleich, indem sie konsequent in die Provinz gingen. Neben der reinen Expansion auf verschiedene Mrkte entwickelten viele Huser auch Integrationstendenzen.22 Zunchst beschrnkten sie sich auf eine Zentralisierung des Einkaufes durch zentrale Einkaufshuser gerade im Ausland. Doch es blieb nicht bei dieser Funktionsausweitung, vielmehr integrierten viele der Huser auch ihre Produktion und versuchten ber ein mehr oder minder dezentrales Produktionsnetz, das im Extremfall Formen eines Verlagswesens annehmen konnte, die Herstellung der Waren zu verbilligen und somit die Gewinnmarge zu vergrçßern. Die Struktur der deutschen Warenhauslandschaft lsst sich nur als Netzwerk begreifen. In der rckschauenden Perspektive erscheint lediglich das kurze Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende als eine Phase des Preiskampfes und der Verdrngung. Auch diese kmpferische Phase war eng verbunden mit dem begrenzten Markt der Reichshauptstadt. In der deutschen Provinz fand der gerne diskutierte Wettbewerb kaum statt.23 Der Erfolg der neuen Geschftsform in Deutschland war unbestritten. Von 1900 bis 1913 hatte sich der Umsatz der Unternehmen von gut 50 Millionen auf 750 Millionen Mark gesteigert.24 So beeindruckend allerdings die Entwicklung in absoluten Zahlen war, ist doch der Anteil an der Gesamtgrçße des Einzelhandels in Deutschland relativ gering. In ihrer kurzen Existenz erreichten die Huser bis 1913 insgesamt einen Marktanteil von 2,2 bis 2,5 Prozent des Einzelhandelsumsatzes.25 Wenn der Marktanteil auch insgesamt beschrnkt war, so war doch die gesellschaftliche und politische Wahrnehmung der neuen Geschftsform umso deutlicher. Hierzu tat die ab 1900 eingefhrte Warenhaussteuer ein briges. Allein in Berlin erwirtschafteten die 18 Geschfte,26 die dieser Steuer unterlagen, 1902 einen Umsatz von 62,5 Millionen Mark und steigerten diesen bis 1913 auf 22 23 24 25 26

Wernicke, Kleinhandel, S. 714. Hirsch, Warenhaus, S. 106 f. Grint, S. 84. Spiekermann, Basis, S. 371. Gerlach, Warenhaus, S. 62.

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130 Millionen.27 Damit machte diese Steuer allein etwa acht Prozent der Berliner Gewerbesteuer und knapp zwei Prozent des gesamten kommunalen Haushaltes aus. Vor dem Krieg stellte das Warenhaus somit nicht nur in der çffentlichen Wahrnehmung, sondern auch in der realen Politik ein durchaus entscheidendes Element dar, dessen Bedeutung erst durch den sinkenden privaten Konsum im Krieg gemindert werden sollte.

2.2. Akteure Unternehmer, Familien und wenige leitende Angestellte „Das Warenhaus in seiner heutigen Form war mehr noch das Resultat des Zusammenwirkens von Energie, Initiative, Phantasie und Einbildungskraft einiger außergewçhnlich talentierter Menschen, die ganz klar die Forderungen ihrer Zeit erkannten.“28 Solche und hnliche Bilder des Initiativunternehmers an der Spitze der Warenhausunternehmen prgen die Sicht auf die Geschichte der großstdtischen Einzelhandelshuser. Ein energischer Mann stand an der Spitze eines Unternehmens, das er allein im Detail kannte und kontrollierte. Doch dieses idealtypische Bild des Warenhausunternehmers korrelierte nur mit einem bestimmten Typus des „modernen“ Warenhauses; gemeint waren die neuen Berliner Huser, die sich um die Jahrhundertwende in der Stadt ansiedelten oder in entscheidendem Maße ausgebaut wurden. In der Selbstbeschreibung wie auch in der Außenbetrachtung gehçrt die Figur des kreativen Grnderunternehmers seit dieser Zeit zu den feststehenden Topoi in der Beschreibung dieser Unternehmen. Doch die ersten großen Einzelhandelsunternehmer waren andere Personen. Eine ganze Generation von Unternehmern, deren Huser schon um die Jahrhundertmitte oder noch frher gegrndet wurden, kommt in der so gerne reproduzierten Erzhlung der „Wertheim“-Generation nicht vor. Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts waren Kaufhausunternehmer auf dem Berliner Markt aktiv und hatten eine relativ stabile Position erlangt.29 Tatschlich unterschieden sich ihre Huser in einigen grundlegenden Punkten von den Warenhusern der Jahrhundertwende. Will man die neuen Warenhausgrnder der Jahrhundertwende angemessen beurteilen, ist zu bercksichtigen, dass sie in Berlin bereits ein entwickeltes Einzelhandelssystem vorfanden. Es gab Vorformen, die die Unternehmer neben den internationalen Beispielen zu inspirieren vermochten.30 27 28 29 30

LA Berlin A Rep 000/02/01 2745. Pasdermadjian, S. 8. Spiekermann, Basis, S. 226 ff. So besuchte der junge aus der Provinz kommende Georg Wertheim wiederholt die Geschfte von Rudolph Hertzog; Ladwig-Winters/Fischer, Wertheims, S. 51.

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In Berlin waren die Huser von N. Israel, Rudolph Hertzog oder A. Lubasch 1890 bereits Unternehmen mit ber hundert Angestellten.31 Dabei hatte sich in diesen Unternehmen ein Katalog von unternehmerischen Praktiken entwickelt, der das Bild der paternalistischen und autoritren Warenhausunternehmer nachhaltig prgte. Um 1890 war A. Lubasch fr seine rigide Entlassungspolitik gefrchtet. Lubaschs durchgreifende Methoden provozierten bereits zu dieser Zeit die ersten vorgewerkschaftlichen Bewegungen des Warenhauspersonals in Berlin, etwa zehn Jahre bevor die bekannten großen Warenhuser çffneten.32 Diese ersten Anfnge eines autoritren Personalwesens sollten die deutschen Huser in der Zeit bis zum Krieg und darber hinaus prgen. Die jdische Herkunft vieler frher Kaufhausunternehmer stellte einen gemeinsamen Hintergrund dar, der auch fr einige der spteren Unternehmer prgend werden sollte. So schloss Oskar Tietz mit seinem starken Engagement fr die Berliner jdische Gemeinde vor dem Ersten Weltkrieg an das Vorbild der ersten Stiftungen von Jacob Israel, dem Leiter des Hauses N. Israel an.33 Doch die Stiftungsttigkeit der Tietz-Familie berschritt bald diesen konfessionellen Kontext und erweiterte ihren Aktionsradius. So untersttzte die Oskar- und Betty-Tietz-Stiftung das Personal, widmete sich aber auch der Fçrderung vaterlndischer Angelegenheiten.34 Auch die Grndung einer Handelsschule Hermann Tietz als erster Ausbildungssttte speziell fr das weibliche Verkaufspersonal war eine Initiative von Oskar Tietz.35 Sowohl im konfessionell-jdischen Kontext als auch in seiner Stellung als wohlttiger, spendenfreudiger Brger Mnchens und spter Berlins befand sich Tietz also in einer Tradition, die ihm die Grndung von Netzwerken deutlich erleichterte. Er unterhielt regelmßige Kontakte zu anderen, zumeist kleineren, Husern in der Provinz oder in Berlin. Diese Kontakte konnten bis zu Beteiligungen oder gar bernahmen der anderen Firmen gehen.36 Tietz engagierte sich weiterhin in Richtung einer Kartellierung der verschiedenen Huser, etwa durch die Grndung einer gemeinsamen Einkaufszentrale mehrerer kleinerer

31 Das Unternehmen N. Israel war beispielsweise schon seit 1865 im Handelsregister von Berlin eingetragen (LA Berlin Zs 194 – 1897. Nr. 575) und war bereits in der zweiten Generation ttig; LBI-JMB MF 27. 32 Bericht vom 16. 9. 1893; dazu weiter Flugblatt „An die Arbeiter und Arbeiterinnen Berlins!“ vom 14. 9. 1893; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15262. Aufruf unterschrieben von der „Agitationskommission der Kaufleute“. 33 LBI – JMB MF 27. 34 Hartmann, Oskar Tietz; Brief vom 13. 1. 1913 an den Polizeiprsidenten; LA Berlin, A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 13810. 35 LA Berlin 90/0017. 36 So im Falle der Huser „Rçmischer Kaiser“ in Erfurt oder Max Monheim im Berlin; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 13810.

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Huser im sddeutschen Raum.37 Seine aktive Rolle bei der Grndung des „Verbandes deutscher Waaren- und Kaufhuser“ im Jahr 1903 deutete in die gleiche Richtung. Der Verband, dem neben Tietz in erster Linie kleinere und mittlere Huser angehçrten, hatte zum Ziel, deren Interessen zu koordinieren und gerade in Hinblick auf die Warenhaussteuer eine effektive Interessenvertretung gegenber der Regierung zu organisieren.38 Doch gerade dieses Netzwerkverhalten brachte Tietz auch Kritik ein, und der Verband verkam nach Meinung von Kritikern immer mehr zu einem „Tietz-Verband“: „Das Vorgehen des Herrn Oskar Tietz kann den Anschein erwecken, als werbe er um die Gefolgschaft von Konkurrenten und mache eine Anzahl Fabrikanten mobil, um einen Waarenhausring zu bilden, den er in seinen Hnden beliebig drehen kann. Vielleicht schließt er dann Kontrakte, nach denen die ihm gefgigen Fabrikanten nur fr Mitglieder des Tietz-Verbandes arbeiten drfen und monopolisiert so ganze Artikel.“39

Im Gegensatz zum Verdacht zahlreicher Zeitgenossen handelte es sich bei dem Verband allerdings keinesfalls um ein jdisches Netzwerk. Vielmehr waren im Verband mit Theodor Althoff und Johannes Wernicke Unternehmer nichtjdischen Glaubens auf fhrendem Posten im Vorstand.40 Die Ressentiments, die Tietz durch seine vernetzten Ttigkeiten bei vielen Zeitgenossen hervorrief, wurden anscheinend automatisch auf seinen jdischen Glauben und sein konfessionelles Engagement projiziert. Andere jdische Unternehmer wie Georg Wertheim oder Adolf Jandorf blieben vielleicht auch aus diesem Grund dem Verband fern und engagierten sich nicht in etwaigen Konkurrenzverbnden. hnliche Bestrebungen zur Koordination kommerzieller Interessen zeigte dagegen das westflische Haus von Theodor Althoff, das mit einer Vielzahl von vertraglichen Netzwerken zwischen kleineren westdeutschen Unternehmen ein Einkaufskartell aufzubauen versuchte.41 Der Bezug auf die jdische Herkunft war bei den Warenhausunternehmern der Jahrhundertwende außerordentlich unterschiedlich ausgeprgt. Oskar Tietz drfte in Bezug auf sein religiçses Engagement der Aktivste unter ihnen gewesen sein. Andere wie Adolf Jandorf schienen ihrer jdischen Abstammung weit weniger Bedeutung beizumessen. Georg Wertheim wandte sich sogar bewusst von diesen Ursprngen ab und ließ sich im Jahr 1906 protes37 Handelscentrale Deutscher Kaufhuser E.G.m.b.H. 1886 – 1913. Ein Wort ber ihre Bestrebung und Entwicklung, 20. Mai5. 1913. LA Berlin 05359 und 06109. Neben Tietz war der einzige grçßere Unternehmer das Haus Max Emden. 38 Colze, S. 62 f. Ein Vorlufer dieses Verbandes war die Berliner Korporation der Kaufmannschaft, die sich fr die Interessen der Warenhuser im Verlauf der Einfhrung der Warenhaussteuer sehr engagierte; LA Berlin A Rep. 200/01 Nr. 857. 39 Das Waarenhaus. Centralorgan fr die Interessen der Kaufhuser, Waarenhuser, Bazare, Sortimentsgeschfte etc., Nr. 29/18.6.1903. 40 Ebd. Nr. 9/28.2.1903. 41 Karstadtarchiv.

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tantisch taufen.42 Auch die Stiftungen, die er veranlasste, gingen ausnahmslos nicht in religiçse, sondern nationale Projekte. So untersttzte Wertheim Organisationen wie den Kaufmnnischen und gewerblichen Hilfsverein fr weibliche Angestellte oder den Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.43 Doch sah er sich wie andere Unternehmer immer wieder zur Verteidigung gegen allzu plumpe Angriffe aus dem antisemitischen Lager der wilhelminischen Gesellschaft gençtigt.44 Trotz des omniprsenten Verweises auf die jdische Herkunft verfgte die zweite Generation der großen Warenhausunternehmer ber eine geringere biographische Geschlossenheit, als zeitgençssische Berichte dies glauben machen wollen. Die angebliche gemeinsame Herkunft der Warenhausgrnder aus der Provinz Posen wurde in diesem Zusammenhang von der antisemitischen Publizistik verflscht45 und nur zu gerne von der spteren nationalsozialistischen Propaganda in eine kapitalistische Verschwçrungstheorie umgemnzt. Tatschlich galt diese gemeinsame Herkunft neben den Gebrdern Tietz nur fr eine – allerdings erstaunlich große – Zahl von Grndern mittlerer und kleinerer Huser in verschiedenen deutschen Stdten. Neben Tietz waren dabei die bedeutendsten Vertreter Simon und Salman Schocken, die sich mit dem Hauptteil ihrer Geschfte allerdings auch nicht weit von ihrer Heimat entfernten.46 Die Herkunft der brigen Warenhausunternehmer widerlegt eine einheitliche geographische Zuordnung: Rudolph Karstadt und Georg Wertheim wurden in Norddeutschland geboren. Whrend Karstadt allerdings weiterhin in der Region aktiv blieb, verlagerte Georg Wertheim das Geschft seines Vaters Abraham von Stralsund nach Berlin.47 Adolph Jandorf dagegen wurde im wrttembergischen Hengstfeld geboren und wanderte zunchst nach Hamburg und von dort weiter nach Berlin.48 Im Vergleich zu den franzçsischen Warenhausunternehmern deutet Heidrun Homburg fr die deutsche Unternehmergruppe eine biographische berschneidung an: Whrend die franzçsischen Unternehmensgrnder zumeist in einem angestellten Verkuferverhltnis standen, bevor sie die Initiative zur Grndung ergriffen, hatten die deutschen Grnder von vornherein 42 Information an den Polizeiprsidenten; La Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 14311. 43 Ebd. und Auflistung der Spender im Jahresbericht des kaufmnnischen und gewerblichen Hilfsvereins fr weibliche Angestellte 1894. Unter den Spendern dieses Vereins fanden sich auch das oben erwhnte Unternehmen N. Israel und Siemens. 44 Kçrner, S. 8 f. 45 Brandenburgische Wacht. Monatsschrift des Gaues Brandenburg im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, 1.6.1907. 46 Die Forschungslage zu dieser Herkunft aus Birnbaum und der brigen Provinz Posen ist lange Zeit nicht weiter verfolgt worden, was allerdings dazu fhrt, dass hufig weiterhin auf Versatzstcke der nationalsozialistischen Propaganda zurckgegriffen wird, um Erklrungen hierfr zu suchen. Eine systematische Aufarbeitung ist daher umso wnschenswerter. Angaben finden sich derzeit bei Frei, S. 66 ff. 47 La Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 94 Nr. 14311; Ladwig-Winters/Fischer, Wertheims, S. 63 ff. 48 LBI – JMB MM 41.

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eine hçhere Eigenverantwortung, indem sie hufig das Haus ihrer Eltern bernahmen oder zumindest in deren oder eines Dritten Auftrag eine Filiale leiteten, die sie anschließend ausbauen konnten. Diese Tatsache mag einerseits als ein qualifikatorischer Vorteil fr die deutschen Unternehmer und als struktureller Erklrungsfaktor fr den Erfolg des Filialsystems interpretiert werden, ist andererseits aber wohl auch der Grund fr ein zumeist langsameres Wachstum der Huser in Deutschland. Neben diesem grundlegenden Argument fr die Bedeutung des Filialsystems in der Geschichte der deutschen Warenhuser lsst sich hieraus auch ein zweites strukturelles Grundelement im Aufbau der Huser ablesen: Die Bedeutung der Unternehmerfamilie. Bei nahezu allen Husern, die frhen Warenhuser der ersten Generation eingeschlossen, war die Verwaltung auf familire Strukturen aufgebaut. Im grçßten Warenhaus Wertheim erreichte diese Aufteilung ihren Hçhepunkt. So waren neben Georg Wertheim seine Brder Franz und Wilhelm und bis 1909 auch der vierte Bruder Wolf im Hause ttig.49 hnlich war die Situation bei Jandorf, wo neben Adolf Jandorf50 zwei seiner Brder ttig waren. Auch bei N. Israel waren neben Hermann N. Israel seine Brder Jacob und Berthold Israel in leitender Funktion beschftigt.51 Nicht nur in Bezug auf diese interne Lenkung der Unternehmen, sondern auch auf Kapitalstrukturen und kommerzielle Netzwerke behielten die Familien immer eine weitreichende Bedeutung in den deutschen Warenhusern.52 Das unterschied sie von den franzçsischen Unternehmen des gleichen Zeitraums, in denen die Ablçsung rein familirer Strukturen in den Husern schon frh stattgefunden hatte. In der Familie Tietz ging diese Bedeutung weit ber das große Haus von Oskar Tietz hinaus. Er betrieb gemeinsam mit seinem Bruder Leonhard ein Einkaufshaus in Berlin, das wiederum von einem anderen Bruder, Georg, geleitet wurde.53 Familienmitglieder wurden mit Missionen betraut, reisten ins Ausland, sammelten dort Ideen54 oder grndeten Einkaufshuser.55 Verwandte halfen in akuten finanziellen Notsituationen aus. Ohne eine solche Hilfe eines Verwandten aus Paris wre etwa das KaDeWe bereits nach kurzer Zeit wieder insolvent gewesen.56 Die bedeutende Rolle der Familie hatten die Warenhuser

49 LA Berlin A Pr Br 14311. Bei Wertheim waren die drei Brder von Georg nicht bloß leitendes Personal, sondern auch alle Mitinhaber des Unternehmens; Handelsregister 1897 (Nr. 9639) bzw. 1909 (Nr. 1360). 50 Colze, S. 58. 51 Handelsregister fr 1897 (Nr. 575); LA Berlin Zs 194. 52 Homburg, Warenhausgrnder, S. 172 f. 53 Handelsregister von 1897, Nr. 4216 und 8669, LA Berlin Zs 194; Bericht von Alfred Tietz vor dem Unterausschuss fr allgemeine Wirtschaftsstruktur. 3. Arbeitsgruppe Wandlungen in den wirtschaftlichen Organisationsformen, Berlin 1928, Kaufhof Archiv. 54 Belegt fr die Beispiele von Wolf Wertheim oder Moritz Jandorf; LBI – JMB MM 41. 55 So etwa Georg Tietz direkt vor dem Krieg in Paris; Tietz, Hermann Tietz, S. 96 ff. 56 Persçnliche Erinnerungen von Harry Jandorf; LBI – JMB MM 41.

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mit anderen Unternehmen der deutschen Industrie gemeinsam.57 Eine Entpersonalisierung und Brokratisierung fand in diesem Sektor noch nicht ansatzweise statt. Damit war die persçnliche Autoritt des Unternehmers und seiner Familie fr diese Branche die maßgebliche Handlungsressource zur Lenkung der Unternehmen. Jandorf verwies zudem gerne darauf, mit anderen Unternehmern der Branche befreundet zu sein, vor allem mit seinen Berliner Konkurrenten Tietz und Wertheim und zudem mit seinem frheren Arbeitgeber, dem Haus Emden. Auch wenn sich manche Huser zeitweilig einen heftigen Konkurrenzkampf lieferten – etwa Jandorf und Wertheim in der Erçffnungsphase des KaDeWe –,58 so schickten viele Unternehmer junge Familienmitglieder bewusst in andere Unternehmen zur Ausbildung.59 Auch im Fall der Kapitalakquise zeigt das Beispiel von Theodor Althoff die weitreichende Verzweigung einer solchen Finanzierungsarbeit. Fr jede Neuerçffnung eines Filialhauses musste Althoff ber Netze von Freunden Bittbriefe schreiben, in denen er fr den Einsatz von Kapital eine ausreichende Verzinsung zusicherte.60 In Zeiten unzureichender Kreditfinanzierungen und schwacher Kapitalmrkte waren diese Netzwerke von existenzieller Bedeutung fr die Neugrndung von Unternehmen. Insgesamt kristallisiert sich auf diese Weise ein Geflecht von Beziehungen zwischen den großen und mittleren deutschen Warenhausunternehmen heraus, fr das sich in erster Linie zwei Achsen ausmachen lassen: einerseits eine intensive Beziehung zwischen Leonhard Tietz, Oskar Tietz, den Brdern Schocken und Theodor Althoff, andererseits eine Beziehung zwischen den Husern von Hermann Emden mit dem Mnchener Haus Oberpollinger und den Husern von Adolf Jandorf,61 wobei es auch hier gewisse Beziehungen zur Person von Oskar Tietz gegeben hat. Auffllig ist die absolute Zurckhaltung des grçßten deutschen Warenhauses und seines Grnders Georg Wertheim in Bezug auf eine, wie immer geartete Vernetzung mit seinen Konkurrenten. In den Kreisen der Warenhausunternehmer hatte Wertheim ber lange Zeit eine latent negative Reputation.62 Seine sukzessiv veranstalteten Preiskriege hatten ihn viele Sympathien gekostet.63 Der Unternehmer war fr die Fhrung des Warenhauses von außerordentlicher Bedeutung. Er war der Einzige, der in der Hierarchie ber dem Dickicht unterschiedlicher Abteilungen platziert war und die ihm unterge57 Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte, S. 77. 58 Dies gilt gerade fr das eher gespannte Verhltnis der Huser von Jandorf und Wertheim, die sich einige Zeit einen Konkurrenzkampf lieferten; Informationsbrief vom 7. 3. 1907; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 94 Nr. 10937. 59 LBI – JMB MM 41. 60 Eine Vielzahl solcher Briefe findet sich im Karstadtarchiv. 61 LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 94, Nr. 10937. 62 Wernicke, Kleinhandel, S. 718. 63 Artikel „Tietz und Wertheim“, in: Die Zukunft, Nr. 32/1900, S. 537 – 545, S. 541.

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ordneten Abteilungsleiter koordinieren konnte. Diese Tatsache wurde von den zeitgençssischen Beobachtern durchaus zur Kenntnis genommen und immer wieder bewundernd hervorgehoben.64 Doch den autoritren Mnnern an der Spitze der Huser wurde nicht nur Bewunderung zuteil; sie standen auch im Kreuzfeuer der Kritik von Seiten der Gewerkschaften oder staatlicher Institutionen.65 Nicht immer war die Prsenz ihrer Namen in der ffentlichkeit erwnscht, wussten doch viele der Unternehmer, dass jegliche Kritik an den Warenhusern ber kurz oder lang auch die viel umworbenen Kufer abschreckte. Georg Wertheim stand zeit seines Lebens auf dem Standpunkt, in der ffentlichkeit mçglichst nicht in Erscheinung zu treten.66 Dies zeigte sich in seiner diskreten Spendenttigkeit, in seiner Ablehnung von Auszeichnungen und in seiner Zurckhaltung in religiçsen Fragen. Doch ließ sich eine solche Strategie kaum durchhalten, waren doch die großen Warenhausunternehmer der Jahrhundertwende in Deutschland schillernde Persçnlichkeiten, die im Rampenlicht der sensationshungrigen Presse standen.

Vielfltige Formen der mittleren Hierarchiestufen Mit dem sprunghaften Wachstum einiger Huser waren eine stndige Reformulierung hierarchischer Strukturen und ein wachsender Personalbedarf verbunden. Unter der Ebene der leitenden Unternehmer und ihrer Familien, auf der hierarchischen Stufe der hçheren Angestellten, deutete sich eine Struktur an, die noch nicht bis ins letzte Detail gefestigt war : Das große Haus von Wertheim am Leipziger Platz gliederte sich zeitweise in mehr als sechzig verschiedene Abteilungen. Die jeweiligen Abteilungsleiter unterstanden in der normalen Hierarchiefolge direkt der Geschftsleitung. Nur durch stndige Kontrolle schien es Wertheim mçglich, die bersicht ber seinen Betrieb zu behalten. „In einem derartig vielseitigen Unternehmen, dessen Ausdehnung es den Chefs unmçglich macht, sich um alle Dinge persçnlich zu kmmern, ist die richtige Gliederung des Beamtenstabes von grçßter Wichtigkeit. Wie in einer genial konstruierten Maschine ein leiser Druck auf einen Knopf tausende von Rdern und Hebeln in Bewegung setzt, so mssen auch in einem kaufmnnischen Unternehmen alle Teile so ineinander greifen, dass sie richtig funktionieren, auch wenn sie nicht unter steter Kontrolle der leitenden Personen stehen.“67

64 65 66 67

Biermer (1905), S. 122; Wussow, S. 4; Colze, (1908), S. 58 ff.; Schliemann, S. 16. GStA I Rep 120 BB VII Nr. 4, Bd. 17. LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 14311. Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation, Nr. 3/ 5.2.1907.

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Die Einfhrung eines Beamtenstabes, im Einzelhandel bislang unblich, schien auch fr Wertheim eine Lçsung fr sein Kontrollproblem zu sein. Gleichzeitig machte die bertragung brokratischer Muster in den Augen der ffentlichkeit das Unternehmen zu einem wahrhaften Großunternehmen. So versuchte Wertheim sein Haus in Geschftsleitung, Oberaufsicht ber eine Etage und Abteilungsaufsicht zu gliedern. Doch stieß er hier auf ein grundlegendes Problem: So straff eine solche Hierarchie vom Grundsatz her aufgebaut war, konnte sie doch die funktionelle Vielfalt hierarchischer Beziehungen, die in der Konzeption eines großen Warenhauses begrndet lag, nicht verhindern. Per definitionem richtete sich die Beamtenttigkeit auf die Kontrolle und Steuerung eines kontinuierlichen Geschftsbereiches, hufig auf eine buchhalterisch-finanzielle Kontrolle. Die disziplinarische Kontrolle – im Warenhaus aufgrund des Kundenkontaktes von noch grçßerer Bedeutung als in vielen Industriezweigen – konnte ein solches System nicht leisten. Dazu kam ein weiteres spezifisches Problem: „Die Geschftsleiter der Berliner Filialen sind hauptschlich als Aufsichtsbeamte zu betrachten, die fr die Ordnung im Hause, Personal, Verkauf usw. verantwortlich sind und den Behçrden gegenber die Chefs vertreten. Mit dem Einkauf haben sie nichts zu tun […].“68

Auch die Einkufer waren also auf der operativen Ebene auf eine hierarchische Stufe mit der Personalleitung und der statistischen Kontrolle gestellt. Durch diese Dopplung von hierarchischen Beziehungen wurden die Kompetenzen auf der Ebene unterhalb des Firmenleiters stark zergliedert. Hieraus leitete sich ab, dass die hierarchischen Strukturen auf die Person des Unternehmers fixiert war.69 Im Wesentlichen lassen sich die Angestellten der mittleren Hierarchieebene in den zentralisierten Unternehmen Berlins also in die Bereiche Verkauf/ Personalberwachung, Einkauf und Rechnungskontrolle einteilen. Dazu kamen in zunehmendem Maße die Angestellten der Reklame und der Dekorationsabteilungen,70 die allerdings nicht in der direkten operativen Linie standen. Durch die bis zum Krieg fortschreitende Entwicklung des Filialwarenhauswesens wurden allerdings auch Unternehmenspraktiken eingefhrt, die sich von denen Wertheims unterschieden, auch wenn wichtige Koordinationsprobleme hnlich waren. Doch die operative Hierarchiedopplung war in den Filialgeschften auf einem anderen Niveau angesiedelt als in den zentralen Warenhusern der großen Stdte. Julius Hirsch, der sich um die Jahrhundertwende mit der Situation des Filialgeschftswesens auseinandersetzte, 68 Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation, Nr. 24/20.12.1906. 69 Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation, Nr. 2/ 20.1. 1907. 70 Lux, S. 150.

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gab an, dass in diesen Husern durch den Mangel an entsprechend spezialisiertem Personal die Funktionen von Einkauf und Verkauf zusammengelegt waren.71 Die Weisungseinheit gegenber der unteren Hierarchiestufe, dem Verkaufspersonal, war in diesen Bereichen also in hçherem Maße gegeben als in den zentralen Husern. Doch die Rayonchefs selbst unterstanden nun zwei verschiedenen Bereichen: einerseits der Verkaufsleitung, andererseits der Einkaufsleitung. Daneben unterstanden sie natrlich weiterhin der stndigen Kontrolle durch die Hauptkasse. Diese Beschreibung tendiert allerdings dazu, planerische Entwrfe berzubewerten. Es erscheint eher mçglich, durch eine soziale Beschreibung der hçheren Angestellten diese schematischen Probleme durch ihren sozialen Kontext in einen praktischen Wirkungszusammenhang zu stellen. Als Branche betrachtet, zeigten die Warenhuser eine deutliche Tendenz zur Bildung einer mittleren Hierarchieebene. Die statistisch belegte Untersuchung, die Kthe Lux 1910 angefertigt hat, zeigt, dass die verwaltenden Berufe 18 Prozent der Gesamtbelegschaft ausmachten.72 Der Anteil des nicht im Verkauf ttigen Personals lag hnlich hoch wie das Verhltnis zwischen produzierendem und verwalterisch ttigem Personal in Betrieben des produzierenden Gewerbes.73 Doch wie auch im produzierenden Gewerbe war dieser Anteil des kontrollierenden und administrativen Personals nicht gleichbedeutend mit qualifizierter Arbeit oder mit hçherer Bezahlung. Dies war zwar der Fall fr die von Lux errechneten gut sieben Prozent Leitungs- und Einkaufspersonal, die die vier obersten Lohnkategorien bildeten.74 Angehçrige dieser Kategorien konnten mit einem monatlichen Einkommen von mindestens 150 Mark rechnen; dagegen galt das nicht mehr fr das Bropersonal, von dem ein Großteil fr einfache administrative Ttigkeiten angestellt war (siehe Grafik 13)75. Die Angestellten dieser Bereiche verteilten sich in etwa gleichmßig auf alle Lohnkategorien.76 Von den gut 10 Prozent, auf die Kthe Lux den Anteil der Broangestellten beziffert, waren ber drei Viertel weibliche Arbeitskrfte, die in Hinblick auf die Bezahlung weit hinter ihren mnnlichen Kollegen zurcklagen. Verwaltende Ttigkeiten wurden gleichzeitig weitgehend entqualifiziert, sodass eine relative Absenkung der Lçhne gerechtfertigt schien. Allerdings war die Praxis in Bezug auf die Einstellung von weiblichem Personal nicht einheitlich, sie hing vielmehr stark von der Grçße des Unternehmens ab. In den kleineren Husern und Filialgeschften war das Bropersonal berwiegend mnnlich, erst in den großen zentralisierten Geschf71 Hirsch, Warenhaus, S. 37. 72 Lux, S. 24. 73 In den meisten Industriebetrieben dieser Zeit findet sich ein Verhltnis der „Beamtenschaft“ zu den Arbeitern von 1:4 bis 1:6 Kocka/Siegrist, Die hundert grçßten. 74 Lux, S. 24 und S. 27 ff. 75 Ebd., S. 208. 76 Ebd., S. 27 ff.

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Grafik 13: Prozentuale Verteilung des Bropersonals auf die Lohnkategorien, um 1910.

ten wurde diese Kontrollarbeit von Frauen ausgebt.77 Je kleiner die Huser, desto geringer war die Mçglichkeit, als einfacher Verkufer in der Hierarchie der Filiale aufzusteigen.78 Wie schon fr die Unternehmer galt auch fr die hçheren Angestellten der Warenhuser das Prinzip des „learning on the job“, das auch durch die hohe Selbstrekrutierungsrate der Unternehmen zum Ausdruck kam.79 Ein Großteil der Inspektoren und Abteilungsleiter im Verkauf hatte eine Karriere im Haus gemacht. Dabei sind keine objektivierbaren Qualifikationsmaßgaben fr die Verkufer zu finden. Fr die leitenden Posten in den Abteilungen schienen weder Alter noch Geschlecht Ausschlusskriterien gewesen zu sein, im Gegensatz zu der noch zu beschreibenden Situation des einfachen Verkaufspersonals. Anders als in der Chemieindustrie gab es fr die leitenden Angestellten im Warenhaus keine Schlsselqualifikationen, die eine Karriere garantiert htten. Allerdings hoben viele zeitgençssische Beobachter die besondere Qualifikation hervor, welche die Unternehmer den Einkufern zuschrieben. Grund fr das hohe Ansehen war die Unabhngigkeit, die diese Ttigkeit mit sich brachte.80 In der Regel bekamen die Einkufer ein monatlich zugeteiltes Budget, mit dem sie alle Einkufe ttigen konnten, die sie fr richtig befanden. Eine Kontrolle fand nur in Hinblick auf die Einhaltung des angesetzten Bud77 78 79 80

Ebd., S. 204 f. Kçrner, S. 123. Hirsch, Warenhaus, S. 58. „Die Herren Einkufer“, in: Colze, S. 41 ff.

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gets statt.81 Das ging einher mit einer weitgehend vom Umsatz abhngigen Vergtungsform, die gleichzeitig die Unabhngigkeit der Einkufer sichern und die Korruption verhindern sollte.82 Doch die Verantwortlichkeit fr die Waren ging meist ber den reinen Kaufvorgang hinaus. Hufig setzten die Einkufer auch den Verkaufspreis mit fest. Die von ihnen gekauften Waren mussten des Weiteren auch den Verkufern nahegebracht werden, wodurch sie wiederum in der Hierarchie des operativen Verkaufsgeschftes standen.83 Die hohen Anforderungen, die an den Posten des Einkufers gestellt wurden, hatten zur Folge, dass gerade in diesem Bereich hufig keine reinen Hauskarrieren mehr gemacht werden konnten. Einerseits nahmen die Konkurrenz und die Abwerbung von qualifiziertem Personal aus anderen Husern zu, obwohl sich alle Firmen gerade im Bereich des Einkaufs um strengste Geheimhaltung ihrer Personalverhltnisse sorgten. Andererseits zeigten die ersten Huser eine Tendenz dazu, Einkufer aus jenen Branchen anzustellen, um die sie sich spter im Einkauf zu kmmern hatten.84 Auch fr andere Posten nahm die Tendenz zum Abwerben der wichtigen Angestellten zu. Fr das neu gegrndete Kaufhaus des Westens bemhte sich Adolf Jandorf zum ersten Mal systematisch darum, die fhrenden Angestellten des Konkurrenten A. Wertheim abzuwerben.85 Der Grund hierfr mag einerseits eine beabsichtigte Geschftsschdigung des Konkurrenten gewesen sein, andererseits spiegelte sich in dieser Praxis die schwierige Rekrutierungssituation fr qualifiziertes Personal ohne eine formelle Ausbildung wider. Der Bedeutungszuwachs dieser Hierarchieebenen vollzog sich in den Warenhusern analog zu Industriebetrieben der gleichen Zeit. Anders jedoch als in weiten Teilen der produzierenden Industrie war diese vermittelnde Ebene in den Warenhusern außerordentlich heterogen in ihrer funktionalen Aufgliederung. Fr die Warenhuser lsst sich somit eine weitgehende Vermischung der hierarchischen Verhltnisse konstatieren, die oft genug selbst die Unternehmer kaum noch berblicken konnten.86 So deutlich das Wachstum der zwischengeordneten Hierarchiestufe als Ganzes war, so undeutlich war ihre Kategorisierung.

81 Wagner, S. 24. 82 Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation. Fachblatt der leitenden Mnner in Industrie und Handel, Nr. 16/20.8.1906. 83 Aus den Warenhusern, S. 25. 84 Gçhre, S. 57 f. Zum Quereinstieg in die Filialhuser auch die Erinnerungen des Schwiegersohns von Theodor Althoff, Friedrich Schmitz, der seinerseits aus dem çffentlichen Beamtendienst des preußischen Staates in das Warenhaus einstieg; Karstadtarchiv. 85 La Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 10937, Bericht vom 28.3.1908. 86 Lux, S. 23 f.

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Angestellte im Warenhaus – Marginalisierung durch Aufstiegschancen Dass die Warenhuser eine neue urbane Kultur symbolisierten, lag nicht allein am neuen Warenangebot. Hinzu kam die Wahrnehmung neuer Arbeitsformen und damit die Reformulierung einer sozioprofessionellen Kategorie: der des Einzelhandelsangestellten. Allein aufgrund ihrer großen Zahl nahmen die Warenhausangestellten bald eine Stellung in der urbanen Gesellschaft Berlins und anderer großer Stdte ein, die das Bild der „kleinen Leute“ und des „Stehkragenproletariats“ nachhaltig prgte. Diese Bilder wurden auch literarisch vermittelt, angefangen von Zolas „Au bonheur des dames“ und seiner bersetzung ins Deutsche („Im Paradies der Damen“) bis hin zum sozialkritischen Hçhepunkt in der Zwischenkriegsphase mit Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun“. Daneben fanden die Probleme der Angestellten einen nachhaltigen Widerhall in der frhen Sozialforschung, die das Bild des Angestellten noch weit ber den Ersten Weltkrieg hinaus nachhaltig prgte.87 Die soziale Gruppe der Warenhausangestellten war nicht nur durch ihre bloße Masse von Bedeutung, sondern auch durch ihre Katalysatorfunktion fr die Formierung und Identittsfindung der Angestelltengruppen im urbanen Kontext, einer Gruppe, die vor allem durch die Ausdifferenzierung wirtschaftlicher und administrativer Verwaltungsaufgaben in starkem Wachstum begriffen war. So stieg etwa im privatwirtschaftlichen Bereich ihre Zahl zwischen den Gewerbezhlungen von 1882 und 1907 um nahezu das Sechsfache.88 Kthe Lux gibt fr Berlin im Jahr 1906 eine Zahl von 14 000 Warenhausangestellten an. Sie schtzt, dass die Zahl bis zum Jahr 1908 um weitere 3 000 anstieg,89 sodass es bis zum Krieg vermutlich mehr als 20000 waren. Die bislang immer wieder genannten Firmen von Wertheim, Jandorf und Hermann Tietz drften dabei weit ber die Hlfte dieses Personals beschftigt haben. Nach einer Studie von 1899 arbeiteten bei Wertheim in Berlin 2 287 Angestellte. Andernorts wurde schon fr das Jahr 1895 die Zahl mit 4 670 angegeben. Dieser Unterschied erklrt sich wahrscheinlich durch die Kategorisierung der Angestellten und Arbeiter außerhalb des Verkaufs90 sowie der Heimarbeiter.91 Bis zum Krieg wurde die Zahl der Angestellten fr das Unternehmen in Berlin meist mit ber 4 000 Vollzeitkrften angegeben.92 In Jandorfs zunchst kleinen Husern arbeiteten laut dieser Studie bis 1899 nur 489 Angestellte.93 In der folgenden Expansionszeit, in der zu den zwei alten Husern drei neue hinzukamen, stieg auch die Zahl der Angestellten bis 1907 87 88 89 90 91 92 93

Etwa Lederer, Angestelltenschaft, S. 53. Pierenkemper, Arbeitsmarkt, S. 28. Lux, S. 23. GstA, I Rep 120 C V Nr. 68a, Bd. 2. Hirsch, Warenhaus, S. 54. LA Berlin, Polizeiprsidium; A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 14311. GstA, I Rep 120 C V Nr. 68a, Bd.2.

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auf 3 000.94 Durch die Erçffnung des KaDeWe, dessen inoffizieller Inhaber Jandorf war, kamen auf einen Schlag weitere 1 300 Verkufer hinzu.95 Der „Latecomer“ Hermann Tietz, der sich erst 1900 auf dem Berliner Markt etablierte, beschftigte ab der ersten Stunde „2 500 mnnliche und weibliche Verkufer, 500 Hausdiener, 50 Radfahrer […]“.96 Dieses Personal arbeitete ausschließlich fr das Haus an der Leipziger Straße, die Zahl der Beschftigten stieg durch die Erçffnung des neuen Hauses am Alexanderplatz im Jahr 1904 weiter an. Genaue Angaben fr die Unternehmen in Berlin sind allerdings schwer festzustellen. In der Regel stiegen die Angestelltenzahlen ber den Untersuchungszeitraum so stark an, dass das Zahlenmaterial eine kurze Halbwertszeit besaß. Erschwerend kam hinzu, dass die Zahlen der Angestellten auch saisonbedingt stark schwankten. In gewissen Perioden konnte sich gerade in den kleineren Husern die Zahl der Mitarbeiter verdoppeln. Ist demnach schon die Feststellung der Zahlen fr Berlin alles andere als einfach, verbietet sich darber hinaus jede Hochrechnung auf den Rest Deutschlands. Es gibt dementsprechend keine belastbaren Zahlen der Warenhausangestellten fr den gesamten Untersuchungszeitraum. Einzig die Gesamtzahl der Angestellten im Einzelhandel findet sich in den Quellen, doch auch diese unterlag je nach Autor einer starken Schwankung. Friedrich Naumann schtzte ihre Zahl fr das Jahr 1895 auf 503 000.97 Diese Zahl verstand sich inklusive der Einzelpersonen, also der Vielzahl von Kleinhndlern, die keine abhngigen Angestellten hatten. Das Ladenpersonal allein, also ohne diese Besitzer, wurde fr 1895 auf 206 477 und 1907 auf 392 058 beziffert,98 ein Zuwachs, an dem die Warenhausbranche einen maßgeblichen Anteil gehabt haben drfte. Doch die Grçße der Berliner Geschfte, vor allem die von A. Wertheim, sollte keinesfalls verallgemeinert werden. Sie war nicht typisch fr die Situation in anderen deutschen Stdten. Die meisten Huser in der Provinz hatten nur einige Hundert Mitarbeiter, sie prgten damit in weit geringerem Maße den Arbeitsmarkt der jeweiligen Stadt. Vor der Erçffnung seiner neuen großen Huser in Kçln und in Dsseldorf (1902 und 1909) zhlte das Unternehmen von Leonhard Tietz etwa 900 Angestellte.99 Damit war es beinahe genauso groß wie das Unternehmen seines Konkurrenten Theodor Althoff, das in der Zeit vor der Erçffnung der großen Huser in Essen und Leipzig (1912 und 1913) auch nur auf 1000 Mitarbeiter kam.100 Kthe Lux, die sich in ihrer Untersu94 Informationen zu Adolf Jandorf vom 7. 3. 1907; La Berlin, Polizeiprsidium A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 10937. 95 Informationen zu Adolf Jandorf vom 12.6. und 11. 7. 1907; Ebd. 96 Artikel „Tietz und Wertheim“, in: Die Zukunft, Nr. 32/1900, S. 537 – 545, S. 538. 97 Naumann, S. 153. 98 Verwaltungsbericht des Kaufmnnischen Vereins weiblicher Angestellter, Nr. 21/1910, S. 21. 99 GstA I Rep 120 C V Nr. 68a, Bd. 2. 100 Information der Auskunftei R.G. Dun & Co. an den Privatinvestor L. Schlieker vom 25.7.1908; Karstadtarchiv.

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chung um eine mçglichst ausgewogene Gewichtung zwischen großen und kleinen Unternehmen bemhte, kam im Querschnitt der von ihr betrachteten Unternehmen auf einen Wert von etwa 400 Angestellten pro Unternehmen und 170 Angestellten pro Haus.101 Fluktuation und Schwankungen waren allerdings besonders in der Vorweihnachtszeit außerordentlich hoch: „A. Wertheim engagiert in der Zeit vom 20.11. bis zum 1.12. zur Aushilfe allein fr das Hauptgeschft Leipziger Straße ca. 1000 Personen.“102 Es handelte sich meist um befristete Arbeitsverhltnisse. Wie in den franzçsischen Warenhusern der gleichen Zeit arbeiteten viele der Angestellten nicht lnger als einige Monate, oft sogar nur wenige Wochen in den Husern. In den Sommermonaten wurde die Belegschaft meist auf zwei Drittel oder drei Viertel reduziert.103 Doch nicht nur die vorbergehend im Hause arbeitenden Angestellten sahen ihre Anstellung damit immer wieder infrage gestellt; es war gngige Unternehmenspraxis, in Phasen stagnierender Nachfrage auch die vermeintliche Stammbelegschaft in Saisonarbeiter umzuwandeln, um sich auf diese Weise eines Teils der gering qualifizierten Angestellten zu entledigen. Die sich schnell wandelnden Arbeitszyklen in den Husern waren wesentlicher Bestandteil des Drucks, den die Unternehmer und Verwalter der Warenhuser auf ihr Personal ausbten. Naumann beschreibt das Verhltnis von Einzelhandel und Arbeitsrationalisierung 1905 wie folgt: „Wenn also im Handel keine Arbeitsersparnis eintritt, so braucht er mehr Menschen, um diese grçßeren Mengen zu disponieren. Aber die Tatsache selber, dass der Handel die Steigerung zur grçßeren Intensitt nicht mitmacht, muss zu denken geben.“104

In einem solchen Kontext kann die subjektive Wahrnehmung einer totalen Kontrolle und der durchgngigen Intensivierung der Arbeit aufseiten der Belegschaft als funktionales quivalent zu einer systemischen Rationalisierung angesehen werden, die in Teilen der Großindustrie verstrkt reflektiert wurde. In dieser Logik lag es aber auch, dass die Warenhuser einen hohen Prozentsatz von Arbeitnehmern behielten, die gerade nicht auf eine einzelne Ttigkeit festgelegt waren. Besonders das Unternehmen von Wertheim hielt an einem großen Stamm wechselnder und hierarchisch nicht eindeutig zugeordneter Arbeiter und Angestellter fest, der in gewisser Weise eine Qualifikationsreserve in einem hierarchisch durchlssigen System darstellte.105 Ein weiteres Berufsbild der Angestellten im Warenhaus, das ebenfalls vollstndig unabhngig von der Verkuferlaufbahn war, stellte die Karriere als Kassierer dar. Diese Posten waren hçher qualifiziert als die der einfachen 101 102 103 104 105

Lux, S. 22. Baumgarten, S. 86. Lux, S. 37 f. Naumann, S. 153. Gçhre, S. 68 ff.

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Verkufer, da fr sie zum einen absolute Rechensicherheit vonnçten war und zum anderen eine Vertrauensbasis zu den Vorgesetzten geschaffen werden musste. Nicht nur durch ihre Funktion, sondern auch durch ihre symbolische Bedeutung erlangten die Kassierer eine unbedingte Autoritt.106 Die folgende Grafik zeigt die prozentuale Verteilung der Angestellten auf die verschiedenen Arbeitsbereiche:107 Die Unterschiede in der Stellung wie auch in der Qualifikation der Angestellten spiegelten sich in der Bezahlung wider. Die Warenhuser hielten im Allgemeinen Angaben zur Vergtung ihres Personals zurck. Allerdings verbot auch die Vielzahl der Arbeitsformen im Warenhaus eine Verallgemeinerung der Aussagen zur Gehaltssituation. So beschrnkte sich die Angabe zu den Lçhnen in der von der Zeitschrift „Die Organisation“ verçffentlichten Analyse des Unternehmens Wertheim auf die Feststellung, dass Verkufer in dem Haus mit 80 bis 100 Mark monatlich anfingen.108 In anderen Husern lagen die Gehaltszahlungen gerade fr die neu Eingestellten wesentlich unter diesen Betrgen. So gibt Lux fr die Lehrmdchen ein durchschnittliches Mindestgehalt von 12,50 Mark pro Monat an, ein Betrag, der ein unabhngiges Leben ausschloss.109 Das mittlere

Grafik 14: Prozentuale Verteilung der Angestellten auf die verschiedenen Arbeitsbereiche, um 1910. 106 Aus den Warenhusern, S. 42. 107 Lux, S. 206. 108 Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation, Nr. 18/20.9.1906. 109 Lux, S. 27.

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Gehalt mnnlicher Verkufer in den von ihr untersuchten Unternehmen gibt sie mit monatlich 141 Mark an. Allerdings macht sie auch extreme Schwankungen aus. So war es mçglich, durch einen kontinuierlichen Aufstieg in einem Haus auf den Posten eines Chefverkufers zu kommen, der in bestimmten Fllen Gehaltszahlungen von bis zu 10 000 Mark jhrlich erhalten konnte, ein Gehalt also, das zehnmal so hoch lag wie das eines Verkufers, der am Anfang seiner Berufslaufbahn stand.110 Die erfolgsabhngige Bezahlung nach individueller Verkaufsleistung spielte in den deutschen Husern eine geringere Rolle als in den franzçsischen, wo sie gerade bei den mnnlichen Angestellten nahezu 100 Prozent des Lohns ausmachen konnte. Die Bezahlung der brigen professionellen Gruppen im Warenhaus war dagegen homogener. Die Bezahlung eines Kassierers etwa war deutlich besser als die Einstiegsgehlter der Verkufer, lag allerdings in der Spitzenbezahlung wiederum darunter.111 Das Gleiche galt fr das Bropersonal, das in den Spitzenlohngruppen kaum vertreten war, andererseits verdienten die Broangestellten zu Beginn der Karriere durchaus mehr als ihre Kollegen im Verkauf.112 Die letzte Qualifikationsgruppe im Warenhaus waren die ungelernten Arbeiter. Kthe Lux berechnet ihren Anteil in der Belegschaft auf 14,4 Prozent und damit niedriger als in den franzçsischen Husern.113 Diese Gruppe war in sich ebenso heterogen wie die Ttigkeiten, fr die sie eingesetzt wurden. Es handelte sich um ungelerntes Personal, das ber eine gewisse Zeit nicht in seinem eigentlichen Aufgabenbereich gebraucht und deswegen geradezu „abgestellt“ wurde, oder auch um junge Anfnger, die nach einer Zeit in dieser ungelernten Ttigkeit in die Hierarchien des Warenhauses integriert wurden. Die Beschftigungen umfassten handwerkliche Ttigkeiten jeglicher Art ebenso wie Verpackungs- und Lieferdienste fr die Kunden. Die Bezahlung dieser Berufsgruppe lag meist wesentlich unter dem durchschnittlichen Verkufergehalt, allerdings ber dem Gehalt der weiblichen Lehrlinge, der am geringsten bezahlten Gruppe im Warenhaus.114 Grundlage fr den großen Handlungsspielraum des Unternehmens in der Gestaltung der Arbeitskonditionen war ein latentes berangebot an Arbeitskrften.115 Durch eine solche Struktur war der Arbeitsmarkt noch nicht von vornherein segregiert, vielmehr griffen die Warenhuser auf einen urbanen

110 111 112 113 114

Wussow, S. 80. Lux, S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., Anhang Tabelle IV. „Das Kaufhaus des Westens (A. Jandorf & Co.) und seine Angestellten“, in: Brandenburgische Wacht. Monatsschrift des Gaues Brandenburg im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, 1. Juni 1907. 115 So Kçrner, S. 122 und S. 128.

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Arbeitskrftepool zurck, der durch eine große Zahl gering bezahlter Angestellter und Hilfsarbeiter konstituiert wurde. Im Gegenzug entwickelten diese Angestellten in den großen Stdten wiederum Institutionen, die es erlaubten, diese außerordentlich volatile Nachfrage der Unternehmen auszugleichen. Ein Beleg fr die Selbstorganisation der Angestellten sind die zahlreichen Arbeitslosenuntersttzungskassen, die schon ab Anfang der neunziger Jahre die entlassenen Warenhausangestellten aktiv untersttzten.116 Bezeichnenderweise war das stets die erste Maßnahme, der vorgewerkschaftlichen Organisationen im Bereich des Einzelhandels. hnliche Fonds wurden von verschiedenen Verbnden, unter anderem dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, gegrndet (siehe Grafik 15)117: Die Organisation der Warenhausarbeit hatte zumindest in den großen Stdten das Problem zu lçsen, je nach Wirtschaftslage schnell Personal entlassen oder einstellen zu kçnnen. Dieser Schwierigkeit begegneten die großen Huser mit der Einrichtung eigener Personalabteilungen.118 Waren es in den kleineren Husern meist die Rayonchefs, welche die Auswahl ber einzustellende Verkufer trafen, so gab es in den grçßeren Husern immer çfter eigens hierfr zustndige Angestellte.119 Wertheim ging sogar so weit, ge-

Grafik 15: Mitglieder, Untersttzung und Untersttzungsdauer im Verein Deutscher Kaufleute (spter VDH), 1891 – 1909 (exponentielle Darstellung). 116 117 118 119

Borchhardt, Anhang. Ebd. Aus den Warenhusern beider Welten, S. 61 f. Geschftsordnung der Firma Hermann Tietz in Mnchen, 1907 § 1, Stadtarchiv Mnchen, Gewerbeamt 867.

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trennte Personalabteilungen fr die weiblichen und die mnnlichen Angestellten zu grnden.120 Die meisten Warenhuser legten in den Arbeitsvertrgen, die sie vor 1914 mit ihren Angestellten schlossen, eine Kndigungsfrist von vier Wochen fest.121 Hielten sich Firmen nicht an diese Vorgaben, wurden sie immer çfter von den Arbeitsgerichten zur Lohnfortzahlung verurteilt.122 Im Gegensatz zu Frankreich fand also eine recht erfolgreiche Regulierung der Kndigungsfristen statt, eine Unterminierung durch individuelle Zusatzvertrge ist nicht belegt. Insgesamt bot sich den Beobachtern der Entwicklung der Angestelltenarbeit im Warenhaus ein Bild stndiger Vernderung. Damit unterlag auch das Verhltnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einer stndigen Neuformulierung. „Eine derartige Nachfrage nach Personal hat natrlich Umwlzungen zur Folge, die in ihren Konsequenzen nicht bersehen werden drfen, denn das ganze moderne Geschftsleben wird von ihnen beeinflusst. Das alte patriarchalische Verhltnis zwischen Chefs und Angestellten hat ja schon lange aufgehçrt. Die Hast und das Eilen und Treiben fortschrittlichen Lebens und Verkehrs lsst keine Zeit fr Gemtlichkeit. Auf der anderen Seite darf aber wiederum nicht vergessen werden, daß die praktische Sozialpolitik innerhalb des kaufmnnischen Berufes whrend der letzten Jahre geradezu Vorbildliches geleistet hat, denn sonst wrde sich ein vollstndig schiefes Bild ergeben.“123

Doch es gab auch ganz andere Beurteilungen der neuen Arbeitsverhltnisse im modernen Geschftsleben: „In vielen Unternehmungen dieser Art herrscht ein System rcksichtsloser, bis an die ußersten Grenzen gesetzlicher Zulssigkeit, ja, nicht selten darber hinaus gehender Ausbeutung.“124

Im Kern stellten beide Beurteilungen das Gleiche fest. Die persçnlichen, informellen Beziehungen zwischen Angestellten, Personalchefs und Unternehmern der Warenhuser waren in einen Prozess der Formalisierung eingetreten, in dem der Staat, gerade durch den Charakter des Warenhauses als çffentlichem Großunternehmen, eine wichtige Rolle als Gestalter dieser Arbeitsbeziehungen spielte. Mangelnde Sicherheit und nicht immer hinreichende Bezahlung der Angestellten rckten diese eher in die Nhe des std-

120 Kçrner, S. 130. 121 Geschftsordnung der Firma Hermann Tietz in Mnchen, 1907 § 20, Stadtarchiv Mnchen, Gewerbeamt 867. 122 So etwa eine Klgerin, der relativ schnell eine Lohnfortzahlung von zwei Monaten zugesprochen wurde; Soziale Praxis. Zentralblatt fr Sozialpolitik, Nr. 16/14. 1. 1904, S. 415. 123 Colze, S. 32 f.; hnlich Hirsch, Warenhaus, S. 8. 124 Steindamm, S. 25; auch hier hnlich Dehn, S. 48 ff.

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tischen Proletariats als in die Sphre der Verwaltungsangestellten der neuen Großunternehmen oder der staatlichen Administration.125

Im Spannungsfeld zwischen Diskurs und unternehmerischer Praxis – weibliche Angestellte im Warenhaus Die Geschichte der weiblichen Angestellten im Kaiserreich ist eine Erfolgsgeschichte, aber auch die Geschichte einer fortgesetzten Festschreibung geschlechtsbezogener Ungleichheiten durch segmentierte Arbeitsmuster. Der kontinuierlichen Bewegung zu einer wirtschaftlichen Unabhngigkeit weiblicher Arbeitskrfte standen ihre Funktionalisierung durch die Arbeitgeber und Tendenzen zur Dequalifikation des weiblichen Arbeitsmarktes entgegen. Diese Tatsachen sind seit langer Zeit fr den Angestelltenarbeitsmarkt des Kaiserreiches herausgestellt worden126 und werden in der Tendenz durch Mikrostudien zur Konstituierung der speziell „weiblichen“ Stellen besttigt.127 Die Entwicklung eines gerade nicht integrierten, sondern parallel aufgestellten weiblichen Arbeitsmarktes stellt ein beherrschendes, wenn nicht das beherrschende Element der sozioprofessionellen Entwicklung in der urbanen Lebenswelt des Kaiserreiches dar. Die Zahlen weiblicher Angestellter im Einzelhandel zwischen dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und dem Krieg sprechen eine deutliche Sprache. Gerade im Bereich der Verkaufsangestellten ergab sich zwischen 1895 und 1907 eine Steigerung von 91 764 auf 173 611, also um 112 Prozent in zwçlf Jahren. 1907 stellten die Frauen etwa ein Drittel der Angestellten im Handelsgewerbe und lagen somit weit oberhalb des durchschnittlichen Wachstums der Angestelltenschaft anderer Branchen.128 Doch ohne die Unterscheidung zweier getrennter Arbeitsmrkte und ihrer jeweiligen Konstruktion und Funktionalisierung durch die Unternehmer, aber auch durch Gewerkschaften und eine kritische ffentlichkeit ist die Situation der Angestellten in den Warenhusern nur unzureichend zu verstehen. Das gilt umso mehr, als in Deutschland die weibliche Arbeit in diesen Husern im Gegensatz zu Frankreich eine ungleich bedeutendere Rolle gespielt hat. Je grçßer die Unternehmen, desto grçßer war auch der Anteil weiblicher Angestellter. Das hatte seinen Grund in der Grçße der Abteilungen und in der dadurch bedingten Arbeitsteilung. Die Frage nach den Formen weiblicher Arbeit ist zunchst die Frage nach den Arbeitskonditionen. Die Zahl weiblicher Angestellter im Warenhaus war 125 126 127 128

Lederer, Angestelltenschaft, S. 54. Frevert, Frsorgliche Belagerung; Kaplan, S. 157; Nienhaus. Gardey, Dactylographe; Frevert, Vom Klavier ; Nienhaus, S. 310. Soweit die Zahlen der Deutschen Gewerbezhlungen, nach Nienhaus, S. 312.

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außerordentlich groß.129 Kthe Lux beziffert ihren Anteil auf zwei Drittel der Belegschaft. Die Unternehmensleiter rhmten sich hufig, diese Frauen relativ gut zu bezahlen und ihnen dazu besonders gute Aufstiegschancen zu bieten. Nach den Angaben der Huser wurden ihnen im Schnitt 80 Prozent der Gehlter ihrer mnnlichen Kollegen bezahlt, eine Entlohnung, die damit im Verhltnis leicht ber der Entlohnung in Frankreich gelegen htte.130 Eine geringe Zahl dieser weiblichen Angestellten war tatschlich in der Lage, eine Karriere bis hinauf zur Leiterin einer Verkaufsabteilung zu machen. Allerdings scheint das Gehalt dieser Angestellten in jedem Fall auf 200 Mark monatlich begrenzt worden zu sein.131 Im Gegensatz zu den Mnnern, deren Bezahlung auf diesen Posten nach oben offen war und die zeitweise in den Genuss von jhrlich bis zu 10 000 Mark kamen, war damit die Bezahlung weiblicher Angestellter relativ bescheiden. Fr die durchschnittliche Verkuferin schien sich eine konstante Bezahlung von etwa 1000 Mark jhrlich in den Warenhusern abzuzeichnen.132 So stellte sich eine relative Stabilisierung der weiblichen Arbeitsstrukturen auf niedrigem Niveau noch vor dem Ersten Weltkrieg ein. Die Frage bleibt aber, ob die Anstellung als „normale“ Verkuferin im Warenhaus die Regel war. Auch hier geben die Zahlen von Kthe Lux einen entscheidenden Aufschluss: In ihrer empirischen Untersuchung zu den weiblichen Angestellten in den Warenhusern stellte sie heraus, dass ein Großteil der Verkuferinnen weniger als 75 Mark monatlich bekam. Hochgerechnet auf das ganze Jahr bedeutete das einen Lohn unter 850 Mark. Ihr Anteil lag bei weit ber zwei Dritteln. 13,2 Prozent der weiblichen Angestellten waren wiederum fr unter 30 Mark monatlich angestellt, also fr jhrlich weniger als 360 Mark. 25,5 Prozent arbeiteten fr einen monatlichen Lohn zwischen 30 und 50 Mark und weitere 31,3 Prozent fr 51 bis 75 Mark.133 Diese Tatsachen lassen in Kombination mit den andernorts zu findenden „Normalangaben“ nur einen Schluss zu: Die regulre Anstellung als Verkuferin und auch die damit einhergehende regulre Bezahlung blieb den meisten Frauen verwehrt. Sie waren wesentlich seltener, als die zeitgençssischen Beobachter dies annahmen. Die angegebenen Durchschnittsgehlter wurden nur von einem verschwindend geringen Teil der weiblichen Belegschaft erreicht. Der grçßte Teil dagegen befand sich in prekren Anstellungsverhltnissen und hatte dementsprechend keine regulren Arbeitsvertrge. Das galt fr die große 129 Steindamm, S. 26. 130 Der Kaufmnnische Verein weiblicher Angestellter gab in seinem Jahresbericht fr 1912 die Lohndiskrepanzen fr seine Mitglieder im Gegensatz zu den Mitgliedern des DNHV und des VDH heraus. Danach ergeben sich fr das Alter bis 18 Jahre 24,3 Prozent, von 18 – 20 21,7 Prozent und fr das Alter ber zwanzig Jahren 24 Prozent Differenz zum Gehalt der Mnner. Verwaltungsbericht des Kaufmnnischen Vereins weiblicher Angestellter, 23/1912, S. 19 ff. 131 Wussow, S. 80. 132 Pierenkemper, Arbeitsmarkt, S. 77. 133 Lux, S. 209.

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Grafik 16: Prozentuale Verteilung der weiblichen und mnnlichen Warenhausangestellten auf Lohnkategorien, um 1910.

Menge von Aushilfen, die nur fr einen kurzen Zeitraum angestellt waren und nach Weihnachten oder nach Kampagnen, wie den „Weißen Wochen“, wieder aus ihren Anstellungsverhltnissen entlassen wurden. Dazu kamen die vielen Lehrmdchen, die zwar kaum eine regelgerechte Ausbildung erhielten, wegen ihres Alters (zwischen 14 und 18 Jahren) aber eine geringere Bezahlung zu akzeptieren hatten. Die nicht geregelten Anstellungsformen gingen einher mit teilweise nicht fest umrissenen Arbeitsprofilen. So waren viele weibliche Arbeitskrfte auch mit dem Zuarbeiten zum eigentlichen Verkaufsvorgang beschftigt, wie etwa dem Transport der bereits verkauften Waren. Die Tatsache, dass es gut oder sehr gut bezahlte Posten fr weibliche Angestellte in den Warenhusern gab, hatte weniger einen direkten quantitativen Effekt als eine disziplinierende Wirkung. Schließlich hatten viele der weiblichen Angestellten den Wunsch, eine berufliche Besserstellung zu erreichen und eine gewisse Karriere zu machen. Das Warenhaus bot diesen gering bezahlten Angestellten, die im Regelfall jung waren und sptestens mit dreißig Jahren nicht mehr im Hause ttig sein sollten, eine Art Wunschvorstellung vom Aufstieg in eine brgerliche Existenz, die allerdings keinesfalls mit der Realitt ihrer prekren Arbeitssituation bereinstimmte. Der einzig mçgliche Weg, die hçheren Stufen in den Warenhusern zu erreichen, schienen schließlich schlechte Bezahlung und disziplinierte Arbeit zu sein. Daneben sei aber auch darauf hingewiesen, dass aus den Zahlenangaben hervorgeht, dass einzelne Huser fast vollstndig auf dieses Niedriglohnsegment verzichteten und nahezu alle Angestellten in festen Lohnkategorien bezahlten.134 Siehe hierzu Grafik 16.135 134 Lux, S. 204 f. 135 Lux, S. 205.

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Was die brgerliche, urbane Gesellschaft des Kaiserreiches als Problem wahrnahm – die werkttige Frau136 –, war fr die Warenhuser aus genau diesem Grund von großem Nutzen. Die Tatsache, dass weibliche Arbeit als Problem definiert war, machte ihre funktionale Logik in einem çffentlich sichtbaren Unternehmen aus. Weibliche Angestellte wurden zumindest in den zentralisierten Warenhusern isoliert und marginalisiert. Gerade durch diese mangelnde Verhandlungskraft waren sie fr die Unternehmer von besonderem Interesse. Doch gerade dieser Charakter als „Opfer“ der Unternehmensorganisation rief drei andere, wichtige Akteure auf den Plan, die sich zeitweise die Probleme der weiblichen Angestellten zu eigen machten:137 Zum Ersten erregte dieses Thema eine kritische brgerliche ffentlichkeit. Zum Zweiten beschftigten sich auch die Vertreter der Arbeitnehmer – die frhen gewerkschaftlichen Gruppen – mit der Situation der weiblichen Angestellten im Warenhaus. Und zum Dritten forderten sie den Staat heraus, der sich bislang aus vielen Fragen der Arbeitsbeziehungen herausgehalten hatte. Diese drei Hauptstrnge der çffentlichen Debatten sollen hier kurz vorgestellt werden. 1. Die Kampagnen, die von der sogenannten Mittelstandsbewegung initiiert wurden, fielen in gewissen Milieus der wilhelminischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden.138 Die Tatsache, dass die Argumente dieser Bewegung fast immer mit einem diffusen Antisemitismus einhergingen, machte sie interessant fr weite Teile eines konservativen und reaktionren Publikums.139 Der ohnehin moralisierende Impetus dieser Bewegung suchte umso lieber Argumente in Bereichen, die dazu geeignet waren, brgerliche Moralvorstellungen zu skandalisieren. Argumente hierzu wurden nur zu gerne aus dem Katalog des Hygienediskurses entlehnt.140 Die Krankheiten und die Gefahren fr die weiblichen Angestellten standen dabei als erstes im Mittelpunkt des Interesses.141 Wie selbstverstndlich entwickelte sich hieraus der Vorwurf, die Mdchen seien moralisch gefhrdet, der meist in einem generellen Prostitutionsverdacht gipfelte, ein Stereotyp, das direkt aus dem franzçsischen Motivkatalog bernommen wurde.142 Ein weiteres Motiv moralischer Gefhrdung der jungen Angestellten in den Warenhusern wurde gerne und immer wieder aufgegriffen: die Gefhrdung durch Kleptomanie. Diese Krankheit, die in der Zeit der Jahrhundertwende zu einer Art brgerlicher Psychose heranwuchs,143

136 Nienhaus, S. 312 ff. 137 Beau/Hartmann. 138 Spiekermann, Warenhaussteuer. Briesen spricht von einer dauerhaften Allianz von Nationalkonservativismus und Warenhausgegnern, Briesen, S. 157 ff. 139 Biermer, S. 15. Als Beispiel Dehn, S. 68. 140 Frevert, Frsorgliche Belagerung; Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 161. 141 Dehn, S. 48 ff.; als Gegenposition: Laquer, S. 27 ff.; Hirsch, Warenhaus, S. 65. 142 Zola, Au bonheur ; Scott, S. 122 ff.; Timoschenko, S. 61. 143 O’Brien.

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wurde vom Bild der neuen Konsumtempel deutlich bedient.144 Natrlich blieben Diebsthle in den neuen Husern nicht aus. Bei der Neugrndung rechneten die meisten Geschfte eine Diebstahlquote bereits in die Umsatzprognosen mit ein.145 Fr reaktionre Zeitgenossen bildete dieses Phnomen allerdings das Krisensymptom einer verfhrten brgerlichen Gesellschaft, hufig eng korreliert mit dem populren und stark geschlechtlich zugeschriebenen Hysterietopos. Und die konservative ffentlichkeit war gewillt, diese Kompromittierung gerade bei den jungen weiblichen Angestellten in besonderem Maße zu bekmpfen.146 Solche weitverbreiteten moralischen Vorhaltungen erlaubten es den Unternehmern, ihre Kontrolle ber das Personal noch rigider zu gestalten, als das ohnehin schon vorgesehen war. So wurden bei Althoff wie auch anderswo in der Dienstordnung besondere Prmien fr die Aufklrung von Diebsthlen durch das eigene Personal ausgesetzt. Die omniprsente Kontrolle wurde hiermit von einem hierarchischen Element zu einem durchgngig vorhandenen Element der horizontalen Arbeitsbeziehungen oder wie Lux formulierte: „Dieses System bewirkt in Verbindung mit dem Misstrauen der Geschftsleitung gegen ihre Angestellten, die Diebsthle oder Veruntreuungen begehen kçnnten, eine Verdunkelung der durch angemessene und pnktliche Bezahlung und durch geregelte und verhltnismßig kurze Arbeitsdauer charakterisierten gnstigen Arbeitsverhltnisse.“147

2. Die Ziele der frhen gewerkschaftlichen Bewegungen unterschieden sich im Prinzip deutlich von denen der Mittelstandsbewegung mit ihrem modernisierungsfeindlichen Impetus. Doch die Argumentation und die Art der kollektiven Forderungen lassen erkennen, wie solche sozialmoralischen Argumente von den Akteuren verinnerlicht worden waren und als Diskussionsbasis dienten. Viele Vereine nderten ihre Strategie und ihre Ansicht zu den weiblichen Angestellten ber die Zeit. Die anfngliche Zurckhaltung gegenber den neuen Arbeiterinnen auf dem stdtischen Arbeitsmarkt war ihnen zunchst allen gemein. Doch Verbnde wie der Verein deutscher Handlungsgehilfen oder der Verein deutscher Kaufleute wurden sich des Problems bewusst, dass nur eine gemeinsame Organisation aller Arbeitnehmer und die damit verbundene Integration weiblicher Arbeitnehmer in ihre Reihen zu einer wirksamen Koordination der Interessen fhren konnte. Folgerichtig versuchten sie sich verstrkt einer Mitgliedschaft der Frauen zu çffnen, die aber 144 Heckerl, S. 10 f.; dazu auch: Abelson; Briesen. 145 Bei Theodor Althoff betrug diese Quote 2 Prozent. Brief von Althoff an Bernhard Schliecker vom 13. 1. 1906, Quellenkorpus Althoff, Karstadtarchiv. 146 Colze, S. 75; Laquer ; Leppmann, S. 5 – 6 und S. 31 – 33. Immer wieder werden diese Kleptomanieuntersuchungen begleitet von dem beliebten Hysterietopos oder sexuellen Motiven. 147 Lux, S. 35 f.; vgl. auch Ausfhrungsbestimmungen zur Geschftsordnung des Hauses von Theodor Althoff in Leipzig 1914, § 16, Karstadtarchiv; Wagner (1911), S. 32.

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zunchst nur in ußerst begrenztem Maße angenommen wurde.148 Doch blieb auch bei diesen Maßnahmen der Vereine eine gewisse Ablehnung der weiblichen Angestellten bestehen. Das Beispiel des Vereins deutscher Kaufleute zeigt, dass in diesem Verband von Anfang an immer kontrovers ber die Mitgliedschaft von Frauen diskutiert wurde. Nachdem zunchst die Grndung unabhngiger Vereine fr die Frauen favorisiert worden war, entschloss man sich 1906 doch zur ffnung der Organisation gegenber weiblichen Mitgliedern. In der Diskussion schien es allerdings nicht mçglich zu sein, sich auf eine Beteiligung an der internen Sozialversicherung zu einigen. Trotz theoretischer Gleichberechtigung blieben die Frauen damit Mitglieder zweiter Klasse.149 Andere Vereinigungen bekannten sich dagegen direkt zur Segmentierung oder versuchten zeitweise sogar, die Frauenarbeit in den Warenhusern zu bekmpfen. Das war in erster Linie beim Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes (DNHV) der Fall, der bis zum Krieg immer wieder die Konfrontation mit weiblichen Verbnden suchte und darum bemht war, die Unsinnigkeit weiblicher Arbeit im Handel zu belegen. Als wesentliches Argumentationsmodell sttzte er sich dabei auf den gesamten Katalog sozialmoralischer Argumente von Teilen der brgerlichen ffentlichkeit. Wichtiger Ausgangspunkt war fr den Verein unter anderem die antisemitische Stoßrichtung dieser Diskurse. So vergaß man bei den Eingaben an die Ministerien niemals auf die Konfession der Unternehmer zu verweisen und befragte auch alle Mitglieder systematisch nach der Glaubensrichtung ihrer Arbeitgeber.150 Der Verband schrieb sogar viele dieser Elemente noch in Richtung einer hygienisch-biologistischen Argumentation fort. So wurde die „Massenzchtung weiblicher Arbeitskrfte“ zum beliebten Argument gegen die Unternehmer.151 Frauen wrden bei diesen Arbeitsverhltnissen hufig krank. „Schon nach kurzer Ttigkeit stellen sich die Folgeerscheinungen, die von rztlichen Autoritten zum Teil als Berufskrankheiten gekennzeichnet werden, wie Bleichsucht, Blutarmut, hartnckige Magenleiden, Nervositt usw. ein.“ Die Arbeiterinnen seien durch die harte Arbeit so berfordert, dass „der Schdigung weiblicher Gesundheit durch unseren Beruf erst dann wirksam vorgebeugt wird, wenn die Beschftigung weiblicher Angestellter im Handel acht Stunden tglich und bei kurzer Mittagspause sieben Stunden nicht berschreitet.“152 Eine solche Begrenzung der Arbeitszeit in einer Zeit, in der 148 Fr die „Freie Vereinigung der Kaufleute von Berlin“ liegt der Anteil von Frauen bei maximal 20 Prozent. Protokolle der Polizeidirektion aus den Jahren 1896, LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15265. 149 Borchhardt, S. 69. 150 Brief an den Handelsminister vom 22. 10. 1902; GStA I Rep 120 BB IX Nr. 4 Bd. 4. 151 Brief des Verbandsfunktionrs Johann Caspar an den Handelsminister vom Juli 1903; GStA I Rep 120 BB IX Nr. 4 Bd. 4. 152 Studie zur Arbeitszeit der weiblichen Angestellten vom 13. 12. 1907; GStA I Rep 120 BB IX Nr. 4 Bd. 4.

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mnnliche Arbeit im Handelsgewerbe nicht reglementiert war, wre einer Eliminierung der weiblichen Angestellten gleichgekommen. Der DNHV ging in seinen Argumenten noch ein Stck weiter : Die Frauenarbeit im Handelsgewerbe unterminiere dauerhaft alle moralischen Vorstellungen. Sie triebe Mnner, die wegen der geringen Bezahlung keine ehelichen Bindungen mehr eingehen kçnnten, massenhaft in zwielichtige Beziehungen, befçrdere so Phnomene wie Geschlechtskrankheiten und zerstçre die traditionelle Familie.153 Solche Argumente wurden von den weiblichen Angestellten, vor allem aber von ihren Verbnden, in erstaunlichem Maße verinnerlicht. Der Kaufmnnische Verband fr weibliche Angestellte war vor dem Krieg zur grçßten Interessenvertretung weiblicher Angestellter geworden. Dieser Verein, dessen gesamte Ambiguitt eigentlich schon in seinem Namen zum Ausdruck kam, nahm immer wieder Elemente dieses brgerlichen Diskurses auf. So publizierte er in seiner internen Schriftenreihe das Referat eines Verbandsfunktionrs, der sich aktiv fr die Verbesserung der Situation der Frauen einsetzte. Darin klrte er die weiblichen Mitglieder ber den negativen Charakter weiblicher Arbeit auf: „Soweit wir auch die Geschichte, und wir drfen sagen, die Leidensgeschichte der Frau rckwrtsschauend berblicken, stets war die Not die Ursache, wenn die durch ihre geschichtliche Gebundenheit an das Haus und an ihre Kinder gefesselte Frau in den Erwerbskampf mit eintrat.“

Und weiter war er sich sicher, dass die Frauen moralisch besonders gefhrdet waren: „Die schlechte Entlohnung der weiblichen Angestellten, die Notwendigkeit hoher Ausgaben fr Kleidung und Toilette, dazu der Hunger nach Liebe treibt viele Gehilfinnen in die Arme eines Liebhabers und damit oft in die Prostitution.“154

Nur selten und spt wurde dieser Darstellung widersprochen.155 ber lange Zeit wurden die Argumente der Gegner der Frauenarbeit weitgehend akzeptiert. Die weiblichen Angestellten bernahmen die Argumentationsmuster, was dazu fhrte, dass ihre Verhandlungsposition im unternehmerischen Feld von allen Seiten kompromittiert war. Die Interessenvertretungen der weiblichen Angestellten, die im brigen auf der Fhrungsebene zu einem guten Teil von Mnnern geleitet wurden, richteten sich nicht darauf, die materiellen Grundlagen zu verbessern, sondern zu versuchen, ihre Mitglieder moralisch zu erziehen und damit nachhaltig zu verbrgerlichen. Ein hçheres Bildungsniveau durch systematische Fortbildung gehçrte zu den klassischen 153 Bericht des Verbandes vom 13. 12. 1907; GStA I Rep BB IX 1 Nr. 4 Bd. 4. 154 Schneider, S. 3 und S. 11 f. 155 Gadesmann, S. 13.

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Forderungen der Verbnde seit ihrer Entstehung.156 Doch diese Forderungen waren nicht gegen die Unternehmer gerichtet. Das zeigte sich weitgehend auch in den Aktionen der weiblichen Vereine, die sich den paternalistisch kommunizierten Diskursen der Warenhausunternehmer anglichen. So waren es in erster Linie die weiblichen Angestelltenvereine, die sich von den Unternehmern fr die Demonstrationen gegen die Warenhaussteuer im Jahr 1900 mobilisieren ließen.157 Das Bild des frsorglichen Vaters, der sich um die moralische Erziehung seiner Schtzlinge kmmerte, konnte auf diese Weise umso besser kommuniziert werden. So setzten sich einige der Unternehmer aktiv fr Bildungsvereine und Fortbildungen des weiblichen Personals ein, eine Aktion, die ohne große Kostenintensitt eine beachtliche Wirkung erzielen konnte.158 Weibliche Angestellte lagen damit nicht nur durch ihre relativ geringen Kosten, sondern auch durch ihr kaum ausgeprgtes Protestverhalten weitgehend auf der Linie der Warenhausunternehmer.159 3. Angesichts dieser widersprchlichen Interessen, die sich hinter einem relativ eindeutigen Diskurs versteckten, lavierten auch die staatlichen Interventionen zwischen verschiedenen Positionen hin und her. Die Diskussion um die Warenhuser war bedeutend, ihr soziales Gewicht aufgrund der hohen Belegschaftszahlen durchaus betrchtlich. Immer wieder griffen Politiker die Situation in den Warenhusern auf.160 Doch war die Stoßrichtung der çffentlichen Meinung ber die Warenhuser alles andere als eindeutig. Und auch die beschriebene mchtige Mittelstandsbewegung war nur eine Ausprgung dieser çffentlichen Meinung. Sie rief eine ebenfalls sehr große Sympathiebekundung von fortschrittlichen Beobachtern hervor, die das Warenhaus auch wegen seiner Arbeitskonditionen als positive Neuerung bewerteten.161 Fr und Wider der neuen Institutionen lagen fr die politischen Akteure nicht klar auf der Hand. Die Trennlinien der Parteien gingen quer durch das liberale Lager.162 So kam es zu der halbherzigen Warenhaussteuer als Zugestndnis an die Gegner und als Ergebnis der immer noch mangelhaften Koordination aufseiten der Befrworter und Unternehmer. Eine Verschrfung dieser Steuer, die von den Gegnern in erster Linie mit Verweis auf die schlechte Arbeitssituation der Angestellten verlangt wurde, hatte allerdings keine Perspektive. Auch eine direkte Gesetzgebung zur Verbesserung der Arbeitssituation der Frauen in den Husern entwickelte sich nur verhalten. Sie kam ber ein Gesetz 156 So z. B. Silbermann. 157 Berliner Neueste Nachrichten, 10. 3. 1900 und 17.3.1900. Nach dem Bericht der Zeitung sind 3000 bis 4000 hauptschlich weibliche Angestellte diesem Aufruf gefolgt. Die Gegendemonstration vom 16.3. wurde dagegen nur von 2000 mnnlichen Angestellten besucht. 158 So die Grndung der ersten Schule fr Verkuferinnen durch Oskar Tietz von 1906, LA Berlin 90/0017. 159 Nienhaus, S. 324. 160 Naumann; Stresemann. 161 Wernicke, Bedeutung, S. 4. 162 Spiekermann, Warenhaussteuer.

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zur Einrichtung von Sitzgelegenheiten im Einzelhandel nach franzçsischem Vorbild kaum hinaus.163 Im Prinzip blieb diese Arbeit im Untersuchungszeitraum unreglementiert, obgleich die Diskussion ber die Arbeitskonditionen im politischen Diskurs durchaus prsent war. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Arbeit in den Warenhusern hart war und die Frauen – der mit Abstand grçßte Teil der Angestellten – hierunter zu leiden hatten.164 Alle vorstehenden Ausfhrungen sollen diese Tatsache nicht in Abrede stellen. Doch die Konstruktion der weiblichen Arbeit als von der Norm abweichend berformte die Reflexion ber die weibliche Arbeit und konstruierte sie als Problem.165 Dadurch wurde diese unweigerlich zum Gegenstand verschiedener Interessen und von unterschiedlichen Akteursgruppen in ihrem Sinne funktionalisiert, mit dem Ergebnis, dass die Verhandlungspositionen der Interessenorganisationen der Frauen nicht gestrkt, sondern durch die implizite Ausgrenzung aus bestehenden Arbeitsverhltnissen geschwcht wurden. So war der Einfluss der Frauen auf die Organisation der Warenhuser meist indirekt und wurde in hohem Maße durch die Interessen Dritter kompromittiert. 2.3. Instrumente der Organisation Visionen des planerischen Handelns und deren Wirkung Die Konzeption des Warenhauses war von Beginn an in hçchstem Maße disparat. Die Notwendigkeit der Zusammenlegung verschiedener Produktbereiche fhrte zwangslufig und gerade in der Frhphase der Entwicklung dazu, dass das Unternehmen kaum einheitlich definiert werden konnte.166 Nicht nur die Qualifikationsstufen der Belegschaft waren sehr heterogen, sie ließen sich auch kaum qualitativ formalisieren. Doch auch die Durchsetzung eines einheitlichen Planes wurde durch die Komplexitt der Geschftsablufe erheblich erschwert. Die Anfangsschwierigkeiten vieler Huser zeugten davon, wie problematisch es war, solche definierten Konzeptionen zu erarbeiten. Ein großer Teil der frhen Berliner Huser zeichnete sich durch eine fast vollstndig fehlende Organisationsvision aus.167 Und die Versuche, eine Organisation nachtrglich in den Husern zu etablieren, stellten sich meist als langwierig und vor allen Dingen kostspielig heraus: „Es gibt keine andere Geschftsform, die in der ersten Zeit soviel Geld fr Organisationsfehler verschlingt, wie das Warenhaus. Schon hierfr muß als ,fonds perdu‘ je 163 164 165 166 167

Timoschenko, S. 58. Deutelmoser. Sarasin/Tanner, S. 16. Biermer, S. 137. So das Warenhaus Lubasch, das noch nicht einmal eine Gliederung in Abteilungen eingefhrt hatte; Colze, S. 57.

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nach dem Umfang des Geschftes eine mehr oder minder betrchtliche Summe bereit gestellt werden. Mag der Grnder des Warenhauses ein noch so erfahrener Fachmann sein, er verfgt doch immer nur ber eine beschrnkte Summe von Erfahrungen; er muß in dieser schwierigen Rechnung Fehler begehen, die ihn viel Geld kosten.“168

Vor diesem Hintergrund und in Analogie zu den Husern in Frankreich bildeten sich in den deutschen Warenhusern die Abteilungen als relativ autonome und gleichzeitig bersichtliche Organisationseinheiten heraus.169 Hufig waren diese Abteilungen sogar bewusst so geordnet, dass sie selbststndig agieren sollten und zunchst auf Gewinn oder Verlust geprft wurden.170 So spricht Gçhre in Bezug auf Wertheim von „etwa 80 solcher in sich geschlossener, selbststndiger Kçrperschaften […], die gleichsam das Hauptrderwerk in dem Riesenmechanismus dieses Hauses bilden.“ Doch da eine Vielzahl der Funktionen der Huser ber diese eigentliche Verkaufslinie hinausging, gab es auch vielfach Organisationszusammenhnge, die nicht geregelt waren, wie etwa die Zusammenarbeit zwischen Einkauf und Verkauf oder die immer wichtiger werdende Reklame, ein Bereich, der in Deutschland erheblich grçßere Bedeutung hatte als in Frankreich. Eine solche fehlende Przisierung der Hierarchien und der Instanzen einer Organisation fçrderte gleichzeitig auch undeutliche Stellenzuschreibungen. Diese fhrten einerseits auf der unteren Hierarchieebene zu der bereits beschriebenen großen Anzahl von ungelernten Arbeitern, drckten sich andererseits aber auch auf der mittleren Ebene aus: Paul Gçhre berichtet etwa von der Existenz des Postens eines Betriebsdiplomaten, der dafr zustndig gewesen sei, zwischen den einzelnen Abteilungen im Haus zu vermitteln.171 Das Warenhaus als gigantische Maschinerie war auch in Deutschland ein hufig gewhltes Bild der Zeitgenossen, das sich umso mehr einprgte, als die Huser in der Realitt weit entfernt waren von den Funktionen einer Maschine. Eine Produktion, zumal im mechanisierten Sinne, fand nicht statt. Doch gerade deswegen durften die großen maschinellen Bereiche mit ihren gigantischen Heizungs-, Licht- und Elektrizittsanlagen in keiner Beschreibung fehlen.172 Die einzelnen Abteilungen und damit auch die Arbeitskrfte in diesen Abteilungen hatten sich nach diesem mechanistischen Bild auszurichten. Es ging darum, dass die Handlungen aller wie Zahnrder ineinandergriffen.173 Die Organisation des Unternehmens war in diesem Bild in erster Linie die Organisation eines Warenflusses.174 Viele Beschreibungen des Warenhauses, ob nun fr ein internes oder ein externes Publikum bestimmt, 168 169 170 171 172 173 174

Aufklrungsschrift. Gçhre, S. 84 f. Lux, S. 161. Gçhre, S. 71. So etwa bei Colze, S. 51 ff. Gçhre, S. 84. Wagner, S. 23 ff.

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spielten mit militrischen Motiven, und gerade in der Kombination von wirtschaftlichen Interessen und einer autoritren Form der Organisation erlangte das Warenhaus in den Augen vieler Zeitgenossen seine Vorbildfunktion: „[Die Organisation ist] sichtlich nicht nur kaufmnnisch, sondern zugleich auch militrisch und bureaukratisch bestimmt und gefgt und mit einer durchaus absolutistischen Spitze versehen. Und mag man nun auch ber ihre Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung so verschieden denken, wie man will, das eine steht wohl fest: sie ist so, wie sie geworden ist, ein hnliches Kunstwerk, wie das Haus selber, in dem sie lebensvoll und imponierend funktioniert.“175

Andernorts wurde dieses Bild des Unternehmens, das wie eine Maschine dem Willen eines Einzelnen gehorcht und dessen Mitglieder sich diesem Willen unterzuordnen haben, von der Leitung des Unternehmens dargestellt: „An Stelle der patriarchalischen Beziehungen tritt die musterhafte Organisation, die mit eiserner Klammer das Ganze zusammenhlt, die glnzende technische, kaufmnnische und gesellschaftliche Ausbildung jedes einzelnen Beamten des Hauses, die der Chef anordnet und kontrolliert.“176

Diese befremdlich anmutende Symbiose von autoritrer Organisation und mechanischen Ablufen entwickelte eine starke Anziehungskraft auf die Zeitgenossen, die in der Organisation des Warenhauses hufig genug das Vorbild fr eine moderne, kapitalistische Unternehmensform sahen.177 Der Topos des Warenhauses als „modernes“ Unternehmen lsst sich in den Unternehmensbeschreibungen noch weit in die Zeit nach den Kriegen verfolgen.178

Netzwerke als Grundlage der Kapitalisierung – Verwaltung und Aufsicht der Warenhuser Die Entwicklung der Huser, von den kleinen Anfngen in der Provinz ber den Billighandel hin zu grçßeren Strukturen entweder im Filialgeschft oder als zentrale Huser in Berlin, war der Grund fr die zunchst berwiegende Geschlossenheit der Unternehmen in ihren Kapitalarchitekturen. Die Strategie der meisten Unternehmer war auf eine Eigenfinanzierung ausgerichtet, ein Prinzip, an dem viele auch in der Expansionsphase zunchst festhielten. Der Schritt hin zu einer Beteiligung des Finanzmarktes oder institutioneller Anleger ließ bei Warenhausunternehmen lngere Zeit auf sich warten. Doch der 175 176 177 178

Gçhre, S. 87. Jahresalbum der Firma N. Israel, gegrndet 1815 fr das Jahr 1902. Aus den Waarenhusern, S. 7. Pasdermadjian, S. 12.

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Grund hierfr war vermutlich nicht nur, dass die Unternehmer einer Beteiligung feindlich gegenberstanden, sondern auch eine relative Zurckhaltung der Banken. Krçner beschreibt die Strategie der Geldgeber zur Unternehmensfinanzierung wie folgt: „Erst als die Warenhuser sich eine gesicherte Existenz gegrndet und eine betrchtliche Ausdehnung erlangt hatten, ist ihnen jedenfalls spekulatives Bankkapital zugeflossen, oder haben sie sich zur Vergrçsserung ihres Anlage- und Betriebskapitals, […] in Aktiengesellschaften umgewandelt.“179

Diese Situation nderte sich um die Jahrhundertwende mit der Vergrçßerung der Projekte der Warenhausunternehmen.180 Das riesige Warenhaus von Georg Wertheim am Leipziger Platz beispielsweise machte eine Beteiligung großer Banken notwendig; diese kam durch die Hamburger Hypothekenbank und die Discontogesellschaft zustande.181 Das Unternehmen wendete dadurch die Gefahr einer drohenden Unterfinanzierung ab, die durch die weitgehend geschlossenen familiren Strukturen zustande gekommen war, in denen das Betriebskapital und damit auch potenzielles Investitionskapital auf die vier Brder verteilt war.182 Am sichtbarsten wurde die Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Banken bei der Grndung des KaDeWe. Die Finanzierung dieses neuen Projektes war weitgehend von Krediten eines Konsortiums abhngig, in dem einerseits die Deutsche Bank, andererseits der ehemalige Arbeitgeber Adolf Jandorfs, das Haus Emden und Sçhne in Hamburg, das grçßte Mitspracherecht hatten.183 Zeichen fr die privilegierten Geschftsbeziehungen zwischen Deutscher Bank und KaDeWe war die Tatsache, dass die Bank auch zum Mieter des Hauses wurde und im KaDeWe eine eigene Filiale errichtete. Gleichzeitig kann diese Konstellation auch als erstes Beispiel fr die offene Einmischung der Banken in die Geschftsinteressen gelten, hatte die Deutsche Bank doch Mitspracherecht in den Aufsichtsgremien des Unternehmens.184 Anfang des 20. Jahrhunderts interpretierte Biermer in seiner kapitalismuskritischen Schrift zu den Warenhusern deren Rolle etwa wie folgt: „Die Industrie- und Bankwelt nahm also die ihr notwendig erscheinende Reform in der Organisation des Detailhandels selbst in die Hand und fand in den Warenhausbesitzern willkommene Vollstrecker ihrer Absichten.“185 Ob allerdings die Warenhuser im Allgemeinen hierdurch in den Einfluss der Banken geraten sind oder sich gar ihre Geschftsstrategie htten vorschreiben lassen, ist ußerst fraglich. Vielmehr behielten die Unternehmer weitestgehend die 179 180 181 182 183 184 185

Kçrner, S. 37 f. Colze, S. 7; Lux, S. 187; Steindamm, S. 8. Biermer, S. 128; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 14311. Hirsch, Warenhaus, S. 82. LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 10937. LBI MM 41, Colze (1908), S. 19. Biermer, S. 132.

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Kontrolle ber die Geschicke ihrer Unternehmen und verteidigten diese auch aktiv. So blieb die ganz berwiegende Zahl der Unternehmen rechtlich als offene Handelsgesellschaften organisiert,186 in denen außer den Unternehmern bestenfalls einige Familienmitglieder Mitspracherecht besaßen. Aus diesem Grund war es sogar den Banken „unmçglich, ber viele interessante Einzelheiten des inneren Warenhausbetriebes, wie Rentabilitt, Einkaufspreise der Waren, Aufschlag auf die Entstehungspreise, Generalunkosten usw., ausreichende Aufklrung zu erhalten.“187 Mit dieser zurckhaltenden Informationsstrategie verhielten sich die Warenhuser hnlich wie ohnehin weite Teile der deutschen Wirtschaftsunternehmen.188 In diesem Fall mag das auch daran gelegen haben, dass ihr Kapitalbedarf im Verhltnis zu ihren Umsatzzahlen lange Zeit verhltnismßig gering war.189 Doch erklrte sich eine relativ geringe Beteiligung der Banken auch durch den latent schwachen Finanzmarkt des Deutschen Kaiserreiches. Nahezu alle Unternehmen hatten zu einem Zeitpunkt ihrer Wachstumsgeschichte mit mehr oder minder schwerwiegenden Finanzproblemen zu kmpfen, die oft genug ihre Existenz infrage stellten. So scheiterte die Firma Hermann Tietz nicht nur beinahe mit ihrem Neubau in Berlin; die Pleite des Finanzpartners, der Pommerschen Hypothekenbank, bedrohte die Existenz des gesamten Unternehmens.190 Auch das oben beschriebene KaDeWe war nach seiner Erçffnung nicht weit von einem finanziellen Desaster entfernt. Hier half ein Verwandter aus Paris, der das Unternehmen im letzten Moment rettete.191 Auch die Anzahl von Bankrotten in der Branche war ansehnlich. Doch wie am Beispiel des Unternehmens von Max Mannheim aus Berlin zu sehen war, musste ein solcher Bankrott nicht automatisch die Schließung eines Hauses zur Folge haben. In diesem Fall sah sich vielmehr Oskar Tietz dazu veranlasst, das in die Krise geratene Unternehmen aufzukaufen.192 Mannheim konnte im Weiteren seine Karriere im Haus von Oskar Tietz fortsetzen. Die Option der Kapitalakquisition am offenen Kapitalmarkt wurde von den Unternehmen nur zçgerlich genutzt. Auch hier waren die Risiken groß. Die erste Warenhausgesellschaft, die versuchte sich als Aktiengesellschaft zu etablieren, ging mit dieser Strategie außerordentlich schnell zugrunde. Nach nur 18 Monaten musste der Berliner Kaiserbazar seine Aktivitt 1892 wieder einstellen.193 Bis 1914 konnte nur ein einziges Unternehmen als Aktienge186 187 188 189 190 191 192

Handelsregister fr Berlin, LA Berlin Zs 194 – 1897. Kçrner, S. 53. Wellhçhner, S. 49 f. Kçrner, S. 37. Homburg, Warenhausgrnder, S. 171. Tietz, S. 61 f. LBI MM 41. Verzeichnis der in das Handelsregister des Kçniglichen Amtsgerichts I zu Berlin eingetragenen Einzelfirmen, Gesellschaften und Prokuren. Zusammengestellt aufgrund der amtlichen Register bis Januar 1909, Berlin 1909, S. 1253, LA Berlin Zs 194 – 1897. 193 Spiekermann, Warenhaussteuer, S. 30.

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sellschaft am Kapitalmarkt Fuß fassen: die 1905 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Firma von Leonhard Tietz. Allerdings behielt auch Tietz, Bruder des Berliner Unternehmers Oskar Tietz, einen großen Teil des Kapitals in eigenen Hnden und bemhte sich um eine langsame Wachstumsstrategie, die den Kapitalmarkt nicht berforderte. Das Kapital der Firma teilte sich auf in ein Betriebskapital von etwa 12 Millionen Mark und einen Kapitalstamm von zehn Millionen Mark, von dem Leonhard Tietz zunchst sechs Millionen hielt. Hierdurch sicherte er den eigenen Einfluss auf das Unternehmen nachhaltig.194 Fr die riesigen Investitionsprojekte in Berlin schien eine solche Strategie zunchst nicht geeignet zu sein. Die Aktiengesellschaften, wie sie sich in der Branche in Frankreich, in erster Linie aber in England und den Vereinigten Staaten entwickelten, hatten in Deutschland in dieser Zeit keinen Erfolg.195 Hieraus resultierte eine sehr personalisierte Kapitalakquise, wie sie etwa das Unternehmen von Theodor Althoff in Mnster systematisch verfolgte. Bei jeder Erçffnung eines neuen Verkaufshauses nutzte der Unternehmenschef die Netzwerke der Familie, um ber sie die notwendigen Kapitalmengen fr das neue Projekt zu beschaffen. Mit Briefen folgenden Wortlauts schlug er seine Geschfte diesem potenziellen Interessentenkreis vor: „Streng vertraulich! Mit gegenwrtigem gestatte ich mir, Ihnen nachfolgendes Geschft zu unterbreiten, das wahrscheinlich fr sie von Interesse sein wird.“ Meistens versendete er diese Vorschlge dabei nicht direkt, sondern ber die befreundete Familie Schlieker in Dlmen.196 Hieraus entwickelte sich ein Geflecht finanzieller Beziehungen und Beteiligungen, die Althoff in einer Kommanditgesellschaft zusammenfasste. Der Beirat dieser Kommanditgesellschaft war zwar im Folgenden an den Entscheidungen des Unternehmens beteiligt, allerdings setzte er sich aus fnf Mitgliedern zusammen, die zum persçnlichen Bekanntenkreis von Theodor Althoff zhlten.197 Fr die Leitung der Geschfte blieb damit Althoff selbst fast allein verantwortlich. Eine nennenswerte Beteiligung durch die Deutsche Grundcreditbank ergab sich erst in Vorbereitung der Erçffnung des neuen und grçßten Hauses in Leipzig 1914.198 Der Fall von Althoff ist beispielhaft fr Rechtsform und Verwaltungsstrukturen der Filialunternehmen in Westdeutschland. Die Mçglichkeiten der Kapitalakquisition waren einerseits eingeschrnkt, andererseits hatten die Unternehmer auch ein vitales Interesse daran, den berblick ber ihre Kapitalstrukturen zu behalten und auf diese Weise die Einflussmçglichkeiten auf ihr Unternehmen einzuschrnken.199 194 195 196 197 198

Grndungsvertrge der Leonhard Tietz AG; Kaufhofarchiv. Stresemann, S. 704; Kçrner, S. 37. Schriftwechsel Schlieker-Althoff; Karstadtarchiv. Vertrag der Kommanditgesellschaft vom 17. 6. 1910; Karstadtarchiv. Althoff verhandelte mit der Bank von 1912 an; Brief an Bernhard Schlieker vom 3. 7. 1912; Karstadtarchiv. 199 Lux, S. 187.

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Tendenziell versuchten auch die großen Huser in Berlin, hnliche Strategien anzuwenden, um die bersichtlichkeit ihres Kapitals zu garantieren und selbst die Lenkungskontrolle ber die wachsenden Unternehmen zu behalten. Einige zeitgençssische Beobachter machte eine solche Situation zunehmend skeptisch; sie vermuteten, dass sich das Firmenkapital in der Tendenz konzentrieren wrde und es so immer mehr zu einer Monopolsituation, zumindest aber zu einer starken Interessenkoordination im deutschen Warenhauswesen kommen wrde.200 Das Schreckgespenst eines Monopols im Einzelhandel geisterte durch die çffentliche Debatte, ein Argument, das nicht mehr ausschließlich von der Mittelstandsbewegung kam, sondern das auch von einigen Nationalçkonomen verteidigt wurde.201 So entspann sich in der Folgezeit eine Diskussion ber Lenkung, Kontrolle und Kapitalbeteiligung der Warenhuser. Diese Diskussion wurde mit volkswirtschaftlichen Argumenten verknpft.202 So berlegten einige Beobachter, die Grndung von Aktiengesellschaften in der Branche zu unterbinden, um einem zu starken Wachstum vorzubeugen. Andere gingen bis zur Forderung, die Kontrolle der Huser staatlichen Institutionen zu bertragen oder sie sogar zu nationalisieren: „Der Staat bruchte also nur die Warenhuser, ehe sie allzu mchtig werden und die Gefahr eines der Volkswirtschaft schdlichen Ringes droht, an sich zu bringen, und wir wren auf dem besten Wege zu einer staatlichen Gterverteilung. Ließe sich diese Idee verwirklichen – welche politische Partei dabei die fhrende Hand im Spiel htte, ist ja hierfr unerheblich –, so wrde nicht nur der Staat eine neue Einnahmequelle, sondern das gesamte Volk eine Einrichtung von ungemessen segensreichen Folgen gewinnen.“203

Doch solche Forderungen blieben weitgehend ohne Ergebnis und relativierten sich sptestens durch den Krieg. Erst die Arisierungsprojekte des nationalsozialistischen Regimes sollten Fragen nach der Nationalisierung der Warenhuser wieder virulent werden lassen. Fr die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bleibt festzuhalten, dass die Unternehmen nur beschrnkt in ihren Aufsichts- und Kontrollgremien von außerhalb kontrolliert wurden.

200 201 202 203

Baumgarten, S. 99 f. Kçrner, S. 25. Heckerl, S. 12. Baumgarten, S. 118.

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Bildung und Ausbildung: Wissen im Warenhaus Wie in den franzçsischen Husern war auch in den Warenhusern in Deutschland eine geregelte Ausbildung nicht oberste Prioritt. Die traditionelle Form der ein- oder zweijhrigen Ausbildung, die in weiten Teilen des Einzelhandels zu dieser Zeit blich war, fand in den Warenhusern zunchst nicht statt. In der Frhphase wurde das Problem vielmehr durch eine weitgehende Externalisierung dieser Ausbildung gelçst. Das weibliche Personal wurde in der Regel im Alter von 14 bis 16 Jahren zu einer – wie oben gezeigt – entsprechend niedrigen Bezahlung in den Husern eingestellt. Nachdem die Mdchen eine kurze Zeit einfache Arbeiten verrichtet hatten, wurden sie hufig entlassen, damit sie eine Lehrzeit in einem kleinen Unternehmen des Einzelhandels absolvieren konnten. Erst mit einer solchen regulren Ausbildung und unter der Voraussetzung, dass sie noch nicht zu alt, also unter 20 Jahren waren, erfllten sie die Kriterien fr eine verhltnismßig gut bezahlte Erstanstellung im Warenhaus. Es sei aber an dieser Stelle nochmals auf die relativ begrenzte Zahl dieser regulren Karrieren im Gegensatz zu den prekren Anstellungsformen verwiesen. Allerdings verbesserte sich die Situation des weiblichen Personals und bis zum Krieg wurden die Frauen immer lnger beschftigt, wodurch sie mehr verdienten. In einer internen Untersuchung kam etwa der Kaufmnnische Verband weiblicher Angestellter 1906 zu dem Schluss, dass inzwischen ein knappes Drittel seiner Mitglieder lnger als fnf Jahre auf ihren jeweiligen Anstellungen verblieben. Zehn Jahre zuvor war dies nur bei gut einem Fnftel der Fall gewesen.204 In der Tendenz nherten sich damit nicht nur die weiblichen und mnnlichen Karrierewege an, sondern auch ihre Qualifikationsstrukturen. Fr die mnnlichen Angestellten – eine viel kleinere Zahl – gab es keine Altersgrenze fr die Anstellung in den Warenhusern. Sie hatten dementsprechend auch mehr Mçglichkeiten, Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen des Einzelhandels zu sammeln. Auch bei ihnen war eine Ausbildung in einem anderen Betrieb relativ hufig. Dieses System der externen Ausbildung kam erst in die Krise, als immer mehr Unternehmen im Einzelhandel klar wurde, dass sie mit der Ausbildungsarbeit vielfach den großen Konkurrenten zuarbeiteten. Viele Geschfte versuchten daraufhin, den Wechsel zu den großen Unternehmen zu erschweren und schrnkten ihrerseits ihre Ausbildungsttigkeit ein. Das fhrte zu einer tendenziellen formellen Dequalifikation der Angestellten im Einzelhandel.205 Die Situation im neu gegrndeten KaDeWe kann als Beispiel fr die Qualifikationsstruktur und die Versuche zur Einsparung von Ausbildungskosten gesehen werden. Fr die Grndung des neuen Hauses gab es einen massiven Bedarf an qualifiziertem Personal, zumal sich das KaDeWe von Anfang an im 204 Nienhaus, S. 318. 205 Biermer, S. 35.

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Luxussegment zu platzieren suchte. Dabei griffen das KaDeWe und sein Leiter Adolf Jandorf wieder wie selbstverstndlich auf das Personal anderer Unternehmen zurck: „[Jandorf] hatte bei Errichtung des neuen Kaufhauses bewhrtes, in sicheren Positionen befindliches Personal hiesiger großer Warenhuser – von der Firma Wertheim allein 100 tchtige Krfte – unter sehr gnstigen Anerbietungen an sich gezogen, diese spter entlassen und durch billigeres Personal ersetzt, bezw. erheblich niedriger besoldet, sobald alle Einrichtungen getroffen und das Unterpersonal hinreichend eingearbeitet war. Der ffentlichkeit gegenber wurden die Entlassungen mit der mangelnden Tchtigkeit, auch Unbotmßigkeit der Betroffenen zu begrnden versucht.“206

Die zitierte Untersuchung des Polizeiprsidenten belegt nicht nur, in welcher Form Jandorf Qualifikationen Bedeutung beimaß, sondern auch, dass es in erster Linie die hçheren Angestellten waren, die im Haus ausgewechselt wurden. Jandorf schien diese besser bezahlten Angestellten in das Unternehmen geholt zu haben, um die neuen Strukturen konstruktiv zu prgen, weniger um einen dauerhaften Wissenspool zu bilden. Niedriger gestelltes Personal und Verwaltungspersonal wurde von Jandorf dagegen nur im Sinne einer austauschbaren Arbeit eingestellt, die er jederzeit wieder entlassen konnte.207 Das Wissen, das auf diese Weise in das Unternehmen integriert wurde, war Organisationswissen; individuelle Kenntnisse, etwa ber die angebotenen Waren, spielten dagegen eine absolut untergeordnete Rolle, eine Entwicklung, die zu einer weiteren Dequalifikation des Personals beitrug.208 Die Nachteile fr die Angestellten lagen auf der Hand: In der Regel wechselten sie hufig die Stellung und ihre Position war dabei ohne formale Ausbildung empfindlich geschwcht. Insbesondere die weiblichen Angestellten forderten daher fast einhellig eine geregelte Ausbildung.209 Um die Jahrhundertwende lag das Bildungsniveau der weiblichen Angestellten wesentlich unter dem vor der Grndung der großen Warenhuser. So hatten in Berlin zu dieser Zeit annhernd drei Viertel der Verkuferinnen nur eine Volksschulbildung. Viele der weiblichen Angestellten erhielten nicht mehr die Gelegenheit, weitere Qualifikationen hinzuzugewinnen. Die Ausbildung im Warenhaus fand meist nur noch pro forma statt und dauerte in der Regel zwischen einem viertel und einem halben Jahr. Das veranlasste den Vorsitzenden des kaufmnnischen Verbandes weiblicher Angestellter zu der lakonischen Feststellung: „eine Verkuferin, die richtig schreibt, die eine Quittung, eine Rechnung ausfertigen kann, ist eine Seltenheit und doch sind alle diese 206 Bericht an den Polizeiprsidenten vom 11. 7. 1907 ber Adolf Jandorf; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 10937. 207 LA Berlin A Rep 200-01-Nr. 846. 208 Colze, S. 33. 209 Verwaltungsbericht des Kaufmnnischen Vereins weiblicher Angestellter, Nr. 22/1911.

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Kenntnisse fr den kaufmnnischen Beruf unerlsslich.“210 Dementsprechend forderte der Verband zunchst, das allgemeine Bildungsniveau zu heben und die notwendigsten Kenntnisse im Rechnen, Buchfhren und eine gepflegte Sprache zu unterrichten.211 Diesen Forderungen kamen einige Unternehmer entgegen. Interne Wissensressourcen zu erfassen, wurde in dieser Hinsicht fr das Unternehmen zu einem entscheidenden Faktor fr die Anpassungsfhigkeit an Marktentwicklungen. Mit dem Ausbau seines neuen Hauses installierte Wertheim daher ein Zettelsystem, durch das es den Angestellten mçglich werden sollte, Verbesserungsvorschlge an die Unternehmensspitze heranzutragen,212 wenngleich ein solches System auch lange nicht so ausgearbeitet war wie das bei Bayer institutionalisierte Vorschlagswesen. Auch wenn die Warenhuser in Deutschland ebenso wenig wie in Frankreich zu den Abnehmern der Absolventen der Handelshochschulen zhlten, begannen sie doch bald in umgekehrter Richtung fr diese interessant zu werden. So wurde gerade die Art von Fhrungswissen, die das Warenhaus vermittelte, zu einem Beobachtungs- und Studienobjekt der neuen Schulen und tauchte regelmßig in den einschlgigen Publikationen und Lehrmaterialien der Zeit auf.213 Insbesondere das Prinzip der Leitungsausbung ber die Kostenkontrolle und die Buchhaltung erregte Interesse und fand seinen Niederschlag in der Konstituierung der neuen Handelswissenschaft.

Verkaufsrume und çffentliche Rume: das Warenhaus in seiner urbanen Umwelt Der Raum, in dem sich die Warenhuser organisierten, war ein çffentlich zugnglicher Raum. Die außerordentlich hybride Abgrenzung von Unternehmen und Umwelt lief jedem Versuch eines einheitlichen Plans und einer von oben durchzusetzenden Organisation entgegen. Die Tatsache, dass sich die operative Arbeit immer vor den Augen eines Publikums abspielte, schrnkte die Handlungsspielrume der Akteure ein. Doch gleichzeitig ergaben sich hieraus neue Mçglichkeiten, deren sich die Akteure aktiv zu bedienen suchten. Die kritische Funktion des çffentlichen Raumes ist jedoch nur durch die gleichzeitige wirtschaftliche Abhngigkeit zu verstehen, in der sich die Unternehmen befanden: 210 Silbermann, S. 4 – 6. 211 Neubauer, S. 8. 212 Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin, in: Organisation Nr. 1/5. Januar 1907. 213 Artikelserie „Die Organisation des Warenhauses A. Wertheim in Berlin“, in: Organisation 1906 – 1907; Aus den Waarenhusern.

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„Eine ansehnliche Arbeiterschar hngt zwar von [den Warenhausunternehmern] als Arbeitgeber ab. Allein ihre eigene wirtschaftliche Existenz beruht wie die kaum eines anderen Kaufmannes auf der Gunst des großen Publikums, hauptschlich der Arbeiterbevçlkerung. Daher vermag sie ein straff organisierter Boykott gewaltig zu schdigen und […] drfte wohl ein wirksames Mittel sein, um die der Arbeiterschaft als Konsumenten innewohnende Macht gegen etwaige bergriffe der Warenhausunternehmer auszuspielen.“214

Bis 1914 hatten die Warenhuser in der brgerlich-urbanen ffentlichkeit des wilhelminischen Kaiserreiches einen wichtigen Platz eingenommen215 und alle unternehmerischen Akteure hatten sich in ihren Aktionsformen darauf eingestellt. Davon zeugten die rege Spendenttigkeit der Unternehmer und die Tatsache, dass diese Aktivitten auch gerne von ihnen an die ffentlichkeit getragen wurden.216 Doch auch die Angestellten suchten diese ffentlichkeit als Faktor in den firmeninternen Aushandlungsprozessen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits beschrieben, dass solche Diskurse sich in eine relativ weitreichende Tradition der Kapitalismuskritik einreihen, die in den neuen Warenhusern Steine des Anstoßes sahen.217 Bei aller Gegenstzlichkeit in der Zielsetzung waren in diesem Punkt die nationalkonservativen und sozialistischen Diskurse annhernd deckungsgleich und wurden von gewerkschaftshnlichen Organisationen der Angestellten nur zu gerne bedient. Unzureichende Arbeitskonditionen und besondere Hrten wurden sofort der ffentlichkeit zur Kenntnis gegeben. So verçffentlichte die „Mnchener Post“ unter der berschrift „Mißstnde bei der Firma Tietz“ kurz vor dem Krieg folgenden Artikel: „Vom Zentralverband der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen erhalten wir folgende Zuschrift: In der Lebensmittelabteilung der Firma Hermann Tietz am Bahnhofsplatz wurde vor einiger Zeit ein Gansviertel gestohlen. Den Tter konnte man leider nicht entdecken. Der Verdacht der Geschftsleitung richtete sich gegen die ca. 20 Verkuferinnen der betreffenden Abteilung, denen man bekannt gab, dass bei Nichtermittlung des Tters allen Angestellten gekndigt werden wrde. Tatschlich sind fr Ende April bereits zwei Kndigungen erfolgt. Die Firma kndigte an, dass nach und nach in der Lebensmittelabteilung das Personal vollstndig erneuert werde. […] In weiteren Bevçlkerungskreisen wird man das merkwrdige Verhalten der Firma 214 Lux, S. 43. 215 Zu erkennen an den sogenannten Warenhausromanen und den çffentlichen Affren, die das Interesse breiter Gesellschaftskreise erregten. Schweriner; Ungern-Sternberg. Wertheim, Dragonade. 216 Zu den Spendenttigkeiten von Jacob Israel, Georg Wertheim und Oskar Tietz: LBIJMB MF 27, LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94, Nr. 14311 und 13810; Hierzu auch Hartmann, Oskar Tietz. 217 Huber, S. 5 ff.; Artikelsammlung zu Wertheim LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit 94, Nr. 14311. Diese Kritik kam in erster Linie aus dem brgerlichen Lager, vom Ursprung war sie also durchaus nicht deckungsgleich mit dem sozialistischen Diskurs, auf den sich die Gewerkschaften sttzten, doch schloss diese Ambiguitt Querverbindungen nicht aus.

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nicht verstehen kçnnen. Ist es schon eigenartig, wegen einer Unregelmßigkeit das gesamte Abteilungspersonal bßen zu lassen, wenn man den Schuldigen nicht herauszufinden vermag, so befremdet noch viel mehr die Taktik der Geschftsleitung gegenber der zustndigen gewerkschaftlichen Organisation. Mit einem derartigen Verhalten wird die Firma Hermann Tietz sich nicht die Sympathien der Mnchner Bevçlkerung erhalten. Die zwei Verkuferinnen, denen gekndigt wurde, sind 8 – 9 Jahre bei der Firma ttig. Man sieht hier, wie es um die gesicherten Existenzverhltnisse der Angehçrigen des „neuen Mittelstandes“ bestellt ist.“218

Die Zeitung, die der Sozialdemokratie nahestand, erreichte damit genau die Arbeiter und Kleinbrger, die auch die potenzielle Kundschaft von Hermann Tietz war. Ein solches Vorgehen war durchaus kein Einzelfall, vielmehr lernten die gewerkschaftlichen Verbnde schnell, den „çffentlichen Faktor“ fr ihre Zwecke zu nutzen. Je nach Struktur der von den Unternehmen bedienten Klientel und ihrer Zugnglichkeit fr diese gewerkschaftlichen Diskurse konnte ein solcher Gang an die ffentlichkeit sehr direkte und schnelle Folgen haben. Zu dieser Beobachtung passt auch das Verhalten der Unternehmer. Zwar versuchten sie ein positives Verhltnis zur ffentlichkeit herzustellen. Daneben waren sie aber in erster Linie bestrebt, eine zurckhaltende Rolle zu spielen und wenig in Erscheinung zu treten. So versuchte Adolf Jandorf bis zum Krieg, das neue KaDeWe gerade nicht mit seinem Namen in Verbindung zu bringen, obwohl er dessen Leitung hatte. Georg Wertheim dagegen bemhte sich aktiv darum, dass seine Familie nicht in der ffentlichkeit erwhnt wurde, was ihm allerdings nicht gelang.219 Eine Fokussierung des çffentlichen Diskurses auf ihre Person hielten die meisten Unternehmer fr nachteilig. Dies verschrfte sich noch mit den zunehmenden antisemitischen Angriffen.220 Der Raum der Warenhuser war zwar ein çffentlich zugnglicher, aber gleichzeitig auch ein Raum, der sich in hohem Maße von anderen çffentlichen Rumen unterschied, gerade in Bezug auf die neuen Konsumformen, aber auch durch seine Logik als Begegnungsort verschiedener sozialer Milieus. Dieser besondere Charakter des neuen Ortes wurde von den Unternehmen durch eine entsprechende Inszenierung unterstrichen. Die Grenzen zwischen innen und außen wurden durch die neuen architektonischen Formen herausgestellt,221 das sakrale Element – bis heute einer der meist benutzten Aphorismen zu den deutschen Warenhusern der Jahrhundertwende –222 durch die Verwendung allegorischer Formen und Motive betont und die Modernitt durch die exzessive Verwendung moderner Technik hervorge218 Mnchner Post, Nr. 95/24. April 1914. 219 LA Berlin A Rep 200 – 01 846. 220 Im Fall der jdischen Unternehmer haben hier die antisemitischen Angriffe eine wichtige Rolle gespielt, Biermer, S. 15. 221 Gerlach/Sawatzki, Grands magasins. 222 Frei.

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hoben. Das Warenhaus sollte lichtdurchflutet sein, um vom Kunden als „großer Reprsentationsraum“ wahrgenommen zu werden.223 Doch nicht nur der Kunde erlebte diese Grenzen zwischen unternehmerischem Innen und Außen, sie war auch fr die Angestellten sprbar. Die rumliche Einteilung des Hauses in Abteilungen und deren architektonische Abgrenzung umzirkelte genau einen bestimmten Arbeitsbereich, in dem sich der Angestellte aufzuhalten hatte und außerhalb dessen er per definitionem auch nicht arbeitete. Mit den ersten Betriebsordnungen wurden diese rumlichen Abgrenzungen festgeschrieben, wie etwa bei Hermann Tietz in Mnchen: „§7 Jeder Angestellte hat sich in seinem Rayon aufzuhalten und muß darauf achten, dass die Kufer sofort bedient werden. Schon whrend des Verkaufes mssen die Verkufer mit dem Ordnen der Waren sich befassen […].“224

Schon in Hinblick auf die Kundschaft galt in diesen Rayons das Prinzip vollstndiger bersichtlichkeit. Der Kunde musste den ganzen Rayon erfassen und bersehen kçnnen. Doch ein solches Prinzip hatte natrlich auch zur Folge, dass die Verkufer von beinahe jedem Ort aus zu beobachten waren (siehe Abbildung 9)225. Die offene Gestaltung diente also sowohl der berwachung der Kunden als auch des Personals. Diebstahl sollte entdeckt, disziplinarische Verfehlungen durch die Inspektoren beobachtet werden kçnnen. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass auch Kontakte zwischen den verschiedenen Belegschaften der Abteilung tendenziell unerwnscht waren. Die Unternehmer bemhten sich um weitgehende Trennung der einzelnen Angestellten und versuchten insbesondere den Kontakt zwischen mnnlichem und weiblichem Personal rumlich zu unterbinden.226 Der çffentliche Charakter der Unternehmensrume rief auch den Staat als Akteur dieser rumlichen Gestaltung auf den Plan. Es ging darum, die Risiken fr die Angestellten weitestgehend zu minimieren und dadurch schwere Unflle auszuschließen. Die Gesetze zur Installierung von Sitzgelegenheiten in den Warenhusern oder eine drastische Verschrfung der Bauordnung lassen sich nur in diesem Kontext verstehen. Die Unterbringung von Angestellten in den Husern konnte ebenfalls zum Punkt staatlicher Intervention werden. Die lange vollzogene Praxis, Arbeitssttten und Schlafgelegenheiten unter dem Dach der Huser einzurichten, wurde vom preußischen Staat verboten, den Unternehmen damit die letzte Mçglichkeit genommen, ihre Angestellten zu „verstecken“.227 Jeder Verstoß hiergegen wurde von nun an vom Staat – in diesem Fall vom Handels- und Gewerbeminister – geahndet und mit Strafen 223 224 225 226 227

Wiener, S. 44. Betriebsordnung des Hauses Hermann Tietz in Mnchen von 1907; SM Mnchen 867. Bildband A. Wertheim G.m.b.H. Leipziger Straße, Jdisches Museum III.6.8.–23. Betriebsordnung Althoff, Karstadtarchiv. Sonderverordnung an Warenhuser und an solche Geschftshuser, in welchen grçßere Mengen brennbarer Stoffe feilgehalten werden, vom 2.11. 1907, Punkt II 4.

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Abbildung 9: Kurzwarenabteilung bei Wertheim (zwischen 1909 und 1914).

belegt. So wurde Oskar Tietz zu zehn Tagen Haft verurteilt, da er die Angestellten des photographischen Ateliers dennoch im obersten Stock hatte arbeiten lassen.228 Im Gegensatz zu Frankreich gelang es den deutschen Husern zunchst nicht, sich in nennenswertem Maße im Versandhandel zu etablieren und damit ihre Aktivitten teilweise aus den çffentlichen Verkaufsrumen zu verlagern. Das Gebude des Warenhauses blieb mit seiner Architektonik, mit seinen eng umrissenen Arbeitsbereichen und mit der sozialen Aneignung durch verschiedenste gesellschaftliche Akteursgruppen die entscheidende Bhne der unternehmerischen Organisation.

2.4. Hierarchien, Teams und Kontrollen Bei der operativen Arbeit im Warenhaus „muß in allen verantwortlichen Personen das Gefhl wachgehalten werden, daß jede Handlung nachgeprft wird.“229 Die omniprsente Kontrolle im Warenhaus und die damit verbundene kontinuierliche Situierung der Arbeit in einem Machtkontext war eines der aufflligsten Elemente fr die Zeitgenossen. Je grçßer die Huser, je grçßer 228 GstA I Rep 120 BB VII 1 Nr. 4, Bd. 17, Blatt 333. 229 Wagner, S. 17.

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also auch die jeweiligen Abteilungen waren, desto mehr Ressourcen verwendeten die Huser auf die berwachung ihrer Mitarbeiter. Gerade die Tatsache, dass die Arbeit im Warenhaus eine Ttigkeit unter den Augen der ffentlichkeit war, machte es umso eher notwendig, diese Arbeit einer weitgehenden Kontrolle zu unterwerfen. Zwar war die Konzeption der Huser so offen, dass es unmçglich blieb, in jedem Moment die Angestellten vollstndig im Blick zu haben, doch sollte der einzelne Angestellte bei jeder Ttigkeit das Gefhl haben, dass er mçglicherweise berwacht wird. So unterlagen die Angestellten auch verschiedenen Formen von Kontrolle, die auf die unterschiedlichen Aspekte ihrer Handlungen ausgerichtet waren. Drei Hauptelemente der Kontrolle lassen sich hier ausmachen: 1. eine Kontrolle der Arbeit, 2. eine Kontrolle der Warenstrçme und 3. eine Kontrolle der Disziplin. Die Kontrolle der Arbeit oblag der operativen Hierarchie. Die Verkufer hatten einen Vorgesetzten, der ihnen Anweisungen gab und ber deren Ausfhrung wachte. Diese Kontrolle begann mit der berwachung der Prsenz am Arbeitsplatz. Mit ihrer Vergrçßerung hatten die meisten Unternehmen bald – analog zu den Methoden in den großen Fabriken etwa bei Bayer – ein Markensystem eingefhrt: Jeder Angestellte hatte morgens seine Marke von einer Wand zu nehmen und abends wieder hinzuhngen. Dieses zu berwachen war Aufgabe des Pfçrtners, der somit auch ber die rein formelle Einhaltung der Arbeitszeiten wachte.230 Allerdings lag der Sinn dieses Markensystems nicht nur in der Anwesenheitskontrolle, sondern auch in der Mçglichkeit, zu jedem Zeitpunkt bersehen zu kçnnen, wie viel Personal an welchem Ort einsatzbereit war und eventuell umdisponiert werden konnte.231 Neben den Abteilungsleitern und ihren Stellvertretern oblag die Arbeitskontrolle auch der Person des Unternehmers selbst. Bestimmte Unternehmer schtzten es, ihr Personal anonym und unangekndigt zu kontrollieren. Dies ist insbesondere von dem jungen Adolf Jandorf bekannt, der im neuen KaDeWe oft unerkannt die Arbeit seiner Untergebenen kontrollierte.232 Zu diesem Zwecke ließ er sich einen Glaskasten im Hause installieren, um auf diese Art eine mçglichst große Anzahl seiner Angestellten im Blick behalten zu kçnnen. Es ist allerdings schwierig, die Selbstinszenierung der Unternehmerpersçnlichkeiten und die tatschliche Wirkung der Kontrolle auseinanderzuhalten. Der paternalistische Diskurs, durch den die Unternehmer sich zum „Herrn im Hause“ stilisierten, war schon an sich von disziplinierender Wirkung gegenber dem Personal. Allerdings gab es neben diesen stark personalisierten Formen der Kontrolle auch neue Instrumente zur berwachung der operativen Arbeit, die auf eine latente Entpersonalisierung hindeuteten. So wurden die Angestellten in den Warenhusern noch durch ein weiteres Werkzeug, die berprfung ihrer 230 Aus den Waarenhusern, S. 67; Wagner, S. 18. 231 Gçhre, S. 54. 232 LA Berlin Polizeiprsidium A Pr Br Rep. 030 Tit 94 Nr. 10937.

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individuellen Verkaufszahlen, kontrolliert. Weit besser als in der produzierenden Industrie konnten hier die jeweiligen Leistungen der Angestellten nachgerechnet und zumindest mit denen der Kollegen der gleichen Abteilung verglichen werden. So wurde gerade in den neuen Husern ein System eingefhrt, das den Kassierern vorschrieb, eigene Verkuferlisten zu fhren, damit auf diese Weise auf die individuellen Leistungen zurckgegriffen werden konnte.233 Diese Form der berwachung drckte sich in einer leistungsabhngigen Bezahlung aus. Eine solche Form der entpersonalisierten Kontrolle von Leistungen leitet gleichzeitig zum zweiten Punkt regelmßiger Kontrolle ber, der Kontrolle der Warenstrçme. Die Beobachter hoben immer wieder die Bedeutung dieses neuen Instrumentariums hervor, das nicht nur eine vermeintlich leistungsgerechte Entlohnung, sondern in der Tendenz auch die optimale Allokation von Waren, Arbeit und Kapital sicherstellen sollte. Wagner unterschied hierbei diese Kontrollform in 1. die nachrechnende Kontrolle, die noch in der Abteilung vom Kassierer oder anderen Verkufern stattfand, 2. die statistische Kontrolle, die in einer zentralisierten Abteilung durchgefhrt wurde, und damit zusammenhngend 3. die Differenzrechnung, ber die eine Fehleranalyse der einzelnen Angestellten vorgenommen werden sollte.234 Idealerweise sollten in einem Warenhaus alle drei Instrumente gleichzeitig benutzt werden, um auf diese Weise die Arbeit der Angestellten zu kontrollieren und in Zusammenhang mit den Verkaufszielen des Unternehmens zu setzen.235 In dieser Kontrollarchitektur ergab sich wiederum eine Dopplung der hierarchischen Bezge in der operativen Arbeit.236 Mit dem komplexen Ineinandergreifen verschiedener Rechnungskontrollen war dieser Arbeitsbereich derjenige, der sich am engsten an staatlich erprobte Buchfhrungsmethoden anlehnte und sich am weitesten gegenber externem Wissen çffnete.237 Gleichzeitig hatten die Angestellten selbst in Bezug auf die Menge der Waren auch eine direkte Kontrollfunktion, waren es doch die Verkufer, die ber den Absatz dieser Waren und den kommenden Bedarf Rechenschaft abzulegen hatten.238 Deutlich einseitiger war hingegen die disziplinarische Kontrolle. Die disziplinarischen Regeln im Warenhaus zeichneten sich dadurch aus, dass sie keine Arbeitsanweisungen waren. Aus diesem Grunde siedelte sich ihre Kontrolle auch außerhalb der normalen hierarchischen Linie an. So gab es in den Husern spezielle Inspektorenposten. Diese Inspektoren waren damit 233 Baumgarten, S. 75. 234 Belegt etwa in § 10 der Geschftsordnung der Firma Hermann Tietz von 1907 in Mnchen; StA Mnchen 867. 235 Wagner, S. 18 f. 236 Hirsch, Warenhaus, S. 33. 237 Wagner, S. 44. 238 Aus den Waarenhusern, S. 34. Ebenso Geschftsordnung Hermann Tietz, Mnchen 1907, § 15, StA Mnchen 867.

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beschftigt, die Vorschriften und Verbote, denen das Personal unterlag, zu berwachen. Dazu gab es in den großen Husern in Berlin die Instanz der Etagen- und der Oberaufsicht, die nur ber die Disziplin des Personals zu wachen hatte. Etwaige Zurechtweisungen des Personals hatten allerdings nicht in Gegenwart des Publikums zu geschehen.239 Auf diese Weise ergab sich im Warenhaus ein dichtes Netz hierarchischer Beziehungen, die sich bei Weitem nicht auf eine eindeutige Linie beschrnkten. Vielmehr hatten die Angestellten den Weisungen der Abteilungsleiter, der Lagerchefs, der Statistiker und der disziplinarischen Hierarchie Folge zu leisten.240 Insgesamt war dieses Netz sich gegenseitig kontrollierender Kontexte so dicht, dass „jeder Angestellte in jedem seiner Arbeitsgenossen ein Glied eines umfangreichen, als Garantie fr die Beobachtung der Vorschriften notwendigen Kontrollapparates erblicken“ konnte.241 Bislang ist der Eindruck entstanden, das Warenhaus sei die autoritre Unternehmensform par excellence. Dieser Eindruck ist einerseits berechtigt, versuchten doch die meisten Unternehmer und Verwalter der Warenhuser, jeglichen Handlungsspielraum der Angestellten zu eliminieren. Doch dieser Eindruck vernachlssigt andererseits einen Aspekt, der die Organisationsnetze der Unternehmen offener machte, als das auf den ersten Blick scheint. Wie auch in den franzçsischen Husern geschah die operative Arbeit im Verkauf in den deutschen Unternehmen meist in Arbeitsgruppen, die in der Gestaltung ihrer Arbeit eine gewisse Autonomie hatten.242 Die Existenz dieser Gruppen begrndete sich aus der Tatsache, dass eine rein hierarchische Gliederung eine vollstndige Arbeitsteilung vorausgesetzt htte, die de facto im Bereich des Verkaufs nicht durchgefhrt werden konnte. Dabei muss allerdings betont werden, dass es auch innerhalb dieser Gruppen nochmals starke hierarchische Geflle und arbeitsteilige Strukturen gab, wie Kthe Lux beschreibt: „treten im Warenhaus bei jeder Verkaufshandlung vier Personen in Aktion: die Verkuferin legt die Waren vor und notiert den vom Kufer zu zahlenden Betrag; sie ruft ein jngeres Mdchen herbei, welches die Ware nach dem Packtisch trgt, wo sie von einer Packerin ausgehndigt wird, nachdem eine Kassiererin das Geld in Empfang genommen hat.“243

So verlangte der Verkaufsvorgang – ein komplexer und interaktiver Vorgang – auf einer gewissen Hierarchiestufe eine mehr oder minder gleichberechtigte Arbeitsweise. Die regulr angestellten Verkaufskrfte in einer Abteilung waren meist gleich qualifiziert, ihr Grundgehalt war mehr oder minder gleich, die 239 240 241 242 243

Geschftsordnung Warenhaus Althoff, Leipzig 1914, § 7, Karstadtarchiv. Gçhre, S. 67; Baumgarten, S. 62; Wagner, S. 18. Lux, S. 35. Betriebsordnung Oberpollinger vom 26. 5. 1908, §3 StA Mnchen Gewerbeamt 876. Lux, S. 150.

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Altersstruktur einheitlich. Auch wenn es zwischen den Abteilungen starke Variationen gab, waren diese Indikatoren doch innerhalb der Abteilungen oft hnlich.244 Die Aufteilung der zu bewltigenden Arbeit, also die Kundschaft anzusprechen und das Verkaufsgesprch zu fhren, wurden unter den Angestellten nach eigenen Regeln vollzogen. Der Abteilungsleiter fhrte diese Arbeitseinteilung nicht allein durch, vielmehr entwickelte jede Abteilung hierin ihre eigenen Praktiken und organisierte sich auf diese Weise zu einem gewissen Grad selbst. ber die konkrete Arbeitsaufteilung und die Arbeit in den Teams sind zeitgençssische Aussagen kaum erhalten, nur die belletristischen Quellen weisen in die Richtung einer solchen Aufteilung und beschreiben ihre konkrete Umsetzung.245 Diese Freirume, die in der Tendenz von der Hierarchie nicht zu kontrollieren waren, wurden dabei von der Unternehmensfhrung durchaus als Problem angesehen. Viele Unternehmen reagierten also mit einer Multiplizierung der Abteilungen.246 Durch das gleichzeitige Fehlen einer hierarchischen Gliederung der Ebene zwischen Unternehmer und Abteilungsleitern wurde hierdurch die Zone partieller Freirume allerdings nur nach oben verschoben.

Die Entwicklung neuer, disziplinierender Diskurse und die Notwendigkeit zur sozialen Bindung Die Warenhuser in Deutschland versuchten, wie andere Großunternehmen auch, das Gleichgewicht zwischen einer dauerhaften Bindung ihrer Belegschaft und einer rigorosen Disziplinierung zu finden. Auf dem großstdtischen Arbeitsmarkt fr Angestellte gab es nur wenige privatwirtschaftliche Großunternehmen, auf deren Erfahrung die Huser bezglich der Personalstrategie zurckgreifen konnten. Sie setzten daher zunchst auf harte Disziplinierungsmaßnahmen und die Durchsetzung absoluter Autoritt gegenber ihrer Belegschaft. Das wurde in der Art und Weise sichtbar, wie die ersten expandierenden Unternehmen in Berlin agierten. Gerade das Beispiel von A. Lubasch, einem der sehr frhen Warenhuser, zeigt, wie sehr sich der Unternehmer gegenber seinem Personal als souverner Patron gebrdete. So entließ Lubasch 1891 einen Großteil seiner Angestellten wegen eines einzelnen Diebstahls.247 In den folgenden Jahren zeichnete sich das Berliner Haus immer wieder durch eine solche Vorgehensweise gegenber seinen Angestellten aus. Die in der ersten Zeit noch mangelhafte çffentliche Beobachtung der Warenhuser machte solche drakonischen Maßnahmen erst mçglich. 244 245 246 247

Baumgarten, S. 60 ff. Schweriner, S. 88 ff. Hirsch, S. 32 f. LA Berlin Polizeiprsidium A Pr Br Rep 030 Tit. 95, Nr. 15262.

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Das nderte sich bis 1914 nur teilweise. Zwar blieb auch weiterhin die Position der Angestellten außerordentlich schwach, und willkrliche Entlassungen durch die Arbeitgeber gab es bis zum Ende des Untersuchungszeitraums immer wieder.248 Allerdings standen nicht mehr willkrliche Strafen im Vordergrund, sondern mehr und mehr ein formalisierter und detaillierter Strafkatalog, der hufig im Kontext der ab 1891 verbindlichen Betriebsordnungen formuliert wurde. Dieser basierte auf einer Vielzahl von Verboten, welche die Unternehmen gegenber ihren Angestellten vor dem Hintergrund latenter, moralischer Gefhrdung verordnen konnten. Im Vergleich zum sonst nicht immer umfangreichen Quellenmaterial erstaunt hier die Zahl berlieferter Geschftsordnungen, die im Folgenden kurz schematisch erlutert werden sollen. Dabei soll hervorgehoben werden, in welche Bereiche der Arbeit das Unternehmen regulierend eingriff:249 Tabelle 8: Disziplinarische Regelungen in verschiedenen Arbeitsordnungen Arbeitsordnungen

Arbeitszeiten

Hermann Tietz, Mnchen (1907)

Oberpollinger, Mnchen (1908)

X

X

Pausen

KaDeWe, Wertheim, Berlin Berlin (1908) (1911)

Althoff, Essen (1914)

X

X

X

X

Krankengelder

Karstadt, Hamburg (1915)

X

Urlaubszeiten

X

X

Weiterbildung

X

Kndigungsfrist

X

X

X

Bezahlung der Tantiemen

X

Sanktioniert werden: Verhalten der Vorgesetzten gegenber Untergebenen

X

Zusptkommen

X

X

X

X

X

X

X

X

Unhçflichkeit gegenber Kundschaft

X

X

X

X

248 Soziale Praxis. Zentralblatt fr Sozialpolitik, Nr. 16/14.1.1904. 249 Arbeitsordnung Hermann Tietz Mnchen (1907), StA Mnchen Gewerbeamt 867; Arbeitsordnung KaDeWe 1908, Colze, S. 37 ff.; Arbeitsordnung Oberpollinger Mnchen (1908) StA Mnchen Gewerbeamt 876; Arbeitsordnung Wertheim (1911) Baumgarten, S. 69; Arbeitsordnung Althoff Essen (1914) und Karstadt Hamburg (1915) Karstadtarchiv.

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(Fortsetzung) Arbeitsordnungen

Verhalten der Angestellten untereinander (insb. Kontakt zw. Mnnern und Frauen)

Hermann Tietz, Mnchen (1907)

Oberpollinger, Mnchen (1908)

X

X

Mangelnde Subordination gegenber dem Kunden

KaDeWe, Wertheim, Berlin Berlin (1908) (1911)

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

Alkoholkonsum

X

X X

Kleidung

X

X

Privates Telefonieren

X

X

Karstadt, Hamburg (1915)

X

Arbeitsbezogene Fehler

Familire Beziehung zur Kundschaft

Althoff, Essen (1914)

X

X X

X X

X

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Die Auswahl der hier aufgefhrten Punkte bleibt zwar unvollstndig, doch zeigt sie bereits einige gemeinsame Grundzge: Disziplin wurde im Verhltnis zu den Kunden, aber auch und gerade im Verhltnis der Angestellten untereinander formuliert. So versuchte das Unternehmen, Kontakte unter den Arbeitskrften zu unterbinden oder doch weitgehend zu reglementieren. Beziehungen, vor allem zwischengeschlechtlicher Art, sollten in jedem Fall vermieden werden. Daneben wurden Fehler unter Strafe gestellt. Die Angestellten im Warenhaus hatten nicht das Recht, Arbeitsfehler zu begehen oder mussten diese doch weitestgehend selbst finanziell ausgleichen. Andererseits zeigt die Tabelle auch ein bergewicht der sanktionierten Disziplinarmaßnahmen gegenber den Regelungen der Arbeitskonditionen. Hier wird deutlich, dass viele formelle Aspekte eben nicht in den Arbeitsordnungen festgelegt wurden, sondern wohl oft in den individuellen Arbeitsvertrgen fixiert waren. Die Liste der einzelnen disziplinarischen Details dagegen ließe sich beinahe unbegrenzt fortsetzen. So gab es beispielsweise auch Verbote von manchen „belriechenden Speisen“ wie Hering oder Kse, die Verpflichtung, sich in der freien Zeit um die Ordnung in der Warenauslage zu bemhen,250 das Verbot lauten Sprechens oder Lachens251 oder die Entlassung wegen Ansteckung mit „ekelerregenden Krankheiten“.252 Ferner konnte in der vorstehenden Auflis250 Arbeitsordnung Hermann Tietz Mnchen (1907), § 16/4, §7; StA Mnchen Gewerbeamt 867. 251 Baumgarten, S. 69. 252 Arbeitsordnung Oberpollinger Mnchen (1908), § 33; StA Mnchen Gewerbeamt 876.

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tung auch die unterschiedliche Hçhe der Sanktionen nicht bercksichtigt werden. Diese konnten von einfachen Ermahnungen ber Geldstrafen bis zu einer sofortigen Entlassung reichen. Die genaue Form der Bestrafung blieb meist im Ermessensspielraum der Vorgesetzten und – da das, wie oben gesehen, meist mehrere Personen waren – hufig willkrlich. Diesen Sanktionierungen standen die Versuche zur Bindung der Arbeitnehmer an das Unternehmen entgegen. Diese fanden, wie in anderen Branchen auch, ber die Installierung von Sozialleistungen statt. In den Warenhusern wurden bald Altersvorsorgekassen eingerichtet, aus denen den Angestellten eine Rente bezahlt werden sollte. Doch blieb die reale Wirkung dieser paternalistischen Maßnahmen ußerst begrenzt. Die materiell interessanten Leistungen waren in der Regel so stark limitiert, dass sie nur einen Bruchteil der Belegschaftsangehçrigen berhaupt erreichten. Neben dieser institutionalisierten Form der Personalbindung durch Sozialleistungen richteten die Warenhuser auch neue Formen von Anreizsystemen ein, die in ihrer Wirkung weit ausschlaggebender waren. Hierzu zhlten beispielsweise die vielen verhltnismßig vorteilhaften Arbeitsbedingungen und die tendenziell sinkenden Arbeitszeiten.253 Hinzu kam die Einrichtung eines Personaleinkaufes, der gerade im Lebensmittelbereich von vielen Angestellten exzessiv genutzt wurde. Doch vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen lsst sich dennoch eine relativ marginale Bedeutung der Politik zur Personalbindung erkennen. Die disziplinarische Maßregelung des Personals war markanter als in anderen Branchen, die Versuche einer dauerhaften Bindung eines Arbeiterstammes waren weniger ausgeprgt. Es kam den meisten Husern weit weniger darauf an, ihr Personal dauerhaft zu binden, als es vielmehr flexibel zu halten und seine Verhandlungsposition zu marginalisieren.

berformungsprozesse in der Unternehmenskultur – brgerliche Kultur als inszeniertes Leitbild Wie bislang gesehen ist die frhe Lenkungskultur im Warenhaus bestenfalls als chauvinistisch zu beschreiben. Die Mobilisierung eines kulturellen Wertekanons im Sinne einer Firmenideologie ist genauso wenig festzustellen wie Elemente einer spezifischen Arbeitskultur. Angesichts eines latenten Angestelltenberflusses gab es fr die Unternehmer zunchst keinen Grund, kostspielige und ressourcenbindende Maßnahmen zu ergreifen, um die Interessen zwischen Belegschaft und Unternehmen zusammenzufhren. So bezogen sich die frhen kulturell konnotierten Praktiken der Unternehmensleitungen nicht auf die innere Funktionsweise der Huser, sondern ausschließlich auf deren Außenwirkung. Hierzu gehçrte die Inszenierung der 253 Hirsch, Warenhaus, S. 64 ff.

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Neubauten: die neuen großen Warenhuser von Wertheim, Hermann und Leonhard Tietz, Adolf Jandorf oder Theodor Althoff waren große architektonische Auftragswerke.254 Die Verwendung allegorischer Symbolik entwickelte sich hier analog zu den knstlerisch-architektonischen Strçmungen ihrer Zeit, die gerade nicht den Rationalisierungstopos aufgriff. Die Formensprache lehnte sich vielmehr an den Historismus an, im Fall von Wertheim auch an den modernen Jugendstil. Allegorische berhçhungen der Arbeit, des Handels etc. gehçrten hier zum gngigen Katalog. Die Entdeckung knstlerischer Formen in der beginnenden Reklame, aber auch das damit einhergehende Konzept der Selbstinszenierung der Unternehmen zu stilvoll berhçhten Orten eines transzendenten Konsumerlebnisses situierte diese Unternehmensform in einen sehr direkten lokalen Bezugsrahmen und stand damit in einer hçchst komplexen Wechselwirkung zur Frage einer Unternehmenskultur. Die Leitbilder, welche die Unternehmer implizit gegenber ihren Angestellten propagierten, gehçrten in den Katalog einer brgerlichen Kultur.255 So

Abbildung 10: Weibliche Angestellte beim „Flanieren“ auf dem Dachgarten von Wertheim (zwischen 1909 und 1914).

254 Schliepmann; Gerlach.

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wurde etwa den Angestellten des 1914 erçffneten Karstadthauses an der Hamburger Mçnckebergstraße ans Herz gelegt: „Suche guten Umgang, besuche gute Veranstaltungen, Theater, lese gute Bcher“. Die Sichtbarkeit der Arbeit und die damit verbundene vermutete Gefhrdung der Angestellten einerseits, und der soziale Aufstiegswunsch vieler Angestellter andererseits lieferten den Unternehmern Argumente fr eine „moralisch-sittliche Erziehung“ ihrer Belegschaft.256 Soziale Gefhrdung wurde damit zum Argument einer Lenkungskultur latenter Bevormundung. Dies galt gerade gegenber den weiblichen Angestellten.257 In weiten Kreisen der brgerlichen ffentlichkeit war das Problembewusstsein in der Frage der weiblichen Angestellten so ausgeprgt, dass weibliche Arbeit an sich die Grundlagen brgerlicher Kultur in Zweifel zu ziehen schien.258 Doch der Versuch einer solchen Universalisierung brgerlicher Werte berlagerte nur die weiterhin vorhandene Form eines Wertekonsenses, der auf gegenseitigem Misstrauen und latentem Konkurrenzdenken unter allen Angestellten beruhte. „[Der Unternehmer] stçßt die berzhligen oder untchtigen Krfte rcksichtslos ab, zieht zur Erleichterung der Kontrolle Angeberei und Misstrauen groß.“259 ber den ganzen Untersuchungszeitraum blieb diese autoritre Form der Vermittlung zwischen Unternehmern und Belegschaft erhalten. Das direkte Verhltnis zwischen Unternehmern und Belegschaft blieb von chauvinistischer Bevormundung geprgt, die Angestellten waren vom guten Willen der Unternehmer abhngig. Wie sehr solche Bilder internalisiert wurden, zeigen verschiedene Berichte Betroffener, die ein solches Bild des Unternehmers auch noch Jahrzehnte spter reproduzierten.260 Der Spannungsbogen zwischen den beiden Leitbildern autoritrer Fhrerschaft des Unternehmers einerseits und brgerlich-sozialen Aufstiegs der Angestellten andererseits erklrt sich aus der Entwicklung der Unternehmen und der damit verbundenen Vernderung der Stellung der Unternehmer. Wo zunchst die Unternehmerpersçnlichkeit allein eine Leitbildfunktion gegenber der Belegschaft ausben konnte, musste mit dem rasanten Wachstum der Huser und mit ihrer hufigen regionalen Streuung als Filialhuser ein neues handlungsleitendes Angebot gemacht werden. Hierfr wurden zunehmend die ohnehin prsenten Elemente brgerlicher Kultur teilweise instrumentalisiert – ein Vorgang, der schon im Falle der franzçsischen Huser gezeigt werden konnte. Je nher der Weltkrieg rckte, desto mehr machten die Unternehmen auch Anleihen bei nationalen Diskursen, die technische Allegorien und moder255 Betriebsordnung des Hauses Mçnckebergstraße 1915, Karstadtarchiv. 256 Betriebsordnung von Theodor Althoff in Essen 1913, Karstadtarchiv. 257 Gadesmann, S. 12; vgl. auch die heftigen Attacken des DNHV; GStA Berlin I Rep 120 BB IX Nr. 4. 258 Schneider, S. 4 ff. 259 Lux, S. 40. 260 Brief von Charlotte Renner; Karstadtarchiv.

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nistische Ideologien immer wieder auf einer beinahe transzendenten Ebene mit der Nation in Verbindung brachten. So half das Warenhaus bald, den Menschen von der Sklaverei der Arbeit zu befreien. „Die geistige und moralische Ausbildung des Menschen wird gehoben. So sind Kapital, Technik und Wissenschaft die Hebel der modernen Kultur.“ [Hervg. v. Verf.]261 In den Hauszeitschriften wurden nur zu gerne naturalistische Bilder gewhlt, um den Betrieb zu charakterisieren, und das Warenhaus wurde in die bald gngige Analogie zwischen Betrieb und menschlichem Kçrper eingereiht:262 „Der Mensch ist die wundervollste Arbeitsmaschine, die es gibt. Jedes einzelne Glied, jedes Organ, jeder Muskel, jede Faser und jede Zelle ein Wunder an Arbeitsfhigkeit, Arbeitsanpassung und Verwendbarkeit. Der ganze Leib mit all seinen Vorrichtungen fr physische und geistige und psychische Arbeit ist ganz ohne Beispiel in allen Betrieben, die die Natur, geschweige denn der Mensch sonst geschaffen hat.“263

Diktion und Motivik des Einzelnen als Teil des Ganzen und des Menschen als Rad in der Maschine fanden sich bald auch in den Arbeitsordnungen der Unternehmen. So forderte Althoff 1914 von seinen Mitarbeitern: „Betrachte Dich stets als ein wichtiges Glied in der Kette meiner Mitarbeiter. Wo Du auch stehen magst und was auch immer Deine Beschftigung sei, Du kannst zum Gelingen des Ganzen beitragen. […] Sei stolz, einem Hause anzugehçren, dessen Name weit und breit einen guten Klang hat und trage durch Dein Benehmen in- und außerhalb des Hauses dazu bei, diesen Ruf und die Ehre des Hauses hochzuhalten.“264

Die Parallelen von nationaler Kultur und dem Kulturangebot der Unternehmer am Vorabend des Weltkrieges ist andernorts bereits hervorgehoben worden265 und kann hier partiell besttigt werden. Die Hybriditt von kulturellen Leitbildern der brgerlichen Gesellschaften und der Geschftsform des Warenhauses begnstigte die Wirkung eines solchen kulturellen Angebotes auf die Belegschaft. Obwohl es im Warenhaus kaum Formen einer funktionalisierten Unternehmenskultur gab, haben kulturelle Leitbilder fr diese urbanen Unternehmen eine hohe Bedeutung. Doch gerade durch den permanenten Dialog mit der brgerlichen ffentlichkeit war der kulturelle Faktor nicht von einer einzelnen Akteursgruppe zu bestimmen, sondern wurde komplex ausgehandelt.

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Wernicke, S. 12. Hinrichs, Um die Seele. Album Israel 1914. Ausfhrungsbestimmungen zur Betriebsordnung des neuen Hauses von Theodor Althoff in Leipzig 1914, Karstadtarchiv. 265 Nieberding, Unternehmenskultur, S. 255 ff.

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Kollektives Handeln und divergierende Interessen in den frhen Angestelltengewerkschaften Warenhuser waren nicht frei in der Wahl ihres Standortes. Die Notwendigkeit, sich am stdtischen Absatzmarkt zu orientieren, legte sie auf einen Arbeitsmarkt fest, den sie kurzfristig kaum beeinflussen konnten. Diese Tatsache hatte einen gewichtigen Einfluss auf die Organisationsstrukturen der Unternehmen und stellte gleichzeitig den dynamischsten Faktor ihrer Vernderung dar. Toni Pierenkemper hat die Heterogenitt des stdtischen Arbeitsmarktes im wilhelminischen Deutschland beschrieben.266 Einerseits berstieg die Anzahl potenzieller Arbeitskrfte die Nachfrage der Huser bei Weitem, andererseits wurde die Kategorie des Einzelhandelsangestellten in seiner spteren Form aber erst durch die Warenhuser geschaffen und definiert; sie wirkten also an der Konstruktion und der Ausdifferenzierung dieses Arbeitsmarktes mit. Das entscheidende Kriterium des Marktes war seine hohe Arbitragefhigkeit.267 Die Angestellten der Warenhuser waren hufig vorher oder spter in anderen Berufsfeldern ttig. Die vorwiegend weiblichen Angestellten arbeiteten im kleinen Detailhandel, in der Gastronomie oder anderen Arbeitsbereichen mit einer geringen Qualifikationsanforderung. Diese Tatsache machte es den Unternehmern mçglich, ihre hohen Ansprche an die Flexibilitt der Angestellten mit einem verhltnismßig geringen Mitteleinsatz durchzusetzen. Diese Strukturen machten es den Interessenorganisationen schwer, die Arbeitskonditionen zu verbessern. Doch die relative geographische Dichte von potenziellen Arbeitnehmern machte gleichzeitig die Vielzahl der Bestrebungen zu einer organisierten Interessenkoordination berhaupt erst mçglich. So bildete sich schon in der Zeit vor 1890 in Berlin ein Teppich verschiedener Organisationen, die sich der Vertretung der Interessen der Einzelhandelsangestellten verpflichtet fhlten. Charakteristisch war fr diese ersten Organisationen die mangelnde Trennschrfe zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Organisationen wie die Vereinigung freier Kaufleute drckten schon durch ihren Namen aus, dass sie sich nicht eindeutig im Lager der Arbeitnehmer sahen.268 Vielmehr begannen die ersten Interessenorganisationen als Koalitionen der Angestellten in den großen Warenhusern und der kleinen Unternehmer des Detailhandels, die sich parallel in der sich formierenden Mittelstandsbewegung zusammenschlossen. Eine solche zunchst ungewçhnliche Koalition lsst sich vielleicht aus den Hoffnungen vieler 266 Pierenkemper, Handlungsgehilfen, S. 257 ff. 267 Eine Tatsache, die von Pierenkemper nur unzureichend bercksichtig wird. Das Arbeitsangebot auf diesem Markt war ußerst variabel, die entsprechenden Zahlen haben notwendigerweise fiktiven Charakter; Pierenkemper, Handlungsgehilfen, S. 267 ff. 268 LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15262.

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mnnlicher Angestellter begrnden, nach einer gelungenen Karriere im Warenhaus in ein bestehendes Geschft einzuheiraten, ein solches zu grnden oder es anderweitig zu bernehmen. Doch schon in diesem Verband gab es eine Unterorganisation der „Handlungsgehilfen“, in der es zum ersten Mal ausschließlich um die Probleme der prekren Arbeit im Einzelhandel ging.269 Bis zum Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatten sich die Aktivitten des Verbandes so klar auf der Seite der Arbeitnehmer positioniert, dass es fr die kleinen Unternehmer schwierig war, sich mit den Forderungen des Verbandes weiter zu identifizieren.270 Diese Kategorie der Handlungsgehilfen sollte auch weiterhin von entscheidender Bedeutung sein. Mit dem Verband Deutscher Handlungsgehilfen (VDH), der 1881 in Leipzig gegrndet worden war, setzte sich verstrkt ein Interessenvertretungsorgan durch, das große Teile der Warenhausangestellten reprsentierte. Neben diesem weitgehend gemßigten Verband entstand der ungleich radikalere Deutsche Handlungsgehilfenverband ab 1893 mit Sitz in Hamburg, der sich zwei Jahre spter in den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DNHV) umbenannte. Die Radikalitt dieses Verbandes bestand nur zu einem Teil in seinen Forderungen zur Verbesserung der Arbeitssituation. Ebenso wichtig waren den Verbandsfhrern die teilweise antisemitischen Kampagnen gegen die Warenhausbesitzer, die systematisch als Feindbild aufgebaut wurden. Daneben rckte die Forderung nach dem Ausschluss der weiblichen Konkurrenz im Warenhaus in den Mittelpunkt der Arbeit des Verbandes.271 Auch hierin suchte die Organisation den Schulterschluss mit der Mittelstandsbewegung. Die Mitgliederzahl des Verbandes stieg außerordentlich stark, wodurch er mit der Zeit zu einem der wichtigsten Verhandlungspartner der Unternehmer wurde. Schon 1898 erreichte er eine Zahl von knapp 50 000 Mitgliedern, um bis 1907 die Mitgliederzahl noch einmal zu verdoppeln. Mit dieser tendenziellen Segmentierung der Angestelltengruppen und ihrer Interessen wirkte der DNHV wiederum den einigenden Bestrebungen des VDH entgegen und deutete ein Hauptproblem der Interessenvertretung der Einzelhandelsangestellten insgesamt an. In den deutschen Stdten verweigerten sich die Angestellten ber lange Zeit der gemeinsamen Koordination. Statt eine starke, solidarische Gruppenidentitt herauszubilden, fraktionierte sich der Arbeitsmarkt nach Geschlecht, Einkommensgruppen, Ttigkeit und Alter. Die Aufsplitterung in eine Vielfalt von Partikularinteressen erlaubte es den Arbeitgebern, die Konkurrenzsituation der einzelnen Gruppen zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren. In kaum einer Branche ist diese dysfunktionale 269 Die erste Versammlung dieser Unterorganisation vereinigte in Berlin 800 „Handlungsgehilfen und Handlungsgehilfinnen“; LA Berlin A Pr Br Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15262. 270 Vgl. Forderungskatalog des Verbandes von 1896; Landesarchiv Berlin Polizeidirektion A Pr Br Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15265. 271 GStA I Rep 120 BB IX Nr. 4.

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Interessenpositionierung so deutlich geworden wie bei den Warenhusern. So resmiert Borchhardt die komplexe Situation: „Die lnger zurckliegenden Ursachen fr die heute noch verhltnismßig geringe Bedeutung der Handlungsgehilfen in den wirtschaftlichen Interessenkmpfen bestanden darin, dass die Handlungsgehilfen sich infolge ihrer gemeinsamen Ttigkeit den Prinzipalen nher fhlten als den um Verbesserung ihrer Verhltnisse ringenden gewerblichen Arbeitern, dass die Handlungsgehilfen frher in den Beruf eintraten mit der Absicht, einmal selbstndig zu werden.“272

Auch mit der tendenziell wachsenden gewerkschaftlichen Organisation der weiblichen Angestellten wurden die Forderungen nicht zwangslufig einheitlicher. Die Forderungen nach Anerkennung eines Status, nach einer geregelten Ausbildung oder zumindest einer hçheren Qualifikation und nach einer gesellschaftlichen Anerkennung weiblicher Arbeit waren fr die Unternehmer wesentlich einfacher zu erfllen als die Forderung der mnnlichen Angestellten nach hçherer Bezahlung. Der wichtigste weibliche Angestelltenverband, der Kaufmnnische Verband weiblicher Angestellter, wuchs in der Phase zwischen 1890 und 1914 rasant an: Der Verein, 1888 gegrndet, zhlte 1890 noch 1147 Mitglieder, im Jahr 1900 waren es 11 451, und bis 1913 wuchs die Zahl auf 34 015. Das signifikanteste Wachstum fand dabei in der Phase zwischen 1900 und 1907 statt.273 Doch die betrchtliche Mitgliederzahl lsst dennoch die Disproportionalitt des Organisationsgrades der weiblichen Angestellten im Vergleich zu den mnnlichen Kollegen erkennen: Grund hierfr war in erster Linie die geringe Mitgliederzahl der jungen weiblichen Angestellten in nicht abgesicherten Beschftigungsformen, also der grçßten Berufsgruppe in den Warenhusern. Es erstaunt kaum, dass der Verein zu keinem Zeitpunkt zum Trger sozialen Protests wurde. Auch whrend der partiellen Protest- und Streikbewegungen in den Warenhusern waren das weibliche Personal und ihr Dachverband kaum daran beteiligt.274 Diese strukturelle Schwche der Verhandlungsorganisationen der Arbeitnehmer einerseits und eine mangelnde staatliche Regelung, gerade bezglich der Angestelltenarbeit, andererseits machten kollektive Abschlsse in den Warenhusern schwierig. Einheitliche Regelungen der Arbeitskonditionen oder der Sonntagsruhe etwa, die sich die frhen gewerkschaftlichen Bewegungen auf die Fahnen geschrieben hatten, wurden bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nicht erreicht.275 Stattdessen bernahmen andere professionelle Gruppen von Arbeitern im Warenhaus die Trgerfunktion bei diesen Protesten, wie etwa die homogenere Gruppe der Transportarbeiter.276 Im Falle 272 Borchhardt, S. 7. 273 Verwaltungsbericht des Kaufmnnischen Vereins weiblicher Angestellter, Nr. 24/1913. 274 Brandenburgische Wacht. Monatsschrift des Gaues Brandenburg im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, 1.6.1907. 275 Borchhardt, S. 46. 276 Lux, S. 36 f. und S. 41.

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des Mnchener Hauses Oberpollinger fhrte dies dazu, dass die Transportarbeiter ab 1908 einen eigenen Tarifvertrag bekamen, die Angestellten dagegen zunchst ohne kollektive Vereinbarung arbeiten mussten. Diese aktive Vorreiterrolle der Transportarbeiter hatte aber eine Katalysatorfunktion fr die Mnchener Warenhausangestellten als Ganzes. In den Jahren vor 1914 begannen sie, sich effizient zu organisieren. Als erster Erfolg fr die Interessenvertretung der Arbeitnehmer kann der Vertrag von 1912 gelten, der zum ersten Mal einen Mindestlohn auch fr weibliche Angestellte festlegte. Daneben wurden Arbeitszeiten, Fragen der Krankenversicherung, Kndigungsfristen und andere Arbeitsbedingungen vertraglich geregelt.277 Die Forderungen, die in diesem ersten Tarifvertrag verabschiedet wurden, machten sich die Belegschaften anderer Warenhuser zu eigen, sodass es zu einer relativen Angleichung der Situation in Mnchen kam. Eine solche Interessenkoordination provozierte eine Reaktion der Unternehmer. Gerade in Mnchen ist die Koordination zwischen den beiden großen Husern – Hermann Tietz und dem 1905 von den Gebrdern Emden gegrndeten Oberpollinger – zu belegen. In den beginnenden Verhandlungen ber Arbeitszeiten, Geschftsordnungen und Bezahlung konsultierten sich die Geschftsleitungen der beiden Huser durchaus und kamen zu Lçsungen, die in der ganzen Stadt Wirkung zeigten.278 Die Spezifika der urbanen Arbeitsmrkte legten eine Koordination der Angestellten der verschiedenen Huser nahe. Auch wenn diese nicht immer erfolgreich war, blieb doch der Druck, sich zu koordinieren, um gemeinsam handeln zu kçnnen, zunchst vorhanden.

277 StA Mnchen, Gewerbeamt 877 – 438, Vertragsschluss fr das Warenhaus Schmidt 1912. 278 StA Mnchen, Gewerbeamt 867.

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3. Vorbilder und Divergenzen. Deutsche und franzçsische Warenhausorganisation als komplexer Transfer Die Warenhuser vernderten die wirtschaftliche Geographie in Deutschland und Frankreich nachhaltig. Mit ihrem außerordentlichen Wachstum und ihren Angestelltenzahlen, die sie schnell in die Klasse der grçßten Unternehmen aufsteigen ließen, wurden sie fr viele Zeitgenossen beispielhaft fr die Transformationsprozesse der industrialisierten Gesellschaft, obgleich ihr Erfolg nicht mehr auf einer industriellen Produktion beruhte. Damit war die wirtschaftliche Moderne nicht nur in den Diskursen und den sozialen Vernderungen, sondern auch den unternehmerischen Strukturen in den großen Stdten und brgerlich urbanen ffentlichkeiten angekommen. Paris, bereits seit Jahrhunderten unumstrittenes Zentrum Frankreichs, war lange Zeit nicht der bevorzugte Standort der grçßten franzçsischen Produktionsunternehmen gewesen. Diese Abwesenheit des industriellen Großbetriebes beeinflusste die çffentliche Auseinandersetzung mit dem „industriellen Unternehmen“. Viele çffentliche Akteure argumentierten in diesen Diskussionen vor dem Hintergrund der feingliedrigen Pariser Unternehmenslandschaft, die geprgt war von Handwerk, Dienstleistungsunternehmen und bestenfalls mittelgroßen Industriebetrieben. Gleichzeitig hatten sich die Warenhuser hierdurch mit anderen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen, die sie nachhaltig in der Gestaltung ihrer inneren Organisation beeinflussten. Im Gegensatz zu vielen franzçsischen Industrieunternehmen mit ihren stabilen, lndlich rckgebundenen Personalverhltnissen, trafen die Pariser Unternehmer auf einen stark fluktuierenden Arbeitsmarkt, der nicht nur außerordentlich große Spielrume fr die Unternehmen erçffnete, sondern gestalterisches Handeln sogar wesentlich voraussetzte. Der Personaleinsatz im Warenhaus schuf neue Formen der Anstellung, die bislang auf dem Pariser Arbeitsmarkt unblich und damit auch kaum durch traditionelle Praktiken gebunden waren. Fr die Unternehmer bedeutete das zunchst einen großen Vorteil, da hierdurch die innerbetrieblichen Aushandlungsprozesse zu ihren Gunsten beeinflusst wurden. Doch in der hier untersuchten Zeitperiode kam es daneben auch zu immer deutlicheren Prozessen der Interessenkoordination aufseiten der Angestellten, die dafr die ffentlichkeit aktiv nutzten. Durch den Rckzug der Generation der Unternehmensgrnder und die Umwandlung der Unternehmen in Organisationen, in denen die Funktionen von Kapitalhaltern, Lenkung und Kontrolle zunehmend voneinander getrennt waren, traf diese Interessenkoordination auf eine weit weniger geschlossene und artikulierte Opposition der Arbeitnehmer als zu Zeiten der paternalistisch geprgten Grndergeneration.

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Zugleich blieben die franzçsischen Huser in starkem Maße auf der Verkaufsabteilung als konstitutiver Einheit aufgebaut. Die Organisation von Personal und Arbeit fand im Prinzip auf dieser unteren Stufe statt. Hierdurch entstanden bedeutende Freirume fr die Akteure auf einer mittleren Hierarchieebene. Das Element der Kontrolle, in einem solchen System von entscheidender Bedeutung, blieb gleichzeitig an den rayon als zentraler Einheit gebunden. Eines der letzten industrialisierten Lnder, in denen das Unternehmenskonzept der Warenhuser Fuß fasste, war Deutschland. Ungeachtet der verwirrenden, offiziell propagierten Grndungsdaten der Unternehmen, kann man erst etwa ab der Jahrhundertwende von der Entstehung einer wirklichen Warenhauslandschaft sprechen. Mittels zahlreicher Publikationen ber das franzçsische Vorbild, durch zahlreiche Reisen, gerade auch der spteren Warenhausgrnder, und nicht zuletzt durch die Pariser Weltausstellungen wurde die Idee der großen Pariser Huser in Deutschland bekannt. Doch mag auch die Geschftsidee fr die Warenhuser ein Transferobjekt gewesen sein, das von Frankreich nach Deutschland gelangte, die Kontexte, in die es adaptiert wurde, waren deutlich different. Arbeitsmarkt und Absatzmarkt, Bevçlkerungsstruktur und Verhandlungskultur unterschieden sich in beiden Gesellschaften grundlegend. Die relativ geringe Kaufkraft des Berliner Marktes im Gegensatz zu Paris und die dezentrale Struktur Deutschlands veranlassten die deutschen Unternehmen in viel strkerem Maße als in Frankreich, ihre Huser auch in den Provinzstdten zu erçffnen und ein Filialnetz aufzubauen. Hierbei kamen ihnen die vorhandenen persçnlichen Netzwerke, aber auch die starke Stellung des Unternehmers entgegen, die zumindest eine symbolhafte Zentralisierung und Integration des Unternehmens befçrderte. Einzelne Personen sicherten so den Zusammenhalt einer dezentralen Struktur trotz weiter geographischer Streuung. Fast zwangslufig entstanden hierbei allerdings Freirume fr viele Angehçrige der mittleren Hierarchieebene, in erster Linie fr die Filialleiter. Anders allerdings als in Frankreich blieb in den deutschen Husern die Kontrolle im Wesentlichen eine zentralisierte und auf verschiedenen Ebenen ausdifferenzierte Funktion, die in den Hnden der Unternehmer selbst zusammengefasst wurde. Das komplexe System von Rechnungswesen und Buchfhrung bildete somit eine Klammer um die ußerst heterogenen Strukturen der Huser. Trotz aller Unterschiede auf einer strukturellen Ebene von Kapitalbesitz, Unternehmensgrçßen, Filialnetzen oder der Rolle der Unternehmer verweisen beide Fallgruppen auf die Bedeutung einer systemischen Rationalisierung in beiden Lndern. Hierdurch wiesen deutsche und franzçsische Warenhuser nicht nur untereinander hnlichkeiten auf, eine solche Situation lsst sich auch in Analogie zur Situation in den zuvor analysierten chemischen Unternehmen setzen. Die Funktion systemischer Kontrolle gewann in weiten Teilen der Wirtschaftsunternehmen eine hervorgehobene Bedeutung und veran272

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lasste auch unternehmensintern entsprechende Reflexionsprozesse. Dabei kam auch in diesen beginnenden berlegungen den Warenhusern eine Motorfunktion zu. Standen andere Unternehmen aufgrund innovativer Produkte oder technischer Zusammenhnge im çffentlichen Interesse, so war das Warenhaus die erste Unternehmensform, die explizit wegen ihrer betrieblichen Organisationsform betrachtet wurde. Hiervon zeugen die zahlreichen Publikationen, die das Warenhaus nicht nur als Ort einer neuen Konsumkultur, sondern auch als Meilenstein in der Entwicklung der Unternehmensorganisation sahen.1 Solche neuen unternehmerischen Dynamiken lieferten unter anderem den Anstoß zur frhen Entwicklung der Buchfhrungsmethoden an den deutschen Handelshochschulen. Die herausragende Rolle der Buchfhrungsmethoden in den deutschen Husern hatte etwa ihren Anteil an der akzentuierten Bedeutung, die das Rechnungswesen in der Konstruktion der deutschen Betriebswirtschaftslehre in den Jahren nach der Jahrhundertwende genommen hat.2 ber persçnliche Kontakte, aber auch durch entsprechende Fachpublikationen hatten die Wissenschaftler an den neuen Handelshochschulen aktiven Anteil an der Entwicklung der Kontrollsysteme in den neuen, teils hochgradig dezentralisierten deutschen Warenhausunternehmen. Auch eine Vielzahl staatlicher Gesetzesinitiativen ging von der çffentlichen Wahrnehmung der Situation in den Warenhusern aus. Ein Beispiel hierfr bieten etwa die Diskussionen um Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz, eine Debatte, die sich in Deutschland wie auch in Frankreich schnell der Broarbeit,3 daneben aber gerade der Angestelltenarbeit im Warenhaus zuwandte. Dies hatte seine Grnde auch darin, dass die Trgerschichten des Hygienediskurses weitgehend mit der urban-brgerlichen Klientel der Warenhuser deckungsgleich waren. In beiden Lndern ergab sich aus den Arbeitshygiene- und Arbeitssicherheitsdebatten ein Forderungskatalog gegenber dem Gesetzgeber. Die regulierenden Eingriffe des Staates verstanden sich als Reaktion auf diese Debatten. Die Warenhuser – in beiden Lndern im Zentrum çffentlicher Wahrnehmung – bekamen die Bedeutung solcher gesetzgeberischer Interventionen zu spren, wie etwa mit der 1900 eingerichteten loi des siges –, also dem gesetzlich verankerten Anrecht auf einen Sitzplatz fr die weiblichen Angestellten oder mit dem Verbot von ungesunden Arbeits- und Wohnrumlichkeiten fr die Angestellten in Deutschland.4

1 Neben den zahlreichen zitierten Werken mçgen als Belege die Artikelserien in den Zeitschriften Organisation und Mon Bureau gelten; Organisation, Nr. 14/1903; Nr. 15 ff./1906; Mon Bureau, Nr. 2/1911. 2 So whlte auch in Frankreich Delbousquet die Warenhuser als Fallbeispiel in seinem Handbuch zur Betriebsbuchfhrung; Delbousquet. 3 L’Hygi ne au bureau, in: Mon Bureau, Nr. 60/Mai 1914. 4 Lesselier, S. 113; GStA I Rep 120 BB VII 1 Nr. 4, Bd. 17.

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Die wissenschaftlichen Reflexionen des umfassenden Organisationsbegriffes der Warenhuser nahmen ihre eigenen Wege, die unabhngig waren von den technodeterministischen Bildern mit ihrem Nimbus von Modernitt, die gerade den Blick auf die Fertigungsindustrie bis heute prgen. Verwaltung, Teamorganisation, Personalmanagement und Motivationsanreize gehçrten zum organisatorischen Programm der Warenhuser ; die Erkenntnis solcher Probleme implizierte allerdings keineswegs immer hnliche Lçsungsstrategien. Unverkennbar war auch die Nhe solcher Problemstellungen zu den Theorien Henry Fayols und seinen Verwaltungsgrundstzen. Man kann mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Ideen Fayols weder von den patrons der grands magasins noch von den deutschen Warenhausunternehmern rezipiert wurden. Doch in umgekehrter Denkrichtung ist ein Austausch durchaus wahrscheinlich. Fayol ließ sich in seinen Theorien von beobachteten praktischen Verwaltungsproblemen leiten. Die grands magasins mit ihrem latenten Fhrungsproblem drften durchaus sein Interesse gefunden haben. Solche hybriden Zonen zwischen Handlungspraxis und einem sich konstituierenden Wissensfeld schrfen das Verstndnis fr die besondere Dynamik, in der sich die Fragen der Unternehmensorganisation entwickelt haben und verweisen auf den Dialog zwischen Unternehmen, Staat und Akteuren eines akademisch oder anderweit institutionalisierten Wissensdiskurses. Es ist an der Zeit, die Fragen, die sich aus den analysierten Fallstudien ergeben, aus einer anderen, neuen Perspektive zu stellen, und die Verzahnung unterschiedlicher Reflexionsebenen unternehmerischer Organisation in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rcken.

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III. Dynamische Wechselwirkungen zwischen Unternehmen, Gesellschaft, Wissenschaft und staatlicher Wirtschaftspolitik

Unternehmen – zumal die ins Unermessliche wachsenden Unternehmen der Zweiten Industrialisierung – standen vor einem immer wiederkehrenden Organisationsproblem. Sie waren in Diversifikations- und Expansionsprozessen begriffen, die hufig auch von einer weitgehenden strategischen Neuausrichtung begleitet wurden. Um ihre Dynamik und die Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen und politischen Umwelteinflssen besser verstehen zu kçnnen, sind die damit verbundenen innerbetrieblichen Prozesse in den vorangegangenen Fallstudien beschrieben worden. Der hier angelegte Organisationsbegriff geht entscheidend von der Organisation von Produktionsprozessen und deren technischen und sozialen Abhngigkeiten aus. Diese Kernelemente der Unternehmensorganisation gestalteten die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz und prgten die Arbeitserfahrungen der Unternehmensangehçrigen; die Organisation kristallisierte sich mithin auf einer Mikroebene. Doch die Bezugssysteme, die sich hinter dieser Kristallisation verbergen, die Einflsse und Lernprozesse, die Dynamiken und gesellschaftlichen Zwnge, in denen sich ein Unternehmen situierte, griffen weit ber lokale und betriebliche Kontexte hinaus. Das Unternehmen wurde ebenso sehr von seinen eigendynamischen Prozessen geprgt, wie es auch unter dem Einfluss von Staat und Gesellschaft stand.1 Diese Meso- und Makroebenen der Untersuchung weisen allerdings nicht zwangslufig den Weg zu nationalen Mustern. Der Versuch eines Perspektivwechsels, der aus der reinen Mikroperspektive herausfhrt, kann nicht in einem Vogelflug ber die nationalen Organisationsmuster enden; die Fragestellungen entwickeln sich vielmehr aus den konkreten Fallstudien. Die Organisationsanalyse der hier untersuchten Unternehmen stellt Fragen an Funktion und Interventionskraft einer bergeordneten, nationalen und staatlich-gesetzgeberischen Ebene. Die Antworten auf diese Fragen sind wiederum miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise wird das jeu d’chelles, das jedem Unternehmensvergleich zugrunde liegt, von der Ebene der Besonderheiten einzelner Flle gehoben. Auch fr den Vergleich der nationalen Umrahmungen der Organisationsprozesse verbietet sich also eine vollstndige Verallgemeinerung der Ergebnisse. Vielmehr geht es darum,

1 Zum Konzept der Mikropolitik im Unternehmen Welskopp, Mikropolitik, Jrgens.

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bestimmte Problemkomplexe in den Blick zu nehmen, deren Bedeutung sich aus der Analyse der Fallstudien ergibt.

1. Organisationswissenschaften – von der Evolutionsbiologie zur technischen Institution Die Verwissenschaftlichung des Organisationsbegriffes situierte sich im Kontext der Industrialisierung in einem direkten Austauschverhltnis mit der Neuformulierung von Arbeitsbeziehungen in den Großbetrieben. Diese Entwicklung reflektierte sich in den neuen Bedeutungszuschreibungen, die der Begriff in Deutschland und Frankreich in der Zeit der Zweiten Industrialisierung erfuhr. Die Entdeckung betriebswirtschaftlicher Problematiken spielt in dieser Entwicklung ebenso ihre Rolle wie eine breitere transdisziplinre Dynamik, durch die der Organisationsbegriff aus biologischen in soziale Kontexte bersetzt wurde. Organisation kommt vom griechischen organon (Werkzeug), hatte also zunchst einen eher technischen Bedeutungskontext. Relativ rasch erweiterte sich das Bedeutungsfeld dann in Richtung naturwissenschaftlicher und spter biologischer Kontexte. Organisation war in diesem Sinne das geordnete Zusammenspiel mehrerer Organe. Diese Bedeutungszuweisung herrschte bis weit in die zweite Hlfte des 19. Jahrhunderts vor und lsst sich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland als dominante Erklrung des Begriffes in den wichtigen Nachschlagewerken wiederfinden.2 Am Ende des Jahrhunderts – etwa in der untersuchten Phase – lud sich der Organisationsbegriff mit weiteren Bedeutungsebenen auf und integrierte eine soziale Dimension,3 so wie Meyers Konversationslexikon diesen Wandel 1896 explizit machte: „Organ – […] weil in allen Einrichtungen menschlicher Gemeinschaft ein gesundes Leben nur durch lebendige Wechselwirkung der Individuen gedeiht, so hat man den Ausdruck des Organisierens und der Organisation auf jedwede Art von socialer Einrichtung ausgedehnt, z. B. Organisation des Schulwesens, der Landesverteidigung usw., und indem man die Gliederung des Staates, eines Gemeinwesens, einer Kor2 Fr Frankreich „Organisation – I – Etat d’un corps organis; II – Action d’organiser, de mettre en tat de fonctionner, tat de ce qui est organis, dispos de faÅon pouvoir fonctionner Organis – qui est form d’une combinaison d’organe […] constitu, qui est dans certaines conditions sous le rapport de l’tat des organes,“ Artikel „Organisation“, in: Larousse. Grand Dictionnaire universel, Paris 1865 – 1876; fr Deutschland „Organisation – die Bildung, nach welcher ein Kçrper ein Organismus ist, daher organisch“, Artikel „Organisation“, in: Pierer’s Universallexikon der Vergangenheit und Gegenwart (oder Neuestes encyclopdisches Wçrterbuch der Wissenschaften, Knste und Gewerbe) Altenburg, Bd. 12, 1861, Nishni-Nowgorod – Pfeufer. 3 Bçckenfçrde, S. 587 ff. und S. 608 f.

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poration, einer Behçrde meist mit einem natrlichen Organismus vergleicht, bezeichnet man Gesetze, Statuten, Reglements usw. bisweilen als organisch, wenn sie sich auf die fr die Dauer bestimmte Einrichtung, Organisation eines solchen Gemeinwesens usw. erstrecken.“4

Diese Definition deutet schon den Brckenschlag an, ber den sich die Transmission der Begriffe vollzog. Die Analyse kçrperlicher Arbeit wurde ab der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Wissenschaft. Forscher aus Biologie und Medizin bemhten sich um eine systematische Analyse kçrperlicher Bewegungsablufe, durch welche die Arbeit in ihren einzelnen Elementen beschreibbar gemacht werden sollte.5 Mit der Physiologie und der Organismusforschung wurden zwei Fachgebiete in den wissenschaftlichen Kanon integriert, die sich der bertragung von biologischen Erkenntnissen in soziale Zusammenhnge verschrieben hatten.6 Hierber entwickelte sich eine Adaption des Begriffes in einen sozioçkonomischen Kontext, ein Prozess, der gerade in Frankreich frh weit fortgeschritten war. Seit dem Werk von Louis Blanc zur organisation du travail,7 dem wohl ersten Beispiel systematischer Reflexion ber Fragen der Arbeitsorganisation, arbeiteten unterschiedliche Autoren immer wieder an Themen, bei denen der Begriff der Organisation in Bezug auf die systematische Durchfhrung eines produktiven Prozesses angewendet wurde.8 Dieser frhe Organisationsbegriff, der sich wesentlich auf kçrperliche Bewegungsablufe sttzte, gewann bis 1914 eine Leitbildfunktion fr den gesamten Organisationsdiskurs. Dies galt auch und insbesondere fr die Diskussion ber die Organisation der Unternehmen, indem dieser wissenschaftliche Begriff in das neu entstehende wissenschaftliche Feld der Betriebslehre, aber auch der entstehenden Wirtschaftswissenschaften adaptiert wurde. Bis zum Krieg finden sich immer wieder Anklnge an die Analogien zwischen der Organisation der Unternehmen und einer „organischen“, also natrlich angelegten kçrperlichen Arbeit.9 Hierin liegt das wesentliche Erklrungsmoment fr die Vermittlung zwischen zwei Bedeutungspolen: Einem kçrperlich-biologischen Organismusbegriff einerseits und andererseits der 4 Brockhaus Konversationslexikon, Leipzig, 14. Auflage, Bd. 12 Morea – Percke, 1894. Etwa zeitgleich in Meyers Konversationslexikon: „Organisation – […] der Begriff wird auch bertragen auf Gesellschaftskçrper (Staat, Heer, Korporation, Gesellschaft etc.) und umfaßt sodann alle die Einrichtungen, die zum Bestehen, zur Fortentwicklung eines solchen Kçrpers und zur Erreichung seiner Zwecke getroffen worden sind.“ Meyers Konversationslexikon, 5. Auflage, Leipzig-Wien, Bd. 13, 1896, Nordseekanal – Politesse. 5 Vatin, Travail, S. 23 ff. 6 Sarasin/Tanner, S. 30 ff. Interessanterweise ist dies auch genau der Punkt, an dem Niklas Luhmann seinen Organisationsbegriff als Mittler zwischen Interaktionen und Gesellschaften ansetzen lsst; Luhmann, S. 16. 7 Blanc. 8 Besonders Le Play. 9 Bçckenfçrde, S. 612.

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Organisation als Grundprinzip einer mechanisierten Arbeit, die sich in ihrem Ideal immer weiter von individuell kçrperlichen Arbeitsvorstellungen entfernten und dafr administrativ-technische Zusammenhnge in den Vordergrund stellte. Die Organisation von Arbeit wurde zu einem Ziel, das die individuelle und physiologisch erfasste Arbeit in einer geradezu mechanischen Logik miteinander verband und dadurch systematisierte. So drckte Grull seine Auffassung des Begriffes wie folgt aus: „Organisieren heißt, die zur Durchfhrung gegebener Arbeiten nçtigen Personen und Hilfsmittel zu einem solchen planmßigen Zusammenwirken zu bringen, dass die Arbeiten laufend sachgemß und betriebssicher ausgefhrt werden.“10

Der Nimbus des Begriffes, also die optimistische Vision, eine grçßtmçgliche Effektivitt durch eine quasi mechanische Zuordnung von Personen und Werkzeugen zu erreichen, gehçrte also noch zum frhen betriebswissenschaftlichen Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts.11 Daraus wurde wiederum ein Konzept mit erheblicher Breitenwirkung, das gleichzeitig auf die Industrialisierungsprozesse am Ende des 19. Jahrhunderts rckprojiziert wurde. Die zuvor betrachteten Fallstudien spiegeln die progressiven Konnotationen eines solchen Organisationsbegriffes fr Konzepte unternehmerischer Modernisierung wider. Das abstrakte Bild unternehmerischer Organisation konkretisierte sich etwa in den mechanistischen Bildern, die die Warenhuser vom Verkaufsprozess gaben; das Warenhaus als Rderwerk, aber auch als eine auf zahlreichen Erfindungen beruhende Maschinerie spielte im populren Imaginarium eine wichtige Rolle. Die Kombination menschlicher und mechanischer Ablufe machte es zu einem Idealbild betrieblicher Organisation. Dies galt auch fr die Neuentwicklungen des Rechnungswesens. Durch die buchhalterische Erfassung der einzelnen Mitarbeiter etwa passte sich ein Unternehmen wie Bayer in einen sozialpolitischen Diskurs ein, der in der verwissenschaftlichten Organisation ein Mittel zur Lçsung der sozialen Frage sah. Gerade die deutsche Diskussion favorisierte eine Kontrolle des Unternehmens durch die Buchfhrung. Obwohl die Techniken dieser Verwaltungsform bis 1900 im Prinzip traditionell blieben,12 wurde ihr nun eine neue, emblematische Bedeutung zugesprochen. Mehr und mehr wandelte sie sich vom Rechnungskontrollwesen zu einem ganzheitlichen Informationssystem, das – idealtypisch gesprochen – jede Bewegung im Unternehmen in Geldeinheiten ausdrcken und damit kontrollierbar machen sollte. Die vernderte Wahrnehmung der Bedeutung von Kontrollmechanismen war dabei eng verbunden 10 Grull, S. 12. 11 Bçckenfçrde hebt die Bedeutung des Organisationsbegriffes gerade auch fr die staatlichen und juristischen Diskussionen dieser Zeit hervor; Bçckenfçrde, S. 620 ff. 12 Schweitzer/Wagner, S. 55.

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mit der Beobachtung der neuen Dienstleistungsunternehmen – neben Banken und Versicherungen auch und gerade die Warenhuser –, die aus der Kontrolle von Warenstrçmen ein generalisiertes Prinzip des Nachhaltens betrieblicher Vorgnge machten.13 Durch dieses akzentuierte Interesse rckten die einschlgigen technischen Weiterentwicklungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Buchfhrung und Rechnungswesen wurden nicht zuletzt hierdurch zu den ersten, systematisch unterrichteten und erforschten Gebieten der neu entstehenden Handelshochschulen, in denen sich auch die ersten großen Namen der neuen Betriebswirtschaftslehre wie Heinrich Niklisch hervortaten.14 Gerade bei diesen neuen Konzepten blieb die Vorstellung eines Kontrollsystems als Gerst eines umfassenden Organisationsentwurfes weiterhin das leitende Interesse.15 In den Jahren bis zum Krieg verbreitete sich die Einsicht, „dass Fehler, die eine Stelle macht, durch den Geschftsgang selbst von mindestens einer anderen Stelle entdeckt werden mssen.“16 Hinzu kam die beschleunigende Wirkung der Gesetzgebung, die durch die Verordnungen des Brgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 erstmals eine einheitliche Form der Betriebskostenrechnung verankerte, ohne dass die akademische Ausbildung der Buchhalter bis zu diesem Zeitpunkt schon einen fertigen Lçsungskatalog fr solche gesetzlichen Anforderungen htte anbieten kçnnen.17 Diese immer wichtiger werdenden Diskussionen ber Techniken und Wirkungen der Buchhaltung griffen von Deutschland nach Frankreich ber, wo sich eine Diskussion ber die zentrale Wirkung der Buchhaltung fr die Steuerung von Unternehmen in den Jahren unmittelbar vor 1914 ebenfalls etablierte.18 Whrend in Deutschland die Vorstellung von einer rein abstrakten Allokation der Produktionsfaktoren und deren Lenkung durch die Unternehmensfhrung Raum griff,19 bewies sich in Frankreich allerdings die stark physiologische Reprsentation des Arbeitsbegriffes abseits einer çkonomischen Logik als wichtige Determinante.20 So beschreibt Paul Renaud in der franzçsischen Economie Industrielle neben den Vorteilen der Buchhaltung 13 Damit erlangten die Warenhuser Vorbildcharakter im Verhltnis zu einer Industrie, in der die neuen Kontrollmechanismen noch nicht besonders weit ausgebaut waren, zumindest im Vergleich mit den großen US-amerikanischen Firmen der Jahrhundertwende; Dornseifer, S. 71. 14 Greiner, S. 53 f. 15 „Es ist eine erfreuliche Tatsache, dass gegenwrtig die gesamte Industrie und den Handel ein frischer Zug von Organisation oder besser gesagt Reorganisation durchweht, und berall in den Fabriken und Unternehmungen findet man ein tatkrftiges Bemhen nach Organisation und Verbesserung des Arbeitsverfahrens, welches durch die segenvolle Aufklrung berufener Fachbltter eifrigst untersttzt wird.“ „Kalkulation und Buchhaltung in Fabrikbetrieben“, in: Organisation, Nr. 24/14.12.1906. 16 Grull, S. 12. 17 Schweitzer/Wagner, S. 55. 18 Haendel, Frais, S. 7 ff. 19 Chandler/Daems, Administrative Coordination, S. 33. 20 Vatin, Arbeit, S. 351.

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fr die Betriebsrechnung ihre disziplinierende Wirkung: „Auch wenn diese berwachung nicht peinlich genau ist, so hat doch der Arbeiter das Gefhl, unter einer konstanten Kontrolle zu stehen, die Bummelei und Zeitverluste nahezu automatisch ausschließt.“21 Machten die franzçsischen Beobachter das Unternehmen hufig genug zu einem gedanklichen Experimentierfeld der psychologisierenden Analyse der Gesellschaft, so herrschte in der frhen wirtschaftlichen Literatur Deutschlands ein eher geschlossenes Bild des Unternehmens vor. In der idealtypischen Produktionsorganisation dieser beginnenden çkonomischen Schule stand einem klar definierten Input ein ebenso klar definiertes Produkt gegenber. Die Vision der Organisation war auf eine prozessorientierte Vermeidung von Fehlern ausgerichtet. Auch die frhen Organisationslehrbcher reflektieren diese Vorstellung des Unternehmens, das durch die Vision eines Zusammenspiels der verschiedenen Glieder, weniger durch die konkrete Einteilung der Arbeit oder durch die Struktur einer einzelnen Abteilung gekennzeichnet war.22

Abbildung 11: Titelblatt der deutschen Zeitschrift Organisation, 1900.

21 Renaud. 22 Ballewski; Johanning; Haushofer; Meyenberg.

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Leitbilder einer solchen Organisation wurden im deutschen Kontext oft genug mechanischen Bildern entlehnt, hnlich wie dies durch das Titelbild der Zeitschrift „Organisation“ zum Ausdruck kommt. In einer Hand vereinen sich die verschiedenen Transmissionsriemen des Unternehmens, eine einzelne Person leitet ein Ensemble verschiedener betrieblicher Krfte und gibt ihnen die Richtung vor. Hierin zeigt sich ebenso unvermittelt naiv wie sinnbildlich die Vision einer mechanischen Organisation. Die intendierte Stabilitt, die hinter einer solchen Konzeption der Organisation stand, beruhte in erster Linie auf einer entpersonalisierten Vorstellung des Unternehmens. Diese Tendenzen gingen mit den zunehmenden Mechanisierungsprozessen einher, aber auch mit der Entpersonalisierung des Kapitalbesitzes, einem Vorgang, der fr viele Unternehmen der zweiten Industrialisierung charakteristisch war.23 Die zunehmende Grndung von Aktiengesellschaften und der damit verbundene Einfluss auf die Lenkungsstrukturen vollzogen sich parallel zu der Umformung der Produktionsverhltnisse. So kommt Wiedenfeld zur Auffassung: „nicht nur die rechtliche Unternehmerpersçnlichkeit habe sich in die Masse der Aktionre verflchtigt, sondern auch die in diesen Werken ttigen Menschen seien gewissermaßen Maschinen geworden, die nur das Dividendeninteresse ihrer Auftraggeber verfolgten.“24

Solche Tendenzen der Industrie wurden von vielen Beobachtern offen kritisiert. Allerdings verkannte diese Entpersonalisierungsthese im Gegenzug das Aufkommen einer neuen Kategorie betrieblicher Akteure: der Verwaltungsangestellten.25 Die große Entscheidungsfreiheit, die dieser Gruppe zumindest in Deutschland innerhalb eines brokratisierten Unternehmens zuerkannt wurde, ist durch die Arbeiten Jrgen Kockas hinlnglich bekannt.26 Um die Jahrhundertwende nahmen allerdings nur wenige Beobachter wahr, dass sich der Aufstieg neuer sozialer Gruppen wie der Angestellten und die Entpersonalisierung des Unternehmenskapitals gegenseitig bedingten. Anders war dies in der franzçsischen Perspektive auf das Unternehmen. Schon durch die Figur des Unternehmers – in seiner Etymologie als Vaterfigur und soziale Bezugsperson im Unternehmen vorgestellt27 – war die persçnliche Dimension weit mehr vorhanden. Auch wenn der franzçsische Begriff des patron kaum die çkonomische Schlsselfunktion widerspiegelte, die dieser Institution zukam, verwiesen die Definitionen hufig auf die lange Traditionslinie, die den patron als eine Kerninstitution der „romanischen Kultur“

23 24 25 26 27

Horn/Kocka. Wiedenfeld, S. 9. Lederer, Angestelltenschaft, S. 51. Kocka, Angestellte. Reid, Le nom. Kolboom, Patron, S. 225.

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sah.28 Gleichzeitig verwurzelten sie das Bild einer paternalistischen Beziehung zwischen dem Unternehmensleiter und seinen Angestellten tief in den Sprachgebrauch. Das Unternehmen hing von einer Unternehmerpersçnlichkeit ab, die seine Richtung bestimmte. Die Vorstellung des Unternehmens als zu schreibenden Text war ein hufig und gern gewhltes Motiv einiger franzçsischer Publizisten.29 In diesem Sinne wurde der Unternehmer zum Autor eines Systems, die Organisationskonzeption des Unternehmens bewegte sich hin zu einem psychologisierenden Diskurs, der sich den technodeterminierten deutschen Modellen tendenziell entgegenstellte.30 Diese idealtypische Vorstellung des Unternehmens als personelles Beziehungsgeflecht passte zu der oftmals zu beobachtenden Langlebigkeit familirer Strukturen in vielen franzçsischen Unternehmen. Doch gerade der latente Zerfall der Unternehmenskonzeption in ein autoritr-personelles Beziehungsgeflecht einerseits und ein wirtschaftliches Produktionssystem andererseits ließ in der franzçsischen Diskussion die Frage nach einer integrativen Organisationsform wieder an Bedeutung gewinnen. So erschien es vielen Autoren entscheidend, die Akteure der vermittelnden Hierarchieebenen – in der produzierenden Industrie zumeist der Werksmeister – stark zu machen.31 Diese konzeptionell wichtige Stellung, die dem Leiter einer solchen produktiven Einheit zuerkannt wurde, machte ihn hufig zur Zielscheibe fr Angriffe der Belegschaft, die seine Handlungsspielrume als unberechenbar groß empfand. So beschwerte sich etwa Laronze: „Es sind nur noch die zwischengeordneten Hierarchiestufen, die in den Fabriken den Ton angeben: die Ingenieure, die Abteilungsleiter, die Werksmeister. Wem gegenber kann man sich aber noch ber ihr Verhalten beschweren? ber die unzureichenden Gehlter? ber die schlechten Arbeitsbedingungen? ber die mangelhaften Vorsichtsmaßnahmen gegenber den Gefahren der Produktion?“32

Und whrend sich in der deutschen Diskussion ber Art und Funktion der Unternehmensorganisation ein systemisches Bild der Koordination durch die Einrichtung von Zentralbros und berwachenden Institutionen durchsetz-

28 Gemeint ist der „patron, au sens romain et chrtien de ce mot“; Artikel „Patronat“, in: Dictionnaire encyclopdique et biographique de l’industrie et des Arts industriels, par E.-O. Lami, Bd. VII, Paris 1887. 29 So teilte Haendel das Handelsgeschft in drei „Kapitel“ ein: den Kauf, den Verkauf und die Buchfhrung; Haendel, La pratique, S. 12. 30 „Patrons“, in: Mon Bureau, Nr. 1/Januar1910; „L’organisation est l’oeuvre d’un seul“, in: Mon Bureau, Nr. 1/Januar 1912. 31 „Es ist also das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in dem sich das Handlungsfeld der Werksmeister vernderte und zu einem eigenen Reich wurde,“ Lefebvre, S. 60; Richard, S. 20; Delagrange, S. 1 ff. 32 Laronze, S. 27.

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te,33 blieb die franzçsische Diskussion weitgehend auf die Weisungsprobleme der produktiven Gruppen und der Reflexion hierarchischer Beziehungen fixiert. Autoritt und Psychologie blieben damit lange Zeit beherrschende Elemente der Diskussion, die sich auch in der spteren Konzeption von Henri Fayol als dominantes Element wiederfinden lassen. Fr Fayol machte die Fhigkeit des richtigen Administrierens eines Produktionsvorganges die Hauptqualifikation eines Organisators in einem Unternehmen aus. Es war nicht eine reine Verfgung ber eine in ihrer Typologie vollkommen festgelegte Arbeit, sondern die psychologisch reflektierte Anleitung einer produktiven Gruppe. Der Begriff der Organisation hatte vor 1890 im wirtschaftlichen Zusammenhang keine klar umrissene Bedeutung. Vielmehr entwickelte er sich erst in der hier besprochenen Zeitspanne der zweiten Industrialisierung in Richtung eines betriebswirtschaftlichen Sinnzusammenhanges. Dabei wird deutlich, in welchem Maße diskursive Differenzen zu einem strukturellen Ungleichgewicht in der Wahrnehmung des Unternehmens fhrten. Die Fallstudien aus der chemischen Industrie und der Warenhausbranche reflektieren immer wieder die Beziehung von populren Vorstellungen der Organisation und betrieblicher Praxis. Diese verschiedenen Gewichtungen haben vehemente Konsequenzen hinsichtlich der unterschiedlichen Pfade der Verwissenschaftlichung in Deutschland und Frankreich, aber auch hinsichtlich des Verhltnisses zu neuen Managementlehren aus den USA, die in beiden Lndern lange Zeit auf wenig fruchtbaren Boden fielen.

2. Die Konstituierung der Organisationseinheiten – Unternehmen, Branchen, kollektive Handlungsoptionen Eine Vielzahl von Interpretationsmustern des Unternehmens als wirtschaftlicher Kerninstitution haben sich gerade innerhalb des hier behandelten Untersuchungszeitraums herausgebildet. Sowohl die positive Interpretation der beginnenden nationalçkonomischen Schule als auch die negativen Lesarten der marxistischen Kapitalismuskritik oder des Misstrauens gegenber dem Unternehmen als Ausgangspunkt einer massenpsychologischen Agitation34 wurden in der Zeit um die Jahrhundertwende zu gngigen Interpretationsmustern. All diese Deutungen begrenzten mehr oder weniger stark den unternehmerischen Handlungsrahmen,35 der durch gesellschaftliche Debat33 „Zweck und Einrichtung eines Zentralbureaus in Großbetrieben“, in: Organisation, Nr. 17/ 1903; „Richtige Arbeitsdisposition, ein wichtiger Faktor des finanziellen Erfolges“, in: Organisation, Nr. 22/1907. 34 Hier vor allem Le Bon, Paris 1895. 35 Fridenson, Liens, S. 3.

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ten und die diskursive Konstruktion des Unternehmens eingeschrnkt wurde. Die nationalen Unterschiede wechselseitiger Wahrnehmung und sozialer Dynamiken sollen in den nchsten Abschnitten untersucht werden.

2.1. Grenzen der Unternehmen – Wahrnehmungsstile Nach der Niederlage der franzçsischen Armee im Krieg von 1870/71 war das Gefhl genereller Inferioritt gegenber dem deutschen Nachbarn verbreitet.36 Immer wieder insistierten Zeitgenossen auf der langsameren industriellen Entwicklung Frankreichs, Kommentatoren stellten fest, dass Frankreich durch seine relative Rckstndigkeit den Kontakt zu verlieren drohte.37 Die Wahrnehmung der produzierenden Arbeit und der Schaffung von Mehrwert wurde zu einem Leitmotiv franzçsischer Publizistik der beginnenden wie auch der gefestigten dritten Republik und der Prozess wirtschaftlichen Aufholens gewann einen nationalen Projektcharakter. War allerdings die Funktion des Unternehmens als Wertschçpfer eine gedankliche Konfiguration, die allen industrialisierten Gesellschaften gemein war, so galt dies nicht fr die Vorstellung des inneren Aufbaus solcher Unternehmen. Im franzçsischen wirtschaftlichen Diskurs war die produktive „Keimzelle“, anders gesagt das atelier, lange Zeit von besonderer Bedeutung fr die berlegungen zur Produktionsorganisation. Diese Suche nach einer ursprnglichen Idee der Arbeitsorganisation in den kleinstmçglichen Einheiten der Produktion stand in Frankreich in einer langen Tradition38 und beeinflusste nachhaltig die Wahrnehmung der Morphologie des Unternehmens, wie dies Delagrange zusammenfasste: „Der Aufbau des Ateliers, zusammen mit der Ausbildung seines Personals und seiner materiellen Ausstattung ist die wichtigste Angelegenheit in jedem industriellen Produktionssystem.“39 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine Wahrnehmung und ein Konzept von Produktion und Unternehmen wie es etwa fr die Texte von Frdric Le Play charakteristisch war.40 Was ergab sich also aus einer solchen Perspektive auf das Unternehmen? Zum Ersten wurde eben jenen Unternehmen, die nach einem solchen Ateliersprinzip aufgebaut waren – also neben den traditionellen Textilindustrien auch die Fertigungsindustrien des Metallsektors –, besondere Aufmerksamkeit zuteil. Der Einsatz von Maschinen in mechanischen Transformationsprozessen wurde in Analogie zu einem neuen physiologischen Arbeitsbild 36 Fçllmer, Verteidigung, S. 72 f.; Mitchell, Divided. 37 Bourloton. 38 Hinzuweisen wre hier auf die frhen Ideen der Zeitschrift „L’Atelier“ und von Louis Blanc zur Organisation der Arbeit als Grundlagen der ersten professionellen Organisationen; Haupt, Frankreich, S. 46. 39 Delagrange, S. 1 f. 40 Le Play.

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gesehen, eine Korrelation, die sich seit dem Jahrhundertbeginn in den franzçsischen Beitrgen zur Frage der Organisation von Unternehmen herauskristallisiert hatte.41 Dies war ein Grund dafr, dass etwa die Metallindustrie lange Zeit die çffentliche Diskussion in Frankreich dominierte, whrend die chemische Industrie in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts nicht den gleichen Stellenwert hatte. Die Produktionseinteilung in der Chemiebranche erschloss sich dem Beobachter durch ihre hohe Abstraktion in weit geringerem Maße. Die zweite Konsequenz aus dieser Fixierung auf das atelier war die Betonung der sozialen Beziehungen im Inneren der Produktionsgruppen. Seit Frdric Le Play wurde dem Leiter der produktiven Einheiten nicht mehr allein eine technische Funktion, sondern auch eine soziale Rolle zugeschrieben, die dann von der Position des Meisters auf den Ingenieur bertragen wurde.42 Aus dieser Tradition heraus wurden die Fhigkeiten des Unternehmers in entscheidendem Maße auch als Sozialkompetenz formuliert. Ein gut funktionierendes Unternehmen war nach diesem Leitbild eine kleine Struktur, die in personalisierten oder doch familiren Formen gefhrt wurde.43 Ein solches Bild konvergierte mit einem konservativ-katholischen Diskurs, der in den Jahren nach 1870 an Bedeutung gewonnen hatte und die Hauptsttze einer franzçsischen Form des industriellen Paternalismus war.44 Damit bewegte sich diese Perspektive auf das Unternehmen teilweise auf einem parallelen Pfad zu den katholischen, ultramontanen Formen des franzçsischen Konservatismus, der nach einem korporatistischen Modell zur Sicherung des sozialen Friedens suchte. Benoist spricht von der „pacification par l’organisation“, die in der Lage sei, die Antagonismen einer doppelten Revolution im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu besiegen und die verschiedenen Interessen miteinander zu verbinden.45 Die konsequente Psychologisierung, die eine solche Personalisierung des Unternehmertums mit sich brachte, entsprach dem allgemeineren Trend zur Entdeckung der Psychologie der Massen.46 Auch der Betrieb wurde im frhen psychologischen Diskurs als eine solche Massenansammlung gesehen.47 Das wachsende Unternehmen wurde damit auch zu einer wachsenden Bedrohung oder doch zu einem Bereich, der spezieller Kontrolle und kritischer Beobachtung bedurfte. Die Perspektive beschrnkte sich dabei auf die Unternehmen in Paris und wenige traditionelle Industriezentren des Landes, wodurch zugleich auch die Leitfunktion bestimmter Schlsselsektoren untermauert wurde. Ein Großteil 41 Vatin, Le travail, S. 23 ff.; „Zwischen der menschlichen Arbeit und der industriellen Mechanik bestand ein enger Zusammenhang: der Begriff der Arbeit,“ in: ders., Arbeit, S. 351. 42 Cheysson. 43 Delagrange, S. 2. 44 Pitt. 45 Benoist, S. 26; Palmade, S. 166. 46 Le Bon, S. 3. 47 Haendel, Vente, S. 6 ff.

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der franzçsischen Unternehmen blieb in den kritischen gesellschaftlichen Debatten außen vor, eine Tatsache, fr die PCAC als Beispiel genommen werden kann. Dies ließ dem franzçsischen patron in der Provinz große Freirume in der Gestaltung seines Unternehmens. Die Grenzgnger der Zeit nach 1890 versuchten ein solches Bild von der franzçsischen Industrie aus der Außenperspektive zu rejustieren. Die franzçsische Reiseliteratur der Jahrhundertwende stellte dem Unternehmen als Keimzelle der Produktion die deutsche Tradition eines idealtypischen Bildes des Unternehmens als einem ganzheitlichen System gegenber, in dem nicht nur die Produktion, sondern auch Lenkung, Kapital und brokratische Verwaltung konstitutiv waren. Einer der bekanntesten Deutschlandreisenden, Jules Huret, kam zu dem Schluss, dass die neuen Verkaufsabteilungen integral in der Organisation deutscher Unternehmen mitgedacht waren und keine Zusatzfunktion darstellten.48 Darber hinaus hielt er aber auch den Einfluss staatlich administrativer Kulturen fr den Erfolg des deutschen Unternehmensmodells fr prgend: „Der Erfolg der Industrie […] begrndet sich aus dem Organisationsgeist der Preußen, aus ihrem Ordnungssinn und vor allem aus ihrem Durchhaltevermçgen.“49 Der dauernde Rekurs auf diese Motive der preußischen Ordnungstugenden schrieben sich in einen viel breiteren Kontext kulturkritischer Selbstreflexion im Frankreich der Jahrhundertwende ein. Dass Unternehmen als çkonomische Kernsysteme einer kapitalistischen Gesellschaft einem Prozess stndiger Neuorganisation unterliegen, erscheint aus heutiger Perspektive weitgehend selbstverstndlich. Andererseits ist es nicht notwendigerweise das Unternehmen, das im Mittelpunkt eines Organisationsdiskurses steht; andere Entitten fr die Reprsentation des Produktionsprozesses wren vorstellbar und konkurrierten im çffentlichen Bewusstsein der Jahrhundertwende mit dem Unternehmen. Wie am franzçsischen Beispiel dargestellt, wurde das Kernelement produktiver Organisation hufig unterhalb der Unternehmensebene ausgemacht. Der Organisation des ateliers wurde in der Zeit vor 1914 in Frankreich mehr Aufmerksamkeit zuteil als einer umfassenden Konzeption der Unternehmensorganisation. Auch in Deutschland setzten die engen Beziehungen und Verschrnkungen zwischen staatlicher und wirtschaftlicher Sphre ein Gegenbild zu einem rein unternehmensinternen Organisationsbegriff. ber verschiedene Akteursgruppen suchten staatliche und unternehmerische Sphre lange Zeit aufeinander Einfluss zu nehmen, um politische Strçmungen dauerhaft auf die nationalçkonomischen Interessen, oft aber auch nur auf die Interessen bestimmter sozialer Fraktionen abzustimmen. Doch gibt es berhaupt noch eine Verbindung zwischen einem Organisationsbegriff, der auf staatlich-unternehmerischer Interessenkoordination aufbaut und der Organisation als Aufbauelement der Unternehmen? Der Schlssel zur Verbindung dieser unter48 Huret, Hambourg, S. 257. 49 Huret, Rhin, S. 119.

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schiedlichen Organisationskonzepte lag in der zunehmenden Koordination und Organisation auf Branchenebene. Im Begriff der Branche konkurrierte ein interner Organisationsbereich des Unternehmens mit einer externen Einheit. So hatten etwa die Bemhungen Carl Duisbergs oder Adrien Badins um die Koordination der Interessen ihrer Branche erhebliche Konsequenzen fr ihr Engagement innerhalb der Organisation der eigenen Unternehmen. Es lohnt sich hier einen Blick auf die konvergierenden und divergierenden Organisationsvorstellungen zwischen Unternehmen und Branche zu werfen. Nach Chandler erreichten die Unternehmen innerhalb des festen Branchenrahmens eine zunehmende Integration durch Diversifikation und Ausweitung ihrer Geschftsaktivitten.50 Doch eine solche Branche ist an sich bereits ein Konstrukt, das sich aus gemeinsamen technologischen Entwicklungen, hnlichen Interessen gegenber den staatlichen Institutionen und einer gemeinsamen sozialen Identitt der verschiedenen Akteure zusammensetzt. Stellt ein solcher Zusammenhang die richtige Reflexionsebene fr gemeinsame Organisationsstrukturen dar? Die Geschichte der Entwicklung hin zu einem Branchenbewusstsein der chemischen Industrie liefert ein Beispiel, das die Schwierigkeiten einer solchen gedanklichen Konstruktion belegt. Die chemische Industrie, ob nun in der anorganischen Form wie bei Pechiney oder der organischen Produktion von Bayer, hatte eine große Zahl gemeinsame technische Determinanten. Hierzu gehçrte der relativ hohe Wasser- und Rohstoffbedarf, der die geographische Lage im Sinne der klassischen Standortfaktoren bestimmte, eine hohe Investitionsrate fr die erforderlichen Maschinen und Anlagen und spezifische Schwierigkeiten in der Personalauswahl. Hinzu kam die hohe Abhngigkeit von chemischen Forschungslaboratorien, sei es an den Universitten, sei es in den Unternehmen selbst.51 Grob gesagt lassen sich die gemeinsamen Charakteristika der chemischen Produktion durch Schumpeters Innovationsmodell beschreiben: Der Entwicklung eines vçllig neuen Gutes bzw. der Weiterentwicklung eines alten folgte die Ausarbeitung der optimalen Produktionsmethode. Hierauf wurde der Markt sondiert und in Besitz genommen. Durch die Erschließung der entsprechenden Rohstoffmrkte und der Eingliederung und Abstimmung der Unternehmensorganisation wurde dieser aus fnf Schritten bestehende Prozess zu einem Abschluss gebracht.52 In wohl kaum einem anderen Industriebereich wurde dieser idealtypische Prozess in hnlicher Form verwirklicht wie in den chemischen Industrien.53 Die deutschen Unternehmen der Farbenindustrie standen zunchst in außerordentlich hartem Wettbewerb. Nachdem die ersten starken Wachs50 51 52 53

Chandler, Scale, S. 13. Marsch, Zwischen Wissenschaft, S. 24 ff. Schumpeter, Theorie, S. 99 ff. Strigel, S. 8 ff.

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tumsimpulse der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten Teerfarbenproduktion verflogen waren, stellte sich im Kontext der Rezession der achtziger Jahre schnell ein sehr starkes Konkurrenzverhalten der farbenproduzierenden Firmen ein. Diese Phase starker Konkurrenz wurde noch verschrft durch die Aufholjagd des „Latecomers“ Bayer.54 Doch mit der Aufschwungphase der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der zunehmend monopolartigen Marktposition der deutschen Farbenindustrie auf den internationalen Mrkten wuchs der Druck hin zu einer verstrkten Interessenkoordination. Die Geschichte der ab 1903 entstehenden Vorformen der IG Farben, dem Dreibund und der kleinen IG sollen hier nicht im Detail nachgezeichnet werden.55 Fr die hier beschriebene Entwicklung einer Branchenkonstituierung stellt diese Entwicklung lediglich einen Beleg dafr dar, dass sich das Interesse der Unternehmensverwaltungen zunehmend auch auf die Belange der Branche und eine Koordination der Unternehmen untereinander richtete. Gleichzeitig belegen die zahlreichen Angleichungen in den Verwaltungsinstrumenten der Unternehmen allerdings auch, dass diese Tendenz zur Interessenkoordination zwischen den Unternehmen keinen Widerspruch zur Zentralisierung der jeweiligen inneren Organisation der Unternehmen darstellen musste, sondern diese im Gegenteil hufig noch fçrderte. Die Farbenindustrie nahm in dieser Entwicklung keinesfalls einen Ausnahmestatus in der deutschen chemischen Industrie ein. Ihrer Koordination waren weitere Kartellbildungen, gerade auch im Bereich der anorganischen Chemie und vornehmlich in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorausgegangen,56 sodass die deutsche Chemiebranche um die Jahrhundertwende ein hçchst organisiertes Bild bot.57 Flankiert wurde diese Organisation von der Entstehung einer Vielzahl von Fachorganen, Zeitschriften, Vereinen und anderen Institutionen zur Interessenwahrung und -vermittlung.58 Im Gegensatz zur chemischen Industrie zeigt die Situation in der Warenhausbranche, dass ein Branchenbewusstsein fr die Unternehmen der zweiten Industrialisierung keinesfalls selbstverstndlich war. Zwar ließen sich die Unternehmen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich relativ einfach als geschlossene Gruppe beschreiben, konvergierten sie doch sowohl in ihrer Geschftsidee als auch in zahlreichen technischen Punkten. Doch dieses Bewusstsein hnlicher Strukturen und daher auch partiell kongruenter Interessenlagen fhrte nicht zwangslufig zu einer gemeinsamen Identitt. Das 54 55 56 57

Murmann, S. 147 ff. Plumpe, I.G. Farbenindustrie, S. 40 ff. Strigel; Witt, S. 202 – 218. Der Rapport des Credit Lyonnais geht davon aus, dass neben den nachprfbaren 24 eingetragenen Kartellen eine Zahl von bis zu sechzig weiteren Kartellen in der deutschen Chemiebranche bestanden; Archives Credit Lyonnais 137 AH 1. 58 So etwa der Verein zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands oder die Zeitschriften Chemische Industrie, Chemische Rundschau oder Chemie. Tages-Zeitung fr die gesamte chemische Industrie.

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Beispiel der deutschen Huser zeigt, dass eine sehr konkurrenzbetonte Phase unternehmerischer Entwicklung eine solche Koordination der verschiedenen Geschfte zunchst nicht zuließ. Erst durch den Druck von verschiedenen Seiten, zunchst von der Kundschaft und der Mittelstandsbewegung, in der Folge dann auch durch den Staat und die Gewerkschaften, kamen die Unternehmen in eine Situation, in der eine gemeinsame Koordination sinnvoll erschien. Mit der Formierung des „Verbandes deutscher Waaren- und Kaufhuser“ im Jahr 1903 als Folge der Einfhrung der Warenhaussteuer wurde ein gemeinsames Branchenbewusstsein verankert, auch wenn sich die Anstze zu einer Kartellierung nicht durchsetzten. So begrßte die Zeitschrift „Das Waarenhaus“ den Verband zunchst euphorisch, stellte aber einige Monate spter ernchtert fest: „Was uns damals vorgeschwebt, ist es nicht geworden und die Wirkung, die wir von ihm erhofften, kann nicht eintreten, weil diesem Verband viele der grçßten und vornehmsten Firmen fernbleiben werden.“59 Parallel hierzu wurden auch die Produktionsbetriebe angegliedert und die großen Warenhausunternehmen diversifiziert, die hierdurch ganz entscheidende Grçßenvorteile, wie etwa eine flexiblere Personalpolitik, erreichten.60 Dennoch unterschied sich die Koordination der Warenhausbranche fundamental von der der Farbenindustrie. Ließen sich im Fall der Farbenindustrie die jeweils Grçßten der Branche miteinander auf Verhandlungen ein, so waren es bei den Warenhusern die Kleinsten. Unter Fhrung von Oskar Tietz suchten sie ihre Marktmacht zu strken. Zumindest in der çffentlichen Debatte um die großen Wirtschaftsunternehmen kamen am Ende des Untersuchungszeitraumes neue Topoi auf, die hier nicht unerwhnt bleiben sollen: Die Vision einer kartellierten Wirtschaft zur Bndelung der nationalen Krfte. Der Grundsatz „Friede ernhrt, Unfriede verzehrt“61 wurde immer mehr auch zu einem nationalistischen Schlagwort in einer Zeit, in der sich ein Konflikt auf dem gesamten Kontinent abzuzeichnen begann. hnlich korporatistische Schlagworte propagierten vielfach die Koordination der Unternehmen untereinander. Es ist davon auszugehen, dass solche neuen Wahrnehmungsmuster die Entwicklung hin zu einer breitflchigen Interessenkoordination beschleunigte, wenn sich auch die unterliegenden wirtschaftlichen Dynamiken erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs selbst fundamental nderten.

59 Das Waarenhaus, Nr. 9/28. 2. 1903 und Nr. 28/18. 7.1903. 60 Fischer, Konzentration, S. 21. 61 Hammerbacher, S. 23.

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2.2. Konstituierung von kollektiver Aktion und Gewerkschaften In der Architektur der Organisationsprozesse, welche die unternehmensinternen Prozesse umrahmten und beeinflussten, stellte die Organisation der Arbeiter und die Entwicklung kollektiver Aktionsmechanismen durch gewerkschaftliche Vertretung der Arbeiter in gewisser Weise den Opponenten zur unternehmerischen Interessenkoordination dar. In der klassischen Darstellung der deutschen Industrialisierung ist die Entstehung der Gewerkschaften eine paralleles Narativ zur Entwicklung der großen Unternehmen.62 Zwar ist die Frage nach Handlungsspielrumen und wachsendem Einfluss einer solchen kollektiven Handlungsgruppe durchaus berechtigt, allerdings muss sie im internationalen Vergleich nuanciert werden. In Frankreich wie in Deutschland gab es im betrachteten Zeitraum Formen kollektiven Handelns, doch waren diese sehr unterschiedlich. Die Vision von Massengewerkschaften trifft auf Frankreich nicht im gleichen Maße zu wie auf Deutschland; und gerade in den hier untersuchten Fallstudien war eine konzertierte gewerkschaftliche Aktion selten festzustellen. Allerdings kann durch diese formell geringere Bedeutung des franzçsischen Gewerkschaftswesens noch nicht auf eine grundstzliche Schwche des Prinzips kollektiver Verhandlungsfhrung in Frankreich geschlossen werden. Das Verstndnis fr die Restriktionen, denen das franzçsische System im Vergleich zum deutschen unterlag, ist der erste Schritt Form und Bedeutung des „Drucks von unten“ zu verstehen, der in den franzçsischen Unternehmen mçglich war. Hierbei machten sich zwei Restriktionen besonders bemerkbar, die Verstndnis und Praxis kollektiver Aktion nachhaltig beeinflussten und die eng miteinander verknpft waren. Die eine lag in der Skepsis weiter Kreise der franzçsischen Elite gegenber den Aktionen der foules und deren Artikulationsformen. Stark beeinflusst von den verschiedenen Revolutionserfahrungen seit 1789 und ihren gewalthaften Exzessen zeigten sich viele Politiker und gesellschaftliche Vordenker hçchst zurckhaltend gegenber jeglicher Form kollektiver Interessenartikulation.63 Dieses Verstndnis fand seinen deutlichsten Ausdruck in den Anfngen der Synthese aus soziologischer und psychologischer Analyse und dem breiten Widerhall auf Gustave Le Bons psychologie des foules.64 Die Angst vor der Eigendynamik einer nicht mehr zu bndigenden Arbeiterschaft strkte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung die Positionen der Unternehmerseite. Ihre schrfste Auswirkung fanden solche Vorbehalte in dem nach der Revolution von 1848 verabschiedeten und bis 1864 gltigen Streikverbot fr die franzçsischen Arbeiter, das auch lange nach seiner Aufhebung die Verhaltensstile der Interessenorganisationen nachhaltig

62 Etwa Ritter, S. 151 ff.; Schçnhoven; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 335 ff. 63 Lequin, Monte, S. 434 ff. 64 Le Bon.

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beeinflusste.65 Hieraus ergaben sich bis zum Weltkrieg Schwierigkeiten fr die kollektive Interessenartikulation der Arbeiterbewegung. Der Streik, wohl das wirkungsmchtigste Druckmittel der Belegschaft, war bis zum Krieg mehr oder minder diskreditiert.66 Doch gerade hierin sahen einige der zeitgençssischen franzçsischen Autoren den entscheidenden Wettbewerbsvorteil von Industrie und Gewerbe in Frankreich und warnten vor einem hçheren Organisationsgrad der Arbeiterschaft.67 Hieraus folgte eine relative Strkung der ohnehin dezentralen Struktur in der franzçsischen Wirtschaft. Auch Formen kollektiver Interessenkoordination artikulierten sich hufig lokal und regional. Der oben beschriebenen Bedeutung der ateliers im Diskurs ber das Unternehmen entsprach auch ihre Rolle als Kernelement kollektiver Aushandlungsprozesse.68 Heinz-Gerhard Haupt beschreibt, wie sich die organisierten Arbeiter langsam und keineswegs linear von ihrer Keimzelle, den ateliers, und damit auch den petits patrons, also dem klein- und mittelstndischen Unternehmertum, emanzipierten.69 Die ersten chambres syndicales entlehnten nicht nur ihren Namen den frhen Unternehmerverbnden, eine Mitgliedschaft der Kleinunternehmer war sogar erwnscht. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es zu systematischen Ausschlssen der Unternehmer und zu einer horizontalen Trennung zwischen den Gruppeninteressen. Allerdings setzte sich bis zum Krieg in vielen Branchen das Bewusstsein eines vollstndigen Antagonismus der Interessen nicht durch.70 Nicht nur bei PCAC lassen sich solche historischen Entwicklungspfade und Blockaden im Sinne einer kollektiven Verhandlungsfhrung der Arbeiter erkennen. Auch und gerade die Entwicklung der chambre syndicale des employs de la rgion parisienne, also des Vertretungsorgans der Pariser Warenhausangestellten, deutete auf die zçgerliche Formierung einer Gruppenidentitt hin, die den Ausschluss der Interessen des patronats noch nicht vollstndig verinnerlicht hatte.71 Vor diesem Hintergrund kommt Haupt zu dem Schluss: „Die Besonderheiten der Entwicklung der franzçsischen Arbeiterbewegung raten zur Vorsicht gegenber linearen Ablaufmodellen, die die Organisationsttigkeit als letztes Glied in einer Kette sehen, die mit der Durchsetzung des Kapitalismus beginnt und ber die Konstituierung der Arbeiterklasse zu deren Organisation reicht.“72

Die Auswertung der in dieser Arbeit vorgestellten Fallstudien lsst einen solchen Schluss durchaus plausibel erscheinen, auch wenn ergnzt werden 65 66 67 68 69 70 71 72

Perrot, S. 188 ff. Boll, S. 170 f. Aubert, S. 93 ff.; Lalle, S. 165 ff. Delagrange. Haupt, Frankreich. Ebd., S. 50 ff. APP BA 152 und 153. Haupt, Frankreich, S. 64.

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muss, dass bei der Entwicklung zur Vergewerkschaftung der deutschen Warenhausangestellten ebenfalls hnlich anachronistische Momente zu beobachten waren. Doch ungeachtet dieser Schwche eines nationalen gewerkschaftlichen Systems ist der Erkenntnis Bolls, nach der bis 1914 diese Situation in Frankreich ein schwaches Tarifvertragssystem nach sich zog, nur eingeschrnkt zuzustimmen.73 Neuere Forschungen zeigen, dass solche Aushandlungsprozesse auf lokaler Ebene sehr wichtig waren74 und hufig durch ihre Flexibilitt den Forderungen der Arbeiter eher entgegenkamen als umfassende, kollektive Regelungen. Auch in den großen Unternehmen, zumal in den dezentralen, waren die Werksmeister die direkten Ansprechpartner der Arbeiter. Familire oder doch bekanntschaftliche Beziehungen ersetzten Regulierungsinstrumente des offenen Arbeitsmarktes. Anstellungen und Entlassungen, Tarife und Arbeitskonditionen wurden hufig von ihnen bestimmt, auch wenn sich die conseils d’administration immer die letzte Entscheidungshoheit ber diese delegierten Kompetenzen vorbehielten.75 Die Werksmeister hatten kaum formale Handlungsspielrume, sodass viele Angelegenheiten in den Werken nur sehr vage geregelt und provisorisch festgelegt waren und permanent neu verhandelt wurden. Lalle resmierte das sich hieraus ergebende gegenseitige Abhngigkeitsverhltnis wie folgt: „Es wre nicht zutreffend, wenn man den patron selbst als absoluten Meister in seinem Unternehmen bezeichnen wrde; denn er muss sich immer wieder durch die Umstnde und durch die Grenzen seiner Handlungen einschrnken lassen; er kann nichts tun, ohne die Interessen des Arbeiters zu bercksichtigen.“76

Nach der Jahrhundertwende wurden die Vorteile kollektiver Vertrge anstelle individualisierter Verhandlungsfhrung von den wissenschaftlichen Beobachtern mehr und mehr hervorgehoben. Die juristischen Arbeiten, die in dieser Zeit im Wesentlichen den wissenschaftlichen Diskurs ber das Unternehmen dominierten, begannen die Situation paradigmatisch unter den Vorzeichen einer Klassenkonfrontation von Arbeitern und patrons wahrzunehmen. Sie zogen immer çfter den Schluss, dass eine solche kollektive Aktion im Sinne einer Interessenvermittlung wnschenswert sei, wie dies etwa Richard resmierte: „Die deutlichste Leistung der Arbeiterbewegung liegt in der Substitution des Individuums durch die kollektiven Gruppen.“77 Doch trotz dieses neuen Abstraktionsniveaus blieben die Realitten der franzçsischen Arbeiterbewegung fest in den sozialen Strukturen einzelner Produktionsgruppen verankert.78 Eine solche eng an den Produktionszusammenhang 73 74 75 76 77 78

Boll, S. 223. Rudischhauser, Tarifvertrag; Rudischhauser, Vertrag, Berlin 1999. Fombonne, S. 87 ff. Lalle, S. 9 ff. Richard, S. 53. Ebd., S. 20; hnlich Plytas, S. 39 ff. Eine der wenigen Ausnahmen: Laronze, S. 28.

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angeschlossene Situation betonte erneut die soziale Kohrenz des Betriebes und verschaffte auch berlegungen, die sich mit der Frage des sozialen Friedens beschftigten, mehr Gehçr, wie sie etwa von Henri Fayol schon in seinen frhen Vortrgen, lange vor der Publikation seines Hauptwerkes, formuliert wurden.79 Im Gegensatz zu einer solchen changierenden, von verschiedenen Akteursgruppen und Wahrnehmungen geprgten Entwicklung der kollektiven Verhandlungspraktiken, der Interessenkoordination und der formellen Organisationsformen der Arbeiterbewegung in Frankreich wirkt die deutsche Situation wesentlich stabiler. Sptestens seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zentral organisiert, entwickelte die Arbeiterbewegung eine beachtliche Schlagkraft.80 Nach Ansicht Bolls wurde eine relative Geschlossenheit der deutschen Handlungsformen einerseits geprgt durch die Kmpfe von 1848, die dazu beitrugen, dass sich die Arbeiterschaft zusammenschloss,81 andererseits fhrten die hufigen Wanderschaften und die relative Mobilitt der Arbeiter zu einem breiteren Austausch sozialer Erfahrungen.82 So weist er darauf hin, dass die Praxis der Abwanderung streikender Arbeiter in Deutschland eine wesentliche Verstrkung der lokalen Verhandlungsposition der Arbeiter bewirkte. Durch eine schlagartige Verknappung des Angebotes auf lokaler Ebene wurden die Arbeitgeber hufig genug gezwungen, bei Konflikten nachzugeben. Andererseits hatte dies zur Folge, dass sich in den benachbarten Orten durch den berproportionalen Zulauf die Arbeitssituationen oft plçtzlich verschlechterten. Daraus entwickelte sich eine Situation, die kollektive Forderungen nur durch eine Vielzahl aufeinanderfolgender Streiks durchsetzbar machte, und hierdurch zu einer wahren Streikflut im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende fhrte.83 Doch die zentrale Organisation der Arbeiterbewegung machte auch einzelne Streiks mçglich, welche die Unternehmen hart trafen und die sie im Gegenzug gegenber einer weitgehend mobilen Arbeiterschaft ohne reale Sanktionsmçglichkeiten ließen. Bestes Beispiel drfte der Streik bei Bayer im Jahr 1904 sein, der zwar die Entlassung aller beteiligten Arbeiter zur Folge hatte; diese Tatsache beeindruckte die Arbeiter aufgrund der oben erwhnten Fluktuationsraten allerdings nur mßig. Die Wirkung dieser Maßnahme war damit fundamental anders zu bewerten als hnliche Massenentlassungen bei PCAC nach dem Streik in St. Jean in den Jahren 1905 und 1906, die ein hçchst aggressives Zeichen in einer Region setzten, in der ein Großteil der Arbeiter in weit hçherem Maße vom lokalen Arbeitgeber abhngig war.

79 Henri Fayol in einem Vortrag am 4. 1. 1914; CHEVS HF 5. 80 Dowe, S. 77. 81 Er spricht von der „Tendenz zu straffer, zentralistischer Organisation [der Arbeiterbewegung] als politisches Erbe von 1848“; Boll, S. 230 ff. 82 Ebd., S. 252. 83 Ebd., S. 244 ff. u. S. 270 ff.

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3. Regulieren und normieren Die Formalisierung einer Organisationsstruktur versucht durch die Ausformulierung eines Regelwerkes eine verbindliche Festschreibung des Verhaltens der Mitglieder zu erreichen. Einerseits werden damit praktisch vorhandene Handlungsmçglichkeiten aller Akteure eingeschrnkt, durch die Festschreibung eines Kodex allerdings auch neue Freirume geschaffen. Die fragile Balance von Macht und Konsens kann mçglicherweise in „Aushandlungs-, Durchsetzungs- und Machtprozessen“84 soweit gefangen sein, dass sich die mitwirkenden Partner hierin vollstndig blockieren. Die kontrollierend regulierende Einwirkung eines externen Akteurs, meist also einer staatlichregulierenden Ebene, kann eine solche Situation klren, ohne dass dabei explizit fr eine Partei Position bezogen wird. Die bergnge von einem situativ im Unternehmenskontext gebundenen Aushandlungsprozess zu einem kollektiven Vorgang85 sind dabei fließend. Unterschiedliche Akteursgruppen nehmen auf den unternehmerischen Kontext Einfluss. Die Debatte darber, in wessen Interesse eine Normierung solcher unternehmerischen Prozesse lag und durch wen solche normierenden Handlungen vollzogen werden konnten, wurde im Untersuchungszeitraum nicht nur von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, sondern gerade auch von Juristen gefhrt.86 Im Zentrum dieser Debatte stand demnach die Frage, ob Reglementierungen als patronales Machtinstrument oder als Absicherung der Freiheiten der Arbeiter zu verstehen waren. Diese Diskussionen sollen im Folgenden an ihren Kerngegenstnden dargestellt werden und vor der Folie der Fallstudien in den Dialog mit der unternehmerischen Organisationspraxis der Zweiten Industrialisierung gebracht werden. Hierzu werden zunchst unternehmensinterne, in einem zweiten Schritt auch staatlich-administrative Regulierungsprozesse analysiert.

3.1. Reglementieren im Unternehmen Eines der vitalsten Interessenmomente fr unternehmerische Reglementierung entstand im deutschen Kontext durch die soziale Verantwortung des Unternehmens gegenber dem Arbeiter whrend seiner Arbeitszeit. Dieses Element erlangte seine Bedeutung durch die seit dem 6. Juli 1884 obligatorische Unfallversicherung der Arbeitnehmer in Fabriken. In noch grçßerem 84 Lauschke/Welskopp, Einleitung, S. 11. 85 Jrgens, S. 61. 86 „Die moderne gewerbliche Unternehmung bildet einen, zugegeben, im geltenden Recht erst unvollkommenen, rudimentr ausgebildeten Verband, einen Verband nicht genossenschaftlicher, sondern herrschaftlicher Natur.“ Oertmann, S. 26; gerade diese Unilateralitt forderte nach Meinung der Juristen eine Reglementierung, um nicht in einer willkrlichen Form der Autorittsausbung auszuarten. Auch Lalle; Richard; Kocka, Unternehmer, S. 78 f.

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Maße als zuvor hatten die Arbeitgeber hierdurch ein Interesse, in das Verhalten der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz einzugreifen.87 Nur im Fall eines weisungswidrigen Verhaltens war es den Unternehmen mçglich, die Schuld an einem Unfall ganz oder teilweise den Arbeitern zu geben. Dies setzte natrlich voraus, dass es entsprechende Weisungen gab. Zudem verlangten die Versicherungsanstalten eine verbindliche Formulierung von Betriebsordnungen, um die jeweiligen Industriezweige in Gefahrenklassen einordnen zu kçnnen, nach denen sich wiederum die Hçhe der allein vom Unternehmen zu tragenden Beitrge bemaßen.88 In der Unternehmensentwicklung stellte diese externe Anforderung hufig den ersten Anlass dar, die Aufgaben und ergonomischen Ablufe im Arbeitsprozess zu definieren, auch wenn solche Beschreibungen zunchst in erster Linie negativ ausfielen, also dokumentierten, was unterlassen werden sollte. Diese Entwicklung fhrte dazu, dass 1891, ein Jahr nach der effektiven Arbeitsaufnahme der deutschen Unfallversicherung auch die Arbeitsordnung in Unternehmen mit mehr als zwanzig Arbeitskrften verbindlich vorgeschrieben wurde, die neben der Definition von Arbeitsbeginn und -ende in erster Linie Sicherheitsfragen zum Inhalt hatte.89 Die beinahe ausschließlich negativ definierten Arbeitsordnungen der verschiedenen Produktionszweige in den Werken von Bayer bildeten hier keine Ausnahme im Verhltnis zu anderen produzierenden Betrieben. Doch so wichtig die Katalysatorfunktion der Unfallversicherung und der Arbeitssicherheitsdebatten fr die Entwicklung der Arbeitsordnungen war, gingen diese in ihrer Wirkung doch weit ber den rein funktionalen Bereich hinaus. Deutsche Unternehmen, unter anderem das hier untersuchte Unternehmen der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer, hatten sich schon 1877, also 14 Jahre vor der entsprechenden verbindlichen Regelung einer Betriebsordnung bedient, um im Verhltnis zu ihren Arbeitern feste Regeln fr die durchzufhrenden Arbeiten zu etablieren.90 In ihrem zunchst unilateralen Charakter – es handelte sich im Prinzip um Weisungen der Unternehmensfhrung an die Arbeiter –schienen die Betriebsordnungen vielen Unternehmensleitungen das geeignete Instrument fr die Manifestierung ihres Machtanspruches gegenber den Arbeitern zu sein. Die deutsche Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die Einrichtung einer Sozialversicherung und gerade auch der Versicherungsschutz am Arbeitsplatz erlangten internationale Beachtung. Die Inter87 Frerich/Frey, S. 130 ff.; Sellier, S. 139 ff. und S. 143. 88 Beilage „Arbeiterversicherung“, in: Brockhaus, Kleines Konversationslexikon, Bd. 1, Leipzig 1906. 89 Soziale Praxis, Nr. 40/6. 7. 1905; Koehne, S. 201 ff.; gleichzeitig wurden diese neuen Regelungen auch durch neue berwachungsmechanismen in Form von Gewerbeinspektoren institutionalisiert; Sellier, S. 145 f. 90 hnliches gilt fr das erste „Generalregulativ“ bei Krupp, das aus „Improvisationen, ad-hocRegelungen und einer Serie von einzelnen Organisationsedikten“ bestand; Gall, S. 103 f.

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nationale Arbeitsschutzkonferenz von 1891 wurde nicht zuletzt einberufen, um diese Maßnahmen zu diskutieren. Auch wenn die konkreten Ergebnisse der Konferenz zunchst gering waren, begrndete sie doch die Wahrnehmung des deutschen Systems als besonders fortschrittlichem Modell, dem nicht zuletzt in Frankreich schnell eine Vorbildfunktion zugeschrieben wurde.91 Der Blick auf die franzçsische Situation zeigt allerdings, dass ein Konsensmodell, wie es in Deutschland etabliert wurde, durch die Fundamentalopposition vieler Unternehmer zunchst verhindert wurde.92 Doch trotz dieses schwcheren institutionellen Rahmens setzte in Frankreich die Praxis der Arbeitsordnungen als Disziplinierungswerkzeug im unternehmerischen Kontext schon frh ein. In ihrer Sammlung von rglements intrieurs findet Anne Biroleau die ersten Versionen ab 1798, also fast hundert Jahre vor den deutschen Betriebsordnungen.93 Schon in dieser frhen Phase seien diese Ordnungen von folgendem Wunsch geleitet worden: „im Namen der richtigen Betriebsordnung die Gesamtheit einer Person dem Gutdnken der Hierarchie zu unterwerfen; den Beschftigten zu untersagen, etwas anderes als ihre vollstndige Instrumentalisierung im Dienste des Unternehmens zu betreiben.“94 In der Zeit nach 1890 schienen sich allerdings die Ziele dieser franzçsischen Ordnungen ein wenig zu ndern. Wo sich vorher in der Praxis eine paternalistische Form der Arbeitssteuerung durch die Kodifizierung der zu verrichtenden Ttigkeiten etabliert hatte, rckten ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer çfter Sicherheitsaspekte und damit eine negative Definition der Arbeit in den Vordergrund.95 Der Vergleich zum benachbarten Deutschland scheint dabei einen wesentlichen Grund fr die zeitliche Koinzidenz von deutscher Gesetzgebung und franzçsischer Diskussion geliefert zu haben.96 Doch auch wenn die franzçsischen Betriebsordnungen neue inhaltliche Dimensionen hinzugewannen, so behielten sie doch in wesentlichen Zgen ihren Charakter als Herrschaftsinstrument der Unternehmensfhrung bei. Das rglement intrieur wurde in Frankreich nach den Bedrfnissen der Unternehmensleitung verfasst und erlangte Geltung durch den offiziellen Aushang. Den Arbeitern blieb nur die Mçglichkeit, die Verordnungen zu akzeptieren oder den Betrieb zu verlassen.97 Doch war die formelle Regelung eines solchen Systems durch schriftliche Fixierung lange nicht die einzige Mçglichkeit, die produktiven und verwalterischen Prozesse im Unternehmen zu reglementieren. Gerade die neuen 91 92 93 94 95

Mitchell, Train Race. Hatzfeld, S. 56 ff. Biroleau, S. 21. Ebd., S. 18. Bezeichnenderweise wurde eine solche Ordnung von den Beobachtern als unvollstndige Ordnung beschrieben; Lalle, S. 22. 96 Ebd., S. 165 ff. 97 Olszak, S. 36.

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Formen brokratischer Unternehmensverwaltung hatten zum Ziel, die produktive Arbeit, aber auch die Arbeit der Verwaltung nachvollziehbar, teilbar und standardisierbar zu machen. Die neuen Brotechniken beschrieben fr die Verwaltungsarbeit so eng umrissene Pfade, dass auch in diesem Bereich die Autonomie der Angestellten zusehends eingeschrnkt wurde. ber solche brokratischen Techniken und neue Kommunikationsformen, wie etwa dem systematischen Einsatz der Schreibmaschine in der Unternehmensverwaltung seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts,98 sollten auch die Arbeitsschritte der Verwaltung erfasst und Broarbeit dem Kriterium von Effektivitt unterworfen werden.99 Fhrten die neuen Formen von technischer Spezialisierung zunchst zu neuen Qualifikationsmustern und damit zu autonomen Handlungsrumen fr die Verwaltungsangestellten,100 so machten diese schnell einer wachsenden Standardisierung und Dequalifikation der nun zunehmend als „weiblich“ konnotierten Broarbeit Platz.101 Doch obwohl die Brokratisierung der Unternehmen nicht nur in unternehmenshistorischen Betrachtungen, sondern auch bei den Zeitgenossen als ein prgendes Element unternehmerischer Moderne wahrgenommen wurde,102 ist ihre reale Bedeutung in mancherlei Hinsicht differenziert zu betrachten. Unzweifelhaft gab es ein absolutes und ein relatives Anwachsen der Zahl von Verwaltungsangestellten, ein Prozess, an dem die privaten Unternehmen einen berproportionalen Anteil hatten.103 Allerdings verbreiteten sich die neuen Techniken der brokratischen Erfassung in der unternehmerischen Praxis teils nur schleppend, wie die analysierten Fallstudien belegen: In einem Unternehmen wie PCAC ist die Verwendung von maschinengeschriebenen Schriftstcken erst nach dem Weltkrieg nachgewiesen. Vor dem Krieg ist fr das Unternehmen eine einzige stno-dactylographe belegt.104 Die Entwicklung von Brotechnik und Verwaltung lief nicht parallel, die großen franzçsischen Unternehmen verwandelten sich nicht zwangslufig in hochbrokratisierte Systeme, sondern verließen sich weiterhin auf teils traditionelle, teils anachronistische Verwaltungsformen.105 Zwar kann allein durch einen Großteil der unternehmensinternen Schriftstcke die Verwendung der Schreibmaschine und anderer Broma98 Kittler. 99 „The development of internal communication systems in firms was not simply an incidental by-product of their growth.“ Yates, S. XVII. Zur Rationalisierung der Angestelltenarbeit auch Berger/Offe; Chandler/Daems, Administrative Coordination, S. 33. 100 Etwa in der Debatte um das „weibliche oder mnnliche“ Vorzimmer ; Kittler, S. 40. 101 Gardey, Dactylographe, S. 54 f.; Haendel, Stno-Dactylographe, S. 9 ff. 102 Etwa „Kontrollsystem“, in: Organisation, Nr. 1/1898; und „Statistik als wichtiges Hlfsmittel fr jeden Organisator“, in: Organisation, Nr. 1/5. Januar 1. 1903. Dazu auch Kocka, Industrielles Management. Fr Frankreich Renaud; Haendel, Frais. 103 Pierenkemper, Arbeitsmarkt, S. 28. 104 Fichier des agents ns avant 1900; Py 080/12/25897. 105 Als weiteres Beispiel mag hier Saint-Gobain gelten: „Es gibt also qualitative Ausdehnung, quantitative Verbesserung, aber keine strukturelle Vernderung“; Daviet, Destin, S. 249.

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schinen bei Bayer bis zum Anfang des Untersuchungszeitraums zurckverfolgt werden, doch auch hier stellten solche brokratischen Techniken ein unilaterales Instrumentarium dar, das ausschließlich der Unternehmensleitung zur Verfgung stand. Von einer Brokratisierung des ganzen Unternehmens, die auch die Kommunikation der Belegschaft mit eingeschlossen htte, kann zu diesem Zeitpunkt auch bei Bayer noch nicht gesprochen werden. Die Interaktivitt eines solchen Instrumentariums wurde erst mit der Einfhrung des Systems von Frederick W. Taylor angedacht; der „kalkulierende Arbeiter“ war damit in der Zeit vor 1914 schon in diesem System prsent,106 nicht aber bei der Masse deutscher oder franzçsischer Unternehmen. Eine Konvergenz zwischen den Ansprchen einer sich intensivierenden Organisation der produktiven Arbeit, gerade auch in Form einer disziplinarischen berwachung der Arbeiter, zeichnete sich erst in den Konzepten von Henri Fayol ab. Doch vor dem Krieg sollte eine solche umfassende Vorstellung von der Verwaltung der Unternehmen auf einer konzeptionellen Ebene bleiben, eine homogene Verbindung der verschiedenen Arbeitsnormierungen in den Unternehmen gelang vor dem Krieg noch nicht.

3.2. Normieren durch den Staat Noch mehr als in Deutschland107 war die franzçsische Wirtschaftspolitik dabei von einem nichtinterventionistischen Ideal geprgt, das den Unternehmen auch im internationalen Vergleich einen großen Handlungsspielraum in der Gestaltung ihrer Produktionssysteme ließ. Einerseits zeichnet dieses Verhltnis zwischen Staat und privaten Wirtschaftsunternehmen ein Gegenbild zu dem von der deutschen Historiographie oft monolithisch wahrgenommenen franzçsischen Zentralismus; dieser existierte in Bezug auf eine zentralisierte Wirtschaftspolitik nicht. Umso besser passt ein solches Verhltnis andererseits zum weitgehenden Verzicht des nachrevolutionren Frankreich auf vermittelnde Institutionen im Dreiecksverhltnis von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft.108 So entwickelte sich in Frankreich ber das 19. Jahrhundert ein Trial-and-Error-Spiel in Bezug auf rechtliche Fragen der Unternehmensorganisation,109 an dem zunchst die politisch administrative Ebene kaum beteiligt zu sein schien. 106 „Man kann z. B. bei dem Vorarbeiter dazu bergehen, Angaben ber Akkordstze nicht nur zusammenstellen zu lassen, sondern er soll auch gehalten sein, diese kritisch zu betrachten. Er soll die unnçtigen Arbeitsvorgnge herausfinden und zu beseitigen versuchen.“; „Vom Wert des kalkulierenden Arbeiters“, in: Organisation, Nr. 18/1913; hierzu auch Lamoreaux, S. 418. 107 Hier waren die staatsinterventionistischen Ideen zumindest an prominentem Platz bereits frh vollstndig entwickelt, so in der preußischen Schule der Nationalçkonomie; etwa: Brentano. 108 Rosanvalon, S. 65 ff. 109 Zu einem solchen Konzept aus soziologischer Perspektive Kappelhoff, S. 60. Die wirtschaftsliberalen Tendenzen besttigten sich in der Phase vor 1890 auch in der Außenhandels- und

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Das Fehlen einer solchen institutionellen Vermittlung in Frankreich war wesentlicher Anlass fr die erstarkenden paternalistischen Praktiken, durch die sich die Unternehmer selbst die Vermittlung zwischen den verschiedenen Interessenebenen anzueignen versuchten.110 Im zeitgençssischen Diskurs, aber auch in der Historiografie wurde ein solcher Paternalismus lange Zeit als korporatistisches Bindeglied in einer sich industrialisierenden Gesellschaft betrachtet. Doch die Betonung der unternehmerischen Eigeninteressen und die Unterscheidung zwischen Diskurs und Praxis der verschiedenen Akteursgruppen im Unternehmen haben diese ursprngliche Form der Paternalismusdebatte weitgehend beendet.111 Zu dieser kritischen Betrachtung des Paternalismuskonzeptes passte auch der spte und langsam stattfindende Paradigmenwechsel in der franzçsischen Politik, die zunehmend in die industriellen Arbeitsbeziehungen eingriff.112 Doch noch 1901 bemerkte Plytas hierzu: „Die Arbeitsbedingungen, also etwa die Lnge des Arbeitstages, die Essenszeiten, die zu bezahlenden Disziplinstrafen, die Hçhe der Gehlter werden, wenn auch nicht willkrlich so doch souvern von dem Unternehmensleiter bestimmt. Natrlich orientieren sie sich dabei an den Konditionen, die andere Unternehmer in hnlichen Unternehmen am gleichen Ort ihren Arbeitern vorgeben, sodass hierdurch eine stillschweigende, mehr oder minder allgemeingltige bereinkunft je nach Branche die Beziehungen zwischen Unternehmern und den Arbeitern bestimmt.“113

Gerade die schon erwhnte Frage der Arbeits- und Betriebsordnung lsst hierbei erkennen, dass in solchen Fragen der Staat als regulierende Institution in Deutschland weit lnger mitgedacht wurde als in Frankreich. Eine Vielzahl von juristischen Arbeiten argumentierte fr einen staatlichen Interventionismus, um der betrieblichen Willkr vieler Unternehmer dauerhaft vorzubeugen. Einer der deutlichsten Verfechter dieser Linie war etwa Koehne, der auch nach der Gewerbeordnung die staatliche Hoheit ber unternehmerische Verordnung feststellte: „[Es] kann zu Unrecht in [die Arbeitsordnung] aufgenommenen Vorschriften nicht die dem Inhalte der Arbeitsordnung, ,soweit er den Gesetzen nicht zuwiderluft‘, in § 134c [der Gewerbeordnung] erteilte Rechtskraft zukommen.“114

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Zollpolitik. Fr Frankreich etwa die Phase zwischen 1860 und 1886; Levy-Leboyer, Capital, S. 236 ff.; trotz gegenlufiger Interessenartikulation seitens der Industrie gilt dies auch fr Deutschland; Kiesewetter, S. 106 ff. Hatzfeld, S. 104 ff. Gueslin; Bourginat. Auch hier kam es zu einer eingehenden Beobachtung des deutschen Modells als Vorbild fr die franzçsischen Institutionen; Mitchell, Divided; Bourquin, S. 266 ff. und 278 ff. und Falke, S. 119. Plytas, S. 39. Koehne, S. 235.

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Aus diesem Gemisch von standardisierten Formen und Festschreibungen verschiedener Interessen ergab sich der besondere Charakter der deutschen Arbeitsordnungen als Summe aus notwendigen, bedingt notwendigen und fakultativen Bestimmungen. In die erste Kategorie gehçrten alle tariflichen Fragen, wie die Entlohnung, Arbeits- und Pausenzeiten oder auch die Form der Lohnzahlung. Je nach Arbeitsplatz und den tariflich ausgehandelten Vertragsbedingungen galt es darber hinaus in den Ordnungen, die Entlassungsbedingungen zu regeln und Disziplinarstrafen und Vertragsbrche zu definieren.115 Die fakultativen Bestimmungen dagegen lagen im Ermessensspielraum des Unternehmens und wurden nur durch eine Definition der unzulssigen Bestimmungen begrenzt. So war es den Unternehmen unter anderem nicht gestattet, ihre Angestellten dazu zu verpflichten, andere zu denunzieren, ihnen zu verbieten, zu streiken und sich politisch zu engagieren oder die Gewhrung der Wohlfahrtsleistungen des Unternehmens an bestimmte Bedingungen zu knpfen.116 Doch auch fr den Staat waren die Fragen der neuen Betriebsordnungen nicht die einzigen Punkte, an denen er regulierend in den unternehmerischen Organisationskontext eingreifen konnte. Eine Vielzahl von Fragen, die eine staatliche Intervention herausforderten, fand ihren Anstoß in beiden Lndern im Kontext viel breiterer gesellschaftlicher Debatten. Diese Debatten ihrerseits waren deutlich an die çffentliche Wahrnehmung der Arbeitssituation der Arbeiter oder zumindest der hieraus resultierenden sozialen Konflikte geknpft. Die beiden wohl aufflligsten Debatten, denen auch gesetzgeberische Sanktionen folgten, waren die Diskussionen ber die Arbeitszeitregulierung sowie die Arbeitssicherheit und -hygiene, die hier kurz skizziert werden sollen: Das Thema der Arbeitszeitverkrzung gehçrte – mehr noch als die zumeist dezentral verhandelte Frage von Lçhnen und Gehltern – zu einem der ersten und klassischen Themen gewerkschaftlicher Aktion und forderte gleichzeitig von vornherein auch den Gesetzgeber als regulierende Instanz heraus. Die Situation der Arbeiter und ihrer tglichen Arbeitsverpflichtungen war in Deutschland und Frankreich relativ hnlich. In beiden Lndern hatte sich im Regelfall die Arbeitszeit in Handel und Gewerbe auf etwa zehn bis zehneinhalb Stunden eingependelt.117 Fr Berlin geht Schneider sogar davon aus, dass 1894 ber 90 Prozent der Beschftigten maximal zehn Stunden pro Tag gearbeitet haben.118 Doch eine wie immer geartete globale Aussage zu den effektiven Arbeitszeiten zeigt deutliche Unschrfen; das gilt in besonderem Maße fr die Situation in Frankreich, da hier das office du travail nicht nur die Situation in 115 Ebd., S. 184 ff. 116 Koehne, S. 233 ff. 117 Untersuchung des office du travail, nach Guedj/Vindt, S. 18 f.; Schneider, S. 191 f.; Scharf, S. 204 f. 118 Schneider, S. 82.

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der Provinz, sondern auch in den kleinen und mittleren Betrieben in seinen bersichten kaum bercksichtigte.119 Aufgrund der unbersichtlichen Regelung in beiden Lndern schien eine zentrale Regelung der Arbeitszeit fr Teile oder gar fr die gesamte Volkswirtschaft umso schwieriger. Staatlich garantierte, verbindliche Regelungen kamen bis 1914 nicht zustande. Dennoch unternahm der Staat immer wieder Versuche, solche Regelungen zumindest in Teilgebieten einzufhren. Gerade die franzçsische Regierung versuchte schon 1841, eine Beschrnkung der Kinderarbeit durchzusetzen und bemhte sich sogar 1848 um eine Beschrnkung der Arbeitszeit auf zwçlf Stunden. Doch ebenso wie im Falle des Gesetzes zum Schutz weiblicher Arbeit von 1892 wurden diese Regelungen zwar beschlossen, konnten in der Folge aber kaum oder gar nicht durchgesetzt werden.120 hnlich unvollstndig blieben die Regelungen in Deutschland, wo sie sich zudem noch nach den einzelnen Staaten differenzierten. So verhielt es sich etwa mit dem Gesetz, das seit 1891 die Arbeitszeit der Frauen auf zehn Stunden begrenzen sollte, aber – wenn berhaupt – nur in den stdtischen Zentren des preußischen Kçnigreiches durchgesetzt werden konnte.121 Zentraler wurden dagegen die Gesetzesinitiativen gesteuert, die in beiden Lndern die Einfhrung eines wçchentlichen Ruhetages – des repos hebdomadaire – beziehungsweise der Sonntagsruhe festlegen sollten. Die zuvor außerordentlich heterogenen Praktiken, dem Personal Ruhetage zu gewhren, wurden mit diesen Gesetzen in Deutschland ab 1891 und in Frankreich ab 1906 vereinheitlicht; allerdings setzten sie sich in der Praxis nur langsam in den Unternehmen durch.122 Insgesamt wurde der Staat im Prozess der Verkrzung der Arbeitszeit in beiden Lndern immer wieder als Kontrollinstanz ins Spiel gebracht; allerdings war die effektive Wirkung staatlicher Intervention begrenzt. So kommt Fridenson zu dem Schluss: „Im Ganzen kann man nicht davon ausgehen, dass die gesetzgeberische Gewalt sich in dieser Periode ohne Weiteres durchsetzen konnte.“123 Und auch fr Deutschland stellt Schneider fest: „[…] Fr die Jahre von 1890 bis 1913/14 gilt, daß die reale Arbeitszeit weitgehend ohne staatliche Flankierung erfolgte.“124 Ein weiteres Feld staatlicher Intervention soll hier beleuchtet werden: die Debatte um die Arbeitshygiene. Anlass hierfr waren die breiten gesellschaftlichen Diskussionen ber sozialhygienische Fragen, die sich seit der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts einen festen Platz in der brgerlichen Ge-

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Guedj/Vindt, S. 21. Fridenson, Multiplicit, S. 66. Schneider, S. 82. Gewerbeordnung, in: Reichsgesetzblatt Nr. 18/1. Juni 6.1891; Guedj/Vindt, S. 36; Fridenson, Multiplicit, S. 66. 123 Ebd., S. 64. 124 Schneider, S. 85.

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sellschaft Europas und insbesondere in Deutschland erobert hatten.125 Der Ruf nach staatlichen Interventionen im Bereich der Arbeitsgesundheit und des Arbeiterschutzes wurde sowohl in Frankreich als auch in Deutschland in breiten Schichten der brgerlichen Gesellschaft laut. Es sollte nicht mehr allein um die Grçße des industriellen Wachstums, sondern auch um dessen Qualitt gehen. Die Veranstalter der Dresdener Hygieneausstellung beschrieben diesen Sachverhalt wie folgt: „Die Bekmpfung [der] Gefahren [der Arbeit] ist gleich dem Kampf gegen Volkskrankheiten nicht nur ein Gebot der Nchstenliebe, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit, denn die Erhaltung der Arbeitskraft von vielen Millionen bedeutet die Erhaltung und Vermehrung grosser wirtschaftlicher Werte.“126

Die Wahrnehmung dieser neuen Problemstellung jedoch war in beiden Lndern unterschiedlich gelagert. Schon bei der Dresdener Ausstellung von 1911, an die sich die Planung des Dresdener Hygienemuseums anschloss, standen die Probleme der Arbeitssicherheit in den großen, produzierenden Industrien im Vordergrund.127 Eine Vorreiterrolle spielte wiederum die chemische Industrie, die aufgrund der besonderen Gefahren auch dafr herangezogen wurde, moderne Konzepte zu demonstrieren. So stand die Chemieindustrie als einzige explizite Branche mit ihrer Ausstellung „Die Chemische Industrie und die menschliche Gesundheit“ im Mittelpunkt der Ausstellung zur Arbeitssicherheit. An ihrem Beispiel wurden die neuesten Konzepte der Sicherheitslehre dargestellt, sie diente aber auch als Illustration von Giften und Gefahren am Arbeitsplatz.128 Ein weiteres Gebiet, in dem staatlich-administrative Praktiken Einfluss auf unternehmensinterne Strukturierungsprozesse hatten, sei hier fr den deutschen Fall kurz skizziert: Mit der Regelung der Rechnungsfhrung durch das Brgerliche Gesetzbuch vom 1. 1. 1900 wurden erstmals Formen der Buchfhrung festgeschrieben. Es war nicht zuletzt dieser staatlichen Intervention zu verdanken, dass die veralteten Buchfhrungstechniken, die noch einen mehr oder minder vorindustriellen Standard hatten und mit der technischen 125 Frevert macht darauf aufmerksam, dass diese Diskurse selbst wiederum Disziplinierungswerkzeuge waren, deren Wirkung sich nicht auf eine Verbesserung der medizinischen Versorgung beschrnkte; Frevert „Frsorgliche Belagerung“, S. 446; Hau, S. 10 f. und S. 44 ff. 126 Sonderkatalog fr die Gruppe Arbeiterschutz und Arbeiterwohlfahrt der wissenschaftlichen Abteilung der Internationalen Hygieneausstellung Dresden 1911, zusammengestellt von K. Hartmann und H. Albrecht, Dresden 1911. Zur Illustration einer hnlich motivierten Diskussion in Frankreich: „Die Erschçpfung, die zur Verringerung unserer Krfte, also einer Verringerung in der Kraftausbung und der Bewegungsgeschwindigkeit fhrt, wird von giftigen Reststoffen erzeugt, die ihrerseits von den intensiven chemischen Phnomenen rhren, die die Quelle unserer Energie darstellt.“, in: Laufer, S. 3. 127 Poser, S. 148 ff. 128 Sonderkatalog: Die chemische Industrie und die Gesundheit der wissenschaftlichen Abteilung der Internationalen Hygieneausstellung Dresden, ausgearbeitet von K. B. Lehmann, Dresden 1911.

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Entwicklung nicht ansatzweise Schritt gehalten hatten, in der Zeit um die Jahrhundertwende durch wesentliche Weiterentwicklungen der Kontofhrung auf ein aktuelles Niveau gebracht wurden.129 Und auch die verstrkte Entwicklung der staatlichen Statistik stand in engem Wechselverhltnis mit dem Wachstum der Unternehmen in der zweiten Industrialisierung. Von der wirtschaftlichen Realitt beflgelt entwickelte die staatliche Statistik im preußischen Staat erst das Instrumentarium, das fr die Unternehmen notwendig war, um die soziale Situation in ihrem Inneren zu erfassen, zu kodieren und zu lenken.130 Gerade die großen Unternehmen, die ber eine eigene statistische Abteilung verfgten, reproduzierten staatliche Wissensmodelle oder -methoden in der Erfassung der sozialen Realitten innerhalb des Unternehmens, wie etwa das Beispiel von Bayer verdeutlicht.

4. Schulen und verschulen Die Frage nach der Organisation von Produktion und Arbeit verknpfte sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Konstruktion neuer Wissensfelder, ob sie akademisch institutionalisiert waren oder nicht. Diese Konstruktionsprozesse beschrnkten sich bei Weitem nicht auf einen rein funktional betriebswirtschaftlichen und unternehmensinternen Zusammenhang, sondern ebenso auf Felder, deren Entstehung sich als Reflex auf den Industrialisierungsprozess verstehen lsst. Das gilt etwa fr das Gebiet der Physiologie, die eng verbunden war mit der Reprsentation von menschlicher Arbeit als Produktionsfaktor.131 Nicht nur der Zusammenhang zwischen unternehmerischer Wissenschaft und Praxis, sondern auch der Bezugsrahmen solch neuer Wissenssysteme soll im Vordergrund des nchsten Abschnitts stehen. Welche Wissensgebiete wurden fr das Unternehmen als relevant angesehen? Wo entwickelten sich neue normative Konzepte und in welche Richtung wanderten sie? Welche fachfremden Expertisen wurden von den Unternehmen nachgefragt? Inwiefern versuchten sich Expertengruppen ber ein entstehendes organisationswissenschaftliches Feld zu etablieren und zu professionalisieren? Schließlich soll ber diesen Ansatz auch erklrt werden, in welchem Maße gerade die neuen Konzepte von Frederick W. Taylor oder Henri Fayol, die in diesem Zeitraum entstanden und im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen so prominenten Platz in Verwaltungslehre und Organisationswissen129 Schweitzer/Wagner, S. 55 ff. 130 So fhrten etwa schon die Gewerbezhlungen von 1882 die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten ein. Diese Kategorien sollten wiederum zu einem wesentlichen Hilfsmittel sozialer Modellierungsversuche deutscher Unternehmen werden; Tooze, S. 41 ff. 131 Sarasin/Tanner, S. 23 ff.; hierzu etwa die Ausarbeitung von Kategorien der Arbeitstauglichkeit Omns/Bruno oder der Belastbarkeit auf Grundlage physiologischer Studien Felsch.

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schaft erlangten, zum Referenzpunkt fr die Reflexion von traditionellen Formen der Unternehmensverwaltung wurden.

4.1. Organisieren will gelernt sein – Anfnge der Verschulung und ihre Einflsse auf die Unternehmen „Wie auf allen Gebieten vermehrtes Wissen, eine wissenschaftliche Grundlage fr das Tun notwendig geworden ist infolge des Fortschrittes in der Kultur, so ist es auch in Handel und Industrieverwaltung.“132 Die Meinung des Autors der Zeitschrift „Organisation“, der sich mit dem wachsenden Einfluss von Experten in den Unternehmen der Jahrhundertwende beschftigte, drckte ein neues Problembewusstsein und gleichzeitig eine neue Mode in den wirtschaftlichen Trgerschichten des Deutschen Reiches, vor allen Dingen aber in den entsprechenden Milieus der Reichshauptstadt und gerade des Berliner Westens aus. Neben der rumlichen Nhe zur Hauptverwaltung von Siemens siedelten sich hier auf geographisch engem Raum weitere wichtige Institutionen an, an denen sich unternehmerische Modernittsvorstellungen kristallisierten: so etwa die neue Technische Hochschule (1879), das KaDeWe (1907) sowie ein Großteil der wissenschaftlich und wirtschaftlich einschlgigen Verlage.133 Die stetig wachsenden produktiven Systeme, die nicht nur die immer grçßer werdenden Belegschaftszahlen, sondern auch die kontinuierlichen strategischen Neuausrichtungen bestimmter Unternehmen zu verarbeiten hatten, fhrten den Zeitgenossen die Notwendigkeit eines geeigneten Spezialwissens der Unternehmensverwaltung vor Augen. Auch unter den Vertretern der Nationalçkonomie wurden „Organisation“, aber auch die Figuren der „Managers [!]“ zu zukunftsweisenden Prinzipien; Wissenschaftler wie Johann Plenge sahen in ihnen die wahren Helden der Industrialisierung und in ihrer neuen, dispositiven, brokratisch vermittelten Kraft ein Allheilmittel zur Produktivittssteigerung der Volkswirtschaft.134 Traditionell waren agrarwissenschaftliche Institutionen der Ort, an dem die ersten systematischen Reflexionen des Organisationsbegriffes und seine bersetzung aus einem rein biologischen in einen technischen Kontext stattfanden. Aus der Tradition der kameralwissenschaftlichen Fcher gab es schon eine lange Entwicklungslinie institutioneller Verwissenschaftlichung solcher verwaltungstechnischer Fragestellungen. Seit Beginn der Industrialisierung waren daneben die Eisenbahnunternehmen einer der wichtigsten Vektoren in der wissenschaftlichen Debatte ber Probleme der Organisation. 132 „Suum cuique“ Organisation. Fachblatt der leitenden Mnner in Industrie und Handel, Nr. 3/ 1906. 133 Zu einem solchen Cluster rund um Siemens auch Homburg, Rationalisierung, S. 35 u. S. 275 ff. 134 Krger, S. 102 ff.

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Sie setzten nicht nur Maßstbe in der Entwicklung der Kostenrechnung,135 sondern auch in Bezug auf Praktiken der Personalverwaltung und die Anfnge betrieblicher Wohlfahrtspflege.136 So bemhten sich die franzçsischen Eisenbahnunternehmen sehr frh, die geringe Kontrolle aufgrund der ber das ganze Land verteilten Betriebssttten durch hohe Personalkontinuitt auszugleichen.137 Ergnzt wurde dies hufig durch einen engen Austausch – nicht zuletzt auf personeller Ebene – zwischen staatlich-administrativer Sphre und Eisenbahnunternehmen. Wegen ihres hohen Finanzbedarfes wurden diese Firmen schon frh durch angestellte Unternehmer gefhrt. Bei der Auswahl des Personals griffen diese Unternehmen durch entsprechende Gehaltsangebote gerne auf die hçheren Angestellten der staatlichen Verwaltung zurck.138 Auch fr die Einfhrung moderner Kommunikationstechniken als strukturierendes Element eines Unternehmens, das sich naturgemß nicht zentralisieren ließ, erlangten die Eisenbahnen einen entscheidenden Vorbildcharakter fr die Privatwirtschaft.139 Die Reflexionsmodelle der Organisation um 1890 lehnten sich nicht zuletzt gerade aufgrund dieser Querverbindungen stark an staatliche Modelle an, hatten allerdings neue Formen buchhalterischer Kontrolle zumindest angedacht und das soziale Problem im Unternehmen, aber auch die Vor- und Nachteile von Fluktuationsbewegungen in den Branchen ansatzweise integriert. Doch diese Praktiken begrndeten ihrerseits noch keine Schule der Unternehmensadministration. Organisationsreflexion war noch nicht in einem festen institutionellen Ausbildungsnetz eingebettet. Vielmehr diente sie verschiedenen Ausbildungsgngen als Quelle, aus der nach Bedarf geschçpft werden konnte. Fr Frankreich ist die herausragende Rolle der Ingenieurswissenschaften hervorzuheben, in der bis zum Krieg nahezu die Gesamtheit des akademischadministrativen Unternehmenspersonals ausgebildet wurde.140 Technisches Wissen und Organisationswissen waren zunchst weitgehend kongruent. Dies galt gerade fr kleinere Unternehmen. Doch auch bei PCAC bestand das akademisch ausgebildete Fhrungspersonal ausschließlich aus technisch ausgebildeten Personen. Lediglich in der Herkunft unterschieden sich diese Ingenieure voneinander. So verlagerte sich im Untersuchungszeitraum die Ausbildung der Ingenieure von kleineren regionalen Hochschulen zu den Pariser grandes coles.141 Auch wenn deren Ausbildung im Prinzip fr eine Karriere in der staatlichen Administration qualifizieren sollte, so wechselten 135 Nelson, S. 484. 136 Unter anderem erlangten die Eisenbahnunternehmen auch Vorbildfunktion fr die unternehmerische Wohlfahrtspolitik; Mitchell, Train Race, S. 251. 137 Ribeill, S. 35 ff. 138 Kocka, Legitimationsprobleme, S. 14 ff.; Kocka, Capitalism, S. 457. 139 Yates, S. XV. 140 Stck, S. 428 ff.; Lefebvre, S. 207 ff. 141 Dies spiegelt sich etwa in den Biografien der Ingenieure von PCAC wider.

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doch gerade im Untersuchungszeitraum mehr und mehr Absolventen in privat gefhrte Unternehmen.142 Die Ausbildung dieser Ingenieure korrespondierte dabei sowohl mit den internationalen Ambitionen von Unternehmen wie PCAC als auch mit den Anforderungen einer dezentralen Verwaltung. So gehçrten Fremdsprachen und der Umgang mit neuen Kommunikationswerkzeugen zur gngigen Ausbildung in den grandes coles. War es zunchst also die Rolle des Ingenieurs als unmittelbare Autorittsperson im Verhltnis zu den Arbeitern, die ihn in alter playsianistischer Tradition zum Schlsselpunkt der Organisation machte, so begrndete sich nach der Jahrhundertwende diese Stellung mehr und mehr auf ein funktionales Verstndnis seiner Rolle in einem technischen Ablauf. In dieser Beziehung unterschied sich Frankreich vor dem Krieg nicht mehr fundamental von der Situation in vielen deutschen Unternehmen.143 Lediglich die integristische Rechte bemhte sich weiter darum, ein stark personenbezogenes, paternalistisches Organisationsbild am Leben zu erhalten.144 Eine weitere Strçmung der frhen Organisationswissenschaften in Frankreich etablierte sich in den Jahren vor dem Krieg in Paris; diese Diskussion verband sich damit lange Zeit mit einem sehr spezifischen wissenschaftlichen und sozialen Feld der Hauptstadt.145 Im Zentrum stand ein Netzwerk, das sich um das Verlagshaus der Gebrder Ravisse in der rue des Saints-Pres entwickelte. Das Unternehmen von Gaston Ravisse und seinem Bruder, das sich nicht nur auf die Herausgabe einiger Lehrbcher und Zeitschriften spezialisiert hatte, sondern auch bestimmte, teils aus den USA importierte Brosysteme vertrieb, hatte sich in der Mitte des siebten Pariser Arrondissements in direkter Nhe zu den entstehenden grandes coles, aber auch zum Regierungsviertel angesiedelt. Auf der anderen Seite der Straße erçffnete daraufhin das Bro von Georges Borgeaud, das sich darauf spezialisiert hatte, ber neue Verwaltungs- und Brosysteme zu informieren und zu beraten. Beide Unternehmen machten in der Folgezeit aktiv freinander Werbung. Ravisse vertrieb unter anderem die sehr praxisorientierten Leitfden von Borgeaud.146 Die Firmen bieten Einblick in die Genese des beratenden Expertenwissens, das sich zunchst an praktischen Problemen einer brokratischen Verwaltung orientierte.147 Die Fragen, wie Bropapiere richtig abzuheften, in welchem 142 Charle. 143 Locke, S. 29. 144 So verfasste der orleanistisch-royalistische Colonel de Parseval 1907 in der Reihe mit dem signifikanten Titel Traditions-Progr s eine Abhandlung ber die Organisation der Arbeit fr die Editions de la Revue catholique et royaliste; De Parseval. Zu dieser spezifisch katholischen Organisationsschule Beale, S. 104 ff. 145 Hinrichs, e. a., Fahrrad, S. 22 f. 146 Borgeaud, A.B.C.; ders.: Comment classer; Portrt von Georges Borgeaud, in: Mon Bureau, Nr. 1/1909. 147 Portrt von Georges Borgeaud, in: Mon Bureau, Nr. 1/1909; auch in Deutschland empfiehlt die „Organisation“ ihren Lesern den Einsatz solchen Spezialwissens; „Der Wert der Organisation“, in: Organisation, Nr. 15/1913; Kocka (1969b), S. 349.

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System Eingangs- und Ausgangsbcher zu fhren oder wie Briefe zu vervielfltigen seien, wurden zu Expertenfragen. Sie waren gleichzeitig auch normativ aufgeladen, gingen doch die Ansprche dieser Systeme weit ber den rein praktischen Bezugsrahmen hinaus und hatten implizit eine weitgehende Reformierung unternehmensinterner Kommunikationsablufe zum Ziel.148 Was zunchst wie ein kleines, kaum bedeutendes Netzwerk von Pariser Einzelhndlern und Kleinverlegern aussah, wurde in den Jahren vor dem Weltkrieg und weit darber hinaus zu einem dominanten Faktor der Rationalisierungsdebatte in Frankreich. Ab 1909 gab Ravisse die neue Zeitschrift „Mon Bureau“ heraus, die sich in erster Linie durch die Propagierung neuer Brosysteme hervortat, sich daneben allerdings in zunehmendem Maße in allgemeineren Betrachtungen zum Aufbau eines Unternehmens, zur Rolle bestimmter Akteursgruppen in betrieblichen Ablufen und auch zu volkswirtschaftlichen Problematiken versuchte. Daneben wurde eine große Anzahl von praktischen Werken zur Unternehmensorganisation herausgegeben.149 Nahezu im Alleingang setzte sich Ravisse daneben fr eine eigene Gewerbeausstellung in Paris ein, richtete 1910 einen Kongress ber die moderne Broorganisation aus, den man nach dem Vorbild, aber auch als Konkurrenz zu hnlichen Kongressen in Deutschland plante und veranstaltete Ausstellungen zu diesem Thema. Diese waren so erfolgreich, dass 1912 in Lille schon die neunte dieser Ausstellungen erçffnet werden konnte.150 Aus diesem Anlass wurde auch die chambre syndicale de l’organisation commerciale gegrndet, erstes Organ dieser neuen Bewegung. Die neuen Ideen wurden dabei zum großen Teil nicht von den Akteuren selbst entwickelt. Vielmehr reiste Gaston Ravisse selbst hufig in die USA, um dort die Lizenzen ganzer Systeme einzukaufen und in Frankreich weiterzuvertreiben.151 Auf diese Weise wurde er zu einem aktiven Vermittler von amerikanischen Ideen, die allerdings keineswegs deckungsgleich mit den Konzepten Taylors waren, sondern an einem ganz anderen brokratisch-technischen Punkt ansetzten. Die vermeintliche Banalitt von neuen Brosystemen, etwa neue Hefttechniken oder die Einfhrung eines vertikalen Hngesystems fr die Akten, sollte ber ihre eigentliche Bedeutung nicht hinwegtuschen. Auch wenn 148 Die beiden wichtigsten Vektoren einer solchen Diskussion waren die Zeitschriften Mon Bureau und Organisation; daneben beispielsweise Borgeaud, Comment classer; zu dieser Strçmung auch Beale, S. 83 ff.; zur Einordnung in ein breites Verstndnis der Unternehmenskommunikation Yates, S. 25 ff. 149 So umfasste die Publikationsliste vor dem Krieg: Borgeaud, Ncessit; Cottereau; Didelin; Delbousquet; Janniot; Brisset-Bonnetain, Mmoire; ders., Apprends; Jourdain; Lembert; Legongue; Psalmon. Der wohl wichtigste Autor, der bei Ravisse publizierte, war aber wohl J.-H. Haendel, der in zahlreichen Werken den Nutzen der neuen Systeme auch auf die modernen Produktionsverhltnisse darlegte: Haendel, Frais; ders., Stno-Dactylographe; ders., Contrats commerciaux; ders., Vente. 150 Mon Bureau, Nr. 2/1912. 151 Gardey, Dactylographe, S. 127 ff.

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Netzwerke, wie das um die Editions Ravisse, zunchst von rumlich begrenzter Bedeutung waren und sich vor allem an ein Pariser Publikum von Handelsunternehmen richteten, gelang es ihnen doch, die Diskussion um eine moderne Unternehmensorganisation in wichtigen Fragen weitgehend zu dominieren und hierber auch weiterreichende Ideen zur Organisation von Unternehmen zu propagieren. Hierdurch wurden sie wiederum zu wichtigen Agenten in der Frage einer Modernisierung der franzçsischen Wirtschaft, die innerhalb dieses Kreises als vollstndig rckstndig gegenber den modernen Formen der Unternehmensorganisation in anderen Lndern aufgefasst wurde: „Das wirtschaftliche Frankreich braucht Organisation. Es muss hier deutlich gesagt werden: Frankreich weiss kaum etwas von den modernen Methoden. Sicherlich gibt es auch bei uns einige Ausnahmen von großen Husern, deren Organisation nahezu perfekt ist. Aber wir sprechen von der Allgemeinheit und von der Mehrheit.“152

Dabei baute der Modernisierungsgehalt nicht auf der Umwandlung bisheriger Verhltnisse, sondern auf der Ergnzung bestehender paternalistischer Ideologien auf. Die Vorgngerzeitschrift von Mon Bureau, die im gleichen Verlag unter dem Titel Mon Chez Moi erschienen war, hatte die funktionale Einrichtung des Privathaushaltes zum Ziel.153 Die Kraft, die man bei der Vernderung des Unternehmens am Werke sah, war fr die Verleger weitgehend die Gleiche, die auch die rationelle Umwandlung des Individuums und ber dieses hinaus der ganzen Gesellschaft herbeifhren sollte. Mon Bureau als „Zentralorgan“ der franzçsischen Organisationswissenschaftler weist von seinem Inhalt klare strukturelle hnlichkeiten zur deutschen Zeitschrift Organisation auf. Beide Zeitschriften finanzierten sich zum Teil aus den Anzeigen von Broartikelherstellern. Auch die Organisation richtete sich an ein Fachpublikum, das sie allerdings eher undifferenziert in den Verwaltungseinheiten großer Unternehmen, aber auch in den çffentlichadministrativen Bereichen suchte. Die deutsche Zeitschrift, die etwa zehn Jahre vor Mon Bureau gegrndet worden war, hatte ihre Basis im großstdtisch „modernen“ Milieu der Reichshauptstadt. Doch die Ambitionen der Zeitschrift gingen weit ber dieses Milieu hinaus. Nachdem sie einige Jahre erschienen war, begann sie massiv die Begrndung einer Organisationswissenschaft zu fordern, die einen gleichberechtigten Platz unter den modernen Wissenschaften einnehmen sollte: „Als Grundgedanke der Organisation geht jedoch durch das Ganze: Organe schaffen, ,Gliedern‘ und dabei die Ttigkeit dieser Organe und ihr Zusammenarbeiten so regeln und begrenzen, dass ein verlangtes Ziel auf die gnstigst mçglichste Art erreicht wird. Wenn wir daher von einer Organisations-Wissenschaft sprechen 152 Mon Bureau, Nr. 5/1909. 153 Mon Bureau, Nr. 1/1909.

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wollen, so muss darunter die Betrachtung der Vorgnge unter dem Gesichtspunkt der Anordnung der Faktoren zueinander verstanden werden. […] Es kann ebenso wie in den exakten Naturwissenschaften, durch Experimente der Einfluss von nderungen in der Anordnung der einzelnen, oder durch Zufgen neuer Faktoren ermittelt werden. Schliesslich muss auch aus den gewonnen Ergebnissen das Ableiten gewisser Erfahrungsstze mçglich sein, die vielleicht ihrem Ursprung nach durch Organisations-,Gesetze‘ geklrt werden kçnnen.“154

Die Ambitionen der Zeitschrift waren also weiter gesteckt als die des franzçsischen Gegenparts und sozial doch schwerer zu verorten. Fr die Organisation lassen sich nicht in hnlicher Weise wie fr Mon Bureau personelle Netzwerke ausmachen, die im Mittelpunkt einer solchen Debatte um eine fortschreitende Organisation gestanden htten. Dagegen war auch diese Zeitschrift darauf bedacht, in mçglichst hohem Maße bestimmte Organisationssysteme zu verbreiten, eine Aufgabe, die wieder mit eigenen kommerziellen Interessen verbunden war. Der Versuch dieser Zeitschrift, sich auch in Frankreich anzusiedeln und deutsche Konzepte nach Frankreich zu verkaufen, schlug im Jahr 1906/07 allerdings fehl. Grund hierfr war wohl der grçßere Konkurrent Mon Bureau. In Deutschland wie in Frankreich fehlten keineswegs erste Ansatzpunkte fr eine wissenschaftliche Organisationsliteratur, wie dies gelegentlich vorschnell behauptet wird.155 Dagegen war eine solche Literatur anderswo zu verorten als im heute blichen Lehrbuchformat. Das Wissen um das Unternehmen und um seine Organisation war nicht ausschließlich abhngig von der institutionellen Anbindung an staatliche Hochschulen oder an die Unternehmen. Auch abseits dieser Institutionen entwickelte sich eine praxisorientierte Strçmung, welche die Verbesserung interner Strukturen in den Unternehmen zum Ziel hatte. Doch war die bertragung solcher Ideen in einen akademischen Rahmen und dadurch auch eine institutionelle Anerkennung weiterhin ein wichtiges Anliegen der Trgergruppen dieses neuen Organisationsdiskurses. Die deutschen Bemhungen um eine Institutionalisierung wurden dabei ab dem Jahrhundertende auch von staatlicher Untersttzung flankiert. Zustzlich zu den ohnehin existierenden kaufmnnischen Fortbildungsschulen wurden zahlreiche neue Handelshochschulen gegrndet, die ersten nahmen 1898 in Leipzig und Aachen den Unterrichtsbetrieb auf. Hierauf folgten die Schulen in Kçln und Frankfurt im Jahr 1901 und im Berliner Westen 1906.156 Daran schlossen sich zahlreiche weitere Neugrndungen an, die zu einem engmaschigen Netz und zu einer ersten geregelten Ausbildung fhrte. Diese 154 „Die Organisation als Wissenschaft“, in: Organisation, Nr. 16/1906. 155 Lingenfelder/Loevenich. 156 „Die deutschen Handelshochschulen“, in: Organisation, Nr. 14/1907; Klein-Blenkers; zur Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland: 100 Jahre Handelshochschule; Mantel, S. 33 ff.

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Schulen wurden allerdings nicht primr auf staatliche Initiative gegrndet. So ging die Grndung im Fall der Berliner Handelshochschule auf eine Initiative der Berliner Kaufmannschaft zurck, die auch als erste Trgergruppe fr die Finanzierung der Schule aufkam.157 Fr diesen Berliner Fall hat Christoph Biggeleben herausgearbeitet, in welchem Maße sich der Aufbau einer neuen betriebswirtschaftlichen Ausbildungsinstitution in den sozialen Aufstiegsstrategien der Westberliner Wirtschaftseliten verorten ließ.158 Allein hierin zeigt sich bereits der enge Zusammenhang zwischen dem Aufbau neuer Ausbildungsfcher und -inhalte und der Dynamik bestimmter personeller Netzwerke. In Frankreich waren die Initiativen zur Grndung neuer Schulen weit weniger massiv. Obgleich auch hier eine geregelte Ausbildung des unternehmerischen Nachwuchses gefordert wurde,159 gab es vor 1914 lediglich zwei bedeutende Grndungen von handelswissenschaftlichen Schulen: Die bereits 1819 gegrndete Ecole suprieure de Commerce et d’Industrie de Paris (ESCP) und die 1881 erçffnete Ecole des Hautes Etudes de Commerce (HEC). Seit der bernahme der ESCP durch die Chambre de Commerce et d’Industrie de Paris (CCIP) waren beide Institutionen in der Trgerschaft dieser Kammer ; hnlich wie die Charlottenburger Handelshochschule gingen sie nicht auf staatliche Initiative zurck. Neben diesen beiden ab 1890 auch staatlich anerkannten Schulen, die schnell einen elitren Charakter bekamen, sollte allerdings fr Frankreich nicht das dichte Netz lokaler Handelsschulen unterschtzt werden, auf denen die kleinen Unternehmer und Hndler zumindest mit den grundlegenden Kenntnissen der Handelslehre vertraut gemacht wurden.160 Dies verweist auf die rasch vollzogene Trennung zwischen den elitren Ausbildungsinstitutionen im Bereich der unternehmerischen Erziehung und der nur geringfgigen Ausbildung der einfachen Kaufleute. In dieser Hinsicht nimmt Heike Franz fr den deutschen Fall an, dass die ersten Handelshochschulen ber lange Zeit den Charakter eines sozialen Aufstiegsinstruments hatten und besonders von kleinbrgerlichen Schichten frequentiert wurden.161 Trotz dieser Institutionalisierung wurden die Lehrinhalte an diesen Schulen stndig neu definiert, sie beruhten zunchst auf denen der alten kaufmnnischen Schulen, die Konturen der spteren Organisations- oder Betriebswirtschaftslehre waren noch nicht deutlich zu erkennen.162 So bestanden an der Pariser HEC und der ESCP die im engeren Sinne wirtschaftlichen Unter157 Ebd., S. 34 ff. Locke unterstreicht auch schon die frhe Bedeutung von Verbnden und zwischengeordneten Organisationen fr den Aufbau der technischen Hochschulen. So etwa die Initiative des 1856 gegrndeten Verbandes deutscher Ingenieure (VDI); Locke, S. 33 ff. 158 Biggeleben, S. 387 ff. 159 „De l’enseignement des mthodes pratiques dans les coles suprieures de commerce“, in: Mon Bureau, Nr. 6/1909. 160 Haendel, Frais, S. 331. 161 Franz, S. 36 ff. 162 Klein-Blenkers, S. 21; Mantel, S. 15.

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richtsinhalte aus den Fchern „Wirtschaftsgeografie“, „Handelskorrespondenz“ und „Handelsbuchhaltung“. Auf diese Fcher entfiel allerdings nur eine relativ geringe Stundenzahl.163 Im Vordergrund stand weiterhin der Unterricht von Mathematik und Sprachen, also von Hilfstechniken der Handelslehre. Wenn es in den ersten Jahren der deutschen und franzçsischen Hochschulen ein Gebiet gab, das vertieft behandelt werden konnte, waren es das Rechnungswesen und die Buchfhrung, in denen es die ersten grundlegenden Neuerungen gab.164 Die reale Wirkung der neuen Ausbildungssysteme, neuer wissenschaftlicher Methoden und der Institutionalisierung ganz neuer Wissenschaftsobjekte ist fr diese Zeit kaum zu messen. Der Anteil der Absolventen, die vor 1914 schon ihren Weg in die Praxis gefunden hatten, war gering. Und noch geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie in dieser Zeit eine Karriere machten, die es ihnen erlaubte, Organisation und Strategie ihrer jeweiligen Unternehmen entscheidend zu prgen.165 Umso mehr zeugen sie aber durch ihre Existenz nicht nur von neuen Fragestellungen, sondern auch von den Antworten, die auf solche Fragen aus den praktischen Erfahrungen der Unternehmen heraus gefunden wurden.

4.2. Lernen aus der Praxis: Schulbildung im Verhltnis zur Situation der Unternehmen „Das Konzept [des Taylorismus] lag gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowohl in Frankreich als auch in den Vereinigten Staaten in der Luft.“166 Die Behauptung, mit der Luc Marco seine Darstellung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ber die Unternehmen in Frankreich beginnt, wirft Fragen auf. Wie ist es zu verstehen, wenn eine Wissenschaft „in der Luft liegt“? Diese Frage verschrft sich durch die Eigenzuschreibungen einiger deutscher Akteure, wie etwa der Unternehmensleitung von Bosch im Jahr 1913, die ihre eigene Rolle in eine hnliche Richtung interpretierte: 163 1893 lag der Anteil dieser Fcher an der HEC bei etwa einem Viertel des Unterrichtsinhaltes, 1905 bei der ESCP machte er immerhin schon ein Drittel bis die Hlfte der Unterrichtsstunden aus; Lacombarde, S. 276. 164 Schweitzer/Wagner, S. 56 f.; Locke, S. 155 ff. 165 Diese Situation sollte andauern, sodass ein wirklich umfassend auf die Aufgaben eines „modernen Managements“ abgestimmter Unterricht erst mit der Verschulung nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet werden kann. Fr die erste Jahrhunderthlfte gibt Kocka den Anteil der leitenden Angestellten, die vor 1900 geboren worden sind und eine im engeren Sinne wirtschaftswissenschaftliche akademische Ausbildung erhalten hatten, mit 3,7 Prozent an; Kocka, Management, S. 147. 166 Marco, S. 145; Fridenson spricht fr die Zeit vor 1900 von einem „Climat prtaylorien“; Fridenson, Tournant, S. 1040.

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„Wir wenden Taylorsche Gedanken an, aber wir wandten sie schon an, ehe Taylor mit seinen Verçffentlichungen nach Deutschland kam: Wir haben unabhngig von ihm hnliche Wege eingeschlagen und wrden auch ohne sein Auftreten zu hnlichen Ergebnissen gekommen sein.“167

Ungeachtet einer gewissen Unschrfe in der Beschreibung der neuen Phnomene hat diese Perspektive auf die Fließrichtung neuer Wissensstrçme zwischen institutioneller Bindung und praktischer Anwendung eine interessante Bewertungsverschiebung der Genese betriebswirtschaftlichen Wissens zur Folge, denn sie verweist auf die starke Rolle unternehmerischer Praktiken in der Konstruktion neuer Wissensfelder, gerade im Bereich der sich entwickelnden Organisationswissenschaften. Dabei ging die Perspektive hufig paradigmatisch allein von der Person des Unternehmers aus, eine systemische Analyse des Unternehmens kam dagegen hufig zu kurz. Charakteristisch fr die Unternehmer der Industrialisierung bis zum Jahrhundertende war in Frankreich wie in Deutschland die relativ marginale Ausbildung, die sich, wenn sie berhaupt stattgefunden hatte, auf ein rein technisch-funktionales Wissen beschrnkte.168 Der „dispositive“ Faktor, der in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend reflektiert wurde,169 also das Potenzial von Koordination und Allokation verschiedener Faktoren bei bestmçglicher Stabilisierung eines sozialen Gleichgewichts, gehçrte dagegen noch nicht zur Ausbildung der knftigen Unternehmer. Ohnehin fand diese lange Zeit in einem familiren Kontext, im Freundeskreis oder doch in einem klar umrissenen sozialen Gefge statt, wodurch begnstigt wurde, dass informelle und implizite Wissensformen an Bedeutung gewannen. Der knftige Unternehmer erlangte seine Stellung meist nicht unabhngig von seinem Elternhaus, sondern war durch die familire Erziehung auf einen solchen spteren Aufgabenbereich vorbereitet. Die hohe Elitenstabilitt, die sich sptestens mit der zweiten industriellen Unternehmergeneration herauskristallisiert hatte und bis zum Zweiten Weltkrieg und danach charakteristisch bleiben sollte,170 sorgte fr eine stark personengebundene Wissensbertragung, die sich in erster Linie auf Elemente der Handelstechniken und auf technologische berlieferungen bezog. Mit den neuen technischen Konfigurationen der zweiten Industrialisierung wurden die direkt tradierten fachlichen Kenntnisse der Unternehmer zwar teilweise entwertet, dies galt jedoch nicht fr ihre soziale Stellung und deren Funktion, die ihnen auch innerhalb des Unternehmens zukam. So kommt Kocka zur folgenden Charakterisierung der Qualifikation des Unternehmers in der deutschen Industrialisierung: 167 168 169 170

Homburg, Anfnge, S. 182; hnlich auch Kocka, Management, S. 143. Locke, S. 29 ff. Klein-Blenkers, S. 95. Ziegler, S. 52; Kaelble/Spode, Sozialstruktur, S. 165.

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„Als Sçhne von vorwiegend selbstndigen Gewerbe- und Handelstreibenden profitierten die meisten von Traditionen aus der vorindustriellen Zeit, verfgten sie leichter als andere ber Kapital und unternehmerische Motivationen, ber Kenntnisse, Fertigkeiten und Beziehungen, die primr innerhalb der Familien weitergereicht wurden.“171

Diese Folie lsst Rolle, Handlungsspielrume und Normabweichungen der in den Fallstudien betrachteten Unternehmer hervortreten. Die Rolle von Carl Duisberg bei Bayer besttigt im Wesentlichen dieses Bild. In einem brgerlichen Umfeld im Bergischen Land aufgewachsen, wurde er durch familire Vermittlung in die regionalen wissenschaftlichen und unternehmerischen Kreise eingefhrt und etablierte sich dort endgltig durch die Heirat mit der Tochter des vormaligen Unternehmensleiters. Im franzçsischen Unternehmen PCAC war dagegen das Bild des Unternehmers wesentlich individualisierter. Alfred Pechiney, wie auch spter Adrien Badin, wurden nicht aus dem persçnlichen Bekanntenkreis ausgewhlt, sondern kamen von außerhalb. Beide waren weder einer gehobenen brgerlichen Schicht zugehçrig noch einem Netz lokaler oder regionaler Honoratioren. Dies ging mit der relativen Entfernung der Fhrungsebene von der konkreten Produktionsrealitt des Unternehmens in den einzelnen Fabrikanlagen einher. In der ersten Entwicklungsetappe des Unternehmens verlangte also die Heterogenitt des Unternehmens noch nicht nach einer personellen Geschlossenheit aufseiten von Verwaltung und Leitung. Die von Pechiney und Badin ausgefllte Funktion beruhte nicht in gleichem Maße auf ihrer sozialen Stellung, wie die von Duisberg und war auch innerhalb des Unternehmens in geringerem Maße sozial besetzt. Im Gegensatz hierzu standen die neuen franzçsischen Warenhuser, die sich durch ihre vermeintlich gnzlich neue Geschftskonzeption von allen berkommenen Vorstellungen unterschieden; doch gerade hier wurde dem Unternehmer eine starke, sozial integrative Rolle zugeschrieben. So ist es nicht verwunderlich, dass eine der ersten Personen, die sich çffentlich ber die grands magasins und ihre soziale Bedeutung ußerten, der Anhnger Frdric Le Plays, Edmond Demolins, war. Er sah die „Frage der Warenhuser“172 als eine Frage des Verhltnisses zwischen den Unternehmen einerseits und dem patron andererseits. Seiner Meinung nach war das franzçsische Warenhaus eine nahezu vorbildliche Verwirklichung des playsianistisch-paternalistischen Bildes, in dem der Unternehmer seine Autoritt weniger aus seiner Eigenschaft als Kapitaltrger als vielmehr als Trger des grçßten Teils des unternehmensrelevanten Wissens erhielt.173 Auch andere Beobachter schrieben dem Warenhaus einen Projektcharakter zu, der zu einer Stabilitt und zu einem dauerhaften sozialen Frieden zwischen Unternehmern und Angestell171 Kocka, Unternehmer, S. 34. 172 Demolins, Question; Kalaora/Savoye, S. 125 ff. 173 Demolins, Question, S. 18.

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ten fhren sollte.174 In letzter Konsequenz stellte das Warenhaus also eine mçgliche Antwort auf die allen Zeitgenossen bewussten, drngenden sozialen Probleme der Zeit dar. Der Prozess der Verwissenschaftlichung der Betriebsfhrung wurde von den Praktiken des Warenhauses geprgt. Die Huser waren wesentlich auf neue Kontrollmethoden angewiesen, die zu einem großen Teil auf innovativen Formen von Buchhaltung und Rechnungsfhrung aufbauten. Die Kçlner Leonhard Tietz AG engagierte fr die Beratung in diesem Bereich einen der ersten Absolventen der neuen Handelshochschule in Leipzig, Eugen Schmalenbach. Von 1905 bis 1919 beobachtete und kontrollierte er die Kontenfhrung des Unternehmens.175 Eugen Schmalenbach sollte in den Jahren vor dem Krieg, besonders aber in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine der Sttzen der Kçlner Handelshochschule und der beginnenden deutschen Betriebswirtschaftslehre werden und wesentliche Fortentwicklungen im Rechnungswesen anstoßen.176 Inwieweit die Erfahrungen, die der junge Wissenschaftler in der Warenhausbranche machte, in seine Forschung und Lehre einfloss, ist zwar nicht genau feststellbar, dass sie eine Rolle spielte, erscheint aber plausibel. Die statistische Kontrolle durch das Rechnungswesen, allgegenwrtiges Disziplinierungselement in den neuen Husern, erlangte nachhaltigen Einfluss auf die Chronologie der Konstituierung der neuen Betriebswirtschaftslehre. Andere Reflexionsbereiche wie das Personalwesen oder die Organisationslehre wurden erst spter systematisiert,177 auch wenn sie in manchen Unternehmensbranchen weitaus vordringlichere Probleme darstellten. In einigen der neuen deutschen Handelshochschulen war das Lernen aus der unternehmerischen Praxis von vornherein ein wichtiges programmatisches Element der Ausbildung.178 Der normative Gehalt neuer Lehren der Betriebswirtschaft entwickelte sich damit im Dialog mit der unternehmerischen Realitt. Je lnger die Institutionalisierung einer betrieblichen Organisationslehre auf sich warten ließ und je selektiver die ffentlichkeit betriebliche Organisationsprozesse wahrnahm, desto wichtiger wurde der Anteil dezentraler Unternehmenspraktiken. Fr Frankreich, das als Beispiel fr beide Elemente genommen werden kann, gilt es umso mehr, die große Divergenz zwischen çffentlichen und staatlichen Wahrnehmungsgewohnheiten und den vielfltigen Unternehmenspraktiken hervorzuheben. Allein schon die Predominanz technischen Wissens durch die starke Stellung der Ingenieure im betrieblichen Machtgefge favorisierte eine Unternehmenskonzeption, die sich aus der Praxis in die Theorie entwickelte, anstatt den umgekehrten Weg zu gehen. Die 174 175 176 177 178

Michel, S. 143 f. Potthoff/Sieben, S. 5. Schweitzer/Wagner, S. 56. Kieser, Geschichte; Krell. „Die Handelshochschule Berlin“, in: Organisation, Nr. 13/1906.

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neuen Brotechniken und ihre Eigendynamiken schienen ihrerseits eine hnliche Fließrichtung zur Folge zu haben.179 Diese starke Stellung praktischen Wissens erklrt zum Teil die geringere normative Kraft der franzçsischen Organisationslehren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.

4.3. Taylor und Fayol – Brche oder Kontinuitten vorhandener Unternehmenspraktiken? Die epistemologische Auseinandersetzung mit den Ursprngen der Organisationslehre greift nur zu hufig reflexhaft auf Frederick W. Taylor als Bezugspunkt moderner Unternehmensreflexion zurck. Taylor, der sich mit den Verçffentlichungen von Shop Management (1903) und den Principles of Scientific Management (1911) einem grçßeren Publikum bekannt machte, ging es darum, die produktive Arbeit durch eine physiologische Dekomposition der individuellen Arbeitsschritte und eine anschließende neue Zusammensetzung zu optimieren. Dieses System zielte dadurch nicht nur auf eine ergonomische Erfassung und Optimierung der einzelnen Arbeitsleistung, sondern auch auf eine Optimierung der Gesamtleistung durch mçglichst optimale Arbeitsteilung. Flankiert wurde Taylors Arbeitstypologie durch ein Konzept eines Geflechtes verschiedener hierarchischer Beziehungen, in denen der Arbeiter – je nach der unterschiedlichen Funktion der Vorgesetzten – von den Weisungen mehrerer Personen abhngig war.180 Im Laufe der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts sollten Taylors Prinzipien eine nahezu paradigmatische Stellung als Prototyp eines wissenschaftlichen Managementsystems bekommen. Noch immer werden die vereinzelten Umsetzungsversuche vor dem Krieg als eine Art Einfalltor der neuen Ideen beschrieben, die eine Welle auslçsten, die ihren lange anhaltenden Hçhepunkt in der deutschen Rationalisierungsbewegung oder in der franzçsischen Culture technique erreichte. Doch ungeachtet einiger, recht singulrer Anwendungsflle war die Rezeption des amerikanischen Managementvordenkers in Europa vor dem Ersten Weltkrieg nur schwach und die Gedanken Taylors flossen nur langsam in die çffentliche Wahrnehmung ein.181 Fehlendes Interesse, unzureichende Rezeption und mangelnde Adaptionsfhigkeit zahlreicher Industrie- und Handelsunternehmen sagen viel mehr aus ber Struktur, Reflexionsgrad, Akteursgruppen und Lernfhigkeit der deutschen und der franzçsischen Wirtschaft der Vor179 Haendel, Frais, S. 179 ff. 180 Soweit die Grundlagen des Systems, das sich in den Principles of Scientific Management ausgearbeitet fand. Ins Deutsche wurden die beiden Titel 1909 und 1913 bersetzt, auf Franzçsisch erschien Shop Management unter dem Titel Direction des ateliers 1907 und die Principles wurden unter dem Titel Principes de l’organisation scientifique des entreprises 1912 verçffentlicht. 181 Fr Frankreich etwa Beale, S. 87 ff.

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kriegszeit als die Betrachtung der Umsetzung in den sehr vereinzelten Fllen frher Taylorisierung, die zudem durch die Zsur des Krieges abrupt unterbrochen wurde.182 So erreichten viele der bedeutendsten Schriften Taylors und seiner Schler, die noch vor dem Krieg verfasst worden waren, Europa erst mit vier oder fnf Jahren Versptung.183 Anlass fr eine solche Beschftigung mit neuen Ideen wre durchaus vorhanden gewesen. Wie große Teile der Wirtschaftseliten,184 reisten auch die Manager der hier untersuchten Unternehmen in die USA, um sich mit anderen Ideen vertraut zu machen. So fuhr Carl Duisberg vor dem Krieg zweimal (1899 und 1903) nach Amerika und beschftigte sich hier ausgiebig mit dem Aufbau und der Struktur der dortigen Unternehmen. Adrien Badin reiste im Vorfeld der Produktionsansiedlung in den USA fr lngere Zeit dorthin und beschftigte sich mit den Unternehmensstrukturen vor Ort. Am essenziellsten waren grenzberschreitende Lernprozesse allerdings fr die Warenhausunternehmer.185 So entwickelten sich gerade aus den Warenhusern neue Reflexionspunkte und Organisationsschulen, die eine alternative Vision des spteren tayloristischen Verstndnisses von Management propagierten. Der Vorbildcharakter, der den Husern von zahlreichen Publizisten zugeschrieben wurde, beruhte dabei allerdings nicht auf ihren brokratischen Strukturen, sondern auf der Anerkennung eines extrem personalisierten Netzwerkes an der Spitze der Hierarchie einerseits und einer Begeisterung fr die technischen Neuerungen in den Warenhausunternehmen andererseits. In rein struktureller Lesart ergaben sich durchaus Analogien zwischen diesen beiden als modern empfundenen Unternehmensformen, dem Warenhaus und dem tayloristischen Organisationsprinzip. In den Warenhusern gab es keine einfachen, direkten hierarchischen Beziehungen, jeder Angestellte war auf verschiedene Weise mehreren Vorgesetzten gegenber verpflichtet. Dem Unternehmensleiter war in den grçßeren Husern eine Vielzahl von hierarchischen Positionen untergeordnet, zunchst die Verkaufsleiter der einzelnen Abteilungen und die Leiter der zuarbeitenden Dienste, wie dem Post- oder Reklamedienst. Diese standen einer großen Anzahl von Verkufern vor, die sie in Eigenregie mithilfe eines zweiten Assistenten fhrten. Gerade dieses Prinzip der Aufgliederung hierarchischer Beziehungen war auch fr Taylors Organisationskonzept wesentlich,186 wenn es auch heute unter Verwaltungswissenschaftlern berwiegend als dysfunktional angesehen wird.187

182 Homburg, Rationalisierung. 183 Etwa die ußerst wichtige und einflussreiche Untersuchung des amerikanischen Kongresses zu den sozialen Folgen des Taylorismus; Frey. 184 Schmidt, S. 122 ff. 185 Gerlach, Warenhaus, S. 45. 186 Das fr Taylors System charakteristische Prinzip der Mehrlinienhierarchie legte er nieder in seiner Hauptschrift: Taylor, Grundstze, vor allen Dingen, S. 131 ff. 187 Schreyçgg, Organisation, S. 156 ff.

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Dagegen war die Dekompositions- und Rekombinationslogik der tayloristischen Reprsentation produktiver Arbeit fr sehr viele Unternehmen nicht anwendbar. Eine Zerlegung des Arbeitsprozesses und damit seine Abkopplung von den rein technischen Produktionsablufen, die auf impliziten, arbeitswissenschaftlich nicht zu erfassenden Wissenszyklen aufbauten, schien zunchst undurchfhrbar. So konstatierte auch Henri Fayol in seinen Notizen zum Werk Taylors: „Wir kçnnen uns nicht vorstellen, dass sich diese [seine Prinzipien] auf alle Formen produktiver Arbeit ausweiten lassen.“188 Auch in Deutschland kam die Diskussion um die Einfhrung radikal neuer Produktionsorganisationen vor dem Krieg nicht ber die allerersten Anfnge hinaus. Die Ideen von Taylor, die in Deutschland insbesondere an der Person von Georg Schlesinger festzumachen sind, wurden zwar von einem Kreis interessierter Ingenieure im Umkreis des VDI zur Kenntnis genommen;189 ihre Bedeutung fr andere Branchen als die von Taylor und Schlesinger direkt angesprochene Metall verarbeitende Branche wurde jedoch nicht angedacht. Die Schwierigkeiten, Taylors Ideen auf andere Produktionskontexte zu bertragen, zeigt die Chemieindustrie in besonderem Maße auf.190 Im Jahr 1911 erschien in der Werkszeitung von Bayer in Leverkusen ein Artikel ber die neuen amerikanischen Managementtechniken, der den Prinzipien Taylors besondere Beachtung schenkte. Das allgemeine Interesse an solchen neuen Konzepten schien den Autoren und wohl auch den Lesern der Zeitung offensichtlich, ein mçglicher Bezug zu der Arbeit bei Bayer dagegen nicht. Zu unterschiedlich war die Vorstellung von der Arbeit und ihrer Organisation. Die strenge Planungsfixierung des Chemieunternehmens nahm den Faktor der menschlichen Arbeit als „notwendiges bel“ wahr. Das Produktionsideal lag in der reinen Ausrichtung an technischen Prozessen, bei denen der Arbeitsfaktor einerseits weitgehend durch Kapital in Form von Produktionsanlagen und andererseits durch die Verwendung von Wissen und Forschung substituiert werden sollte. Menschliche Arbeit war in einem solchen Produktionskontext tendenziell nicht zu optimieren, sondern zu minimieren. Damit war die Farbenindustrie Teil eines breiteren Trends der Zweiten Industrialisierung, die durch die steigende Kapitalintensitt und Mechanisierung das Augenmerk zunehmend von der Produktivitt menschlicher Arbeit hin zur Kapitalproduktivitt richtete.191 Die ersten Versuche, den Taylorismus in neuen Branchen wie den Warenhusern anzuwenden, sollten dagegen nicht ganz so lange auf sich warten lassen wie in der Chemiebranche. Schon 1917 experimentierte das Pariser Haus Belle Jardinire mit den neuen Konzepten.192 Auslçser hierfr mag der durch den Krieg entstandene Arbeitskrftemangel gewesen sein. Dehnt man die Lesart des 188 CHEVS, HF 5 bis. 189 Schlesinger. Der VDI lud in dieser Zeit hufiger amerikanische Schler von Taylor ein, die dessen Ideen erlutern sollten, belegt etwa bei: Dodge. 190 Tacke, Rationalittsverlust, S. 17 ff. 191 Homburg, Anfnge, S. 170 f.; Levy-Leboyer, Patrons, S. 53 ff. 192 Faraut, Belle Jardini re, S. 102 ff.

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Taylorismus auf seine soziale Komponente aus, so stellten die Warenhuser wichtige Meilensteine in der Entwicklung einer vernderten Arbeitsreprsentation dar. Der Lesart Gramscis folgend, waren die sozialmoralischen Interpretationen und Erziehungsversuche notwendige Begleiterscheinungen einer solchen Intensivierung der Arbeit, die neben der reinen Morphologie der Arbeit auch ein bestimmtes Menschenbild propagierte.193 Eine solche Disziplinierung der Angestellten durch Eingriffe in ihre sittliche Erziehung, ihre Gesundheit und ihre Sexualitt waren – wie gezeigt – genau die markanten Merkmale der Vorkriegsjahre in den Warenhusern. Aus Sorge vor einer zu schnellen Ablehnung seiner Ideen durch die Verwaltungsangestellten entschied sich Taylor, deren dispositiven Befugnisse und Handlungsoptionen nicht mit in sein System einzubeziehen.194 Seine Konstruktion des Managements in einem geschlossenen Produktionsapparat schien sich nur schwer auf die Realitten in einem Unternehmen umsetzen zu lassen, das sich als Netz ber weite geographische Entfernungen erstreckte. Diese Divergenz von Theorie und Realitt wurde von der mangelnden Umsetzung taylorscher Theorie in Frankreich vor dem Krieg, trotz relativ breiter Rezeption und wirkungsmchtiger Interessengruppen, widergespiegelt. Taylors Vorstellungen schienen an den Realitten der dezentralen franzçsischen Wirtschaftsgeographie vorbeizugehen, obgleich die franzçsische Gesellschaft zwischen 1900 und 1920 weitgehend fr Konflikte zwischen Arbeitern und Kapitaleignern sensibilisiert war und Lçsungsvorschlge fr einen solchen Konflikt aufzugreifen versuchte.195 Auch eine Person wie Henry Le Chatelier, der durch seine Berufserfahrungen, aber auch durch seinen Lehrstuhl am Collge de France eine Vielzahl von Verbindungen in die Wirtschaft hatte und ber sie versuchte, die Ideen von Taylor zu propagieren,196 galt zwar durchaus als Vordenker einer systematisierten Unternehmensorganisation, eine praktische Anwendung des neuen Systems in nennenswerten Teilen der franzçsischen Wirtschaft konnte er aber nicht bewirken. Le Chatelier stand durch seine chemischen Arbeiten in engem Kontakt mit einigen großen chemischen Unternehmen in Frankreich, darunter PCAC.197 Als bekanntester Vertreter des Taylorismus in Frankreich schien er sich entweder nicht fr die Produktionsorganisation dieser Branche interessiert zu haben oder seine Bemhungen waren nicht von Erfolg gekrçnt. In den çffentlichen franzçsischen Debatten gab es allerdings auch Stimmen, die Taylors System und Le Chateliers Bemhungen, es in Frankreich zu etablieren, nicht unwidersprochen hinnahmen. Taylors Versuch, sein eigenes Konzept als one-best-way darzustellen, fhrte zum unmittelbaren Widerspruch 193 194 195 196 197

Gramsci, Amerikanismus. Kocka, Management, S. 144; Nelson, S. 486. Fridenson, Tournant, S. 1034 ff. Moutet, Origines, S. 18 f. Fridenson, Circulation, S. 81 f.

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derjenigen, die in einer traditionellen Praxis der Arbeitsorganisation die kreativeren Potenziale zu erkennen glaubten: „[das Taylorsystem] tçtet alle Initiative und alle Erfindungsgabe der Arbeiter selbst ab“,198 paraphrasierten die Kritiker von Gewerkschaftsseite ihre Einwnde gegen eine solche neue Arbeitsorganisation. Auch Henri Fayol sah die Schwche von Taylors System in der mangelnden Reflexion der administrativ-dispositiven Funktion und des Wechselspiels zwischen Zentralisierung und dezentralem Produktionsregime.199 Taylors Fehler lag nach Fayols Auffassung also in seiner mangelnden Verhltnismßigkeit: „Taylor versteht den Teil als das Ganze. Seine Definition ist die Kunst zu befehlen, und nicht die Definition der Fhrungs- oder Leitungskunst“,200 schrieb er in seinen Aufzeichnungen bei der Lektre von Taylors Hauptwerk. Stattdessen brachte Fayol in seinen eigenen Entwrfen die unternehmerischautoritren Handlungen immer in Zusammenhang mit einer parallelen innerbetrieblichen Reflexion der hierarchischen Autorittsfelder. Hieraus begrndete Fayol seine Theorie des Verwalters, dessen zentrale Fhigkeiten zum ersten Mal in seinen rein administrativen Kapazitten liegen sollten und nicht mehr in den technischen Kenntnissen.201 In seiner Konzeption spaltete er administratives und technisches Wissen in zwei von einander getrennte Wissensgebiete. Die jeweilige Kompetenz in einem der beiden Gebiete sollte in Abhngigkeit von der hierarchischen Position umgekehrt proportional sein. Fayol selbst fertigte fr seine Vortrge dabei folgendes Schema an:202

Grafik 17: Schema Vortrge.

198 Poget, S. 60; fr Deutschland etwa Lederer, Bedeutung. 199 Breeze, S. 8; Reid, Gn se. 200 Notes de lectures sur Taylor, 1913, CHEVS HF 5 bis; hierzu die relativ parallelen Kritiken von Emil Lederer, der der Meinung war, dass „die Taylor-Betriebsorganisation die Unternehmerfunktion, genau wie die des Arbeiters, evakuieren und im Bewußtsein der Arbeiterschaft relativ bedeutungslos erscheinen lassen“ msse und hierdurch schon berholt geglaubte Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital im Sinne eines „primitiven Sozialismus“ wieder verstrkte, da eine vermittelnde Ebene zwischen den beiden nicht ausreichend mitbedacht sei; Lederer, Bedeutung, S. 59 und S. 92; Homburg, Anfnge, S. 193. 201 Vortrag vom 29. 9. 1898; CHEVS HF 4 Dossier 3. 202 Ebd.

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Die gegenlufige Tendenz von Qualifikationen sollte verhindern, dass sich unkontrollierbare Freirume in der unteren Hierarchieebene bildeten.203 Die „capacit administrative“, von der Fayol also redete, war eng an eine betriebliche Kontrolle geknpft. Durch seine Ausfhrungen zu einer allgemeingltigen Definition der Verwaltung machte Fayol dabei die Verbindung deutlich, die er zwischen der unternehmerischen Sphre und der çffentlichen Verwaltung sah. Schon 1898 machte er vier Bereiche aus, in denen die administrativen Prinzipien das Grundgerst der Handlungen darzustellen hatten: 1. der Handel, 2. die Industrie, 3. die Armee und 4. die Familie.204 Selber interessierter Leser des Werkes von Gustave Le Bon, stellte er damit eine Verbindung zwischen einer klassisch psychologisierenden Wahrnehmung der Arbeit und des darauf aufbauenden Unternehmens und einer neuen Auffassung der Konvergenzen zwischen Staat, Wirtschaft und Armee her. Spter als in Deutschland, aber prinzipiell in hnlicher Richtung, wurden die Vorstellungen von einer regulierenden Verwaltung und den technischen Ablufen des Unternehmens damit wieder zueinandergefhrt. Fayol, der sein Hauptwerk, die Administration industrielle et gnrale, erst 1916 publizierte, wird in der Geschichte der Managementdoktrin in der Regel zu spt eingeordnet. Er begann bereits um die Jahrhundertwende eine außerordentlich rege Vortragsttigkeit, in der er mehr oder minder alle Leitgedanken seines Konzeptes formuliert hatte.205 Von diesen weitreichenden Aktivitten zur Propagierung seiner Ideen zeugen zahlreiche Aufzeichnungen.206 Doch trotz des bereits betrchtlichen Einflusses Fayols auf die Diskussionen ber die Organisation der Unternehmen darf sein Einfluss auf die Unternehmenspraktiken nicht berschtzt werden. Gerade der Grundsatz, der die technische Vorbildung der Fhrungspersonen in den Unternehmen zugunsten einer umfangreicheren administrativen Vorkenntnis in den Hintergrund rcken ließ, wurde lange Zeit nicht verwirklicht. So waren bei PCAC ebenso wie in der gleichen Periode bei Bayer die Direktoren Chemiker, die in den jeweiligen Fachgebieten besondere Leistungen gezeigt beziehungsweise durch die Einfhrung neuer Produktionsverfahren auf sich aufmerksam gemacht hatten. Nachweise besonderer Qualifikationen in Hinblick auf die Verwaltung eines Unternehmens wurden bei ihrer Berufung nicht verlangt. Auch wenn die neuen Ideen, die in den Jahren vor dem Krieg in Europa wie in den USA zu zirkulieren begannen, die Produktion der allermeisten Unternehmen im Wesentlichen unberhrt ließen, gingen sie doch eine Symbiose mit den vorher existierenden Reprsentationen produktiver Arbeit ein und 203 204 205 206

Reid, Gn se, S. 79. Vortrag vom 29. 9. 1898; CHEVS HF 4 Dossier 3. Peaucelle, Henri, S. 121. CHEVS HF 4 Dossiers 1 – 5; als weiterer Beleg fr die Bedeutung, die Fayol schon um die Jahrhundertwende erlangt hatte, mag das Interesse gelten, das er durch die erfolgreiche Konsolidierung der zuvor maroden Anlagen von Forchambault-Decazeville erlangt hatte; Le Jour, 3.3.1901.

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vernderten so nachhaltig ihren Sinngehalt. So fanden in den Jahren vor dem Krieg die ersten Diskussionen darber statt, die Arbeit der Broangestellten zu intensivieren. War diese Angestelltenarbeit bislang vor allen Dingen eine Arbeit gewesen, die ein hohes soziales Prestige implizierte und allein durch ihren Ttigkeitsbereich die Angestellten im allgemeinen Sprachgebrauch zu Beamten erhob,207 wurde nun im Fachblatt Organisation zum ersten Mal darber spekuliert, welche Menge ein Angestellter pro Tag zu diktieren hatte und mit welchen Mitteln dies am besten zu bewerkstelligen war.208 Zwar gab es keine Methode, die eine solche Rationalisierung der Broarbeit nach einem tayloristischen Vorbild systematisieren konnte, doch war der Einfluss der Diskussionen ber Taylors Ideen dennoch zu erkennen. Sie ging dabei einher mit der schon oben beschriebenen normativen Debatte um die Einfhrung ganzer Brosysteme, parallel zu den technischen Errungenschaften in der Industrie. Diese stellten den ersten, vorwissenschaftlichen Versuch dar, die Sphre der Verwaltungsttigkeiten zu durchdringen, um so die großen Spielrume des schwer zu berwachenden, brokratischen Apparates langsam einzuengen.209 Die postitivistische Verwissenschaftlichung der Organisationslehre erreichte neue Formen, die andere Wissensfelder in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts bereits berschritten hatten. Hierzu gehçrten, neben ihrer Institutionalisierung, auch die Vereinfachung und Modellierung komplexer Zusammenhnge und der starke Glaube an die unbedingte Fortschrittlichkeit dieses neuen Wissensfeldes.

207 Kocka (1981), bes. S. 23; Kocka macht hier allerdings auch die Entwicklung des Beamtenbegriffes deutlich, der sich ab der ersten Industrialisierungsphase immer mehr von einem Funktionsbegriff zu einem Sozialstatus, verbunden mit Privilegien und einer bestimmten Gehaltsstufe wandelte. 208 „Ueber den Wert konzentrierter Arbeit“, in: Organisation, Nr. 3/1914. 209 Kocka (1969), S. 356; Berger/Offe (1981); Chandler/Daems (1979), S. 33.

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Zusammenfassung und Ausblick: Zwischen Branchen und Nationen. Die unterschiedlichen Bezugsebenen des Unternehmensvergleiches

„Wenn Worte zu Taten werden, verflchtigen sich die Taten, und die Hçlle des Paradoxons çffnet sich und verschlingt alles. Irgendetwas stimmt hinten und vorne nicht in der Welt, und gleichzeitig kann es nicht anders sein, als es ist.“ Harry Mulisch, Die Entdeckung des Himmels

Bis heute ist die Betriebswirtschaftslehre eine der wenigen Fachgebiete, die noch nicht von einer poststrukturalistischen Infragestellung der eigenen Grundlagen erfasst worden ist, deren historisches Selbstverstndnis mithin weiterhin den positivistischen Selbstdarstellungen des Faches und seines institutionellen Umfeldes entlehnt ist. In dieser Beziehung behlt das Narrativ einer fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Management- und Verwaltungswissenschaften hin zu einer immer leistungsfhigeren Form der Unternehmensorganisation seine Rolle im Selbstverstndnis der Unternehmenswissenschaftler. Die partiellen Vor- und Rckschritte, Kreisbewegungen und historischen Verwerfungen zwischen unternehmerischer Praxis und deren Theoretisierung bleiben weitgehend unreflektiert. Eine epistemologische Auseinandersetzung mit Organisationslehre und Betriebswirtschaft fordert den Historiker und bietet gleichzeitig die Mçglichkeit, Praktiken und Bestrebungen zu einer Verwissenschaftlichung miteinander in einen Dialog treten zu lassen. Organisation historisch zu denken, Institutionalisierungsprozesse, aber auch die Geschichte ihrer inhaltlichen Formen zu hinterfragen, gehçrt zu den Aufgaben historischer Forschung.1 Die Antagonismen zwischen den sich bereits vor 1914 herauskristallisierenden technischen Visionen und sozialen Bedeutungszuschreibungen zeigen auf eindrckliche Art, welche Pfade einer knftigen Organisationswissenschaft bereits vor dem Ersten Weltkrieg angedacht waren, welche gesellschaftlichen Visionen sich mit ihnen verbanden und wie stark beide durch Praktiken der Unternehmensorganisation in sehr eigenen sozialen, wirt1 Williamson, Emergence.

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schaftlichen und kulturellen Kontexten fixiert waren. In seinem Lehrbuch von 1914 paraphrasierte der deutsche Wissenschaftler Grull sein Verstndnis einer neuen Organisationslehre wie folgt: „Organisieren heißt, die zur Durchfhrung gegebener Arbeiten nçtigen Personen und Hilfsmittel zu einem solchen planmßigen Zusammenwirken zu bringen, daß die Arbeiten laufend sachgemß und betriebssicher ausgefhrt werden.“2 Ein Lehrbuch aus Frankreich dagegen formulierte das Problem der Organisation aus einer anderen Perspektive, in der das Konzept zum umfassenden Lçsungsinstrument gesellschaftlicher Probleme stilisiert wurde: „Die Lçsung der sozialen Frage liegt in der Befriedung durch die Organisation.“3 Die Spannweite zwischen diesen unterschiedlichen Aussagen verweist auf die Menge mçglicher Organisationsbegriffe, die vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland wie in Frankreich zirkulierten. Der Vergleich solch offensichtlicher Widersprche kristallisiert sich an drei Trennlinien: zum einen die Unterscheidung zwischen einer rein unternehmensinternen und einer externen, gesellschaftlichen Perspektive auf diese betrieblichen Prozesse; zum zweiten die Unterscheidung nach betrachteten Branchen und ihren jeweiligen lokalen Bezugssystemen; und zuletzt einer nationalen Ebene. Es war Ziel dieser Darstellung, durch die Untersuchung auf verschiedenen Ebenen allzu plakative Schematisierungen in Kategorien von Modernitt und Rckstndigkeit unternehmerischer Aktivitten, aber auch von Verwaltungskulturen zu durchbrechen.4 Die Fallstudien aus der chemischen Industrie zeigen dabei trotz teils hnlicher Problemstellungen sehr unterschiedliche Wege der Unternehmen, mit dem wachsenden Organisationsbedarf umzugehen. Einer planerischen Vision bei Bayer stand eine weitgehend von externen Faktoren abhngige Struktur bei PCAC gegenber. Einmal angewandte Strategien der Personalverwaltung fhrten allerdings beide Unternehmen in feste Logiken und machten sie in der weiteren Entwicklung von diesen getroffenen Entscheidungen abhngig. An solche Erfahrungen aus der produzierenden Großindustrie knpften auch die neuen Unternehmensformen des Dienstleistungssektors – die Warenhuser – an, entwickelten ihrerseits aber auch ganz neue und eigene Organisationsformen. Um diese Vielzahl von Optionen im Blick zu behalten und nicht teleologisch beim Idealbild des sich brokratisierenden und taylorisierenden Großunternehmens anzulangen, stellen sie interessante Kontrastflle dar.5 Dies gilt umso mehr aufgrund der Wahrnehmung dieser Organisations2 Grull, S. 12. 3 Benoist, S. 26. 4 Im Sinne von Kocka und Haupt: „Man kann Phnomene nicht in ihrer vielschichtigen Totalitt – als volle Individualitten – miteinander vergleichen, sondern immer nur in gewissen Hinsichten. Der Vergleich setzt mithin Selektion, Abstraktion und Lçsung aus dem Kontext voraus.“; Haupt/ Kocka, Historischer Vergleich, S. 23. 5 „Yet what our analysis of economic actors as knitting together and redefining past and future in their moment-to-moment strategic choices suggests, and what the research reported here reveals,

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prozesse durch die urbane ffentlichkeit. Wussow etwa sah mit den Warenhusern die innovativen Prinzipien modernen Wirtschaftens in den Großstdten angekommen: „Die Organisation des Fabrikbetriebes hat sich ins Gewaltige gesteigert und drckt dem Zeitalter ihren Stempel auf. Ein gedankenreiches System der Erzeugung folgt auf das andere, um Neueres, Schçneres an die Stelle des Alten zu setzen. Und das Großmagazinsystem ist nur die Konsequenz und Ergnzung der bisherigen industriellen Entwicklung.“6

Doch die wesentlichen Erneuerungen dieser „Maschinen der Verkaufsorganisation“7 lagen nicht in ihren rein internen Organisationsmerkmalen. Sie waren nicht als pure Fortentwicklung traditioneller Organisationslogiken zu verstehen, sondern verstanden sich auch in diesen Strukturen erst aus der direkten Abhngigkeit von der umgebenden, brgerlich urbanen Kultur und deren Werten. Hierber erlangten sie wiederum fr weite Teile der ffentlichkeit ihren besonderen Vorbildcharakter, durch den auch die Verwaltungsformen einem breiten Publikum bekannt gemacht wurden. Der populre Volkswirt D’Avenel stellte die Warenhuser an den Anfang seiner Analyse der „Mcanismes de la vie moderne“, in der er versuchte, die Neuerungen des wirtschaftlichen Lebens in Frankreich zu untersuchen.8 Dieses Merkmal der Warenhausorganisation, die sich im Wechselverhltnis mit ihrer Umwelt befand, verweist nur zu deutlich auf die entscheidende Klammer, die die Analyse großer Unternehmen – ob im Produktions- oder Dienstleistungssektor – miteinander verbindet: sie alle lassen sich keinesfalls als geschlossene Systeme lesen. In beiden Lndern gestaltete sich die Organisation großer Unternehmen im Austausch mit ihrer Umwelt, in Hinsicht auf geographische Maßgaben, aber auch soziale und kulturelle Normen. Whrend solche externen Gegebenheiten fr viele Produktionsunternehmen allerdings durchaus beeinflussbare oder zumindest kalkulierbare Elemente darstellten, waren sie fr die Organisation der Warenhuser konstante Risikofaktoren.9

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is that even the most apparently tranquil epochs of economic history never have the matter-offactness that the notion of grand periodization almost inevitably imposes to them.“ Sabel/Zeitlin, S. 29, auch S. 2 ff. Wussow, S. 13. Haendel, Pratique, S. 24. D’Avenel, Mcanismes. Die Publikationen, die das Warenhaus als Prototyp des modernen Lebens bezeichneten, sind auch in Deutschland zahlreich. Als Beispiel: Aus den Waarenhusern. In diesem Sinne unterscheidet sich diese Arbeit von dem was Tolliday und Zeitlin als eine Art Mainstream der Unternehmensgeschichte beschrieben haben: „Despite their apparent variety […], most analyses of business behaviour share certain fundamental features. […] they regard the conduct of the firm as a more or less functional response to changing environmental pressures. Second, this functional vision of the firm typically goes hand in hand with a unilinear evolutionary model of stages of development.“; Tolliday/Zeitlin, S. 1.

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Die Entwicklung eines solchen Referenzrahmens soll hier in drei Etappen zusammengefasst werden, die gleichzeitig eine Klammer um die vielschichtigen und komplexen Vergleichslinien dieser Untersuchung bilden.

Um 1890 „In einer unorganisierten Gesellschaft ist es unmçglich, trotz detailliertester Militrreglements, eine gute Armee zu haben.“10 Als Demolins diesen Satz schrieb, war eines der letzten Dinge, die er im Kopf hatte, eine Armee im militrischen Sinne. In einer noch immer militarisierten Gesellschaft war die Armee vielmehr bloßes Symbol fr die Funktionsweise aller gesellschaftlichen Glieder. Genau diese Funktionsweise wurde allerdings um 1890 in Frankreich allgemein infrage gestellt. Ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und den Erfahrungen der Pariser commune addierte sich zu der Wahrnehmung einer Entkopplung verschiedener Gesellschaftsbereiche das Trauma der Niederlage und der labilen sozialen Situation. Beinahe in allen Bereichen konstatierten die Beobachter eine Krise, zu deren Lçsung neue Leitmodelle bençtigt wurden. Ein Auseinanderdriften von gesellschaftlicher Entwicklung, staatlicher Aktion und wirtschaftlicher Dynamik meinten viele Beobachter in den Jahren um 1890 in Frankreich zu beobachten. Das soziale Feld des Unternehmens, die Organisation der Produktion und die wirtschaftliche Entwicklung wurden hufig in einen psychologisierenden Zusammenhang gebracht, die stetig wachsenden Strukturen wurden als Problem wahrgenommen und ihre sozialen Konflikte vor dem Hintergrund der gerade entstehenden neuen Massenpsychologie als Gefahr fr die Gesellschaft interpretiert.11 Diese Massenpsychologie war ihrerseits tief verankert in der kulturpessimistischen Revolutionsangst großer Teile des franzçsischen Brgertums, die durch die Ereignisse der commune erneut geschrt wurde. Das zunchst integrative Konzept Le Plays, der das Unternehmen nach einem familir-hierarchischen Bild interpretierte, sttzte dagegen eine Auffassung, die den sozioçkonomischen Kontext des Unternehmens in bestehende Wertemuster einordnen wollte und damit der Definition eines autonomen Handlungsfeldes fr die Arbeiterschaft entgegenwirkte. Die Einheit verschiedener gesellschaftlicher Bereiche – nicht zuletzt die Organisation von Armee und Unternehmen – wurde hier zum wirkungsmchtigen Leitbild. Vor diesem Hintergrund war der Rekurs auf militrische Institutionen, wie etwa die Praxis, ehemalige Offiziere in den Warenhusern als berwa10 Demolins, O en est, S. 13. 11 Als Beleg fr den nachhaltigen Einfluss des Forschungsgebietes der Massenpsychologie auf die Reflexion ber die Unternehmen mçgen die Lektreaufzeichnungen des jngeren Henri Fayol zu Gustave Le Bons „Psychologie des foules“ gelten; CHEVS HF 4, Dossier 4.

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chungspersonal einzustellen, eine Konsequenz – wenn auch keine zwangslufige – aus dem Bewusstsein, dass militrische Organisationsmethoden wirtschaftliche Leistungsfhigkeit strkten. Diese Analogie zwischen militrischer Koordination und der beginnenden Reflexion ber das Unternehmen verlief parallel zu einer hnlichen Entwicklung in Deutschland, wo in vielen Unternehmen, nicht zuletzt auch in den Warenhusern und bei Bayer, auf solche Praktiken zurckgegriffen wurde. Disziplinierung des Personals durch militrische Methoden war weder spezifisch fr Frankreich noch fr Deutschland, sondern stellte in beiden Lndern eine wirkmchtige Form der Verschrnkung von nationalisierten Diskursen und Unternehmenspraktiken dar, die sich noch weit in das 20. Jahrhundert fortsetzte.12 Doch trotz solcher Parallelitten und gegenseitig verschrnkter Entwicklungen waren Wahrnehmung und Unternehmenspraxis in beiden Lndern zunchst von Unterschieden geprgt. Die Wahrnehmung des Unternehmens als Institution wirtschaftlicher Entwicklung, dessen Standorte zumeist aber rumlich und im Bewusstsein abseits des politischen Zentrums lagen, teilte sich in zwei verschiedene Richtungen. Einerseits konnten viele franzçsische Unternehmen Organisationspraktiken einfhren, die durch exzessive Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Bezahlung andernorts nicht haltbar gewesen wren. Andererseits konnten sie sich mit individuellen Regelungen sehr przise an lokale Kontexte anpassen. Dies galt umso mehr, als gerade die kollektiven Handlungsmçglichkeiten der Arbeiter, etwa eine beginnende Gewerkschaftsbewegung, diskreditiert waren und nicht zuletzt durch das lange geltende Streikverbot behindert wurden. Auch hierfr war das Misstrauen weiter Teile der ffentlichkeit gegen jegliche Art von Massenbewegung von entscheidender Bedeutung. Die Unterschiede zur deutschen Situation waren erheblich. Hier war das Unternehmen schon frh zur wichtigen Institution in einer Aufholjagd nach der versptet begonnenen Industrialisierung geworden. Sptestens seit den Grnderjahren wurde der wirtschaftliche Erfolg bestimmter Branchen zum Objekt nationalen Prestiges. Dieser Projektcharakter schrieb sich in die Entwicklung der Unternehmen bis in die untersten Organisationsstufen ein und war ein Grund fr die exzessiven Planungsttigkeiten der Unternehmer. Sie determinierten aber auch den wissenschaftlichen Diskurs der Unternehmensorganisation. Das Unternehmen und seine Organisation waren Felder, die nicht mehr durch die Beschreibung psychologischer Dynamiken oder als kulturell zu hinterfragende Objekte erfasst wurden; ihre spezifisch wirtschaftliche Logik, die sich von einer militrischen, einer politischen oder einer zivilen unterschied, stand außer Frage. Die Diskussion konzentrierte sich also nicht auf eine Eingliederung des Unternehmens in gesellschaftliche Prozesse, sondern auf dessen Einrahmung und przise Erfassung. Die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts oder die Gewerbeordnung von 12 Fear, S. 6 u. S. 111 f.

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1891 begrenzten zwar Entscheidungsspielrume betrieblicher Organisation nachhaltig, doch nach wie vor war die Bandbreite der mçglichen Entwicklungspfade dieser Organisation betrchtlich.

Um 1900 Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war geprgt von großer Lernbereitschaft in vielen Bereichen wirtschaftlichen Lebens, die Frage nach der adquaten Organisation der Unternehmen wurde auch transnational diskutiert. Fr viele Akteure der deutschen Wirtschaft war um die Jahrhundertwende die US-amerikanische Wirtschaftsentwicklung das neue Referenzmodell.13 Politiker und Lobbyisten sahen eine „Aufholjagd“ im Gange, durch die es dem deutschen Reich gelingen sollte, in verschiedenen Branchen und in Bezug auf verschiedene Indikatoren selbst die Konkurrenz aus den USA zu berflgeln. Doch der Wettstreit mit den USA bedingte auch eine Reflexion der eigenen Methoden, ein Moment durch das sich erst spezifisch nationale Wirtschaftsformen zu formulieren begannen: „Noch hat sich Amerika das fhrende Banner nicht entreissen lassen, noch heisst’s bei uns in Deutschland, wenn etwas wirklich mal ,anders‘ als blich gemacht wird: dort wird amerikanisch gearbeitet und immer noch – auch das muss betont werden, hat man fr das Plumpe und Schwerfllige das Wçrtchen ,deutsch‘ brig.“14

Die paradigmatische Diskussion ber eine „Amerikanisierung“ der deutschen Wirtschaft, deren Ausgangspunkt immer wieder in der Zeit um 1900 gesucht wird,15 sollten aber nicht verdecken, dass sich Grundzge eines nationalen Referenzrahmens fr unternehmerische Stile auch erst in dieser Zeit entwickelten. Befçrdert durch die Institutionalisierung der Sozialgesetze brachte die Phase um 1900 eine ganz neue Form von institutionell verankerten Praktiken der Unternehmensfhrung hervor. Hierzu gehçrten neben staatlichen Institutionen auch die aufkommenden Handelshochschulen als Orte, an denen zuerst eine dezidiert betriebswirtschaftliche Ausbildung angeboten wurde, informelle Netzwerke, wie die Zirkel um die Zeitschrift „Organisation“, aber auch neue Formen rechtlicher Umrahmung. Institutionalisierungsprozesse und politisch-lenkende Maßnahmen zur Einrahmung des wirtschaftlichen Erfolgs wurden von Publizisten, aber auch von den Akteuren nur zu oft in einem Referenzrahmen national ambitionierten Konkurrenzdenkens interpretiert. So wurde die Einrichtung der Handelshochschulen von Beobachtern wie von Grndern zum nationalen Projekt stilisiert, dessen Interesse vor allem in der Konkurrenz zum anglo13 Schmidt, S. 127 ff.; Lange, S. 318 ff. 14 „Reklame und Organisation“, in: Organisation, Nr. 4/20.2.1907. 15 Ebbinghaus; Nolan; Kipping/Tiatsoo.

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amerikanischen Erziehungssystem lag.16 Doch ungeachtet eines solchen Konkurrenzdenkens bleibt festzuhalten, dass diese Anstze zu einer Verwissenschaftlichung der Unternehmensorganisation sich durchaus auf unabhngigen Pfaden bewegten. Der Blick deutscher Politiker und Publizisten ging vornehmlich, aber nicht ausschließlich ber den Atlantik. Der Vergleich mit dem direkten Nachbarn Frankreich behielt zwar seine Bedeutung, allerdings hatte er hufig affirmativen Charakter.17 Franzçsische Publizisten hingegen setzten ihre Suche nach den Elementen des deutschen Erfolgskurses in der Wirtschaft fort. Ihre Schriften verstanden sich auch nach der Jahrhundertwende aus dem latenten Gefhl der eigenen Inferioritt. Auch wenn der verhltnismßig vorteilhafte soziale Status der franzçsischen Arbeiter gerne zur Kenntnis genommen wurde, so erkannte man doch hufig genug die geringere Produktivitt ihrer Arbeit.18 Doch gerade in der Situierung solcher nationalistischen Diskurse liegt die Gefahr, sie zu einem allgemeingltigen Paradigma der Unternehmensorganisation dieser Zeit zu stilisieren. Die fhrenden Manager und Großindustriellen Deutschlands waren hufig in erstaunlichem Maße unempfindlich gegenber den chauvinistischen Ambitionen wilhelminischer Machtpolitik. Bei vielen Unternehmern fand eine bloß nationalistische Prestigepolitik ebenso wenig Anklang wie die im Brgertum immer strker werdenden antisemitischen Tendenzen. Stattdessen wurde der Kaufmann oft als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen stilisiert, dessen Interesse ein weitgehend krisenfreies Geschft war, das nur im Frieden mçglich schien.19 Deutlichstes Zeichen fr eine solche divergente Wahrnehmung waren – neben anderen internationalen Kongressen und Veranstaltungen – auch die Weltausstellungen, allen voran diejenige von 1900 in Paris. Was die Politiker der verschiedenen Nationen nur zu hufig als nationale Leistungsschau interpretierten, war fr Industrielle und Unternehmer oftmals ein willkommenes Ereignis, um sich mit anderen Konzepten der Unternehmensverwaltung zu beschftigen. So wurden in Frankreich beispielsweise die neuen Ideen von Taylor zum ersten Mal auf der Weltausstellung zur Kenntnis genommen.20 16 Als Beispiel einer nationalistischen Umdeutung: „In der englischen und amerikanischen Handelswelt, wo man das deutsche Erziehungs- und Unterrichtswesen als den gefhrlichsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt frchtet, hat man bereits die erneute Ueberlegenheit bemerkt, die diese Vertiefung der theoretischen Bildung dem deutschen Kaufmann auch im Ausland geben kann.“ Artikel „Die deutschen Handelshochschulen“, in: Organisation, Nr. 14/ 1907. 17 So kommt die Zeitschrift „Organisation“ zum Schluss, dass deutsche Wirtschaftler in ihren Vergleichen mit Frankreich begreifen sollten, „dass man den Baum am besten an seinen Frchten erkennt. Wir haben Ursache, mit den unsrigen ganz zufrieden zu sein.“; „Das billige Geld in Frankreich“, in: Organisation, Nr. 6/1906. 18 Aubert, S. 98. 19 „Der Kaufmann als Kulturpionier“, in: Organisation, Nr. 16/1906. 20 Hinrichs/Kolboom, Taylor, S. 78.

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Deutsche Unternehmer nutzten den Aufenthalt in Frankreich, um verschiedene franzçsische Unternehmen zu besuchen und sich mit deren Organisation bekannt zu machen. Hierunter waren auch Unternehmen wie der Bon March, eines der Prestigeobjekte der Pariser Wirtschaft whrend der Ausstellung.21 Die vollstndig ineinander verstrickten europischen Volkswirtschaften gehçrten mit zu den wirkungsmchtigsten transnationalen Matrizen, die nicht allein als Funktion eines sich selbst verstrkenden Nationalismus zu lesen sind. Die Austauschformen im wirtschaftlichen Kontext beschrnkten sich bei Weitem nicht nur auf die stetig steigenden Außenhandelsbilanzen, auf Warenund Dienstleistungstransfers. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann Frankreich massiv, Arbeitsmigration zu fçrdern22 – im Fall von PCAC an der Vielzahl von italienischen Arbeitskrften sichtbar, die in allen Werken ttig waren. Auch hierin lag ohne Zweifel einer der Grnde dafr, dass die Jahre um 1900 zu einer Zeit des stndigen Ideentransfers wurde. Doch neben diesen unbestrittenen Austauschelementen in der Praxis vieler Unternehmen sollten gerade in der Frage der wissenschaftlichen Reflexion ber die Unternehmen die engen Grenzen eines solchen Austausches nicht aus dem Blick geraten. Lange vor den Fragen einer Taylorisierung der europischen Wirtschaft wurden Werke amerikanischer Autoren etwa ins Franzçsische bersetzt. Doch gerade die zentralistische Konzeption des Unternehmens, wie sie etwa Carpenter mit seiner Vision eines zentralisierten Berichtsund Rechnungswesens prsentierte,23 deutete auch die Distanz an, die solche Anstze zu den praktischen Erfahrungen der Unternehmer in den hufig dezentralisierten franzçsischen Produktionszusammenhngen hatten. Die Vorstellungen einer homogenisierten und brokratisierten Verwaltung wurden zwar mit Interesse aufgenommen, waren aber in der Realitt selten auf die komplexen franzçsischen Produktionszusammenhnge anwendbar. In seinem Buch ber das franzçsische Brokratiemodell geht Michel Crozier davon aus, dass in den Unternehmen und Organisationen Frankreichs relativ geringe Handlungsspielrume auf der verwaltenden Ebene existierten, mit anderen Worten, es konnte sich nur eine geringe Managementmacht entwickeln. Grund hierfr sei die starke Zentralisierung franzçsischer Institutionen, die einer brokratischen Lenkungsform entgegenkme, nicht aber der Bildung unabhngiger Handlungsrume aufseiten des Managements.24 Was fr die Nachkriegszeit, in der Croziers Buch entstand, eine gewisse Berechtigung gehabt haben mag, wird durch die Betrachtung der analysierten Unternehmen umso deutlicher widerlegt: Die wirtschaftliche Karte Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg war – im Gegensatz zur politischen – keineswegs zentralisiert. Vielmehr zeichneten sich viele Branchen dadurch aus, dass ihre Produktionssttten ber das ganze 21 22 23 24

Trombert. Noiriel, Ouvriers, S. 131 ff. Carpenter, S. 49 ff. und S. 100 ff. Crozier, Bureaucratie.

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Land verteilt waren, was eine „Managementmacht“ im Sinne Croziers sogar als genuin franzçsisches Moment erscheinen lsst. Wesentlich grçßeres Echo als die Anstze zur Zentralisierung der Unternehmen hatten die Modelle sozialer Konvergenz. Henri Fayol, der um die Jahrhundertwende begann, seine Grundstze einheitlicher Verwaltungsttigkeiten in Unternehmen, Handel, Armee und Familie zu formulieren, stand etwa in eindeutig playsianistischer Tradition.25 Unterschiedliche Logiken, die die Bereiche privaten Lebens und wirtschaftlicher Gewinnorientierung differenzierten, sahen viele franzçsische Autoren nicht. Zusammen mit der unumstrittenen Vorreiterrolle in der Branche mag dies ein Grund dafr gewesen sein, warum gerade die neuen grands magasins in Frankreich mit so großem Interesse aufgenommen wurden. Schließlich stellten sie sich selbst gerne als schlicht berdimensional gewachsene Formen des paternalistischen Einzelhandels im positiven Sinne des Wortes dar.26 Doch obwohl gerade die Phase um 1900 zu einer Zeit des internationalen Ideentransfers und des positiven Bezugs auf die Unternehmen wurde, gab es doch auch Gegner der Bestrebungen, die Unternehmen zu modernisieren. Drei Gruppen seien hier skizzenhaft genannt: Zum einen der um die Jahrhundertwende immer weiter anwachsende, generell fortschrittsfeindliche Teil des Brgertums. Diese Fraktion der Gesellschaft war von der wirtschaftlichen Entwicklung und den mit ihr einhergehenden raschen sozialen Verwerfungen so berfordert, dass sie mit Fundamentalopposition darauf reagierte.27 Diese hufig extrem konservativ besetzte Kritikform reklamierte eine organische Geschlossenheit der Gesellschaft, die der eigenen Schicht die Sicherung des sozialen Status dauerhaft garantieren sollte. Der zweiten sozialen Gruppe ging es vor allem um die Abwehr der Moderne zur Erhaltung ihrer eigenen çkonomischen Grundlagen. Diese Mittelstandsbewegung, die besonderen Einfluss etwa auf die Entwicklung der Warenhuser nahm, setzte sich aus einem kleinbrgerlich, handwerklich-mittelstndischen Milieu zusammen.28 Die letzte, aber zumindest innerbetrieblich wichtigste Oppositionsgruppe bestand aus der Arbeiterbewegung und ihren jeweiligen Sprachrohren in den lokalen Kontexten – die sich bei Weitem nicht nur in den formalisierten Gewerkschaften artikulierten. Doch ging es dieser Gruppe hufig nicht um eine Fundamentalopposition.29 Die wachsende Organisation der Unternehmen, die Regulierung verschiedener innerbetrieblicher Ablufe, Normierung von Leistungserwartungen und die Sanktionierung bestimmter Autorittsformen 25 26 27 28 29

Fayol, 29. 9. 1898, CHEVS HF 4. Demolins, Question, auch Michel, S. 143. Sieferle, S. 155 ff. Crossick/Haupt, S. 178 ff.; Nord. Die komplexe Interessensituation der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft in Hinblick auf Probleme der Unternehmensorganisation ist an Beispielen des frhen Taylorismus dargestellt worden; etwa Homburg, Anfnge; Fridenson, Histoire.

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lagen teilweise durchaus im Interesse vieler Arbeiter und erfuhren kaum Widerstand.30 Vielmehr war es die Anwendung durch die Unternehmer, die von diesen Arbeiterorganisationen kritisiert wurden.

Bis 1914 Die Widersprche und Divergenzen in der Wahrnehmung der Unternehmen, die Beurteilung der immer wichtiger werdenden Rolle des Großbetriebes als sozialem Handlungsfeld und die Wahrnehmung staatlicher Aktion in diesem neu konstituierten Themenfeld spiegelte auch die heterogenen Strçmungen der brgerlichen Kultur vor dem Weltkrieg wider. Die Fragmentierung einer von wirtschaftlichen Interessen geleiteten und fortschrittlichen Ideen gegenber aufgeschlossenen brgerlichen Schicht einerseits und einer reaktionr besitzstndischen sozialen Gruppe stellte gerade in der deutschen Gesellschaft einen sich verschrfenden sozialen Antagonismus dar. Motive und Stile, die zur Beschreibung des Unternehmens und seiner Organisation herangezogen wurden, lassen hier in der direkten Vorkriegszeit den Willen vieler Autoren erkennen, auch diese Trennlinien zu berbrcken und das Bild des Unternehmens sozial zu homogenisieren. Die Wahrnehmungen einer sich militarisierenden Gesellschaft fanden ihren Widerhall in einer kriegerisch-militrischen Metaphorik in Bezug auf das Unternehmen.31 Viele Publizisten und Unternehmer legten Wert darauf, dem hochkomplexen Gebilde des Massenbetriebs mit kaum noch zusammenhngenden funktionalen Gliedern wieder Analogien zu einem natrlichen Organismus zuzuschreiben.32 Zurckgegriffen wurde dabei auf Elemente der biologisch konnotierten Ausgangsbedeutung des Begriffs Organisation, der nun Komplexitt vereinfachen sollte, statt diese durch einen technologischen Diskurs zu erzeugen. Zu den grundlegenden Produktionsfaktoren wurden „Natur und Arbeit“;33 der marxsche Kapitalbegriff wurde in den Diskussionen mehr und mehr durch den rein personalisierten Faktor des Unternehmers ersetzt, der nun die „Willenskraft und Energie der Gesellschaft [verkçrpert] und sie mit Ausdauer, Sparsamkeit, mit Fleiß und Initiative [verbindet].“34 Und auch die vermeintlich besonders unvoreingenommenen Bewunderer von Frederick W. Taylor 30 Tilly, S. 49. 31 So wurden auch von den volkswirtschaftlichen Wissenschaftlern konfliktorientierte Arbeitsbeziehungen schon ab 1914 in autoritr konnotierte Hierarchien umgedeutet, die von einer eisernen Organisation im Sinne eines staatlich gelenkten Sozialismus gesteuert zu werden hatten; Krger, S. 121 ff. 32 Als Beispiel fr die Analogie zwischen dem Mensch und seinen Gliedern im Verhltnis zur produktiven Arbeit: Album Israel, 1914. 33 Hammerbacher, S. 3. 34 Hammerbacher, S. 10.

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sahen in dessen Konzepten und den sich hieran anschließenden ergonomischen Diskussionen eine Umsetzung solcher Vorstellungen des Unternehmens als Fortsetzung einer natrlichen menschlichen Arbeit. So hielten auch in die Ausfhrungen Schlesingers, dem Hauptvertreter des deutschen Taylorismus, nationale Untertçne Einzug: „Wir Deutschen als Volk sind seit Jahrhunderten an Gehorsam gegen die Vorgesetzten, an schulmßige Unterweisung und an Befolgung schriftlicher, in Hlle und Flle vorhandener Verordnungen gewçhnt; auch die allgemeine Dienstpflicht erhçht noch die Naturanlage. Wir haben eben die beste Beamtenschaft der Welt und mssen uns bemhen, den Schritt von der militrischen zur wissenschaftlichen Betriebsleitung mçglichst bald zu machen.“35

Es galt mit anderen Worten, den voll ausgebauten Kopf des produzierenden Organismus durch einen ebenso optimierten Unterbau, also eine gut organisierte Produktion, zu ergnzen. Hierfr wurde ein altbekanntes Motiv der Analogie zwischen den militrischen Kommandostrukturen und den Vorstellungen vom Unternehmen mobilisiert. Eine solche Rhetorik machte sich auch in Verçffentlichungen breit, die sich im Prinzip durch einen Verzicht auf einen dezidiert nationalistischen Diskurs auszeichneten; dennoch entwarfen nun gerade die Experten der Unternehmensorganisation „eine Art FelddienstOrdnung fr den Kampf ums Dasein“.36 Die Verwendung einer deutlich autoritren Rhetorik kndigte auch in Frankreich eine langsame Militarisierung des Unternehmensdiskurses an. Die allgemeinen Verwaltungsprinzipien Henri Fayols, die fr das private Unternehmen ebensolche Gltigkeit beanspruchten wie fr die Armee, gehçren mit zu den Ergebnissen einer solchen Richtung unternehmerischen Denkens.37 Diese Wahrnehmung wurde angeheizt durch den permanenten Wettstreit, in dem man sich mit dem deutschen Nachbarn sah.38 Er drckte sich mehr und mehr in einem Krieg der Worte aus, der sich im Wesentlichen als franzçsische Reaktion auf die çkonomische Vorherrschaft des Deutschen Reiches auf dem Kontinent verstehen ließ.39 Doch nicht nur an einer direkten Opposition zum 35 Schlesinger, S. 48. 36 So warb die Organisation fr ein neues Fachbuch zur Unternehmensorganisation, Organisation, Nr. 4/1914. 37 Peaucelle, S. 124. Peaucelle zitiert wiederum Stphane Rials, der die Beziehung von Fayolismus und Krieg wie folgt beschreibt: „Der Krieg hat ohne Zweifel die Verwaltungslehre nicht geboren: aber er hat ihr die Gelegenheit gegeben, sich zu vertiefen, er hat ihr ein neues Publikum erçffnet, er hat ihr zu neuen wissenschaftlichen Weihen verholfen.“ 38 Cambon, S. 46 ff. 39 So proklamiert ein Autor in Mon Bureau: „Die Deutschen sind mehr und mehr davon berzeugt, dass in diesen schrecklichen Kmpfen, die alle Staaten der Erde mit oder gegen ihren Willen einbeziehen, die Nation, die die besten Industriellen und engagiertesten Kaufleute hat, auch auf Dauer die prosperierenste und strkste sein wird.“ Er schließt: „Die wirtschaftliche Expansion des Landes ist ein patriotisches Unternehmen und ebenso gewinnbringend wie die Verteidigung des Bodens gegen die drohende Gefahr.“, in: Mon Bureau, Nr. 43/1913.

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wirtschaftlichen Nachbarn, sondern auch in der rein rhetorischen Beschreibung operativer Vorgnge lsst sich eine Radikalisierung der Publizisten und der konomen ablesen. Haendel, einer der Organisationsspezialisten im Umkreis des Fachblattes Mon Bureau, beschreibt einen kommerziellen Vorgang wie einen militrischen Angriff, der Bewaffnung und der Annherung folgen die Attacke und der Kampf, um schließlich in Sieg oder Niederlage zu mnden.40 Die traditionell so wichtige Rolle playsianistischer Ideen kam den Versuchen zu einer Rehomogenisierung und dadurch einer Renationalisierung der franzçsischen Gesellschaft entgegen. Die Ausweitung der Szenarien Le Plays auf unternehmensferne Zusammenhnge wurde in den Jahren vor dem Krieg wieder verstrkt betrieben. So forderte Carpentier, dass nun die Familie organisiert werden sollte, mit der Zielvorstellung, auch hier ein fest gefgtes autoritres und gleichzeitig doch partizipatives Modell zu erreichen.41 Das Ineinandergreifen wirtschaftlichen und privaten Lebens wurde zum Idealbild. Aus der cole de Le Play wurde nun die cole de la paix sociale.42 Unternehmen wurden weder vor 1914 noch whrend des Ersten Weltkriegs in Armeen umgewandelt, ein Kommandosystem und absolute Autorittsausbung war – zumal in den whrend des Krieges noch einmal immens wachsenden Großunternehmen – nicht durchzusetzen. Zu zahlreich waren die Freirume, die sich in jeder grçßeren Unternehmung fr die einzelnen Arbeiter, aber gerade auch fr die zwischengeordneten Hierarchiestufen ergaben. Doch wirkten solche Diskurse disziplinierend und sollten Belegschaft und Unternehmer zur Wahrung des sozialen Friedens bewegen. Dass sich die Aktivitten der Unternehmen vor 1914 in Frankreich wie auch in Deutschland verndert haben, erscheint heute im Prinzip selbstverstndlich. Was sich aber verndert hat, in welcher Weise Produktion, gesellschaftliche Wahrnehmung und wissenschaftliche Reflexion unternehmerischer Ablufe sich verschoben haben und inwiefern wirtschaftliche Strukturen mit den Dynamiken der betrieblichen Handlungsfelder reagierten, sind Fragen, die bis heute weitgehend unbeantwortet geblieben sind. Zu verschlossen scheint die black box des Unternehmens in vielerlei Hinsicht zu sein und zu viele unternehmensinterne Handlungen entziehen sich einer historischen Analyse.43 Diese Arbeit hat sich darum bemht, vor dem Hintergrund eines deutschfranzçsischen Vergleiches ein wenig Licht in diese dunkle Kiste zu werfen und einige Inhalte der frhen Verwissenschaftlichung der betrieblichen Orga40 Haendel, Pratique, S. 61. 41 Carpentier, Paris 1913. 42 Kalaora/Savoye, S. 200 ff. Die Autoren kommen ferner in Hinblick auf das Verhltnis von drohendem Krieg und franzçsischen Denktraditionen zum Schluss: „Diese Mobilisierung durchbricht die Gruppen und Kreise der Vorkriegszeit, unterbricht die wissenschaftliche Forschung oder entzieht ihr zumindest den Boden.“ 43 Fear, S. 4 f.

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nisationskonzepte zu untersuchen, sie gleichzeitig historisch zu kontextualisieren und insbesondere auch ihren Dialog mit den Unternehmenspraktiken zu beleuchten. Denn nur mit einem Verstndnis fr die Konstruktion von Organisationsproblemen aus den konkreten unternehmerischen Erfahrungen der Zweiten Industrialisierung erscheint es mçglich, Perspektiven und Fallstricke dieser „modernen“ wissenschaftlichen Konzepte der Jahrhundertwende zu beleuchten. Die Ergebnisse lassen sich zusammenfassend als beginnende Reflexionen beschreiben, die zwar wesentlich von den blichen Chronologien einer Entstehungsgeschichte der Betriebswissenschaften abweicht, andererseits aber auch ein deutlich anderes Unternehmensbild als Ausgangspunkt und Folie gehabt hat und ganz andere unternehmerische Institutionen zum Kristallisationspunkt neuer Konzepte werden ließ, als dies zwanzig Jahre spter in den Rationalisierungsdebatten der Zwischenkriegszeit der Fall war. Fr die hier untersuchten Fallstudien mag dieser Umstand erklren, woher die strukturellen Schwierigkeiten rhrten, neue Konzepte von Scientific Management anzuwenden, die vor dem Krieg nicht umfassend umgesetzt werden konnten. Es liegt auf der Hand, dass die Methode der Untersuchung von Fallstudien nur auf Tendenzen deutet, deren Allgemeingltigkeit sich letztlich nicht vollstndig belegen lsst. Doch Unternehmensorganisation ist stets ein Gebiet, in dem strikte Grenzen zwischen einem vermeintlich geschlossenen çkonomischen System und seiner Umwelt verwischen und permeabel werden. Auf diese Weise werden die Erkenntnisse aus den Fallstudien auf einer anderen Ebene relevant. Ohne eine gesellschaftliche Analyse konnte eine Rekonzeptionalisierung der Unternehmen nicht stattfinden. Sie bewegten sich auf breiten Pfaden mçglicher Organisationspraktiken; doch diese Pfade waren fest eingefasst von gesellschaftlichen Wahrnehmungen und staatlichen Aktionen, die einer innersystemischen Rationalisierung enge Grenzen setzten.

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Register

Actiengesellschaft fr Anilinfabrikation (Agfa) 48, 58–60 Alais 24, 105, 114, 150 Allgemeiner Arbeiterausschuss 82f., 89 Althoff, Theodor 25, 215, 219, 222, 227, 229, 239, 248, 255, 259, 261f., 264–266 Aluminium Association 107 Aluminium FranÅais 107, 124, 129 Antisemitismus 220, 238, 240, 254, 268, 329 Arisierung 249 Arles 118f., 128 Auzat 121 Bader, Thophile 166, 168, 173, 190 Badin, Adrien 107, 109, 112, 114, 117, 120f., 123, 127f., 137, 146f., 150, 153f., 287, 313, 316 Badinville 114 Badische Anilin- und Soda Fabrik (BASF) 48, 52, 58, 71f., 75, 77f., 81f., 104 Barmen 48, 50, 64–66, 74f., 84 Bayer, Carl 106 Bayer, Friedrich 48, 50, 53–56, 58 Belle Jardini re 162, 317 Betriebsordnung 27, 62, 85, 88, 93f., 99, 101–103, 177, 201, 255, 259, 261f., 265f., 295f., 299f. Blanc, Louis 277, 284 Bloch, Marc 9, 17, 19 Bon March 25, 165f., 168–170, 172–186, 188–190, 192f., 195, 197–202, 204, 206, 209, 330 Borgeaud, Georges 306f.

Bçttinger, Henry Theodor 53–60, 65, 79 Boucicaut, Aristide 165f., 168–170, 178, 188, 202 Boyoud, Emile 117, 124, 128, 140, 147f., 150, 153 Buchfhrung 51, 57, 83, 119, 193, 200, 252, 272, 278f., 282, 302, 305, 311, 314 Brgerliches Gesetzbuch 279, 302 Calypso (Aluminiumfabrik) 108, 119, 122, 124, 132f., 136, 142, 147, 154 Cercle amical des employs du commerce et de l’industrie 208 Chambry 107, 129 Chambre fdrale syndicale des employs 208 Chambre syndicale des employs 175, 178, 185, 201, 205, 207–209, 211, 291 Chambre syndicale des employs de la rgion parisienne 201, 208f., 211, 291 Chambre syndicale des femmes caissi res comptables 205 Cognaq, Ernest 166, 168, 199, 204 Compagnie Houilli re de Bess ges (Nmes) 112 conseil de prud’hommes 179, 183 Crdit Lyonnais 132f. Culture technique 315 Demolins, Edmond 184, 186, 195, 313, 326, 331 Deutsche Bank 246 Deutsche Grundcreditbank 248 Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband (DNHV) 236, 240, 265, 268

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Discontogesellschaft 246 Dreibund 51, 58f., 61, 98, 104, 288 Duisberg, Carl 50–55, 57–60, 63, 66–68, 74, 78–80, 83f., 90, 96, 99, 104, 111, 114, 156, 287, 313, 316 Duraluminium (Socit de) 129 Ecole centrale de Lyon 127 Ecole Centrale Paris 128 Ecole des Hautes Etudes de Commerce (HEC) 310f. Ecole des Mnes (St-Etienne) 114 Ecole Polytechnique 128 Ecole Suprieure de Commerce et d’Industrie de Paris (ESCP) 310f. Eguilles 108, 121, 138 Elberfeld 19, 48–50, 56, 64–69, 71, 73–76, 78, 80, 84f., 87f., 90f., 98, 102f. Emden, Hermann 214, 219, 222, 246, 270 Eynern, Ernst von 53–55 Faraman (domaine de) 141, 154 Fayol, Henri 22, 28, 274, 283, 293, 298, 303, 315, 317, 319f., 326, 331 Flers 64 Fordismus 35 Galeries Lafayette 25, 166, 168, 173, 176f., 180, 183, 185, 189f., 194, 196, 200, 202, 205, 210 Gamp, Carl 55 Gebrder Gerson 214 Grand Bazar de Lyon 167 Grand Magasin du Louvre 165f., 168f., 174, 176f., 182f., 187–190, 192 Guimet, Emile 113, 116, 118 Hamburger Hypothekenbank 246 Handelsschule Hermann Tietz 218 Hawthorne-Experiment 28 Heriot, Auguste 165, 168

Hermann Tietz (Unternehmen) 25, 214f., 221, 228, 234, 247, 253, 255, 258, 261f., 270 Hroult, Paul 106 Hertzog, Rudolph 214, 217f. Hlsenbusch, Carl 53–55, 57 Huret, Jules 16, 286 Hy res 111 Hygienebewegung 11, 102, 141, 194, 206, 238, 273, 301f. I.G. Farbenindustrie AG 48, 51, 58, 288 Jaluzot, Jules 166–169, 172, 176, 203 Jandorf, Adolph 25, 214f., 219–222, 227–229, 232, 246, 251, 254, 264 Jay, Marie-Louise 168 Kahn, Alphonse 166, 168, 190 Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 220 Kaiserbazar 247 Karstadt, Rudolph 215, 220 Karstadt (Unternehmen) 9, 25, 220, 229, 239, 255, 261f., 265 Kaufhaus des Westens (KaDeWe) 214, 216, 221f., 227, 229, 232, 246f., 250, 254, 257, 261f., 304 Kaufmnnischer und gewerblicher Hilfsverein fr weibliche Angestellte 220 Kaufmnnischer Verband fr weibliche Angestellte 241 Krupp 24, 295 Ladendiebstahl 238 Laguionie, Gustave 170, 194 Le Bon, Gustave 290, 320, 326 Le Chatelier, Henry 318 Le Play, Frdric 206, 277, 284, 313, 326, 334 Les Baux 105 Leverkus, Carl 53–55, 66 Leverkus, Otto 55

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Leverkusen 24, 50, 52f., 55, 58f., 62–69, 71f., 74f., 78f., 81f., 84–86, 88–91, 94, 96, 98, 102–104, 111, 141, 156, 317 Lubasch, A. 214, 218, 243, 260 Magasin de nouveaut 162f. Magasins runis 167 Mandel, D. 99 Mannheim, Max 214, 247 Massenpsychologie 30, 285, 290, 326 Meister Lucius 48, 50, 72, 200 Merle, Henri 105, 107–109, 112, 115f., 125, 127, 139 Mittelstandsbewegung 195, 238f., 242, 249, 267f., 289, 331 Moskau 64 N. Israel 218, 220f., 245, 253, 266, 332 Naumann, Friedrich 229f., 242 Ni vre 176 Niklisch, Heinrich 279 Oberpollinger 214, 222, 259, 261f., 270 Organismusforschung 23, 37, 276f., 332f. Oskar- und Betty Tietz Stiftung 218 Paternalismus 38, 41, 101, 141, 147f., 150, 164, 184, 193, 201f., 218, 257, 263, 282, 285, 296, 299, 306, 308, 313, 331 Pechiney, Alfred 106f., 109–111, 113–118, 120, 122, 125, 127, 134, 145, 153, 313 Pereire (Bankhaus) 165, 188 Physiologie 23, 277, 303 Printemps 25, 166–170, 172, 176f., 180, 182f., 190, 194, 203f., 209f. Ravisse, Gaston 306–308 Rechnungswesen 272f., 278f., 311, 314 Ruel, Xavier 166, 168, 210

Ruhrgebiet 68, 215 Rumpff, Carl 50, 53, 55, 80 Saint-Claire Deville, Henry 106, 145 Salgu s, A. 111, 119, 122f., 127f., 136f., 143 Salin-de-Giraud 108f., 111, 113, 119–122, 124, 129, 131f., 134f., 141–143, 145f., 149, 151–153 Salindres 9, 19, 107f., 110–114, 118–124, 126f., 129–131, 134–145, 147–154, 157 Schlicker (Familie) 248 Schmalenbach, Eugen 314 Schocken, Salman 215, 220, 222 Schumpeter, Joseph 20, 22, 287 Schweizerische Metallurgische Gesellschaft 109 Socit Alfred Pechiney 105 Socit des produits chimiques d’Alais et de la Camargue (PCAC) 113 Socit lctromtallurgique francaise de Froges (SEMF) 105, 107, 143 Solvay 145 Sonntagsruhe 177, 210, 269, 301 Sozialkasse 88, 147, 179, 202, 263 Spielwarenindustrie (Marais) 181 St. Flix de Maurienne 108 St. Jean de Maurienne 108f., 124f., 132, 134, 142, 147, 154f., 293 Statistik 51, 60, 69, 71, 75, 80–83, 96, 105, 110, 119, 138f., 159, 178, 297, 303 Stresemann, Gustav 163, 213f., 242, 248 Syndicat jaune des Employs du Bazar de l’H tel de Ville 205, 208 Taylor, Frederick W. 12f., 28, 30, 35, 37, 47, 86, 298, 303, 307, 311f., 315–319, 321, 329–332 Tietz, Leonhard 215, 221f., 229, 248, 264, 314

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Tietz, Oskar 214f., 218f., 221f., 242, 247f., 253, 256, 289 Toyotismus 36 Unternehmenskultur 21, 36, 41, 46, 49, 70, 72, 86, 99f., 203f., 263f., 266 Verband Deutscher Ingenieure (VDI) 310, 317 Verein Deutscher Handlungsgehilfen (VDH) 233, 236, 268 Vielhomme, Emile 146 Vittenet, Paul 112, 123, 127, 150 Weber, Max 12, 18, 20, 29f., 37 Weltausstellung (Paris 1900) 179, 195, 272, 329

Wernicke, Johannes 216, 219, 222, 242, 266 Wertheim, Franz 22, 221, 310 Wertheim, Georg 213, 215, 217, 219–223, 246, 253f. Wertheim, Wilhelm 221 Wertheim, Wolf 221 Wertheim (Unternehmen) 25, 213, 215, 217, 220–224, 227–233, 244, 251–253, 255f., 261f., 264 Weskott, Friedrich 48, 54–56 Wolff, Lazare 116 Zentralverband der Handlungsgehilfen 253 Zola, Emile 165, 186, 197f., 228, 238

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