ORDO 60 9783828260146, 9783828204829

Das Jahrbuch ORDO ist seit über 50 Jahren ein Zentralort der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aus dem Konze

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ORDO 60
 9783828260146, 9783828204829

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hauptteil
60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik
Ist ‚Freiheit‘ als ‚negative Freiheit‘ ausreichend bestimmt? Die Positionen Friedrich August von Hayeks und Isaiah Berlins im Kontrast sowie ein Vorschlag zur Diskussion
Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934)
Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek – Über die Zivilisierung des Egoismus durch Recht und Wettbewerb
Zwischen Historismus und Neoklassik: Alexander Rüstow und die Krise in der deutschen Volkswirtschaftslehre
Wirtschaftspolitik und Psychologie: Zum Forschungsprogramm der Behavioral Economics
Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik: Eine Erwiderung auf Mestmäcker
Über die Not-Wendigkeit von Nothilfe. Eine Handvoll ordnungspolitischer Betrachtungen angesichts der neuen Staatsgläubigkeit
Finanzmarktkrise: Marktversagen oder Staatsversagen?
Das Bilanzproblem der Banken – Ein Lösungsvorschlag
Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension
Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus: Überlegungen zu (allzu) menschlichem Handeln in Wirtschaft und Politik
Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise
Der Krise entkommen – das Geld privatisieren
Finanzmarktinnovationen und Finanzkrisen: Historische Perspektive
Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe
Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung. Ihr Beitrag aus Sicht von Ordoliberalismus und Capability-Ansatz
Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung
Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik: Zur Rolle gesellschaftlicher Change Agents am Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms
Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?
Ökonomische Vernunft und politische Ethik
Buchbesprechungen
Inhalt
Ein rüstiger Jubilar zwischen Markt und Plan
Gelebte Ordnung
Missing Link?
Wirtschaftsethische Perspektiven VII
Zum Andenken an den unbekannten Dritten der Freiburger Schule
Der Einfluss des Neoliberalismus auf das Europäische Wettbewerbsrecht 1946–1965
Globalisierung und Europäisches Sozialmodell
Scientific Competition
Verbindlichkeit – Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft
Der Treibhausgas-Emissionshandel in evolutionsökonomischer Perspektive
Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft
Ordnungsökonomik – ein überholtes Forschungsprogramm?
Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie
Internetökonomie – Ein interdisziplinärer Beitrag zur Erklärung und Gestaltung hybrider Systeme
Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands
Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit?
Visionäre Wege aus der Subprime-Krise
Studien zur evolutorischen Ökonomik IX Zu dem gleichnamigen Band des Vereins für Socialpolitik, herausgegeben von Wolfgang Kerber
Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History
Eine anekdotische Volkswirtschaftslehre für jedermann
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren

Citation preview

ORDO Band 60

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 60

Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Josef Molsberger

und

Clemens Fuest

Peter Oberender

Franz B ö h m

Walter Hamm

Ingo Pies

Ernst Heuss

Razeen Sally

Wolfgang Kerber

Alfred Schüller

Martin Leschke

Viktor Vanberg

Ernst-Joachim Mestmäcker

Christian Watrin

Wernhard Möschel

Hans Willgerodt

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Lucius & Lucius • Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Universität Tübingen, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Mohlstr. 36, D-72074 Tübingen Professor Dr. Alfred Schüller Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Universitätsstr. 25a, D-35037 Marburg Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV - Wirtschaftstheorie, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Martin Leschke Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V - Institutionenökonomik, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Ingo Pies Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik, Große Steinstraße 73, D-06108 Halle (Saale)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart • 2009 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 978-3-8282-0482-9 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Vorwort Die jüngsten Erschütterungen der Weltwirtschaft zeigen, dass die Gefahr der Krisenanfälligkeit unseres Wirtschaftssystems mit den in den letzten Jahrzehnten bevorzugten Mitteln nicht gebannt werden konnte. Die Herausgeber dieses Jahrbuchs sehen sich deshalb in der Erkenntnis bestärkt, dass es in der Nationalökonomie jetzt umso mehr darauf ankommt, die große liberale Tradition der ordnungsökonomischen Analyse der Funktions- und Stabilitätsbedingungen des Wirtschaftsgeschehens unter Beachtung des Wechselverhältnisses von Wirtschaft, Recht, Politik und Moral wieder aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Gerade in Krisenzeiten erscheint ordnungspolitisches Denken unerlässlich. Lösungen für die derzeitige Wirtschaftskrise, die sich als wirkungsvoll und nachhaltig herausstellen, müssen auf einem konsistenten ordnungsökonomischen Fundament beruhen. Deshalb widmen sich zahlreiche Beiträge dieses 60. Bandes des ORDO-Jahrbuchs der Krise und deren Bewältigung. Dieser Band hat drei Teile und schließt mit einer Abhandlung des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften Thomas Schelling zum Thema „Ökonomische Vernunft und politische Ethik". Der erste Teil mit sieben Beiträgen befasst sich mit grundlegenden Fragen der Gesellschaftstheorie, der Wirtschaftspolitik sowie der Wettbewerbspolitik. Der zweite Teil umfasst neun Aufsätze zur aktuellen Wirtschaftskrise. In den vier Beiträgen des dritten Teils geht es schließlich um Fragen der Armutsbekämpfung. Hans Willgerodt würdigt in seinem Beitrag "60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik" zunächst den Standort des ORDO-Jahrbuchs zwischen Laissez-faire und Zentralverwaltungswirtschaft. Er behandelt dann die Auseinandersetzung über Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, die in der deutschen Wirtschaftswissenschaft zur Zeit stattfindet. Der auf vielen Missverständnissen beruhende Streit um volkswirtschaftliche Untersuchungsmethoden wird auf seinen eigentlichen Gehalt zurückgeführt. Steffen Groß und Athanassios Pitsoulis untersuchen anschließend den Stellenwert der „negativen Freiheit" in der (neo-)liberalen Wirtschafts- und Sozialphilosophie von Isaiah Berlin und Friedrich A. von Hayek. Die Autoren sehen in der Verknüpfung beider Perspektiven des Freiheitsverständnisses, also des positiven und negativen Aspekts, die Voraussetzung für einen handlungsrelevanten, ganzheitlichen Freiheitsbegriff. Uwe Dathe zeichnet Walter Euckens Weg zum (ORDO-)Liberalismus nach und zeigt, wie sich Eucken aus seinen konservativen, antiliberalen Herkunftsmilieus befreite und Schritt für Schritt zum Weg der Freiburger Schule des Neoliberalismus fand. Anschließend interpretiert Ernst-Joachim Mestmäcker das Verhältnis von Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich August von Hayek. Im Mittelpunkt stehen die Aufgaben des Wettbewerbsrechts in einer freiheitlichen Gesellschaft. Zugleich werden auch Verbindungen zur derzeitigen Wirtschaftskrise hergestellt. Mit Alexander Rüstows Blick auf die Krise der deutschen Volkswirtschaftslehre in den 1920er Jahren beschäftigt sich der Beitrag von Hauke Janssen. Es wird hier die These aufgestellt, dass die Frontstellung Rüstows und der „Ricardianer" zur Historischen Schule der Nationalökonomie bisher in ihrer theoriegeschichtlichen Bedeutung nicht angemessen gewürdigt

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Vorwort

worden sei. Die neuere Entwicklung der verhaltenswissenschaftlichen Forschung („Behavioral Economics") erörtert Hanno Beck vor allem mit Blick auf die Auswirkungen menschlichen Verhaltens jenseits der üblichen „homo oeconomicus"-Annahmen (vollständige Rationalität). Dieter Schmidtchen greift in seinem Beitrag zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik erneut die Thesen von Ernst-Joachim Mestmäcker (siehe ORDO-Band 59) kritisch auf. Der zweite große Themenschwerpunkt „zur Krise" beginnt mit einer grundlegenden Abhandlung von Gerhard Schwarz zum Problem der weit verbreiteten Staatsgläubigkeit in der Wirtschaftskrise. Er behandelt die Frage, wie man die unerwünschten Langzeitfolgen der staatlichen Krisenbekämpfung sinnvoll vermeiden kann. Markt- versagen oder Staatsversagen? Was löste die derzeitige Krise letztlich aus? Albrecht F. Michler und Hans Jörg Thieme sehen den Grund für die Krise in falschen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen und machen auf Basis einer detaillierten Diagnose Vorschläge zur Krisenprävention. Ulrich van Suntum und Cordelius Ilgmann entwickeln in ihrem Beitrag einen Lösungsvorschlag zum Bilanz- bzw. Eigenkapitalproblem der in Schieflage geratenen Banken. Würden die toxischen Papiere gegen unverzinsliche Staatspapiere ausgetauscht, könnten - so meinen die Autoren - nicht nur drohende Insolvenzen abgewendet, sondern auch die Risiken für den Steuerzahler gemindert werden. Schlussfolgerungen für die Rolle des Staates in der Wirtschaft zieht Roland Vaubel aus seiner Diagnose der Krise. Eine Internationalisierung der Bankenregulierung wäre eine falsche wirtschaftspolitische Weichenstellung, ein verbesserter internationaler Informationsaustausch dagegen wünschenswert. Erich Weede thematisiert die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus. Er warnt vor einer Übertragung von immer mehr Aufgaben auf den Staat und den damit verbundenen positiven Hoffnungen. Mit Möglichkeiten und Grenzen der Krisenbewältigung und -Vermeidung beschäftigt sich der Beitrag von Rüdiger Pohl. Die Finanzmarktregulierung müsse Risiken an den Finanzmärkten weiterhin zulassen, sonst würden die Bedingungen für eine effiziente Kapitalallokation verschlechtert. Thorsten Polleit vertritt die These, dass eine nachhaltige Finanzmarktstabilität nur durch einen Systemwechsel erreicht werden könne: weg vom derzeitigen Papiergeldstandard, hin zu einem goldgedeckten „free banking"System. Im anschließenden Beitrag von Wilhelm Meyer werden Finanzinnovationen als Krisenursache behandelt. Der Autor fordert, den Regelrahmen stets so anzupassen, dass risikoreiche und damit volkswirtschaftlich unerwünschte Interaktionen weitgehend unterbleiben. Im abschließenden Beitrag zur Krisenproblematik kontrastiert Alfred Schüller den ordnungsökonomischen und interventionistischen Ansatz der wirtschaftlichen Stabilisierung. Im Mittelpunkt der vergleichenden Analyse stehen die sich jeweils daraus ergebenden Konsequenzen für die Erklärung der Krisenanfalligkeit, für die Möglichkeit der Krisenbekämpfung und vor allem für eine nachhaltige Politik der Krisenprävention. Jürgen Volkert geht in seinem Beitrag, mit dem der Schwerpunkt „Armutsbekämpfung" beginnt, der Frage nach: Können Unternehmen zur Armutsüberwindung in Entwicklungsländern beitragen? Anschließend analysiert Ortrud Leßmann die Bedeutung der Wahlfreiheit in einigen Konzepten der Armutsbekämpfung. Hierzu werden der Capability-Ansatz (Amartya Sen) und der Lebenslage-Ansatz (Otto Neurath) vergleichend betrachtet. Stefan Hielscher und Markus Beckmann vertreten in ihrem Auf-

Vorwort

VII

satz die These, dass Unternehmen als „Social Entrepreneurs" wichtige GovernanceBeiträge leisten können, wenn es ihnen gelingt, wechselseitig vorteilhafte Bindungsarrangements für sich und andere Akteure zu etablieren. Dies wird beispielhaft am Kruppschen Wohlfahrtsprogramm verdeutlicht. Im letzten Beitrag des dritten Teils gehen Klaus Beckmann und Carsten Gerrits der Frage nach, ob und wie private Unternehmen durch Korruptionsbekämpfung dazu beitragen können, Armut zu vermindern. Auch dieser ORDO-Band schließt wieder mit zahlreichen Buchbesprechungen zu ordnungsökonomisch und gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Die Schriftleitung dankt Dominikus Pohl und Jörg Viebranz für hilfreiche redaktionelle Arbeiten sowie Maximilian Mai für das gelungene Management des Rezensionsteils. Ganz besonderer Dank gilt auch den zahlreichen Gutachtern, die mit ihren Stellungnahmen maßgeblich zu Verbesserungen der angenommenen Papiere beigetragen haben.

Im vergangenen Jahr (2008) ist Hans Otto Lenel aus der Schriftleitung des Jahrbuchs ORDO ausgeschieden. Als Schüler und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Walter Eucken ist er dem Jahrbuch schon seit 1948, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes, eng verbunden, zunächst als Mitglied der Schriftleitung, seit 1973 auch als Mitherausgeber. Als kritischer, qualitätsbewußter Redakteur wie auch als Autor hat Hans Otto Lenel das Profil von ORDO mitgeprägt. Er hat sich damit um dieses Jahrbuch ganz besondere Verdienste erworben. Dies haben seine Kollegen im Herausgebergremium und in der Schriftleitung zum Anlass genommen, ihm zum fünfundsiebzigsten Geburtstag den 43. Band des ORDO-Jahrbuchs zum Thema „Wirtschaftsordnung und Wettbewerb" zu widmen. In einer Zeit, in der die unzureichende Verknüpfung von Handlungsmacht und Handlungserfolg auf der einen Seite, Verantwortung und Haftung auf der anderen Seite heftig beklagt wird, lohnt es sich, diesen Band wie auch die Arbeiten von Lenel zu den möglichen negativen Folgen der Konzentration im allgemeinen und von „Megafusionen" im besonderen (siehe zuletzt in ORDO Bd. 51, 2000, S. 1-31) wieder einmal zur Hand zu nehmen. Hans Otto Lenel wird unserem Jahrbuch auch weiterhin als Mitherausgeber mit Anregungen, Erkenntnissen und engagiertem Interesse verbunden bleiben. Für die jahrzehntelange Arbeit in der Schriftleitung schulden wir ihm bleibenden Dank. Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Inhalt Hans Willgerodt 60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik

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Steffen W. Groß und Athanassios Pitsoulis Ist .Freiheit' als ,negative Freiheit' ausreichend bestimmt? Die Positionen Friedrich August von Hayeks und Isaiah Berlins im Kontrast sowie ein Vorschlag zur Diskussion

23

Uwe Dathe Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934)

53

Ernst-Joachim Mestmäcker Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek Über die Zivilisierung des Egoismus durch Recht und Wettbewerb

87

Hauke Janssen Zwischen Historismus und Neoklassik: Alexander Rüstow und die Krise in der deutschen Volkswirtschaftslehre

101

Hanno Beck Wirtschaftspolitik und Psychologie: Zum Forschungsprogramm der Behavioral Economics

119

Dieter Schmidtchen Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik: Eine Erwiderung auf Mestmäcker

153

Gerhard Schwarz Über die Not-Wendigkeit von Nothilfe. Eine Handvoll ordnungspolitischer Betrachtungen angesichts der neuen Staatsgläubigkeit

169

Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme Finanzmarktkrise: Marktversagen oder Staatsversagen?

185

Ulrich van Suntum und Cordelius Ilgmann Das Bilanzproblem der Banken - Ein Lösungsvorschlag

223

Roland Vaubel Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

247

Erich Weede Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus: Überlegungen zu (allzu) menschlichem Handeln in Wirtschaft und Politik

267

Rüdiger Pohl Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise

289

X

Inhalt

Thorsten Polleit Der Krise entkommen - das Geld privatisieren

317

Wilhelm Meyer Finanzmarktinnovationen und Finanzkrisen: Historische Perspektive

325

Alfred Schüller Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe

355

Jürgen Volkert Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung. Ihr Beitrag aus Sicht von Ordoliberalismus und Capability-Ansatz

389

Ortrud Leßmann Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung

415

Stefan Hielscher und Markus Beckmann Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik: Zur Rolle gesellschaftlicher Change Agents am Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms

435

Klaus Beckmann und Carsten Gerrits Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

463

Thomas C. Schelling Ökonomische Vernunft und politische Ethik

495

Buchbesprechungen

525

Personenregister

621

Sachregister

631

Anschriften der Autoren

639

Hauptteil

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Hans Willgerodt

60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Inhalt I. II. III. IV. V.

Der Standort des Jahrbuches ORDO im Rückblick Ordnungstheorie und Ordnungspolitik als Streitobjekt Mängel von marktwirtschaftlichen Ordnungen Methoden im Streit Deutsche Besonderheiten

3 9 16 18 19

Literatur

20

Zusammenfassung

21

Summary: Sixty volumes of ORDO

22

I. Der Standort des Jahrbuches ORDO im Rückblick Der erste Band unseres ORDO-Jahrbuches ist im Jahre 1948 erschienen, noch auf dem etwas groben Papier gedruckt, das damals allein verfugbar gewesen ist. Die Schriftleitung (Fritz W. Meyer und Hans Otto Lenel) begann ihr Vorwort über die Aufgabe des Jahrbuchs mit dem Satz: „Wie muß die Wirtschafts- und Sozialordnung beschaffen sein, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann?" Dieser Frage ist unser Jahrbuch seitdem gewidmet. Wirtschaftlicher Erfolg und Menschenwürde sind Begriffe, die mit konkretem Inhalt gefüllt werden müssen. Die Autoren des Jahrbuchs mussten damit immer wieder ringen und werden dies weiter zu tun haben. Die Schriftleitung hat es jedoch nicht bei dieser Frage bewenden lassen, sondern die eigene Position genauer beschrieben. Sie bekannte sich zu einem Konzept, das sie ,Wettbewerbsordnung' genannt hat. Dabei sollten „zugleich wirtschaftliche Leistung, soziale Ordnung und individuelle Freiheit" möglich sein. Damit wurden zunächst „alle Spielarten der sogenannten Planwirtschaft, genauer der Zentralverwaltungswirtschafit" abgelehnt. Aber auch die „freie Wirtschaft, in welcher der Grundsatz des ,Laissez faire' verwirklicht ist", wurde zurückgewiesen. Die durch Kartelle und Riesenunternehmungen sowie machtpolitischen Interventionismus aller Art verzerrte Wirtschaft hatte mit zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen. Dass man diese Position des aufrechten Stehens zwischen allen Stühlen eingenommen hat, muss auch nach 60 Jahren immer wieder begründet werden. Dazu ist vor allem ein Blick auf die deutschen Erfahrungen seit dem Ende des zweiten Weltkrieges sinnvoll, denen seitdem bis in die Gegenwart hinein immer wieder ähnliche Erfahrungen mit

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Hans Willgerodt

der Transformation wirtschaftlicher Systeme anderer Länder an die Seite gestellt werden können. Die Zwangswirtschaft des Nationalsozialismus war nach dem Ende der Kampfhandlungen des zweiten Weltkrieges nicht etwa gemildert, sondern teils aus Not, teils aus Mangel an Einsicht auf die Spitze getrieben worden. An die Stelle der bisherigen Zentralverwaltungswirtschaft für ganz Deutschland traten gesonderte Zentralverwaltungswirtschaften der Besatzungszonen oder sogar einzelner Länder und Gebiete. In das drastisch verkleinerte bisherige Reichsgebiet wurden trotz aller Zerstörungen durch den Bombenkrieg Millionen Vertriebener hineingepresst, und auch die Besatzungstruppen mussten untergebracht werden. Ein sinnvoller Außenhandel wurde zunächst nicht zugelassen (Fritz W. Meyer 1953). Der Ausweg, die Produktivität der Freiheit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu nutzen, wurde für Deutschland unmittelbar nach Kriegsende so gut wie nicht erwogen. Einerseits hielt das Misstrauen gegenüber dem niedergeworfenen Kriegsgegner noch an, vor allem aber wurden liberale Lösungen für wenig zeitgemäß gehalten. Es herrschte weltweit ein sozialistisches Meinungsklima, das durch die Gewöhnung an den unvermeidlichen Kollektivismus des Krieges ohnehin begünstigt war. Auch die in der damaligen Wirtschaftswissenschaft und ihrer internationalen Diskussion vorherrschenden Strömungen schienen sich auf einem Marsch in den Sozialismus zu bewegen, wie ihn Schumpeter (1942, 1950) halb billigend und halb resignierend als mehr oder weniger unvermeidlich hingestellt hat. Für die beiden angelsächsischen Mächte war es jedoch auch aus humanitären Gründen geboten, das in Westdeutschland herrschende Massenelend durch Hilfslieferungen zu mildern, so dass diese beiden Sieger zusätzlich zu den Besetzungskosten weitere Lasten auf sich nehmen mussten. Den Deutschen blieb die übrige Welt verschlossen, und man erkannte nicht, dass eine Öffnung nach außen1 sowohl die Deutschen als auch die Besatzungsmächte hätte entlasten können. Wie konnte es dazu kommen? In Großbritannien hatte man die Illusion, die eigene, im Kriege unvermeidliche und ziemlich sachverständig gehandhabte Zentralverwaltungswirtschaft auf die Friedenswirtschaft übertragen zu können. Man verstaatlichte einen erheblichen Teil der Produktion, das Gesundheitswesen und andere Wirtschaftsleistungen. Staatsplanung und Rationierung wurden weit über das Kriegsende hinaus fortgesetzt. Die eigene sozialistische Konzeption beeinflusste auch die britische Deutschlandpolitik und wurde zusammen mit einer behutsamen Erziehung zur Demokratie in die eigene deutsche Besatzungszone übertragen. Selbst die amerikanische Besatzungspolitik war keineswegs eindeutig von marktwirtschaftlichen Grundsätzen geprägt. Im State Department war der bekannte Sozialist John Kenneth Galbraith (1948, S. 94 f.) für die Wirtschaftspolitik der besetzten Gebiete zuständig. Er empfahl in massiver Form eine Fortsetzung der zentralen Wirtschaftsplanung und forderte im übrigen die eigene Regierung auf, die deutschen Sozialdemokraten zu bevorzugen, die damals noch keinerlei marktwirtschaftliche Neigungen erkennen

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Der trotz seiner Vertreibung im Jahre 1933 deutscher Staatsbürger gebliebene Wilhelm Röpke (wieder abgedruckt in 2009, S. 160) hat ähnlich wie F. A. Hayek schon 1945 Deutschlands Übergang zum vollständigen Freihandel vorgeschlagen, um ihm die Möglichkeit zu außenpolitischer Gefährlichkeit zu nehmen und es zugleich wirtschaftlich lebensfähig zu machen.

60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik

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ließen. Nur in der Gewerbe- und Wettbewerbspolitik wurden in den USA übliche Konzeptionen nach Deutschland übertragen. In Frankreich herrschte eine eigentümliche Art von Planwirtschaft unter Leitung der dort von jeher dominierenden Staatsbürokratie, und außerdem waren die Kommunisten oft an der Regierung beteiligt. Schon allein deswegen kam die französische Besatzungszone für marktwirtschaftliche Ansätze nicht in Betracht. Die französische Besatzungspolitik hatte ihre Vorzüge mehr in einer verständnisvollen Kulturpolitik. Die sowjetische Besatzungszone wurde nach dem sowjetrussischen Vorbild umgewandelt. Die Westmächte waren zunächst noch von ihrer durch das Kriegsbündnis bestehenden Sympathie mit der Sowjetunion beherrscht. In allen Besatzungszonen erhielten deshalb die Kommunisten durch die Besatzungsmächte bevorzugte Positionen, auch in den Länderregierungen. Dies konnte erst von den Deutschen selbst durch freie Wahlen geändert werden, mindestens in Westdeutschland. Politisch hatte also die Konzeption unseres Jahrbuches überall viele Gegner und wenig Freunde. Das galt in Deutschland auch für die vermeintlich bürgerliche Partei der CDU/CSU, die erst allmählich für freiheitliche Konzepte geöffnet werden konnte. Auch von einer anderen Seite war und ist die Konzeption unseres Jahrbuches stets gefährdet. Schon bald nach Kriegsende gab es wieder deutsche Anhänger dessen, was falschlich „freie" Wirtschaft genannt wurde. In Wahrheit wurde damit aber ein Freibrief für monopolistisches und dirigistisches Laissez-faire verlangt, für ungehemmte Wirtschaftskonzentration und Verbandsherrschaft sowie für in der Politik übliche privilegierende Partialinterventionen. Die Gruppeninteressen und auch die Gewerkschaften waren entgegen den Ansichten Mancur Olsons (1982) schon sehr bald nach 1945 wieder in voller Stärke organisiert.2 Für sie war der „Ordoliberalismus" von vornherein ein verhasster Gegner, wie sich schon bald zum Beispiel bei dem erbittert geführten Kampf um das Kartellgesetz und die Wettbewerbspolitik zeigen sollte. Gegen diese Strömungen hat Erhard vor allem die Öffnung zum Weltmarkt betrieben, die besser wirkt als jedes Kartellgesetz und außerdem eine Interessengruppe stärkt, die am Freihandel interessiert ist, nämlich die Exportwirtschaft. Trotz allem kamen in Deutschland den Ideen, die in diesem Jahrbuch vertreten worden sind, verschiedene Umstände entgegen. Zunächst waren dies die ins Auge fallenden wirtschaftlichen und politischen Tatsachen und Verhältnisse. Man muss kein Marxist 2

Ich erinnere mich, dass mir im Jahre 1950 der Geschäftsführer des westdeutschen Zuckerverbandes ohne jede Schamröte mitteilte, das zwangsmonopolistische Zuckergesetz sei an seinem Schreibtisch entstanden und er habe es dem Landwirtschaftsministerium nur herüberzureichen brauchen. Industriejuristen und Manager zunächst zerschlagener Syndikate und Großfirmen vor allem der Montanwirtschaft bemühten sich um den Nachweis, die alliierte Dekartellisierung wolle damit auch aus Konkurrenzgründen den deutschen Wiederaufbau schädigen. Für die sinnlosen Demontagen mag das eine Nebenabsicht gewesen sein. Es ist möglich, dass ausländische Interessenten dies sogar selber geglaubt haben. Aber durch diese Dezentralisierung und Wettbewerbsbelebung ist der Aufstieg der westdeutschen Wirtschaft eher gefordert als gehemmt worden. Ahnlich wird von politischen Zentralisten der von den Besatzungsmächten geforderte, allerdings unvollkommen gebliebene deutsche Föderalismus verdächtigt, man habe ihn nur wieder eingeführt, um Deutschland zu schaden. Inzwischen denken selbst zentralistisch regierte Länder wie Frankreich, Italien und Großbritannien über regionale Auflockerungen nach, während eine Abschaffung des bewährten schweizerischen Föderalismus bisher wohl niemand ernsthaft befürwortet.

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Hans Willgerodt

sein, der das Bewusstsein durch die Produktionsverhältnisse bestimmt sieht, um den ernüchternden Einfluss der jeden Einzelnen unmittelbar treffenden katastrophalen wirtschaftlichen Entwicklungen und Produktionsbedingungen auf Mentalität und Meinungen der Bevölkerung fur wichtig zu halten.3 Die Deutschen hatten in der Nachkriegszeit einen langen Weg hinter sich. Noch lebte ein großer Teil der Generation, die vor 1914 im bürgerlichen Jahrhundert der weitgehenden Stabilität aufgewachsen war. Man hatte die erste Inflation bis 1924 erlebt und erlitten. Es schloss sich eine kurze im Einzelnen problematische Periode der Beruhigung an, die von der Weltwirtschaftskrise nach 1930 mit ihrer extremen Arbeitslosigkeit abgelöst wurde. Zunächst brachte dann die inflatorische Wiederbelebung der deutschen Inlandskonjunktur neben empfindlichen Mängeln (zum Beispiel durch die Devisenzwangswirtschaft) einige Erfolge und wurde insoweit begrüßt. Sie war von der Weimarer Republik begonnen worden. Die Nationalsozialisten hatten sie übernommen und verschärft fortgesetzt. Im Jahre 1936 wurde aber der Inflationsdruck offenkundig. Um diese Tatsache zu verschleiern, wurde ein allgemeiner Preisstop eingeführt. Damit war die marktwirtschaftliche Steuerung weitgehend abgeschafft. Allmählich wurde die schon vorher durch Zwangskartelle und andere Interventionen degenerierte marktwirtschaftliche Ordnung in eine zunächst noch unvollkommene, mit Kriegsausbruch verhärtete Zentralverwaltungswirtschaft überführt. Die Zahl der eigenen Kriegstoten nahm dramatisch zu. Gleichzeitig erhöhte sich der staatliche Herrschaftsdruck auf die Bevölkerung. Damit stellte sich zunehmend Ernüchterung ein. Sie hat sich während des Krieges immer mehr verstärkt, bis zu seinem von der Bevölkerung halb ersehnten und wegen der zu erwartenden Rache der Sieger4 halb befürchteten Ende. In der sich anschließenden Hungerzeit nach 1945 mündeten die Erfahrungen in einen extremen, allerdings bemerkenswert disziplinierten Realismus der breiten Massen. Auch die damals junge Generation war von Krieg, Zerstörungen und Vertreibung unmittelbar betroffen. Sie war damit gezwungen, wesentlich früher als in normalen Zeiten erwachsen zu werden, und musste ungewöhnliche Lebenserfahrungen im Kampf um das tägliche Überleben sammeln. Ob man schon sinnvolle eigene Ansichten über die Zukunft hatte, mag zweifelhaft sein. Dass die Deutschen aber über dem Elend des Alltags das Nachdenken über den eigenen Weg in den Abgrund vergessen hätten, ist unzutreffend. Das lässt sich leicht beweisen, am besten durch unparteiische ausländische Beobachter (z.B. Jean Solchany (1997), „Comprendre le nazisme dans l'Allemagne des années zéro (1945-1949)").

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Dass es sich um eine allgemeine Tendenz handelt, wird heute an dem beklagenswerten Zustand Zimbabwes deutlich. Ohne Rücksicht auf die Hautfarbe leistet dort in bewundernswerter Weise die Bevölkerung Widerstand gegen einen bornierten Tyrannen und bringt in kaum noch korrekt zu nennenden Wahlen trotzdem zum Ausdruck, womit sie nicht einverstanden ist. Der Morgenthauplan, nach dem Deutschland in einen Agrarstaat zurückverwandelt werden sollte, war das Dokument eines amerikanischen Regierungsmitglieds. Die Sowjetunion hat ihre Westverschiebung und die Vertreibung der Deutschen aus den Reichsgebieten jenseits von Oder und Neisse auch in der Hoffnung betrieben, damit in Westdeutschland eine Wirtschaftskatastrophe und einen Unruheherd zu schaffen, der ein weiteres sowjetisches Vordringen nach Westen erleichtert hätte. Man hatte sich dabei zunächst in den Deutschen verrechnet, deren Bekanntschaft mit dem sowjetischen Totalitarismus ausreichte, um sie in dieser Beziehung zu immunisieren. Allmählich wurde der quälende Lernprozess der Westalliierten durch sowjetische Herausforderungen aller Art beschleunigt.

60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik

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Auch die ehemaligen Nationalsozialisten, sofern sie nicht aus dem öffentlichen Leben einstweilen verbannt wurden, waren trotz mancher Verstocktheit in ihren Meinungen über das Vergangene skeptisch geworden. Immerhin beteiligten sie sich an den wieder möglichen freien Wahlen und wählten immer mehr die legitimen demokratischen Parteien. Es gehört im übrigen zu den wenig gewürdigten Leistungen der westdeutschen Wirtschaftsbelebung nach 1948, dass dadurch ein mögliches politisches Störpotential nach kurzem Aufflackern zunächst beseitigt worden ist. Die Berufsoffiziere und die aus öffentlichen Ämtern und anderen Positionen entfernten Nationalsozialisten mussten sich im wirtschaftlichen Wettbewerb bewähren, und die marktwirtschaftliche Befreiung gab ihnen dazu ausreichende Möglichkeiten. Durch unpolitische Leistungen konnten sie einen befriedigenden Standard wiedererlangen. Man war im übrigen allgemein misstrauischer geworden gegenüber großen Worten, die man in der Vergangenheit so oft vernommen hatte. Jedenfalls waren sich die Westdeutschen ohne Rücksicht auf ihre Lebensumstände und Ansichten darin einig, dass die unmittelbar nach 1945 herrschenden Zustände nicht andauern durften. Damit war ein Klima entstanden, in dem solide, nüchterne und realistische neue Ideen einfach auch deswegen eine Chance hatten, weil alle kollektivistischen Rezepte gescheitert waren. Zwar wusste in Westdeutschland nur eine aktive Minderheit, was eine „Wettbewerbswirtschaft" sein sollte. Ganz abgesehen davon war dieser Ausdruck insofern ein wenig unbeholfen, als es in Wirklichkeit nicht allein auf den Wettbewerb ankam, sondern damit viel umfassendere Ziele der Dezentralisierung, der persönlichen Freiheit und der Verantwortung verfolgt wurden. Auch unter einer Marktwirtschaft konnten sich die breiten Massen vorerst wenig vorstellen. Der nach einiger Zeit trotz oder wegen seiner Ambivalenz populäre Begriff „Soziale Marktwirtschaft" musste erst stärker in die Öffentlichkeit dringen. Genau wusste man aber, was man nicht mehr wollte, nämlich den bürokratischen Zwangsapparat der staatlichen Bewirtschaftung von allem und jedem. Man wollte, um Beispiele herauszugreifen, nicht mehr sehr früh am Morgen vor einer entfernt gelegenen Bäckerei Schlange stehen, weil sich ein Gerücht verbreitet hatte, dass dorthin Mehl geliefert worden war und während der Nacht Brot gebacken würde. Man wusste dabei nicht einmal, ob dieses Angebot trotz Rationierung für alle Nachfrager ausreichen würde. Auch hatte man genug von Hamsterfahrten auf den Trittbrettern und über den Puffern überfüllter Züge; oder von den endlosen Wartezeiten bei den Bewirtschaftungsbehörden, von deren korruptionsträchtigem Wohlwollen irgendeine Zuteilung oder Genehmigung abhing. Am 21. Juni 1948, also einen Tag nach der Währungsreform und dem Übergang zur Deutschen Mark mit marktgerechteren Preisen5, hielt Ludwig Erhard (1962, S. 62-68) als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes aus britischer und amerikanischer Besatzungszone eine denkwürdige Rundfunkansprache. Er wollte damit der Bevölkerung Sorgen vor dem Sprung in das ungewohnte marktwirtschaftliche System der freien Preise nehmen. Nicht jede seiner dabei angestellten Überlegungen, die allen Volkswirten natürlich geläufig sein mussten, wird von jedem Hörer verstanden worden sein. Aber mindestens bei einem einzigen Satz (S. 63) dürfte jedermann aus täglicher Erfahrung sehr konkret gewusst haben, worum es sich handelte. Er-

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Zu den anfanglich differenzierten Einzelheiten und dem schrittweisen Übergang zu freien Preisen vgl. Willgerodt (1991).

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hard sagte: „Der deutsche Staatsbürger wird erst dann wieder zu seiner Würde zurückfinden und sich aus innerem Erleben zur Demokratie bekennen können, wenn er in keiner Amtsstube mehr den Rücken zu krümmen braucht." Die zunächst wenigen, aber sehr aktiven wissenschaftlichen Kampfgenossen Erhards haben sich nicht zuletzt auch in diesem Jahrbuch immer wieder zu Wort gemeldet und die Entwicklung der neu entstandenen Marktwirtschaft grundsätzlich und im Einzelnen kritisch begleitet. Das neue Konzept musste nicht nur gegen internationale, sondern auch gegen innere Widerstände ankämpfen und konnte erst allmählich durch den Erfolg an allgemeinem Ansehen gewinnen. Das Volk war indessen doch klüger und lernfahiger, als schon damals Antworten auf mehr oder weniger absichtsvoll falsch formulierte demoskopische Fragen nahezulegen schienen. Gewiss brachte der Wandel zu einer neuen, stärker freiheitlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnung nicht nur neue Chancen, sondern auch Umstellungsprobleme und Opfer mit sich. Das erklärte manche Unzufriedenheit, wie sie auch nach 1989 bei der deutschen Wiedervereinigung aufgetreten ist. Nach 1948 brach nicht nur der Schwarzhandel zusammen. Das neue Rechensystem der marktwirtschaftlichen Preise brachte unbarmherzig Fehlstrukturen an das Tageslicht, vor allem strukturelle Arbeitslosigkeit, zumal neue Arbeitsplätze nicht immer dort entstanden, wo die Bevölkerung nach Vertreibung und Bombenkrieg untergebracht war. Es war ferner schwierig, nach Einführung der Deutschen Mark die neue Geldpolitik den noch nicht völlig bekannten realwirtschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Doch hat die neue „Bank deutscher Länder" als Zentralbank einen ziemlich unerbittlichen Kurs der Stabilität des Geldwertes eingeschlagen. Das gefiel manchen inländischen und vor allem ausländischen Beobachtern nicht, die unter dem Einfluss angelsächsischer Vollbeschäftigungslehren standen. Alsbald kam es deshalb ebenso wie heute zu Vorschlägen, mit denen selbst eindeutig strukturelle Arbeitslosigkeit durch inflatorische Geldschöpfung und Preisgabe der erreichten Geldwertstabilität beseitigt werden sollte. Aber von Inflation als universellem Heilmittel wollte die deutsche Bevölkerung nichts mehr wissen. Bei harter Währung fing sie sofort an, fieberhaft mehr zu arbeiten und freiwillig Überstunden zu leisten, um mit dem verdienten realen Lohn das Nötigste zu kaufen, dadurch auch anderen neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen und das eigene Los zu bessern. Trotz zahlloser ungelöster Probleme erhielten bei der ersten Bundestagswahl von 1949 diejenigen Parteien eine Mehrheit, die für ein marktwirtschaftliches System eintraten. Diese Wahl war in erster Linie eine Abstimmung über das Konzept Ludwig Erhards, den jedermann kannte und der mit unermüdlicher Beredsamkeit zusammen mit wenigen, aber wirksamen publizistischen Freunden das neue System erklärte. Die neue Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft hat vor allem in ihrer ersten, etwa zwei Jahrzehnte anhaltenden Phase spektakuläre Erfolge aufzuweisen gehabt, an denen zahllose Schwierigkeiten und ungelöste oder neu auftretende Probleme nichts ändern konnten. Ausgerechnet Deutschland hat damit eine lang anhaltende und sich international immer mehr ausbreitende Wende der wirtschaftspolitischen Konzeptionen in Richtung auf freiheitliche und marktwirtschaftliche Systeme wesentlich mit herbeigeführt. Das wurde und wird nicht zuletzt in Deutschland selbst bis heute von zahlreichen Meinungsbildnern und Historikern als peinlich angesehen und immer wieder klein zu reden versucht.

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Es ist in der Tat erstaunlich, dass auch unser Jahrbuch so viele Gegner überlebt hat, obwohl es bald diese, bald jene Instanz oder Gruppe verärgern musste und bis zum heutigen Tage vor allem in der Wissenschaft um Einfluss zu ringen hat.

II. Ordnungstheorie und Ordnungspolitik als Streitobjekt Die in diesem Jahrbuch vertretenen Ansichten folgen jenseits der erwähnten einleitenden Sätze und Zielvorstellungen keinen von der Schriftleitung oder den Herausgebern festgelegten Meinungen. Es befasst sich aber mit der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, was auch die Kritik am Gegenteil von Ordnung einschließt. Wie sich seitdem immer wieder gezeigt hat, bietet der Begriff „Ordnung" Anlass zu einer Fülle von Missverständnissen. Sie machen sich gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts besonders bemerkbar. Das Wunder der freiheitlichen Marktwirtschaft ist die Selbststeuerung des Wirtschaftsprozesses durch freie Entscheidungen von Anbietern und Nachfragern zu frei sich bildenden Preisen. Diese Selbststeuerung ist eine spontane Ordnung. Sie führt nur unter durchaus komplexen institutionellen Bedingungen zu einem befriedigenden Ergebnis. Das kann oder will man oft nicht verstehen, obwohl oder gerade weil es jedermann täglich vor Augen steht, der unter den Bedingungen einer solchen Ordnung lebt. Wieder einmal hält man nur einen Zustand für geordnet, bei dem bis in kleinste Details hinein alle Vorgänge nach irgendwelchen überwiegend staatlichen Vorschriften festgelegt sind. Die deutsche Steuergesetzgebung zeigt dies mit ihren unendlichen Rechtsverordnungen, Richtlinien und Einzelentscheidungen, die allesamt ständig geändert werden und für deren Auslegung eine Vielzahl von Sachverständigen gesamtwirtschaftlich unproduktiv oder nur insoweit produktiv beschäftigt werden, als ohne sie der Fiskus völlig freie Hand hätte. Der Fiskalsozialismus hat das Signal für einen allgemeinen Regierungsstil gegeben, der sich - auch in der Europapolitik - bis in die kleinsten Gemeinden hinein krebsartig ausbreitet. An Vereinfachungen und dauerhafte, allgemein anwendbare Gesetze und Regelungen scheint unter den Entscheidungsbefugten niemand zu denken. Wer dazu bereit zu sein scheint, verfügt jedenfalls nicht über ausreichenden Mut und Einfluss, um sich durchsetzen zu können. Auch die Sprache, in der die Regierenden dem Volke begegnen, hat nichts mehr mit der Klarheit zu tun, die früher einmal mindestens ein langfristig geltendes bürgerliches Recht gekennzeichnet hat. Wenn der Präsident des Deutschen Bundestages nunmehr, offenbar vergeblich, vor einer weiteren sprachlichen Verwüstung des deutschen Grundgesetzes durch eine bürokratische Detailregelung über staatliche Kreditaufnahme warnt, so kommt darin nur eine allgemeine, von den zahllosen, mit begrenztem Horizont operierenden Einzelverwaltungen ständig verstärkte Ordnungskrise zum Ausdruck. Nun sind auch die deutschen Hochschulen von diesem Stil bürokratischer Detailanordnungen erfasst, das heißt, sie sind zur alltäglichen obrigkeitlichen Handsteuerung von Studium, Lehre und Forschung übergegangen, auch zu neuen formalen Rangunterschieden zwischen den Professoren, die abermals vergiftende Ressentiments hervorrufen müssen. Die Einheit von Forschung und Lehre wird im

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Interesse lehrunwilliger Forscher zunehmend aufgehoben.6 Man bestellt nach Ressorts aufgeteilte Beauftragte und faktisch neue Vorgesetzte, die dies alles mit einer unendlichen Papierfülle administrativ und hierarchisch, aber pseudodemokratisch regeln sollen und leider auch wollen. Ausreichend durchdachter Widerstand regt sich nicht einmal mehr bei der akademischen Jugend. Der Unterschied zwischen allgemein gültiger dauerhafter Ordnung und administrativer Anordnung kommt am besten an dem oft genannten Beispiel des Straßenverkehrs zum Ausdruck. Die Verkehrsregeln schaffen Ordnung für das Verhalten der noch unbekannten einzelnen Verkehrsteilnehmer, befehlen aber nicht, wohin jemand gehen oder fahren muss oder ob er zu Hause bleibt. Je mehr solcher Regeln es gibt und je mehr sie in die Einzelheiten gehen, desto mehr Alternativen werden aber für den Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen, desto geringer wird sein Freiheitsspielraum. Am Beispiel einer Einbahnstraße mit totalem Halteverbot, Geschwindigkeitsvorschrift und Überholverbot ist dies zu erkennen. An Kreuzungen gibt es eine Art von Befehl, die Fahrt nur in der jeweils freigegebenen Richtung fortzusetzen. Im Ausnahmefall, etwa bei Unglücksfallen, kann die Polizei darüber hinaus auch eine von ihr bestimmte Verkehrsbewegung anordnen. Dieser Sonderfall unterscheidet sich zwar noch immer vom Normalfall einer militärischen Kolonne, der stets befohlen wird, die Straße in einer bestimmten Formation entlang zu marschieren. Aber der Unterschied vermindert sich, je häufiger der Verkehr staatlich reguliert wird. So kann in der Wirtschaftspolitik das Verhalten von Produzenten und Verbrauchern durch immer detailliertere Verbote und Genehmigungsvorbehalte oder zum Beispiel Angebotskontingentierungen wie in der Landwirtschaft so stark eingeschränkt werden, dass das Verhalten der Bürger zunehmend wie bei den Pawlowschen Hunden von Signalen an nur noch formal freie Lebewesen bestimmt wird. Ich habe dies „Zentralverwaltungswirtschaft mit staatlicher Marktlenkung" genannt (Hans Willgerodt 1966, S. 201 ff.). Was dem formalen Charakter nach noch als Ordnung erscheint, ist in Wahrheit schon administrative und ständig geänderte Anordnung.7 Der Freiheitsspielraum des Einzelnen ist nicht schon dann ausreichend gesichert, wenn die staatlichen Maßnahmen

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Forschung drängt nach Mitteilung und Kritik. Sie setzt einerseits einen immer höheren Sachverstand von Zuhörern und Kritikern voraus, je verwickelter das jeweilige Problem ist. Andererseits haben es gerade hervorragende Forscher oft für eine wichtige Aufgabe gehalten, den langen Weg zu ihren Ergebnissen auch vor einem größeren Leser- und Zuhörerkreis nachvollziehbar darzustellen. Der Bonner Physiologe Ebbecke, der mich einst im Physikum geprüft hat, pflegte uns zu sagen: „Wenn Sie etwas Ihrer Frau Mutter nicht erklären können, dann haben Sie es auch nicht verstanden." Der Arzt, der seinen Patienten nicht hinreichend über eine Behandlung (etwa eine Operation) informiert, kann sich haftbar machen. Eine mangelhafte Aufklärung von Wertpapierkäufern durch Anlageberater führt jetzt zu ähnlichen Problemen. In der Wirtschaftspolitik richtet man sich oft nicht nach der Natur der Sache, über die man die Öffentlichkeit und die Parlamente aufklären müsste, sondern nach der erwarteten Popularität und propagandistischen Verwendbarkeit. Eine niedersächsische Gemeinde hat einen Befehl in die Form einer scheinbar allgemein gültigen Vorschrift gekleidet. Für eine einzelne, an genau angegebener Stelle stehende Stileiche wurde eine Satzung mit Vorschriften über deren Behandlung durch den jeweiligen Eigentümer, Ersatzvomahme nebst zugehörigen Strafandrohungen usw., erlassen. Der staatliche Denkmalschutz erklärt von ihm angefertigte Listen über Denkmale zugleich für verbindlich und zu bloß verwaltungsinternen Vorgängen, gegen die der Bürger nicht durch Widerspruch usw. vorgehen könne. Man zwingt damit den Bürger zu kostspieligen Prozessen und bewegt sich teilweise an der Grenze zur Rechts- und Verfassungswidrigkeit.

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verfassungsgemäß zustande gekommen sind und zugleich als „marktkonform" im Sinne Wilhelm Röpkes gelten können (zuerst 1942, S. 252 ff. und 291 ff., 1979, S. 258 ff, und 297 ff.). Wie er betont, hängt das gesamtwirtschaftliche Ergebnis auch von der Summe aller staatlichen Regelungseingriffe ab, sie mögen einzeln so konform sein, wie sie wollen. Das Problem kommt auch darin zum Ausdruck, dass man teils von „Regeln" für das Verhalten des Bürgers (oder auch staatlicher Instanzen) spricht, teilweise aber auch von „Regulierungen" durch den Staat, bei denen die obrigkeitlichen Zielvorstellungen dominieren. Es gibt Fälle, bei denen wie bei einer Flutkatastrophe das staatliche Ziel Vorrang haben muss. Um es zu erreichen, gilt das Prinzip von Anordnung und Gehorsam. In einer freiheitlichen und menschenwürdigen Ordnung, um die es in unserem Jahrbuch geht, ist aber der Ausnahmezustand wie die chirurgische Operation in der Medizin kein Dauerzustand. Die Ausnahme von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Selbststeuerung dient nur dazu, diese Ordnung möglich zu machen oder wiederherzustellen. Ordnungstheorie und Ordnungspolitik befassen sich heute weniger mit der grundsätzlichen Kritik an Zentralverwaltungswirtschaften. Es sollen vielmehr vor allem Bedingungen und Probleme der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Selbststeuerung ermittelt werden, wenn sie unter dem Einfluss des ständig zunehmenden Staatsinterventionismus stehen. Die Selbststeuerung geschieht über freie persönliche Entscheidungen mindestens der Erwachsenen. Sie schließen einvernehmlich Verträge, bei wirtschaftlichen Vorgängen auch über einen öffentlich zugänglichen Markt, ohne dass ein obrigkeitlicher Befehl dazu notwendig ist. Die Obrigkeit muss nicht einmal mehr im Einzelnen wissen, was hier geschieht. Dabei kommt unter bestimmten Bedingungen einzelund auch gesamtwirtschaftlich ein sinnvolles Ergebnis zustande, vergleichbar mit der Selbststeuerung des gesunden menschlichen Körpers.8 Welche Bedingungen das sind, wird von der Ordnungstheorie genauer erörtert. Dass man hier längst alles Nötige wisse und nichts Grundsätzliches mehr zu entdecken sei, außerdem das schon Bekannte, weil es selbstverständlich, altmodisch und rückständig sei, ungestraft vergessen könne, gehört zu den heute modisch gewordenen abwegigen Vorstellungen, die auch in der Wissenschaft immer wieder und gerade jetzt zum Vorschein kommen. Walter Eucken, einer der beiden Gründer dieses Jahrbuches, hat in seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" (zuerst 1952, 6. Auflage 1990, Kapitel XVI und XVII) die konstituierenden und regulierenden Bedingungen einer wettbewerblichen Marktwirtschaft sowie die übrigen Funktionsbedingungen dieser Wirtschaftsordnung dargestellt. Daran hat sich

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Zu der bei Wissenschaftlern beliebten These, der freie Mensch handele „irrational", muss zunächst gefragt werden, woher die Beurteiler selber ihren Maßstab für Rationalität nehmen. Ein Teil der angeblichen Irrationalität ist den Suchkosten bei unvollkommener Information und Nutzenprognose zuzurechnen. Ferner sind die automatisch wirkenden Korrekturfaktoren der Marktwirtschaft einzubeziehen, bei denen im Prinzip von allen Fehlentscheidungen zuerst der Verursacher selber getroffen werden soll, im Gegensatz zur Zentralverwaltungswirtschaft, die ohne ausreichendes Rechensystem nicht einmal zureichend feststellen kann, was ein wirtschaftlicher Fehler war. Bei der Diktatur fehlt in der Regel die automatische, sachlich unabhängig festliegende und nachprüfbare persönliche Sanktion. Auch in der Demokratie wird eine fehlerhafte Obrigkeit nur sehr unvollkommen unmittelbar zur Rechenschaft gezogen. Die Selbststeuerung über den Markt und durch seine Sanktionen unterscheidet sich von der Selbststeuerung des menschlichen Körpers bei aller Ähnlichkeit durch den fundamentalen Unterschied, dass bei der Selbststeuerung des Körpers die Teile nicht über einen selbständigen und durch Aufklärung oder Irreführung und eigene Überzeugung veränderlichen Willen verfügen.

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eine lang anhaltende kritische und weiter führende Diskussion angeschlossen, auch in diesem Jahrbuch. Beliebt ist in dieser Debatte die Behauptung, Ordnung sei etwas Statisches, wo doch der Fortschritt in der Dynamik liege. Zureichende Ordnungen sind aber nicht in dem Sinne statisch, dass daran nichts geändert werden darf. Vor allem Datenänderungen wie neues Wissen, Bevölkerungsveränderungen, aber auch neue Wertvorstellungen legen es nahe, über Änderungen der Ordnung sorgfältig nachzudenken und zu entscheiden, sofern die Neuigkeiten nicht wie im normalen Recht in der bestehenden Ordnung unterzubringen sind. Aber es muss dafür Grenzen geben, wenn Freiheit erhalten bleiben soll. Es handelt sich dabei nicht um ein bei Ökonomen beliebtes Maximierungsproblem für eine einzige Größe, sondern um die notwendige Optimierung zwischen Anforderungen der ökonomischen Planung und der Freiheit zu Veränderungen. Man hat von der Freiheit zu „schöpferischer Zerstörung" gesprochen. Nicht jede Veränderung zerstört jedoch etwas, und oft kann sie mehr fordern und erhalten, als gleichzeitig zerstört wird, wie jeder Chirurg weiß. Menschliche Freiheit ist in der Hauptsache die Freiheit, eigene Pläne zu fassen und auszufuhren. Dazu muss es eine Fülle von stabilen Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen geben, mit denen der Planende mit einiger Sicherheit rechnen kann. Gäbe es diese Beziehungen überhaupt nicht, dann könnte es keine erfolgreichen freien Planungen und also auch nichts „Schöpferisches" geben. Wären auf der anderen Seite sämtliche Beziehungen zwischen Planungsgrößen unveränderlich und ohne menschliches Zutun vollständig determiniert, dann gäbe es keine persönliche Freiheit. Das Reich der Freiheit liegt also zwischen totaler Unbestimmtheit im Chaos oder totaler Vorausbestimmtheit alles Geschehens (hierzu im einzelnen Hans Willgerodt 1989). Das Ordnungsproblem besteht darin, an Regeln gebundene Freiheit zu Veränderungen zu erhalten und sie gleichzeitig vor Chaos auf der einen Seite und determinierender Diktatur auf der anderen Seite zu bewahren. Evolutionen haben schon allzu oft in den menschenunwürdigen Abgrund geführt und tun dies heute wieder in vielen Ländern. Es genügt nicht, darauf zu hoffen, dass es immer rechtzeitige Selbstkorrekturen geben wird, bevor wir alle tot sind. Gewiss muss aber eine zureichende Ordnung einen Rahmen schaffen, in dem viele Neuigkeiten Platz haben, geprüft und bewertet werden, aber auch rechtzeitig ausgeschieden werden können. Ordnung darf jedoch nicht als eine Art Gummirahmen täglich zur Disposition stehen. Wir werden die Diskussion darüber fortsetzen und uns darin nicht durch den weniger mit sachlichen Argumenten als mit institutionellem Zwang geführten Kampf gegen Ordnungstheorie und Ordnungspolitik hindern lassen. In diesem Kampf tut sich von jeher eine sehr gemischte Gruppe hervor, gefuhrt, von Brancheninteressenten, lenkungsbegierigen Kollektivisten und Monopolisten aller Art. Zu ihnen gehören auch positivistische, romantische und elitäre Macht- und Staatsanbeter,9 Bürokraten, Anarchisten, illiberale Philosophen, Literaten und ähnliche Meinungsformer.

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Sie begrüßen die jetzt zur Bekämpfung der Krise notwendige erhöhte Staatstätigkeit als ersehnten sozialistischen Dauerzustand.

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In den Vordergrund sind aber jetzt ökonomische Spezialisten getreten, die jedenfalls den Eindruck erwecken, ordnungspolitische Forschungen, Lehren und Studien seien an sich überflüssig. Falls es die darin behandelten Probleme doch gebe, könnten sie in der üblich gewordenen Mikro- oder Makroökonomie zur linken Hand mit gelöst werden. Für diese Auffassung wird ein monopolistischer Dominanz- und Universalanspruch geltend gemacht. Dass Wissenschaft auf Offenheit für verschiedene Ansätze und institutionelle Regelungen beruht, wird insoweit verdrängt. Die Auseinandersetzung wird jetzt kaum mehr mit sachlichen Argumenten geführt. Wirtschaftspolitische Lehr- und Forschungsmöglichkeiten werden beseitigt, nicht, weil dort unzulängliche Leistungen vollbracht worden sind, sondern weil die intensive Beschäftigung mit wirtschaftspolitischen Problemen nicht mehr einem angeblich allein richtigen internationalen Standard entspreche. Wertvolle wissenschaftliche Neuigkeiten weichen jedoch so gut wie stets vom „mainstream" ab, und Deutschland ist, wie gezeigt, im vorigen Jahrhundert in der Wirtschafts- und Ordnungspolitik vorübergehend ein Musterbeispiel dafür gewesen, dass man gerade damit Erfolg haben kann. Dies alles verbindet sich mit manchen Missverständnissen. Die Ordnungstheorie steht nicht grundsätzlich im Gegensatz zur mathematischen oder mit Statistiken arbeitenden ökonometrischen Ökonomie. Welcher Ordnungstheoretiker wollte sich anmaßen, den zugleich ordnungstheoretisch, empirisch-statistisch und mathematisch argumentierenden Johann Heinrich von Thünen zu verachten? Er rechnete und berechnete aber im Rahmen einer bürgerlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung und konnte zum Beispiel die verschiedenen vor allem kollektivistischen Methoden und Systeme nicht voraussehen, mit denen man seit einem Jahrhundert Bekanntschaft gemacht hat. Seit Thünen hat es bis heute immer wieder nebeneinander sowohl ordnungstheoretische, verbale, verballogische als auch mathematische volkswirtschaftliche Untersuchungen gegeben, wobei die Studien selber alle vier möglichen Darstellungsformen gleichzeitig wählen konnten. Das Mischungsverhältnis hat nicht immer den aktuellen Problemen entsprochen. Vor allem das Ordnungsproblem wurde nicht nur von der jüngeren historischen Schule vernachlässigt. Auch heute bleibt es teilweise mit schwerwiegenden Folgen unbeachtet. Die moderne mathematische Ökonomie kann zum Beispiel die numerischen Folgen gesetzlich festgelegter Regelungen abzuschätzen versuchen, etwa in der Sozialpolitik, muss also in die Zukunft blicken, ohne sie voll beherrschen zu können. Die zugrunde liegenden Annahmen und ordnungspolitischen Anforderungen führen zu Modellen, gegen die als solche keine apriorischen Bedenken vorgetragen werden sollten.10 Diese Ökonomie bemüht sich dann, empirisch-statistisches Material zu verwenden, um damit numerische Regelmäßigkeiten im Verhalten der wirtschaftenden Menschen zu entdecken und dabei gefundene Ergebnisse für Prognosen zu verwenden. Man hofft, vergangene Verhaltensweisen und Abläufe ließen sich auch in der Zukunft erwarten. Darauf 10 Walter Eucken (1954) selbst war in dem Sinne Modelltheoretiker, dass er aus bestimmten Annahmen über Bedingungen und Datenänderungen die daraus folgenden, keineswegs trivialen Schlüsse über Prozesse und Ergebnisse abgeleitet hat. Modelltheorie in diesem Sinne ist ein unentbehrlicher Bestandteil der Wirtschaftstheorie, die damit taxonomische Systeme bilden kann. Was davon aktuell ist, muss empirisch geprüft werden. Um bestimmte Prozesse und Möglichkeiten prinzipiell zu klären, sind auch extreme Annahmen hin und wieder nützlich, zwischen denen sich die wirklichen Vorgänge abspielen müssen.

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beruhen zum großen Teil nicht nur einzelwirtschaftliche, sondern auch gesamtwirtschaftliche Prognosen. Einige davon bewähren sich, vor allem solche, bei denen man eher nur Aussagen über die erwartete Richtung des künftigen Verhaltens der Wirtschaftsteilnehmer wagt. Aber ein erhebliches Element der Unsicherheit kann bleiben, das unbedingte einzel- und gesamtwirtschaftliche Prognosen vielfach empirisch scheitern lässt. Das bedeutet nicht, dass man auf statistische Messungen und ihre theoretische Verarbeitung verzichten soll, sondern nur, dass es sinnvoll ist, eine Ordnung zu begünstigen, bei der die Wirtschaftenden auf von den Prognostikern nicht erwartete Verhaltens* und Datenänderungen sinnvoll reagieren können und außerdem für das Auffangen von Fehlern über genügend Reserven verfügen. Aber Freiheit, auch als Suchprozess, ist ohne Risiko ein Widerspruch in sich selbst, und das größte, auch materielle Risiko kann von jeher die Aufhebung der Freiheit sein, vor allem, weil man sich dann nicht mehr selbst helfen kann. Im Streit um diese Möglichkeiten wird nun ein Element außer Betracht gelassen, das - abgesehen von seiner selbständigen Bedeutung - gerade für die Erfolgsmöglichkeiten von ökonometrisch begründeten Prognosen besonders wichtig ist. Bei ordnungspolitischer Beliebigkeit wird der Spielraum empirischer Vorgänge unter Umständen extrem erweitert oder bei merkantilistischen Freiheitsbeschränkungen durch Sklerose extrem verengt. Diese Sklerose, wie sie jetzt einzel wirtschaftlich oft bei Großunternehmungen verspätet zum Vorschein kommt, kann dann abrupt gesprengt werden. Numerische prognostische Berechnungen werden damit erschwert. Statistik ändert daran nichts, denn sie berichtet immer nur über Vergangenes. Daraus auf die Zukunft zu schließen ist einerseits notwendig und unvermeidbar. Wovon sonst will man lernen, wenn nicht von der näheren oder ferneren Vergangenheit, in der alle heute feststellbaren Tatsachen liegen? Von der Zukunft kann man erst lernen, wenn sie vergangen ist. Die Schlüsse von der Gegenwart auf die Zukunft bleiben unvermeidlich. Andererseits sind sie in verschiedenem Grade unsicher, und dies auch und gerade dann, wenn die Menschen frei entscheiden können. Aber nur, wenn sie frei sind, kann es zu besseren Lösungen für wirtschaftliche Probleme kommen. Der in einer zentral geleiteten Wirtschaft erhoffte angeblich risikofreie planwirtschaftliche Gleichschritt kommt meist nicht vollständig zustande. Außerdem ist ein solches System unvermeidlich von Planungsfehlern heimgesucht, gegen die es nicht wie in der Marktwirtschaft automatische Korrekturen gibt.11 In einer stabilen Ordnung können trotz aller mit der menschlichen Freiheit verbundenen Unsicherheiten Prognosen eher erfolgreich sein, während sie nicht nur in der planwirtschaftlichen Diktatur, sondern auch bei anarchistischem Chaos und der Möglichkeit zu Panikreaktionen mangelhaft bleiben. Bei großen Zahlen der frei entscheidenden Mitglieder einer Gesellschaft gibt es im übrigen viele Wege, auf denen sich Verhaltensweisen angleichen. Dazu gehören Konventionen und Traditionen aller Art, von der gemeinsamen Sprache bis zur uniformierenden Wirkung der Massenproduktion. Erhards von einigen seiner Sachverständigen bezweifelte Prognose, dass der sorgfaltig beobachtete und notfalls kontrollierte Übergang zur Marktwirtschaft das reale Volkseinkommen erhöhen werde, hat sich aus guten Gründen bewährt. Zugrunde lagen 11 Jedenfalls gibt es in der Marktwirtschaft diese Korrekturen, wenn sie nicht wie jetzt von der Regierung im Interesse der Großwirtschaft teilweise lahmgelegt werden.

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ordnungspolitische, aber illusionslose und vorsichtige Erwägungen und Schätzungen über prinzipielle und nicht nur zufällige Zusammenhänge. Um Prognosen sicherer machen zu können, vor allem bei der Abschätzung von realen, längerfristig bindenden Investitionen, hat Eucken eine „Konstanz der Wirtschaftspolitik" gefordert (1990, S. 285 f.). Gemeint ist damit nicht Starrheit wirtschaftspolitischer Regelungen, sondern die längerfristige Beständigkeit ihrer Konzeptionen und die Berechenbarkeit des staatlichen Verhaltens. Davon ist heute nur noch wenig übrig geblieben. Entsprechend erratisch und spekulativ reagieren die davon betroffenen Bürger, oder sie reagieren risikoscheu und fortschrittsfeindlich, weil bei unsicheren und sich widersprechenden Signalen das Abwarten eine sinnvolle Option sein kann. Früher war die Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft auch darauf zurückzufuhren, dass Innovationen für untergeordnete Stellen mit einem zu großen persönlichen Risiko verbunden waren, so dass sich Dienst nach Vorschrift empfohlen hat, während die politische Führung sich ohne persönliche Haftung riesige Experimente leisten konnte. Solches gilt heute auch für große Unternehmungen, die als zentral geleitete Gebilde sich nicht selten riskante Verhaltensweisen für einige Zeit leisten können, dann aber plötzlich in Schwierigkeiten kommen und um Staatshilfe bitten. Um Prognosen in der freiheitlichen Ordnung sicherer zu machen, kann der Staat, der auch ein sehr großes wirtschaftliches Gebilde ist, als der heute oft wichtigste Risikofaktor sein Verhalten stabilisieren und verstetigen, anstatt sich von einem undurchdachten politischen Innovationsprojekt zum anderen zu bewegen. Es können aber auch Prognosen des privaten Verhaltens dadurch zuverlässiger gemacht werden, dass Regeln des Verhaltens angewandt werden, die sich entweder freiwillig zu Konventionen verfestigen oder den Privaten durch eine stabile Rechtsordnung auferlegt werden. Der Spielraum des menschlichen Verhaltens kann bei Regeltreue auch empirisch zuverlässiger erfasst werden. Damit wird das wirtschaftliche Verhalten einzel- und gesamtwirtschaftlich berechenbarer. Es ist deshalb nicht zu verstehen, dass heute vor allem in der deutschen Wirtschaftswissenschaft die Lehre von diesen ordnungstheoretischen Beziehungen zurückgedrängt werden soll. Ordnungstheorie und Ordnungspolitik befassen sich mit stabilisierenden Regeln und dem Kampf gegen unzuverlässige Institutionen. Gerade eine sinnvolle Ordnungspolitik könnte die Arbeit der Ökonometriker erleichtern und ergiebiger machen. Denn durch beständige und sinnvolle Regeln kann der Spielraum für irrationales einzelwirtschaftliches Verhalten sowohl begrenzt als auch leichter abschätzbar und korrigierbarer gemacht werden. Auch Sanktionen wirken dann zuverlässiger. Doch Ordnung in diesem Sinne ist nicht mit der Enge des Gefängnisses zu verwechseln. Die Menschen sind nicht mehr frei, wenn ihr gesamtes künftiges Verhalten schon heute ganz genau beobachtet, erkannt und prognostiziert werden könnte. Die Ordnungstheorie untersucht zunächst Funktion und Wirkung von Systemen und Regeln. Diese sollen, abgesehen von ihrer eigentlichen Sinn- und Wertkomponente, unter anderem durch ihre Verlässlichkeit und Beständigkeit Planungsrisiken für die Wirtschaftenden herabsetzen, insbesondere die Risiken der Freiheitsbeschränkung durch andere, auch durch die Politik. Man denkt hier nicht in kurzfristigen Zweck-MittelBeziehungen, die diskretionär behandelt werden sollen, sondern prinzipiell und langfristig für Sachverhalte, die zum großen Teil noch gar nicht bekannt sein können. Auch bei

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einem verkehrssicheren Automobil weiß man nicht, wohin es fahren wird, sondern berechnet die Verkehrssicherheit nach allgemeinen langfristigen Erfahrungen, wie sie auch der Ordnungstheorie zugrunde liegen, ohne die Personen und Sachverhalte schon vorher genau zu kennen, für die sie gelten. Die jetzt übliche Zurückweisung von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik könnte von mehr Studien abgelöst werden, bei denen zum Beispiel die erwähnten konstituierenden und regulierenden Bedingungen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft Punkt für Punkt in den Einzelheiten empirisch geprüft und ergänzt würden.

III. Mängel von marktwirtschaftlichen Ordnungen Es gehört zum ordnungstheoretischen Programm, nicht nur Folgen und Mängel des Staatsinterventionismus zu untersuchen, sondern auch die Mängel der Selbststeuerung über Märkte. Ein Vorbild ist hier abermals die medizinische Wissenschaft. In ihr lernt man zunächst die Selbststeuerung des gesunden Körpers kennen und hat damit einen Maßstab, an dem man Abweichungen, Mängel und Krankheiten messen kann. Bisher kommt jedoch kein Arzt auf den Einfall, alle Körperfunktionen umfassend und ständig direkt steuern zu wollen. Was hier im Krankheitsfall an Mitteln und Methoden möglich ist, wird angewandt, aber es bleibt immer das Ziel, die normalen Körperfunktionen so weit wie irgend möglich zu stützen und zu erhalten. Nur für Wirtschaft und Gesellschaft soll nach verbreiteter Ansicht anderes gelten. Das freiheitliche System mit sich selbst regulierenden Preisen und freien Entscheidungen gilt im Ganzen als krank und soll möglichst durch staatliche Lenkung ersetzt werden. Die Regierungen widersprechen da nicht und nehmen vor allem Erfolge auch dann für sich in Anspruch, wenn sie sie gar nicht veranlasst, sondern höchstens nicht ganz verhindert haben. Man erwartet wieder einmal alles von der Politik, obwohl sie die gegenwärtige Krise mit verschuldet hat. Denn hierzu haben zum Beispiel die amerikanische Immobilienpolitik und das Versagen deutscher Staatsbanken beigetragen. Seit der Zeit der Saint-Simonisten möchte man immer wieder mindestens durch zentrale Steuerung, wenn nicht umfassende wirtschaftliche und politische Staatsplanung mit oder ohne wissenschaftliche Methoden in das Reich möglichst vollständig politisch beherrschbarer Determiniertheit gelangen, in dem es angeblich nur reine Vernunft geben soll. Freiheit wird dann weitgehend überflüssig, es sei denn für wissenschaftliche Philosophenkönige, die das ganze gesellschaftliche Getriebe lenken wollen. Die weitgehende Beherrschung der Mehrheit aller wirtschaftlich wichtigen Größen kann aber der Regierung nicht oder allenfalls wie einst im Inkastaat mit großen Opfern an Freiheit und materiellen Gütern gelingen. Dies und das moderne Scheitern von Zentralverwaltungswirtschaften sollte aber nicht zu falschem Optimismus verführen. Der Untergang der Sowjetunion war gewiss mehr als ein sehr eindrucksvolles Signal. Aber es wäre vermessen, daraus schon einen allgemeinen Sieg sinnvoller marktwirtschaftlicher Konzeptionen abzuleiten. Das geschieht, wenn etwa das Ende der Geschichte prophezeit wird, oder wenigstens der Geschichte von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Wären solche Prophezeiungen von Freunden des Laisser-faire richtig, dann hätten die volkswirtschaftliche Ordnungstheorie und Ordnungspolitik und damit unser Jahrbuch weniger zu tun. Diese Erwartung wird von den Tatsachen täglich widerlegt.

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Die erwähnte, sich imperialistisch ausbreitende Richtung der Volkswirtschaftslehre scheint auf solchen Erwartungen vom Verschwinden des Ordnungsproblems zu beruhen oder sie mindestens zu fordern. Oder sie verbirgt mit dem Streben nach ordnungstheoretischer und ordnungspolitischer Abstinenz wissenschaftliche Erkenntnisansprüche, die schließlich wieder zu einem umfassenden politischen Gestaltungssystem fuhren können. Das erinnert an despotische Ansprüche Gustav von Schmollers (1897). Er hatte einen starken politischen Gestaltungswillen und konnte einst ziemlich weitgehend bestimmen, wer in Deutschland auf volkswirtschaftliche Lehrstühle berufen oder vor allem nicht berufen werden darf. Man meint jetzt, dass es an der Zeit sei, sich nicht mehr mit Ordnungsfragen oder überhaupt Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik zu befassen. Es gebe interessantere, meist mathematisierbare Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies geschieht im Augenblick einer Wirtschaftskrise, die auf den ersten Blick von einer falschen amerikanischen Geld-, Finanz-, Prozess- und Immobilienpolitik hervorgerufen worden ist. Sie war aber nur möglich, weil die amerikanische Wirtschaftsordnung eine solche Politik zugelassen hat. Es wird kaum noch bestritten, dass man gerade jetzt über neue Ordnungsregeln nachdenken muss, die künftig ähnliche spekulative Exzesse und Krisen wenn nicht verhindern, so doch erschweren. Unser Jahrbuch beteiligt sich an dieser Diskussion. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch bei verbesserten ordnungspolitischen Rahmenbedingungen eine klügere makroökonomische Prozesspolitik geben muss und bei eingetretener Kreislaufstörung Maßnahmen zu treffen sind, um sie zu mildern und abzukürzen. Franz Böhm (1971, S. 18, 1973, S. 39), einer der Begründer unseres Jahrbuchs, hat auf die möglichen Mängel der marktwirtschaftlichen Ordnung hingewiesen, die den Staatseingriff herausfordern. Er nennt ausdrücklich das Konjunkturproblem, das zu einer handgesteuerten Globalintervention fuhrt. Diese könne aber selber wieder mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sein. Wilhelm Röpke, einer der sich immer wieder zu Wort meldenden Autoren unseres Jahrbuches, war zunächst einer der bekanntesten Konjunkturforscher, der in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 zu einer aktiven makroökonomischen Konjunkturpolitik geraten hat (z.B. 1931, 1932, kritisch abgrenzend 1943, jetzt wieder abgedruckt 2009, S. 103-118). Autoren wie Gottfried von Haberler (1955, 1974) und Alfred Müller-Armack (1929)12 waren ebenso wie Röpke zugleich Ordnungs- und Konjunkturtheoretiker. Der liberale Geldtheoretiker Albert Hahn (1949) hat sich im zweiten ORDO-Band mit Keynes auseinandergesetzt, von dessen Fehlern er behauptet, sie früher selbst vorweggenommen zu haben. Wieviel die spätere mathematische Konjunkturtheorie an praktischer Strapazierfahigkeit hinzugefügt hat, soll hier nicht geprüft werden (Hans-Jürgen Vosgerau 1978). Worauf es im Streit um die Ordnungstheorie allein ankommt ist die Frage, ob und weshalb die volkswirtschaftliche Krisenempfindlichkeit auch von stabilisierenden oder destabilisierenden

12 In seinem im Einzelnen kritisch zu diskutierenden, aber gerade heute recht modern erscheinenden Beitrag „Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik" weist er eindringlich daraufhin (1929, 665), dass eine drohende Krise durch rechtzeitige Dämpfung während des Aufschwungs bekämpft werden muss, eine Lehre, die man jetzt in den USA vernachlässigt hat. Als Staatssekretär im Bundesministerium fiir Wirtschaft hat Müller-Armack demgegenüber eine sorgfältig durchdachte und behutsame Konjunkturpolitik gefördert. Wie die Kölner Universität zur Zeit mit dem von ihm gegründeten Institut für Wirtschaftspolitik umgehen wird, bleibt abzuwarten, nachdem der von ihm einst verwaltete Lehrstuhl umgewidmet worden ist.

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Ordnungselementen abhängt. Eine Volkswirtschaft mit hohem Eigenkapitalanteil der Unternehmungen, vor allem der Finanzinstitutionen, dürfte weniger empfindlich sein. Große papierene oder elektronische Kreditgebäude ohne ausreichenden Bezug zu realen Investitionen gleichen immer mehr empfindlichen Kartenhäusern, deren Wachstum durch höhere und unmittelbare persönliche Haftung der Agierenden gedämpft werden sollte. Auch ein hoher Anteil an schuldenfreiem Immobilienbesitz und im Verhältnis zum realisierbaren Privatvermögen maßvoller Privatverschuldung kann hier günstig wirken.13 Solange aber nur in bloßen Quantitäten von als Nachfrageausfall plakatiertem Sparen und als Konjunkturanregung geltendem Konsumzuwachs gedacht wird, entgehen der Untersuchung entscheidende Faktoren.14 Eigenschaften der Gesellschaft, die in der Hauptsache jenseits von Angebot und Nachfrage angesiedelt sind, haben auch ökonomische Wirkungen, von denen der angebliche Realismus harter Zahlenverhältnisse nichts weiß. Autoren unseres Jahrbuches wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow haben zu diesem Problem viele Beiträge geleistet. Im Hintergrund der amerikanischen Vorgänge steht eine proletarische Unbekümmertheit über das Kapitalproblem. In den USA hat in letzter Zeit das Inland im ganzen nicht mehr neu gespart. Man ließ sich seine Investitionen vom Ausland finanzieren, neuerdings von dem viel ärmeren Rotchina. Die Unbekümmertheit, mit der das geschah, beruht auch auf einer Art von Vulgärkeynesianismus, der in das Volk eingedrungen ist. Danach ist Sparen als Ausfall von Nachfrage stets ebenso schädlich wie die Rückzahlung von Schulden. Es komme vor allem auf den privaten und öffentlichen Konsum

IV. Methoden im Streit Das Denken in Ordnungen und ihnen entsprechenden Abläufen kann gerade jetzt nicht mehr, wie es geschehen ist, zu einem Bonmot von vorgestern erklärt werden. Die Wirklichkeit drängt sich mit der Aufgabe vor, die jetzige Wirtschaftskrise zu bändigen. Sie ist nicht nur von einer fehlerhaften staatlichen Prozesspolitik hervorgerufen worden, sondern auch durch das Fehlen oder Verachten von solchen Ordnungsregeln vor allem für das Bank- und Finanzwesen, die dem Problem angemessen gewesen wären. An dieser Erkenntnis kann jedenfalls die praktische Politik nicht mehr länger vorbeigehen. Zwar ist es unvermeidlich, vorübergehend der Krise durch Geld- und Fiskalexpansion zu begegnen. Aber genügt das? Eine im Einzelnen auf bestimmte Empfanger zielende Kreislaufhilfe muss nicht nur mit inflationistischen Spätwirkungen, sondern auch den Verzerrungen rechnen, die jede Subvention hervorruft. Auf diese Weise kann der Keim zu neuen Spekulationsblasen gelegt werden. Damit sich die Krise nicht wiederholt oder 13 Zur Beziehung zwischen Privatvermögen und persönlicher Krisenempfindlichkeit sowie zur Korrektur vereinfachender Theorien vgl. Hans Willgerodt (1967). 14 Solchen teilweise leichtfertigen Vereinfachungen leistet jetzt die sonst eindrucksvolle Studie des amerikanischen Nobelpreisträgers Krugman „Die neue Weltwirtschaftskrise" (1999; deutsch 2009) Vorschub. 15 Die Kreditwürdigkeit des amerikanischen Bundesstaates wird jetzt zunehmend in Zweifel gezogen, mit kaum absehbaren Folgen. Die anscheinend überparteiliche Politik extremer Staatsverschuldung ist schon vor Jahren von dem bekannten amerikanischen Ökonomen Benjamin Friedman (1988) ohne Erfolg scharf kritisiert worden.

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in eine Inflation übergeht, müssen bessere Ordnungsregeln entwickelt werden. Sie mögen ebenso wenig ausreichen wie nach einer medizinischen Operation Hygiene und sonstige Verhaltensregeln. Aber ohne solche Regeln ist keine Besserung zu erwarten. Darüber wird nun beraten. Es schlägt die Stunde der Ordnungspolitik. Von denen, deren Lehren die Krise nicht verhindert, sondern eher hervorgerufen haben, ist bisher wenig Selbstkritik zu vernehmen. Im Gegenteil gibt es ziemlich unbescheidene Belehrungen insbesondere aus den USA von denen, deren Konzepte praktisch gescheitert sind. Die Dominanz eines Teils und einer bestimmten Art vor allem der amerikanischen Nationalökonomie verführt zu einer verzerrten Sicht auf die Wirklichkeit. Schon seit vielen Jahren hat ein amerikanischer Nobelpreisträger nach dem anderen die deutsche Politik zu stärkerer monetär-fiskalischer Expansion zu überreden versucht. Vor inneren Reformen, die in Wirklichkeit etwa auf dem Arbeitsmarkt trotz aller Unzulänglichkeiten dauerhafte Erfolge gehabt haben, wurde gewarnt und zur Verschiebung aufbessere Zeiten des Aufschwungs geraten, in denen dann natürlich die Notwendigkeit von Reformen geleugnet wird. Als jetzt der Wunsch nach mehr deutscher monetär-fiskalischer Expansion in Erfüllung gegangen ist, genügt das einem Autor wie Krugman (2009, Vorwort) nicht. Ob vor allem Deutschland nicht genug zur Belebung seiner Inlandskonjunktur tut, ist mehr als fraglich. 16 Welchen Vorteil hätte ein noch stärkerer inflatorischer Kurs des Eurogebietes, und für wen? Diese Tendenz im Eurogebiet könnte zu Abwertungen des Euro führen und dadurch Wettbewerbsnachteile des Eurogebietes auf dem Weltmarkt ausgleichen. Fließt zugleich inflationsempfindliches Kapital aus dem Eurogebiet ab, würde die Abwertung des Euro verstärkt. Ob dieses Kapital ausgerechnet jetzt in die USA fließen und den Dollarkurs stützen würde, ist fraglich. Selbst wenn der Dollar gestützt würde, wäre dies konjunkturpolitisch kein reiner Segen für die USA, mindestens für ihren Export. Im Eurogebiet würden im übrigen die mühsam erreichten Stabilisierungen auf den innereuropäischen Arbeitsmärkten gefährdet.

V. Deutsche Besonderheiten In Deutschland befassen sich viele Ökonomen nicht mit den soeben erörterten und anderen drängenden Problemen. Sie ziehen karrierefordernd pseudophysikalische Rechnungen für entlegene Probleme vor. Ist es richtig und vor allem jetzt der passende Zeitpunkt, um an deutschen Hochschulen die wissenschaftliche Wirtschaftspolitik überhaupt zurückzudrängen und darüber hinaus vor allem die Lehre von der Ordnungspolitik in die Dogmengeschichte zu verbannen, die selbst schon Opfer eines falschen Modernismus geworden ist? Dass diese Gebiete auch in Deutschland auf geringeres Interesse stoßen, hat viele Gründe. Einer davon ist ein allgemein vorherrschender Mangel an Achtung nicht nur vor der eigenen jüngsten Geschichte, sondern vor der geschichtlichen Erfahrung überhaupt. Es gehört zu den Ruhmestiteln Deutschlands, dass dort nach 1948 in den westlichen Besatzungszonen eine freiheitliche wirtschaftliche Ordnung eingeführt werden 16 Deutschland hat durch Systeme der sozialen Sicherung und hoher öffentlicher Ausgaben automatische Stabilisatoren der internen Nachfrage. Der bisher übliche Exportüberschuss ist drastisch gesunken, womit dem Ausland ein größerer Absatzspielraum eingeräumt worden ist. Vgl. Hans-Werner Sinn (2009).

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konnte, und zwar gegen das Widerstreben aller Besatzungsmächte und der damals international dominierenden Volkswirtschaftslehre, die planwirtschaftlich dachte und inflatorische Entwicklungen begünstigt hat. Die neue, zunächst noch unentwickelte deutsche Marktwirtschaft war entgegen manchen Darstellungen sowohl sofort populär als auch durch Abstimmungen im indirekt durch Wahlen demokratisch begründeten Wirtschaftsrat der Zweizonenverwaltung17 legitimiert. Der Erfolg beruhte auf einer bei allen Mängeln doch zweckmäßigen und taktisch geschickten Ordnungspolitik. Sie war zunächst von einer konservativen Währungs- und Finanzpolitik begleitet. Von dieser Grundlage des Wirtschaftswachstums und der damit eingeleiteten Entwicklung hat man gezehrt, als die Wirtschaftskatastrophe der DDR bei der friedlichen Wiedervereinigung gerade noch rechtzeitig vor dem Kollaps der Versorgung von der westdeutschen Wirtschaft aufgefangen werden konnte. Griesgrämig verdrängen viele Deutsche diese Tatsachen. Das Verhalten vieler Wissenschaftler besonders in Deutschland wird aber noch von einer anderen Tendenz beeinflusst. Trotz einer krisenträchtigen weltpolitischen Entwicklung sinkt das Interesse an politischen Fragen18 und den damit unlösbar verbundenen Wertentscheidungen. Gewiss bleibt die Volkswirtschaftslehre wie die Medizin eine Wissenschaft, die es mit ernüchternden Sachzusammenhängen zu tun hat. Aber sie will, wie die Medizin, auch helfen, hat es also mit Zielen und Werten zu tun. Die praktische Wirtschaftspolitik kann jedenfalls von Zielen nicht absehen. Sie sind Gegenstand politischer Kämpfe. In sie kann sich volkswirtschaftlicher Sachverstand aufklärend, ernüchternd, dämpfend und ratgebend einmischen. Das scheint heute für junge Volkswirte, die in die Wissenschaft streben, eher hinderlich zu werden. Man strebt nach politischer Keimfreiheit. Im Namen einer falsch verstandenen Wertfreiheit der Wissenschaft hält man sich bei der Erforschung wirtschaftspolitischer Probleme und ihrer Wertgrundlagen zurück. Man bleibt „rein wissenschaftlich" interessiert, lässt aber achselzuckend menschliche Schicksale treiben, wohin sie der Zufall bringt. Man folgt dem Rat des Mephistopheles in Goethes Faust an den Mediziner: „Ihr durchforscht die groß' und kleine Welt, um es am Ende gehn zu lassen, wie's Gott gefallt".

Literatur Böhm, Franz (1971), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, ORDO Bd. 22, S. 11-27. Böhm, Franz (1973), Eine Kampfansage an Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, ORDO Bd. 24, S. 11-48. Erhard, Ludwig (1948/1962), Der neue Kurs, in: Ludwig Erhard (Hg.), Deutsche Wirtschaftspolitik, Düsseldorf und Frankfurt, S. 62-68. Eucken, Walter (1952/1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen. Eucken, Walter (1954), Kapitaltheoretische Untersuchungen, Tübingen und Zürich. Galbraith, John Kenneth (1948), The German Economy, in: S. E. Harris (Hg), Foreign Economic Policy for the United States, Cambridge, MA, S. 94 ff.

17 Maßgebend hierfür ist das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" das der Wirtschaftsrat am 24. Juni 1948 in Kraft gesetzt hat. Darin heißt es: „Der Freigabe aus der Bewirtschaftung ist vor ihrer Beibehaltung der Vorzug zu geben." und „Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben." 18 Ein Symbol für eine Tendenz, die Welt nur noch unpolitisch als Freizeitobjekt zu betrachten, ist die Naivität, in der Ferienreisende in die Revolutionsgebiete von Kolumbien, Nordafrika und anderen Ländern reisen oder mit Luxusyachten vor der somalischen Küste kreuzen zu müssen glauben.

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Hahn, Albert (1949), Die Grundirrtümer in Lord Keynes' General Theory of Employment, Interest and Money, ORDO Bd. 2, S. 170-192. Haberler, Gottfried von (1955), Prosperität und Depression, 2. Auflage, Tübingen und Zürich. Haberler, Gottfried von (1974), Economic Growth & Stability, Los Angeles. Krugman, Paul (2009), Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt und New York. Meyer, Fritz W. (1953), Der Außenhandel der westlichen Besatzungszonen Deutschlands und der Bundesrepublik 1945 - 1952, in: Albert Hunold (Hg.), Wirtschaft ohne Wunder, Erlenbach-Zürich, S. 258-285. Müller-Aimack (1929), Artikel „Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik", Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Auflage, Ergänzungsband, S. 645-677. Röpke, Wilhelm (1931), Praktische Konjunkturpolitik: Die Arbeit der Braunskommission. Weltwirtschaftliches Archiv Bd. 34., Heft 2, S.423-464. Röpke, Wilhelm (1932), Krise und Konjunktur, Leipzig. Röpke, Wilhelm (1942/1979), Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 1. Auflage, ErlenbachZürich, 6. Auflage, Bern und Stuttgart. Röpke, Wilhelm (1943/2009), „Vollbeschäftigung" - ein Irrweg zu einem selbstverständlichen Ziel, zuerst in Schweizer Monatshefte 23 (1), S. 8-19, wieder abgedruckt in: Wilhelm Röpke, Marktwirtschaft ist nicht genug, Waltrop und Leipzig, S. 103-118. Olson, Mancur (1982), The Rise and Decline of Nations, New Haven und London. Schmoller, Gustav von (1897), Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirtschaftslehre, Rektoratsrede Oktober 1897, in: Universitätsreden 1896-1902, Berlin. Schumpeter, Joseph A. (zuerst 1942, deutsch 1950), Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Schumpeter, Joseph A. (Mai 1950), The March into Socialism, The American Economic Review, deutsch: Der Marsch in den Sozialismus, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 1 1950, S. 101-112.

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Zusammenfassung Der Beitrag würdigt zunächst den Standort des ORDO-Jahrbuches zwischen Zentralverwaltungswirtschaft und Laissez-faire und seinen Beziehungen zur in Deutschland nach 1945 getriebenen Wirtschaftspolitik. Die in Westdeutschland vollzogene Wende von 1948 entgegen dem internationalen Meinungstrend wird hervorgehoben. Anschließend wird die Auseinandersetzung über Ordnungstheorie und Ordnungspolitik betrachtet, die in der deutschen Wirtschaftswissenschaft zur Zeit stattfindet. Ferner werden von den Anhängern der Ordnungspolitik von jeher untersuchte Mängel marktwirtschaftlicher Ordnungen erörtert. Der auf vielen Missverständnissen beruhende Streit um volkswirtschaftliche Untersuchungsmethoden wird auf seinen eigentlichen Gehalt zu-

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Hans Willgerodt

rückgeführt. Schließlich werden die mangelhafte Selbstachtung der Deutschen und das verbreitete Desinteresse an der Lösung wirtschaftspolitischer Fragen erörtert.

Summary: Sixty volumes of ORDO The ORDO yearbook is still being published after sixty years. On this occasion the author reminds one of the general principles, to which the editors are committed, by resisting a centrally planned administration of the economy on the one side and a policy of unrestricted Laissez-faire on the other. The reform of the economic system in West Germany in 1948 against the international mainstream is taken as an example of the long lasting power of well-designed new ideas against the tide of shortsighted interests of all kinds. These include scientific trends, which deny or at least minimize the relevance of institutional foundations for the economy and try to destroy research and teaching in this field. Misunderstandings about methods used in economics are also treated, together with some special German tendencies to deny the importance not only of economic policy but also of political problems in general.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Steffen W. Groß und Athanassios Pitsoulis

Ist »Freiheit' als »negative Freiheit' ausreichend bestimmt? Die Positionen Friedrich August von Hayeks und Isaiah Berlins im Kontrast sowie ein Vorschlag zur Diskussion Sir Isaiah Berlin zum 100. Geburtstag am 6. Juni 2009 Inhalt I. II. 1. 2. III. IV.

Einleitung Zwei Konzeptionen der Freiheit - Möglichkeiten und Grenzen Die Konzepte ,positiver' und ,negativer' Freiheit Berlin und Hayek: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Ein semantischer Lösungsversuch von MacCallum Ergebnis und Ausblick

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Is ,Liberty' as ,Negative Liberty' Appropriately Conceptualised? The Positions of Friedrich August von Hayek and Isaiah Berlin in Comparison and a Proposal for Discussion 51

I. Einleitung Anliegen unseres Beitrages ist eine kritische Betrachtung des vorherrschenden Freiheitsverständnisses mit dem Ziel, die Perspektiven von und auf Freiheit zu erweitern. Die Perspektive, die wir dabei einnehmen, geht auf ein dynamisches Verständnis von Freiheit. Freiheit ist nichts Statisches, kein gegebener oder erreichbarer Zustand, sondern eine kulturelle, darin immer wieder neu zu bewältigende Gestaltungsaufgabe. In unserer Diskussion beschränken wir uns auf die beiden wohl bekanntesten Begriffe von Freiheit: den positiven und den negativen Freiheitsbegriff. Wir wollen zeigen, dass für diese Dichotomie ohne Zweifel gute analytische Gründe sprechen, dass aber darüber nicht vergessen werden darf, dass beide Aspekte in Beziehung zueinander stehen und nicht isoliert betrachtet werden sollten. Mithin ist, wenn wir die Kulturwissenschaften - wozu wir sowohl die Volkswirtschaftslehre als auch die politische Theorie rechnen - handlungsrelevant halten wollen, die analytische Trennung als vorläufig zu betrachten und auf ein ganzheitliches und dynamisches Verständnis von Freiheit hinzuarbeiten. Dies folgt der Einsicht, dass Ideen im kulturellen Raum praktisch-gestaltende

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Kräfte entfalten. Norton (2007, S. 657) fasste diesen Zusammenhang jüngst sehr eindringlich zusammen: „Ideas do matter; they do have real consequences, and because they do it is important to get them right. But ideas have also histories, and frequently what we take the meaning of an idea is already the late product of a complicated history of interpretation, transmission, and distortion, either wilful or inadvertent or both."1

Methodisch suchen wir verbal-analytisches und ideengeschichtliches Herangehen zu verbinden. Diese Verbindung folgt aus der Einsicht, dass jedes systematische Problem eine Geschichte hat, die, wenn wir es verstehen wollen, Berücksichtigung verlangt. Andererseits gibt es keine rein historischen Fragen, denn alle Fragen, die wir an die Geschichte richten, sind immer von systematischen Aspekten und Erwägungen durchzogen sowie von Erkenntnisinteressen in der Perspektive bestimmt. Daher müssen bei der Erörterung des Freiheitsproblems ideengeschichtliche Betrachtungen mehr als nur eine Nebenrolle spielen. Dazu gehört auch eine Beleuchtung des historischen Kontextes, der sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, für die Entstehung und Durchsetzung bestimmter Ideen. Ohne eine Mitbetrachtung der Zeitumstände von Ideenentwicklung ist gar nicht verstehbar, warum etwa das Konzept der negativen Freiheit im 20. Jahrhundert eine solch enorme Privilegierung erfahren konnte, die bisweilen soweit reicht, Freiheit insgesamt als negative Freiheit zu bestimmen. Unsere Methode ist die der Kontrastbildung mit dem Ziel der Prägnanzerzeugung. In der Auseinandersetzung bzw. in der Konfrontation werden Stärken und Schwächen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Verbindungsmöglichkeiten und unüberbrückbare Klüfte sichtbar, greifbar und verstehbar. Diese Kontrastbildung erfolgt nicht allein in Hinblick auf theoretische Konzepte, sondern, das erscheint uns besonders reizvoll zu sein, vor allem auch hinsichtlich zweier Autoren, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit jeweils sehr eigenen Motivationslagen gewichtige und nachhaltig die Diskussion bestimmende Beiträge zur Debatte um das Thema Freiheit geleistet haben: Sir Isaiah Berlin und Friedrich August von Hayek. Zur Prägnanzerzeugung gehört die Kunst der Beschränkung. Wir stützen uns daher in unserem Beitrag mit Berlins Two Concepts of Liberty 2 und Hayeks The Constitution of Liberty3 vornehmlich auf zwei einschlägige Primärquellen und ergänzen dies um weiteres Material, insbesondere um Selbstzeugnisse Berlins aus dessen unveröffentlichter Korrespondenz.4 Während Friedrich August von Hayek als Sozialphilosoph und Wirtschaftswissenschaftler einem breiten Publikum über den engeren akademischen Bereich hinaus bekannt ist, gilt dies von Isaiah Berlin hierzulande nur sehr eingeschränkt. Unser Beitrag hat mithin auch das Ziel, dies zu ändern, denn Berlin ist ein Denker, mit dem die Beschäftigung aufgrund seines enormen Anregungspotentials unbedingt lohnt.

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Hervorhebungen im Original. Berlin (2002 [1958]), Two Concepts of Liberty. Hayek (1960), The Constitution of Liberty. Die Briefe Isaiah Berlins werden mit freundlicher Genehmigung des Sir Isaiah Berlin Literary Trust zitiert. Die Autoren danken Henry Hardy, Wolfson College, Oxford. © The Isaiah Berlin Literary Trust 2009.

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Ein Vergleich Berlins mit von Hayek erscheint zunächst allerdings etwas gewagt. Berlin ist kein Ökonom. Freimütig bekennt er der prominenten Linkskeynesianerin Joan Robinson'. „I am in matters of economics far, far stupider than anyone has a right to be, certainly any Don or anyone who opens his mouth on any topics in public ought to be, but I really am: this is not false modesty. I feel when presented with the simplest economic argument, more or less what I imagine a football tough must feel on looking at a page of Kant."5

Berlin ist nicht nur kein Ökonom. Er entwickelte gar während seines Studiums in Oxford 1931/32 im damals neuen Studiengang „PPE" (Politics, Philosophy, Economics) eine tiefe Abneigung und Misstrauen gegen die Economics und die Sozialwissenschaften im Allgemeinen.6 Zu sehr hörte sich für ihn vieles in diesen Fächern Gebotene nach mechanistischer Sozialtheorie, nach „social engineering" an, also Versuchen, den Menschen und sein Handeln den Bewegungen einer Maschine gleich berechnen und steuern zu wollen. Seine Abneigung gegen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinderten Berlin indes keineswegs, das Geschehen in diesen Disziplinen zwar von distanzierter Warte, aber dennoch engagiert zu verfolgen. Es ist vielleicht gerade diese Distanz, die ihn im Vergleich zu den Fachvertretern im engeren Sinne vor allem methodische Probleme, Fragen der Begriffsbildung, -Verwendung und der Geltungsansprüche schärfer sehen lässt. So widmete Berlin seine erste, im Jahr 1939 erschienene, Monographie einer Studie zu Karl Marx, die immer wieder als eine der besten angesehen worden ist, die aus einer nicht-marxistischen Perspektive geschrieben wurden.7 In seiner Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften stößt Berlin schnell auf Hayek. Er studiert einige von Hayeks Werken - beginnend 1944 mit The Road to Serfdom - gründlich, kommentiert seine Lektüre und tauscht sich mit Freunden und Kollegen über die gewonnenen Eindrücke aus. Von Anfang an ist Berlins Verhältnis zu Hayek zwiespältig. Oberflächlich betrachtet scheint er Hayek rundweg abzulehnen; Berlin beschreibt Hayek immer wieder in harten Worten: Als „awful"8, „wicked" und sogar als „dread figure"9. Inhaltlich fühlt er

5 Isaiah Berlin an Joan Robinson, 7. Januar 1953. 6 Ignatieff (2000, 81) schreibt in seiner fieWi/i-Biographie, die sich zugleich über weite Strecken als eine sensible Einführung in eine selbst in Oxford längst versunkene akademische Kultur lesen lässt, zu dieser frühen Weichenstellung in Berlins intellektueller Entwicklung folgendes: „Wirtschaftswissenschaften studierte er mit einem Tutor vom Queen's College, aber er mochte das Fach nicht. Es war das erste Mal, daß er überhaupt mit Sozialwissenschaften in Berührung kam, und das ganze Gebiet ödete ihn an, auch wenn er sich als pflichtbewußter Student zeigte. [...] Diese Geringschätzung der Sozialwissenschaften, zu der noch ein ausgeprägter Argwohn kam, was ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit betraf, sollte zu einem dauerhaften Merkmal seiner intellektuellen Orientierung werden." 7 Berlin, Isaiah (1939), Karl Marx: His Life and Environment, London: Thornton Butterworth. Das Buch erlebte in den folgenden Jahrzehnten eine Reihe weiterer Auflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt (darunter Japanisch, Koreanisch, Griechisch, Hebräisch, Spanisch und Portugiesisch, sowie 1963 auch ins Deutsche.) 8 Von seinem Posten als Information Service Officer an der British Embassy in Washington schreibt Berlin am 4. April 1945 an Elisabeth Morrow: „I am still reading the awful Dr Hayek. He is in New York now, I gather, and causing a certain feeling of jealousy in the breast of his old Viennese mentor, Dr von Mises, who is just as much of a dodo, if not more so, and used to be the principal influence behind the more reactionary writings of Mr Henry Haslett in the editorial columns of the New York Times. Dr von Hayek is now competing for Mr Haslett's soul with Dr von Mises: and a great jealousy

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sich jedoch immer wieder zu ihm hingezogen, baut eine intellektuelle Spannung auf, reibt sich an dessen harten Thesen und in dieser Auseinandersetzung beginnen Berlins eigene Überlegungen zur politischen Philosophie der Freiheit Kontur zu erhalten: „I even find myself in sympathy with the wicked Hayek, although I think he is quite wrong in assuming that political liberty is indissolubly tied to economic private enterprise. I think that what I am pleading for is really what used to be called Liberalism, i.e. a society in which the largest number of persons are allowed to pursue the largest number of ends as freely as possible, in which these ends are themselves criticised as little as possible and the fervour with which such ends are held is not required to be bolstered up by some bogus rational or supernatural argument to prove the universal validity of the end." 10

Zwischen Berlin und Hayek bestehen aber unbedingt hinsichtlich des Schreib- und Argumentationsstils deutliche Unterschiede. Diese Differenz verweist auch auf verschiedene Vorstellungen von Ordnung. Berlin, zunächst zwar in der Analytischen Philosophie Oxforder Prägung mit ihrer geschliffenen, (scheinbar) hyperpräzisen Sprache wissenschaftlich sozialisiert, geht schon bald andere Wege. Seine ideengeschichtlichen Studien zeigen ihm schnell, dass die Probleme der menschlichen Kulturentwicklung aufgrund ihrer enormen Komplexität nicht exakt und eindeutig zu formulieren sind. Diese Einsicht hat mit Berlins Erfahrungshintergrund als Emigrantenkind zu tun: Zu seinem Kindheitsmuster gehört die Erfahrung der physischen Macht totalitärer Ideologien, die er sein ganzes Leben hindurch als Frage nach den Ursprüngen totalitären, gegen die Freiheit gerichteten Denkens und Handelns immer wieder bearbeiten wird.11 In der Folge verlegt sich Berlin auf einen vorsichtigen, tastenden Stil. Er praktiziert ein authentisches offenes Denken. Berlin wirft weit mehr Fragen auf, als er beantwortet und er scheint oft genug gar nicht die Absicht gehabt zu haben, sie zu beantworten. Den Eindruck der „letzten Antwort" oder des absoluten Wahrheitsanspruches sucht er zu vermeiden und setzt dann nur konsequent eher auf das gesprochene, denn auf das geschriebene - und gedruckte - Wort. Als „Radio Lecturer" der BBC wird Berlin in den 1950iger Jahren auf diese Weise einem Millionenpublikum bekannt und einer der großen „public intellectuals" des 20. Jahrhunderts.12 Hayek hingegen wird - keineswegs nur von Berlin - als den konkreten Problemen der kulturellen Welt entrückt wahrgenommen: „Popper, Hayek, are too dogmatic & too conceited & removed from the actual lives of the people they are prescribing for: & blind, complacent, & scholastic."13 Berlin steht bereits recht früh im öffentlichen Leben, im regen Austausch mit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten, und er nimmt nicht lediglich beobach-

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has sprung up between the two. [...] I wrote a short but bitter paragraph about Dr von Hayeks book [i.e. The Road to Serfdom - die Verf.] and influence and the way it was being used by the Reader's Digest [ . . . ] . " Siehe dazu auch Ignatieff(2000, 170). Isaiah Berlin an Lincoln Schuster, 13. Juni 1953. Isaiah Berlin an Herbert Elliston, 30. Dezember 1952. Einen ersten Aufsatz zu dieser Problematik verfasst der gerade im englischen Exil angekommene Isaiah Berlin 1922 fiir den Wettbewerb eines Children's Magazine: Berlin, Isaiah (1999), The Purpose Justifies the Ways, in: ders., The First and the Last, London. Henry Hardy hat inzwischen einige dieser Radio Lectures und weitere, vorwiegend in den USA gehaltene, Vorträge herausgegeben: Berlin, Isaiah (2002), Freedom and its Betrayal. Six Enemies of Human Liberty, London; ders. (1999), The Roots of Romanticism. The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Princeton; ders. (2006), Political Ideas in the Romantic Age. Their Rise and Influence on Modern Thought. The Flexner Lectures, London. Isaiah Berlin an Jean Floud, 7. Juli 1968.

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tend an den Zeitläuften teil, sondern sucht sie, hier scheint ein Parallele zu Hayek auf, aktiv mitzugestalten.14 Für ihn sind Liberalismus und das, was er „decent" nennt, keineswegs nur eine Frage theoretischer Erwägungen, sondern gelebte - und zu lebende Praxis. Die Kriegszeit verbringt Berlin zum größten Teil als Intelligence Officer an der Britischen Botschaft in Washington - mit dem Auftrag, die öffentliche Meinung in den USA hinsichtlich der Haltung zum Kriegseintritt an der Seite Großbritanniens zu beobachten und, wenn möglich, in eben diese Richtung zu lenken. Seine Berichte an das Foreign Office in London erfahren schnell die besondere Wertschätzung seiner Vorgesetzten und ziehen selbst die Aufmerksamkeit von Premierminister Churchill auf sich. Während seiner Zeit in Washington knüpft Berlin persönliche Kontakte und Freundschaften in höchste politische, journalistische und akademische Kreise, von denen er später immer wieder profitieren wird und die ihn immer wieder zu längeren Aufenthalten in die USA zurückziehen. Zudem ist Berlin Zeit seines Lebens zwar moderater aber engagierter Zionist. Gründung und Erhalt des Staates Israel ist ihm eine Herzensangelegenheit. Immer wieder beriet er einflussreiche Politiker wie Chaim Weizmann und Teddy Kollek, den langjährigen Bürgermeister von Jerusalem. Weizmann wünschte sich sehr, dass Berlin der erste Außenminister des jungen Staates würde und trug ihm dieses Amt mit Nachdruck an. Zwar lehnte Berlin die Übernahme politischer Ämter ab, war aber dennoch nicht unmaßgeblich an der Gestaltung von Institutionen beteiligt: als Berater bei der Gründung und Entwicklung der Hebrew University in Jerusalem und als Gründer des Wolfson College der University of Oxford, dessen erster Präsident er wurde. Berlin geht bei der Abfassung seiner Vorlesungen und Texte bewusst essayistisch vor - im besten Sinne des Wortes. Seine Arbeiten und Vorträge sind Versuche zu einem Thema, über das der Zuhörer oder Leser selbst zum Nachdenken gebracht werden soll. Berlin bietet keine fertigen Antworten, sondern schickt auf die Suche. Er regt an, öffnet Horizonte, erweitert sie und schließt nicht ab. Es ist wohl dieses Anregungspotential seines offenen Denkens, das bleibend fasziniert (Groß 2009). Im Oxforder akademischen Milieu jener Zeit, in das Berlin nach seinem diplomatischen Posten in Washington 1946 zurückkehrt, gerät er mit einer solchen Herangehensweise rasch zum Außenseiter des wissenschaftlichen Betriebes. Berlin wird schnell ein ähnlicher Vorwurf gemacht, wie nach wie vor den Kulturwissenschaften insgesamt: der Vorwurf der Ungenauigkeit bzw. der fehlenden Exaktheit. Berlins Intuition zeigt ihm aber an, dass die Ungenauigkeiten nicht nur Ausdruck von Messproblemen oder mangelhafter Methoden und theoretischer Defizite sind. Sein Studium der Ideengeschichte lehrt ihn, dass die Ursachen für Ungenauigkeiten zum wesentlichen Teil in der objektiven Beschaffenheit der (kulturellen) Wirklichkeit selbst liegen. Daraus ergibt sich die zunächst vielleicht paradox anmutende Schlussfolgerung, dass kulturbezogene Aussagen überhaupt nur dann der Wirklichkeit entsprechen können, wenn sie Unschärfen enthalten.

14 Berlin kann aufgrund seines weitgespannten Kontakt- und Korrespondenznetzes als ein wichtiger Multiplikator für wissenschaftliche und politische Auffassungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten. Sein Wort und seine Einschätzungen hatten ohne Zweifel einiges Gewicht und trugen so zur Tradierung bestimmter Auffassungen einiges bei. Vgl. dazu Berlin, Isaiah (1998), Personal Impressions, hrsg. von Henry Hardy, London.

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Bei Hayek sieht das alles ganz anders aus. In seinen Werken ist die juristische Vorbildung spürbar: Hayek sucht „gerichtsfest" zu argumentieren, sein Stil ist unemotional nüchtern, auf Klarheit bedacht, von analytischer Schärfe. Davon muss sich der „Abweichler" Berlin, der eigene Wege des Ausdrucks sucht, abgestoßen fühlen. Doch hinter der glatten Fassade Hayeks vermag Berlin in gewisser Weise dann immer wieder doch einen Gleichgesinnten zu entdecken, jemanden, der wie er die ausgetretenen Pfade zu verlassen sucht. Denn in einem Brief an Burton Dreben fasst Berlin seine Lektüreeindrücke zu Hayeks The Counter-Revolution of Science wie folgt zusammen: „There is a curious book I am reading now by Hayek who is accounted reactionary by everybody and indeed to some extent is and yet the strictures he has to pass on the indiscriminate application of scientific analogies beyond their proper sphere seem to me to be exaggerated but just, that is say just in principle, exaggerated in his particular application of it. Hayek and Popper are the two, as it were, reactionary liberals who have somehow put on sheep's clothing. I have an inveterate sympathy for traitors in both camps, crypto-reactionary progressives and crypto-progressive reactionaries. I like both sorts of persons more than I like the official standard-bearers of either side."15

Sowohl Berlin als auch Hayek streben danach, nicht nur historische Symptome sondern grundlegende ideengeschichtlichen Entwicklungstendenzen anzugehen und zu verstehen. In so weit kann man von einer weiteren Gemeinsamkeit beider sprechen. Diese hat sich jedoch nie als wirklich verbindendes Element ausgewirkt. Eine „zutiefst kämpferische Grundhaltung" {Hennecke 2000, S. 276) wie bei Hayek ist bei Berlin zwar ebenfalls vorhanden, aber keinerlei Dogmatismus. Polemik äußert er, wenn überhaupt, nur in privater Korrespondenz. Hayek entwickelte sein Konzept des Liberalismus über einen längeren Zeitraum und schrittweise in einer ganzen Reihe von Arbeiten. Auch er war aktiver Netzwerker, hatte aber eine andere Zielgruppe und Strategie. Seine Herangehensweise an das Thema Freiheit muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Hayek, ähnlich wie Berlin, die Gefahr sah, dass die menschliche Zivilisation durch Kräfte wie den Sozialismus und den Totalitarismus in einer gefährlichen Entwicklung begriffen war. Als juristisch und ökonomisch ausgebildeter Sozialphilosoph arbeitet Hayek aber in erster Linie theoretisch. Zwar setzt er sich mit der Geschichte der Ideen, die er aufgreift oder ablehnt auseinander, er ist jedoch in erster Linie an der Formulierung einer umfassenden positiven Sozialtheorie interessiert. Hayeks Beitrag besteht darin, liberale Werte bewusst gemacht, die weit zurückreichenden ideengeschichtlichen Hintergründe von Konzepten und Begriffen geklärt und seine „Zwillingsideen" (Schmidtchen 1995) der spontanen Ordnung sowie der kulturellen Evolution zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie verbunden zu haben.

15 Isaiah Berlin an Burton Dreben, 22. Januar 1953.

Ist .Freiheit' als .negative Freiheit' ausreichend bestimmt?

II.

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Zwei Konzeptionen der Freiheit - Möglichkeiten und Grenzen

1. Die Konzepte ,positiver' und ,negativer' Freiheit Auf die Frage, ob sie lieber in Freiheit und Unfreiheit leben würden, werden die meisten Menschen sicherlich antworten, sie zögen Freiheit der Unfreiheit vor. Was aber verstehen Menschen unter Freiheit? Wie interpretieren und operationalisieren sie diesen Begriff? Ist der Begriff der Freiheit überhaupt hinreichend spezifiziert, oder handelt es sich nur um eine Leerformel, die sich mit geschickter Rhetorik auf fast jeden Zustand eines Individuums anwenden ließe? Ein Vertreter der stoischen Philosophie in der Tradition Zenos könnte sogar einen Gefangenen in seiner Zelle als freien Menschen bezeichnen, da aus Sicht dieser Doktrin allein die Existenz des freien Willens Menschen frei macht. 16 Eine solche Freiheitskonzeption ist allerdings rein metaphysischer Natur; geht es um das Zusammenleben von Menschen werden Konzepte benötigt, die Freiheit als individuelles und politisches Ziel soweit möglich operationalisierbar machen. Die zwei wichtigsten Konzepte dieser Art sind die Vorstellungen .positiver' und .negativer' Freiheit. Über das Thema .positive versus negative Freiheit' hat sich eine lange Diskussion in der Literatur entwickelt, die hier nicht zusammengefasst werden kann.17 Die grundsätzlichen Fragen sind, ob die Berlin 'sehe Dichotomie des Freiheitsbegriffs überhaupt sinnvoll ist, ob es legitim ist, positive Freiheit als politische Forderung zugunsten von negativer Freiheit zu verwerfen, was die beiden Kategorien im Einzelnen umfassen etc.; Was aber versteht man unter diesen Konzepten? Negative Freiheit wird allgemein als Abwesenheit von etwas verstanden, z.B. willkürlicher Zwänge, die von anderen Akteuren ausgehen. Die Idee der negativen Freiheit setzt das Denken in Zusammenhängen zwischen menschlichem Willen, Handeln und der Gesellschaft voraus; es ist demzufolge ein soziales Konstrukt (Oppenheim 1961; Kramer 2003). 18 Natürliche Handelnsbeschränkungen (z.B. nicht fliegen zu können) gelten aus dieser Sicht nicht als freiheitsreduzierende Restriktionen. Handlungsbeschränkungen, die von anderen Akteuren ausgehen, können aber Freiheit sehr wohl re-

16 Selbst vollkommene Knechtschaft schließt dann Freiheit nicht aus, sondern bedingt sie. Eine solche Sicht vertritt z.B. Sartre (1994, S. 944). 17 Einen Überblick über die kritischen Reaktionen auf Berlins Essay liefert Harris (2002). Einflussreiche Reaktionen auf Berlin 1958 sind die Arbeiten von Taylor (1979) und Skinner (1998 und 2002). Ersterer versucht, das Konzept der positiven Freiheit zu retten, indem er negative Freiheit als quantitativ und positive als qualitativ bezeichnet, letzterer schlägt ein drittes, „neo-römisches" Freiheitskonzept vor, das als „republikanische Freiheit" auch die Freiheit des Gemeinwesens bzw. der Regierung mit berücksichtigt; hier ist der Einfluss des republikanischen Freiheitsbegriffs von Pettit (1997) stark. 18 Man kann dies schön an der folgenden Frage illustrieren: Könnte ein Mensch, wenn er allein auf der Welt wäre, frei sein? Vertreter eines negativen Freiheitskonzepts würden diese Frage mit Ja beantworten, denn externe Restriktionen, die von anderen Menschen ausgehen, sind nicht vorhanden. Vertreter eines positiven Freiheitskonzepts würde diese Frage wahrscheinlich mit Nein beantworten: Interne Restriktionen können nach wie vor vorhanden sein; möglicherweise bietet erst die menschliche Gesellschaft die Möglichkeit dazu, .wahrhaft' frei zu werden.

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duzieren. In wie weit sie dies tun ist eine Ermessensfrage.19 Negative Freiheit hat einen externen oder internen Aspekt, je nachdem, ob die Zwänge, die einen Akteur von einem Handeln abhalten von ihm selbst oder von Anderen ausgehen. Berlin hat in erster Linie auf den externen Aspekt negativer Freiheit in der Tradition des klassischen Liberalismus abgestellt, nämlich dass Freiheit in erster Linie als die Abwesenheit von gezielten Eingriffen anderer Akteure aufgefasst werden sollte. Diese Herangehensweise ist auf Kritik gestoßen. MacCallum (1967) wies beispielsweise daraufhin, dass sich auch die Abwesenheit innerer Restriktionen als negative Freiheit auffassen lässt.20 Negative Freiheit ist ein Konzept, das auf einem passiven Freiheitsverständnis beruht {Taylor 1995): Das Ausmaß negativer Freiheit ist definiert durch die Größe des individuellen Handlungsspielraums. Unterstellt man, Individuen seien stets bestrebt, ihren Handlungsspielraum auszudehnen und akzeptiert man, dass durch Handlungen anderer Menschen der eigene Spielraum verringert werden kann, entsteht das fundamentale Problem des Umgangs mit Einschränkungen von Freiheitsrechten. Klassisch-liberale politische Philosophien rücken demgemäß individuelle negative Freiheitsrechte als Abwehrrechte gegen den Staat in den Vordergrund. Die Begründung für die Vorteilhaftigkeit solcher Freiheitsrechte kann dabei explizit oder implizit utilitaristisch sein, sie kann sich auf quasi-naturrechtliche Konzeptionen stützen (wie etwa bei Nozick 1974 und Rothbard 2002) oder aber evolutorischer Natur sein (wie bei Hayek). In jedem Fall werden staatliche Eingriffe in individuelle Freiheitsräume als nur in Ausnahmefallen kompatibel mit negativer Freiheit gesehen. Kritiker des klassischen Liberalismus lehnen die Vorstellung, dass Freiheit in erster Linie negative Freiheit ist, auch deswegen ab, weil damit der Verzicht verbunden ist, auf andere Menschen Druck auszuüben, sich moralisch zu verhalten: „The political costs [of negative freedom - die Verf.] are our preparedness to, when necessary, withhold moral judgments and not put pressure on others when we disagree with their action. We have to bear the costs of being prepared to restrict our freedom of thought and speech, when they can have negative practical effects. As Citizens, we have to bear the costs of reminding ourselves about other people's rights to do as they like, and we have to be prepared to suffer some consequences for the sake of guaranteeing their freedom" (Dimova-Cookson 2003, S. 523).

Positive Freiheit ist im Gegensatz dazu immer Freiheit zu etwas.21 Diese Freiheitsdefinition hat ebenfalls einen externen und einen internen Aspekt:22 Externe positive Frei-

19 John Locke sah beispielsweise auch Zwangsmaßnahmen, die Menschen einsetzen, um andere daran zu hindern, sich unwissentlich in Lebensgefahr zu bringen, als legitim und vereinbar mit negativer Freiheit an. 20 Ob Freiheit negativ oder positiv ist, hängt, so gesehen, einzig und allein von der Definition der Restriktionen ab. Lässt man psychische Restriktionen wie Grenzen der Vernunft, Abhängigkeit etc. zu, ist man frei bei deren Abwesenheit. Vor diesem Hintergrund macht die Dichotomie des Freiheitsbegriffs in eine positive und eine negative Ausprägung keinen Sinn mehr. Dies ist der Grundtenor bei Skinner (2002). 21 Der Begriff der positiven Freiheit geht auf Thomas H. Green (1888) zurück. Green war ein Vertreter des so genannten Britischen Idealismus und Schüler des Neo-Hegelianers Benjamin Jowett. Die Idealisten lehnten den Empirismus von John Locke, David Hume und John Stuart Mill ab. Green sah Freiheit stets in Relation zum menschlichen Willen an. In ähnlicher Art und Weise hatten bereits die Stoiker und Kant Freiheit aufgefasst. Diese Sichtweise betrachtet Freiheit sowohl als psychischen als auch sozialen Zustand. Vgl. dazu Dimova-Cookson (2003, S. 509). Bei Green ist Freiheit im negativen Sinne Juristische Freiheit" und Freiheit im positiven Sinne „wahre Freiheit". Im Endeffekt geht es um die Vorstellung dass Menschen juristische Freiheit nicht genug ist, sondern „wahre" Freiheit durch

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heit ist ein anderer Begriff für Freiheit als das Verfügen über Mittel, die nötig sind, etwas zu tun; interne positive Freiheit ist ein anderer Begriff für das Verfügen über eine Einstellung, die nötig ist, um etwas zu tun. In ihrer Spielart als innere positive Freiheit ist derjenige frei, der seinen Egoismus überwindet und für andere etwas tut.23 Die ideale Gesellschaft ist aus dieser Sicht dann vielleicht die, in der alle Menschen sich selbst verleugnen und nur für andere da sind.24 In ihrer extremen Form kann die Forderung nach positiver Freiheit als Ziel staatlicher Politik den vollständigen Abbau negativer Freiheit durch den Staat implizieren.25 Aus der Ambivalenz des Konzepts entsteht Spielraum für Konfusion und Missverständnisse. Wenn von positiver Freiheit gesprochen wird, ist oft nicht klar, welcher Aspekt gemeint ist. Ein schönes Beispiel ist die Anekdote des Bettlers, dem man zynischer Weise vorhalten könnte, er sei in negativer Hinsicht frei, im Ritz zu speisen, da ihn niemand durch Zwang davon abhalte. Gibt man ihm nun angemessene Kleidung und ausreichend Geld, macht man ihn vielleicht äußerlich frei, selbst wenn der Bettler gar nicht im Ritz speisen will. Innere positive Freiheit erreicht der Bettler aber nur dann, wenn er mit der Kleidung und dem Geld etwas tut, was laut herrschender Moral anderen zuträglich ist, z.B. wenn er beides einem noch ärmeren Bettler gibt. Diese Sicht beruht zumindest teilweise auf einem aktiven FreiheitsVerständnis: Die Größe des individuellen Freiheitsraumes sagt noch nichts über den Nutzen der Freiheit selbst aus. Das Konzept der positiven Freiheit hat mit einigen Plausibilitätsproblemen zu kämpfen und wird demzufolge von vielen Befürwortern eines negativen Freiheitskonzepts abgelehnt. Die Kritik macht sich an einer Reihe von Punkten fest: (1) Es ist zunächst umstritten, in wie weit positive Freiheit als politische Zielvariable überhaupt operationalisierbar ist. Ist ein höherer Grad positiver Freiheit akzeptabel, wenn sie irgendeine „soziale Wohlfahrt" erhöhen (Kaldor/Hicks/Scitovsky), allgemeine Zustimmung finden ( Wickseil), niemanden schlechter stellen (Pareto) oder zumindest das ärmste Gesellschaftsmitglied besser stellen (Rawls)? Über diese fundamentalen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit lässt sich selten Konsens erzielen. (2) Wenn man positive Freiheit als Fähigkeit eines Individuums auffasst, seine Alternativen kritisch abzuwägen und eine rationale Entscheidung auf Grundlage zumindest der zur Verfügung stehenden Informationen zu treffen könnte eine staatliche Einflussmöglichkeit durch bildungspolitische bzw. erzieherische Maßnahmen oder durch die Ermöglichung des Zugangs zu Informationen gegeben sein. Diese Vorstellung stößt jedoch schnell an ihre Grenzen, wenn man bedenkt, dass der Staat bei allen wohlwollend gedachten Maßnahmen kei-

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moralische Perfektion erlangen: Wahrhaft frei ist, wer sich von seinen niederen Zwängen befreien kann und den Willen entwickelt, zu tun, was er soll. Vgl. dazu Simhony (1993, S. 32-36). Dass man aus rein egoistischer Motivation heraus etwas für andere tun kann, wird dabei meist außen vor gelassen. Dies würde auf das interessante soziale Paradox einer nie enden wollenden zyklischen Umverteilung hinauslaufen. Hierfür gibt es eine lange Tradition philosophischer Begründungsversuche. In Rousseaus Verständnis schafft beispielsweise erst das Sich-Einbringen des Individuums in das Kollektiv und die Unterwerfung unter die Volonté Generale die Bedingung für Freiheit: Nur eine demokratische Gesellschaft, die von allen Bürgern getragen wird, ist eine freie Gesellschaft; nur ihre Bürger sind demzufolge frei. Bei Marx wird der Mensch erst dann frei, wenn er die Kontrolle über die sozialen Kräfte erlangt, die sich gegen ihn gewendet haben.

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nem Gesellschaftsmitglied das Denken vorschreiben kann. Auch wenn der Staat den Zugang zu Informationen ermöglicht, kann dadurch nicht sichergestellt werden, dass Menschen die verfugbaren Informationen auch nutzen. Eine öffentliche ,Zwangsversorgung' mit Information kann gut gemeint sein, hat aber stets den Charakter von Propaganda. Typisches Beispiel ist die „negative Werbung" hinsichtlich der gesundheitsschädigenden Konsequenzen des Rauchens. Auch hier gilt: Die Unterscheidung in negative und positive Freiheit ermöglicht keine abschließende Klärung dieser Fragen, aber eine Positionsbestimmung verschiedener Ideologien. (3) Jeder Aspekt positiver Freiheit lässt sich dazu nutzen, politische Maßnahmen zu rechtfertigen, die Eingriffe in persönliche Verfügungsräume mit sich bringen, in erster Linie Umverteilung und Paternalismus: Mittel, etwas zu tun, müssen umverteilt werden; manche Menschen können aufgrund ihrer besseren geistigen Fähigkeiten besser die ,wahren' Wünsche anderer Menschen nachvollziehen. Im Spannungsfeld positiver und negativer Freiheit sind einige wichtige Fragen angesiedelt, die Berlin und Hayek dauerhaft beschäftigen. Eine grundsätzliche Frage ist, ob und, wenn ja, wie diese beiden Freiheitskonzepte in Einklang gebracht werden können, oder ob es eine fundamentale Unvereinbarkeit gibt. Ist gar ein .dritter Weg' zwischen der negativen und der positiven Konzeption von Freiheit gangbar? Wie können gesellschaftliche Institutionen (in erster Linie das Rechtssystem, aber auch soziale Sicherungssysteme etc.) ausgestaltet werden, so dass persönliche Freiheitsräume geschützt und Menschen gleichzeitig in die Lage versetzt werden können, ihre Freiheit zu nutzen? Wenn ein solcher „dritter Weg" nicht gangbar ist und beide Arten von Freiheit sich in einem unlösbaren Zielkonflikt miteinander befinden, wie wird auf konstitutioneller und politischer Ebene damit umgegangen? Die vielen Fragen, die aus diesen Überlegungen erwachsen, können hier nicht behandelt geschweige denn geklärt werden. Die konzeptionelle Dichotomie von Freiheit in eine negative und eine positive Komponente schafft aber die Möglichkeit, solche Fragen analytisch strukturiert zu untersuchen. Betrachten wir ein Beispiel: Eine Regierung plant, ein bislang rein öffentliches nationales Schulsystem für Privatschulen zu öffnen. Es ist davon auszugehen, dass viele Eltern sich die Schulgebühren für diese nicht leisten können. Dies würde in erster Linie eine Erhöhung der positiven Freiheit reicher Familien implizieren, nämlich der Freiheit, ihre Kinder auf eine teure Privatschule zu schicken. Um die weniger wohlhabenden Haushalte für ihre relative Verringerung positiver Freiheit zu kompensieren könnte die Einführung von Bildungsgutscheinen („education vouchers") erwogen werden. Diese würden ärmeren Haushalten ermöglichen, ihre Kinder auf Kosten des Staates (und dementsprechend des Steuerzahlers) auf teure Privatschulen zu schicken. Außerdem können ärmere Haushalte anführen, dass freie Schulwahl zur besseren Entwicklung ihrer Kinder beiträgt, weil die Schule gewählt werden kann, die am besten die Fähigkeiten der Kinder fördert, zu verstehen was sie wirklich wollen.26 Wohlhabende Haushalte könnten nun argumentieren, dass damit ihre negativen Freiheitsrechte verringert werden: Die Regierung übt Zwang aus, die eigenen Kinder in ,gemischte' Schulen zu schicken. In diesem Fall könnte man von einer Erhö-

26 Dieses Argument liegt dem „Capabilities"-Ansatz von Amartya Sen zugrunde. Vgl. dazu Sen (1999).

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hung des Grades positiver Freiheit aller bei gleichzeitiger Verringerung des Grades negativer Freiheit einiger weniger sprechen. Unterschiedliche Standpunkte lassen sich nun in das Untersuchungsraster einordnen: Von einem extrem libertären Standpunkt aus betrachtet, ist die relative Verringerung der positiven Freiheit der ärmeren Haushalte irrelevant, die Einfuhrung von Bildungsgutscheinen daher wahrscheinlich abzulehnen. Vom klassisch-liberalen oder von einem wohlfahrtsorientierten Standpunkt aus gesehen, wären die Bildungsgutscheine akzeptabel, aber aus unterschiedlichen Gründen: Der klassisch-liberale Standpunkt ist, dass die Verringerung der negativen Freiheit unproblematisch ist, solange Zwang nicht selektiv bzw. willkürlich, sondern auf Grundlage allgemeiner und abstrakter Regeln angewendet wird. Der wohlfahrtsorientierte Standpunkt ist, dass Verbesserungen im Bereich der positiven Freiheit Verschlechterungen im Bereich der negativen Freiheit rechtfertigen können.

2. Berlin und Hayek: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Friedrich August von Hayek und Isaiah Berlin haben als liberale Sozialphilosophen bei allen intellektuellen Diskrepanzen einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund, der die Perspektiven ihres Denkens, ihre Fragestellungen und Methoden mitbestimmt. Beide teilen das Schicksal der Emigration, des erzwungenen Verlustes von Heimat. Ihre Zeit war geprägt vom Entstehen totalitärer Regime. Weil sie miterlebt hatten, wie sich durch diese der Begriff der Freiheit pervertieren und in ein Unterdrückungsinstrument umwandeln ließ, standen sie dem Konzept positiver Freiheit kritisch gegenüber. Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen beiden ist der: Berlin vertritt ebenso wie Hayek mit Nachdruck die Sache der negativen Freiheit, ist aber im Gegensatz zu diesem nicht bereit, positive Freiheitsziele gänzlich zu verwerfen; er identifiziert vielmehr einen fundamentalen Zielkonflikt zwischen beiden Zielen. Von der ganzen Art und Weise der Darstellung unterscheiden sich Berlin und Hayek enorm voneinander. Hayek weist der Klarheit und der Konsistenz der Formulierungen einen hohen Wert zu. ,Ökonomie' gibt es bei ihm ganz offensichtlich auch in der Sprache und in der sprachlichen Darstellung. Berlins Ausfuhrungen hingegen sind allgemein nicht sonderlich präzise. Aber das ist nicht nur eine Frage des persönlichen (Schreib-) Stils, sondern zu einem guten Teil seinen Überzeugungen und seiner Haltung zum behandelten Thema geschuldet: Für Berlin gibt es in Hinblick auf das Problem der Freiheit keine abschließenden Lösungen. Diese scheinen ihm dauerhaft unmöglich zu sein und die Frage der Freiheit gilt ihm als eine beständig offene Frage. Ein offen-vorsichtiger Stil in der Behandlung dieses Fragenkreises kann dann nur folgerichtig und angemessen sein. Berlin selbst dazu: ,,[T]he vagueness of the concepts, and the multiplicity of die criteria involved, is an attribute of the subject-matter itself, not of our imperfect methods [...] or incapacity for precise thought" {Berlin 1958, S. 177, Fußnote 1). Der Hauptunterschied zwischen beiden Autoren liegt inhaltlich in der Ebene der Theoriebildung. Hayek verbleibt ganz überwiegend im ersten Teil der Constitution of Liberty auf der theoretischen Ebene und sucht sein eigenes Lehrgebäude auf der Basis bestimmter Prämissen zu entwickeln. Hayeks Bemühungen laufen darauf zu, einen ei-

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genen Begriff von Freiheit zu bestimmen und diesen als wichtiges Element seiner Theorie der optimalen konstitutionellen Ausgestaltung einer freien Gesellschaft zu verwenden. Berlin hingegen formuliert eine Meta-Theorie d.h. eine Theorie der Theoriebildung, zum Konzept der Freiheit. Seine hierfür maßgebliche Arbeit Two Concepts of Liberty bietet in erster Linie eine Diskussion verschiedener Freiheitsbegriffe und ihrer jeweiligen Merkmale und nicht selbst eine Freiheitskonzeption. Tatsächlich scheint Berlin große Vorbehalte vor Projekten wie dem Hayeks zu haben, da sich jedes explizit formulierte Freiheitskonzept nutzen lässt, um antiliberale Entscheidungen zu begründen. In dieser Hinsicht stehen beide Autoren sich unvereinbar gegenüber. Allerdings begibt sich auch Hayek durchaus auf die metatheoretische Ebene, vor allem in Hinblick auf die philosophische Dimension von Freiheit. Ein direkter Vergleich zwischen Hayek und Berlin erscheint in Bezug auf ihre philosophische Sicht auf Freiheit möglich und gangbar. Hayek selbst hebt im Vorwort seiner Constitution of Liberty, trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner tiefen Verwurzelung in der ökonomischen Theorie, die Bedeutung der politischen Philosophie in besonderer Weise hervor: ,,[T]hough I still regard myself as mainly an economist. I have come to feel more and more that the answers to many of the pressing social questions of our time are to be found ultimately in the recognition of principles that lie outside the scope of technical economics or of any other single discipline. Though it was from an original concern with problems of economic policy that I started, I have been slowly led to the ambitious and perhaps presumptuous task of approaching them through a comprehensive restatement of the basic principles of a philosophy of freedom" (Hayek 1960, S. 3).

In eine ganz ähnliche Richtung zielt Berlins Warnung vor einer Geringschätzung oder Missachtung des politisch-philosophischen Denkens. Berlin beginnt im Grunde dort, wo Hayek aufhört: ,,[W]hen ideas are neglected by those who ought to attend them — that is to say, those who have been trained to think critically about ideas — they sometimes acquire an unchecked momentum and an irresistible power over multitudes of men that may grow too violent to be affected by rational criticism" CBerlin 1958, S. 167).

Warum befassen sich Berlin und Hayek überhaupt mit dem Problem der Freiheit? Die Motivationen sind hier unterschiedlich gelagert. Bei Berlin ist das Gefühl ausschlaggebend, dass Ideen eine praktische Rolle spielen. ,Falsche' Ideen der Freiheit können ins Gegenteil des Beabsichtigten umschlagen und ganze Nationen in den Abgrund reißen. Für Hayek ist Freiheit ein wichtiges Element in seiner umfassend angelegten Sozialtheorie. Beide Autoren weisen dementsprechend dem Thema Freiheit innerhalb ihrer Überlegungen einen ganz besonderen Status zu, aber sie begründen ihre jeweilige Position auf höchst unterschiedliche Weise: Für Berlin ergibt sich die besondere Wertschätzung der Freiheit aus der Anerkennung der ins Grundsätzliche reichenden Pluralität und des damit unvermeidlich verbundenen Widerstreits von menschlichen Zielen. Aufgrund dessen sind Menschen fortwährend gezwungen, Position zu beziehen und - bisweilen tragische - Entscheidungen zu treffen: „The world we encounter in ordinary experience is one in which we are faced with choices between ends equally ultimate, and claims equally absolute, the realization of some of which must inevitably involve the sacrifice of others" (Berlin 1958, S. 213).

Der Freiheit kommt bei Berlin aufgrund dieser „unescapable characteristic of human condition" (Berlin 1958, S. 214) ihr besonderer Platz zu:

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„If, as I believe, the ends of men are many, and not all of them are in principle compatible with each other, then the possibility of conflict — emd of tragedy — can never wholly be eliminated from human life, either personal or social" (Ebenda).

Hayek hingegen liefert eine ganz andere Begründung: Die besondere Stellung, Rolle und Wertschätzung der Freiheit ergibt sich für ihn direkt aus der Idee der fundamentalen Beschränktheit individuellen Wissens und den daraus entstehenden Konsequenzen für die Ausgestaltung des Rechts- und Wirtschaftssystems, die wohl zugleich das Kernstück seiner politischen Philosophie ausmacht: ,,[T]he case for individual freedom rests chiefly on the recognition of the inevitable ignorance of all of us concerning a great many of the factors on which the achievement of our ends and welfare depends" cHayek 1960, S. 29).

Nach Hayek steigt mit dem Fortschritt und der Vermehrung des Wissens nahezu unvermeidlich die (relative) Unwissenheit des einzelnen Menschen: „The more men know, the smaller the share of all that knowledge becomes that any one mind can absorb. The more civilized we become, the more relatively ignorant must each individual be of the facts on which the working of his civilization depends" (Hayek i960, S. 26).

Der größte Teil des relevanten Wissens, d.h. desjenigen, von dem das soziale Leben in seiner Entwicklung in besonderer Weise abhängig ist, ist von praktischer Art und durch praktische Erfahrungen gewonnen, und es kann nicht in einen einzigen Kopf hineinpassen. Es lässt sich keine Einzelposition bestimmen, von der sich alles übersehen ließe.27 Das liegt weniger an einer besonderen Kompliziertheit dieses Wissens — in Wirklichkeit ist es nicht so sonderlich kompliziert — sondern viel eher daran, dass dieses Wissen in ganz konkreten Verhaltensweisen und Dispositionen versteckt ist. Es ist habituell gespeichertes Wissen und als solches von einigem Einfluss auf unser Handeln und Verhalten. Es bildet Regeln ab, die ansonsten oft gar nicht explizit artikuliert und formuliert werden. Der Umstand bzw. die Vorbedingung unvermeidlicher Unwissenheit - der konstitutionelle Wissensmangel - verlangt nun nach der Schaffung und dem Erhalt eines Rahmens, der die größtmögliche Vielfalt von Möglichkeiten, eben auch Erfahrungsmöglichkeiten, zulässt und dafür Platz und Raum lässt: „Liberty is essential in order to leave room for the unforeseeable and unpredictable" (Hayek 1960, S. 29). Der besondere Wert der Freiheit speist sich für Hayek aus ihrer Unverzichtbarkeit für die weitere zivilisatorische Entwicklung — Freiheit erscheint dafür als eine Vorbedingung und gleichzeitig als ein diesen Prozess flankierender Rahmen. Was sind die inhaltlichen Ausgangspunkte der beiden Autoren? Ausgangspunkt von Hayeks Analysen ist der Begriff der „politischen Freiheit" (political freedom). Darunter versteht er „the participation of men in the choice of their government" {Hayek 1960, S. 13). Diese Interpretation von Freiheit darf auf keinen Fall mit dem Begriff der individuellen, persönlichen Freiheit (individual liberty) vermischt werden. Der Grund dafür ist einfach und unmittelbar einsichtig „a free people in this sense is not necessarily a people of free men" (Hayek 1960, S. 13). Was Hayek „political freedom" nennt ist für Berlin jedoch nur eine der möglichen Erscheinungsformen der „positiven Freiheit" (z.B. „collective self-direction"). Obwohl also Berlin den gleichen Begriff benutzt, unterscheidet sich sein Verständnis doch deutlich von dem Hayeks und rückt ihn stärker in die Nähe 27 Piaton hielt das noch für möglich und formulierte ein „Königtum des Philosophen" und auch Hegel ging selbstverständlich von der Möglichkeit aus, das Universum gleichsam im Kopfe tragen zu können, man müsse nur den Einen finden, der das Allgemeine zu denken versteht.

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der individuellen Freiheit. Trotz dieser Zweideutigkeit scheint Berlins Haltung zu der vorgenannten Form der kollektiven Freiheit jener Hayeks durchaus nahe zu kommen: „The desire to be governed by myself, or at any rate to participate in the process by which my life is to controlled, may be as deep a wish as that of a free area for action, and perhaps historically older. But it is not a desire for the same thing. So different is it, indeed, as to have led in the end to the great clash of ideologies that dominates our world" {Berlin 1958, S. 178).

Eine weitere Form der kollektiven Freiheit geht auf die Problematik von nationaler Unabhängigkeit. Hayek besteht darauf, dass diese Interpretation unbedingt vom Begriff der individuellen Freiheit zu unterscheiden ist. Berlin dehnt dieses Verständnis über weitere soziale Gruppen, wie Klassen, Rassen, Gemeinschaften aus. Beide Autoren differenzieren also, wenn auch auf jeweils eigene Weise, zwischen individueller und kollektiver Freiheit und warnen eindringlich davor, die Differenzen zwischen beiden zu übergehen. Eine andere Bedeutung von Freiheit diskutiert Hayek als „inner", „metaphysical" bzw. „subjective liberty". Nach seiner Auffassung impliziert ein solches FreiheitsVerständnis, dass ein Mensch in seinem Handeln statt durch einen Impuls oder durch die ihn umgebenden Umstände, durch seinen eigenen bewussten Willen, durch seine eigene Vernunft oder Überzeugung geleitet werden sollte. Nach Hayek ist das Gegenteil von innerer Freiheit „not coercion by others but the influence of temporary emotions, or moral or intellectual weakness" {Hayek 1960, S. 15). Daraus folgt, dass sich auch „innere Freiheit" von der individuellen Freiheit unterscheidet und nicht mit ihr gleichgesetzt werden darf. Während Hayek lediglich auf diesen Unterschied verweist, widmet Berlin einen großen Teil seines Essays Two Concepts of Liberty der Diskussion genau dieses Themas. Sein Gegenstück zu Hayeks innerer Freiheit ist positive Freiheit bzw. .Freiheit zu'. Hayek und Berlin geben dem Begriff der inneren Freiheit jeweils ganz eigene Bedeutungen: Blockierungen der inneren Freiheit sind nach Hayek ausschließlich SelbstBlockierungen des betreffenden Individuums. Die Gründe dafür können verschiedener Art sein: Emotionen, Affekte, moralische und/oder intellektuelle Minderleistungen. Die positive Freiheit Berlins hingegen kann sehr wohl auch durch andere Personen beschränkt werden: „The .positive' sense of the word ,liberty' derives from the wish on the part of the individual to be his own master. I wish my life and decisions to depend on myself, not on external forces of whatever kind. I wish to be the instrument of my own, not of other men's, acts of will. I wish to be a subject, not an object; to be moved by reasons, by conscious purposes, which are my own, not by causes which affect me, as it were, from outside. I wish to be somebody, not nobody; a doer-deciding, not being decided for, self-directed and not acted upon by external nature or by other men as if I where a thing, or an animal, or a slave incapable of playing a human role, that is, of conceiving goals and policies of my own and realizing them" (Berlin 1958, S. 178).

Berlin unterscheidet zwischen den beiden historisch gewachsenen Formen der Freiheit zu', nämlich einerseits die asketische Selbst-Verleugnung und zum anderen die positive Doktrin der Befreiung durch Vernunft und durch Einsicht in Gründe. Die Bezeichnung „innere Freiheit" weist er mehr der erstgenannten, historisch älteren Form zu. Berlin wird nicht müde, vor gefährlichen Entstehungen, vereinseitigenden Interpretationen und dem Missbrauch der Idee von der „Freiheit zu" zu warnen.28

28 Siehe auch Jahanbegloo (1992, S. 41).

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Hayek sieht hingegen die Bedrohungen an anderer Stelle erwachsen. Für ihn entsteht der Freiheit die größte Gefahr aus der Gleichsetzung von Freiheit mit der „physical ability to do what I want" {Hayek 1960, S. 16). Hayek und Berlin sind sich jedoch wieder darin einig, dass Freiheit nicht mit anderen Werten vermischt werden darf. Auch die ursprüngliche Bedeutung von „Freiheit" sollte nicht über Gebühr ausgedehnt und damit verwässert werden. Diese Warnung scheint angesichts des inflationären Gebrauches des Wortes „Freiheit" in allen möglichen Zusammenhängen und in Verfolgung der konträrsten Zwecke nur noch an Aktualität gewonnen zu haben. Berlin hierzu: „Everything is what it is: liberty is liberty, not equality or fairness or justice or culture, or happiness or a quiet conscience." {Berlin 1958, S. 172) Ähnlich formuliert Hayek: „Liberty does not mean all good things or the absence of all evils." {Hayek 1960, S. 18) Hayek widmet den zweiten Teil seiner Constitution of Liberty der praktischen Frage nach der rechtlichen Ausgestaltung einer Gesellschaft, die über eine freie Ordnung verfugt. Liberalismus, so Hayeks Doktrin, ist „about what our law ought to be" {Hayek 1960, S. 103). Berlin hat kaum ausdrücklich dem rechtlichen Aspekt der Freiheit Behandlung angedeihen lassen. Allerdings lässt sich Berlins Position in dieser Frage durchaus auf indirekte Weise erschließen. Sein Essay enthält hierzu eine Vielzahl von eingestreuten Bemerkungen. Weiterhin geben die zitierten Autoren in gewisser Weise Aufschluss über seinen Standpunkt. In seinen Betrachtungen zur „negativen Freiheit" zitiert Berlin zustimmend etwa Thomas Hobbes und Jeremy Bentham: „'A free man', said Hobbes, ,is he that [...] is not hindered to do what he hath the will to do.' Law is always a 'fetter', even if it protects you from being bound in chains that are heavier than those of die law, say, some more repressive law and custom, or arbitrary despotism or chaos. Bentham says much die same" (Berlin 1958, S. 170, Fußnote 3).

Etwas später, im Zusammenhang mit der Diskussion des Ansatzes von Mill, rekonstruiert Berlin auf folgende Weise den negativen Begriff der Freiheit in seiner geradezu klassischen Form: ,,[A]11 coercion is, in so far as it frustrates human desires, bad as such, although it may have to be applied to prevent other, greater evils; while non-interference, which is the opposite of coercion, is good as such, although it is not the only good" (Berlin 1958, S. 175).

Es dürfte nicht ganz unwichtig sein, dass Berlin sich im zweiten Teil seines Essays, der der „positiven Freiheit" gewidmet ist, affirmativ auf John Locke bezieht. Berlin zieht eine Verbindungslinie von Lockes These „Where there is no law there is no freedom" {Berlin 1958, S. 193) zu „the forms of liberalism founded on a rationalist metaphysics" {Berlin 1958, S. 195). Alle diese Formen sind Varianten der einen Grundüberzeugung: „A law which forbids me to do what I could not, as a sane being, conceivably wish to do is not a restraint of my freedom" (Ebenda). Am Ende kommt Berlin der Auffassung Benthams sehr nahe: „Every law is an infraction to liberty" (Ebenda). Das Erbe der klassischen Denker des Liberalismus entfaltet sich für Hayek in ganz anderer Weise. In seiner Diskussion John S. Mills und vor allem Adam Smiths richtet er den Fokus vordergründig auf die Freiheit der wirtschaftlichen Aktivitäten: „Freedom of economic activity had meant freedom under the law, not the absence of all government activities. The .interference' or ,intervention' of government which those writers opposed as a matter of principle therefore meant only the infringement of that private sphere which the general rules of law where intended to protect" (Hayek 1960, S. 220).

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Hayeks Glaube an die enge Verbindung der philosophischen und der rechtlichen Aspekte von Freiheit resultierte in seiner Theorie von der .Herrschaft des Gesetzes' („rule of law"). Diese Theorie wird im zweiten Teil seiner Constitution of Liberty entwickelt. Bei Berlin gibt es, von einigen eingestreuten Bemerkungen abgesehen, keine systematischen Entwicklungsversuche in dieser Richtung. Welche konkreten Freiheitsdefinitionen legen die beiden Autoren zugrunde? Berlin definiert negative Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen, die menschliches Handeln begrenzen. Hierbei geht es aber nicht um natürliche Grenzen des Handelns sondern um absichtlich oder unabsichtlich von Menschen gemachte Handlungsbeschränkungen; das Ausmaß negativer Freiheit wird bestimmt durch den Spielraum, den solche Restriktionen offen lassen (Berlin 2002a, 325 ff.). Wichtig ist, dass es bei Berlin nicht um Handlungsmöglichkeiten relativ zu den eigenen Bedürfhissen geht. Wäre dies zulässig, wäre nur der tote Mensch wahrhaft frei zu nennen. Berlin argumentiert, dass — solange es um die Realisierung von Präferenzen geht — negative Freiheit paradoxerweise dadurch vergrößert werden könnte, dass man die Bedürfhisse oder Ansprüche der betreffenden Individuen reduziert, also deren Präferenzen manipuliert.29 So gesehen ist ein Gefangener in seiner Zelle in der Tat vollkommen frei, wenn ihm jedes Bedürfnis nach Freiheit abhanden kommt, seine Zelle zu verlassen: „If degrees of freedom were a function of the satisfaction of desires, I could increase freedom as effectively by eliminating desires as by satisfying them: I could render men (including myself) free by conditioning them into loosing the original desires which I have decided not to satisfy. Instead of resisting or removing the pressures that bear down upon me, I can 'internalize' them. This is what Epictetus achieves when he claim that he, a slave, is freer than his master" (Berlin 2002c, S. 31).

Positive Freiheit betrachtet Berlin als legitimes aber gefährliches Ziel, denn es eignet sich für Begründungen diktatorischer Maßnahmen: Wenn ein Mensch erst frei ist, wenn seine Vernunft die anderen Aspekte seiner Persönlichkeit dominiert, stellt sich die Frage, wie es mit interpersonellen Vergleichen von Rationalität bestellt ist. Sind diese nicht ausgeschlossen, könnten einige Menschen für sich in Anspruch nehmen, eine größere oder in irgendeiner Hinsicht „bessere" Rationalität als andere zu besitzen und daraus ableiten, für andere Menschen bessere Entscheidungen treffen zu können. Einen solchen Anspruch können ebenfalls Organisationen wie Regierungen oder Kirchen vertreten: „Once I take this view, I am in a position to ignore the actual wishes of men or societies, to bully, oppress, torture them in the name, an on behalf, of their 'real' selves, in the secure knowledge that whatever is the true goal of man (happiness, performance of duty, wisdom, a just society, self-fulfilment) must be identical with his freedom - and the free choice of his 'true', albeit often submerged and inarticulate, s e l f (Berlin 1958, S. 180).

Welchen Stellenwert nimmt Zwang bei beiden Autoren ein, und wann wird er als legitim betrachtet? Hayeks negativer Freiheitsbegriff stellt auf Freiheit als die Abwesenheit willkürlichen Zwangs ab und erscheint ein plausibles Gegenkonzept. Er argumentiert, dass die negative Freiheitsdefinition offenbar die ursprüngliche Verwendung des

29 Die Vorstellung der Vergrößerung negativer Freiheit durch die Verringerung eigener Bedürfnisse hat tatsächlich eine lange Tradition. Die stoische und die zynische Tradition der griechischen Philosophie propagierte eben dieses Verhaltensziel. Berlin umschreibt es mit der von Marc Aurel entlehnten Metapher „the retreat into the inner citadel". Strikt logisch betrachtet ist allerdings der „Rückzug in die innere Festung" äußerst problematisch: Ein vollständiger Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung ist nicht möglich, weil dies den Verzicht auf das Bedürfnis implizieren würde, auf seine Bedürfnisse zu verzichten.

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Wortes Freiheit reflektiert. Freiheit sei am besten definierbar als „independence of the arbitrary will of another" (Hayek 1960, S. 12). Er verweist in einer weiterführenden Fußnote auf Quellen, die die etymologische Herkunft des Wortes „Freiheit" behandeln. Erstaunlicherweise fuhren diese jedoch das Adjektiv „frei" in verschiedenen Sprachen auf eher positive Konzepte zurück, wie Schutz durch die Gesellschaft, Zugehörigkeit zu einem Stamm etc. {Hayek 1960, S. 12, Fußnote 5). Auf diese Inkonsistenzen geht Hayek nicht ein. Wichtiger ist ihm, zu definieren, was abwesend sein muss, damit Freiheit gegeben ist. Er diskutiert zunächst allgemein die Natur von Restriktionen und wird in diesem Abschnitt der Constitution of Liberty überraschend relativierend. Hayek schränkt zunächst freiheitsreduzierende Restriktionen auf solche ein, die von einem oder mehreren Akteuren ausgehen {Hayek 1960, S. 23). Für Hayek gelten bestimmte Arten von Zwang als freiheitsreduzierend. Für besonders gefahrlich hält Hayek die Verwechslung von Freiheit als Abwesenheit von willkürlichem Zwang mit Freiheit als Macht, wobei er unter Macht die physische Möglichkeit versteht, zu tun, was man wünscht. Ganz ähnlich wie Berlin warnt Hayek davor, das Konzept der positiven Freiheit so anzuwenden, dass Menschen in ihrem Namen ihre negative Freiheit aufgeben. Im Extremfall verkommt positive Freiheit nur zu einem anderen Wort für Wohlfahrt. Zwang ist also ,,[t]he ideological enemy of Hayek" {Sufrin 1961, S. 201). Der Ablehnung von Zwang liegt ein tiefes Misstrauen gegenüber diskretionären Entscheidungen zugrunde. Allgemeinen, negativen Regeln ist demgegenüber der Vorzug zu geben. Hayek steht auf dem Standpunkt „when we obey laws, in the sense of general abstract rules laid down irrespective of their application to us, we are not subject to another man's will and are therefore free" {Hayek 1960, S. 153). Für Lionel Robbins ist dies „the essence of liberty" {Robbins 1961, S. 67). Hamowy (1971, 362 f.) weist daraufhin, dass aber solche Regelsysteme nicht unbedingt größere Freiheitsräume offen lassen, als Willkürherrschaft, denn auch allgemeine negative Regeln wirken immer nur auf eine bestimmte Gruppe. Hayek ist sich dieses Problems anscheinend bewusst, denn er fuhrt als Gegenargument an, dass, wenn Regeln für alle gelten, sie auch für diejenigen gelten, die sie erlassen und durchsetzen; aus diesem Grund sei nicht damit zu rechnen, dass es Regeln geben wird, die „vernünftige" Wünsche ausschließen würden {Hayek 1960, S. 155). Hier kann man aber Folgendes entgegenhalten: Es ist nicht davon auszugehen, dass Menschen alle ein gleiches Bedürfiiis haben, frei zu sein; man kann nicht darauf vertrauen, dass, wie Hayek meint, irgendein kategorischer Imperativ den Gesetzgeber davon abhält, Regeln einzuführen, die von anderen Menschen als einengend empfunden werden.30 Wer entscheidet außerdem, welche Wünsche „vernünftig" sind? Hamowy (1978) kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Tatsache, das Hayek einen .unscharfen' Zwangsbegriff verwendet, sein Freiheitsbegriff nicht frei von inneren Widersprüchen ist. Hayek hat aber scheinbar nicht das Ziel, einen .unangreifbaren' Zwangsbegriff zu formulieren, sondern lediglich, diesen Begriff etwas zu präzisieren. Er gibt offen zu, dass es Schwierigkeiten mit diesem Begriff gibt: ,,[C]oercion is nearly as troublesome a concept as liberty itself, and for much the same reason: we do not clearly distinguish between what other men do to us and the effects on us of physical circumstances" {Hayek 1960, S. 133). Hayek beschreibt Zwang folgendermaßen:

30 Robbins (1961, S. 68 f.) wendet eine solche Argumentation auf Religionsfreiheit an.

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Steffen W. Groß und Athanassios Pitsoulis „Coercion occurs when one man's actions are made to serve another man's will, not for his own but for the other's purpose. [...] Coercion implies that I still choose but that my mind is made someone else's tool, because the alternatives before me have been so manipulated that the conduct that the coercer wants me to chose becomes for me the least painful one" (Hayek 1960, S. 133).

Zwang bedeutet bei Hayek also einen Eingriff in den Raum der Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs, doch wenn alle Optionen außer einer Einzigen ausgeschaltet werden (z.B. durch physische Gewalt) kann man laut Hayek nicht mehr von Zwang sprechen. In diesem Fall kann aber auch nicht mehr vom Handeln des Akteurs gesprochen werden - der Akteur wird zu einer reinen Erweiterung des Handelns eines Anderen. Die allermeisten Menschen würden aber in diesem Fall ebenfalls davon sprechen, dass Freiheit nicht existiert. Tatsächlich sieht Hayek auch einen Unterschied zwischen .horizontalem Zwang' (solchem zwischen Individuen) und ,vertikalem Zwang' (seitens der Regierung in Bezug auf ihre Bürger) (Viner 1961, S. 232). Maßnahmen wie Besteuerung und Militärdienst sieht er zwar als Zwangsmaßnahmen an, aber solche, die einer weniger problematischen Kategorie angehören, denn „they are at least predictable and are enforced irrespective of how the individual would otherwise employ his energies: this deprives them largely of the evil nature of coercion" (Hayek 1960, S. 143). Aus diesem Grund lehnt Hayek z.B. progressive Einkommensteuern ab, befürwortet aber Milton Friedmans Vorschlag in Bezug auf Bildungsgutscheine (Hayek 1960, S. 376 ff.).31 Außerdem gehört zu Zwang, dass der Gezwungene durch den Zwingenden schlechter gestellt wird (Hayek 1967, S. 349). Hieraus könnte nun aber der Schluss gezogen werden, dass Menschen durch Manipulation ihrer Handlungsmöglichkeiten dazu gebracht werden können, sich zu verbessern, dies aber laut Hayek keinen Zwang darstellen würde. Hinzu kommt, dass Hayek auch zulässt, dass Zwang psychologischer Natur sein kann.32 Möglicherweise ist dies dem Bestreben geschuldet, der subjektivistischen Tradition treu zu bleiben, denn Zwang ist in erster Linie eine subjektiv empfundene Größe.33

31 Viner (1961) hält manche Resultate von Hayeks Überlegungen über die Vorteile der Gleichbehandlung von Individuen fur „too strong meat to be taken as a steady diet" (S. 233). Proportionale Einkommensteuern bedeuten, dass Vermögen regressiv besteuert werden. Gleichheit vor dem Gesetz könne so nicht erzielt werden. 32 Hiergegen haben sich manche libertäre Autoren ausgesprochen gewehrt, besonders Murray N. Rothbard. Dieser fordert, Zwang allein auf die glaubwürdige Androhung von Gewalt gegen eine Person sowie Eingriffe in die privaten Verfügungsrechte zu reduzieren. Rothbard (2002, S. 224) argumentiert: „Thus, Hayek, and the rest of us, are duty-bound to do one of two things: either to confine the concept of "coercion" strictly to the invasion of another's person or property by the use or threat of physical violence; or to scrap the term "coercion" altogether, and simply define "freedom" not as the "absence of coercion" but as the "absence of aggressive physical violence or the threat thereof."" Er bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Arztes, der beim Ausbruch einer gefährlichen Epidemie als einziger viele Bürger seiner Stadt vor dem sicheren Tod bewahren kann. Falls er vor der Seuche flieht und die Stadt verlässt, oder die Preise für seine medizinischen Dienstleistungen stark erhöht kann dies nicht als Ausübung von Zwang angesehen werden, da keine physische Gewalt gegen Leben und Eigentum der Kranken angewendet wird. Im Gegenteil, würde man dies als Zwang auslegen, dann könnte man damit „Gegenzwang" durch die Kranken begründen, um den Arzt gegen seinen Willen dazu zu veranlassen, sie zu behandeln. Dies würde aus Rothbards Sicht regelrecht auf Zwangsarbeit hinauslaufen. Hayek kommt hier offensichtlich zu einem ganz anderen Ergebnis. 33 Die Tatsache, dass Hayek psychologischen Zwang nicht ausschließt, macht aber Sinn, wenn man bedenkt, mit welchen Methoden z.B. im maoistischen China während der Kulturrevolution groß angelegte Maßnahmen zur „Umerziehung" der Bevölkerung durchgeführt wurden. Auch extreme religiöse Sekten setzen solche Maßnahmen ein.

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Man könnte nun in erster Annäherung ökonomische Größen, wie Preise, Einkommen oder Vermögen, als Zwänge auffassen. Hayek geht hier konsequenter Weise davon aus, dass, solange sich diese ökonomischen Größen in einem freien Markt entwickeln, ihnen keinerlei Zwangscharakter zukommt (.Hayek 1960, S. 136).34 Berlin geht im Gegensatz dazu sehr wohl davon aus, dass Menschen durch adverse wirtschaftliche Rahmenbedingungen daran gehindert werden können, „genug" Geld zu verdienen {Berlin 2002a, S. 327). Die problematische Frage ist, ob das Wirtschaftssystem natürliche oder soziale Restriktionen schafft. Im ersten Fall würde z.B. Arbeitslosigkeit nicht als Quelle von Unfreiheit gelten, im zweiten Fall jedoch schon. Hayek nimmt hierzu keinen klaren Standpunkt ein. Das katallaktische System wirtschaftlicher Austauschbeziehungen ist Ergebnis menschlichen Handelns aber nicht menschlichen Entwurfs; es ist als spontane Ordnung anzusehen. Demzufolge kann auch nicht davon gesprochen werden, dass wirtschaftlicher Wettbewerb freiheitsreduzierende Restriktionen schafft; arme Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft sind nicht weniger frei als reiche Menschen. In dieser Hinsicht steht Hayek in einem klaren Gegensatz zu Berlin. In Bezug auf wirtschaftliche Freiheit argumentiert Berlin ohne direkte Bezugnahme auf Hayek — aber sicherlich in Anspielung auf dessen (in diesem Punkt missverstandene) Constitution of Liberty — dass negative Freiheit als rein wirtschaftliches laissezfaire interpretiert werden könnte. Er stimmt dieser Interpretation nicht zu: Diese Art negativer Freiheit könne sicherlich in „perversen" Ungleichheiten resultieren. Wichtig ist aber stets, dass wirtschaftliche von politischer Freiheit getrennt wird: Das Fehlen wirtschaftlicher Freiheit kann mit politischer Freiheit kompatibel sein und umgekehrt. Ebenso kann auch das Konzept positiver Freiheit in Perversionen umschlagen und die krassesten Formen politischer Unterdrückung begründen {Berlin 2002a, S. 328). Einen Sonderfall bei Hayek stellt die Situation dar, dass Güter oder Dienstleistungen für den Erhalt des Lebens der Konsumenten unerlässlich sind. Hayek führt in diesem Zusammenhang als Beispiel den Monopolisten an, der als Besitzer einer Quelle in einer Oase Menschen das lebensnotwendige Gut Wasser vorenthält: „So long as the services of a particular person are not crucial to my existence or the preservation of what I most value, the conditions he exacts for rendering these services cannot properly be called ,coercion"' {Hayek 1960, S. 136). Auch hier lässt sich aber wieder darüber streiten, was „indispensable supplies" (ebenda) oder „essential services" {Hayek 1960, S. 137) sind. Hayeks Monopolbeispiel ist außerdem angreifbar durch Berlins Paradox: Wenn einer der Nachfrager in Hayeks Monopolbeispiel aufhört, die Leistung des Monopolisten als zentral für die eigene Existenz bzw. als von höchstem Wert für sich zu empfinden, wird er ceteris paribus freier als zuvor, denn Freiheit wird durch willkürlichen Zwang ausgeschlossen (vgl. dazu auch Hamowy 1978, S. 289). Eine weitere Komplikation ergibt sich, wenn man fragt, was passiert, wenn der Monopolist keinerlei Gegenleistung verlangt, weil er schlichtweg an die Nachfrager nicht verkaufen will (vgl. ebenda, S. 291).

34 Märkte wirken aus Hayeks Sicht ganz ähnlich wie ein System abstrakter, negativer und allgemeiner Regeln: Preise sind abstrakt und fassen fast die gesamte verfügbare Information (Kosten, Wettbewerbsintensität, Präferenzen, Einkommen etc.) in einer einzigen Variablen zusammen. Sie sind negativ, denn sie geben an, was man (mindestens) für ein Gut zahlen muss. Sie sind allgemein, weil dies für alle Marktteilnehmer gilt. Marktergebnisse sind unpersönlich und stellen daher keinen Zwang dar, der auf die Marktteilnehmer ausgeübt wird.

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Bei konsequenter Anwendung des Hayek'schen Zwangsbegriffs dürfte man dies nicht als Zwang werten. Die Nachfrager sind frei, denn sie werden nicht gezwungen, für Wasser einen überhöhten Preis zu bezahlen.35 Zwang ist bei Hayek darüber hinaus eine Größe, die in vielen Abstufungen auftreten kann. Bei der Überprüfung, ob bestimmte Zwangsmaßnahmen freiheitsreduzierend wirken, müssen die Eigenschaften des Zwingenden und des Gezwungenen berücksichtigt werden. Besonders schwache oder schlichtweg empfindsame Menschen lassen sich leichter Zwingen als andere. Für Hayek ist demgemäß nur relevant, wie die „normal, average person" gezwungen werden kann (Hayek 1960, S. 138). Er gesteht zu, dass alle persönlichen Bindungen zwischen Menschen Spielraum für diese Art von Zwang bieten und führt als Beispiele die „morose husband, a nagging wife, or a hysterical mother" an (Hayek 1960, S. 138). Der Begriff des Zwangs wird von Hayek damit sehr weit gefasst. Er argumentiert aber, dass diese Arten natürlichen Zwangs' nicht Problem der Regierung sein sollte. Berlin umschifft diese analytischen Klippen, indem er sich beim Thema , Freiheit versus Zwang' auf eher allgemeine Aussagen beschränkt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass er nicht analysieren, sondern der Öffentlichkeit einen Überblick über die „intellektuelle Landschaft" vermitteln will (Ricciardi 2007, S. 120). Er macht sich in seinem Aufsatz zur Aufgabe nachzuweisen, dass eine Sichtweise wie die Hayeks nicht immer frei von inneren Widersprüchen ist. Probleme entstehen z.B. dann, wenn die Motivation eines Akteurs unklar ist. Probleme entstehen auch dann, wenn gar keine Motivation existiert. Wenn einem Akteur Handlungsmöglichkeiten erwachsen, die für ihn uninteressant sind, bedeutet dann deren Ausschluss durch willkürlich angewendeten Zwang, dass er eine Verringerung negativer Freiheit erleidet? Problematisch wird dieses Konzept auch bei der Übertragung von der individuellen Ebene auf die politische. Staatliche Maßnahmen, die darauf abzielen bei den Bürgern systematisch Bedürfnisse zu verringern, werden sicherlich ohne die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nicht erfolgreich sein. Es sei nun angenommen, dass eine Regierung solche Maßnahmen nicht anzuwenden braucht, weil die Bürger einer Ideologie des Verzichts und der Askese folgen. Kann in diesem Fall von einer „freien Gesellschaft" gesprochen werden? Die Bürger sind frei, weil sie nichts wollen, mit dem sie nicht versorgt werden und die Regierung muss keinen Zwang anwenden, um ihre Bedürfnisse zu regulieren. Unabhängig davon stellen nach Berlin beide Arten von Freiheit intrinsische Ziele („end in themselves") dar, die miteinander in einem unlösbaren Zielkonflikt geraten können. Tritt dieser Fall ein, gibt es keine „hard-and-fast rules to guide us" (Berlin 2002a, S. 47). In jedem Fall gilt, dass, wenn man Wertepluralismus grundsätzlich zulässt, positive Freiheitsziele nicht per se verworfen werden können. Berlin macht folgenden Vorschlag, wie man trotz des fundamentalen Zielkonflikts eine Entscheidung treffen könnte: Man sollte sich daran orientieren, bislang ungenutzte Freiheiten nutzbar zu machen. Berlin illustriert dies am Beispiel eines Schulsystems, das soziale Ungleich35 Die Unklarheiten bei Hayek sind möglicherweise darauf zurückzuführen, dass er extreme Gegenpositionen anzugreifen versucht und dazu eine Freiheits- und eine Zwangsdefinition wählt, die möglichst werturteilsfrei sind. Dabei setzt er sich aber der „fallacy of the unexplored remainder" aus (Viner 1961, S. 230): Weniger extreme Gegenpositionen könnten mit Hayeks Konzepten sehr wohl vereinbar sein.

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heit perpetuiert.36 Er befürwortet in diesem Fall die Einführung eines einheitlichen öffentlichen Schulsystems, das soziale Gleichheit, breit gestreuten Zugang zu Bildung etc. fordern soll. Gleichzeitig ist er sich der Tatsache bewusst, dass dies ggf. die Wahlfreiheit einiger Eltern einschränkt, die ihre Kinder auf Privatschulen unterrichten lassen. Sie werden gezwungen, ihre Kinder auf eine öffentliche Schule zu schicken. Berlin verwirft die Bedenken in Bezug auf die Verringerung ihrer negativen Freiheit nicht, hält dem aber entgegen, dass durch ein einheitliches öffentliches Schulsystem die maximale Anzahl von Kindern die Möglichkeit erhält, eine freie Wahl zu treffen. Im Grunde unterstellt er also die Möglichkeit, eine Gesellschaft durch eine Umverteilung von Wahlmöglichkeiten besser zu stellen. Bei Hayek erscheint Freiheit als Abwesenheit von Zwang nur Mittel zum Zweck und nicht als intrinsisches Ziel (Viner 1961, S. 230). Freiheit ist wünschenswert, weil sie ermöglicht, dass Unternehmertum und Märkte trotz (oder vielleicht gerade wegen) der sich ergebenden Einkommensungleichheit effizienter als jedes geplante Wirtschaftssystem mit Wissen, Ideen und Ressourcen umgehen können. Es geht bei Hayek letztendlich darum, sicherzustellen, dass Regeln einem offenen Evolutionsprozess unterworfen bleiben (vgl. dazu weiterführend Gray 1995, S. 41 ff.). Negative Freiheit stellt sicher, dass dies so sein wird. In welchen Zusammenhang stellen die Autoren Freiheit und Unabhängigkeit? Trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen den Definitionen wird Freiheit sowohl von Hayek als auch von Berlin mit einem bestimmten Bereich der Unabhängigkeit identifiziert. Dieses Freiheits-Verständnis ist strikt negativ, da es auf keinerlei Realisierungsbedingungen, weder innere noch äußere, von Freiheit durch das Individuum abstellt. An dieser Stelle, hinsichtlich der Frage des Erhalts eines Bereichs der Unabhängigkeit, treten jedoch Unterschiede in den Konzeptionen Berlins und Hayeks zu Tage: Berlin bestimmt die Sphäre der Nicht-Beeinflussung sehr vage, ohne überhaupt die Frage nach ihren Grenzen zu berühren. Er bemerkt lediglich, dass „the minimum area that men require if [...] dehumanization is to be averted, a minimum which other men, or institutions created by them, are liable to invade, is no more than a minimum; its frontiers are not to be extended against sufficiently stringent claims on the part of other values, including those of positive liberty itself (Berlin 1958, S. 53). Allerdings besteht Berlin ausdrücklich darauf, dass dieses Minimum unbedingt zu respektieren sei, da sonst die Gefahr bestünde, „to degrade or deny our nature" (Berlin 1958, S. 173). Hayek hingegen begründet und rechtfertigt das Postulat des Erhalts eines Bereiches der Unabhängigkeit auf ganz andere Weise: „The rationale of securing to each individual a known range within which he can decide on his actions is to enable him to make the fullest use of his knowledge, especially on his concrete and often unique knowledge of the particular circumstances of time and place" (Hayek 1960, S. 156).

Hayek hat also die Potenziale individuell-spezifischen Wissens um das Besondere im Blick. Und diese Argumentationslinie steht in enger Verbindung mit seiner Idee der spontanen Ordnung in einer Gesellschaft, die der beste Ausgangspunkt für die kulturelle Evolution ist. Im Gegensatz zu Berlin liefert Hayek ein Kriterium für die Überschreitung oder Verletzung einer privaten Sphäre der individuellen Unabhängigkeit. Er geht aber davon aus, dass solche Grenzen nicht als ein für allemal feststehend angesehen 36 Es ist bezeichnend, dass dieses Beispiel ausgerechnet vom Absolventen einer privaten britischen Eliteschule kommt.

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werden dürfen. Die Lösung des Problems sieht Hayek in „recognition of general rules, governing the conditions under which objects and circumstances become part of the protected sphere of a person or persons. The acceptance of such rules enables each member of a society to shape the content of his protected sphere and all members to recognize what belongs to their sphere and what does not" {Hayek 1960, S. 140). Allerdings bleibt es unmöglich, alle Rechte und geschützten Interessen, die als zur Privatsphäre zugehörig anerkannt werden sollten, aufzuzählen. Dennoch bezeichnet und kommentiert Hayek einige der besonders typischen Elemente, die dieser Sphäre eigen sind: Privates Eigentum, das Recht auf Privatheit und Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Frage ist: Wie werden diese bestimmt? Negative, abstrakte und allgemeine Regeln stellen keinen Zwang dar. Wer diese durchsetzt, ist fur Hayek nicht wichtig: Er lässt die Art der Staatsverfassung offen. Selbst autoritäre Herrschaftssysteme sind kompatibel mit negativer Freiheit, wenn die Regierungen gegen ihre Bürger keine unzulässigen Zwangsmaßnahmen anwenden. Hierin liegt ein besonderer Reibungspunkt mit der Freiheitskonzeption Berlins. Denn dieser hebt hervor: „It is doubtless well to remember that belief in negative freedom is compatible with, and (in so far as ideas influence conduct) has played its part in generating, great and lasting social evils. My point is that it was much less often defended or disguised by the kind of specious arguments and sleights-ofhand habitually used by the champions of 'positive' freedom in its more sinister forms. Advocacy in non-interference (like .social Darwinism') was, of course, used to support politically and socially destructive policies which armed the strong, the brutal and unscrupulous against the humane and the weak, the able and ruthless against the less gifted and the less fortunate. Freedom for the wolves has often meant death to the sheep. The bloodstained story of economic individualism and unrestrained capitalist competition does not, I should have thought, today need stressing" (Berlin 2002c, S. 37 f.).

Berlin sieht sich selbst als Vertreter einer negativen Freiheitskonzeption. Nichtsdestotrotz steht er sowohl der negativen als auch der positiven Freiheitskonzeptionen kritisch gegenüber, da beide sich eignen, Freiheit in dem von ihm verstandenen Sinne abzubauen oder gar vollkommen außer Kraft zu setzen: „The case for intervention, by the state or other effective agencies, to secure conditions for both positive, and at least a minimum degree of negative, liberty for individuals is overwhelmingly strong. Liberals like Tocqueville and J.S. Mill, and even Benjamin Constant (who prized negative liberty beyond any modern writer), were not unaware of this. The case for social legislation or planning, for the Welfare State and socialism, can be constructed with as much validity from considerations of the claims of negative as from those of its positive brother, and if, historically, it was not made so frequently, that was because the kind of evil against which the concept of negative freedom was directed as a weapon was not laissez-faire but despotism. The rise and fall of the two concepts can largely be traced to the specific dangers which, at a given moment, threatened a group or society most: on the one hand excessive control and interference, or, on the other, an uncontrolled 'market' economy. Each concept seem liable to perversion into the very vice which it was created to resist" (Berlin 2002c, S. 38 f.).

Berlin war sich aber klar, dass seinerzeit der größere Bedarf darin bestand, die Gefahren, die von einer falschen politischen bzw. konstitutionellen Anwendung des positiven Freiheitskonzepts aufzuzeigen (Berlin 2002c, S. 39 f.). Ob er heute zum selben Ergebnis kommen würde sei dahingestellt.

III. Ein semantischer Lösungsversuch von MacCallum Gerald MacCallums wichtiger Beitrag ist hervorgehoben zu haben, dass die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit möglicherweise eher semantischer als fundamentaler Natur ist. Seine Überlegungen zu dem Thema sind als komplementär

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zu denen Berlins und Hayeks anzusehen und sollen daher hier kurz in die Diskussion eingebracht werden. Die große Resonanz, die MacCallums Arbeit hervorrief ist im Wesentlichen darauf zurückzufuhren, dass sein Konzept von John Rawls in seiner Arbeit A Theory of Justice aufgegriffen wurde (Rawls 1971, S. 202). Er liefert den Versuch einer metatheoretischen Synthese ausgehend von der Vorstellung, dass positive und negative Freiheit keine unverrückbaren Gegensätze darstellen. MacCallum verortet das Problem vielmehr darin, dass die Vertreter beider Konzept zwar darin übereinstimmen, dass Freiheit existiert, aber unscharfe Freiheitsdefinitionen verwenden und dementsprechend oft regelrecht an einander vorbei reden. Sein Ziel ist sozusagen, die grammatikalische Präzision der Debatte zu erhöhen. MacCallum entwickelt dazu ein „triadisches" Konzept der Freiheit. Die zugrunde liegende Idee ist, dass es nur ein Konzept der Freiheit gibt, und diese sich stets durch eine Beziehung zwischen drei Variablen charakterisieren lässt, und auch stets so charakterisiert werden sollte. Die Differenzen zwischen einzelnen Freiheitskonzeptionen lassen sich nicht unbedingt nur darauf zurückführen, dass jede für sich ein Wahrheitsmonopol beansprucht, sondern auch auf originäre Verständnisprobleme, die durch mangelnde semantische Präzision verursacht werden. MacCallum argumentiert zunächst, dass die Differenzen zwischen Vertretern unterschiedlicher Freiheitskonzeptionen (wie Berlin und Hayek) auf unterschiedlichen Sichtweisen in Bezug folgende Dinge beruhen: (1) die Natur der Freiheit selbst, (2) die Zielbeziehungen zwischen Freiheit und anderen gesellschaftlichen Zielgrößen (z.B. Sicherheit, Fortschritt etc.), (3) die Gewichtung von Freiheit relativ zu anderen Zielen und (4) die erwarteten Konsequenzen einzelner Politikentscheidungen für den Zielerreichungsgrad hinsichtlich des Freiheitsziels. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Konzepte von Freiheit sich meistens hinsichtlich des Definitionsbereichs dieser drei Variablen unterscheiden (MacCallum 1967, S. 312). Lässt man grundsätzlich die Existenz mehrerer Politikziele zu, sind Konflikte zwischen den Ebenen (2) und (4) nicht mehr auszuschließen. Die triadische Beziehung besteht nun darin, dass Freiheit stets die eines oder mehrerer Akteure (A) von etwas (B) ist, irgendetwas anderes (C) zu tun, nicht zu tun, zu werden, nicht zu werden etc. (Ebenda, S. 314). Fehlt eines der drei Elemente in einer Freiheitsdefinition, so ist dies nur dann zulässig, wenn sich das fehlende Element direkt aus dem Kontext erschließt. Ebenso sind alle Definitionsversuche problematisch, die sich nicht auf Akteure beziehen („der Himmel ist frei von Wolken") oder das zweite und/oder dritte Element nicht definieren. Aus MacCallums Sicht sind sowohl das negative als auch das positive Freiheitskonzept unvollständig: „In recognizing that freedom is always both freedom from something and freedom to do or become something, one is provided with a means of making sense out of interminable and poorly defined controversies concerning, for example, when a person really is free, why freedom is important, and on what its importance depends. As these, in turn, are matters on which the distinction between positive and negative freedom has turned, one is given also a means of managing sensibly the writings appearing to accept or to be based upon that distinction" (Ebenda, S. 319).

Daraus entsteht das Dilemma, dass Freiheit stets sowohl negativer als auch positiver Natur ist, weil sie semantisch immer Freiheit von etwas beinhaltet, etwas anderes tun zu können. Aus unterschiedlichen bzw. nicht ausreichenden Definitionen entstehen laut MacCallum noch lange keinen wirklich unterschiedlichen Freiheitskonzeptionen sondern nur semantische Differenzen. Durch konsequente Anwendung seines Untersu-

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chungsrasters weist MacCallum nach, dass sich typischerweise als negativ aufgefasste Freiheitskonzepte in positive umformulieren lassen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „the whole system of dichotomous Classification is futile and, even worse, conducive to distortion of important views on freedom" (Ebenda, S. 322). Tatsächlich gilt, so MacCallum weiter, dass sich die Differenzen zwischen beiden Lagern auf Frage nach der Zulässigkeit der Anwendung von Zwang zurückfuhren lassen (Ebenda, S. 322, Fußnote 8). Legt man das triadische Untersuchungsraster zugrunde, klären sich aber noch nicht alle Differenzen zwischen beiden Lagern auf, denn Uneinigkeit besteht in den Vorstellungen darüber, (1) wer die Akteure sind um deren Freiheit es (wirklich) geht und (2) was man unter Restriktionen versteht. Es geht also um den Definitionsbereich von mindestens zwei der drei triadischen Freiheitsvariablen. Die klassisch-liberale Sichtweise rückt negative Freiheit in den Mittelpunkt. Als Resultat der methodologisch-individuellen Herangehensweise betrachtet sie Freiheit stets als individuelle Größe, die jedoch nach wie vor ein soziales Konstrukt ist. Hier können bereits Probleme auftreten: Ab wann zählt z.B. ein Fötus als menschliches Individuum? Noch größerer Spielraum für Missverständnisse und Unklarheit kann auftreten durch unpräzise Definitionen der Restriktionen, die das Potenzial haben, Freiheit zu verringern. Gelten hier nur von anderen Menschen bewusst geschaffene Restriktionen? Wenn ja, sind Restriktionen kompatibel mit Freiheit, wenn Sie für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen gültig sind? Als letztes stellt sich die fundamentale Frage: Was wollen Menschen tun? Ist es das, von dem sie sagen, dass sie es wollen? Oder um das, was sie versuchen zu erlangen? Oder geht es um das, was sie letztendlich tun? Berlin ist sich anscheinend dieser Schwierigkeiten bewusst und vermeidet daher, sich festzulegen - ganz im Gegensatz zu Hayek, der zum Ziel hat, eine Theorie der Verfassung der Freiheit zu formulieren. Die Befürworter positiver Freiheit unterscheiden sich in Bezug auf die Definition der Akteure. Manchen geht es um die Interessen der .wahren', nationalen' oder der ,moralischen' Person. Hier sind Komplikationen vorprogrammiert, wenn der Definitionsbereich der Variable „Akteure" über das menschliche Individuum hinaus ausgedehnt werden, also wenn z.B. Organisationen oder ,Kollektive', das vergangene, zukünftige Selbst oder gar ganze Generationen mit einbezogen werden. Eine weitere Ursache von Dissens ist die Frage, ob Freiheit ein Wert für sich ist, oder aber zwischen verschiedenen Werten Substitutionsmöglichkeiten gegeben sind. MacCallum argumentiert, dass diese Diskussion dadurch entschärft werden könnte, dass beide Lager sich darauf einigen, dass diese Frage als unlösbar angesehen werden müsste. Des Weiteren unterscheiden sich Vertreter des positiven Freiheitskonzepts von der klassisch-liberalen negativen Sicht in Bezug auf die Definition von Restriktionen. Hayeks negativer Freiheitsbegriff basiert beispielsweise auf der Definition von Freiheit als der Abwesenheit von Zwang. Die Anwendung dieser negativen Freiheitskonzeption ist scheinbar konsistent, sie ist jedoch nicht frei von inneren Widersprüchen. So sollte es bei Hayek ausgeschlossen sein, bestimmte Menschen selektiv zu zwingen, frei zu sein. MacCallum weist aber darauf hin, dass diese Widersprüche auch bei einer negativen Freiheitsdefinition auftreten könnten. Ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlicht dies (vgl. ebenda, S. 330 f.): Angenommen, in einer Kleinstadt gäbe es keine Zebrastreifen und Fußgänger müssten überall die Straße auf eigene Gefahr überqueren. Wenn nun in der Stadt einige Zebrastreifen an belebten Kreuzungen geschaffen und die allgemeine

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Regel eingeführt würden, dass Autofahrer dort stets für Fußgänger anhalten müssten, würde dies sicherlich die Einwohner dieser Stadt freier als zuvor machen, obwohl eine neue Restriktion eingeführt wurde. Viele andere Beispiele dieser Art sind denkbar. Andererseits kann man sicher ebenso argumentieren, dass die Einwohner der Kleinstadt durch die Einfuhrung von Zebrastreifen das bekommen, was sie ,wirklich' wollen, nämlich Möglichkeiten, sicher die Straße zu überqueren. In diesem Fall kommt sowohl die Anwendung des negativen als auch des positiven Freiheitskonzepts zum selben Ergebnis. Berlin geht auf MacCallums triadisches Konzept der Freiheit ein. Er lehnt diese Herangehensweise rundweg ab. Ein dyadisches Freiheitskonzept im Sinne von „Freiheit ist Freiheit von etwas" hält er für zulässig, da in manchen Situationen Freiheit sich in der Tat auf eine solche Beziehung reduziert. Ebenso wie jemand der angekettet ist in erster Linie nach Freiheit von seinen Fesseln strebt, sind Individuen in einer Gesellschaft bestrebt, frei zu sein im folgenden Sinne: „In the larger sense, of course, freedom means freedom from the rules of a society or its institutions, from the deployment against one of excessive moral physical force, or from whatever shuts off possibilities of action which otherwise would be open" (Berlin 2002c, S. 326).

Hayek kommt zum selben Ergebnis, ohne sich aber direkt mit MacCallum auseinander zu setzen (Hayek 1960, S. 19). Bei der Diskussion positiver Freiheit ist für Berlin wichtig, wer menschliches Handeln bestimmt bzw. begrenzt. So gesehen könnte man Freiheit tatsächlich als tetradisches Konzept auffassen: Akteur(e) A sind frei von B, angewendet von Akteur(en) C, um D zu tun. Zwar arbeitet Berlin diesen Punkt nicht explizit aus, aber es lässt sich durch seine Vorarbeit leicht in diese Richtung entwickeln. Es ist die Kombination von B und C die ermöglicht, die Frage nach dem Ausmaß von Freiheit zu klären.

IV. Ergebnis und Ausblick In diesem Beitrag wurden die methodischen Herangehensweisen von Isaiah Berlin und Friedrich August von Hayek kontrastiert und zu einander ins Verhältnis gesetzt. Beide Autoren haben Wesentliches zur zum besseren Verständnis des Freiheitsbegriffs beigetragen. Während Berlin das Thema ergebnisoffen, pluralistisch und im Wesentlichen metatheoretisch angeht formuliert Hayek eine groß angelegte dynamische Sozialtheorie. Beide Autoren haben sich gegenseitig wahrgenommen, aber ihre unterschiedlichen Ziele und Herangehensweisen waren scheinbar stets ein Hindernis für eine engere Zusammenarbeit. Obwohl beide ausdrücklich Befürworter eines negativen Freiheitsverständnisses sind, gibt es doch ideologische Differenzen, die zum Teil, zumindest bei Berlin, auf Missverständnisse bzw. Vorurteile zurückzuführen sind. Zwischen beiden besteht daher ein Spannungsverhältnis, welches sich, wieder zumindest bei Berlin, in seiner bislang unveröffentlichten Korrespondenz äußert. Es gibt interessante Unterschiede zwischen beiden Autoren. Berlins Arbeit ist im Gegensatz zu Hayeks nicht abschlussorientiert und recht allgemein gehalten. Sein Interesse ist, Nichtspezialisten die ideengeschichtliche Landschaft näher zu bringen. Trotz, oder vielleicht gerade wegen, dieses Ziels hat Berlin eine bedeutsame und immer noch anhaltende Diskussion ausgelöst. Man könnte nun einwenden, dass sich möglicherweise

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die unschärfere historisch-metatheoretische Arbeitsweise besser für die Erörterung eines solchen Themas eignet. Berlins Ideen wurden aber z.B. auch in der analytischen Philosophie aufgegriffen und einer regelrechten „Tiefenprüfung" unterzogen. Der Nachteil ist, dass konkrete Handlungsempfehlungen nicht entwickelt und diskutiert werden. Hayek hat genau dies im Sinn. Seine Constitution of Liberty gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil, der Vorschläge für die optimale Ausgestaltung des Rechts-, Steuer- und Bildungssystems etc. enthält; diese beruhen auf den Resultaten seiner theoretischen Erörterungen. Man könnte hier einwenden, dass die Ableitung normativer aus positiven Aussagen nicht möglich ist; Hayek versucht dies auch nicht zu tun, sondern mit den theoretischen Argumenten zu überzeugen. Reizvoll ist, dass beide Autoren aus jeweils ganz unterschiedlichen Richtungen zum selben Ergebnis kommen, nämlich dass Freiheit in erster Linie als Abwesenheit von Zwang gesehen werden sollte und dass das Konzept der positiven Freiheit in Realisierungsversuchen resultieren kann, die negative Freiheit vollständig aufheben. Hayek gelangt mit einer werturteilsfreien Sozialtheorie zu dieser Erkenntnis: Wissen ist konstitutionell begrenzt, und es muss dementsprechend durch die konkrete Ausgestaltung des Rechts- und Wirtschaftssystems sichergestellt werden, dass das individuelle Vermögen, neue Lösungen für alte und neue Probleme zu finden, geschützt wird. Berlin geht im Gegensatz dazu normativ an die Freiheitsfrage heran: Freiheit sollte negativ sein, um die Werte und Zielvorstellungen anderer Menschen nicht zu unterdrücken. Der Vergleich Berlin und Hayeks führt auf viele weitere Anschlussfragen, die zusätzliche Untersuchung anreizen. Ungeklärt ist z.B. die Frage, was für einen Ordnungsgedanken Berlin hatte. Dieser ist nicht explizit formuliert, implizit aber in seinen Essays vorhanden. Bei Hayek steht das Modell der Marktordnung Pate für die Vorstellung einer spontanen Gesellschaftsordnung, dies würde Berlin wahrscheinlich ablehnen. Außerdem gibt es bei Hayek eine klare .Hierarchie der Ordnungen': Die Rechtsordnung ist der Wirtschaftsordnung und dieser der Handelnsordnung übergeordnet: „Erst die Existenz von Regeln generiert Freiheit und schafft Erwartungssicherheit, die Grundlage, um erfolgreich Wirtschaften bzw. investieren zu können. Ihre produktive Funktion kann die Freiheit nur dann erfüllen, wenn sie durch Regeln geschützt ist, wenn es sich also um eine „Freiheit unter dem Recht" handelt." (Leschke 2003) Dieser vertikale Gedanke zeigt sich bei Berlin nicht. Befasst man sich ideengeschichtlich mit den Versuchen, den Begriff der Freiheit zu spezifizieren zeigt sich, dass der Prozess der Begriffsbildung in Bezug auf Freiheit nicht abgeschlossen und wahrscheinlich auch nicht abschließbar ist. Antworten und Konzepte, so wie die Berlin 'sehe Dichotomie in positive und negative Freiheit, MacCallums triadisches Freiheitskonzept, Skinners Trichotomie etc. sind immer nur vorläufig, beeinflussen aber immer die weitere Entwicklung der Erörterung in der politischen Philosophie und Theorie. Die Fragen, was Freiheit ist, wie der Begriff definiert werden kann, und was die jeweils zugrunde gelegte Definition im praktischen politischen und juristischen Einsatz konkret bedeutet, werden uns höchstwahrscheinlich nie in Ruhe lassen. Fragen des Datenschutzes, Folter etc., die Zielkonflikte zwischen Freiheit und anderen Werten, wie Sicherheit, betreffen laufen immer auf die Frage hinaus: Welche Freiheit steht mit diesen Werten in Konflikt?

Ist,Freiheit' als ,negative Freiheit' ausreichend bestimmt?

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Goethe lässt in seinem Egmont den Herzog von Alba prinzipielle Fragen stellen: „Freiheit? Ein schönes Wort, wer's recht verstände! Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit?" (Goethe 1998, S. 429). Die gestellten Fragen bleiben offen. Der Schluss liegt nahe, dass Goethe davon ausgeht, dass es gar keine abschließenden und ewig gültigen Antworten geben kann. Alle Antworten sind vorläufig; die Fragen nach der Freiheit stellen sich immer wieder neu, was bedeutet, dass auch wir uns ihnen immer wieder neu zu stellen haben. Das heißt dann aber auch, dass alle Doktrinen von Freiheit nur partikular sein können. Der Freiheitsbegriff erscheint sodann bereits von vornherein als plural und spannungsgeladen. Es gibt eine Vielzahl von Freiheitsbegriffen und Ideen über Freiheit, die abhängig sind von der eigenen Position und von der individuellen Wahrnehmung sowie Konzeptualisierung der Umstände - „Was wollen sie für Freiheit?" Goethe leistet hier im Grunde eine künstlerisch-literarische Widerspiegelung von Immanuel Kants Position aus der Kritik der reinen Vernunft, wonach Freiheit einer jener drei Bereiche sei (neben Gott und der Unsterblichkeit der Seele), über den wir kein festes Wissen im positiven Sinne bilden könnten. Freiheit lässt sich nicht auf den Begriff schlechthin bringen, alle Näherungen müssen spekulativ und vorläufig bleiben. Freiheit bleibt ein offenes, ein unabgeschlossenes und unabschließbares Thema. Die Positionierung dazu und die harte Arbeit am Begriff bleiben uns dauernd aufgegeben.

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Ist,Freiheit' als .negative Freiheit' ausreichend bestimmt?

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Zusammenfassung Unser Aufsatz steht unter der Leitfrage, ob .Freiheit' als .negative Freiheit' eine ausreichende Bestimmung erfahren hat. Anhand von zwei Exponenten des Konzepts von negativer Freiheit - Friedrich August von Hayek und Isaiah Berlin - untersuchen wir zunächst, warum das Konzept der negativen Freiheit im 20. Jahrhundert eine solch starke Privilegierung erfahren konnte. Um dies zu verstehen, suchen wir bewusst den Zusammenhang von Biographie und Denkweg aufzuschließen. Vor diesem Hintergrund entwickeln wir unsere These, dass es des Aufeinanderbezugs von positivem und negativem Freiheitsverständnis bedarf, wenn wir zu einem handlungsrelevanten, ganzheitlichen Freiheitsbegriff gelangen wollen. Aus diesem Spannungsverhältnis speisen sich Dynamik und Unabgeschlossenheit des Nachdenkens über Freiheit. Wir schließen daher mit dem Befund, dass es den Freiheitsbegriff schlechthin nicht geben kann. Stattdessen stehen wir immer wieder neu vor der Aufgabe der harten Arbeit am Begriff.

Summary: Is ,Liberty' as ,Negative Liberty' Appropriately Conceptualised? The Positions of Friedrich August von Hayek and Isaiah Berlin in Comparison and a Proposal for Discussion Our article addresses the question whether 'liberty' is appropriately conceptualised as 'negative liberty'. Based on a comparison of the ideas of Friedrich August von Hayek and Isaiah Berlin we outline how the idea of a negative concept of liberty did emerge as the dominant paradigm in the twentieth century. Against this background we develop the thesis that it is necessary to understand the complex interdependence between positive and negative aspects of freedom in order to arrive at a holistic, active understanding of the dynamic nature of freedom and the concepts used to define it.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Uwe Dathe

Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934) Inhalt I. Einleitung II. Walter Eucken im Ersten Weltkrieg und in der frühen Weimarer Republik (1914-1922) III. Walter Eucken in den weltanschaulichen, politischen und wirtschaftspolitischen Debatten der Weimarer Republik (1922-1931) 1. Walter Eucken und der Euckenbund 2. Euckens Auseinandersetzung mit dem Sozialismus 3. Frühe Einblicke in wirtschaftliche Machtkämpfe 4. Walter Eucken und die wirtschaftspolitischen Debatten 1925-1931 5. Euckens politische Ordnungsvorstellungen Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre IV. Walter Eucken 1932 - Liberale Konzepte gegen totalitäre Ideologien V. Gefestigter Liberalismus. Euckens Ablehnung des Nationalsozialismus 1933/34 VI. Ausblick

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Anhang

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Walter Eucken's way to liberalism (1918-1934)

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I. Einleitung Obwohl in der neueren Literatur zu Walter Eucken und dem ordoliberalen Forschungsprogramm der Genese von Euckens Werk vermehrt Beachtung zukommt1, ist Walter Oswalts Beobachtung, dass Euckens Weg zum Liberalismus systematisch unterbelichtet sei (Oswalt 2005, S. 328), zutreffend. Auch Joachim Zweynert kommt in einer theoriegeschichtlichen Skizze zur Entwicklung ordnungsökonomischer Paradigmen implizit zum gleichen Befund, wenn er bemerkt, dass es für die Rekonstruktion der Positionen Walter Euckens nicht ausreiche, dessen Hauptwerke zu untersuchen; es müss1 Exemplarisch Hüfiier (1995), Klinckowstroem (2000), Peukert (2000), Pies (2001, S. 8-31), Goldschmidt (2002), Renner (2002), Dathe und Goldschmidt (2003), Broyer (2006), Blümle und Goldschmidt (2006).

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ten auch die frühe Publizistik und verschiedene Briefwechsel herangezogen werden. (Zweynert 2007, S. 11) Der Forschungsstand zur Genese des Ordoliberalismus und hier besonders zur Entwicklung der Ansichten Walter Euchens ist gekennzeichnet durch ein gegenseitiges Ausblenden wichtiger Forschungsergebnisse der verschiedenen Disziplinen, die sich aus historischer Perspektive mit dem deutschen Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert befassen. Auf der einen Seite arbeiten Historiker, die sich mit der Geschichte des Liberalismus oder mit der Geschichte der deutschen Intellektuellen beschäftigen, auf der anderen Ökonomen, die Walter Euchens Werk dogmenhistorisch untersuchen. Ein Austausch fand bislang nicht statt. In den zahlreichen Arbeiten zur Geschichte des Liberalismus2 und der Intellektuellen3, die teilweise bereits den Rang von Standardwerken einnehmen, kommen Walter Eucken und die anderen frühen Ordoliberalen (bis 1948) kaum vor.4 Trotz des zunehmenden Interesses an Euchens Biographie und der Genese seines Werkes konzentrieren sich Dogmenhistoriker zu sehr auf die theoriegeschichtlichen Aspekte, d. h. sie ordnen Walter Eucken kaum in breitere historische Kontexte ein. Ein Ergebnis dieser wechselseitigen Nichtwahrnehmung besteht darin, dass wir nach wie vor ein sehr einseitiges Bild von der Herausbildung der wirtschaftspolitischen und gesellschaftstheoretischen Auffassungen Euchens haben. Seine politischen Ansichten, und damit verbunden, seine Einstellung zum Staat als ordnender Potenz, sind weitgehend unbekannt oder werden höchstens in einer Art Abwehrgeste gegen Vorwürfe5 verteidigt, Eucken sei ein Anhänger des autoritären oder gar des totalen Staates gewesen. Denjenigen, die mit diesen Vorwürfen auftreten, geht es jedoch nur sekundär um die Erhellung der historischen Zusammenhänge, in die Eucken eingebunden war, sondern primär um die Desavouierung liberaler Einstellungen. Diesen antiliberalen Angriffen, die bei Claus-Dieter Krohn, Dieter Haselbach, Daniela Rüther und Ralf Ptak6 darin bestehen, Konvergenzen zwischen Walter Eucken und dem Nationalsozialismus zu konstruieren7 oder gar so weit gehen, im Freiburger Nationalökonomen einen theoretischen Vorbereiter nationalsozialistischer Wirtschaftstheorien zu sehen (Amemiya 2008), soll hier mit einer detaillierten, stark an den Quellen orientierten Re-

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Langewiesche (1988), Winkler (1979), von Thadden (1978), Jones (1988), Faber (2000) (bei Faber viele Beiträge mit deutlich antiliberaler Note). In den Geschichtlichen Grundbegriffen folgt auf den Artikel zum Liberalismus {Vierhaus 1982) ein Exkurs Wirtschaftlicher Liberalismus (Walther 1982). Die Trennung ist symptomatisch. Sie steht für die völlig getrennte historische Erforschung von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus. Bialas und Stenzel (1996), Ehrlich und John (1998), Hübinger und Hertfelder (2000), Morat (2001) (guter Überblick), Raulet (2001), Lübbe (2006) und Hübinger (2006). Eine Ausnahme stellt die Arbeit der Schweizer Historikerin Milene Wegmann (2002) dar, in der gezeigt wird, wie nach dem Ersten Weltkrieg verschiedene Konzepte einer liberalen Neuordnung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft entwickelt worden sind. Wegmann geht vor allem auf die Zeit nach 1932 ein, berührt also den hier im Mittelpunkt stehenden Zeitraum nur am Rande. Zur Kritik dieser Vorwürfe vgl. exemplarisch Willgerodt (1998, S. 51-54), Pies (2001), Peukert (2004), Goldschmidt (2005b). Eine sehr differenzierte Betrachtung des Staatsverständnisses und der wettbewerbspolitischen Konzeptionen der frühen Ordoliberalen und ihres geistigen Umfeldes vom Ende der 1920er bis zum Beginn der 1940er Jahre findet man bei Löffler (2002, S. 41-55). Krohn (1981, S. 25 f., 139, 170), Haselbach (1991, S. 78 f., 94-99, 113-115), Rüther (2002, S. 31 f. und 450 f.), Ptak (2004, S. 33-44 und 62-72). Es ist dann konsequent, wenn Rüther die Hinwendung der Freiburger zum Widerstand nur aus den desillusionierenden Erfahrungen erklärt, die sie bei ihren Versuchen zur Umsetzung des Konzepts der Leistungswettbewerbsordnung sammelten.

Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934)

konstruktion von Euckens

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W e g z u m Liberalismus entgegengetreten werden. 8 N e b e n

bereits bekannten und zum Teil auch schon ausgewerteten Quellen 9 , können wir hier eine Reihe von Quellen heranziehen, die bislang noch nicht ausgewertet worden sind. 1 0 Es wird sich zeigen, dass Euckens wirtschaftlicher und politischer Liberalismus 1933/34 so gefestigt war, dass er konsequent gegen das nationalsozialistische Regime auftreten konnte. Seine kontinuierliche Übernahme bzw. Entwicklung liberaler Positionen Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre ist umso bemerkenswerter, w e n n man weiß, w i e viele Liberale zu dieser Zeit den entgegengesetzten W e g gegangen sind. Nicht nur in Deutschland (auf ein prominentes Beispiel aus Euckens

Umfeld, Otto Most,

gehe ich

weiter unten ein) 1 1 , sondern auch in den Vereinigten Staaten und Westeuropa konnten antiliberale politische und ökonomische Krisenlösungsmechanismen auch unter Liberalen immer mehr Anhänger finden. 1 2

8 Es geht uns nicht darum, Eucken einem der geistig-politischen Lager der Weimarer Republik (Republikaner vs. Antirepublikaner, Demokrat vs. Antidemokrat etc.) zuzuordnen, die in der Literatur immer wieder als Ordnungsschemata verwendet werden. In den letzten Jahren haben einige Historiker die gängigen Klassifizierungsmuster gesprengt und sind dazu übergegangen, „die komplexen intellektuellen Diskurse, die die politische Kultur der Weimarer Republik ausmachen, hermeneutisch in ihrem versteckten Sinn aufzuschlüsseln, ihre dahinterliegenden politisch-gesellschaftlichen Interessen aufzudecken, sie auf die strukturellen Bedingungen ihrer sozialen Träger zu beziehen oder aber sie in die allgemeinen Strukturen der historischen Konstellation einzubetten". (Gangl und Raulet 2007, S. 33) Zur Kritik überkommener Deutungen und zu neuen Ansätzen in der Analyse politischer und intellektueller Diskurse in der Weimarer Republik vgl. auch Merlio und Raulet (2005) und Wirsching (2008). 9 Hierzu zählen vor allem die zahlreichen Quellen zu Walter Eucken im Jenaer £ucfen-Nachlass in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (künftig: ThULB). Systematisch vorgestellt wurden diese Quellen erstmals in Dathe und Goldschmidt (2003). Der Jenaer Eucken-Nachlass enthält die nachgelassenen Papiere von Rudolf Eucken (Vater von Walter Eucken), Irene Eucken (Mutter von Walter Eucken) und das Archiv des Euckenbundes. Zur Geschichte und zum Bestand vgl. Dathe (2002). 10 Hierzu zählen vor allem Briefe aus den im Bundesarchiv Koblenz (künftig: BArch) aufbewahrten Nachlässen von Alexander Rüstow (BArch N 1169) und Gerhard Ritter (BArch N 1166) sowie Dokumente aus dem noch nicht erschlossenen Nachlass von Walter Eucken im Walter-Eucken-Archiv Frankfurt am Main. Die in Koblenz und Frankfurt erstmals ausgewerteten Briefe enthielten zudem Hinweise auf bislang unbekannte Beiträge Walter Euckens (1925b, 1925c, 1932d, 1932e) Nachdem erste archivarische Sichtungen des Nachlasses von Walter Eucken in Frankfurt am Main und Freiburg einzelne Dokumente zutage gefördert haben, wird im Moment die Erschließung und Verzeichnung des Nachlasses vorbereitet. 11 Zur Annäherung führender liberaler Politiker der Weimarer Republik an den Nationalsozialismus vgl. Richter (2002, S. 801-820). Politiker, die lange der linksliberalen DDP angehörten und dann um 1933 Sympathien für den Nationalsozialismus zeigten, waren u.a. Gertrud Bäumer und Hjalmar Schacht. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg begannen sozialliberale Politiker wie Friedrich Naumann für eine Synthese von Liberalismus und sozialpolitischem Interventionismus zu werben. Im Hintergrund dieses Entwurfs stand die Idee einer sozialen und nationalen Homogenisierung der sozial ausdifferenzierten Gesellschaft. Bei zahlreichen Weimarer Liberalen, die sowohl den politischen als auch den wirtschaftlichen Wettbewerb ablehnten, führte das schließlich zu einer Mixtur aus Liberalismus und völkischem Denken, wobei letzteres maßgebend wurde. Vgl. dazu die Darstellungen von Kurlander (2006). 12 Vgl. Schivelbusch (2005, S. 17-20) mit zahlreichen Beispielen aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten zur Metamorphose von Liberalen zu Faschisten bzw. Anhängern autoritärer Systeme.

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II. Walter Eucken im Ersten Weltkrieg und in der frühen Weimarer Republik (1914-1922) Walter Eucken wurde wie so viele junge Akademiker seiner Generation durch den Ersten Weltkrieg geprägt, und diese Prägung bestimmte seine politischen und wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Über die Bedeutung des Fronterlebnisses für die Herausbildung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen ist viel publiziert worden. Ein Zeugnis, das aus dem Weltkriegsumfeld Euckens stammt und die Vorstellungen der Frontgeneration prägnant zusammenfasst, ist der Brief des Geopolitikers Karl Haushofer an Rudolf Eucken, den Vater des Nationalökonomen, vom 29. Mai 1925. Haushof er war im Weltkrieg Walter Euckens Vorgesetzter. Nachdem er sich für die Zusendung einer chinesischen Zeitung mit einem Artikel über ihn bedankt hat, schreibt er: „Persönlich haben Sie mir eine grosse Freude gemacht durch die Uebermittlung der Empfehlungen von Walter, an dessen prächtige Dienste im Felde ich mich immer wieder erinnere. [...] Wie schnell ist doch die Zeit, von rasender Arbeit erfüllt, über so Vieles hinweg gegangen, das man, so lange man darin stand, fast für ein Letztes nimmer zu Übersteigerndes an Erleben hielt; und in gewissem Sinne war ja auch die geschmolzene soziale Scheidung durch das Kameradschaftswunder in höchster Anspannung und Opferbereitschaft, wie wir es doch nur im Kriege als etwas fast Selbstverständliches hinnahmen, ein nimmer zu übersteigendes Wunder. Und für uns ist es fast vier Jahre lang Alltag gewesen!" (ThULB, Nachlass Eucken I, 11, H 146)

Der Frontoffizier Walter Eucken hatte kein Verständnis für die im Frühjahr 1918 zunehmenden Diskussionen über ein baldiges Kriegsende. Er schimpfte über die „Jammerlappen zu Hause", schämte sich, ein Deutscher zu sein und entlarvte die grassierende Vaterlandsideologie. Der Einblick in den Widerspruch zwischen dieser Ideologie, andauernd vom Vaterland als Bezugspunkt aller Aktivitäten zu reden, und der „Haltung der Heimat", der Front die bedingungslose Unterstützung zu verweigern, führte ihn immerhin schon mehr als ein halbes Jahr vor Kriegsende zu der Einsicht, dass es einen „Dienst für das Vaterland", bei dem das Eigene im Kollektiven aufgeht, nicht geben könne. „Immer wieder lernt man, daß man seine Arbeit nie auf die Menge, in die Weite gründen darf. Das ist ein falscher Trieb des Menschen." (Brief an die Mutter vom 10.4.1918)13 Die Niederlage im Weltkrieg empfand Eucken als Schande für Deutschland. Seine grenzenlose Wut über den Kriegsausgang und die Novemberrevolution schlug jedoch nicht in politische Apathie um. Obwohl er intensiv an seiner Habilitation arbeitete, engagierte er sich politisch. Aus dem Januar 1919 ist ein handschriftlicher Wahlaufruf zugunsten des bürgerlichen Lagers überliefert. Unter dem Motto „Wählt bürgerlich!" werden Argumente gegen die Sozialdemokratie vorgebracht, die organisatorische Stärke des Gegners lässt Eucken nicht für eine bestimmte Partei votieren, sondern die Einheit der Bürgerlichen betonen (ThULB, Nachlass Eucken V, 11, Bl. 55).14

13 Die Briefe Walter Euckens an seine Mutter Irene Eucken, in denen er sehr genau über seine politischen Einstellungen Rechenschaft ablegt, gehören zum Konvolut ThULB, Nachlass Eucken V, 11. Wenn wir im Folgenden auf diese Briefe verweisen, geben wir in Klammern nur das Datum an. 14 Walter Eucken hat diesen Entwurf mit seiner Mutter besprochen. Darauf deutet die Zeile „Was kostet die Revolution?" hin, die von Irene Eucken eingefügt wurde. Unterstreichungen im Original.

Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934)

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Was hat die Revolution gebracht? 1. Arbeitslosigkeit und mit ihr Not und Elend 2. Unsicherheit in Stadt und Land, Raub und Plünderung Hat die neue Regierung aber mehr Lebensmittel gebracht? Nein! Die Hungersnot steht vor der Tür. Darum wählt bürgerlich. 2. Was kostet die Revolution? Alle deutsche Fürsten haben in einem Jahre nicht einmal 100 Millionen gebraucht Die Arbeiter- und Soldatenräte haben in 7 Wochen über 800 Millionen verschwendet Wer muß das zahlen? Das Volk Merkt Euch das und wählt bürgerlich. 3. Früher standen wir in Feindesland - jetzt rücken die Polen in Deutschland ein Früher herrschte Ordnung und Sicherheit - jetzt Willkür und Unsicherheit Früher fand fast jeder Beschäftigung - jetzt ist Arbeitslosigkeit, Not, Elend So geht es nicht weiter, wir stehen am Abgrund Wählt bürgerlich.

Mehrere Briefe an seine Mutter vom Mai und Juni 1919 zeigen, dass er seine Kontakte zur Deutschnationalen Volkspartei, der er Anfang 1919 beigetreten war15, Mitte des Jahres intensivierte (Briefe vom 17.5.1919, 23.5.1919, 12.6.1919). Für seine Schwester Ida Maria Eucken, die dem Vorstand der Jenaer DNVP-Jugendgruppe angehörte, unternahm er Botengänge zur Berliner Parteizentrale, erwartete dafür, dass sie in der Partei dafür eintrete, die allgemeine Bewegung im „Reich der Jungen" in wirksame Politik zu verwandeln. Sein Vater korrespondierte mit Kuno Graf Westarp (Westarp 2001, S. 81, 549), einem der Gründer der DNVP, die ganze Familie unterhielt Kontakte zu Clemens von Delbrück, dem führenden DNVP-Vertreter im Verfassungsgebenden Ausschuss der Weimarer Nationalversammlung.16 Die Kontakte zu Westarp und Delbrück zeigen, dass man die Euckens keinem der beiden zu Beginn der 1920er Jahre um Einfluss ringenden und oft gegeneinander auftretenden Parteiflügel eindeutig zuordnen kann.17 Delbrück ließ sich auf eine konstruktive Mitarbeit in der Republik ein, lehnte den kompromisslosen Kampf gegen Weimar ab und verurteilte antisemitische und völkische Tendenzen in seiner Partei; Westarp war lange Zeit ein kompromissloser Feind des neuen Staates und zeigte Anfang der 1920er Jahre offen Sympathien für den politischen Antisemitismus.18 Walter Eucken verließ die Partei Mitte 1920, gehörte aber bis

15 Brief von Walter Eucken an den Rektor der Universität Freiburg vom 8.4.1937 im Universitätsarchiv Freiburg; zitiert nach Oswalt (2005, S. 322). 16 Vgl. die handschriftlichen Notizen von Rudolf Eucken „Zur Erinnerung an Clemens von Delbrück". ThULB, Nachlass Eucken II, 26, Bl. 698-699. 17 Zu den deutschnationalen Staatsauffassungen 1918-1920 vgl. Trippe (1995, S. 168-170). 18 Vgl. Westarp (2001) und Jones und Pyta (2006).

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1925 zu ihren Sympathisanten.19 Während wir die Gründe für den endgültigen Bruch mit der DNVP anhand einiger Briefe aus dem ÄM'siow-Nachlass erhellen können - dazu weiter unten mehr - , müssen wir uns, was die Gründe des Parteiaustritts betrifft, auf Indizien stützen. Politische Äußerungen Euchens aus dem Jahre 1919 lassen darauf schließen, dass er zu dieser Zeit mit der radikal antirepublikanischen Haltung weiter Kreise der Deutschnationalen konform ging: Während der Berliner Märzunruhen lobte Walter Eucken Gustav Noske für dessen schneidiges Auftreten (Brief an die Mutter vom 11.3.1919), lehnte den Vertrag von Versailles ab, äußerte mehrfach den Wunsch nach Revanche und die Hoffnung, bald wieder zu den Waffen greifen zu können (Briefe an die Mutter vom 27.3., 11.5. und 24.6.1919).20 Damit „Ruhe im Lande bleibt", meldete er sich schließlich „zeitfreiwillig" (Brief an die Mutter vom 26.6.1919).21 Möglicherweise waren es die unklaren Vorstellungen der DNVP von der anzustrebenden Wirtschaftsordnung und die Einsicht, daran wenig ändern zu können, die ihn aus der Partei trieben. In der Partei kursierte 1919/20 ein Gemisch aus planwirtschaftlichen Ideen, kartellfreundlichen Auffassungen, Forderungen nach einer christlich und national grundierten Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitern und Unternehmern, und das alles war verbunden mit einem klaren wirtschaftspolitischen Antiliberalismus.22 Während sich die Mitarbeit in der DNVP auf sporadische Aktionen beschränkte, engagierte sich Eucken zeitweilig für den Bremer Bürgerausschuss. Die in den nachrevolutionären Unruhen gegründeten Bürgerausschüsse waren bürgerliche Antipoden zu den Räten der Arbeiter und Soldaten. Mit ihnen reagierte das Bürgertum in vielen deutschen Städten auf die antibürgerlichen Angriffe und Putschversuche. Der eher liberal orientierte Bremer Bürgerausschuss, der als Reaktion auf die Bremer Räterepublik entstanden war, umspannte parteipolitisch ein Spektrum, das von der DVP bis zur rechten Flügel der Sozialdemokratie reichte und in dem die DNVP keine Rolle spielte.23 Die Briefe an seine Mutter geben Auskunft über diese in der Literatur kaum beachtete Episode. Vermittelt wurde diese Tätigkeit offenbar durch Euchens Doktorvater Hermann Schumacher.24 Der Bremer Bürgerausschuss beauftragte Eucken, als Vertreter der Hansestadt am 9. März 1919 am Reichsbürgertag in Leipzig teilzunehmen (Briefe vom 28.2.1919 und 3.3.1919). Am 10. und 11. Mai 1919 beteiligte sich Eucken an den Sit19 Alexander Rüstow spricht in einem Brief vom 15.10.1925 an Laura Pomau vom „deutschnationalen Professor Walter Eucken" (BArch N 1169/18, Bl. 187). 20 Am 24.6.1919, einen Tag nach der Billigung der bedingungslosen Unterzeichnung des Versailler Vertrages durch die Nationalversammlung, schrieb Eucken an seine Mutter: „Nun ist also dieses traurige Dokument angenommen. Fast so traurig, wie die Revolution." Zu den Debatten um den Vertrag von Versailles vgl. Lorenz (2008). 21 Zu Euckens „Wehrfreiwilligkeit" vgl. auch den Brief des mit Eucken gut befreundeten Historikers Gerhard Ritter an Winfried Martin vom 23.11.1965 (Schwabe und Reichardt 1984, S. 613). 22 Obwohl es einige ausgezeichnete Arbeiten zur DNVP - für die Frühphase vgl. vor allem Striesow (1981) und Trippe (1995) - gibt, sind die wirtschaftspolitischen Konzepte dieser Partei noch nicht systematisch untersucht worden. Als repräsentative Quelle für die wirtschaftspolitische Konzeption der DNVP 1919 vgl. Flügge (1919). Flügges Aufsatz ist ein Beitrag zu einem Band, in dem Juristen, Politiker, Historiker und Verwaltungsfachmänner, die der DNVP angehören oder ihr nahe stehen, einen Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung vorlegen. 23 Zu den Bürgerausschüssen vgl. Bieber (1992). Bieber geht an vielen Stellen auf den Bremer Ausschuss ein. 24 „Die Bremer Sache wird erst endgültig entschieden, wenn Schumacher dort war. Er reist in nächster Woche hin." (Brief vom 18.2.1919)

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zungen des Präsidialbeirates der Bürgerausschüsse in Berlin (Brief vom 11.5.1919). Durch die Ereignisse in Versailles rückte die „Rätefrage" etwas in den Hintergrund (Brief vom 24.6.1919) und scheint bald darauf ganz aus Euckens Blickfeld geraten zu sein. Sie wird danach nur noch einmal kurz berührt (Brief vom 11.8.1919). Nachdem sich die politischen Wogen etwas geglättet hatten, begann auch Eucken im Lager seiner politischen Gegner zu differenzieren. Marxisten lehnte er weiterhin ab, befand jedoch, dass man ruhig Sozialist sein könne (Brief an die Mutter vom 27.3.1922). Mit dem „Mehrheitssozialisten" Paul Hermberg (Brief an die Mutter vom 1.4.1919) war Eucken zu Beginn der 1920er Jahre befreundet (Brief vom 31.3.1922). Euckens politischer Enthusiasmus versiegte schon Anfang der 1920er Jahre; die Suche nach Mitteln zur geistigen Erneuerung verdrängte das permanente Nachdenken über politische Umwälzungen. Die chauvinistischen Töne verschwanden zunehmend, philosophisch-weltanschauliche Überlegungen nahmen deren Platz ein. Eucken ging es nun nicht mehr um eine Änderung des politischen Systems durch Parteien oder paramilitärische Kampfverbände.

III. Walter Eucken in den weltanschaulichen, politischen und wirtschaftspolitischen Debatten der Weimarer Republik (1922-1931) 1. Walter Eucken und der Euckenbund Mit dem Euckenbund25 und auf der Grundlage der Ideen seines Vaters sollte eine „Gesamtumwälzung" angestrebt werden. Diese „höchst revolutionäre Aufgabe" sei kein nationales Anliegen, der Bund kein nationaler Verein (Brief an die Mutter vom 20.6.1926). Der im Herbst 1919 unter aktiver Beteiligung von Walter Eucken gegründete Bund war eine der vielen weltanschaulich ausgerichteten Vereinigungen, in denen und mit denen das deutsche Bildungsbürgertum auf die sich nach dem Ersten Weltkrieg verstärkende kulturelle und politische Orientierungslosigkeit reagierte. Von anderen Gruppierungen aus dem breiten Spektrum weltanschaulicher Vereine unterschied sich der Euckenbund durch seinen geistigen Bezug auf den deutschen Idealismus. Das war zwar kaum noch der Idealismus der klassischen Epoche, sondern ein vor allem von Rudolf Eucken hergestelltes Konstrukt aus abgeschliffenen Versatzstücken von Luther, Kant, Hegel, Fichte und Goethe', es war aber doch ein Idealismus des geistigen Lebens und keine irrationalistische Lebensphilosophie.26 In Rudolf Euckens Ideengemenge glaubten seine Anhänger ein Reich idealer Wahrheiten und Normen zu besitzen, auf deren Basis die Erneuerung des Lebens gelingen könnte. Rudolf Euckens Wort war das Gesetz des Bundes. Die stärkste Anziehungskraft übte der Euckenbund in den frühen 20er Jahren

25 Zum Euckenbund und zur Rolle Walter Euckens in ihm vgl. Dathe und Goldschmidt (2003, S. 57-63). 26 Rudolf Eucken durchlief eine Entwicklung, die ihm innerhalb der deutschen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts eine einzigartige Stellung zuweist. Er begann seine Laufbahn als streng wissenschaftlicher Philosoph, wurde aber nach der Jahrhundertwende mehr und mehr zu einem populären Weltanschauungsautor. Vgl. Dathe (2007).

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aus. Auf dem Gipfelpunkt der Inflation erreichte er seinen höchsten Mitgliederstand (1922/23 ca. 2500 Mitglieder). Der Euckenbund und seine Zeitschrift (1920 bis 1924 Der Euckenbund. Nachrichtenblatt fiir die Mitglieder des Euckenbundes, Januar bis März 1925 Der Euckenbund. Organ fiir ethischen Aktivismus, ab April 1925 Die Tatwelt. Zeitschrift fiir Erneuerung des Geisteslebens) gerieten 1924/25 in eine ernste Krise. In jenen Jahren begannen sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren, und so fanden immer mehr Sinnsucher Halt in der äußeren Realität. Bünde, die inneren Halt und weltanschauliche Orientierung versprachen, gerieten zeitweilig aus der Mode. Der Euckenbund verlor Mitglieder, die Zeitschrift Leser. Für die Krise des Bundes machte Walter Eucken nicht nur die politische und wirtschaftliche Stabilisierung verantwortlich, sondern vor allem die Bundesleitung. Die Zeitschrift sei zu einseitig, als bloßes Nachrichtenblatt für die Mitglieder erreiche sie weder die geistigen noch die wirtschaftlichen Eliten. Und der Bund habe eine falsche Richtung eingeschlagen. „Er hat ja eine völlig ethische Richtung. Ich habe das immer und immer bekämpft, ohne bei Euch Verständnis zu finden. Was ist die Folge? Einige Leute setzen sich zusammen, die sich gegenseitig erzählen, man solle anständig sein. Wer das tut, ist meist nicht anständig, denn von solchen Dingen spricht man nicht. [...] Solange der Bund nicht eine metaphysisch-religiöse Bewegung wird, wird nichts daraus, schadet nur der Verbreitung von Vaters Ideen." (Brief an die Mutter vom 27.1.1925, ThULB, Nachlass Eucken VI, 1) Den individualethischen Weg zur Lösung der Krise lehnte er scharf ab - sich gegenseitig der eigenen Anständigkeit zu versichern und ab und zu, wie in den Ortsgruppen des Euckenbundes praktiziert, vor Buchhandlungen und Kinos gegen die Massenkultur zu protestieren, zeige, dass es den Protagonisten am Einblick in grundlegende Zusammenhänge fehlt. Demgegenüber forderte Walter Eucken eine metaphysisch-religiöse Besinnung als Bedingung geistigen Eingreifens in die Gesellschaft. Er wollte mit dem Bund geistig wirken, die Fühlungnahme zu rein politischen Verbänden und Zeitschriften lehnte er strikt ab, da „wir natürlich nicht ins politische Fahrwasser kommen dürfen".27 Um den Einfluss des Euckenbundes zu heben, übernahmen Walter Eucken und seine Frau Edith Eucken ab 1925 die inhaltliche Verantwortung für die Tatwelt und nahmen Einfluss auf die Gestaltung der alljährlich stattfindenden Jahreshauptversammlung. Walter Eucken konnte nicht nur wichtige Autoren gewinnen28, sondern publizierte ab 1925 selbst regelmäßig in der Tatwelt. Unter der redaktionellen Leitung des Ehepaares Eucken hatte die Zeitschrift von 1925 bis 1934 drei Schwerpunkte: Erläuterungen zur Philosophie Rudolf Euckens - Auseinandersetzung mit konkurrierenden Angeboten auf dem bunten Markt der Weltanschauungen - Überblick über wichtige Tendenzen auf dem Gebiet der geistigen Erneuerung des Lebens.

27 Walter Eucken an das Sekretariat des Euckenbundes, Januar 1925 (ThULB, Nachlass Eucken VI, 1). 28 Unter der redaktionellen Leitung von Edith Eucken (1925-1934) publizierten in der Tatwelt u.a.: Ludwig Aschoff, Bruno Bauch, Erich Becher, Isaak Benrubi, Nikolai Berdjajew, Fritz Freiherr Marschall von Bieberstein, Franz Böhm, Hermann Buddensieg, Carsun Chang, Julius Ebbinghaus, Carl August Emge, Eugen Fink, Semen Frank, Dietrich Gerhard, Hans Gestrich, Hermann Glockner, Edmund Husserl, Karl Joël, Edgar Jung, Richard Kroner, Hans Leisegang, Arthur Liebert, Hans Hermann, Friedrich Lutz, Otto Most, Francesco Orestano, Hans Pöhlmann, Gerhard Ritter, Oscar A. H. Schmitz, Theodor Siegfried, Fedor Stepun, Georg Stieler, Georg Wehrung, Erik Wolf, Emil Utitz.

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Wie stark sich Walter Eucken aus dem geistigen Klima des von ihm mitbegründeten Bundes beireite, wird deutlich, wenn wir vor einer Analyse seiner Beiträge für die Tatwelt einen Blick auf die Einstellung des Bundes zu Fragen der Wirtschaftsordnung zu Beginn der 1920er Jahre werfen. Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung gehörten auch bis 1925 zu den ständigen Themen des Euckenbundes. Außer Rudolf Eucken, der auch auf diesem Gebiet die Leitlinien formulierte, und in seinen Beiträgen für eine moralisch fundierte Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern eintrat, Berufsstände als Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft forderte und für einen Interventionsstaat plädierte, zu dessen Aufgaben es u. a. gehöre, Unternehmen auf die „Hebung des gemeinsamen geistigen Wohles der Menschen" zu verpflichten (R. Eucken 1925, S. 386), meldeten sich auf Tagungen, in Broschüren und in der Zeitschrift neben Postsekretären und pensionierten Offizieren auch ausgebildete Ökonomen {Irmgard Feig), Versicherungsdirektoren (Diedrich Bischoff), Wirtschaftsjournalisten (Felix Kuh), Juristen und Pfarrer zu Wort. Alle diese Autoren kritisierten den Wettbewerb als Ordnungsprinzip, sahen in ihm nur ein Prinzip, das die Gemeinschaft zerstöre; sie traten gegen den Eigennutz auf und für gemeinnützliches Wirtschaften ein, forderten eine gemeinsame geistige Orientierung von Unternehmern und Arbeitern. Wenn sie allgemein über Wirtschaft sprachen, betonten sie, dass diese den Geist gefährde und das Leben entleere. Ihnen schwebte ein Wirtschaftssystem vor, in dem Kartelle den Wettbewerb zügelten, wo der Staat mit Interventionen eingreift und alle Konflikte regelt.

2. Euckens Auseinandersetzung mit dem Sozialismus Als dem Nationalökonomen des Euckenbundes oblag Walter Eucken die Auseinandersetzung mit Auffassungen, die ihr weltanschauliches Orientierungsangebot mit Vorschlägen zur Lösung der sozialen Frage verbunden haben. Diese Verbindung trat besonders klar in den verschiedenen Strömungen des „modernen Sozialismus" zutage. Für Eucken war der Sozialismus nicht nur ein in der Arbeiterschaft und großen Teilen der gebildeten Jugend verbreitetes weltanschauliches Orientierungsangebot, sondern auch eine Bewegung, die, weil sie die Gleichheitsidee in allen Fragen der Wirtschaft, des Rechts, der Bildung und der Politik ins Zentrum rückte, die „Gesamtströmung der Zeit" für sich hat (Eucken 1927b, S. 128). Und mit der Kritik des Sozialismus sollte auch ein Beitrag zur Kritik der Gleichheitsideologie geleistet werden. Im Einzelnen befasste sich Eucken mit den religiösen Sozialisten (am Beispiel des Theologen Theodor Siegfried) und den Jungsozialisten (am Beispiel des Juristen Gustav Radbruch). Trotz ihrer Versuche, den originären, nach Walter Eucken strikt rationalistisch-naturalistischen Marxismus, der keine Ethik habe, moralphilosophisch, religiös oder gar mystisch zu ergänzen, blieben sie in ihrer Krisendeutung orthodox marxistisch - sie deuteten die Krise der Gegenwart im Kern als eine wirtschaftlich-soziale Krise und erhofften sich von der Aufhebung der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung auch eine Lösung der geistigen Krise. Den modernen Sozialisten hält Eucken entgegen, dass die Krise der Gegenwart im Kern eine geistige Krise sei und nur mit einer radikalen geistigen Neuorientierung gelöst werden könne. Aber auch die entgegengesetzte Position, die vor allem in vielen Weltanschauungsbünden vertreten wurde, ist für Eucken nicht haltbar. In fast allen diesen Bünden hoffte man, dass mit einer neuen Weltanschauungskultur der Inner-

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lichkeit der Geist des Kapitalismus, der sich besonders deutlich in solchen Erscheinungen wie dem Streben nach Eigennutz und dem Wettbewerb manifestiere, verschwinde und dass dieses Verschwinden langfristig auch zur Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise führe. Eucken trifft sich mit allen von ihm kritisierten Auffassungen an dem Punkt, dass auch er davon ausgeht, dass der Kapitalismus die geistige Krise mit verursacht habe. Dennoch, so Eucken, müsse eine Lösung dieser Krise bei Bestehen und Entwicklung des Kapitalismus gefunden werden. Die kapitalistische Wirtschaftsweise sei notwendig, da ohne sie in der modernen Welt keine ausreichende Güterversorgung möglich sei. Gegen eine Wiederbelebung vormoderner Wirtschaftsformen, die in vielen Lebensreformbünden der Weimarer Republik gefordert wurde, spräche allein schon die nüchterne Tatsache, dass heute weitaus mehr Menschen versorgt werden müssten als in der Zeit vor der industriellen Revolution.29 Und gegen die Hoffnung, dass eine Planwirtschaft zu einer weniger entfremdeten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung führen könne, bringt Eucken Mitte der 1920er Jahre bei aller Kritik an Ludwig Mises' extremem methodischen und ethischen Individualismus doch dessen Argumente gegen eine Gemeinwirtschaft ins Spiel (keine Kostenrechnung, keine Knappheitsmessung, keine Orientierung über Ressourcen und Bedürfnisse). Euckens Beiträge zur Kritik zeitgenössischer Strömungen des Sozialismus sind wichtige Schritte auf dem Wege zur Ausbildung liberaler Positionen. In ihnen setzt er sich intensiv mit dem marxistischen Konzept der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwangsläufigkeit auseinander. Die Kritik an diesem Konzept wird er immer weiter ausbauen, und in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik in einem eigenen Kapitel ausführlich darstellen. {Eucken 1952/1990, S. 200-212) Eines seiner Hauptargumente gegen das Zwangsläufigkeitsdogma ist ab Mitte der 1920er Jahre der Gedanke, dass die Akzeptanz zwangsläufiger Geschichtsgesetze mit der Opferung der Persönlichkeit verbunden ist. Dort, wo Geschichtsgesetze herrschen, habe das Individuum keine Entfaltungsmöglichkeiten. Die Bedeutung eines geschützten Raumes für die individuelle Persönlichkeit ist für Eucken bereits Mitte der 1920er Jahre so wichtig, dass er einem seiner wichtigsten Gewährsmänner bei der Kritik des Sozialismus, dem russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski, nur ein Stück weit folgen kann, weil dieser bei allem Scharfsinn in der Kritik der Marx'sehen Lehre dem Marxismus mit der orthodox-christlichen eine andere Gemeinschaftsideologie entgegensetzt. „Wir müssen allerdings zu Dostojewski eine verschiedene Stellung einnehmen, je nachdem wir sein positives Ideal oder seine Kritik der Zeit und des Marxismus betrachten. Sein Ideal können wir bei voller Anerkennung seiner Bedeutung letzten Endes nicht zu dem unsrigen machen. Das Verschwinden der Persönlichkeit im Ganzen, in der Weise, wie Dostojewski es will, können wir nicht erstreben." (Eucken 1925a, S. 23) Kritisiert werden von Eucken außer der marxistischen Gleichheitsideologie auch naturalistische und völkische Gemeinschaftsutopien.30 In der verbreiteten Gemeinschaftssehnsucht seiner Zeit sieht Eucken ein Zeichen, sich völlig unpersönlichen Mächten wie dem Volk oder einer naturalistisch fundierten Gemeinschaftsordnung hinzugeben und so als Einzelner im Ganzen aufzugehen. Eucken, der trotz seiner Kritik linker und rechter Vorstellungen von Gemeinschaft an der väterlichen Doktrin, dass der Mensch der Gegenwart als vereinzeltes Individuum orien29 Vgl. dazu vor allem Eucken (1926a). 30 Vgl. Eucken (1927a, S. 48) und Eucken (1927b, S. 130) sowie den Brief an die Mutter vom 31.7.1927.

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tierungslos bleibe, festhält, setzt Mitte der 1920er Jahre dem „Idol der Gemeinschaft" (Helmuth Plessner) das Ideal des Bundes entgegen. Anders als die persönlichkeitsfremde Gemeinschaft ist der Bund an die Voraussetzung direkter persönlicher Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern geknüpft. Obwohl Euckens wirtschaftspolitischer Sachverstand in allen Beiträgen zur Kritik des Sozialismus zu spüren ist, sagt er von sich selbst, dass er den Sozialismus auch als Philosoph und wissenschaftlicher Nationalökonom kritisiere. Damit ist nicht nur die Nähe zur väterlichen Lebensphilosophie angedeutet, sondern auch ein Standpunkt über den im Wirtschaftsleben streitenden Parteien gekennzeichnet und das Objektivitätsideal der Wissenschaft hervorgehoben. Die Kritik am wirtschaftsrevolutionären Programm des Marxismus als „Abwehr aller der Kreise, die im bestehenden Wirtschaftssystem ein lohnendes Auskommen finden", sei begreiflich. „Grade weil aber eine Kritik der Interessenten nichts weiter als ein selbstverständliches Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse ist, wird der Philosoph es vermeiden, sie allzu hoch einzuschätzen." Und geradezu unerträglich findet es Eucken, „wenn derartige Interessenten zur Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Macht das Christentum oder den nationalen Gedanken missbrauchen". (Eucken 1925a, S. 13 f.)

3. Frühe Einblicke in wirtschaftliche Machtkämpfe Weltanschauungsphilosoph war Walter Eucken Mitte der 1920er Jahre nur im Nebenamt. Von 1921 bis 1924 war er als stellvertretender Syndikus der Fachgruppe Textil des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) angestellt, publizierte zu geldtheoretischen und währungspolitischen Themen und lehrte bis 1925 als Privatdozent an der Berliner Universität. Zu Beginn des Wintersemesters 1925/26 wurde er auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie an die Universität Tübingen berufen, wechselte aber schon zwei Jahre später nach Freiburg, wo er bis zu seinem Lebensende lehrte. Über seine Tätigkeit in der Fachgruppe Textil ist kaum etwas bekannt.31 Eine Bemerkung aus den Grundlagen der Nationalökonomie (1940) deutet aber daraufhin, dass die Arbeit in diesem Industrieverband für die Entwicklung von Euckens theoretischen, wirtschaftspolitischen und staatstheoretischen Ansichten prägend war. Zwei Dinge, so Eucken, seien erforderlich, um als Nationalökonom „das Phänomen der wirtschaftlichen Macht" zu erkennen. „Zum ersten muß der Nationalökonom selbst wirtschaftliche Macht kennengelernt haben. Er braucht die Anschauung und das Erleben von Machtkämpfen. [...] Dazu kommt ein zweites Erfordernis: Das ist die Anwendung des Apparats von morphologischen und theoretischen Sätzen auf die konkrete geschichtliche Situation." (Eucken 1940/1989, S. 197 f.).

Dass Walter Eucken als Syndikus tiefe Einblicke in die von wirtschaftlichen Machtgruppen erzeugten Strukturen und die gesellschaftlichen Auswirkungen wirtschaftlicher Machtkämpfe erhielt, bezeugt ein Brief vom 23. Februar 1943 an Franz Böhm :

31 Das Archiv der RDI-Geschäftsführung ist im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, Arbeiten zur Fachgruppe Textil sind noch nicht erschienen. In der umfangreichsten Monographie zum RDI, WolffRohe (2001), wird die Fachgruppe Textil nur gestreift.

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„Sie sprachen einmal davon, dass nach Äusserung eines Ihrer Bekannten der Wettbewerb den großen Fehler habe, eine .soziale Kälte' zu verbreiten. Nachträglich scheint mir, dass ich dieser Ansicht zu viele Konzessionen gemacht habe. - Neulich hat hier ein hervorragender Landwirt, Dr. Franck, gesprochen. Im Anschluss daran fand eine Diskussion statt und aus ihr wurde wiederum klar, wie eng die Beziehungen der Landwirte gewesen sind, solange Wettbewerb herrschte. [...] Die persönlichen Beziehungen sind im Wettbewerb deshalb durch wirtschaftliche Faktoren nicht gestört, weil sich ja die Preisbildung auf einem anonymen Markt vollzieht u. weil eine Preissenkung nicht einem einzelnen zugerechnet wird, sondern dem Markt. Es findet kein Kampf Mann gegen Mann, oder Landgut gegen Landgut oder auch Landgut gegen Händler statt. Ihr Bekannter hat, glaube ich, den vollständigen Wettbewerb verwechselt mit oligopolischen oder monopolistischen Marktformen, wo der wirtschaftliche Kampf, da er persönlich geführt wird, auch zu persönlichen Gegensätzen führt. Noch stärker gilt dies für die Zentralverwaltungswirtschaft. Man darf nicht sagen, dass das nur für das Land richtig ist. Ich erinnere mich z. B. noch sehr genau aus meiner Tätigkeit in der Textilindustrie, dass die persönlichen Beziehungen der Weber untereinander u. mit ihren Abnehmern viel freundschaftlicher, angenehmer und wärmer waren, als die Beziehungen der Spinner untereinander und mit ihren Abnehmern. Damals konnte ich mir diesen Tatbestand nie erklären. Jetzt sehe ich, worin der Grund lag. In der Weberei herrschte Konkurrenz, in der Spinnerei Oligopol, bezw. Teilmonopol." 32

Für die Auseinandersetzung mit den Kartellfragen, die die Textilindustrie betrafen, war Eucken bestens vorbereitet, hatte er sich doch mit wesentlichen Aspekten der Kartellfrage schon in seiner Dissertation und Habilitation beschäftigt. Während die Habilitationsschrift vor allem empirisches Material ausbreitet, finden wir in der Dissertation (Eucken 1914) sowohl Ansätze zu einer systematischen Durchdringung des erhobenen Tatsachenmaterials als auch Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Staat und den Kartellen.33 Anders als in der Sekundärliteratur oft angedeutet, wurde vor allem die Dissertation von Eucken selbst geschätzt. In einem Brief an Rüstow vom 2. August 192734 bemerkt Eucken, dass er bei seinen Arbeiten über die Verbandsbildung in der Seeschifffahrt sowohl viel „ausländisches Material" verarbeitet als auch „mit einer ganzen Reihe englischer Interessenten Rücksprache genommen" habe. Sofort sei es ihm „aufgefallen, dass man nirgends der Kartellbildung so kritiklos zustimmend gegenübersteht wie in Deutschland".

4. Walter Eucken und die wirtschaftspolitischen Debatten 1925-1931 Kartellfragen bestimmten auch den Briefwechsel mit Alexander Rüstow. Die RüstowEucken-Korrespondenz ist im Nachlass Rüstow überliefert und setzt mit einem Schreiben Euckens vom Dezember 1924 ein.35 Ausgewertet wurde dieser Briefwechsel bislang von Krohn (1981), Lenel (1991), Meier-Rust (1993), Janssen (1998), Janssen (2009), wobei diese Autoren nur die Briefe ab 1928 berücksichtigen. Unzählige Briefe Rüstows an Eucken und einige Durchschläge der Gegenbriefe Euckens befinden sich auch im Walter-Eucken-Nachlass in Frankfurt am Main und Freiburg. Für Eucken waren die meisten Briefe Rüstows unmittelbare Arbeitsmaterialien - das zeigt deren Verteilung in seinem Nachlass. Einige Briefe hat Eucken in Korrespondenzmappen einsortiert; sie befinden sich heute im Korrespondenzschrank in Frankfurt. Eine Grobsichtung

32 Walter Eucken an Franz Böhm, 23.2.1943 (Durchschlag), Walter-Eucken-Archiv Frankfurt/M. 33 Zu Euckens Dissertation vgl. Broyer (2006, S. 110-113), zur Kartelldiskussion in der deutschen Nationalökonomie vor 1914 vgl. Pohl (2005). 34 BArchN 1169/17, Bl. 281-282. 35 Einzelne Briefe Rüstows an Eucken aus der Zeit vor Ende 1924 liegen im Nachlass Walter Euckens (Teilnachlass in Freiburg).

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des Nachlasses im Mai und Dezember 2006 ergab jedoch, dass Eucken die weitaus meisten Briefe Rüstows ebenso wie die von Hans Gestrick in seinen Arbeitsmappen abgelegt hat, sie wurden also von Eucken selbst thematisch sortiert. Rüstow und Eucken hatten sich im Ersten Weltkrieg kennengelernt - vgl. Euckens Erinnerung an das erste Treffen auf einer Postkarte an Rüstow vom 23. Januar 193236 und sich nach Kriegsende in Berlin wiedergetroffen. Dass der kontinuierliche Briefwechsel erst 1924 einsetzt, mag darin begründet sein, dass sich Eucken und Rüstow bis dahin regelmäßig trafen. Auf solche Treffen deuten mehrere Briefstellen beider Autoren hin, in denen Erinnerungen an fruchtbare Gespräche ausgetauscht werden. Die Fragen der Beziehung Eucken-Rüstow, die in der Literatur bereits behandelt wurden, blenden wir aus. Das betrifft vor allem die Bildimg einer theoretischen Gruppe im Verein für Socialpolitik und die damit zusammenhängenden Diskussionen unter den deutschen Ricardianern37. Auffallend ist bei dem Briefwechsel, dass er sehr sachlich-kollegial ist, aber längst nicht die emotional-freundschaftliche Note aufweist, die Rüstows Korrespondenzen mit Adolf Löwe, Eduard Heimann, Arnold Wolfers, Gerhard Colm auszeichnet. In zahlreichen Briefen informierte Rüstow, der 1924 vom Reichswirtschaftsministerium als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung zum Verein Deutscher MaschinenBauanstalten (VDMA) gewechselt war, den Briefpartner darüber, wie stark die im VDMA zusammengeschlossenen Unternehmen unter der Macht von Kartellen der eisenverarbeitenden und rohstofferzeugenden Industrie litten. Rüstow versorgte Eucken mit statistischem Material, mit authentischen Eindrücken von den schwierigen Verhandlungen zwischen Unternehmen des Maschinenbaus und der Montanindustrie sowie mit Nachrichten über den politischen und publizistischen Einfluss der Schwerindustrie. Von besonderer Bedeutung sind hier Rüstows Briefwechsel 1926/27 mit Paul Legers vom Gesamtverband der Deutschen Werkzeugindustrie38 und Arthur Feiler, Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Zeitung und exzellenter Kenner der Industrieverbände39. Beide Briefpartner Rüstows legten ihren Briefen gelegentlich auch Briefe bei, die sie untereinander gewechselt hatten. Legers unterrichtete Rüstow und Feiler ausfuhrlich über Machtbildungen in der Eisenindustrie und deren Einfluss auf Politik und Presse. In Legers' Briefen ist wiederholt die Rede von der Machtpolitik der Schwerindustrie, die „die freie Entwicklung geistiger und wirtschaftlich bedeutsamster Kräfte hemmt".40 Feiler, Legers und Rüstow tauschten sich über den Einfluss auf die Presse, die Abhängigkeitsverhältnisse der kaufmännischen und technischen Oberbeamten und den Einfluss auf die Personalpolitik der Hochschulen aus. Rüstows Kenntnisse aus diesen Briefen flössen in seine Schreiben an Eucken ein.

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BArchN 1169/2, Bl. 86. Vgl. dazu vor allem Janssen (1998, S. 20-38). BArchN 1169/18,Bl. 13-84. BArch N 1169/17, Bl. 375-399, vgl. auch die Korrespondenz zwischen Rüstow und Feiler 1928/29, BArch N 1169/20, Bl. 369-439. 40 Besonders aufschlussreich ist der Brief von Legers an Feiler vom 9.4.1927, der als Kopie auch an Rüstow ging und dem das Zitat entnommen ist (BArch N 1169/17, Bl. 378-381).

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Neben dem Kartellproblem spielten zollpolitische Fragen und der Zusammenhang zwischen Zollpolitik und Kartellbildung, Fragen der Geldtheorie und Geldpolitik41 sowie die Politik des Präsidenten der Reichsbank, Hjalmar Schacht, eine besondere Rolle im Briefwechsel zwischen Eucken und Rüstow. Da Euckens Weg zu liberalen Positionen in Bezug auf die Zollpolitik besonders klar nachgezeichnet werden kann, konzentrieren wird uns hier darauf.42 Nicht nur in Briefen, sondern auch in zahlreichen publizistischen Beiträgen traten Eucken und Rüstow ab 1925 für einen umfassenden Freihandel und gegen alle Arten von Schutzzöllen auf. Ihr Interesse für die Zollpolitik hatte eine deutlich erkennbare Ursache. Nachdem in Deutschland Anfang des Jahres 1925 wieder die Voraussetzungen für eine selbständige Handelspolitik hergestellt waren, begannen die Vorbereitungen für ein neues Zolltarifgesetz. Vor allem die Großlandwirtschaft und die Schwerindustrie und deren politische Vertreter - in erster Linie Politiker der DNVP - traten für einen umfassenden Protektionismus ein.43 Die Schutzzollfrage war Eucken und Rüstow so wichtig, dass sie Mitte der 1920er Jahre die politischen Kräfte vor allem auf der Grundlage von deren Einstellung zum Schutzzoll beurteilen. In den Briefen wird immer wieder über die große Koalition der Schutzzöllner geklagt. Die DNVP sei klar für Zölle (Rüstow an Eucken 9.7.1925)44, habe die DVP erpresst. Die DDP biete in der Zollfrage „wieder das gewohnte klägliche Bild". Eine der Ursachen sieht Rüstow darin, „dass sie sich immer noch als Partei der freisinnigen Intellektuellen fühlt und von da aus nicht recht wagt, in reinen Wirtschaftsfragen entschieden Partei zu machen". (Rüstow an Eucken 1.7.1925) Und Eucken fasst die Haltung der „Linksparteien in der Schutzzollfrage" zusammen. Diese schädigten durch ihre Schutzzollpolitik „die vitalsten Interessen der Arbeiter". Und in der Tendenz führe das dazu, „dass Gewerkschaften und Rechtssozialisten sich für den Schutz der nationalen Arbeit einsetzen". {Eucken an Rüstow 29.6.1925) Seine Analysen wirtschaftspolitischer Aussagen lassen Eucken erkennen, dass auch im linken politischen Lager unter dem rhetorischen Mantel des Internationalismus ein handfester wirtschaftlicher Nationalismus verborgen ist. Von Rüstow aufgefordert, bezieht Eucken in Zeitungsartikeln Stellung zur Schutzzollfrage. Er bietet sein Plädoyer für den Freihandel der Deutschen Allgemeinen Zeitung an45, in der er

41 Vgl. dazu Folz (1970). 42 Nur am Rande können wir Euckens Einstellung zu Schacht berühren. Teilte er anfangs dessen auf die Währungsstabilität abzielende Politik, so entwickelte er sich nach 1927 zu einem der schärfsten Kritiker Schachts. Gegen die weitverbreitete Hochschätzung des Reichsbankpräsidenten von der SPD bis zur DNVP wegen dessen Plan, eine Transferkrise heraufzubeschwören und somit als eine Art nicht legitimierter Außenpolitiker die gesamte Außenwirtschaftspolitik des Reichs zu beeinflussen, warnten Eucken, Rüstow und Röpke im Interesse der exportorientierten Industrien vor einer Währungs- und Reparationspolitik, die zur Verschärfung der Konflikte mit den Westmächten fuhren musste. In den Auseinandersetzungen zwischen Schacht und Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding (SPD) über die Transferzahlungen ergriff Eucken Partei für den Sozialdemokraten! (Vgl. Eucken an Rüstow 2.8.1928. BArch N 1169/2, Bl. 324-325) Zur Reparationspolitik Schachts vgl. Houwink ten Cate (1987); zur Kritik liberaler Ökonomen am „rigorosen währungspolitischen Nationalismus" Schachts vgl. Schüller (2003, S. 28-30, Zitat S. 30), zum Kontext der Reparationsfrage vgl. Ritsehl (2002). 43 Zur deutschen Zoll- und Handelspolitik 1924-1929 vgl. Stegmann (1977); zur Schutzzollpolitik der Agrarverbände und der DNVP vgl. Merkenich (1998, S. 195-217). 44 Da der Briefwechsel der Jahre 1925-1927, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Konvolut BArch N 1169/17 gehört, zitieren wir die einzelnen Briefe hier nur mit der Angabe des Datums. 45 Die Deutsche Allgemeine Zeitung gehörte Hugo Stinnes. Im Unterschied zu der ab 1922 ebenfalls zum Stinnes-Konzern gehörenden Täglichen Rundschau, einem innenpolitisch bewusst stark rechten Blatt

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1923 CEucken 1923) und 1924 {Eucken 1924) zur Währungspolitik publiziert hatte, muss Rüstow aber mitteilen, dass es schwierig sei, den Artikel dort unterzubringen (Eucken an Rüstow 15.7.1925 und 3.8.192546). Für Eucken wiederholt sich hier eine Erfahrung mit der Rechtspresse. Schon im Februar 1925 war er mit einem „handelspolitischen Aufsatz" an die DAZ herangetreten (Eucken an Rüstow 23.2.1925), stieß bei der Redaktion aber auf Unverständnis und musste Rüstow schließlich mitteilen: „Die D.A.Z. hat ihn bezeichnenderweise abgelehnt." (Eucken an Rüstow 7.4.1925) Rüstow kommentierte Euckens Schwierigkeiten, Abnehmer für seine Zeitungsartikel zu finden lapidar: „Nun sind Sie ja in der etwas komischen Lage, dass die Zeitungen, für die Sie schreiben wollen, Ihre Sachen nicht nehmen und dass Sie für die Zeitungen, die Ihre Sachen nehmen, nicht schreiben wollen." (Rüstow an Eucken 9.7.1925) Einer der einflussreichsten außenpolitischen Kommentartoren der Weimarer Republik, Paul Rohrbach, gab Eucken in seiner Zeitschrift „Der Deutsche Gedanke"47 ein Forum für dessen handelspolitische Vorstellungen (Eucken 1925b). Eucken erinnerte an die Stuttgarter Resolution des Vereins fiir Socialpolitik von 1924, in der festgestellt worden war, dass Deutschland sich die Vorteile des weltwirtschaftlichen Güteraustausches zu eigen machen solle und trat denen entgegen, die „sich nun einmal - schon aus alter Gewohnheit - auf die Politik des .Schutzes der nationalen Arbeit' festgelegt haben". (S. 459) Deutschland, so Eucken, müsse in ferner Zukunft eine aktive Handelsbilanz haben. „Aber die Aktivierung der Handelsbilanz wird niemals mittels Einfuhrdrosselung durch Schutzzölle erreicht werden." (S. 460) Der nationalen Phrase begegnet Eucken mit rationalen Argumenten.48 Von der stärkeren wirtschaftlichen Einbindung Deutschlands in die Weltwirtschaft und der zunehmend engeren Verflechtung mit ausländischen Partnern verspricht er sich einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der binnenwirtschaftlichen Probleme. Die extrem antiliberale und nationalistische, in der Schutzzollfrage offen zutage tretende wirtschaftspolitische Einstellung der DNVP und der dieser Partei

mit antisemitischer und völkischer Ausrichtung, war sie gemäßigt konservativ, vertrat großindustrielle Positionen (auch in der Kartell- und Zollfrage) und lehnte den betonten Antisemitismus der Rundschau ab. Zu beiden Zeitungen vgl. Feldman (1998, S. 774-776). 46 Der Brief vom 3.8.1925 gehört zu BArchN 1169/16, Bl. 147-148. 47 Die 1924 von Rohrbach gegründete Zeitschrift trug den Untertitel Zeitschrift fiir auswärtige Politik, Wirtschaft und Auslandsdeutschtum. Im Jahrgang 1925 veröffentlichten außer Eucken dort u.a. Wilhelm Röpke, Bernhard Harms, Ignaz Jastrow und Hans Delbrück. Der Historiker Friedrich Meinecke ließ seine im Demokratischen Studentenbund zu Berlin gehaltene Rede „Republik, Bürgertum, Jugend" dort erscheinen. Bei aller Kritik an einzelnen Erscheinungen des politischen Lebens der Gegenwart ging es den Beiträgern des Jahres 1925 um eine rationale Analyse institutioneller Bedingungen der Republik. 48 Euckens rationale Einstellung zu brisanten außenpolitischen Fragen, und hier besonders zur Frage der deutsch-französischen Beziehungen, wird aus einer Randbemerkung schlaglichtartig deutlich: Er hatte einen Artikel des Philosophen Isaak Benrubi über die deutsch-französischen Geistesbeziehungen der Gegenwart zu bewerten. Den bei Benrubi durchschimmernden „Pazifismus" lehnte er ab, plädierte aber dennoch für den Abdruck in der Tatwelt, weil in dem Beitrag sehr ausgewogen über die Leistungen der französischen Philosophie informiert werde. (Brief an die Mutter vom 17.8.1925, ThULB, Nachlass Eucken VI, 1). Diese Äußerung passt zu Euckens Wortmeldungen über die deutsche Außenwirtschaftspolitik Mitte der 1920er Jahre. Auch hier sprach er sich vehement gegen den Internationalismus der Pazifisten aus, forderte aber gleichzeitig rein sachliche politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den Westmächten. Einem Revanchismus, wie er von den Gegnern Stresemanns vertreten wurde, redete Eucken nicht das Wort. (Vgl. Briefe an Rüstow vom 23.2.1925, 20.5.1925, 13.6.1925, 18.9.1927-BArchN 1169/17-und vom 10.1.1928 - BArchN 1169/2)

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ideologisch verbundenen Presse führte bei Eucken nach der organisatorischen nun auch zur ideellen Trennung von den Deutschnationalen. Eucken ist über den rechten Antiliberalismus so verbittert, dass er Rüstow gegenüber bekennt, für seine Ansichten nun sogar, wenn auch anonym, in der „Linkspresse" werben zu wollen. (Eucken an Rüstow 15.7.1925) Die Suche nach einer neuen politischen Heimat führte ihn ins liberale Lager. Für die Deutsche Volkspartei warb er erstmals 1926 in der Besprechung einer politischen Rede für die Tatwelt.49 Otto Most, ehemaliger Oberbürgermeister von Duisburg, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel, Reichstagsabgeordneter der DVP und Repräsentant ihres gemäßigten Flügels, hatte 1925 zusammen mit Wilhelm Kahl und Gustav Stresemann den Versuch unternommen, die leitenden Ideen des politischen Liberalismus zusammenzufassen, den Liberalismus gegen Angriffe von allen Seiten zu verteidigen und die Stellung der Partei innerhalb des bürgerlichen Lagers zu bestimmen. Most hatte in seinem Beitrag50 scharfe Grenzen zur Wirtschaftspartei, die einem persönlichkeitszerstörenden wirtschaftlichen Individualismus fröne, zur SPD, zur DDP, zum Zentrum und zu den Konservativen gezogen, die in je unterschiedlicher Art und Weise die freie Persönlichkeit in Gemeinschaften aufgehen ließen. Durch lange ideengeschichtliche und ideologische Exkurse versuchte Most, eine erstrebenswerte politische Ordnung zu skizzieren, in der große, weltanschaulich gefestigte Parteien um die Gunst der Wähler ringen. Im Falle eines Wahlsieges wären sie aufgrund ihrer Größe fähig, ohne Koalitionspartner zu regieren und politische Entscheidungen ohne aufreibende Debatten zu fällen. Den Kern von Euckens Rezension bildet ein Zitat, mit dem er für die Leser der Tatwelt die Frage beantworten will, „was der Liberalismus heute noch zu leisten vermag". Most zitierend führt er aus: „Damals, in vergangenen Jahrzehnten galt es einzutreten für die Freiheit der Persönlichkeit gegenüber den Vorrechten einzelner Stände und gegenüber dem Absolutismus, damals galt es einzutreten für die Einigung des Deutschen Reiches, des ganzen deutschen Volkes. Heute gilt es im Grunde wieder das gleiche; nur die gegnerische Front ist eine andere. Es gilt, die Freiheit der Persönlichkeit zu erkämpfen und zu vertreten gegen die Diktatur der Masse; zu ringen wie einst, um die Neuschaffung des Deutschen Reichs. Heute gilt es wie damals: Rettung der Nation durch Rettung der Persönlichkeit."51 Eucken bekennt seine politische Nähe zu Mösts Konzeption und fordert eben nicht wie die zahlreichen Ideologen der nationalen Gemeinschaft die Rettung der Persönlichkeit durch die Nation! Indem sich der Nationalökonom in der Beurteilung des politischen Lebens und hier besonders in der Partei- und Regierungsauffassung Most anschließt, reiht er sich in den Chor liberaler Stimmen ein, der die „Ersetzung der Persönlichkeit durch die Organisation" (Gustav Stresemann), den Wandel von weltanschaulich gefestigten Gesinnungsparteien zu reinen Interessenvertretungen und das Vordringen parteigebundener egoistischer Gruppeninteressen beklagt.52 Die Entscheidung, Most zu rezensieren, war kein Zufall. Der ver49 Diese Besprechung ist schon deshalb bemerkenswert, weil in der Tatwelt sonst keine Beiträge von Politikern besprochen wurden. 50 Most (1925). Zu dieser Rede vgl. auch die erhellende Analyse von Ludwig Richter (Richter 2002, S. 392-394) sowie die Dokumente in Kolb und Richter (1999, S. 580-593). 51 Eucken (1926b), d. i. wörtliche Übernahme von Most (1925, S. 20). 52 Vgl. Grüner (2002, S. 226-234) mit zahlreichen historischen Belegen und Hinweisen auf die weitere Forschungsliteratur.

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sierte und politisch äußerst einflussreiche Wirtschaftspolitiker war seit seiner Jugend ein Anhänger der Philosophie Rudolf Euckens, trat schon 1921 dem Euckenbund bei, in dem er neben Walter Eucken für liberale Wirtschaftsvorstellungen kämpfte und für den er Mitte / Ende der 1920er Jahre „Wirtschafitsfuhrer zur Förderung der Bundesbestrebungen zu gewinnen" suchte53. Most war mit den Familien Eucken sen. und jun. befreundet54. Aufgrund seiner festen Verwurzelung im politischen und wirtschaftlichen Leben kommt Most Ende der 1920er Jahre zu der Feststellung, dass selbst in bürgerlichen und politisch rechts stehenden Kreisen eine starke Opposition gegen den „Wirtschafitsgedanken", d. h. eine marktwirtschaftliche Ordnung, zu finden sei. Die Hauptursache sieht er in der Zerstörung des Persönlichkeitsideals und in der immer stärkeren Einbindung der Individuen in Verbänden, der Vermassung des Gegenwartsmenschen. Diese Vermassimg, zuerst in Verbänden, dann in der in Italien schon zu beobachtenden „Eingliederung des Einzelnen in die Organisation des Faschismus", sei sowohl auf Seiten der Unternehmer und Selbständigen als auch auf Seiten der Arbeiter zur vorherrschenden Zeittendenz geworden. Der Euckenbund müsse aus moralischen und wirtschaftlichen Gründen gegen Vermassungstendenzen und für Persönlichkeitsbildung eintreten.55

5. Euckens politische Ordnungsvorstellungen Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre Euckens politische Präferenzen und Ordnungsvorstellungen werden vor allem aus einer Briefstelle deutlich. Eucken schreibt Rüstow am 2. August 1928 (BArch N 1169/2, Bl. 324-325) über mögliche Alternativen zu Schacht, geht dabei auch auf den ehemaligen, der DVP nahe stehenden Reichskanzler Hans Luther ein und bemerkt zu diesem: „Luther ist ein sehr ehrgeiziger Mann. Zur Zeit strebt er offenbar die Umgestaltung der Rechten an, was ich natürlich sehr begrüße." Für Krohn steht das Urteil fest - Eucken ordne sich in die Reihe der Republikfeinde ein. (Krohn 1981, S. 119) Luther war aber gar kein Feind der Weimarer Republik, und er zielte mit seinem Versuch, mit dem Bund zur Erneuerung des Reiches eine neue überparteiliche Organisation ins Leben zu rufen, auch gar nicht auf eine Einigung mit den rechtsextremen Kräften, die Weimar bis aufs Blut bekämpften. Luthers Ziel bestand zunächst darin, „die Reichsregierung gegenüber den Ländern zu stärken und für die Abschaffung des Verhältniswahlrechts zu werben". (Richter 2002, S. 477) Luther strebte unter starker Mitwirkung von Spitzenpolitikern der DDP ein Bündnis an, dass von der rechten Sozialdemokratie bis zum „systemimmanenten Konservatismus" (Mergel 2003, S. 323) in der DNVP reichte.56 Der ehemalige Reichskanzler reagierte mit seiner politischen Sammlungsbewegung auf die politische 53 Most (1969, S. 81). 54 Vgl. Otto Most an Edith Eucken vom 3.8.1931, ThULB, Nachlass Eucken V, 4, 1073. Laut Auskunft vom 5.9.2008 befinden sich im Nachlass von Otto Most im Stadtarchiv Duisburg keine Briefe von Angehörigen der Familie Eucken. 55 Vgl. Most (1929). Diesem Beitrag lag ein Vortrag zugrunde, den Most auf der Haupttagung des Euckenbundes am 26.10.1929 in Jena gehalten hatte. 56 Zum Bund zur Erneuerung des Reiches (auch: Lutherbund) vgl. Huber (1984, S. 672-676), Biewer (1980, S. 109-116) und Schulz (1987, S. 307-310); zu Luther und seinem Bund sehr ausführlich und ausgewogen Schulz (1980, S. XXVI-XXIX, XLV-XLVII, L-LI, LXXXIII-LXXXVI).

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Krise der Republik, die mit heutigen Begriffen als Krise der Konkordanz- oder Verhandlungsdemokratie beschrieben wird.57 Luthers Angriff auf das Verhältniswahlrecht und sein Bestreben, einen mehrheitsfähigen Bürgerblock zu formieren bezweckten keine kompromisslose Abschaffung der Weimarer Republik, sondern deren Reform hin zu einer Präsidialrepublik mit einem Parlament, in dem es zwei große Blöcke geben sollte. Euckens Kritik an der Weimarer Republik passt nun genau zu Luthers Vorhaben. 58 Auch er steht den Erscheinungen der Proporzdemokratie äußerst kritisch gegenüber. Ihre Verteidiger bezweckten die Befriedigung sich widersprechender sozialer und wirtschaftlicher Interessen, so dass jede konsequente Wirtschaftspolitik unmöglich werde. Da fast alle im Reichstag vertretenen Parteien stark in Verteilungskonflikte involviert waren, krankte das System daran, dass es versuchte, alle Interessen zufrieden zu stellen. Das Weimarer System ermögliche es so, dass die „versäulten" Gruppen auf diese Weise für ihre jeweiligen Zwecke den Staat ausnutzten und eine klare, auf Mehrheitsentscheidungen basierende Politik verhinderten. Ganz unscheinbar, in den politischen Diskursen schlaglichtartig aber immer wieder hervortretend, lag dem Wunsch nach Allparteienübereinkünften ein „Streben nach klassenübergreifender und vermeintlicher ,Konsenspolitik' im Sinne der Volksgemeinschaft" (Raithel 2005, S. 257) zugrunde. Jeder Schritt hin zu einer mit Konflikten lebenden Mehrheitsdemokratie war unter diesen Umständen ein Schritt zu einem „kompetitiven Grundverständnis" (ebenda) von Politik. Die entschiedene Bekämpfung des Gegners im Rahmen des bestehenden Systems und nicht die gewaltsame Systemzerstörung war es, was Eucken an Luther anzog.59 Die offen antirepublikanischen Kreise der DNVP sowie rechtsextreme Kräfte lehnten den Bund ab, da ihnen dessen Forderungen nicht weit genug gingen und „tatsächlich auf eine ganz unerwünschte Konsolidierung des bestehenden Systems hinauslaufen konnten" (Zollitsch 1999, S. 259 f.). Euckens Verankerung im gegebenen politischen System zeigt auch seine Analyse der rechtlichen Stellung des Präsidenten der Reichsbank. 60 Eucken beschränkt sich hier 57 „Im Gegensatz zur parlamentarischen Wettbewerbsdemokratie nach Westminster-Vorbild ist der Typus der Konkordanzdemokratie durch die Institutionalisierung von Verhandlungs- und Kompromißmechanismen und den weitgehenden Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen gekennzeichnet [...] Dieser proporzdemokratische Konfliktaustrag wirkt der Herausbildung eines Wechselspiels von Regierungsmehrheit und Opposition nach britischem Vorbild geradezu entgegen. Er entwickelt sich in politischen Systemen, in denen die rivalisierenden Gruppen konfessionell, ethnisch oder sozial ,versäult' sind, so daß Mehrheitsentscheidungen keine Akzeptanz finden. An die Stelle von Mehrheitsentscheidungen treten hier in der Tendenz paritätische Allparteienübereinkünfte." (Schönberger 2001, S. 660). 58 Belege für die Nähe der Auffassungen Euckens zu denen Luthers sind auch die Einladungen des Euckenbundes an den Politiker. Am 21.2.1929 sprach Luther im Jenaer Rudolf-Eucken-Haus über das „Problem der Reichsnot" (Gästebuch des Rudolf-Eucken-Hauses 1928-1931, ThULB, Nachlass Eucken VI, 34). Luther wurde 1931 auch zur Haupttagung des Euckenbundes eingeladen. Nachdem er seine Teilnahme zunächst zugesagt hatte, musste er kurz vor der Tagung aus Termingründen absagen (Briefe von Hans Luther an den Euckenbund, ThULB, Nachlass Eucken VI, 25). 59 Zur Kritik des Modells der Großen Koalition bzw. des Modells einer die politischen Lagergrenzen sprengenden Mehrparteienregierung, in denen sowohl viele Zeitgenossen als auch viele WeimarHistoriker die Modelle erblickten bzw. erblicken, die die schweren politischen Krisen hätten verhindern können, vgl. Wirsching (2004), und hier besonders S. 47, 51, 56-58. Schon Raithel (2002, S. 293296) hatte das Festhalten am Modell der Großen Koalition und die unkritische Wertschätzung durch die Weimar-Geschichtsschreibung kritisiert. 60 Walter Eucken an Alexander Rüstow, 22.8.1928 (BArch N 1169/2, Bl. 318-319). Der Brief ist als Anhang abgedruckt.

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nicht auf die tagespolitische Kritik der Entscheidungen Schachts, sondern untersucht die institutionellen Strukturen, in die die Reichsbank und ihr Präsident eingewoben sind und die sie zu prägen versuchen. Der Präsident der Reichbank sei, so Eucken, in einem rechtlich unbestimmten Zwischenraum angesiedelt. Einerseits könne er die Wirtschaftspolitik des Staates beeinflussen, ohne selbst politisch verantwortlich zu sein. Ihm fehle die Legitimation des Reichskanzlers. Andererseits fehle ihm aber auch die rechtliche Bindung eines Privatbankiers, da er für seine Handlungen nicht hafte. Eucken plädiert hier für eine klare Legitimation aller politisch Verantwortlichen und für eine klare rechtliche Verankerung der Institution Reichsbank. Von immer fester begründeten liberalen Ordnungsvorstellungen aus greift Eucken Ende der 1920er Jahre in den politischen Tageskampf ein. Der Kampf gegen die Reparationspolitik des Reichsbankpräsidenten Schacht61, gegen die Schutzzollpolitik fast aller Fraktionen des Reichstages, das Eintreten für eine liberale Sozialpolitik sind ihm besonders wichtige Anliegen. Obwohl er in seinen publizistischen und brieflichen Beiträgen62 sowie in Vorträgen und Diskussionsbeiträgen63 äußerst kenntnisreich zu tagespolitischen Problemen und theoretischen Fragen mit politischer Relevanz Stellung nimmt, ist er sich mit Rüstow darin einig, nicht nur ad hoc zu reagieren, sondern die Probleme theoretisch zu durchdringen. Rüstow fasst ihre Haltung in einem Brief an Eucken vom 16. Februar 192864 zusammen: „Die Führung des publizistischen Tageskampfes um die jeweils aktuellen konkreten Probleme genügt nicht, sie bedarf als ihres Knochengerüstes und zugleich als ihrer Verbindung mit der Theorie einer immer erneuten eindringlichen Darstellung der jeweils zugrunde liegenden Lehrsätze und für solche Produktion dürfte auch der Abstand von Berlin, in dem Sie sich befinden, gerade der richtige Standort sein." Eucken stimmt dem am 18. Februar 1928 zu und verspricht, dass er weiter fortfahren wolle, „vom theoretischen Standpunkt aus aktuelle Fragen der Wirtschaftspolitik zu besprechen". Die intendierte Verschränkung von aktueller Wirtschaftspolitik und Theorie skizziert Eucken in einem Brief vom 27. März 1929:

61 Vgl. Eucken (1928). Am Beispiel der Auslandsanleihen öffentlicher und privater Körperschaften wiederholt Eucken hier ein Argument, mit dem er schon 1925 in die Zolldebatte eingegriffen hatte. Deutschland könne seine binnenwirtschaftlichen Probleme nur lösen, wenn es institutionell abgesicherte vielfältige Außenwirtschaftsbeziehungen unterhalte. Mit deutlichen Worten tritt er dem populären Wirtschaftsnationalismus, den Schacht für seine Ziele meisterhaft zu instrumentalisieren wusste, entgegen. Wie gut Euckens Ablehnung des Wirtschaftsnationalismus zur Außenpolitik Gustav Stresemanns passte, zeigt ein Vergleich von Euckens Aufsatz mit der Rede von Gustav Stresemann auf der VDMA-Tagung 1926. Vgl. zu dieser Rede die beiden ohne Angabe des Verfassers erschienenen Artikel im Magazin der Wirtschaft vom 5.5.1927. Zur ökonomischen Dimension der Außenpolitik Stresemanns vgl. Niedhart (2002). 62 Rüstow hat die meisten Briefe Euckens an ihn vervielfältigt und als Rundschreiben an die jungen Theoretiker und ihnen nahestehende Wirtschaftspublizisten und Verbandsfunktionäre versandt. Informiert über Euckens Ansichten waren somit auch: Adolf Löwe, Eduard Heimann, Arnold Wolfers, Gerhard Colm, Hans Neisser, Carl Lange (VDMA), Hans-Joachim Rüstow und Arthur Feiler. 63 Zu Euckens Beiträgen auf den Tagungen des Vereins für Socialpolitik vgl. Boese (1939, S. 186, 189, 203-207), 236, zu seinen Beiträgen auf der Reparationskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft vgl. Salin (1929, Teil I, S. 11-15, 60-62, 217-219, Teil II, S. 246-247, 265, 309-310). 64 Die im Folgenden zitierten Briefe Rüstows und Euckens gehören zum Konvolut BArch N 1169/2. Wir geben als Quellennachweis nur das Datum an.

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„Mein wissenschaftliches Streben ist es, durch die Analyse von Tatbeständen zu einer wirklichkeitsnahen Theorie zu kommen und diese Theorie dauernd wieder auf konkrete Probleme anzuwenden. Die Zeit der raschen Schaffung grosser Systeme ist vorbei. Heute ist es die Aufgabe, zu sicheren Ergebnissen vorzudringen und das kann nicht durch rasche Konstruktionen, sondern nur durch sorgfaltige Analyse des Einzelnen erreicht werden. Ein solcher Weg ist mühsam. Aber ich zweifle nicht daran, dass es so gelingt, nicht nur zu sicheren theoretischen Einzelerkenntnissen, sondern auch schliesslich zu einem gesicherten Gesamtsystem vorzudringen. Sie wissen, dass man bei solchen Bestrebungen nach zwei Seiten hin kämpfen muss: Gegen Stoffhuber, Vulgärökonomisten u.s.w auf der einen, gegen die rein konstruktive, freischwebende Theorie auf der anderen. Wenn man Kleines mit Grossem vergleichen will, so kann man sagen, dass wir endlich die Wendung hervorrufen müssen, die Galilei und Kepler in den Naturwissenschaften vornahmen. Deren Briefwechsel gibt ein anschauliches Bild. Auch sie führten den Kampf nach beiden Seiten."

Theoretisch zu arbeiten, bedeutet für Eucken seit Ende der 1920er Jahre, die verschiedenen Fragen des wirtschaftlichen Lebens im Zusammenhang zu sehen. In einem Brief vom 21. Februar 1930 erläutert er Rüstow seine Auffassung: „Ich bin ein entschiedener Anhänger der liberalen Wirtschaftspolitik und werde das in Zukunft weit energischer und häufiger aussprechen als bisher. Aber es ist sinnlos, für den Aussenhandel den Freihandel zu propagieren oder durchzuführen und eine halbsozialistische Sozialpolitik zu führen, wie wir es jetzt tun. Daraus ziehe ich nicht etwa die Folgerung, dass ich momentan nicht für Freihandel eintrete. Im Gegenteil. Ich werde es aufs allerentschiedenste tun - aber ich werde dabei stets immer aufs schärfste betonen, dass die heutige Sozialpolitik ein Wahnsinn ist - nichts weiter. Es ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit, heute eine freihändlerische Politik zu verlangen und zugleich stillschweigend über unsre Sozialpolitik wegzugehen. Nehmen Sie ein Beispiel: die Schuhindustrie. Bata macht billigere Schuhe, die deutsche Schuhindustrie ruft nach Zollerhöhungen. Wir bekämpfen sie. Gut. Warum? Weil wir uns sagen, dass die Schuhindustrie ebenfalls rationalisieren soll, um mit Bata konkurrieren zu können. Schafft sie das nicht, so argumentieren wir weiter - dann sollen die teuren Betriebe ausgeschaltet werden. Wir beziehen billigere Schuhe aus der Tschechei und liefern dahin ein Produkt, in dem wir relativ billig arbeiten: z.B. Kunstseide. Das ist alles richtig und ich vertrete eine solche Politik durchaus. Aber Voraussetzung ist, dass eine Umstellung - hier von Schuhen auf Kunstseideproduktion möglichst reibungslos verläuft. Durch unsere Sozialpolitik wird dieser Umstellungsprozess aber einfach verhindert. Die .Beweglichkeit der Arbeit' - ich meine diesen Begriff im Sinne der Nationalökonomie - wird in einem Grade heruntergesetzt, dass die Arbeiter durch eine Arbeitslosenversicherung einfach in ihrem alten Berufe festgehalten werden, die Umstellung an entscheidender Stelle verhindert wird. Ich könnte Ihnen darüber manches Geschichtchen erzählen. Aber ich gehe noch weiter: Die ganze heutige Lohnpolitik mit ihren antiliberalen Grundsätzen ist mindestens - gelinde ausgedrückt - eben so unsinnig wie die Zollpolitik. [...] Wie man diese Lohnpolitik, die zusammen mit der Arbeitslosenversicherung das wirksamste Instrument zur Verelendung der Arbeiterschaft ist, theoretisch verteidigen kann, ist mir ein Rätsel. [...] Man kann einfach kein geschulter Theoretiker sein und diesen Skandal verteidigen. Es ist also nur sozialistisch-politischer Dogmatismus, der hier wieder einmal über theoretisches Denken siegt. In Summa: Liberale Handelspolitik - jawohl, aber sinnvoll vertreten im Rahmen allgemein liberaler Wirtschaftspolitik. Man kann nicht innen die Wirtschaft verkrusten und nach aussen Freihandelspolitik treiben."

Sein Plädoyer für eine liberale Wirtschaftspolitik verbindet Eucken mit einer Kritik an der demokratischen Wirtschaftspolitik, die deutliche Anklänge an seine implizite Kritik der Verhandlungsdemokratie aufweist: „Durchführung des Freihandels erfordert Sinn für systematische Wirtschaftspolitik, aber dieser Sinn für Systematik - in allen Bereichen der Politik - fehlt den Demokratien schlechthin." In Euckens Augen bedeutet Demokratie immer die gleichzeitige Bedienung einander widersprechender wirtschaftlicher Interessen, und in der Weimarer Realität sah Eucken das besonders klar hervortreten. „Demokratische Länder sind immer unsystematische Schutzzöllner, d.h. nicht wie im Zeitalter des Absolutismus wird ein Gedanke systematisch verfolgt, sondern man wirft den Parteigängern oder gefahrlichen Gegnern eben Brocken hin." Seine Argumente für eine liberale Lohnpolitik wiederholt Eucken in den Briefen vom 1. März 1930, vom 28. Mai 1930 und vom 20. Februar 1931. Er betont, dass er theoretisch spreche (28.5.1931), weist Angriffe zurück, dass er nur das „Ressentiment von sozialen Schich-

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ten" ausdrücke, „die nicht mehr die Sicherheit der früheren Lebenslage besitzen" und führt im Einzelnen aus: „Die digch die Arbeitslosenversicherung gestärkte Gewerkschaftspolitik und die Lohnpolitik des R.A.M. erzeugen eine Lohnhöhe, die nach unbestreitbaren Lehren der Theorie (Substitutionsprinzip) zur Einstellung des gesamten Produktionsapparates auf eine Arbeitermenge führt, die geringer ist, als die tatsächlich vorhandene. (Ich möchte betonen, dass es nicht entscheidend auf die Hemmung der Kapitalbildung ankommt, sondern darauf, dass die Kombination der Produktionsfaktoren in Deutschland beim jetzigen Stand der Löhne zur Ausschliessung von zahlreichen Arbeitern führen muss. Auch stärkere Kapitalbildung ändert daran nichts.) Im allgemeinen wagt man diese Situation nicht anzuerkennen."

Wie flexibel Eucken mit seinen wirtschaftsliberalen Positionen umgehen konnte und unter welchen Bedingungen er bereit war, zum Zwecke der Entschärfung der sich rapide ausweitenden Wirtschaftskrise von ihnen abzurücken, zeigt seine aktive Mitwirkung an der Geheimkonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 über die Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung. Unter der Voraussetzung, dass zuerst Kartelle, monopolistische Preisbildungen und Lohnstarrheit bekämpft werden, war auch Eucken bereit, sich für eine aktive Konjunkturpolitik mit beschäftigungspolitischen Maßnahmen einzusetzen. Euckens Haltung passte hier eher zu der von Wilhelm Lautenbach als zu der klassischer Liberaler wie Alfred Neander Lansburgh und Erich Weiter. Nachdem sich Ende 1931 erwiesen hatte, dass der Lautenbach-Plan nicht umsetzbar war, spielten 1932 andere Wissenschaftler die Hauptrollen in den beschäftigungspolitischen Diskussionen.66 Eucken schließt sich 1932 dem Bund für freie Wirtschaftspolitik an (Brief an Rüstow vom 25.4.1932), tritt publizistisch gegen die zu Beginn der 1930er Jahre in rechten politischen Kreisen zirkulierenden Autarkiepläne auf (vgl. den Brief an Rüstow vom 22.6.1932 sowie Eucken 1932c, 1932d) und wendet sich erneut gegen jede Art von Protektionismus (Brief an Rüstow vom 11.6.1932). Um seinen liberalen wirtschaftspolitischen Ansichten in studentischen Kreisen, deren wirtschaftspolitische Vorstellungen 1931/32 stark vom Antiliberalismus des Tat-Kreises oder gar denen der NSDAP geprägt waren, Gehör zu verschaffen, plant er einen Aufsatz gegen die TaZ-Ideologie (Brief an Rüstow vom 11.2.1932)67 und setzt sich in seinen Freiburger Vorlesungen offensiv mit der nationalsozialistischen Wirtschaftskonzeption auseinander (Brief an Rüstow vom 12.8.1932).68

65 Abkürzung für Reichsarbeitsministerium. 66 Zur Listkonferenz vgl. Borchardt und Schätz (1991, zu Eucken besonders S. 32-33, 145-149, 242246), Borchardt (1992), Wegmann (2002, S. 124). 67 Die Kritik des Tat-Kreises hat schließlich Euckens Schüler Friedrich Lutz geschrieben (Lutz 1933). Als zeitgenössische linksliberale Kritik an der Philosophie und Wirtschaftsauffassung der Tat vgl. Kracauer (1977, 81-105). Der Aufsatz erschien zuerst in der Frankfurter Zeitung vom 10. und 11.12.1931. Einen guten Überblick über die Auffassungen des Tatkreises zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hinweisen auf weiterführende Literatur bietet Breuer (1995). 68 Ein Blick in die Semester 1931/32, 1932 und 1932/33 der Freiburger Studentenzeitung ergibt, dass nationalsozialistische Studentenorganisationen zu dieser Zeit das studentische Milieu in Freiburg immer offener bestimmten.

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IV. Walter Eucken 1932 - Liberale Konzepte gegen totalitäre Ideologien Vor dem geschilderten Hintergrund werden die politischen Dimensionen des Textes verständlich, der als ein Gründungsdokument des Ordoliberalismus gilt, den viele Interpreten aber auch als ein Plädoyer des Ordoliberalismus fiir einen starken antidemokratischen und politisch antiliberalen Staat lesen. In dem Aufsatz „Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus" (Eucken 1932a) muss Eucken nicht erläutern, warum er von einer Krisis des Kapitalismus spricht - dass sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung in einer schweren Krise befand, konnte jeder Zeitgenosse täglich erfahren. Um die „Fragen, wo der Ursprung der Schwierigkeiten liegt" (S. 297) zu klären, müsse man anerkennen, dass „alles dies nicht Probleme rein wirtschaftlicher Art" (S. 297) seien. Man müsse den Blick weiten und die „nahen Beziehungen vor allem zwischen wirtschaftlichen und staatlich-politischen Hergängen, Wechselbeziehungen, die für die heutige Situation des Kapitalismus geradezu entscheidend geworden sind" untersuchen. (S. 297) Eucken zeigt, dass in Deutschland wirtschaftliche Machtgruppen immer entschiedener die Politik bestimmen, dass die alten Verhältnisse, in denen der Staat als Organ des Gemeinwillens die Politik bestimmte, Verhältnissen gewichen sind, in denen „die Wirtschaft begann, die Führung in dem Verflechtungsprozeß von beiden zu übernehmen". Zuvor hatte Eucken allerdings klargestellt, dass unter „Wirtschaft" hier besonders die stark monopolistische und wettbewerbsfeindliche Großindustrie und Großlandwirtschaft zu verstehen sei. Die nicht vermachteten Industrien, in denen „ein ganz anderer Geist, eine andere Wirtschaftsgesinnung als in den monopolgesicherten Industrien" herrsche, seien in Deutschland zwar wirtschaftlich, nicht aber politisch bedeutsam. Der den Wettbewerb akzeptierende Unternehmertyp habe kaum Einfluss auf Politik und öffentliche Meinung. (S. 299) Der Einfluss der wirtschaftlichen Machtgruppen auf den Märkten und in der Politik sei dafür umso größer. Der von ihnen dominierte „interventionistische Wirtschaftsstaat" hemme die Initiative der Unternehmer und mache den bisherigen Regulator der Volkswirtschaft, das Preissystem, funktionsunfähig. (S. 308) Ihre „radikalen Anhänger" findet dieser interventionistische Wirtschaftsstaat vor allem bei den „Gegnern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt; der Arbeiter verlangt Staatseingriffe sowohl in der Hoffnung, seine wirtschaftliche Lage in der Gegenwart zu verbessern, wie auch um eine zukünftige Überwindung der heutigen Wirtschaftsordnung einzuleiten" (S. 305). Damit, und das ist die Pointe, stützen die Interessenvertreter der Arbeiter den vermachteten Wirtschaftsstaat und werden durch ihre Politik zu Fürsprechern der Großindustrie, die sie rhetorisch doch so heftig bekämpfen. Unter der großen Koalition der Interventionisten verlieren alle kreativen, auf den Wettbewerb setzenden Kräfte. Euchens Position in den letzten Krisenjahren der Weimarer Republik wird noch deutlicher, wenn man den für ein Fachpublikum geschriebenen Text aus dem „Weltwirtschaftlichen Archiv" mit einem ebenfalls 1932 veröffentlichten Aufsatz (Eucken 1932b) vergleicht. In „Religion - Wirtschaft - Staat" wendet sich Eucken an ein breites bildungsbürgerliches Publikum. Der Aufsatz ist die „Wiedergabe eines Diskussionsbeitra-

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ges des Verfassers auf der Jenaer Tagung des Eucken-Bundes am 1.11.31".69 Auch in diesem Text setzt sich Eucken mit Strukturwandlungen der modernen Gesellschaft auseinander.70 Im „Autonomwerden von Kultur, Wirtschaft, Staat" erblickt er einen „weltgeschichtlichen Vorgang, der das Leben jedes einzelnen Menschen entscheidend umgestaltet hat". „Während, wie wir sahen, in gesunden Zeiten die verschiedenen Lebensgebiete in der Persönlichkeit des Menschen zur Einheit werden, sieht sich der Mensch unserer Tage einer großen Zahl von autonomen Gebieten des Lebens gegenüber, ohne die verbindende Einheit zu finden. Damit ist ihm aber die innere Sicherheit, das Gleichgewicht genommen; das Leben wird als leer empfunden." (S. 83 f.) Aus dieser unbefriedigenden inneren Lage der einzelnen modernen Menschen erkläre sich die „Kraft der revolutionären Führer und die Stärke der Resonanz, die sie in breitesten Kreisen finden". Da sich wirtschaftlich-politische Tatbestände mit der geistigen Sinnentleerung verbinden, erweitere sich die religiös-weltanschauliche Krise zu einer umfassenden Krise der Gegenwart. Ganz in Sinne der Philosophie seines Vaters sieht Walter Eucken, dass die „meisten geistigen und politisch-sozialen Bewegungen der Zeit" auf die Überwindung der „geistigen Zerspaltenheit, Wiederherstellung eines Sinnzusammenhanges des Lebens" hinarbeiten. (S. 84) Einige dieser Bewegungen untersucht Eucken. Eine Gruppe strebe danach, „durch Umgestaltung der Wirtschaft dem Leben des Einzelnen eine neue sinngebende Einheit zu verschaffen". Mit dieser vor allem vom Sozialismus vertretenen Krisenlösungsstrategie hatte er sich bereits in den 1920er Jahren mehrfach auseinandergesetzt, und so geht er hier nur kurz darauf ein. „In neuester Zeit ist neben diesem .Ökonomismus', zum Teil mit ihm verquickt, eine Strömung mehr und mehr hervorgetreten, die wir als ,Politismus' 71 bezeichnen könnten: Vom Staate her, durch Aufgehen des Einzelnen im Staat soll dem Leben wieder ein umfassender Sinngehalt verliehen werden." (S. 85) Die Idee des „Politismus" verschränke sich immer mehr mit der Idee des interventionistischen Wirtschaftsstaates und führe zur Idee des „totalen Staates". Eucken skizziert die Genese der Idee des totale Staates und kommt mit Blick auf Deutschland zu der Einschätzung, dass der Staat hier seinen Wirkungsbereich schon im 19. Jahrhundert erweitert hat, „und je mehr die Massen an politischer Macht gewinnen, um so nachdrücklicher greift er [der Staat] unter deren Druck in das wirtschaftliche Geschehen ein". Die Ausdehnung des staatlichen Wirkungsbereiches erscheint nur prima facie als Stärkung des Staates. „Zweifellos ergibt diese tiefgreifende Wandlung durchaus nicht ohne weiters eine Stärkung des Staates. Im Gegenteil: er wird in ganz anderem Ausmaß als vorher in die wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe hereingezogen und so leicht zu einem Werkzeug von Interessenten, wo er früher Beobachter war. Mit den Schwankungen der wirtschaftlichen Entwicklung ist der Staat nunmehr auf engste 69 Zu dieser Tagung, auf der die religiöse Krise der Gegenwart und ihre Auswirkungen in Politik, Wirtschaft und Kultur diskutiert wurden, vgl. Dathe (2001, S. 37-45) und Schlotter (2004, S. 173 f). 70 Wir gehen aus mehreren Gründen sehr ausführlich auf diesen Text ein. Er wird erstens in der EuckenLiteratur kaum beachtet. In ihm kommt zweitens Euckens politische und weltanschauliche Haltung gegen Ende der Weimarer Republik so deutlich wie in keinem anderen Text zum Ausdruck. Und er ist drittens gespickt mit Stellen, die wir ausgiebig zitieren, die all denen die Argumente nehmen, die Eucken zu einem Parteigänger der extremen Rechten stempeln. Man muss nur diesen Aufsatz lesen, um z. B. die Differenzen zwischen Eucken und Carl Schmitt zu sehen. 71 Walter Eucken bezieht sich hier auf Überlegungen seines Vaters, der den Politismus, die Uberschätzung des Staates, als Gefahr für die freie Entfaltung der Persönlichkeit kritisiert hat (R. Eucken 1925, S. 371-376).

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verflochten, jede schwere Wirtschaftskrise ist ohne Weiteres eine Staatskrise, ein Zusammenhang, der im vorigen Jahrhundert nicht bestand. Im Ganzen also vollzieht sich unter sehr starker Ausdehnung des Staatsapparates ein Ineinanderwachsen von Staat und Wirtschaft, von Staat und Gesellschaft überhaupt." (S. 85 f.) Indem der Mensch immer mehr glaube, „daß sein Wohlergehen vom Staate" abhängig sei, erhoffe er sich „die Lösung aller Lebensfragen - nicht nur der äußeren - vom Staate". Der Staat, so die Überzeugung, die bei vielen jüngeren Deutschen im Mittelpunkt ihres Denkens steht, solle dem Leben einen neuen Sinnzusammenhang verleihen. (S. 86) Und Euchen wird noch deutlicher, wenn er seiner Kritik dieser Überzeugung eine klare Darstellung des Zusammenhanges zwischen dem Glauben an den totalen Staat und der Ablehnung des Liberalismus voranschickt. „Die Warnung Friedrich Schlegels, nicht in die politische Welt Glaube und Liebe zu verschleudern, würde heute auf völlig taube Ohren treffen; heute ist ganz im Gegensatz hierzu der leidenschaftliche Glaube an den Staat, und zwar an den ,totalen', alles durchdringenden Staat, und die leidenschaftliche Ablehnung des Liberalismus ein Hauptstück im Aufbau der Lebensanschauung sehr vieler Menschen geworden."72 Eucken hält der Forderung nach einem totalen Staat, ein anderes Programm entgegen, dessen weltanschaulich-philosophischen Kern er in der Tatwelt umreißt. Er erinnert an die personalistische Lebensphilosophie Rudolf Euckens und stellt klar, dass der Sinnzusammenhang des Lebens nur in der „Einheit der Persönlichkeit" geschaffen werden könne. Diese Einheit der Persönlichkeit wird durchaus als je individuelle gedacht. Ausdrücklich heißt es, dass die autonomen Gebiete der modernen Kultur „im Rahmen der eignen Persönlichkeit" (S. 87) ineinandergefügt werden müssen. Eucken vertritt hier einen Anfang der 1930er Jahre schon anachronistisch wirkenden „Individualismus idealistischer Prägung"73. Anachronistisch musste Euckens Individualismus deshalb wirken, weil er an liberale moralphilosophische Konzepte aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anknüpft, denen es um die Rettung individuellpersönlicher Rechte vor der kollektiven Vereinnahmung ging. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die philosophische Reflexion hingegen immer stärker auf den positiven Zusammenhang von persönlichem und sozialem Leben, und die tonangebenden Philosophen vertraten Positionen, die das Primat des Kollektiven betonten.74 Seiner liberalen Haltung, so Eucken, stehe die antiliberale der Anhänger des Politismus und Ökonomismus entgegen, die „glauben, durch Auslöschung der Persönlichkeit, durch Vermassung und völliges Aufgehen im totalen Staat oder in der Gemeinwirtschaft die innere Einheit wieder zu finden". Was er selbst unter politischem Liberalismus versteht, hält er unmissverständlich fest: Dem politischen Liberalismus gehe es darum, „die freie private Sphäre des Einzelnen auszuweiten und gegen Staatseingriffe zu schützen". Und wenn wir an die Kritik der wirtschaftlichen Machtgruppen in den „Strukturwandlungen" denken, wird deutlich, dass es dem Liberalismus nach Eucken daneben auch darum geht, die Freiheitsrechte Einzelner vor den Trägern privater Macht zu sichern. Wenn man die Skizze des hier umrissenen liberalen Programms und die Darstellung der beiden antiliberalen in den Blick nimmt, wird deutlich, dass Eucken, wenn er von „Masse"

72 Zur Ausgrenzung und Diffamierung des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit vgl. exemplarisch Leonhard (2003). 73 Zu diesem Begriff vgl. Kracauer (1977, S. 95). 74 Vgl. dazu Schlotter (2004, S. 110-112).

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und „Vermassung" spricht, diese Begriffe keineswegs in einem sozialen Sinn gebraucht. Zur „Masse" gehören all die, die zur Lösung der Krise der Gegenwart weltanschaulichen, sozialen oder politischen Konzepten folgen, die die Gemeinschaft oder den Staat dem Individuum vorordnen und damit bewusst oder unbewusst die eigene Persönlichkeit aufgeben. 75 Aufschlussreich für Euckens Position ist hier zusätzlich der Text, in dem er sein auf liberalen Prinzipien beruhendes wirtschaftspolitisches Programm erstmals skizziert.76 Eucken beschreibt die Struktur der deutschen Volkswirtschaft und kommt zu dem Ergebnis, dass „Deutschland in der ganzen Breite seiner Produktion zum vorwiegenden Verarbeitungsland geworden ist". Und der Erfolg der deutschen Wirtschaft gehe wesentlich auf die Fähigkeiten der deutschen Arbeiter zurück, „und zwar der deutschen Arbeiter jedes Grades, angefangen vom wissenschaftlich gebildeten Chemiker und Techniker bis zum gelernten Arbeiter, wie dem Monteur, dem Weber usw.". (Eucken 1933, S. 147) Hier, wo es darauf ankommt, mit Verweisen auf die strukturellen Besonderheiten der Arbeitskräfte in Deutschland und auf deren individuelle Fähigkeiten zu argumentieren und allen Verfechtern gemeinwirtschaftlicher, autarker oder volksgemeinschaftlicher Wirtschaftskonzepte entgegenzutreten, wird nicht mit dem Begriff der Masse gearbeitet.77 Zu einer Zeit, in der es eine weit verbreitete Ansicht war, im Zeitalter der Massen die alte liberale Vorstellung von individueller politischer Freiheit und Vernunft aufzugeben, war Euckens Verteidigung von Freiheit und Vernunft Ausdruck einer liberalen Grundüberzeugung. Von dieser liberalen Position aus wird auch deutlich, was Eucken im Sinn hat, wenn er sich Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre in Aufsätzen sowie in Briefen an Rüstow nicht nur aus den oben geschilderten wirtschaftspolitischen Überlegungen heraus so vehement gegen die Demokratisierung wendet. Diese führe zu „eine[r] viel engere[n] Verknüpfung von Volk und Staat oder - wenn man so will - der Idee nach [zur] Identität von beiden". Wie so viele seine Zeitgenossen kennt Eucken nur das Identitätskonzept der Demokratie, aber anders als viele, erkennt er aufs Genaueste dessen Gefahren - nämlich die Aufhebung der individuellen Persönlichkeit in einer gemeinschaftlichen Masse und die Tendenz des Umschlagens der Identität von Regierenden und Regierten in die von Führer und Volksgemeinschaft. 78 Dass Eucken auf dieses Demokratiemodell mit dem Modell einer demokratisch nur schwach rückgekoppelten 75 In Euckens Analysen des Begriffs „Masse" scheint eine Auffassung vor, die auch von linksliberalen Kulturkritikern der Weimarer Zeit vertreten wurde. So unterscheidet Siegfried Kracauer in „Das Ornament der Masse" genau zwischen Volk und Masse und hebt hervor, dass der Mensch als Massenglied sein Persönlichkeitsbewusstsein ausschalte und seine Individualität aufgebe. Eucken wird Kracauers Ansichten gekannt haben, prägten sie doch in den 1920er Jahren das Feuilleton der Frankfurter Zeitung, auch der Beitrag „Das Ornament der Masse" erschien am 9. und 10.6.1927 in diesem Blatt. Wiederabdruck in: Kracauer (1977, 50-63). 76 Eucken (1933). Sowohl Euckens Text als auch der „Vorspruch" der Herausgeber zeigen an, dass das Buch bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme fertig vorlag. 77 Eucken hatte schon 1926 sehr klar zwischen der „Masse der Arbeiter" und den „geistig hochstehenden Angestellten und Arbeitern" unterschieden. Das Bestreben, sich nicht vom Kollektiv einfangen zu lassen, hebt auch Arbeiter und Angestellte aus der Masse heraus. Vgl. Eucken (1926a, S. 14). Und mit Blick auf die Studentenschaft hob Eucken 1932 hervor, dass das unbedingte Streben nach Leistung den Einzelnen aus der Masse heraushebe. Eucken (1932e) 78 Zu den demokratietheoretischen Modellen der Weimarer Zeit vgl. Gusy (2000), und hier besonders die Überblicksdarstellungen von Boldt (S. 608-634), Gusy (S. 635-663) und Schönberger (S. 664669).

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Herrschaft von Leistungseliten reagierte, dürfte seinen Grund im Festhalten an altliberalen Vorstellungen haben, die bei ihm und seinen politischen Gewährsleuten Most und Luther schon Mitte der 1920er Jahre zu finden sind. Euchen hatte schon 1931 festgestellt, dass die leidenschaftliche Ablehnung des Liberalismus ein Hauptstück im Aufbau der Lebensanschauung vieler Menschen geworden sei. Er hatte außerdem gesehen, wie aus dieser Ablehnung bei vielen seiner Zeitgenossen der Wunsch nach einem totalen Führerstaat erwuchs. Seinem Freund, dem Freiburger Historiker Gerhard Ritter, konnte er diese Einsichten etwas später vermitteln.79 Um der Gefahr des heraufziehenden Führerstaates, in dem auch die letzten Reste des liberalen Rechtsstaates zu verschwinden drohten, in allerletzter Minute doch noch begegnen zu können, organisierte Ritter im Wintersemester 1932/33 an der Freiburger Universität eine Ringvorlesung zum Liberalismus. Ritters Ziel war es, den Nationalliberalismus der Gründerzeit (1848-1876) als politische Alternative zum Weimarer Parteienstaat und zum Führerstaat ins Spiel zu bringen.80 Euchen sollte über „Freie oder gebundene Wirtschaft" lesen, musste seine Vorlesung wegen einer schweren Erkrankung aber ausfallen lassen. Ritter integrierte deshalb einen auf Euchens Vorarbeiten zurückgehenden Exkurs über wirtschaftlichen Liberalismus in seine Abschlussvorlesung am 22. Februar 1933.81 Ritter wollte seine Vorlesungen zusammen mit dem Beitrag Euchens veröffentlichen, hatte sogar schon einen Titel „Deutscher Freiheitsglaube. 5 Vorlesungen von Gerhard Ritter - mit einem wirtschaftspolitischen Beitrag von Walter Eucken", konnte den Verlag aber nicht überzeugen. Die Publikation unterblieb, weil dem Verleger vor allem in Hinblick auf den Beitrag Euchens Zweifel befielen, ob die Veröffentlichung „unter den heutigen innerpolitischen Zuständen" angebracht sei.82

V. Gefestigter Liberalismus. Euckens Ablehnung des Nationalsozialismus 1933/34 Wie gefestigt Euchens Liberalismus war, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernommen hatten, zeigen einige Episoden der Jahre 1933/34. Prominente Mitglieder des Euchenbundes mit dem Chemnitzer Studiendirektor Otto Günther an der Spitze plädierten im Frühjahr 1933 für eine geistige und organisatorische Annäherung des Bundes an den Nationalsozialismus. Die Jenaer Bundesleitung um Irene Euchen und Benno von Hagen blieb unschlüssig; einerseits war ihr der Nationalsozialismus zu politisch, andererseits hoffte sie, ihn geistig fuhren zu können. Die unter dem Titel „Austritt Otto Günther" zusammengefassten Briefe und Dokumente aus den Jahren 1933 und 1934 (ThULB, Nachlass Eucken VI, 12 (16)) geben Aufschluss über die Suche nach einer Lösung. Das Machtwort kam aus Freiburg. Walter Euchen lehnte

79 Vgl. Matthiesen (1993, S. 1215). 80 Zu dieser Ringvorlesung vgl. Cornelißen (2001, S. 180-192). 81 Zu dem Exkurs, der im wesentlichen Argumente aus (Eucken 1932a, 1932b) und (Eucken 1933) enthält, vgl. Matthiesen (1993, S. 1274-1277). Ritter wird Euckens Schriften nicht gelesen haben, sondern sich mit deren Inhalt in einem wirtschaftspolitischen Gespräch mit seinem Freund vertraut gemacht haben. Vgl. das Gesprächsprotokoll im Nachlass Ritter, BArch N 1166/17a. 82 Brief der Verlagsbuchhandlung Reimar Hobbing an Gerhard Ritter vom 3.3.1933. BArch N 1166/357.

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jede Annäherung des Bundes an den Nationalsozialismus entschieden ab. Er diktierte seiner Mutter und von Hagen die Entscheidung. Zur Familienkorrespondenz Irene Euckens gehören undatierte Brieffragmente (ThULB, Nachlass Euchen V, 12, 241), in denen die Vorlagen für die Briefe erhalten sind, die von Hagen an die nationalsozialistisch gesinnten Mitglieder des Bundes schicken musste. Euchen schrieb dem Vorsitzenden des Bundes wortwörtlich vor, wie die Ablehnung auszusehen habe. Da die Jenaer lieber auf Otto Günther, den Gründer des Euchenbundes, als auf Walter Euchen verzichten wollten, orientierten sie sich an dessen Vorgaben. Selbst ein alter Freund von Edith und Walter Euchen, der wie viele ehemals Liberale nach 1933 mit den Nationalsozialisten sympathisierende Otto Most, konnte die Freiburger nicht umstimmen. Most sah nun seine Chance gekommen, dem Bund politischen und wirtschaftspolitischen Einfluss zu verschaffen. Er hoffte, Walter Euchen für eine Bundestagung gewinnen zu können, auf der u. a. Hans Buchner, einer der führenden nationalsozialistischen Wirtschaftstheoretiker, das Wort ergreifen sollte. Euchen blieb skeptisch. Most bat Irene Euchen um Vermittlung und schrieb am 18. Mai 1934 in einem Brief, dass er betrübt sei, zu sehen, wie sich Walter dem Ansinnen, die neue Macht mit dem Bund in Verbindung zu bringen, entgegenstellt. „Es wäre ein Jammer, wenn ein Mann mit so aufgeschlossenem Blick, mit so warmem Herzen und mit so großer fachlicher Tüchtigkeit sich dem Erleben unserer Zeit so weitgehend verschlösse."83 Walter Euchen blieb diesem Erleben auch weiterhin verschlossen.84

VI. Ausblick Die Analyse von Walter Euckens umfangreicher Publizistik der 1920er und frühen 1930er Jahre sowie der bereits zugänglichen Korrespondenzen Euckens aus diesem Zeitraum85 zeigt, dass sich Walter Euchen in den Jahren von 1918 bis 1933/34 zu einem konsequenten Liberalen entwickelt hat. Er hat die antiliberalen Positionen seiner Herkunftsmilieus in seiner Familie, hier waren vor allem seine Mutter und seine politisch engagierte Schwester strikt antiliberal, im Euckenbund und im Umkreis von Hermann Schumacher nach und nach aufgeben und zuerst wirtschaftsliberale, später auch politisch liberale Auffassungen entwickelt. Als viele deutsche Gelehrte und Intellektuelle den Versuchungen antiliberaler Weltanschauungen und politischer Konzeptionen zu erliegen drohten, verteidigte Walter Euchen Anfang der 1930er Jahre konsequent liberale Positionen in Bezug auf die Ordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Im Anschluss an den vorliegenden Beitrag planen wir eine Analyse von Euchens gesellschaftstheoretischen Vorstellungen der Jahre 1935 bis 1950. Eine Lektüre der Hauptwerke im Spiegel erschlossener Korrespondenzen (Franz Böhm, Friedrich August von Hayek, Alexander Rüstow, Irene Euchen) sowie zu erschließender Briefwechsel könnte dazu führen, Euchens spätere politische und gesellschaftstheoretische Ansichten viel stärker 83 Otto Most an Irene Eucken vom 18.5.1934. ThULB Jena, Nachlass Eucken V, 4, 1080. 84 Vgl. Klinckowstroem (2000, S. 85-88 und 90-97), Dathe und Goldschmidt (2003, S. 63-68) und Goldschmidt (2005a). 85 Weiterer Aufschluss über Euckens Entwicklung ist nach der Verfilmung und Sichtung des Teilnachlasses von Wilhelm Röpke im Wilhelm-Röpke-Institut Erfurt sowie nach der Erschließung des Nachlasses von Walter Eucken in Frankfurt am Main und Freiburg zu erwarten.

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als bisher geschehen als liberaldemokratisch mit stark zivilgesellschaftlichen Einschlägen zu charakterisieren.

Anhang Brief von Walter Eucken an Alexander Rüstow. Baabe (Rügen), Haus Edith, 22. August 192886 Lieber Herr Rüstow! Entschuldigen Sie, wenn ich erst heute auf Ihren Brief vom 13.8. antworte; er wurde mir hierher - wo ich bis 8.9. bleibe - nachgesandt. Nun bin ich in der Sommerfrische immer ausserordentlich faul - daher die Verspätung. Die Sache Schacht87 steht ja nun nicht günstig. Rechnen wir also fest damit, dass Schacht bleibt.88 Ich meine, man sollte dann zweierlei wenigstens durchzusetzen versuchen. Zunächst einmal sollte zwischen dem Reichskanzler unter Beisein der beteiligten Minister eine Aussprache mit Herrn Schacht stattfinden, um endlich einmal über die Befugnisse des Reichsbankpräsidenten Klarheit zu schaffen. Der jetzige Zustand ist einfach grundsätzlich unmöglich. Es gibt hinsichtlich der Leitung der Zentralbank nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist sie eine Staatsbank; - wobei natürlich wieder verschiedene Rechtsformen gewählt werden können. So z. B. die Reichsbank vor dem Kriege. Dann untersteht der Reichsbankpräsident dem Reichskanzler. Man kann darüber streiten, ob das aus anderen Gründen praktisch ist. Aber jedenfalls sind die Befugnisse klar geregelt. Havenstein89, Koch90, von Dechend machten keine andere Wirtschaftspolitik als die jeweilige Regierung wollte. Oder man hat das Privatbanksystem. Dann hat der Reichsbankpräsident lediglich die währungspolitische Aufgabe der Stabilhaltung der Mark. Er mag92 Berater der Regierung sein, muss sich aber der eigenen Wirtschaftspolitik enthalten. So in England. Völlig unmöglich ist aber der heutige Zustand in Deutschland, der ein unerträglicher Zwischenzustand ist. Der Reichsbankpräsident fühlt sich als wirtschaftspolitisch (z. B. reparationspolitisch) entscheidende Stelle - gleichzeitig ist er unabhängig. Aus der geschichtlichen Entwicklung ist diese Schachtsche Auffassung verständlich, aber sie ist einfach eine praktische Unmöglichkeit. Er fühlt sich als selbständiger Havenstein - als zweite selbständige offizielle Spitze des Reichs neben der Regierung; als unabhängig von der Regierung - aber doch offiziell. Wenn er sagt: Ich will nicht zahlen, so ist der Satz auch in dieser Hinsicht kennzeichnend. Er hat überhaupt nicht zu zahlen; allein die Regierung ist verantwortlich. Nur Auswärtiges Amt und Reichswirtschaftsministerium, bzw. Reichsfinanzministerium machen Reparationspolitik - nicht Schacht. (Es ist übrigens einer der grössten Fehler der Stresemannschen Politik, dass Stresemann viel zu wenig energisch das Reparationsproblem anfasst) Ich meine, dies müsste Schacht gründlich klar gemacht und protokollarisch festgelegt werden. Nun werden Sie sagen: Das nützt nicht viel, denn der Mann hält sich an keine Abmachung. Aber m. E. muss es doch geschehen und in diesem Moment der Wiederwahl wird eine solche Festlegung auch einen Eindruck machen. Besonders das Reichswirtschaftsministerium kann es sich doch einfach nicht gefallen lassen, dass eine wirtschaftliche Nebenregierung besteht. Also Curtius93 und Trendelenburg94 werden sicher dafür zu haben sein.

86 Der hier abgedruckte Brief liegt in Euckens Handschrift (BArch N 1169/2, Bl. 318-319) und einer von Rüstow angefertigten maschinenschriftlichen Teilabschrift (BArch N 1169/2, Bl. 315-317) vor. Diese mit dem Hinweis „Vertraulich!" versehene Abschrift deutet daraufhin, dass Rüstow Euckens Brief im Kreise der „Ricardianer" zirkulieren ließ. Wir geben Euckens Vorlage wieder, übernehmen den Wortlaut, die Schreibweise und Zeichensetzung des Originals, lösen Abkürzungen, die nicht im Duden nachgewiesen werden, auf und geben Euckens Unterstreichungen kursiv wieder. 87 „Schacht" handschriftlich später eingefügt, nicht in Euckens Handschrift. In der maschinenschriftlichen Abschrift heißt es ohne Hinweis auf das Original: „die Sache Schacht". 88 Schacht wurde im September 1928 vom Generalrat der Reichsbank einstimmig als Reichsbankpräsident wiedergewählt. 89 Rudolf Havenstein (1857-1923), 1908-1923 Präsident der Reichsbank. 90 Richard Koch (1834-1910), 1890-1907 Präsident der Reichsbank. 91 Hermann von Dechend (1814-1890), 1875-1890 Präsident der Reichsbank. 92 In der Abschrift steht hier: muss. 93 Julius Curtius (1877-1948), für die DVP Mitglied des Reichstages, Reichswirtschaftsminister.

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Erst an zweiter Stelle würde ich die Delegierung eines vernünftigen Mannes in das Reichsbankdirektorium nennen. Der Mann wird es ungemein schwer haben. Im Gegensatz zu früher finden - wie ich weiss - jetzt keine eigentlich kollegialen Beratungen statt. Schacht teilt den Herren einfach mit: so und so wird es gemacht. Was soll ein einzelner Direktor dagegen tun? Ich sehe also hier sehr pessimistisch, wenn es auch ganz nützlich wäre, einen solchen Mann hereinzusenden. Nur sollte man keine zu gute Kraft dadurch absorbieren. Gestrich95 würde die Sache gut machen, denn er lässt sich nichts gefallen; aber er wird bald mächtigen Krach haben und es fragt sich, ob er dort so viel nützt wie in der Industrie- und Handelszeitung. Gut wäre auch Lautenbaclr6; vielleicht ein zunächst merkwürdig scheinender Vorschlag. Aber überlegen Sie ihn doch einmal! Lautenbach ist zweifellos eine ganz besondere Kraft und Schacht selbst hat neulich zu einem Herrn gesagt, Lautenbach sei sein gefahrlichster Gegner. Er würde aber wohl in der Reichsbank mehr wirken können als jetzt. Darauf kommt es doch schliesslich an. Die Hauptsache aber scheint mir Punkt 1 zu sein, Punkt 2 nicht unwichtig, aber wohl nicht zu überschätzen. In Zürich werden wir voraussichtlich in Ihrer Gegend wohnen. Mit den besten Empfehlungen und herzlichem Gruss von Haus zu Haus stets Ihr Eucken

Literatur BArch, Bundesarchiv Koblenz, Nachlässe Gerhard Ritter (N 1166) und Alexander Rüstow (N 1169). ThULB, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Nachlass Rudolf Eucken. Walter-Eucken-Archiv Frankfurt am Main, Nachlass Walter Eucken.

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94 Ernst Trendelenburg (1882-1945), Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium. 95 Hans Gestrich (1895-1943), Chefredakteur der Industrie- und Handelszeitung. 96 Wilhelm Lautenbach (1891-1948), Referent im Reichswirtschaftsministerium.

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Uwe Dathe

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Uwe Dathe

Zusammenfassung In den Debatten um das Programm der Freiburger Schule finden Walter Euckens Biographie und die Entstehung seines Werks vermehrt Beachtung. Trotz vielfältiger Versuche, die Genese von Euckens Auffassungen zu rekonstruieren, blieb sein Weg zu liberalen ökonomischen und politischen Anschauungen bislang nahezu unbeachtet. Um zu zeigen, wie sich Eucken aus seinen konservativen, antiliberalen Herkunftsmilieus befreite und Schritt für Schritt liberale Positionen entwickelte, wird in diesem Beitrag neues Quellenmaterial aus seinem Nachlass sowie aus den Nachlässen seines Vaters Rudolf Eucken und Alexander Rüstows präsentiert und analysiert. Nach einer Einfuhrung (I) mit einem Überblick über die Literatur zu Eucken analysieren wir Euckens politische und ökonomische Ansichten während des Ersten Weltkrieges und in den ersten Jahren der Weimarer Republik (II). In (III) geben wir einen Überblick über Euckens Beiträge zu den philosophischen, ideologischen, politischen und ökonomischen Debatten in den Jahren 1922 bis 1931. Im Abschnitt IV analysieren wir einige Arbeiten Euckens aus dem Jahr 1932, in denen er totalitäre Ideologien angreift und liberale Positionen verteidigt. In (V) zeigen wir an einigen Beispielen wie Eucken 1933/34 gegen die nationalsozialistische Ideologie auftrat

Summary: Walter Eucken's way to liberalism (1918-1934) In the current debate about the program of Freiburg School increasing attention is paid to Walter Eucken's life and the origins of his work. Despite of all efforts to clarify these origins, Eucken's way to liberal economic and political views is still almost unknown. To show Eucken's development from the early conservative biographical and intellectual environment to liberal positions this contribution presents and analyzes new material on Walter Eucken from his literary estate and from the literary estates of his father Rudolf Eucken and of Alexander Rüstow. After an introduction (I) with a review about the literature on Eucken we analyze Eucken's political an economic views during World War I and the first years of Weimar Republic (II). In (III) we give an overview of Eucken's contributions to the philosophical, ideological, political and economic debates of the Weimar Republic (1922-1931). In the next chapter (IV) we analyze some of Eucken's papers from 1932. In these papers Eucken opposes totalitarian right-wing ideologies and defends liberal economic and political positions. Then (V) we present and analyze some examples of Eucken's liberal opposition against the Nazi-ideology in 1933/34.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Emst-Joachim Mestmäcker

Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek - Über die Zivilisierung des Egoismus durch Recht und Wettbewerb Inhalt I. II. 1. 2. 3. III. IV. V.

Einleitung Regeln gerechten Verhaltens (Privatrechtsordnung) Die künstliche Tugend der Gerechtigkeit Die Domestizierung des Eigennutzes im Privatrecht Wohlfahrt statt Freiheit Arbeitsteilung im System natürlicher Freiheit (Adam Smith) Wettbewerb Eine ordnungspolitische Perspektive

Literatur Zusammenfassung

87 89 89 90 92 93 95 97 98 100

Summary: David Hume's and Friedrich A. von Hayek's Theory of Society and Law. Law and Competition as Civilizers of Self Interest 100

I. Einleitung Im Vorwort zur 1. Auflage von „Recht, Gesetzgebung und Freiheit" bemerkt Friedrich A. von Hayek, seine Untersuchung habe die Regeln gerechten Verhaltens zum Gegenstand, die der Jurist untersuche, die aber einer Ordnung dienten, von der er ganz überwiegend keine Kenntnis besitze; und diese Ordnung werde hauptsächlich von dem Nationalökonomen untersucht, der seinerseits in gleicher Weise keine Kenntnis vom Charakter der Verhaltensregeln besitze, auf denen diese Ordnung beruhe (Hayek 1980, S. 17). Hayeks eigene Theorie verfasster Freiheit ermutigt zu einer vorläufigen Erklärung dieses Befundes. Die Juristen haben Schwierigkeiten, die Eigenarten einer Ordnung zu verstehen, in der ihnen der souveräne Gesetzgeber abhanden kommt, auf den sich Ursprung, Geltung und Inhalt von Regeln gerechten Verhaltens zurückfuhren lassen. Die Ökonomen haben Schwierigkeiten, die Regeln gerechten Verhaltens zu verstehen, weil der berechenbare Zusammenhang von Konkurrenzmodellen mit der Gesamtoder Konsumentenwohlfahrt ungewiss wird. Diese Ungewissheiten gewinnen angesichts der gegenwärtigen Krise neue Aktualität.

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Ernst-Joachim Mestmäcker

Krisen stellen die Entlastungswirkung von Institutionen in Frage, indem sie die Gewissheiten des Selbstverständlichen und Gesicherten erschüttern (Gehlen 1983, S. 216). Das gilt auch für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, deren Erkenntnisse zu den geschichtlich bedingten Gewissheiten gehören und die im Licht neuer Erfahrungen zu überprüfen sind. Der Verfassungsrechtler Ernst Wolfgang Böckenförde (2009, S. 8) ist berühmt für seine These, dass der Staat auf Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht garantieren kann. Er hat die Krise zum Anlass genommen, ihre Ursachen zu analysieren und zugleich die Voraussetzungen zu benennen, auf die wir uns neu verlassen sollen. Zu den Ursachen gehöre der ausgreifende Besitzindividualismus als Krankheit des Kapitalismus. Neu zu bedenken sei das ursprüngliche Gemeineigentum der Menschheit an den lebenswichtigen Ressourcen und ein diesem gemeinsamen Interesse entsprechend neu zu entdeckendes Ordnungsprinzip. Es ist erneut das große Missverständnis der Dominanz des Egoismus in der Marktwirtschaft, das sie als Kapitalismus zu diskreditieren scheint. Dieses Missverständnis gewinnt an Überzeugungskraft, wenn es von einem berufenen Kenner und Interpreten der Finanzkrise bestätigt wird. Alan Greenspan (2009), der frühere Präsident der amerikanischen Notenbank, der die gegenwärtige Krise durch seine eigene Geldpolitik eingeleitet hat, erklärte vor dem amerikanischen Kongress, die Finanzkrise habe sein Weltbild erschüttert, weil sie zeige, dass sich der Egoismus nicht selbst reguliere. Wir haben es mit einer nur dramatisch zu nennenden Bestätigung der These von Hayek zu tun, dass Ökonomen die normativen und institutionellen Grundlagen der Prozesse, die sie analysieren, häufig nicht mehr kennen oder vernachlässigen. Es geht nicht um den Ruf nach besserer Moral der Akteure. In Erinnerung zu rufen ist vielmehr diejenige Eigenart von Institutionen in freien Gesellschaften, die unter dem Eindruck neuer Planungseuphorie in Gefahr sind, vergessen zu werden. Das ist die Rationalität dezentraler Ordnungen und der für sie geltenden Prinzipien. Die alten und neuen Herausforderungen lassen sich anhand der Institutionen kennzeichnen, die zu den notwendigen Bedingungen freier Gesellschaften gehören: 1. Die Regeln gerechten Verhaltens, die den Kern der Privatrechtsordnung ausmachen; 2. Die Arbeitsteilung, die aus Vertrags- und Gewerbefreiheit hervorgeht; 3. Der Wettbewerb. In einer Formulierung, die Hayek von Ferguson übernimmt, ist diesen Institutionen gemeinsam, dass sie das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs sind (Hayek 1969a). Es kommt darauf an, die Rationalität dieser Verhaltenssysteme und ihre Interdependenz zu verstehen. Die ideengeschichtlichen Grundlagen finden wir bei David Hume und Adam Smith. Die Kennzeichen ungeplant entstandener Institutionen sind nicht Zufall oder Willkür, sondern die in ihnen erkennbar werdenden Ordnungsprinzipien. Die kategoriale Bedeutung dieser Theorien tritt hervor, wenn man sie mit dem fast zeitgleich wirksam werdenden Utilitarismus bei Jeremy Bentham und seinem Erbe in der positivistischen Rechtstheorie und in den verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Wohlfahrtstheorien konfrontiert.

Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek

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II. Regeln gerechten Verhaltens (Privatrechtsordnung) 1. Die künstliche Tugend der Gerechtigkeit Zu den Elementen, die freie Gesellschaften kennzeichnen, gehören in der Evolutionstheorie von David Hume alle Erscheinungsformen der Zivilisation, wie etwa Erziehung, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft. Erst in ihrem Zusammenwirken geben sie den Blick auf den jeweiligen Stand der Zivilisation frei. Den Regeln gerechten Verhaltens kommt für „Constitutional Liberty" jedoch eine Sonderstellung zu, weil sie eine notwendige Bedingung für freiheitliche und selbstbestimmte Kooperation und Kommunikation sind. Der zwingende Charakter der „Fundamental Rules" steht nicht im Gegensatz zur Freiheit, sondern gehört zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Zwingend im Verhältnis der Bürger zueinander ist die Sicherheit alles dessen, was dem Menschen als Person zu Eigen ist, also property im umfassenden Sinne, gleichzeitig die Verbindlichkeit der Verträge, mit deren Hilfe die Menschen planen, kooperieren und ihre Interessen abgrenzen. In der Erklärung dieser Prozesse kann das Recht nicht von der Selbstliebe und auch nicht von der vergleichenden Selbstliebe der Menschen abstrahieren. Sie sind die eigentlichen Antriebskräfte des Handelns. Der unvermeidliche Gegensatz der Selbstliebe des einen zur Selbstliebe des anderen bewirkt jedoch, dass die subjektiven interessegeleiteten Leidenschaften genötigt sind, sich so aneinander anzupassen (to adjust), dass daraus ein System für das Verhalten und den Umgang mit Anderen entsteht. Wörtlich heißt es sodann: „Dieses System umfasst das Interesse jedes Einzelnen und liegt deshalb zugleich im öffentlichen Interesse; gleichwohl gehört dieser Zweck nicht zu den Absichten derjenigen, die es hervorbringen (invent)." {Hume 1886/1964, S. 296). Der englische Geschichtsphilosoph Haakonssen (1981/1999, S. 20) meint, dies sei die wahrscheinlich kühnste These in der Geschichte der Rechtsphilosophie. Hayek (1969b, S. 161 und 164 ff.; 1978, S. 20) hat sich diese These anhand der später von Ferguson (1767/1986, S. 161) geprägten Formulierung zu Eigen gemacht: Die Völker entdecken unversehens Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch auf die Durchfuhrung irgendeines menschlichen Plans zurückgeführt werden können. Die Erkenntnis, dass Institutionen als Systeme menschlichen Verhaltens spontan entstehen, sich weiter entwickeln und untergehen können, wird durch die Geschichte bestätigt. Für David Hume bildet sie eine der Grundlagen für seine Gesellschaftstheorie. Zuerst formuliert hat er sie jedoch für die Rechtstheorie und zwar in Auseinandersetzung mit tradierten Tugendlehren. In ihnen standen die zerstörerischen Kräfte des Egoismus im Mittelpunkt. Daran erinnert die Bienenfabel von Mandeville (1980, S. 71), der das Recht in die Dialektik von Tugend und Lastern einbezieht: „Justice herseif, famed for fair dealing, by blindness had not lost her feeling. Her left hand, which the scales should hold had ofiten dropped them, primed with gold." Bei David Hume (1886/1964, S. 256) ist die Gerechtigkeit zwar eine Tugend, sie ist jedoch eine künstliche Tugend (artificial virtue). Eine Tugend also, welche die Vernunft den Leidenschaften abringen muss. Das geschieht durch die Regeln gerechten Verhaltens. Sie sind künstlich, weil sie weder auf Eigennutz noch auf Wohlwollen (benevolence) gestützt werden können. Das Wohlwollen gegenüber Mitmenschen gehört zwar zu den natürlichen Tugenden, aber es ist be-

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grenzt auf die Menschen, die uns nahe stehen. Im System der Arbeitsteilung sind wir dagegen auf die Kooperation mit entfernten Menschen angewiesen, die uns ihre Leistungen nicht aus Menschenliebe erbringen.

2. Die Domestizierung des Eigennutzes im Privatrecht In der deutschen Tradition ist über das Verhältnis von Recht und Moral, Privatinteressen und öffentlichem Interesse, von Staat und Gesellschaft und nicht zuletzt von Sozialismus und Kapitalismus immer auch anhand der Rolle gestritten worden, die darin dem Eigennutz im Gegensatz zum Gemeinwohl zukommt. Das Privatrecht wird in dieser Tradition als Hort des Privat- und Eigeninteresses wahrgenommen. Bei David Hume sind die Prinzipien des Privatrechts dagegen eine Grundlage von Civil Society. Die wesentliche Leistung des Privatrechts besteht darin, den Eigennutz zu regulieren und die natürlichen Leidenschaften und Neigungen der Menschen den Erfordernissen der Kooperation in zivilisierten Gesellschaften anzupassen. Das geschieht durch die geschichtlich erworbene Einsicht in die Grenzen, die Menschen als Vernunft begabte Wesen im Umgang mit ihren Mitmenschen für sich selbst anerkennen müssen, wenn sie in Freiheit leben wollen. David Hume (1886/1964, S. 448 ff.) fuhrt Recht und Moral in den „Dialogues concerning natural religion" auf die Befindlichkeit der Menschen in ihrer individuellen und gesellschaftlichen Existenz zurück. Der Mensch als Mangelwesen verdankt seine Existenz und sein Überleben der eigenen Intelligenz, seinem Erfindungsreichtum, seinem Fleiß und der Kooperation mit Seinesgleichen. Auch für Recht und Moral gelten die unüberwindlichen Hindernisse, die der Erkenntnis maßgeblicher Prinzipien für Ursache und Wirkung in allen Systemen entgegenstehen (S. 381). Auch sie sind das Ergebnis von Erfahrung: Selbst unsere Ideen reichen nicht weiter als unsere Erfahrung (S. 391). Gleichwohl kann aber unsere Vorstellungskraft (imagination) der Erfahrung zu Hilfe kommen. So erklärt sich die Entwicklung von abstrakten Ordnungsprinzipien im Übergang von der kleinen Gruppe zur Großgesellschaft. Den verschiedenen Stufen der Evolution entsprechen verschiedene Konventionen. Zu unterscheiden sind solche Konventionen, die für jede Art von Kooperation in kleinen Gruppen notwendig sind, von solchen, die sich in Großgesellschaften entwickeln und allgemeine Rechtsregeln erfordern. Dazu gehören hauptsächlich die Regeln über das Mein und Dein: Über die Anerkennung von Eigentum und Besitz {Hume 1886/1964, S. 258 und 273), über die Verbindlichkeit der Verträge (ders., S. 284), über die Mobilität der Rechte, über die persönliche Haftung für Verbindlichkeiten und schließlich Regeln über die Anerkennung einer Instanz (Gericht), welche für die unparteiische Auslegung und Anwendung der Regeln zuständig ist (ders., S. 300). So gewinnen die fundamentalen Regeln des Rechts Autorität über die Menschen (Hume 1898/1985, S. 455). Die Eigenart von Rechtsregeln, einem öffentlichen Interesse zu dienen, aber das unbeabsichtigte Ergebnis menschlicher Handlungen zu sein, weist über das Interesse der unmittelbar Beteiligten ebenso hinaus wie über das öffentliche Interesse des jeweiligen Staates. Auch unabhängige Richter sind in der Auslegung und Anwendung der Regeln an deren abstrakten Charakter gebunden. Wörtlich heißt es: „Würden die Menschen sich

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im Hinblick auf die Rechtsregeln in der Gesellschaft dieselbe Freiheit wie in ihren anderen Angelegenheiten nehmen, so würden sie den Umständen des Einzelfalles ebenso Gewicht beimessen wie dem Charakter und Vermögensverhältnissen der beteiligten Personen und dem öffentlichen Interesse". Der zwingende Charakter der Regeln steht aber der Berücksichtigung dieser persönlichen Motive und Interessen entgegen.1 Die „Utility" folgt aus dem Regelwerk, nicht aus einer Bilanz gesellschaftlicher Vor- oder Nachteile. Es gehört zur Eigenart der Regeln, dass sie im Einzelfall auch Erwartungen enttäuschen. Die Anpassung der allgemeinen zwingenden Regeln an neue Situationen ist Sache des Gesetzgebers. In diesen Korrekturen ist er jedoch an die fundamentalen Regeln gebunden. Das folgt aus der Rule of Law, wonach auch die Autorität und Legitimation des Gesetzgebers auf dem Recht beruht. Diese britische Tradition, für die David Hume repräsentativ ist, zeigt, dass es Bedingungen von „Constitutional Liberty" gibt, die den Grund- und Menschenrechten vorausliegen. Das umfassende Konzept von „Justice" begründet die verfassungsmäßige Ordnung der Gesellschaft. Aus ihr folgen die nicht abstrakt normierbaren Grenzen der gesetzgebenden Gewalt und der Gehorsamspflicht der Bürger {Hume 1886/1964, S. 323). Das Gebot einer systemgerechten Weiterentwicklung der Rechtsordnung haben Hayek und Franz Böhm in ihre Theorien aufgenommen. Sie erschließen damit ein grundlegendes Ordnungspotential für die Wirtschaftsordnung. Gefragt ist Einsicht in die Voraussetzungen, unter denen die im Privatrecht wirksamen Ordnungsprinzipien auch in den Fällen zur dezentralen Konfliktlösung beitragen, in denen korrigierende Eingriffe in Wettbewerb und Vertragsfreiheit geboten sind. Diese Prinzipien entwickeln Hayek und Franz Böhm in ihrer Theorie der Privatrechtsgesellschaft (Hayek 1978, S. 158 N°l). Die Regeln gerechten Verhaltens sind dauerhafter und beständiger als die verschiedenen Staatsformen, und sie sind mit verschiedenen Staatsformen vereinbar (Hume, 1898/1985, S. 303). Auch im Außenverhältnis kennt der vom Recht unterstützte Prozess der Zivilisation bei David Hume (1898/1985, S. 345) keine Grenzen, wenn nicht der grenzüberschreitende Wettbewerb aus falsch verstandenem nationalem Egoismus beschränkt wird. Die abstrakten Regeln sind in dem Sinne zweckfrei, dass sie die Menschen instand setzen, ihre eigenen Zwecke zu verfolgen, ohne gleichzeitig an staatliche öffentliche Interessen gebunden zu sein. Das erklärt ihre grundlegende Bedeutung für den internationalen Wirtschaftsverkehr. In den Worten von Hayeks (1981, S. 219): „Die bedeutendste Veränderung, die der Mensch immer noch nur zum Teil verstanden hat, kam mit dem Übergang von einer Face-to-face Society zu dem, was Sir Karl Popper zutreffend die abstrakte Gesellschaft genannt hat: eine Gesellschaft in der nicht länger die bekannten Bedürfhisse bekannter Menschen, sondern nur abstrakte Regeln und unpersönliche Signale das Handeln gegenüber Fremden bestimmen. Das machte eine Spezialisierung möglich, die weit über den Bereich hinausgeht, der von einem einzelnen Menschen überblickt werden kann." Popper (1977, S. 208) erläutert den Gegensatz der geschlossenen zur offenen Gesellschaft anhand der Organismustheorie des Staates, die in Deutschland durch Otto von Gierke die zeitweise herrschende Theorie des Staates und der juristischen Personen war.

1 Vgl. Hume (1886/1964, S. 299). Ausgeschlossen sein sollen „particular views of private or public interest".

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Klarer noch treten jedoch die Eigenarten der Evolutionstheorie von David Hume und der Theorie spontaner Ordnung bei Hayek hervor, wenn man ihnen die Rechts- und Gesellschaftstheorie Jeremy Benthams gegenüberstellt. Ihr kommt auch deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil sie zu den Grundlagen moderner Rechtstheorie in der ökonomischen Analyse des Rechts und zu den Grundlagen der neoklassischen Wohlfahrtstheorie gehört.

3. Wohlfahrt statt Freiheit Bei Jeremy Bentham gibt es keine „Unintended Consequences". Gesetzgebung, Rechtsprechung und selbst privatrechtliche Befugnisse gehorchen dem utilitaristischen Imperativ: Das größte Glück der größten Zahl der Mitglieder eines Gemeinwesens umfasst alle ihre Rechte. Es ist der einzige erlaubte Maßstab, nach dem wohltätige oder schädliche Maßnahmen des Souveräns zu beurteilen sind (.Mestmäcker 2009, S. 1206 FN 51). Der Holismus der Zwecke verbindet sich mit dem Positivismus der Rechtstheorie, die alle Rechtspositionen auf den souveränen Gesetzgeber zurückfuhrt. Die Rechtsordnung besteht aus der Summe originärer oder abgeleiteter Zwangsbefugnisse: jeder Befehl (mandate), der nicht rechtswidrig ist und innerhalb der Grenzen der Souveränität ergeht, ist in dem einen oder anderen Sinne ein Befehl des Souveräns {Bentham 1970, S. 22). In der imperativen Theorie des Rechts, die auf Thomas Hobbes zurückgeht und wichtige positivistische Rechtstheorien bis heute kennzeichnet, gibt es keine subjektiven Rechte, insbesondere keine Rechte gegen den Souverän. Berühmt ist die harte Kritik von Jeremy Bentham an der Erklärung der Menschenrechte in Frankreich und Amerika. „Nonsense on stilts" nennt er sie (Mestmäcker 1984a). Soweit privatrechtliche Rechtsverhältnisse die Befugnis zu zwingen begründen, stehen sie unter dem Vorbehalt, vom Gesetzgeber „bestätigt" zu werden (to adopt). Treten Vertragsstörungen auf, so ist es Sache des Richters, die Vor- und Nachteile im Hinblick auf das utilitaristische Gesamtinteresse gegeneinander abzuwägen. Ein verantwortungsvoller Richter soll den Schleier der Regeln durchschauen, die zugrunde liegenden Zwecke in Betracht ziehen und soweit wie möglich den Beitrag zur Gesamtwohlfahrt zum Maßstab seines Urteils machen (Postema 1986, S. 446-448). Den Wirkungsgeschichten von David Hume, Adam Smith und selbst von Hayeks ist gemeinsam, dass die schlechthin grundlegende Bedeutung verkannt wurde, die dem Recht in ihren Theorien verfasster Freiheit zukommt. Dazu hat beigetragen, dass es sich bei den von ihnen in Bezug genommenen zwingenden Verhaltensregeln nicht um Befehle des Inhabers einer höchsten Gewalt handelt. In der Ökonomie hat das grundlegende Missverständnis gewirkt, wonach David Hume und Adam Smith Utilitaristen seien. Trotz wichtiger, auch prinzipieller Korrekturen am Utilitarismus, wie ihn Bentham geprägt hatte, ist in der Ökonomie der Bezug auf verschieden abgegrenzte Wohlfahrtsmaximierungen erhalten geblieben. Eine Nebenwirkung der utilitaristischen Tradition hat darin bestanden, dass Widersprüche zum Recht oder zum Rechtsprinzip nicht entstehen, soweit Recht und Moral ihrerseits utilitaristisch begründet werden. Ein wichtiges Beispiel ist John Stuart Mill (1997, S. 48), der in der berühmten Abhandlung „On Liberty" seine Nähe zum Utilitarismus hervorhebt. Das bestätigt seine Definition des Rechtsprinzips. Der einzige Grund, aus dem die Gesellschaft den Einzelnen gegen

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seinen Willen zwingen darf, sei die Verhinderung von Schaden bei Anderen (S. 115). Im Verhältnis der Bürger zueinander sei die Schädigung Dritter nur rechtswidrig, wenn der Schaden größer sei als der Nutzen des Schädigers. Schäden im Wettbewerb müssen im Interesse der Gesellschaft am Wettbewerb hingenommen werden. Der Freihandel sei keine Frage individueller Rechte, sondern eine Frage der Wirtschaftspolitik (S. 115). Mills ausdrückliche Zurückweisung von Grund- oder Menschenrechten verweist erneut auf den grundsätzlichen Konflikt zwischen einer Gesellschaft, in der die Rechte der Einzelnen das „höchste Gut" sind, und einer Gesellschaft, in der die Kosten-NutzenAnalyse im Hinblick auf Wohlfahrtszwecke nicht nur über Effizienz, sondern auch über Rechtmäßigkeit entscheiden soll. John Rawls (1999, S. 160) hat den grundlegenden rechtsphilosophischen Einwand wiederholt in Auseinandersetzung mit dem aktuellen und formalisierten Konzept des Utilitarismus in Übereinstimmung mit Immanuel Kant formuliert: „Der Utilitarismus nimmt die Autonomie des Einzelnen und die sie verwirklichenden gleichen Freiheitsrechte Anderer nicht ernst." Amartya Sen (1988, S. 49) sieht ein Kennzeichen der neoklassischen Wohlfahrtstheorie darin, dass sie zwar im buchstäblichem Sinne mit Individualrechten „rechnet", ihnen aber keine Eigenbedeutung beimisst.

III. Arbeitsteilung im System natürlicher Freiheit (Adam Smith) David Hume hat seine Rechtstheorie als eine umfassende Theorie freier Gesellschaften entwickelt. Adam Smith hat die Erkenntnisse von David Hume aufgenommen, um sie mit seiner eigenen ökonomischen Theorie zu verbinden, die den Anfang der Ökonomie als Wissenschaft bezeichnet. Im Mittelpunkt seines Systems natürlicher Freiheit steht die Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung entsteht aus der Neigung der Menschen zum Tausch, wird durch Wettbewerb angetrieben und findet ihre Grenze nur an den Grenzen der Märkte („The division of labour is limited by the extent of the market") (Smith 1976, S. 31). Adam Smith wendet die von Hume anhand der Rechtstheorie begründete Einsicht in die Entwicklung von Verhaltensregeln auf die Arbeitsteilung an. Die vielfaltigen Vorteile der Arbeitsteilung „sind nicht das Ergebnis menschlicher Weisheit, die stets auf Reichtum und Überfluss sinnt." Diese allgemeine Wohlfahrt (extensive Utility) habe der Mensch, der an der Arbeitsteilung teilnehme, tausche und von ihr profitiere, nicht im Blick: Wiederum sind es die wohltätigen Wirkungen der Arbeitsteilung, die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs sind. Unvorhergesehene Ergebnisse kennzeichnen bei Adam Smith außer der Gerechtigkeit mit der „Extensive Utility" auch Wohlstand und Reichtum. Es geht um die Rationalität einer polyzentrischen Ordnung, die erfahrungsgemäß zu wohltätigen wirtschaftlichen Ergebnissen fuhrt, die ihrerseits jedoch keinen Rückschluss auf die Planung der Ergebnisse gestatten. Das folgt aus der Eigenart der zugrunde liegenden individuellen Planungen und Handlungen, die keinen vorgestellten und keinen verifizierbaren Bezug auf die nachträglich festgestellten positiven oder negativen Ergebnisse haben. Die Rechtstheorie von Adam Smith entspricht in ihren Grundzügen der von David Hume. In wichtigen Beziehungen geht sie darüber jedoch hinaus. Ihre weitergehende Bedeutung folgt vor allem daraus, dass sie einen durchgängigen Bezug auf das Wirtschaftssystem aufweist. Im System natürlicher Freiheit gehört es zu den von Adam

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Smith hervorgehobenen Aufgaben des Staates, das Rechtsprinzip im Verhältnis der Bürger zueinander gewissenhaft anzuwenden (exact administration of justice). Mit der Einfuhrung des „Impartial Spectator", des unparteiischen Beobachters, werden Moral und Recht auf eine neue Grundlage gestellt. Soweit es um die Moral geht, hält uns der impartial spectator den Spiegel vors Gesicht und fordert uns auf, die eigenen Handlungen auch mit seinen Augen zu sehen. Im Recht wird der Impartial Spectator zum Richter. Er urteilt in Kenntnis aller erheblichen Umstände, aber ohne die Leidenschaft der Beteiligten. Sein Maßstab sind die subjektiven Rechte, die als Verhaltensregeln wirken. Sie sollen den Richter instand setzen, über Interessenkonflikte anhand von normativ begründeten oder unbegründeten Erwartungen der Beteiligten zu entscheiden.2 Aus der kaum übersehbaren Vielfalt der wissenschaftlichen Kritiken an der Rechtsund Wirtschaftstheorie von Adam Smith sollen diejenigen herausgegriffen werden, denen für das Verhältnis von Rechtsordnung und Wirtschaftssystem ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Ein gemeinsamer Bezugspunkt dieser Kritiken ist die „unsichtbare Hand", die Adam Smith überall dort erwähnt, wo es um unvorhergesehene oder unvorhersehbare und letztlich positive Wirkungen individueller Handlungen geht. Mit weitreichender Wirkung hat der französische Philosoph Elie Halevy die Vereinbarkeit von Rechts- und Wirtschaftstheorie bei Adam Smith in Frage gestellt. Im Bereich der politischen Ökonomie herrsche das Prinzip der natürlichen Harmonie der Interessen, während im Recht das Prinzip der künstlichen Harmonisierung der Interessen durch Zwang maßgeblich sei. Die Teilung der Arbeit folge in der Ökonomie nicht aus wohl erwogener und systematischer Gesetzgebung, sondern aus der Abwesenheit hoheitlicher Interventionen. Wenn man diese Vorstellung generalisiere, sei es möglich, das Aussterben des Rechts vorherzusehen (.Halevy 1928/1972, S. 488).3 Diese Kritik ist deshalb so aufschlussreich, weil sie unter Recht nur planende Interventionen versteht und nicht solche Regeln, welche die gleiche Freiheit unter allgemeinen Gesetzen verwirklichen. Während Halevy die Rationalität des Rechts als Inbegriff planender Vernunft gegen Adam Smith ins Feld führt, wendet sich George Stigler (1975), der amerikanische Nobelpreisträger, gegen die Beschränkung von „Perfect Freedom" und Eigeninteresse auf die Ökonomie. Kritisiert werden die Bereiche, in denen Adam Smith Marktversagen feststellt, so dass Eigeninteresse und Wettbewerb nicht ausreichen und eine korrigierende Gesetzgebung notwendig ist. Wichtige Beispiele sind der Bankenwettbewerb durch Ausgabe von Anleihen, das einseitig machtbedingte Übergewicht der Arbeitgeber im Verhältnis zu Arbeitnehmern oder die Kartellneigung der Unternehmer. Stigler sieht hier Kleinmut am Werk, weil Adam Smith damit den „Granit des Selbstinteresses" nicht auch auf den politischen Prozess und die Gesetzgebung anwende. Der Politische Prozess sei durch wirtschaftliche Eigeninteressen ebenso gekennzeichnet wie der ökonomische Prozess. Adam Smith unterscheidet in der Tat scharf zwischen wirtschaftlichen Freiheitsrechten (personal liberty) und politischen Freiheiten (political liberty). Der Eigennutz sei in der Politik, insbesondere in der Gesetzgebung, ein ganz unzureichender Maßstab. Der verderbliche Einfluss der vermögenden Klassen auf die Gesetzgebung verhindere die Korrektur offenbarer Missbräuche. Der „Impartial Spectator" und sein 2 Grundlegend Haakonssen (1981/1999, Kapitel 3). Die zentrale Rolle subjektiver Rechte ergibt sich erst aus dem 1978 aus dem Nachlass herausgegebenen Vorlesungsnachschriften Smith 's (1978). 3 Näher dazu Mestmäcker (1984b, S. 104 und 119).

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Urteil über Freiheit und Gleichheit entlarvt die Abhängigkeit des Gesetzgebers von den Eigeninteressen der Abgeordneten. Ein drastisches Beispiel ist die Aufrechterhaltung der Sklaverei durch Sklavenhalter, die dem Parlament angehören.4 Stiglers Plädoyer für den Granit des Selbstinteresses ist Teil einer wissenschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Strategie. Es sollen die Unsicherheiten ausgeschlossen werden, die für preistheoretische Modelle aus alternativen Annahmen über das Verhalten der Akteure folgen. Im Streben nach ökonomischer Gesetzmäßigkeit kündigt sich eine Homogenisierung der theoretischen Annahmen an, die eindeutige und berechenbare Ergebnisse ermöglichen sollen. Das fordert Akteure, die ihr Eigeninteresse effizient verwirklichen und zugleich den übergreifenden Zweck der Wohlfahrtsmaximierung verfolgen. Diese Annahmen mögen für preistheoretische Modelle aussagekräftig sein, wenn man ihre Falsifizierbarkeit berücksichtigt, die aus der Konfrontation der zugrunde gelegten Annahmen mit der Wirklichkeit folgt. Die Maßstäbe, die für ordnungspolitische Korrekturen bei Marktversagen in Betracht kommen, bedürfen gewiss wirtschaftswissenschaftlicher Begründung. Das anhand der Preistheorie generalisierte Eigeninteresse gehört aber gewiss nicht zu den Maßstäben, die sich für diesen Zweck eignen.

IV. Wettbewerb Der Wettbewerb ist das Bewegungsgesetz der Marktwirtschaft. Er ist als Nebenbedingung von Rechtsregeln und Arbeitsteilung stets gegenwärtig. Die Komplexität der Interdependenz von Rechts- und Wirtschaftsordnung wird damit jedoch nur unzureichend erfasst. Erneut erweisen sich die vorhersehbaren und die nicht vorhersehbaren gesamtwirtschaftlichen Wirkungen als Leitfaden für das wirtschaftliche und rechtliche Verständnis des Wettbewerbs. Einer der Väter des ökonomischen Utilitarismus, James Mill, hat die Eigenart und Aufgabe der politischen Ökonomie darin gesehen, das Ganze des ökonomischen Systems so umfassend zu übersehen und zu kennen wie ein General seine Armee. Gefordert sei der strategische Blick (commanding view) auf das Zusammenwirken aller Akteure und Operationen im Dienst des Reichtums; er sei letztlich das Ziel, auf das fast alle Mühen und alles Streben der Menschen gerichtet seien.5 Hayek hat das Erkenntnisproblem der Wirtschaftswissenschaften im exakten Gegensatz zu dieser Vision der zentralen Wohlfahrtsmaximierung gekennzeichnet. Er fragt, wie in einem Wettbewerbssystem das Wissen gewonnen wird, das rationales Handeln der Beteiligten ermöglicht. Dieser Gegensatz bleibt auch dann erhalten, wenn man die grundlegenden Korrekturen und Fortschritte in den modernen, am Utilitarismus orientierten Preis- und Wohlfahrtstheorien berücksichtigt. Dazu gehört, dass der horizontale und individuelle Nutzenvergleich als unvereinbar mit der Individualität der Menschen verworfen wird. Die ordinale Nutzenmaximierung, die an Preise für Güter und Leistungen anknüpft, ermöglicht auf der Grundlage des Modells der vollkommenen Konkurrenz die Definition von Bedingungen, unter denen ein Wohlfahrtsoptimum erreicht ist. Die optimale Allokation der Ressourcen wird im Pareto Optimum durch das Gleichgewicht von An-

4 Näher dazu Haarkonssen, (1981/1999, S. 140). 5 Zitiert nach Robbins (1952, S. 175).

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gebot und Nachfrage definiert, bei dem jede weitere Transaktion zu einer Veränderung fuhrt, welche Nachteile zu Lasten Dritter zur Folge haben würde. Mit Hilfe des KaldorlHicks Modells werden Transaktionen trotz externer Effekte als erfolgreich angesehen, wenn diejenigen, die verlieren, von denjenigen, die gewinnen, einen Ausgleich erhalten oder ihr Nachteil ausgeglichen werden könnte. Hayek wendet gegen diese theoretischen Ansätze ein, dass sie in ihren Annahmen ein Wissen der Akteure voraussetzen, das erst im Wirtschaftsprozess gewonnen werden muss. Die positiven gesamtgesellschaftlichen Wirkungen, die aus dem Zusammenwirken von Rechtsregeln, spontaner Arbeitsteilung und Wettbewerb entstehen, folgen aus der dezentralen Nutzung eines Wissens, das an keiner Stelle zentral verfügbar ist. Wörtlich heißt es: „Der eigentümliche Charakter des Problems einer rationalen Wirtschaftsordnung ist gerade durch die Tatsache bestimmt, dass die Kenntnis der Umstände, von denen wir Gebrauch machen müssen, niemals zusammengefasst oder als Ganzes existiert, sondern immer nur als zerstreute Stücke unvollkommener und häufig widersprechender Kenntnisse, welche all die verschiedenen Individuen gesondert besitzen. [...]" Die Aufgabe besteht darin, den besten Gebrauch aller Mittel zu sichern, die irgendeinem Mitglied der Gesellschaft bekannt sind, und zwar für Zwecke, deren relative Wichtigkeit nur diese Individuen kennen. „Um es kurz auszudrücken, es ist das Problem der Verwertung von Wissen, das Niemandem in seiner Gesamtheit gegeben ist" (Hayek 1976, S. 103 f.). Dem Erfordernis, die Nutzung weit gestreuten Wissens in den Teilen zu ermöglichen, auf die Akteure für ihre eigenen Zwecke angewiesen sind, genügen Regeln gerechten Verhaltens in Verbindung mit dem Wissen, das Preise auf Wettbewerbsmärkten vermitteln. Wettbewerb, heißt es bei Hayek, veranstalten wir, weil wir die gesuchten Ergebnisse nicht kennen. Der Wettbewerb reiht sich damit in die Institutionen ein, die durch individuell unvorhersehbare Wirkungen gekennzeichnet sind. Die Teilnehmer am Wettbewerb befinden sich in einer Situation, in der mehrere Personen versuchen, ihre eigenen Pläne in Anpassung an sich dauernd verändernde Verhältnisse durchzuführen. Zu den sich dauernd ändernden Verhältnissen gehört die Reaktion auf das Verhalten der anderen im Wettbewerb stehenden Unternehmen (S. 124). Erst im Wettbewerb erfahren die Wettbewerber, welche Planungen Erfolg haben oder fehlschlagen und zu korrigieren sind. Zu den Bedingungen, unter denen Wissen im Wettbewerb gewonnen wird, gehören die Rechtsregeln, die Erwartungen in einer im Übrigen ungewissen Umwelt stabilisieren. Sie ermöglichen den Beteiligten, die mit jeder Transaktion einhergehende Veränderung von Risiken in Rechnung zu stellen. Der Wettbewerb ist kein Naturereignis. Er kann sich selbst zerstören. Deshalb muss er mit Hilfe des Rechts aufrechterhalten und gewährleistet werden. Erneut treffen die Gegensätze zwischen regelgeleiteter Freiheit und utilitaristischem Positivismus aufeinander. Rechtstheoretisch zu bewältigen ist die Eigenart des Wettbewerbs, dass auch der erlaubt und fair handelnde Wettbewerber die weniger erfolgreichen Wettbewerber schädigt. Es ist keiner Rechtsordnung gelungen, dieses Problem evolutorisch und ohne Hilfe des Gesetzgebers zu lösen. Die bei Adam Smith dafür zu findenden Ansätze sind erst spät aufgegriffen worden. Versteht man das Recht mit Thomas Hobbes und Jeremy Bentham als ein System von Imperativen, so entsteht aus Schäden im Wettbewerb kein Rechtsproblem: Sie sind nicht die Folge einer Vertragsverletzung und greifen nicht rechtswidrig in Rechte ein. So erklärt es sich, dass Thomas Hobbes in einem Rückblick

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auf sein eigenes monumentales Werk „Leviathan" im dauernden Wettstreit um Ehre, Reichtum und Macht im Naturzustand zwar ein Hindernis für das friedliche Miteinander der Menschen sieht. Im Gegensatz zur großen Politik vertraut er unter dem Gesellschaftsvertrag auf Erziehung und bürgerliche Disziplin, nicht auf zwingendes Recht. Der Wettbewerb bleibt Naturereignis (Hobbes 1839, S. 702). Das entsprechende gilt für Jeremy Bentham. Dessen systematisch geschlossener und scharfsinniger Entwurf eines kompletten Rechtssystems ist mit der von ihm vertretenen Politik des Laissez Faire vereinbar.6 Erst das privatrechtliche Verständnis des Wettbewerbsverhältnisses, das aus Wettbewerbsfreiheiten entsteht, gestattet den Zugang zur dezentralen Ordnung von Wettbewerbskonflikten. Wettbewerb und Wettbewerbsfreiheit werden im nationalen wie im europäischen Recht auf verschiedenen Ebenen erheblich: Als Abwehrrecht gegen den Staat, als Wettbewerbsverhältnis zwischen Wettbewerbern, als Schutzzweck von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen und damit als regulatives Prinzip für deren Auslegung. Auf dem dargestellten ideengeschichtlichen und methodischen Hintergrund ist es nicht überraschend, dass der Gegensatz von Wettbewerbsfreiheit, Effizienz und Konsumentenwohlfahrt auf europäischer Ebene wiederkehrt: Im Wettbewerbsrecht in der Diskussion über den More Economic Approach der EG-Kommission, im Binnenmarkt mit der Frage, ob der More Economic Approach im Gegensatz zur Rechtsprechung des EuGH auch für die Grundfreiheiten gelten sollte.

V. Eine ordnungspolitische Perspektive Angesichts der verbreiteten Neigung, in der Finanzkrise auf einen „kommandierenden General", also auf den Staat, zu vertrauen, möchte ich mit dem eingangs erwähnten Verhältnis von Wettbewerb und Privatrecht schließen. Ein vollkommen freier Wettbewerb der Banken, so hat Frank H. Knight 1935 bemerkt, führe notwendig in das Chaos {Knight 1935/1997, S. 45; Eucken 2004, S. 162 FN 1). Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Wettbewerbs der Banken folgt aus der mit dem Kreditgeschäft verbundenen Geldschöpfung. Die gesamtwirtschaftlichen Gefahren folgen aus dem Kreditwettbewerb, in dem sich die Banken im Angebot günstiger Konditionen unterbieten, womit sie sich in der Bereitschaft zur Übernahme von Risiken überbieten. Dieser Wettbewerb führt zum Konflikt mit dem Prinzip der unbeschränkten Haftung der Bank für die Einlagen ihrer Kunden, wenn die Verbindlichkeiten nicht mehr durch Eigenkapital gedeckt sind. Die auch international gebilligte Praxis der Auslagerung von Risiken aus der regulären Bilanz durch „Structured Investment Vehicles" trägt diesem Zusammenhang Rechnung und verschleiert ihn gegenüber der Öffentlichkeit. Dienen nun unsichere Hypothekenforderungen (subprime mortgages) zur Grundlage neuer Finanzprodukte, die den Zusammenhang mit den Risiken der zugrunde liegenden Ressourcen nicht mehr erkennen lassen, so handelt es sich um ein Schulbeispiel für das Potential von Finanzmärkten, sich unabhängig von den zugrunde liegenden Gütermärkten zu entwickeln. Unter diesen Bedingungen führen sinkende Häuserpreise und Insolvenzen der Hypothe-

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Überblick bei Finer (1960).

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kenschuldner zu Kettenreaktionen, die den Häusermarkt ebenso ins Chaos stürzen wie die Finanzmärkte. Die „Securitisation", die Transformation von Hypothekenforderungen in Wertpapiere und ihre weitere Aufteilung und Differenzierung in verschiedenen Tranchen, gelten als ein Schlüssel für effiziente Kapitalmärkte. Dadurch sei es möglich, den verschiedenen Risikobereitschaften, insbesondere der Risikoscheu von Investoren und Finanzinstituten Rechnung zu tragen. Soweit in diesem Prozess die von den Beteiligten zu tragenden Risiken ungewiss werden, entsteht jedoch ein grundlegender Konflikt mit einfachen Grundsätzen des Privatrechts. Danach haben Verträge zwar die Funktion, Rechte zu begründen oder zu übertragen und damit Risiken zu transformieren. Mit solchen Risiken muss man umgehen, man kann sie nicht vernichten (Stützel). Zum privatrechtlichen Umgang mit Risiken gehört es jedoch, dass sie für die Beteiligten kalkulierbar und berechenbar bleiben. Dazu gehört das Prinzip der unbeschränkten Haftung für vertraglich begründete und dadurch zugleich begrenzte Verbindlichkeiten. Dies trennt Rechtsgeschäfte vom Glücksspiel. Das Vertragsprinzip versagt, wo die unbeschränkte Haftung und der Konkurs des Schuldners mit unübersehbaren Risiken für Dritte verbunden sind. Dafür ist der Flächenbrand, der vom Konkurs einer Bank ausgehen kann, repräsentativ. Dieses Risiko rechtfertigt eine vorbeugende Regulierung, die sich am Prinzip einer auch realistischen unbeschränkten Haftung der Banken für ihre Verbindlichkeiten orientiert. Der Optimismus, mit dem in der fortschreitenden Transformation und Differenzierung von Risiken in immer neuen Finanzprodukten der Inbegriff effizienter Finanzmärkte gesehen wird, steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den Überlegungen von Adam Smith zu den Finanzmärkten seiner Zeit. Ich verkenne nicht die grundlegend veränderte wirtschaftliche Wirklichkeit. Gleichwohl bleibt seine Einschätzung der Gefahren des Bankenwettbewerbs aufschlussreich. Es ging um das Recht der Banken, Schuldverschreibungen zu emittieren, die als Papiergeld wirkten. Regulierende Eingriffe seien zwar Eingriffe in die natürliche Freiheit der Banken, die das Recht grundsätzlich vermeiden sollte. Wenn aber die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten durch einige wenige Unternehmen geeignet sei, die Sicherheit der Gesellschaft im Ganzen zu gefährden, dann sei es die Aufgabe jeder Regierung, möge sie eine besonders freie oder eine diktatorische Regierung sein, diese Freiheitsrechte zu beschränken: „Die Verpflichtung, Brandwände zu errichten, um die Ausbreitung von Feuer zu verhindern, ist zwar ein Eingriff in die natürliche Freiheit, aber es ist ein Eingriff, der exakt dem hier für die Regulierung der Banken vorgeschlagenen entspricht" (Smith 1976, S. 344).

Literatur Bentham, Jeremy (1970), OfLaws in General, London. Böckenforde, Ernst Wolfgang (2009), Süddeutsche Zeitung, 24. April. Eucken, Walter (2004), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Auflage, Tübingen. Ferguson, Adam (1767/1986), Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt. Gehlen, Arnold (1983), Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Gesamtausgabe Band 4, Frankfurt, S. 216-221. Greenspan, Alan (2009), New Yorker, 2. Februar.

Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek

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Ernst-Joachim Mestmäcker

Zusammenfassung Die Rationalität dezentraler Ordnungen und die fur sie geltenden Prinzipien lassen sich anhand der Institutionen kennzeichnen, die zu den notwendigen Bedingungen freier Gesellschaften gehören: Die Regeln gerechten Verhaltens, die den Kern der Privatrechtsordnung bilden; die Arbeitsteilung, die aus der Gewerbe- und Vertragsfreiheit hervorgeht; und der Wettbewerb. Diesen Institutionen ist gemeinsam, dass sie das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Tuns sind. Ihr Kennzeichen ist nicht Zufall oder Willkür, sondern die durch Erfahrung erkennbar werdenden Ordnungsprinzipien.

Summary: David Hume's and Friedrich A. von Hayek's Theory of Society and Law. Law and Competition as Civilizers of Self Interest The rationality of decentral orders and their governing principles inform the institutions that are necessary conditions of free societies. These institutions are: Rules of just conduct in civil society; the division of labour as a product of freedom of occupation and freedom of contract; competition. These institutions are the result of human action but not of human design (Von Hayek, Ferguson). They are not a product of chance but of experience permitting insight into principles that are compatible with free and just societies.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Hauke Janssen

Zwischen Historismus und Neoklassik: Alexander Rüstow und die Krise in der deutschen Volkswirtschaftslehre Inhalt I. Die Friedrich List-Gesellschaft und das Reparationsproblem - die deutsche Nationalökonomie in der Krise 101 II. Alexander Rüstow (1885-1963) 104 III. Die Ricardianer 107 IV. Die Ricardianer und der Verein für Sozialpolitik 109 V. Das Ende: Die Ricardianer und die Weltwirtschaftskrise 112 Literatur 115 Zusammenfassung

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Summary: Between Historical School and Neoclassical Economics: Alexander Rüstow and the Crisis in German Economics 117

I. Die Friedrich List-Gesellschaft und das Reparationsproblem - die deutsche Nationalökonomie in der Krise.1 Im Frühsommer 1928 trafen sich auf Einladung der Friedrich-List-Gesellschaft Professoren, Politiker und Praktiker in Bad Pyrmont zu einer Konferenz über die heiß umstrittenen Reparationen in der Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges.2 Es fehlte nicht an Prominenz: Reichskanzler a. D. Hans Luther war gekommen, ebenso Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, Finanzminister Rudolf Hilferding und etliche TopIndustrielle. Dazu gesellte sich die Elite der akademischen Nationalökonomie. Dem Vorbild Lists verpflichtet, verstand sich die Konferenz als ein Ort an, dem man aus gegebenem Anlass „Erkenntnisgrundlagen für die praktische Politik" gewinnen wollte.3 Den Anlass gaben diesmal die Neuverhandlungen zum Reparationsproblem, die schließlich 1929 zum Young-Abkommen führten. Die volkswirtschaftliche Frage war, ob Deutschland überhaupt auf die Dauer die notwendigen Mittel für die auferlegten Entschädigungszahlungen erwirtschaften und transferieren konnte.

1 Überarbeitete Fassung des gleichlautenden Vortrags, gehalten am 11. Februar 2009 im WilhelmÄöp&e-Institut in Erfurt. Ich danke Joachim Zweynert für die Einladung und die Anregung zu diesem Papier. 2 Vgl. Das Reparationsproblem, 2 Bde., hg. v. Salin (1929); dazu: Brügelmann (1956). 3 Das Reparationsproblem I (1929), S. VI.

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Der Vorsitzende der Konferenz Bernhard Harms hatte die Organisation weitgehend in die Hände seiner Kieler Mitarbeiter Adolf Löwe und Gerhard Colm gelegt. Diese baten die (meist) jungen Theoretiker Walter Eucken, Arthur Feiler, L. Albert Hahn, Hans Neisser und Wilhelm Röpke4 um Gutachten, die diese modelltheoretisch mit der, wie man damals sagte, Methode der isolierenden Abstraktion erstellten. Die Vortragenden aber hatten sich auf Initiative Alexander Rüstows und Lowes vorher auf eine gemeinsame Linie verschworen und verfolgten eine verabredete Strategie. „Die Grundidee ist", schrieb Rüstow um Mithilfe werbend an Eucken, „den wichtigsten Praktikern die geschlossene Front vernünftiger Theoretiker gegenüberzustellen".5 Die Gutachter stellten nicht nur die Praktiker auf eine Geduldsprobe, sondern auch die anwesenden Vertreter der Historischen Schule. Luther schob Harms einen Zettel zu: „Sie werden Schwierigkeiten mit der Geduld eines Teils der Zuhörerschaft bekommen, wenn noch längere Zeit so rein theoretisch gesprochen wird."6 Die Mehrheit der Anwesenden hatte offenbar erwartet, dass die Wissenschaft ihnen bewiese, was sie selbst schon immer gewollt hatten. Ihr Interesse an „objektiven" Abstraktionen hingegen war gering. Luther sah „weder den unmittelbar praktischen noch den politischen Wert" einer Beweisführung, wenn sie nicht die deutsche Verhandlungsposition im Sinne des NichtZahlen-Könnens stärke. Schacht forderte, vor dem Nachdenken müsse man erst einmal den eigenen Willen formulieren und dann alles weitere Nachdenken diesem Willen unterordnen: „Ich will nicht zahlen, und deshalb akzeptiere ich keine Theorie, die mir beweist, daß ich zahlen muß."7 Die (meist) älteren Herren der Historischen Schule hielten die theoretischen Deduktionen sowieso für ungeeignet, das konkrete Problem der Reparationen zu erfassen. Man habe, so ihr Vorwurf, mit den den Modellen unterliegenden Prämissen das eigentliche Problem bereits aus der Welt geschaffen.8 Sie verlangten eine Durchdringung des komplexen, historisch-individuellen Problems, während sich die Theoretiker auf das allgemeine, von den konkreten (Macht-) Verhältnissen abstrahierende Funktionsprinzip der relevanten Märkte konzentrierten. So führte die Pyrmonter Konferenz die Gespaltenheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft vor, und der Vorsitzende Harms konstatierte in seinem Schlusswort eine „Krisis der Nationalökonomie".9 Eine Krise der deutschen Nationalökonomie beklagte man schon vor dem Ersten Weltkrieg, und sie galt Anfang der dreißiger Jahre bereits als eine „Trivialität".10 Die jeweiligen Krisen-Begründungen gingen allerdings stark auseinander. Während etwa Ludwig Pohle die Krise in der immer noch zu starken Stellung des Historismus sah, wetterte Rudolf Stolzmann gegen die moderne Wirtschaftstheorie. Störte sich Edgar 4

5 6 7

8 9 10

Zu den Beteiligten vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 (1999); außerdem Caspari und Schefold (1996) zu Löwe; sowie Goldschmidt (2002) und Janssen (2009) zu Eucken. BA NL 169/2/Blatt 355, Brief Rüstow an Eucken v. 25. 5. 1928. Zit. n. Brügelmann (1956), S. 78. Zit. n. Brügelmann (1956), S. 85. Die Rede Schachts, die für einen kleinen Skandal sorgte, wurde aus politischen Rücksichten im Hinblick auf die laufenden Neuverhandlungen der Reparationen nicht in Salins Dokumentation Das Reparationsproblem (1929) aufgenommen. Vgl. Brügelmann (1956), S. 79; Das Reparationsproblem I (1929), bes. S. 27 ff. u. S.79 ff. Harms: „Schlusswort", in: Das Reparationsproblem I (1929), S. 280-283. Kretschmar (1930), S. 1. Vgl. etwa Pohle (1911), Günther (1921) oder Stolzmann (1925).

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Salin, Mit-Initiator der Konferenz, an der Aufgabe deutscher Traditionen, befürchtete der Kieler Theoretiker Neisser eine erneute Isolation der heimischen Lehre.11 Als Krise empfand man also das jeweils relativ starke Vorhandensein der gegnerischen Strömung, des Historismus, der (Neo-) Klassik - oder beider zugleich. Denn unter diesen Umständen gedieh zudem eine Reihe charismatischer, von sich und ihrer Mission überzeugter Einzelgänger wie Robert Liefmann oder Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld. Außenseiter, die, wie Adolf Weber spottete, „für die alleinige Richtigkeit ihrer Auffassung" eintraten.12 Es war, so urteilte Joseph A. Schumpeter 1927 über den Stand der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung in Deutschland, eine Zeit der Zersplitterung und des Proselytentums, eine Zeit der „Zerfahrenheit des Urteils" und der „geringe(n) Autorität". Eben eine Zeit der „chronischen Krise".13 Rüstow kennzeichnete im September 1928 die Situation der deutschen Volkswirtschaftslehre als einen „Uebergangszustand".14 Nach seiner Einschätzung gehörte immer noch die große zahlenmäßige Mehrheit der deutschen Ökonomen der Historischen Schule an. Dabei hätten die jüngsten Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik15 durchaus den Eindruck hinterlassen, dass diese „Majorität sich durch die theoretische Richtung in ihrer bisherigen Sicherheit erschüttert fühlt, dass aber andererseits die Vertreter der theoretischen Richtung vorläufig noch zu sehr in der Minderheit sind, um bereits nach außen die Führung zu übernehmen. Aus dieser ungeklärten Uebergangssituation erklärt sich wohl der uneinheitliche Eindruck der Diskussionen und das Fehlen gemeinsamer und einheitlicher Ergebnisse".16 Die Rede von der Krise charakterisierte also die Lage der Nationalökonomie in Deutschland: Man konnte die alte Polarisierung, die seit dem Methodenstreit (1883) zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller die Reihen trennte,17 nicht überwinden. Es herrschte eine Art von „Lagermentalität".18 Daraus resultierte die Neigung zu wiederkehrenden, zwar mit scharfer Klinge geführten, letztlich aber doch ermüdenden Grundsatzdebatten über das wahre Wesen der Wirtschaft oder die richtige Methode in der Wirtschaftswissenschaft, mit dem Ergebnis einer Vernachlässigung der am Sachproblem orientierten Forschung.

11 Salin (1921), S. 113 f.; Neisser (1931), S. 239. 12 Ad. Weber(1925), S. 28. 13 Schumpeter (1927), S. 17. Hagemann (2009), S. 32, spricht mit Verweis auf Häusers (1994) Wort von der „Ambiguität der deutschen Nationalökonomie in den zwanziger Jahren" davon, „dass die deutsche Volkswirtschaftslehre zwar ihr Gravitationszentrum, die Historische Schule, verloren hatte, ein neuer Mainstream sich in der Zeit der Weimarer Republik jedoch nicht herausbilden konnte". So sei es zu einer neuen „Unübersichtlichkeit", einem großen „Pluralismus theoretischer und methodischer Ansätze" unterschiedlicher Qualität gekommen, darunter aber auch zu „bedeutenden innovativen Leistungen junger theoretischer Ökonomen". 14 NL 169/191/Blatt 119 f. v. 21. 9. 1928. Der Text ist nach der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Zürich vom 13.-19. September geschrieben worden. 15 Der Verein schrieb sich in der Weimarer Zeit bis zu seiner Auflösung 1936 mit „z". 16 NL 169/191/Blatt 120. 17 Vgl. dazu Rieter (2002). 18 Krohn (1985), S. 314.

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II. Alexander Rüstow (1885-1963) Das Unbehagen in der deutschen Nationalökonomie führte zu dem von Alexander Rüstow ab 1926 intensiv betriebenen, am Ende gescheiterten Versuch, eine „geschlossene Front" aller deutschen Theoretiker aufzubauen, um, wie er im Januar 1927 an Euchen schrieb, zur Attacke auf die „Ruinen der Historischen Schule" übergehen zu können.19 Diese Vorgänge, in denen wir einen Keim des späteren Ordoliberalismus sehen, sind lange unbeachtet geblieben20 oder in ihrer theoriegeschichtlichen Bedeutung nicht richtig gewürdigt worden. Krohn interpretierte gemäß eines materialistischen Geschichtsverständnisses die Aktivitäten Rüstows mit Blick auf dessen vermeintliche wirtschaftspolitische Interessen und sah die „Übereinstimmung" der Gruppe um Rüstow darin gegeben, dass sie sich „mit unterschiedlichen Akzenten als Antimonopolisten begriffen, die die wirtschaftlichen Machtzusammenballungen und Konzentrationen öffentlicher Kontrolle unterwerfen wollten".21 Rüstow, der „agile Leiter" der Wirtschaftsabteilung des VDMA, versuchte „nicht zuletzt", so Krohn, „die jüngeren Ökonomen für die Interessen der verarbeitenden Industrie zu gewinnen". Gemeint sind - man denke an die währungs- und außenhandelspolitische Debatte um das Reparationsproblem - die mittelständischen und exportorientierten Interessen des deutschen Maschinenbaus. Die wissenschaftliche Stoßrichtung Rüstows wird von Krohn nicht weiter kommentiert. Rüstows Biografin Kathrin Meier-Rust erhellt vor allem den sich verzweigenden biografischen Kontext Rüstows in dieser Zeit.22 Rüstow befand sich damals am Wendepunkt einer Entwicklung vom (Erz-) Kommunisten zum (Erz-) Liberalen. Damit verbundenen war eine schrittweise Lösung aus dem Ideen-Umkreis seiner persönlich engen Freunde Löwe, Colm und Eduard Heimann, an deren Stelle die vergleichsweise stets distanziert bleibenden neuen Beziehungen zu Euchen und Röpke traten.23 Die vorliegende Studie basiert auf der Auswertung der Korrespondenz des leidenschaftlichen Briefeschreibers Rüstow.24 Einige Auskünfte gab zudem noch 1993 HannsJoachim Rüstow, der bald darauf verstorbene Bruder Alexanders,25 19 NL 169/17, Brief Eucken an Rüstow v. 18. 1. 1927 und Brief Rüstow an Eucken v. 24. 1. 1927. 20 Das gilt auch für das vom ehemaligen Rüstow-Assistenten Gottfried Eisermann gepflegte und die Ökonomiegeschichte bis heute prägende Bild. Darauf wies Heinz Rieter in der meinem Erfurter Vortrag folgenden Diskussion hin; vgl. zuletzt Eisermann (1999). Der Leiter des Walter Eucken Archivs Walter Ostwald (2005), S. 317, meint, die „filigrane Achse zwischen liberalen und sozialistischen, Theoretikern passe weder in das Denkschema der Anhänger noch in das der Gegner des Ordoliberalismus". 21 Vgl. Krohn (1981), S. 132 ff. 22 Meier-Rust (1993), S. 39 ff. 23 So duzten sich Rüstow, Löwe, Heimann („Peter") und Colm, während Eucken, Röpke und Rüstow beim „Sie" blieben. 24 Vgl. BA Koblenz, Nachlass Rüstow (NL 169); Janssen (20093), S. 31-48; Meier-Rust (1993), S. 16: „Seine Briefe sind durchwegs ebenso spontan wie durchformuliert, ebenso persönlich auf den Empfänger ausgerichtet, wie sachlich auf das gerade besprochene Thema konzentriert. Sie zeugen von einer geradezu unbegrenzten Kommunikationsbereitschaft, die stets die Diskussion suchte und Widerspruch nie scheute". 25 Interview in München vom 18. 9. 1993. H.-J. Rüstow (1900-1994) arbeitete in den Weimarer Jahren Referent im Reichswirtschaftsministerium und gehörte dort zusammen mit Alexander zu den Initiatoren des 'Papen-Plans1. Hanns-Joachim war in die wissenschaftspolitischen Aktivitäten seines Bruders

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Alexander Rüstow eignete sich durch seine weitgespannten persönlichen Beziehungen wie kein anderer Ökonom der Zeit als Integrationsfigur der jungen deutschen Theoretiker, eine Rolle, in die er sich geradezu drängte. Sein Vater, den er nicht sehr schätzte, war preußischer Offizier. Rüstow erbte von daher einen Widerwillen gegen Militarismus, Herrenart, Obrigkeitsstaat und eine genussfeindliche Kirche. Stolz war der junge Rüstow dagegen auf seinen Onkel Friedrich Wilhelm, einen liberalen 1848er und Mitkämpfer Giuseppe Garibaldis. Rüstow begeisterte sich in der Jugendbewegung am ungebundenen und freien Umgang in der kameradschaftlichen Gemeinschaft. Nach umfassenden Studien in Göttingen, München und Berlin in den Fächern Mathematik, Physik, Psychologie, Philologie, Philosophie, Jurisprudenz und Nationalökonomie promovierte er 1908 in Erlangen mit einer philosophischen Arbeit über das klassische Lügnerparadoxon, wobei er mathematisch-logische Begabung verriet. Eine Habilitation über die Erkenntnistheorie des Vorsokratikers Parmenides scheiterte wegen des Weltkrieges. Aus dem Krieg, in den er ohne Begeisterung gezogen war, kam er hochdekoriert und „als radikaler Sozialist und Marxist" nach Berlin zurück.26 Solchermaßen aufgeweckt stürzte er sich auf Politik und Ökonomie. In den Seminaren des charismatischen Ökonomen und Soziologen Franz Oppenheimers („Onkel Franz")27 lernte Rüstow wohl seine späteren langjährigen Freunde Löwe, Colm und Heimann kennen. Rüstow, Löwe und Heimann gehörten zudem den Religiösen Sozialisten um den Theologen Paul Tillich an.28 Der Kreis verstand sich als Bewegung außerhalb von Partei und Kirche. Ihn verband die Überzeugung, dass der katastrophale Zusammenbruch des Kaiserreichs als Zeichen und Chance für eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft im Sinne eines religiösen Sozialismus, einer Synthese von EdelMarxismus und christlicher Ethik, zu nutzen sei. Man zielte auf eine erzieherischreligiöse Durchdringung der Arbeiterschaft (wovon diese keine Notiz nahm) und auf „soziale Reform". Heimann, neben Tillich eine der prägenden Köpfe des Kreises, verteidigte allerdings den Klassenkampf als einer Art „heiligen Krieg". Rüstow hielt in erregt dagegen, man könne nicht mit „Liebe im Herzen, Haß predigen". Rüstow hat wiederholt den Zwist mit Heimann aus dem Jahr 1921 über die „die Antinomie zwischen Klassenkampf und Gemeinschaftsidee" als Datum für seine Abkehr vom Marxismus genannt.29 Er blieb dem Kreis aber zunächst weiter verbunden. Der endgültige Bruch kam Ende 1925 als sich Rüstow „mit Aplomb", zum Atheismus bekannte.30

26 27 28

29 30

in den zwanziger Jahren eingeweiht und einbezogen. Allerdings vermochte sich der greise Rüstow 1993 nicht mehr genau zu erinnern und erhoffte sich von unserem Gespräch wohl mehr eine Wiederentdeckung seiner eigenen ,Jkeynesianischen" Arbeiten als die abermalige Erörterung der Umtriebe seines Bruders. Meier-Rust (1993), S. 19-24. NL169/6/Blatt 53, Brief Rüstow an Löwe v. 27. 10. 1932. Vgl. Meier-Rust (1993), S.32 ff.; zum religiösen Sozialismus Tillichs Kröger (1989). Zum Kreis zählte auch der Ökonom und Politologe Arnold Wolfers. Rüstow gehörte dem Kreis von 1920 bis 1925 an. Von 1920-27 erschienen die Blätterfiir religiösen Sozialismus, von 1930-33 die Neuen Blätter fiir religiösen Sozialismus. Vgl. seine Rüstow Aufsätze in den Blättern fiir religiösen Sozialismus (1921a), (1921b) und (1926). BANL 169,Nr. 15 Brief Heimann an Rüstow vom 12. 11. 1925.

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Wegweisende Bedeutung bekam für Rüstow das Werk Oppenheimers.31 Dieser war eigentlich Arzt und hatte sich unter dem Eindruck der sozialen Not den Gesellschaftswissenschaften zugewandt. Man kann heute nur schwer verstehen, weshalb Oppenheimer damals eine solch ungeheure Wirkung hatte. Zu „verquast" muten uns die Theorien an. Doch zu ihm bekennen sich so unterschiedliche Geister wie die Neoliberalen Rüstow, Röpke und Ludwig Erhard, die Keynesianer Colm und Erich Preiser und die Sozialisten Heimann und Löwe. Beträchtlichen Einfluss hatte Oppenheimer zudem auf die Kibbuzbewegung in Palästina. Oppenheimer las 1909 bis 1919 in Berlin Nationalökonomie.32 In seinen Vorlesungen über die Geschichte des Sozialismus mag Rüstow mit der Gedankenwelt von Karl Marx in Berührung gekommen sein. Oppenheimer urteilte zwar kaum weniger scharf über den Kapitalismus als der Trierer, doch teilte er eher Marxens soziologische als dessen ökonomische Analyse und suchte nach einem „Dritten Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Eine Suche, die seine Schüler ansteckte.33 Oppenheimer sah im feudalistischen Erbe des monopolisierten Grundbesitzes das eigentliche Übel, die Wurzel aller Mehrwertaneignung, Ausbeutung und Wirtschaftskrisen. Seiner Überzeugung nach beruhten alle anderen Monopolstrukturen auf dieser einen. So kämpfte Oppenheimer leidenschaftlich gegen die „Bodensperre" als der „letzten feudalen Machtposition"34 und imponierte damit dem jungen Rüstow, der den preußischen Feudalismus von je her hasste. Oppenheimer glaubte mit der Umverteilung des Bodenbesitzes den Weg frei zu einer auf reinen Arbeitseinkommen beruhenden „klassenlosen Gesellschaft der freien Konkurrenz", einem „liberalen Sozialismus" oder, wie Röpke sagte, eines „sozialen Liberalismus".35 Noch in einem weiteren, oft vergessenen Sinne wirkte Oppenheimer auf die Entwicklung der deutschen Nationalökonomie und die der hier in Rede stehenden Freunde ein. Er war ein Förderer der theoretischen Analyse, der damals seitens des Historismus geschmähten „reinen Theorie".36 Auf Vermittlung Lowes ging Rüstow nach dem Kriege als Referent in das SPDdominierte Reichswirtschaftsministerium. Löwe wechselte von dort zum Statistischen Reichsamt, wo Colm arbeitete. Heimann war Generalsekretär der Sozialisierungskommission. Rüstow befasste sich in dieser Zeit (1919-1924) mit Plänen zur Sozialisierung und mit Kartell- und Monopolfragen.37 Er erlebte das Ministerium mehr und mehr im Visier der Begehrlichkeiten verschiedener Interessengruppen, die den „Staat als Beute" betrachteten.38

31 Meier-Rust (1993), S. 26, nennt Rüstow mit Blick auf dessen Überlagerungslehre den „eigentliche(n) Vollender der Oppenheimerschen Soziologie". 32 Zu Person und Werk vgl. Haselbach (1985); Caspari und Schefold (1996). 33 Vgl. Oppenheimer (19322); Rüstow (1949); Heimann (1929/80). Auch Erhards Traum vom „Wohlstand fur alle" in einer Sozialen Marktwirtschaft zählt dazu. 34 Vgl. Oppenheimer: Der Staat (1907/90). Rüstow beschäftigte sich schon 1907 mit dieser Schrift; vgl. Meier-Rust (1993), S. 25. 35 Röpke (1959), S. 345. 36 Oppenheimer. Theorie der reinen und politischen Ökonomie (1910). 37 So zählte er sich selbst zu den Vätern der deutschen Kartellverordnung von 1923; vgl. Meier-Rust (1993), S. 28. 38 Rüstow. Zur Soziologie der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte (1924), hektografiert; zit. n. Meier-Rust (1994), S. 28.

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Solchermaßen frustriert durch eine zunehmend als interessengeleitet empfundene Wirtschafts- und Sozialpolitik, verließ Rüstow den Staatsdienst und arbeitete bis 1933 als Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung des Vereins deutscher Maschinenbauanstalten (VDMA). Der Zeitpunkt des Jobwechsels markiert seine, wie er selbstironisch an Löwe schrieb, „Bekehrung vom Sozialismus zum Liberalismus".39 Die Arbeit im mittelständisch geprägten VDMA brachte ihn in Kontakt zu den Wirtschaftsliberalen, die gegen Kartellierung und schutzzöllnerische Tendenzen Stellung bezogen.40 Wichtig wurden die Begegnungen mit Euchen und Röpke. Eucken war bis 1924 bei der Fachgruppe Textilindustrie des RDI in Berlin tätig und dadurch den Maschinenbauern verbunden. Röpke lernte Rüstow anlässlich eines Vortrages kennen. Zu dieser Zeit verließen die alten Freunde Berlin: Heimann bekam 1925 eine Professur in Hamburg; Löwe und Cohn gingen 1926 an das Kieler Institut und bauten dort im Auftrage von Harms die Abteilung für statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung (Astwik) auf. Zusammen mit Neisser, Emil Lederer und Jakob Marschak bildeten diese in den Folgejahren einen losen Forschungszusammenschluss, der als „kreativster und produktivster wissenschaftlicher Zirkel" der zwanziger Jahre bezeichnet wurde.41 Rüstow verfügte ab Mitte der zwanziger Jahre mithin über enge Kontakte zu den wichtigsten jungen deutschen Ökonomen links wie rechts, wobei das wissenschaftliche tertium comparationes Oppenheimers Suche nach einem Dritten Weg und die von ihm geforderte reine Theorie darstellte. Und Rüstow war in geradezu naiver Weise davon überzeugt, dass der „Wille zur sozialen Objektivität", gepaart mit den Werkzeugen der Theorie, alle politischen Differenzen zwischen den Sozialisten und den Liberalen auflösen könnte.42

III. Die Ricardianer Eingeweiht in Rüstows Pläne und tatkräftig daran beteiligt waren neben seinem Bruder Hanns-Joachim die alten Freunde Löwe, Heimann und Colm sowie die neuen Weggefährten Eucken und Röpke. Zum erweiterten Kreis zählten Feiler, Hahn, Lederer, Neisser, Wolf ers sowie Friedrich Lutz und Hans Gestrich. Rüstow taufte die Gruppe die „deutschen Ricardianer". Diesen Ausdruck machte sich auch Heimann zu eigen, während Löwe lieber von einem „theoretischen Club" und Eucken einfach von der „Gruppe" sprach.43 Die Bezeichnung Ricardianer ist missverständlich, wenn man an die Arbeitswertlehre David Ricardos oder dessen düstere Vision des Kapitalismus denkt. Rüstow hatte wohl eher Ricardos Verteidigung der ökonomischen Theorie gegen die „gewöhnlichen Anschuldigungen" von Leuten im Sinn, „die nur etwas für Tatsachen" übrig ha-

39 40 41 42

NL 169/42, Brief Rüstow an Löwe vom 28. 6. 1946. Vgl. dazu Krohn (1981), S. 132 ff. Vgl. Krohn (1981), S. 123; Beckmann (2000). Vgl. NL 169/2 Blatt 363, Brief Rüstow an Eucken v. 1. 5. 1928; NL 169/2/Blatt 260, Brief Rüstow an Eucken v. 2. 4. 1929. 43 NL 169/2 Blatt 262 u. 345; Briefe von Rüstow an Eucken v. 2. 4. 1929 u. 30. 6. 1928; NL 169/4 Blatt 162; Brief Heimann an Röpke v. 2. 2. 1931; NL 169/6 Blatt 255, Brief Löwe an Rüstow v. 3. 3. 1929; NL 169/2 Blatt 270 Eucken an Rüstow 27. 3. 1929.

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ben, aber kaum imstande sind, ihre „Fakten zu sieben", weil „sie kein Bezugssystem" haben.44 Was waren nun die Positionen? Die Historische Schule, so Rüstow, behandelt die „Probleme der Wirtschaft vorwiegend unter historischen, ethischen, soziologischen, psychologischen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten" und vertritt die Überzeugung, dass „eindeutige" Feststellungen wirtschaftlicher Zusammenhänge nicht möglich sind. Folglich beschränkten sich ihre Arbeiten auf „die Beschreibung einzelner konkreter Tatbestände und deren Einordnung unter Sammelbegriffe und logische Einteilungen".45 Euchen prägte diesbezüglich das Wort von der „Begriffsnationalökonomie", eine Tendenz innerhalb des Historismus, „durch Begriffsanalysen zum Wesen der Wirtschaft" vordringen und „Systeme von Begriffen - die man , Theorien' nennt" - schaffen zu wollen.46 Das war Rüstow und seinen Verbündeten zu wenig. Man war der Meinung, dass sich unter der Herrschaft des Historismus „die Ökonomie in Deutschland von 1848 bis 1918 unverkennbar abwärts entwickelt habe".47 Es gelte, so wetterte Eucken, gegen die „Stoffhuber" und „Vulgärökonomen" anzukämpfen.48 Rüstow definierte die eigene Richtung als „eine zunächst kleine, aber rasch wachsende Zahl von jüngeren Wirtschaftswissenschaftlern", die sich gegen die Historische Schule zusammengefunden habe. Seit dem Kriege suche man verstärkt nach Anschluss an die „im Ausland seit jeher herrschenden theoretischen Wirtschaftswissenschaften" und bemühe sich, „die gemeinsamen Grundgesetze aller marktwirtschaftlichen Vorgänge mit möglichster Klarheit und Exaktheit herauszuarbeiten".49 Die reine ökonomische Theorie, so dozierte schon Oppenheimer, will die Wirtschaft „geradeso quantitativ gesetzmäßig erklären", „wie die Bahn eines Geschosses oder die Bildung einer chemischen Verbindung".50 Aktivitäten der Ricardianer sind ab Mitte der zwanziger Jahre nachweisbar. Als Schumpeter 1925 nach Bonn berufen wurde, schien den Ökonomen um Rüstow plötzlich eine international renommierte Leitfigur greifbar, wie es sie bis dahin an den deutschen Universitäten nicht gegeben hatte. Doch als Schumpeter sein Bonner Debüt mit einem ungewöhnlich wohlmeinenden Aufsatz über das Haupt der Historischen Schule, Gustav Schmoller, garnierte,51 waren Enttäuschung und Empörung unter den Ricardianern groß. Sie konnten sich diese „Entgleisung" nur als Kotau vor dem ehemaligen Schmoller-Assistenten Arthur Spiethoff erklären, dem Schumpeter sein Ordinariat maßgeblich zu verdanken hatte. Rüstow suchte Schumpeter deshalb in Bonn auf, um ihn „nachdrücklich wegen seines Schmoller-Aufsatzes zur Rede zu stellen". Schumpeter erklärte, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, in dem „Kampf zwischen historischer Schule und der Theorie etwa die Front zu wechseln oder seine Partei zu verraten". Rüstow gab darauf die Parole aus, dass es „von unserer Seite" aus „taktisch richtiger

44 45 46 47 48 49 50 51

Ricardo: Works and Correspondence, Vol. III, S. 160 u. S. 181, zit. n. Kurz (2008), S. 125. NL 169/191 Blatt 119 f. Vgl. Rüstow (1941/2) zu dessen Haltung gegenüber der Historischen Schule. Eucken (1950), S. 27. NL 169/2 Blatt 396, Brief Rüstow an Euckenv.ll. 2. 1928. NL 169/2 Blatt 271 f., Brief Eucken an Rüstow v. 27. 3. 1929. NL 169/2 Blatt 396, Brief Rüstow an Eucken v. 21. 2. 1928. Oppenheimer (1912 2 ), S. 63 f. Vgl. Schumpeter (1926).

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sei", Schumpeter nicht „wegen des Schmoller Aufsatzes anzugreifen"52 und lud den Österreicher zum 7. Januar 1927 zu einem Diskussionsabend nach Berlin ein.53 Die Bemühungen waren allerdings von keinem nachhaltigen Erfolg gekrönt. Schumpeter ließ sich von den ehrgeizigen, aber noch wenig profilierten deutschen Theoretikern nicht auf eine Parteiraison verpflichten. „Gewisse Charaktermängel", so Rüstow beleidigt, seien wohl die „Kehrseite seiner Genialität".54

IV. Die Ricardianer und der Verein für Sozialpolitik Die Aktivitäten der Ricardianer erreichten ein Jahr vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt. Rüstow wollte den 1872 von Schmoller gegründeten und fest in der Hand der Historischen Schule befindlichen Verein fiir Sozialpolitik erobern. „Wir Jungen", schrieb er an Löwe, sollten versuchen, „den Verein selbst in unsere Hand zu bekommen und dann in seinem Rahmen die freilich dringend notwendigen organisatorischen und sonstigen Änderungen durchzuführen".55 Alle drei großen Versammlungen deutscher Volkswirte im Jahr 1928, die ¿«/-Konferenzen im Juni und November56 und die Zürcher Verhandlungen des Vereins fiir Sozialpolitik im September waren in der Folge stark durch die Aktivitäten und das Auftreten der Ricardianer geprägt. Wissenschaftlich gesehen, hatten die Ricardianer die Veranstaltungen klar beherrscht und damit am Vorabend der Weltwirtschaftskrise erstmals in Deutschland eine Dominanz der Theorie über die geschichtliche Methode zum Ausdruck gebracht. Man glaubte nun die Gelegenheit für gekommen, die eigene Stärke in einen politischen Sieg bei den anstehenden Vorstandswahlen umzumünzen.57 Der Vorsitzende der Verieins, Heinrich Herkner. sowie die Leiter der beiden ständigen Unterausschüsse, Karl Diehl (Theorie) und Walter Lötz (Finanzwissenschaft), wollten nicht erneut kandidieren. Da die Altvorderen des Vereins selbst noch keinen Vor52 NL 169/17/Blatt 304 ff.; Rüstow an Eucken 11. 11. 1926; NL 169/2 Blatt 242, Brief Rüstow an Euchen v. 2. 5. 1929. Vor anderen Kollegen möge der Aufsatz dahin interpretiert werden, dass Schumpeters Höflichkeit „etwas zu weit gegangen" sei und dass sich Schumpeter „offenbar ganz und gar nicht bewußt gewesen" war, wie „sein Aufsatz bei der wissenschaftspolitischen und -taktischen Lage innerhalb der Entwicklung der deutschen Nationalökonomie wirken mußte". 53 Das Treffen fand ,auf neutralem Boden', in der Wohnung Hans Staudingers, Staatssekretär im Preußischen Handelsministerium, statt. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wer an der Diskussion teilgenommen hat. Vgl. NL 169/6 Blatt 412, 398, Brief Rüstow an Löwe v. 15. 11. 1926; 10. 12. 1926; und NL 169/2 Blatt 165, Brief Eucken an Rüstow v. 28. 5. 1930. 54 NL 169/2/Blatt 242, Brief Rüstow an Eucken 2. 5. 1929. 55 NL 169/6, Brief Rüstow an Löwe v. 20. 12. 1932. Erst im Falle eines Misserfolges wolle er die Theoretiker dazu bewegen, den Verein gemeinsam zu verlassen und eine eigene Gesellschaft unter Führung der Ricardianer zu gründen. Ähnlich dachte auch Eucken-, vgl. NL 169/2/Blatt 305, Brief Eucken an Rüstow v. 14. 10. 1928. 56 Anlässlich der zweiten Reparationskonferenz im November 1928 in Berlin schlug Rüstow Eucken vor, wegen der bisher nicht Eingeladenen Wolfers, Gestrick und H. J. Rüstow an Harms zu schreiben, dabei aber ruhig ein paar der schon Geladenen nochmals zu nennen, „damit es nicht so abgekartet aussieht". NL 169/2/Blatt 355/6, Brief Rüstow an Eucken 28. 5. 1928. 57 Vgl. dazu Boese (1939), S.208 ff. Boese spricht von einem linken und rechten Flügel im Verein. In dieser Terminologie bildeten die Ricardianer einen Teil des linken Flügels. Boese ließ allerdings die Beweggründe der Fraktionen weitgehend offen. Insofern bleibt dem Leser unklar, worum es eigentlich ging-

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schlag unterbreitet hatten, schien die Chance gut, selbst die Führung zu stellen. Rüstow organisierte in Zürich eine „Fraktionssitzung" der Ricardianer, um eine gemeinsame Wahlliste zu präsentieren.58 Doch es fehlte an mehrheitsfähigen Kandidaten.59 Schließlich einigten sich die Ricardianer auf die Liste Alfred Weber als Vorsitzenden sowie Lederer und Wilhelm Gerloff als Leiter der Unterausschüsse für Theorie und Finanzwissenschaft. Das brachte mit einer heftigen Reaktion die Gegenseite auf den Plan.60 Man suchte einen „Verständigungsfrieden", da sonst die „Gefahr eines demonstrativen Austritts prominenter Herren" bestünde.61 Nun, so klagte Löwe, begann „die Tragödie unseres Zerfalls".62 Denn es brachen innerhalb der Theoretiker bis dahin verdeckte Meinungsverschiedenheiten, insbesondere mit den Wienern um Ludwig Mises aus. Der Zwist mit den Österreichern reichte tiefer als bloße Personalfragen. Schon bei der Zürcher Aussprache zum Thema Kredit und Konjunktur waren die Österreicher und die Gruppe um Löwe hart aufeinandergeprallt.63 Zudem gab es unversöhnliche Standpunkte in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, etwas in der Monopol- bzw. Kartellfrage. Mises lehnte jeden Interventionismus ab, während Heimann eine systemverändernde Sozialpolitik unterstützte.64 Auch zwischen den deutschen Liberalen und den Österreichern schwelten Differenzen. Euchen grenzte sich gegen eine jeder Empirie abholden, „rein konstruktiven, freischwebenden Theorie" ab,65 wie sie seiner Meinung nach Mises und Friedrich Hayek betrieben. Auch in wirtschaftspolitischen Belangen gab es wenig Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede seien so groß, schrieb Rüstow einmal aus dem Exil an Röpke, „daß es eine völlig verfehlte Taktik wäre (...), uns mit dem Ruf der Verranntheit, Überholtheit und Abgespieltheit zu bekleckern, der ihnen mit vollem Recht anhaftet".66 Rüstow und Eucken beschlossen deshalb im März 1929, die Österreicher künftig nicht länger hinzuzuziehen: Man wollte künftig die „theoretische Gruppe als reichsdeutsche Angelegenheit behandeln".67

58 NL 169/2/Blatt 312, Brief Rüstow an Eucken v. 28. 9. 1928; auch NL 169/6/Blatt 257 f., Brief Rüstow an Löwe vom 2. 3. 1929. 59 NL 169/6/Blatt 268, Brief Eucken an Rüstow 21. 2. 1929; Rüstow 169/6/Blatt 264, Brief Rüstow an Löwe v. 22. 2. 1929. 60 Vgl. Boese (1939), bes. S. 212. Die Querelen um die Wahlen, die Boese mehr andeutet als schildert, erfahren so eine Aufhellung. Vgl. NL 169/6/Blatt 253 ff., Brief Löwe an Rüstow 3. 3. 1929; NL 169/2/Blatt 312, Brief Rüstow an Eucken 28. 8. 1928. Es ist unverständlich, dass Krohn (1981), S. 134, aus dem Brief vom 3. März herausliest, dass Lederer als Vorsitzender des Vereins vorgesehen war. 61 NL 169/6/253, Brief Löwe an Rüstow v. 3. 3. 1929. 62 NL 169/6/253f, Brief Löwe an Rüstow v. 3. 3. 1929; vgl. auch Boese (1939), S. 212. 63 Vgl. Löwe (1928); Verhandlungen des Vereins flir Sozialpolitik in Zürich 1928 (1929). 64 Vgl. Mises (1922); Heimann (1929/80). 65 NL 169/2/Blatt 271 f., Brief Eucken an Rüstow v. 27. 3. 1929. 66 NL 169/7, Brief Rüstow an Röpke v. 21. 2. 1942. Weiter: „Diesen ewig Gestrigen frißt kein Hund mehr aus der Hand, und das mit Recht". Hayeks „Meister Mises gehörte in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe (gemeint ist die Große Depression, HJ.) heraufbeschworen haben". 67 Vgl. NL 169/2/Blatt 282, Brief Rüstow an Eucken vom 11.3. 1929; NL 169/2/Blatt 270, Brief Eucken an Rüstow vom 27. 3. 1929.

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Bei den Vorstandswahlen kam es dann zu einem für die Ricardianer ternden)" Ergebnis. 68 Der Kölner Christian

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„niederschmet-

Eckert wurde neuer Vorsitzender,

Spiethoff

Leiter des Theoretischen und Wilhelm Gerloff des Finanzwissenschaftlichen Ausschusses, Lederer

und Karl Bräuer

Vertreter der letztgenannten mit Sitz im Vorstand. 6 9 D i e

Historische Schule hatte sich durchgesetzt. 70 Löwe schlug nun die Bildung „eines theoretischen Clubs" vor. 71 Rüstow

sollte zunächst eine Liste der in Frage kommenden Mit-

glieder aufstellen. Denn solange „wir Handvoll deutsche Theoretiker das nicht getan haben, w a s ganz allein bei uns selber steht", so Rüstow

an Eucken, „nämlich miteinan-

der Verbindung aufnehmen und halten, unsere Arbeitsprogramme austauschen und möglichst miteinander ausgleichen und ein gemeinsames Arbeitsprogramm mit entsprechender Arbeitsteilung anstreben - solange scheint es mir lächerlich, v o m Verein für Sozialpolitik zu verlangen, dass er nach unserer Pfeife tanzen soll". 72 Er verschickte einen Vorschlag, der die deutschen und österreichischen Theoretiker in j e w e i l s drei Gruppen mit unterschiedlichen Graden der Geeignetheit und Vertraulichkeit einteilte. 73 Deutsche Theoretiker I. Altschul, Bernfeld, Block, Cohn, Eucken, Feiler, Gestrich, Hahn, Heimann, Hau, Lautenbach, Lehmann, Lederer, Löwe, Lutz, Marschak, Neisser, Hilde Oppenheimer, Röpke, A. Rüstow, H. J. Rüstow, Veit, Vleugels, Weiter, Wolfers (handschriftlicher Zusatz: „Palyi?") II. Käthe Bauer-Mengelberg, Bloch, Hermberg, Jahn, Neumark, Nölting, Predöhl, Stähle, Stucken, Terhalle III. Kromphardt, Karl Lederer, E. Schuster, Schumpeter Österreichische Theoretiker I. Martha-Stefanie Braun, Haberler, Hayek, Lachmann, Machlup, Rosenstein-Rodan, Schlesinger, Strigl II. B. Kautsky, Morgenstern III. H. Mayer, Mises

68 Nach Krohn (1981), S. 135, machte Spiethoff als Folge von Einsprüchen den Platz für Lederer als Vorsitzenden des Theoretischen Ausschusses frei. Das ist falsch, Spiethoff blieb bis 1932 Ausschussvorsitzender. Krohns Interpretation, Eucken hätte aufgrund der Wahl Lederers das Ergebnis als „niederschmetternd" angesehen, lässt sich nicht halten. 69 NL 169/6/Blatt 354, Brief Löwe an Rüstow v. 3. 3. 1929. Vgl. auch Boese (1939), S. 212 f. 70 Vgl. Boese (1939), S. 213; NL169/2/Blatt 282 ff., Brief Rüstow an Eucken v. 11. 3. 1929. 71 NL 169/6/Blatt 254 ff., Brief Löwe an Rüstow v. 3. 3. 1929. Löwe sah weitere Schwierigkeiten voraus. Denn, so schrieb er an Rüstow: „die alten Herren des Vereins machen vorläufig ausser in Kiel die Berufungen! Hast Du das noch nicht gemerkt? Kein Holz ist grün genug, dass es angesichts dieser Tatsache nicht dürr würde." 72 NL 169/2/282 f., Brief Rüstow an Eucken v. 11. 3. 1929. 73 NL 169/6/242, Brief Rüstow an Löwe v. 9. 3. 1929; NL 169/2/282, Brief Rüstow an Eucken v. 11. 3. 1929. Die Liste findet sich im Nachlass Rüstows (NL 169/191). Sie ist mit dem Vermerk Zürich, 13. bis 15. 9. 1928, überschrieben, und zu den Verhandlungen des Vereins fiir Sozialpolitik entstanden. Die Österreicher sollten nur in zweiter Linie in Betracht gezogen werden. Außerdem findet sich eine korrigierte Liste im Nachlass, in der Herbert Block, Siegfried Bernfeld, Otto Veit, Wilhelm Vleugels und Erich Welter in die zweite Kategorie abgerutscht sind.

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Am 7. Juni 1929 sollte in Rüstows Büro in Berlin ein Vorbereitungstreffen stattfinden, die Gründung dann im Herbst erfolgen. Der greise Hanns-Joachim Rüstow erinnerte sich an drei Treffen unter dem Vorsitz Hahns. Er war sich aber unsicher, welchen Charakter diese hatten. Zu einer erfolgreichen konstituierenden Sitzung eines theoretischen Clubs der Ricardianer ist es 1929 nicht mehr gekommen.74

V. Das Ende: Die Ricardianer und die Weltwirtschaftskrise Mit der hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und der Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Konflikte ließen sich die Gegensätze zwischen Sozialisten und Wirtschaftsliberalen nicht länger vermitteln. Eine von Rüstow forcierte Diskussion politischer Fragen tat ihres dazu. Eucken hatte politische Erörterungen im Interesse des Bestandes der Ricardianer von jeher für gefährlich gehalten und wollte deshalb die Gruppe als eine rein „wirtschaftswissenschaftliche" ansehen. Ein wirtschaftspolitisches Programm dagegen würde nur offenbaren, dass man nicht einig ist.75 Rüstow wollte das nicht anerkennen. „Ich würde es für einen bedauerlichen Kleinglauben gegenüber der Eigenkraft der Theorie ansehen", antwortete er, wenn man sich „an irgend einem wichtigen Punkte wirklich auf die Dauer nicht einigen" könnte. Er wüsste kein wichtiges Problem der Wirtschaftspolitik, bei dem er nicht überzeugt wäre, dass „wir Ricardianer alle bei hinreichender Intensität der Diskussion auch materiell zu den gleichen Ergebnissen kommen würden. Sogar, um einmal gleich den Stier bei den Hörnern zu packen, in der Lohnfrage". 76 Eucken hielt die „heutige Lohnpolitik" für „gelinde ausgedrückt (...) unsinnig". Sie sei „zusammen mit der Arbeitslosenversicherung das wirksamste Instrument zur Verelendung der Arbeiterschaft". Wie man das „theoretisch verteidigen kann", so Eucken im Februar 1930, „ist mir ein Rätsel. (...) Man kann einfach kein geschulter Theoretiker sein und diesen Skandal verteidigen." 77 Diese Ausführungen richteten sich gegen den unterkonsumtionstheoretisch argumentierenden L e d e r e t und - gefahrlicher für den Zusammenhalt unter den Ricardianern - gegen Heimann. Die Diskussion über Heimanns 1929 erschienene Soziale Theorie des Kapitalismus deckte die bestehenden Differenzen unter den Ricardianern auf. Heimanns Buch las sich als eine Lobrede auf die Sozialpolitik und deren „konservativ-revolutionäres Doppelwesen".79 Erst die Sozialpolitik, so Heimann, sichere die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus und dessen Produktivität, in dem gemeinschafitsstiftende, sozialpolitische Maßnahmen die Sprengkraft der Klassengegensätze linderten. Ihre Maßnahmen verän74 Vgl. NL 169/6/Blatt 233, Brief Rüstow an Löwe v. 3. 6. 1929; Interview mit Hanns-Joachim Rüstow v. 18. 9. 1993. Gegen eine erfolgte Gründung sprechen die Briefe von Eucken an Rüstow v. 21. 2. 1930 (NL 169/2/Blatt 206) und Rüstows an Eucken v. 3. 4. 1930 (NL 169/2/Blatt 175). 86 NL 169/2/271, Brief Eucken an Rüstow v. 27. 3. 1929. 76 NL 169/2/262 ff., Brief Rüstow an Eucken v. 2. 4. 1929. Rüstow forderte Eucken auf, ihm doch den Namen eines einzigen Theoretikers zu sagen, der in der Lohnfrage versagt habe. Eucken geriet in Beweisnot. Als er den Sozialpolitiker Ludwig Heyde nannte, konterte Rüstow mit Recht, Heyde sei niemals Theoretiker gewesen. 77 NL 169/2/Blatt 206, Brief Eucken an Rüstow v. 21. 2. 1930. 78 Vgl. etwa Lederer (1927). 79 Heimann (1929/80).

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derten schließlich das kapitalistische Wirtschaftssystem in revolutionärer Weise, ohne dabei allerdings das Privateigentum aufgeben zu müssen. Sei der Monopolkapitalismus erst überwunden, wäre endlich die Verwirklichung eines liberalen Sozialismus möglich. Eucken und Rüstow lehnten Heimanns Soziale Theorie des Kapitalismus ab. Auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der interventionistischen Wirtschaftspolitik der Weimarer Zeit konnten und wollten sie die erfahrene Sozialpolitik weder als gemeinschaftsstiftend begreifen, noch das Wirken der Gewerkschaften als segensreich für das Ganze akzeptieren. In der Praxis sei die Sozialpolitik eine machtorientierte Klientelpolitik gewesen, meist ignorant gegen Interessen der „Gemeinschaft". Nach Meinung von Eucken und Rüstow sicherte die Weimarer Sozialpolitik nicht das marktwirtschaftliche System, sondern gab es der Zerstörung preis. In Rüstows berühmter Rede vor dem Verein für Sozialpolitik 1932 in Dresden, heißt es: „Jeder Interessent reißt sich ein Stück Staatsmacht heraus und schlachtet es für seine Zwecke aus".80 Zwar nahm Rüstow seinen Duz-Freund Heimann vor Eucken in Schutz.81 Gegenüber Löwe ließ er es aber nicht an deutlicher Kritik an Heimann fehlen. Er halte Heimanns Theorie schlicht für eine „glorifizierende Darstellung der in Wirklichkeit höchst kläglichen geschichtlichen Entwicklung".82 Löwe hielt zu Heimann und bedauerte, dass Rüstow im Gegensatz zu den Zeiten der religiösen Sozialisten nun die „ursprüngliche soziale Haltung", ein „instinkthaftes Verständnis für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse" abgehe.83 Rüstow antwortete mit einem Bekenntnis für die Freiheit. Früher hätte er der Einheit Vorrang gegeben und verzweifelt nach dem Weg gesucht, wie dann die Freiheit dazukommen sollte. „Heute glaube ich zu sehen, daß erzwungene Einheit niemals zur Freiheit führt".84 Bekanntlich wiesen in der Folge die Ricardianer Rüstow, Eucken und Röpke den Weg zu einer neuen liberalen Ordnungspolitik, während Löwe, Colm und Heimann heute als Vorläufer des Keynesianismus gelten.85 Letztlich scheiterte der Versuch der Ricardianer, eine vereinte Gegenmacht zur Historischen Schule aufzubauen, an unüberbrückbaren politischen Differenzen untereinander, noch bevor man sich der großen Herausforderung der Weltwirtschaftskrise hätte stellen können. Immerhin schaffte es Heimann 1931, Röpke als Mitglied in der sogenannten 5ra««Ä-Kommission durchzusetzen und beide arbeiteten dort kurze Zeit gemeinsam an einem Konzept zur Bekämpfung der Krise.86 Doch Rüstow widmete sich bereits im Sommer 1931 verstärkt dem Aufbau des Deutschen Bundes fiir freie Wirtschaftspolitik, einem „organisatorischen Sammelbecken für alle Kräfte in Theorie und 80 Rüstow (1932/63), S. 255; ähnlich Eucken (1932). Bei beiden wird zu dieser Zeit der Einfluss von Carl Schmitts Kritik am Pluralismus und sein Votum fiir eine demokratische Diktatur deutlich; vgl. Meier-Rust (1993), S. 29. 81 NL 169/2/Blatt 180, Brief Rüstow an Eucken v. 3. 4. 1930. 82 NL 169/6/Blatt 211, Brief Rüstow an Löwe v. 4. 9. 1929. 83 NL 169/6, Brief Löwe an Rüstow v. 20. 9. 1929. 84 NL 169/6, Brief Rüstow an Löwe v. 23. 9. 1929. 85 Vgl. dazu Beckmann (2000); Janssen (20093). 86 Zur Arbeit der ßrau«s-Kommission vgl. Janssen (2009), S. 402 ff. Heimann hatte Röpke im Februar 1931 aufgefordert, der Kommission beizutreten: „Betrachten Sie dies als eine Angelegenheit der modernen Ricardianer" (NL 169/4/Blatt 163 f. Brief Heimann an Röpke v. 2. 2. 1931). Rüstow (NL 169/2/Blatt 147) schrieb dazu am 25. Februar 1931 an Eucken: „Dass Heimann sich mit aller Kraft dafür eingesetzt hat, zunächst mich, und, als das nicht ging, Röpke in die Arbeitslosenkommission hineinzubekommen, beweist doch auch wieder seine Ricardianische Loyalität."

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Praxis, die eine irgendwie wirtschaftsliberale Einstellung vertreten".87 Da lag es in der Logik der Sache, dass Rüstow aus dem engeren Kreis der Ricardianer zwar Eucken und Röpke, aber nicht mehr Löwe und Heimann zu integrieren suchte.88 Im Kontext dieser Entwicklung markieren dann die beiden ersten Manifeste des deutschen Neoliberalismus, Rüstows Rede auf der Verhandlung des Vereins für Sozialpolitik in Dresden 1932 Freie Wirtschaft - Starker Staat und Euckens Aufsatz Staatliche Strukturwandlungen und die Krise des Kapitalismus,89 die irreparable Soll-Bruchstelle innerhalb der Ricardianer. Rüstow und Eucken zeigten sich am Vorabend der Machtgreifung beunruhigt angesichts der zunehmenden antikapitalistischen Stimmung. Die „Demokratisierung" hätte „den Parteien und den von ihnen organisierten Massen und Interessengruppen einen stark gesteigerten Einfluß auf die Leitung des Staates und damit auf die Wirtschaftspolitik" verschafft. Es drohe eine Schwächung des Staates, bis zur Gefahr seiner Auflösung. Der Staat sei zum Werkzeug diverser Interessenten und ihrer Forderungen nach Interventionismus und Kartellierung degradiert. Er sei, so Rüstow, im wörtlichen Sinne „reaktionär" geworden.90 In der Folge sei die regulierende Wirkung des Preissystems durch Staatseingriffe aufgehoben und damit die „Tendenz zur Vollbeschäftigung aller Anlagen und Arbeitskräfte" weitgehend ausgeschaltet worden.91 Darin liege die Ursache der großen Krise. Der Staat müsse die Kraft finden, sich „vom Einfluss der Massen frei zu machen und sich wieder in irgendeiner Form von der Wirtschaft zu distanzieren".92 Rüstow favorisierte einen „marktkonformen Interventionismus", Eucken eine Ordnungspolitik.93 In beiden Fällen setzte der „neue Liberalismus", wie Rüstow 1932 sagte, nicht auf den „Nachtwächterstaat" des alten Liberalismus, sondern auf einen „starken Staat", überlegen durch „Autorität und Führertum".94 Löwe hielt nach dieser Rede die Standpunkte für nicht länger vereinbar: „Wir waren im wechselvollen Gang der 13 Jahre, die wir uns kennen, schrieb er in seinem letzten Brief vor der Emigration an Rüstow, noch nie so weit auseinander wie im Augenblick."95 87 NL 169/2/70, Brief Rüstow an Eucken v. 19. 4. 1932; vgl. auch NL 196/1. Der Bund ging auf regelmäßige Treffen wirtschaftsliberaler Vertreter aus Politik und Wirtschaft zurück und war im Februar 1932 unter Mitarbeit von Rüstow und dessen Vorgesetzten im VDMA, Karl Lange, gegründet worden. Vgl. Meier-Rust (1993), S. 54 ff. Die Teilnehmer trafen sich seit dem 14. 8. 1931 regelmäßig, die letzte Zusammenkunft fand am 28. 4. 1933 statt. Anlässlich der ersten „Kundgebung" des Bundes am 21. Mai 1932 erschien: Deutscher Bundfür freie Wirtschaftspolitik (1932). 88 NL 169/2/70 Brief Rüstow an Eucken vom 19. 4. 1932; NL 169/2/Blatt 69 f., Brief Eucken an Rüstow v. 26. 4. 1932; NL 169/2/Blatt 55, Brief Rüstow an Eucken v. 25. 6. 1932; NL 169/2/Blatt 52 Eucken an Rüstow v. 27. 6. 1932. 89 Vgl. Rüstow (1932/63); Eucken (1932); vgl. dazu Janssen (2009). 90 Rüstow (1932/63), S. 251 f. 91 Eucken, (1932), S. 306 ff. Auch Rüstow (1932/63), S. 249, sieht die „gegenwärtige deutsche Krise zu einem erheblichen Teil durch Interventionismus und Subventionismus der öffentlichen Hand verursacht". 92 Eucken (1932), S. 318. 93 Vgl. Eucken (1952). 94 Rüstow (1932/63), S.252-58. BA 169/6 Brief Löwe an Rüstow vom 25. 10. 1932. Die Freundschaft beider blieb bestehen und überdauerte auch die Ehe zwischen einem Sohn Rüstows mit einer Tochter Lowes. Darauf wies Harald Hagemann in der meinem Erfurter Vortrag folgenden Diskussion hin.

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Die Nationalsozialisten setzten schließlich allen weiteren Bemühungen der Ricardianer ein gewaltsames Ende. Während die alten Freunde Löwe, Colm, Heimann und Wolfers sich später in den USA, meist an der New School for Social Research in New York wiederfanden, wählte Rüstow „durchaus unter dem Eindruck dieser Kontroversen und somit nicht ganz freiwillig" einen anderen Weg und ging zusammen mit Röpke nach Istanbul.96 Nur Eucken blieb in Deutschland. Unter seiner geistigen Führung konnte sich dann in Freiburg ein Zentrum wirtschaftsliberalen Denkens und theoretischen Arbeitens über die Jahre des Dritten Reiches hinweg erhalten.97

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96 97

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Zwischen Historismus und Neoklassik

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Summary: Between Historical School and Neoclassical Economics: Alexander Rüstow and the Crisis in German Economics The crisis in German economics after the First World War led to the attempt, initiated by Alexander Rüstow in 1926, to unify all the German economic theorists in a 'closed front' against the Historical School. The so called „Ricardians" should be ready to attack, as Rüstow wrote to Walter Eucken in 1927, the „ruins of the Historical School". This development, in which we see the first blossoming of later Ordoliberalism, was neglected for a long time and its significance in the history of German economic thought not appreciated. Our paper based on an evaluation of the correspondence

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of Rüstow with his later emigrated socialist friends Adolf Löwe (in US known as Adolph Lowe) and Eduard Heimann on the one side and his liberal companions Walter Eucken and Wilhelm Röpke on the other side.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Hanno Beck

Wirtschaftspolitik und Psychologie: Zum Forschungsprogramm der Behavioral Economics Inhalt I. II. III. 1. 2. 3. 4. 5. IV. V. VI. 1. 2. VII. 1. 2. VIII.

Was ist Behavioral Economics? Der Homo oeconomicus aus der Perspektive der Psychologie Begrenzte Rationalität Das Heuristics-and-biases-Programm Rückschaufehler und Überoptimismus Prospect Theory Framing und Besitztumseffekt Mentale Kontenbildung Begrenzte Willenskraft Begrenzter Eigennutz und soziale Präferenzen Folgerungen für Wirtschaftspolitik und -theorie Gestaltungsempfehlungen der Behavioral Economics Der Liberale Paternalismus Kritik Kritik der traditionellen Ökonomik Ein Einfallstor in staatlichen Dirigismus? Fazit

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Psychology and economic policy

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I. Was ist Behavioral Economics? Die meisten Ökonomie-Studenten sind mit Adam Smiths Wohlstand der Nationen vertraut - aber nur die wenigsten kennen die Theorie der ethischen Gefühle, in der Smith über Motivationen und Gefühle schreibt. Dort finden sich Ideen zu dem Konflikt zwischen kurzfristigen Leidenschaften und langfristigen, vernünftigen Absichten, Bemerkungen über Verlustängste und Ausführungen über zu großes Selbstvertrauen - insofern war Adam Smith auch Psychologe (Ashraf, Camerer und Loewenstein 2004).

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Zwischenzeitlich hat sich die Ökonomie von diesem psychologischen Ansatz entfernt und ist - auch aufgrund der starken Formalisierung - statischer geworden, was ihre Annahmen angeht, soweit, dass sie bisweilen als „anti-verhaltenswissenschaftlich" kritisiert wird (Mullainathan und Thaler 2000). Im Rahmen der Behavioral Economics findet eine Annäherung der Ökonomen an die verhaltenswissenschaftlichen Ideen der Psychologie statt: Diese Disziplin ist der Versuch, das normative Ideal des homo oeconomicus mit dem Menschenbild der Psychologie zu versöhnen. Man kann bewusst von einer Wiedervereinigung der Psychologie mit der Ökonomik (Camerer 1999, S. 1057) sprechen statt von einer neuen Synthese. Die Behavioral Economics suchen nach systematischen Abweichungen im menschlichen Verhalten, den Ursachen von Fehlentscheidungen und versuchen, diese zu erklären und zu zeigen, in welchem ökonomischen Kontext sie relevant sind. Was ist dran an der Kritik des rationalen Menschen? Und wenn der Mensch nicht so rational ist, wie Ökonomen es annehmen, welche Folgen hat das für die Wirtschaftspolitik? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen im folgenden zunächst die Kritik der Behavioral Economics am traditionellen Menschenbild der Ökonomik dargestellt werden (Abschnitt II), im Anschluss daran soll der Gegenentwurf der Behavioral Economics dargestellt werden: Menschen sind nur begrenzt rational, weswegen sie viele Probleme nur unzureichend lösen und zu Irrtümern in der Entscheidungsfindung neigen (Abschnitt III), sie sind nicht konsistent in ihren Entscheidungen, vor allem, wenn es um langfristige Entscheidungsprobleme geht (Abschnitt IV) und sie sind nicht strikt eigennutzorientiert (Abschnitt V). Der sechste Abschnitt schildert Implikationen dieser Ideen der Behavioral Economics für die Politik, speziell die Frage nach der notwendigen Intervention des Staates in die Freiheitsrechte seiner Bürger. Abschnitt VII beinhaltet die Kritik an den Ideen und politischen Implikationen der Behavioral Economics; das letzte Kapitel zieht eine kurze Bilanz.

II. Der Homo oeconomicus aus der Perspektive der Psychologie Der Homo oeconomicus ist die zentrale Annahme der klassischen Ökonomik. Für die mathematische Formalisierung, die zweifelsohne große Erkenntnisfortschritte gebracht hat, war diese Modellierung einer rationalen Kunstfigur unabdingbar - irrationale oder unberechenbare Charaktereigenschaften lassen sich schwerlich formalisieren. Doch in den Augen der Kritiker hat die Theorie dafür einen hohen Preis gezahlt: Ihr Mensch ist ein kalter Rechenautomat ohne Emotionen. Es sind drei zentrale Annahmen, auf denen sich das Menschenbild der Ökonomen gründet (Mullainathan und Thaler 2000, S. 3): — unbegrenzte Rationalität: Menschen sind rationale Nutzenmaximierer, die immer nach dem Optimum streben. Sie unterliegen keinen kognitiven Beschränkungen, ihre Urteilskraft ist nicht durch Fehler in der Wahrnehmung oder in der Informationsverarbeitung getrübt. Im Menschenbild der Ökonomen gibt es keine systematischen Fehlentscheidungen, die aus Mangel an Rationalität entstehen. — unbegrenzte Willenskraft Emotionen und Selbstkontrollprobleme spielen keine Rolle bei menschlichem Verhalten. Wer sich entschlossen hat, das Rauchen aufzugeben, weil der Nutzen des Nichtrauchens über dem Nutzen des Rauchens liegt, wird Nicht-

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raucher - im Gegensatz zur Realität, wo gute Vorsätze oft an Willensschwächen scheitern. — unbegrenztes Eigennutzstreben: Menschen sind Eigennutzmaximierer - das Wohlergehen Anderer oder Motive wie Fairness oder die Bestrafung unfairen Verhaltens ohne strategische Intentionen spielen für die Entscheidung des Homo oeconomicus keine Rolle. Man muss kein außergewöhnlicher Skeptiker sein, um die Probleme dieses Ansatzes zu sehen: Diese Annahmen machen den Menschen in einer mathematischen Modellwelt beherrschbarer, entfremden ihn aber zugleich der Realität. Diese sieht in den Augen der Behavioral Economics differenzierter aus: — Begrenzte Rationalität: Menschen machen aufgrund ihrer begrenzten kognitiven Fähigkeiten Fehler bei der Informationsaufhahme und -Verarbeitung. In der Literatur wird von Verhaltensanomalien oder Biases gesprochen - also ein Verhalten, das von der ökonomischen Rationalität abweicht und zu systematischen Fehlentscheidungen führt. Der dritte Abschnitt diskutiert solche Fehler in der Urteilsbildung. — Begrenzte Willenskraft-. Menschen verhalten sich zeitinkonsistent, verschieben Diäten, vernachlässigen ihre Altersvorsorge und drücken sich vor unangenehmen Entscheidungen. Diese Ideen werden im vierten Abschnitt behandelt. — Begrenzter Eigennutz, Emotionen und soziale Präferenzen: Menschen handeln altruistisch, sie sorgen sich um Andere, sie sind auf Fairness bedacht und bereit, für die Bestrafung unfairen Verhaltens zu bezahlen. Dieser Befund wird im fünften Abschnit behandelt. Das Forschungsprogramm der Behavioral Economics soll zeigen, wo und wie das tatsächliche Verhalten der Menschen in diesen Punkten vom Menschenbild des Homo oeconomicus abweicht und die Relevanz dieses abweichenden Verhaltens für die Wirtschaftspolitik aufzeigen. Entsprechend der Kritik am Homo oeconomicus setzt diese Kritik an drei Punkten an: an der begrenzten Rationalität (Abschnitt III), der begrenzten Willenskraft (Abschnitt IV) und der Idee, dass Menschen nicht immer streng eigennützig sind (Abschnitt V).

III. Begrenzte Rationalität 1. Das Heuristics-and-biases-Programm In der klassischen Theorie werden Probleme mit Hilfe von Logik und elementaren Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie gelöst. Je komplexer dabei das Problem ist, umso komplexer werden die dazu nötigen Lösungsansätze: Wahrscheinlichkeiten werden geschätzt und berechnet und die einzelnen Handlungsmöglichkeiten damit gewichtet. Diesem streng rationalen Ansatz zur Problemlösung stellten Kahneman und Tversky in den frühen siebziger Jahren die Idee entgegen, dass Menschen bei komplexen Entscheidungsproblemen nicht mathematische Modelle, sondern vereinfachende Lösungsansätze, sogenannte Heuristiken, anwenden (Tversky und Kahneman 1974).

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Vor allem bei Situationen mit ungewissen Ereignissen, also bei Entscheidungen unter Unsicherheit, muss man die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse abschätzen. Die Grundidee von Heuristiken besteht darin, dass wir diese Wahrscheinlichkeiten nicht berechnen, sondern zu vereinfachenden Regeln (Heuristiken) greifen. Heuristiken sind also mentale Abkürzungen oder Daumenregeln, welche die komplizierten Berechnungen analytischer Modelle ersetzen. In der Literatur werden verschiedene solcher Heuristiken diskutiert (Tversky und Kahneman 1974; Stürmer 2000): — Die Repräsentativitätsheuristik wenden Menschen an, wenn es darum geht, die Wahrscheinlichkeit zu schätzen, mit der ein Objekt einer bestimmten Klasse angehört oder von einem bestimmten Prozess ausgelöst wird. Ist das Objekt repräsentativ für die Klasse (den Prozess), so schätzt man die Wahrscheinlichkeit einer Zugehörigkeit entsprechend hoch ein. Sieht ein Mensch aus wie ein Bibliothekar, so vermuten wir, dass er auch Bibliothekar ist (Tversky und Kahneman 1974, S. 1124). — Die Grundidee der Verankerungsheuristik (für einen Überblick vgl. Orr und Guthrie 2006) besteht darin, dass Menschen bei der Schätzung von Werten von einem Ausgangswert, dem Anker, beginnend ihre Schätzung anpassen, diese Anpassung vom Anker aber nicht ausreichend ist - die Wahl des Ankers kann die Schätzung verzerren. In einer weitreichenden Interpretation führt die Verankerungsheuristik dazu, dass die von den Anbietern gesetzten Preise die Nachfrage der Konsumenten über die Verankerung beeinflussen (Ariely 2008, S. 45 ff.) - dann wäre die Nachfrage nicht nur von den Konsumentenpräferenzen, sondern auch vom Angebot abhängig, mit unangenehmen Folgen für die mikroökonomische Theorie. — Mittels der Verfiigbarkeitsheuristik schätzt man die Häufigkeit einer Klasse oder die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses danach ein, wie leicht man sich an Repräsentanten für die Klasse oder an entsprechende Ereignisse erinnert. Unsere Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Herzanfall erleidet, hängt davon ab, wie viele Beispiele wir aus unseren eigenen Erfahrungshorizont kennen. — Confirmation bias. Unter dem Confirmation bias (bspw. Nickerson 1998) versteht man die Neigung, Fakten im Sinne bereits vorgefasster Meinungen zu suchen und zu interpretieren. Hat man eine Meinung gefasst, so rückt die Verteidigung dieser Meinung in den Mittelpunkt der Bemühungen. Diese und weitere Heuristiken, so die Idee, helfen bei der Lösung komplexer Probleme - mit wechselhaftem Erfolg: So sind sie grundsätzlich geeignet, gute Lösungen zu erbringen, führen aber auch zu falschen Entscheidungen, zu Verzerrungen bei der Urteilsbildung. Heuristiken sind also im positiven Sinne effiziente Problemlösungstechniken, im negativen Sinne führen sie zu systematischen Fehleinschätzungen. Wichtig bei dieser Diskussion ist der Unterschied zur traditionellen Ökonomie: Auch sie lässt Fehlentscheidungen zu, aber im Unterschied zum Heuristics-and-biases-Programm sieht man diese Fehler als unsystematisch an. Die Botschaft des Heuristics-and-biasesProgramms ist, dass viele dieser Fehlentscheidungen systematisch sind und damit zwingend in die Modellbildung der Ökonomen mit aufgenommen werden müssen. Aller-

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dings sieht sich das Heuristics-and-biases-Programms massiver Kritik ausgesetzt, was die Validität seiner Erkenntnisse angeht.1 Neben den Verhaltensanomalien, die durch die Verwendung von Heuristiken hervorgerufen werden, finden sich in der Literatur weitere Verhaltensanomalien, die auf die Eigenschaft der Menschen abzielen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen - hier geht es vor allem um den sogenannten Rückschaufehler sowie den Überoptimismus.

2. Rückschaufehler und Überoptimismus Seit den ersten Veröffentlichungen zum Heuristics-and-biases-Programm ist eine Fülle weiterer Verhaltensanomalien hinzugekommen; eine vollständige Bestandsaufnahme ist hier nicht möglich (vgl. dafür Gilovich, Griffin und Kahneman 2002). Zwei der prominentesten Anomalien sind der Rückschaufehler und der Überoptimismus. Der Rückschaufehler (Fischhoff 1975) bezeichnet die Neigung, die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses in der Rückschau zu überschätzen. Wir glauben aufgrund der Tatsache, dass wir den Ausgang eines Ereignisses bereits kennen, dass man dieses besser hätte voraussagen können, als das tatsächlich der Fall war. Die tatsächlichen Folgen einer Entscheidung scheinen damit im Nachhinein wahrscheinlicher, als sie es zum Zeitpunkt der Entscheidung objektiv waren. In der zweiten Version des Rückschaufehlers korrigieren Menschen ihre Einschätzungen eines Ereignisses nachträglich: Man stellt Probanden eine Frage und bittet sie zu schätzen, wie sicher sie sich sind, dass sie die korrekte Antwort gegeben haben. Teilt man ihnen anschließend die korrekte Antwort auf die Frage mit, so überschätzen sie im Rückblick ihre eigene Einschätzung bezüglich ihrer Fähigkeit, die korrekte Antwort gegeben zu haben. Vereinfacht gesagt hat man es „im Nachhinein gewusst" - auch wenn man es nicht gewusst hat. Ganz ohne Kritik ist diese Anomalie allerdings nicht, so gibt es Stimmen, im Rückschaufehler ein Artefakt sehen (McCloskey und Zaragoza 1985). Eine weitere Verhaltensanomalie ist der sogenannte Überoptimismus (Lichtenstein, Fischhoff und Phillips 1982). Darunter versteht man das Phänomen, dass Menschen sich selbst und ihre Fähigkeiten eigennützig und egozentrisch beurteilen. Sie überschätzen ihre Fähigkeit, auf Fragen korrekte Antworten zu geben, sie sind bezüglich ihrer Erwartungen für die eigene Zukunft zu optimistisch (Weinstein 1980), schreiben Erfolge ihren eigenen Fähigkeiten zu (Self-serving bias), während sie Misserfolge auf äußere Umstände, beispielsweise auf den Zufall, zurückführen (Langer 1975) und überschätzen den Einfluss ihres Handelns auf Ereignisse (Langer 1975; 1982). Die Folgen eines solchen Überoptimismus liegen auf der Hand: Experten vertrauen zu sehr auf falsche Prognosen, gehen zu große Risiken ein, Anleger verwalten ihre Portfolios schlecht (Barber und Odean 2001) und Manager überziehen Budgets. Überoptimismus kann erklären, warum Manager Zusammenschlüsse und Übernahmen wagen, die sich anschließend als wertvernichtend erweisen - die Protagonisten solcher Unternehmen überschätzen die Leistungsfähigkeit ihres Unternehmens und die potentiellen

1 Zu den Details vgl. u.a. Gilovich und Griffin 2002; Gigerenzer 1991 und die Replik von Kahneman und Tversky 1996 sowie Gigerenzer 1996.

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Erträge (vgl. dazu auch Roll 1986). Weiterhin kann Überoptimismus dazu fuhren, dass Stellensuchende auf dem Arbeitsmarkt zu lange nach einer neuen Stelle zu lange suchen, da sie die Chancen auf eine bessere Stelle überschätzen {Dubra 2004).2 Trotz aller Kritik zum Programm der Verhaltensanomalien kann man sagen, dass ihre Erforschung das Verständnis von kognitiven Prozessen und damit auch die ökonomische Forschung bereichert hat; ebenso wie ein weiterer wichtiger Meilenstein der Behavioral Economics: die Prospect Theory.

3. Prospect Theory Die zentrale Theorie in der Ökonomie zur Bestimmung menschlicher Entscheidungen unter Unsicherheit ist die Erwartungsnutzentheorie. Ihre Grundidee besteht darin, dass Entscheider ihren erwarteten Nutzen unter Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Alternativen maximieren. Der Erwartungswert verschiedener Alternativen wird berechnet, indem man Werte der einzelnen Handlungsalternativen mit ihren individuellen Wahrscheinlichkeiten multipliziert und diese Werte anschließend addiert. Die Prospect Theory (Kahneman und Tversky 1979) setzt der Erwartungsnutzentheorie eine verhaltenswissenschaftlich motivierte Alternative entgegen; sie stützt sich dabei auf Beobachtungen menschlichen Verhaltens, die nicht mit der Erwartungsnutzentheorie kompatibel sind. Der Nutzen einer Handlungsalternative ergibt sich in der Prospect Theory, indem man die möglichen Ergebnisse (Auszahlungen) einer Entscheidung mit ihren individuellen Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtet; wobei eine sogenannte Wertfunktion jeder Handlungsalternative einen subjektiven Wert zuordnet. Entscheidend für viele Erkenntnisse der Behavioral Economics ist die Gestalt dieser Wertfunktion. Sie misst Nutzen und Kosten einer Entscheidung als Abweichungen von einem vorher festgelegten Referenzpunkt - sie misst also die Gewinne und Verluste einer Entscheidung. In der Prospect Theory beurteilen die Menschen eine Entscheidungssituation nicht unter Einbeziehung ihres gesamten Vermögens, sondern anhand der potentiellen Abweichung von einem Referenzpunkt. Nicht absolute Werte, sondern die Veränderungen dieser Werte in Bezug auf diesen Referenzpunkt sind die Träger von Nutzen. Damit ist der Wert einer Handlungsoption abhängig von zwei Elementen: dem Referenzpunkt und der Höhe der Abweichung vom Referenzpunkt. Zwei Besonderheiten zeichnen die Wertfunktion aus: Sie ist konkav im Bereich der Gewinne und konvex im Bereich der Verluste; der Unterschied zwischen einem Gewinn von 100 und einem Gewinn von 200 Euro wird also stärker wahrgenommen als der Un2

Gigerenzer, Hoffrage und Kleinbölting (1991) kritisieren, dass die Fragen, anhand derer man Überoptimismus erforscht, nicht zufällig ausgewählt werden, sondern um die Grenzen des Wissens der Probanden zu testen. Bei zufalliger Auswahl der Fragen verschwinde der Überoptimismus. Weiterhin überschätzen Menschen zwar ihre Fähigkeit, einzelne Fragen korrekt zu beantworten, liegen aber richtig, wenn sie einschätzen sollen, wie viel Prozent der Fragen sie insgesamt richtig beantworten. Überoptimismus scheint also von der Art der Fragen abzuhängen und von den mentalen Modellen, mit denen Menschen solche Fragen beantworten. Zudem muss Selbstüberschätzung nicht immer negativ sein (Russo und Schoemaker 1992, S. 16), sie kann motivierend sein, fördert Unternehmertum, und ermöglicht es motivierten Unternehmern, Kreditgeber oder Aktionäre von ihren Ideen zu überzeugen.

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terschied zwischen einem Gewinn von 1100 und 1200 Euro. Die konvexe Form der Kurve im Verlustbereich stellt sicher, dass das gleiche Phänomen bei Verlusten auftritt. Ein weiteres Postulat der Prospect Theory besteht darin, dass die Wertfunktion im Verlustbereich steiler ist als im Gewinnbereich: Menschen sind risikoavers, wenn es um Gewinne geht und risikofreudig, wenn es um Verluste geht (fur die Weiterentwicklung der Prospect Theory in Form der kumulativen Prospect Theory vgl. Tversky und Kahneman 2000).

4. Framing und Besitztumseffekt Mit Hilfe der Prospect Theory lassen sich weitere Verhaltensanomalien erklären, die im Widerspruch zu den Annahmen der klassischen Ökonomie stehen. Zu den bekanntesten Effekten in der Literatur gehören das sogenannte Framing (Tversky und Kahneman 1981) und der Besitztumseffekt (Thaler 1980; Knetsch 1989). Framing beschreibt den Effekt, dass die Formulierung eines Problems Einfluss auf die Wahl des Entscheiders nehmen kann. Wird ein Problem auf zwei verschiedene Weisen, aber logisch äquivalent formuliert, so kann es aufgrund der unterschiedlichen Formulierung der Problemstellung zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. In der herkömmlichen Ökonomie sollte die Entscheidung für oder gegen eine Option nicht von der Formulierung des Entscheidungsproblems abhängen (Invarianz). Beispiele für das Framing sind (Levin, Schneider und Gaeth 1998): — Fleisch, das als 25 Prozent mager beschrieben wird, erscheint qualitativ besser als Fleisch, das zu 75 Prozent fett beschrieben wird {Levin und Gaeth 1988). Hier findet sich in der Regel, dass Objekte mit der positiven Beschreibung positiver bewertet werden. — Menschen neigen dazu, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen, wenn man ihnen erklärt, dass bei Unterlassung die Chancen für eine frühzeitige Entdeckung von Krankheiten sinken, als wenn man ihnen erklärt, dass die Chancen einer frühzeitigen Entdeckung steigen (Meyerowitz und Chaiken 1987). Hier lautet die Hypothese, dass man einer Handlungsaufforderung eher nachkommt, wenn die Konsequenzen des Nicht-Tuns (der anderen Alternative) als Verlust beschrieben werden, da Menschen verlustavers sind. — Formuliert man eine Entscheidungssituation als Gewinn („200 von 600 Patienten überleben") oder als Verlust („400 von 600 Patienten sterben"), so neigen die Probanden bei der Verlust-Formulierung zu riskanterem Verhalten als im Falle einer positiven Formulierung als Gewinn. Dieses Verhalten resultiert nach den Erkenntnissen der Prospect Theory daraus, dass Menschen risikoavers sind, wenn es um Gewinne geht, im Verlustfall aber risikofreudig sind. Kritiker des Framing allerdings sehen dieses nicht als Verhaltensanomalie, sondern als Methode, wenig Informationen intelligent zu interpretieren (20 Prozent überleben, was ist mit den restlichen 80 Prozent?; für Kritik Stocké 1998; McKenzie 2004; McKenzie und Nelson 2003). Eine weitere Verhaltensanomalie ist der Besitztumseffekt (Thaler 1980). Er besagt, dass Menschen Gegenständen einen höheren Wert beimessen, wenn sie im Besitz dieser

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Gegenstände sind. Die Wertschätzung für ein Objekt hängt nach dieser Idee davon ab, ob man dieses Objekt besitzt. So liegt in solchen Experimenten der Reservationspreis der Verkäufer eines Gutes (Willingness to accept, WTA) über der Zahlungsbereitschaft der potentiellen Käufer für dieses Gut (Willingness to pay, WTP). In der ökonomischen Theorie ist der Wert eines Objektes für das einzelne Wirtschaftssubjekt unabhängig vom Besitz dieses Gutes. Die Existenz eines Besitztumseffektes würde mit Blick auf die in der MikroÖkonomie verwendeten Indifferenzkurven - die geometrischen Orte aller Güterkombinationen, die einem Wirtschaftssubjekt den gleichen Nutzen stiften - bedeuten, dass diese Kurven sich bei Vorliegen eines Besitztumseffektes schneiden können (Kahneman, Knetsch und Thaler 1991, S. 197). Eine Folge des Besitztumseffekts könnte sein, dass das Handelsvolumen auf Märkten zu gering ist, verglichen mit einem Markt ohne Besitztumseffekt (ebenda, S. 196). Eine weitere Folge des Besitztumseffektes ist der sogenannte Status-Quo-Bias, nach dem Menschen dazu tendieren, sich bei Entscheidungen gegen eine Veränderung und für den aktuellen Zustand zu entscheiden (Samuelson und Zeckhauser 1988). Als Erklärung für den Besitztumseffekt greift man in der Literatur auf die Ideen der Prospect Theory zurück (Kahneman, Knetsch und Thaler 1991): Wenn Menschen Verluste stärker bewerten als Gewinne und der Verkauf eines Gutes als Verlust, der Kauf hingegen als Gewinn wahrgenommen wird, dann wird die Zahlungsbereitschaft potentieller Käufer (die Wertschätzung eines Kaufes, i.e. eines Gewinns) geringer sein als die Forderungen der Verkäufer, die für den Verlust des Gutes, das sie verkaufen, entschädigt werden wollen. Auch der Besitztumseffekt ist in der Literatur umstritten: Eine einfache Erklärung für diesen Effekt besteht darin, dass die Preisforderungen der Versuchspersonen strategisch motiviert sind, um sich bei den Preisverhandlungen eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Zumindest lässt sich zeigen, dass bei entsprechendem Versuchsdesign die Differenz zwischen WTP und WTA sinkt, auch, wenn die Versuchspersonen Gelegenheit haben, Erfahrungen auf Märkten zu sammeln (Coursey, Hovis und Schulze 1987). Studien zeigen, dass sich mit mehr Wettbewerb und Lernen die Differenz zwischen WTA und WTP reduzieren lässt, aber sie verschwindet nicht (Camerer 1995, S. 667).

5. Mentale Kontenbildung Mental Accounting (geistige Kontenführung) beschreibt, wie Menschen Optionen und ihre Konsequenzen kategorisieren und mental zusammenfassen. Ein Mental Account ist sozusagen ein Rahmen (Frame) zur Evaluation von Entscheidungssituationen: Da Menschen bei ihren Entscheidungen nicht deren Auswirkung auf alle aktuellen und zukünftigen Optionen und Vermögenspositionen berücksichtigen können; kategorisieren sie ihre Ausgaben und Einnahmen, ihre Kosten und Nutzen in verschiedene mentale Konten und fallen ihre Entscheidungen mit Blick auf diese Konten. Dabei vernachlässigen sie den Gesamtkontext ihrer Ausgaben und Einnahmen. Statt alle relevanten Tatbestände und Vermögenspositionen, also das gesamte Umfeld mit in die Entscheidung einzubeziehen, konzentrieren sich Menschen auf wenige, mental kodierte Aspekte. Nach der Idee des Mental Accounting teilen Menschen ihr Geld in drei verschiedene Kategorien - laufende Ausgaben, Vermögen, Einkommen - ein (Thaler 1999). Die Bil-

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dung verschiedener Konten kann dazu führen, dass Geld nicht mehr zwischen verschiedenen Ausgabenkategorien fungibel ist. Beispielsweise ist die Neigung, Geld von Vermögenskonten auszugeben, deutlich geringer - was verhindert, dass man das überzogene Kreditkartenkonto mit Geld vom Sparkonto ausgleicht. Damit ließe sich erklären, warum Menschen das teure Kreditkartenkonto überziehen, zugleich aber ausreichend Geld auf niedrig verzinsten Vermögenskonten haben. Das Problem an der Idee der mentalen Kontenbildung ist, dass es keine festen Regeln oder Gesetze für die Bildung solcher Konten gibt - welche Einnahmen und Ausgaben oder Vermögensteile wie auf welchen Konten verbucht werden, entzieht sich festen Regeln. Damit lassen sich viele Verhaltensweisen durch entsprechende (willkürliche?) Annahmen bezüglich der mentalen Kontenbildung erklären.

IV. Begrenzte Willenskraft Ein weiteres Forschungsfeld der Behavioral Economics ist die Erforschung der Zeitpräferenzen; hier vor allem die Kritik am traditionellen Discounted-Utility-Modell der Ökonomen, das den Gesamtnutzen eines Menschen bestimmt, indem man den Nutzen des gesamten zukünftigen Konsums c bei einem Zinssatz i mittels eines einheitlichen Diskontfaktors abzinst und aufsummiert. Die Annahmen und Implikationen dieses Ansatzes sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, welche die Schwächen des Discounted-Utility-Modells bei der Abbildung der Realität aufzeigen (für einen Überblick Frederick, Loewenstein und O'Donoghue 2002). Unter anderem werden in der Literatur folgende sogenannte Anomalien beim Diskontieren festgestellt: — Es liegt keine Unabhängigkeit im Nutzen vor - der Nutzen eines Ereignisses in der Vorperiode hat auch Einfluss auf den Nutzen eines Ereignisses in der nächsten Periode. Die Verteilung des Nutzens über die Zeit spielt für intertemporale Nutzenallokation eine wichtige Rolle. — Das gleiche gilt auch für die Verteilung des Konsums über die Zeit: Der Konsum der Vorperiode hat Einfluss auf die Höhe des Konsums in der Folgeperiode. — Positive Zeitpräferenzen: Man ist bereit, positive Erfahrungen aufzuschieben und für diesen Aufschub zu zahlen. — Die Größe des zu diskontierenden Betrags sowie dessen Vorzeichen spielen eine Rolle für die Höhe des Zinssatzes, den Menschen beim Diskontieren anwenden. Eine der markantesten Verletzungen des DU-Modells ist die sogenannte Zeitinkonsistenz. Da das DU-Modell einen einheitlichen Zinssatz respektive eine einheitliche Diskontierungsrate unterstellt, bedeutet das, dass jeder Konsum, jede Zahlung mit der gleichen Rate diskontiert wird, unabhängig davon, wann dieser Konsum oder diese Zahlung anfällt. Doch das ist nicht der Fall, wie zahlreiche Studien zeigen: Versuchspersonen entscheiden sich heute für 1010 Euro in 13 Monaten statt 1000 Euro in 12 Monaten; aber in 12 Monaten wählen sie dann 1000 Euro sofort statt 1010 Euro in einem Monat. Mit der Idee des exponentiellen Diskontierens lässt sich das nicht erklären. So findet sich in der Literatur der Befund, dass Menschen zukünftige Erträge um so stärker diskontieren, je näher diese rücken - auf kurze Frist sind wir ungeduldig und fordern eine hohe Kompensation für den Konsumverzicht, auf lange Frist sind wir geduldiger und

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diskontieren zukünftige Beträge weniger stark. Der herrschende theoretische Ansatz zur Darstellung und Erklärung dieses Phänomens ist die Idee des hyperbolischen Diskontierens (bspw. Loewenstein und Prelec 1992): Die Diskontierungsfunktion berücksichtigt die Entfernung des Ereignisses vom jetzigen Zeitpunkt und diskontiert Ereignisse, die weiter in der Zukunft liegen, stärker als zeitlich näherliegende Ereignisse. Mit Hilfe des hyperbolischen Diskontierens lässt sich erklären, warum Menschen gute Vorsätze fassen (Sparen, Diäten, gesündere Lebensweise), diese guten Vorsätze aber nicht einhalten: Auf längere Frist reicht ein geringer Ertrag aus dem zukünftigen Verhalten, um die guten Vorsätze zu fassen, doch auf kurze Frist sind wir ungeduldiger und diskontieren zukünftige Erträge stärker als auf lange Frist - jetzt reichen die zukünftigen Versprechungen einer gesünderen Lebensweise oder einer erhöhten Sparrate nicht mehr, um für den gegenwärtigen Verzicht zu kompensieren. (Alternative Ansätze zum Modellieren von Zeitpräferenzen und Zeitinkonsistenz finden sich bei Read (2001; Schölten und Read 2006) sowie bei Rubinstein (2003); für einen Überblick vgl. Wüst und Beck (2009). Als Fazit zur Erforschung der Zeitpräferenzen bleibt festzuhalten, dass das DUModell - der ökonomische Goldstandard für viele Modelle - wohl nicht dem tatsächlichen Umgang der Menschen mit Zeit entspricht. Wie genau dieser aussieht, wissen wir nicht - vermutlich gibt es viele Antworten, die zustands-, fall- und kontextabhängig sind.

V. Begrenzter Eigennutz und soziale Präferenzen Auch die dritte Annahme des Homo oeconomicus, sein unbegrenztes Eigennutzstreben, sieht sich empirischer Kritik ausgesetzt: Experimente belegen, dass Menschen Wert auf Fairness legen und selbst fair sein wollen und dass sie bereit sind, für Bestrafung oder Rache zu bezahlen. Verschiedene Experimente zeigen die Relevanz von sozialen Normen und Vorstellungen von Fairness (für einen Überblick vgl. Fehr und Schmidt 2005): — Im Ultimatum-Spiel bekommt Spieler 1 eine Geldsumme und entscheidet, wie viel von dieser Summe er an Spieler 2 geben will. Spieler 2 nimmt entweder an - dann ist das Spiel zu Ende oder aber er lehnt ab, dann bekommen beide Spieler nichts. Empirisch zeigt sich, dass Spieler Nummer eins in der Regel einen Wert zwischen 40 und 50 Prozent der Summe bietet, Vorschläge unterhalb von 20 Prozent der Summe werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 bis 60 Prozent abgelehnt. (Fehr und Schmidt 2005, S. 6). — Im Dikator-Spiel hat Spieler 2 nur die Option, das von Spieler 1 gebotene Geld anzunehmen. In Experimenten zeigt sich, dass Spieler 1 (der Diktator) im Schnitt 10 bis 25 Prozent an Spieler 2 zahlt (Fehr und Schmidt 2005, S. 7). — In weiteren Spielen und Variationen geht es ebenfalls darum, das Ausmaß freiwilliger Kooperation zu bestimmen und zu untersuchen, inwieweit das Verhalten der Versuchspersonen vom eigennützigen Verhalten des Homo oeconomicus abweicht. Zumeist belegen diese Versuche, dass die Versuchspersonen bereit sind, zu vertrauen, zu spenden, zu investieren - aber auch zu bestrafen.

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Zur Erklärung solches nicht rein eigennützigen Verhaltens werden drei Klassen von Modellen herangezogen (Fehr und Schmidt 2005): — Soziale Präferenzen. Der Nutzen einer Person hängt nicht nur ab von seiner Ausstattung mit materiellen Ressourcen, sondern auch von den Ressourcen, die andere Personen haben. — Präferenzen auf Gegenseitigkeit (interdependent preferences). Diese Modelle gehen davon aus, dass Menschen auf den Charakter ihres Gegenüber achten: Altruistische Personen handeln altruistisch, wenn sie glauben, dass ihr Gegenüber ebenfalls altruistisch ist; und sie handeln eigennützig, wenn sie vermuten, dass ihr Gegenüber ebenfalls eigennützig handelt. — Gegenseitigkeit auf Basis von Motiven. Die Grundannahme dieser Klasse von Modellen besteht darin, dass Menschen auf die Intentionen ihres Gegenübers Wert legen. Sie handeln altruistisch, wenn sie glauben, dass auch ihr Gegenüber altruistisch handeln will. Entscheidend ist also nicht, welchen Charakter das Gegenüber, sondern welche Absichten er hat. Empirische Evidenz für und gegen die jeweiligen Erklärungsansätze gibt es viele, so dass sich hier kein eindeutiges Bild ergibt. Unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes lassen sich verallgemeinernd u.a. folgende Aussagen machen (Fehr und Schmidt 2005 und Camerer und Thaler 1995): — Rache ist ein wesentliches Motiv für bestrafendes Verhalten - Menschen sind bereit, aus Rachsucht für die Bestrafung ihrer Mitspieler zu bezahlen. Allerdings muss man hier stets strategische Aspekte beachten, reziproke Bestrafung ist ein wichtiges Element für wiederholte Spiele. — Bei freundlichem und kooperativem Verhalten spielen offenbar eher Motive wie Ungleichheitsaversion eine Rolle. — In Diktator-Spielen sind Spieler bereit, die Auszahlungen an die Gruppe als Ganzes zu reduzieren, wenn sie im Gegenzug dafür mehr Gleichheit bekommen. Der Gleichheitsgedanke schlägt hier offensichtlich den Effizienzgedanken. Nur bei einer Personengruppe lässt sich ein effizienzbetonteres Verhalten und mehr selbstsüchtiges Verhalten beobachten: bei Ökonomen (Carter und Irons 1991). — Menschen haben ein Bedürfnis nach Ehrlichkeit. — Die Höhe der Summen, um die gespielt wird, ändert nichts daran, dass ein Teil der Spieler uneigennützig oder rachsüchtig handelt; auch der kulturelle Kontext ändert wenig an den Ergebnissen. Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass Motive wie Fairness, Ehrlichkeit, Ungleichheitsaversion, Altruismus, Rache und sonstige Emotionen auch ein Rolle bei ökonomischen Zusammenhängen spielen - doch mit Blick auf die empirische Evidenz zeigt sich, dass wir wenig darüber wissen, wann welche Motive eine Rolle spielen. Auch der Kontext, in dem solche Experimente durchgeführt werden, spielt eine wichtige Rolle (Camerer und Thaler 1995, S. 213), zudem muss man auch die Dauer der Experimente beachten - auf kurze Frist mag man sich auf faires Verhalten einlassen, doch längerfristig kann sich das Verhalten der Versuchspersonen ändern. Exemplarisch dafür die Studie von Gneezy und List (2006), die zeigt, dass faire Löhne oberhalb des Marktgleichgewichts nur kurzfristig dazu führen, dass die Arbeitnehmer eine stärkere Produktivität

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aufweisen. Ein weiterer Kritikpunkt an diesen Experimenten ist die Größe der Gruppe: Es ist fraglich, inwieweit sich Verhaltensweisen ändern, wenn die Referenzgruppe, auf die man sich bezieht, stark anwächst - das von der traditionellen Ökonomie prognostizierte Trittbrettfahrerverhalten dürfte um so eher auftreten, je größer die Gruppe ist.

VI. Folgerungen für Wirtschaftspolitik und -theorie 1. Gestaltungsempfehlungen der Behavioral Economics Die Ideen der Behavioral Economics und die damit verbundenen Gestaltungsempfehlungen finden mittlerweile Eingang in fast alle Felder der Wirtschaftspolitik, von denen hier einige exemplarisch skizziert werden sollen. Eine sozialpolitische Anwendung ist beispielsweise eine einfache Maßnahme zur Förderung der Vermögensbildung: Man setzt spezifische Konten auf, die den Zweck des Sparens betonen (Bertrand, Mullainathan und Shafir 2004): Man bietet ein „Erziehungskonto", ein „Autoansparkonto", ein „Altersvorsorgekonto" an, das zudem Strafen für einen vorzeitigen Abzug der Spargelder vorsieht. Mit dieser Maßnahme würde man verhindern, dass die Menschen ihr Geld in anderen, wenig rentablen Sparformen anlegen (in den USA waren lange sogenannte „Christmas-Clubs" populär: Man legte sein Geld dort zinslos an und bekam es erst kurz vor Weihnachten wieder, um Geschenke zu kaufen); zugleich betont die Benennung der Konten den Zweck des Sparens und stärkt damit die Disziplin der Sparer. Damit will man die Idee des Mental accounting nutzen, dass Menschen für unterschiedliche Ausgabenzwecke (Konten) unterschiedliche Ausgabenneigungen haben wenn das Konto kein Konto ist, sondern ein „Altersvorsorgekonto", so sollte das die Neigung der Sparer, dieses Geld vorzeitig auszugeben, reduzieren, die Vermögensbildung nimmt zu. Eine weitaus einschneidendere sozialpolitische Maßnahme, die sich mit Hilfe der Behavioral Economics begründen ließe, wären Kürzungen oder Beschränkungen von Sozialtransfers (Beaulier und Caplan 2002). Sozialtransfers, so das Argument, führen zu zeitinkonsistentem Verhalten bei den Empfangern: Diese verzichten zugunsten der Transfers und ihrer kurzfristigen positiven Effekte darauf, eigene Anstrengungen zu unternehmen, was sie langfristig besser stellen würde. Zudem könne man - so das Argument - bei Einkommensschwächeren stärkere Neigungen zu „pathologischem" und zeitinkonsistenten Verhalten erkennen: Sowohl Rauchen als auch Alkoholmissbrauch sind nach dieser Argumentation eher Phänomene, die sich in den niedrigeren Einkommensklassen finden; ähnliches gilt auch für Teenagerschwangerschaften, außereheliche Geburten und auch Kriminalität. Wenn dies korrekt ist, so ist zu vermuten, dass einkommensschwächere Bevölkerungsschichten die langfristig negativen Folgen einer Abhängigkeit von staatlichen Transfers - eine Entwertung des Human- und Sozialkapitals und sinkende Chancen auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt - unterschätzen. In diesem Fall müsse der Staat darauf achten, dass diese Gruppen nicht vernachlässigt werden, beispielsweise durch eine zeitliche Beschränkung staatlicher Hilfe, Kürzungen, Verhaltensauflagen oder gar Streichung {Beaulier und Caplan 2002, S. 24). Über die theoretische Güte dieses Argumentes mag man streiten, nicht aber über seine politische:

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Die Idee, Politik mit der diskriminierenden Annahme zu rechtfertigen, dass einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen irrationaler oder willensschwächer sind und deswegen stärkerer staatlicher Führung bedürfen, ist naiv; Streichungen der Sozialtransfers mit dem Argument, dass es ja zum Nutzen der davon Betroffenen sei, dürften auch angesichts des von den Behavioral Economics selbst konstatierten Bedürfnisses nach Fairness weder den Betroffenen noch dem Medianwähler zu vermitteln sein. Positiv gewendet zeigt dieses Argument die Notwendigkeit, staatliche Transfers anreizkompatibel zu gestalten, so dass die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Transferempfanger nicht verloren gehen. Stellt man auf die sozialen Präferenzen ab, welche die Behavioral Economics untersuchen, so finden sich gleichfalls Implikationen für die Wirtschaftspolitik (Falk 2003): So dürfte die Steuermoral einer Gesellschaft auch davon abhängen, inwieweit die Steuerzahler davon überzeugt sind, dass auch andere Bürger einen fairen Steuerbeitrag leisten, sozialpolitische Maßnahmen und Umverteilungssysteme werden eher akzeptiert, wenn sie als fair empfunden werden, und auch bei der Lohnfindung spielen Fragen der Fairness eine wichtige Rolle und können beispielsweise helfen zu erklären, warum Löhne nach unten starr sind. Neben diesen Anwendungen bietet sich auch die Frage nach sozialem Engagement an. Die traditionelle ökonomische Theorie tendiert beispielsweise dazu, die Motivation für Blutspenden mittels Bezahlung zu steigern. Allerdings gibt es auch Anhaltspunkte dafür, dass freiwilliges Blutspenden zu mehr Spenden von höherer Qualität führt (Titmuss 1970). Die Kommerzialisierung solcher als sozial wichtig empfundenen Aktivitäten kann also nach Lesart der Behavioral Economics dazu führen, dass die Motivation zu sozial erwünschtem Verhalten untergraben wird. Wer Freiwillige bezahlt, untergräbt ihre Motivation, mit dem Resultat, dass sie ihr Engagement reduzieren (Frey und Goette 1999). Hat man allerdings erst einmal eine Entlohnung eingeführt, so steigt mit der Höhe der Belohnung wiederum die Leistung derjenigen, die man bezahlt. Zugespitzt könnte man sagen, dass man freiwilligen Helfern entweder nichts zahlen sollte oder aber einen ausreichend hohen Betrag - die Einführung der Zahlung verringert die intrinsische Motivation und damit die Leistung der zuvor Freiwilligen; die Zahlung an sich jedoch stellt eine extrinsische Motivation dar, die mit steigendem Betrag wiederum höhere Leistungsanreize schafft (Gneezy und Rustichini 2000). Ein weiteres Anwendungsfeld für die Erkenntnisse der Behavioral Economics bietet sich bei der Frage nach der Umsetzung wirtschaftspolitischer Reformvorhaben an (Heinemann et al. 2008): So kann der Status-Quo-bias im Zusammenspiel mit der Prospect Theory, speziell der Verlustaversion, dazu führen, dass wirtschaftspolitische Reformen erschwert werden und ein System stabil ist und Akzeptanz genießt, selbst wenn wohl informierte Menschen sich niemals für dieses System entschieden hätten {Bundesministerium der Finanzen 2007, S. 46). Auch das Phänomen der Zeitinkonsistenz kann den Widerstand gegen Reformen erhöhen, wenn die kurzfristigen Kosten einer Reform eine stärkere Gewichtung erhalten als die langfristigen positiven Konsequenzen. Die Fehler bei der Informationsaufnahme (biases) können darüber hinaus dazu führen, dass Aufklärungspolitik bezüglich der Vorteile und Notwendigkeiten einer Reform nicht den gewünschten Erfolg bringt (ausführlich dazu Bundesministerium der Finanzen 2007, S. 46 f.). Diese Überlegungen bekräftigen die Einschätzung, dass tiefgreifende Refor-

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men nur in Krisenzeiten möglich sind, auch deswegen, weil in solchen Zeiten der Unterschied zwischen der Realität und der durch Überoptimismus und Confirmation bias geprägten Einschätzung der Bürger so groß wird, dass ein Umdenken unvermeidbar ist. Verzerrungen in der Wahrnehmung können nur aufrecht erhalten werden, wenn die Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Realität nicht zu groß wird. Auch die Frage nach der Fairaess der Reformen spielt eine wichtige Rolle für deren Durchsetzungsfahigkeit - je mehr die Betroffenen die Ergebnisse der Reform als gerecht empfinden, um so größer ist die Chance auf eine erfolgreiche Reform. Neben der Fairness spielt auch das Vertrauen der Bürger in den Staat eine Rolle bei der Durchsetzung von Reformen: So zeigen beispielsweise Heinemann et al. (2007), dass Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen und in ihre Mitmenschen eine Rolle zur Überwindung von Reformblockaden spielen kann. Vertrauen kann der Politik helfen, erfolgreich über Reformfolgen aufzuklären, es erhöht die Glaubwürdigkeit der Versprechen, dass man die Reformverlierer entschädigen werde und wirkt sich positiv auf die Kompromissbereitschaft verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aus (ebenda, S. 131 f.). Möglicherweise besteht ein Ausweg aus einem Reformstau, heute Entscheidungen zu treffen über Reformen, die man erst später umsetzt - stimmt die Idee des hyperbolischen Diskontierens, so sollte dies helfen, Reformwiderstände zu überwinden. Da die Reform dann zeitlich weiter entfernt ist, werden ihre kurzfristigen Folgen im Vergleich zu ihren langfristigen Wirkungen nicht mehr überbewertet, was eine Durchsetzung erleichtert. Eine weitere Idee, die Durchsetzbarkeit von Reformen zu erhöhen, besteht darin, diese zunächst als zeitlich begrenzte Experimente einzuführen und darauf zu hoffen, dass diese nach Ablauf der Befristung von den Bürgern als Status quo empfunden werden, weswegen eine Verlängerung der Maßnahme dann leichter fallt. Ein Beispiel für diese zeitliche Salami-Taktik kann man die Sektsteuer oder den Solidaritätszuschlag ansehen - beide Maßnahmen wurden zur Finanzierung zeitlich befristeter Programme (Finanzierung der Flotte respektive der deutschen Einheit) eingeführt; doch die Tatsache, dass es die Sektsteuer seit nunmehr mehr als 100 Jahren gibt, erlaubt Rückschlüsse auf die potentielle Lebensdauer des Solidaritätszuschlages. Eine weitere Idee, die Erkenntnisse der Behavioral Economics zur Überwindung von Reformwiderständen zu nutzen, besteht darin, Reformen in einem großen Paket („Big bang") einzuführen, in dessen Rahmen allen Bevölkerungsschichten Kosten auferlegt werden - das erhöht die Reformakzeptanz, da eine solche gleichmäßige Belastung aller Bürger eher unseren Fairness-Vorstellungen entspricht. Allerdings kann ein solcher Big bang auch die Informationsverarbeitungskapazitäten der Bürger überfordern, was diese dann mit Ablehnung quittieren könnten (Bundesministerium der Finanzen 2007). Die Referenzpunktbezogenheit bei der Bewertung von Ereignissen spricht hingegen für eine schrittweise Einführung von Reformen: Führt man die Reform in Teilschritten ein, so entsteht in der Wahrnehmung der Bürger eine Reihe kleiner Verluste statt eines großen Einschnittes, denn sobald der erste Reformschritt als Status quo akzeptiert ist, wird er zum neuen Referenzpunkt zur Bewertung jedes weiteren Reformschrittes. Ein Beispiel für diese schrittweise Einführung ist die Ausweitung der Ladenschlusszeiten in der Bundesrepublik: Zuerst startete man mit einem langen Donnerstag, als dieser zum Status quo geworden ist, konnte man auch die Öffnungszeiten der anderen Tage ausweiten.

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Will man zusätzlich die Idee des Framing nutzen, um ein günstiges Reformklima zu erzeugen, so muss man diese entsprechend der Verlustaversion der Wähler bewerben; eine Ermäßigung für Eltern in der Pflegeversicherung findet also mehr Anklang als ein Beitragszuschlag für Kinderlose (Heinemann et. al. 2008, S. 400). Die wohl erfolgreichste und fortgeschrittenste Anwendung der Ideen der Behavioral Economics findet sich auf den Finanzmärkten (für eine Übersicht Glaeser 2003). Wenn Phänomene wie Überoptimismus, Verlustaversion und Emotionen dafür verantwortlich sind, dass Finanzmärkte nicht effizient sind, so liegt der Vorschlag nahe, diese mittels staatlicher Eingriffe effizienter zu machen. In der intensivsten Form wären das staatliche Eingriffe in die Kursbildung: Wenn Aktienkurse aufgrund von Überoptimismus oder Verlustaversion über- oder unterschießen, würde das für staatliche Eingriffe sprechen. Abgesehen davon, in welcher Form solche Eingriffe erfolgen könnten und welche strategischen Probleme sich aus den daraus resultierenden Erwartungen der Finanzmärkte ergeben, ist zu bezweifeln, dass der Staat oder die Notenbank eine „bessere" Vorstellung davon haben, welches Kursniveau angemessen ist. Mit Blick auf das Phänomen des Überoptimismus ließen sich schärfere Eingriffe in das Risikomanagement der Banken fordern - die jüngste Finanzkrise zeigt deutlich, dass Bankvorstände und Risikomanager ihre Fähigkeit zur Einschätzung von Risiken vermutlich überschätzt haben. Weniger invasiv sind Vorschläge, die darauf abzielen, den Anlegern auf den Kapitalmärkten zu helfen, Fehler zu vermeiden und die Effizienz der Märkte zu fordern (dazu auch Kent, Hirshleifer und Teoh 2002), beispielsweise durch Offenlegungspflichten für Unternehmen, eine Standardisierung der von den Unternehmen zu veröffentlichenden Reports, eine Regulierung der Werbung für Finanzprodukte und Anlegererziehung. Beispielsweise kann man durch standardisierte Vorgaben für die Werbung mit der Wertentwicklung von Fonds verhindern, dass Fondsgesellschaften mit einer selektiven Erfolgsbilanz werben. Zwar sollte der rationale Investor dies erkennen, doch könnte die mit der Werbung erfolgte Verankerung einer Erfolgskennzahl dafür sorgen, dass eine unverzerrte Einschätzung der Erfolgsbilanz nicht mehr möglich ist. Die Standardisierung finanzieller Reports könnte verhindern, dass Unternehmen bei der Darstellung ihrer Finanzen mit Hilfe des Framings Einfluss auf die Einschätzung ihrer Anleger nehmen können. Eine generelle Standardisierung von Bilanzregeln könnte die Anfälligkeit von Marktteilnehmern und Anlegern für Wahrnehmungsfehler wie Verankerung oder Framing bei der Beurteilung von Unternehmen möglicherweise reduzieren. Anlegererziehung zielt ebenfalls darauf ab, diese Verzerrungen abzubauen. Ein weiteres Anwendungsfeld für die Ideen der Behavioral Economics ist der Verbraucherschutz (dazu bspw. Rischkowsky und Döring 2008; OECD 2007). Konsumenten unterschätzen möglicherweise aufgrund ihres Überoptimismus die Möglichkeit, bei ihren Einkäufen übervorteilt zu werden, sie interpretieren Informationen über Produkte oder Verträge nach ihrer vorgefertigten Meinung (Confirmation bias), und sie wechseln aufgrund des Status-quo-bias zu selten ihren Lieferanten. Das Framing von Kaufalternativen kann ihre Entscheidung ebenso verzerren wie die Verfügbarkeitsheuristik. So beeinflusst die Darstellung des Angebotes (Angebot mit oder ohne abwählbare Zusatzversicherung) die Entscheidung von Versicherungsnehmern ebenso wie die Anschaulichkeit des Ereignisses, gegen das sie sich versichern sollen - je konkreter ein Ereignis ist,

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gegen das sich potentielle Versicherungsnehmer versichern sollen, um so höher ihre Zahlungsbereitschaft {Johnson et al. 1993). Die Folge kann sein, dass Konsumenten Informationen bezüglich angebotener Produkte unzureichend oder einseitig wahrnehmen. Möglicherweise kann der traditionelle Ansatz der Verbraucherschutzpolitik, der in der Bereitstellung zusätzlicher Informationen für die Konsumenten besteht, sogar kontraproduktiv sein, wenn die Informationsaufnahme der Konsumenten den oben beschriebenen Verzerrungen unterliegt (zu dieser Frage auch Mulholland 2008). Mit Blick auf das Framing und die Verlustaversion kann man Werbung auch eine manipulative Komponente zubilligen - woraus sich die Frage ergibt, inwieweit dies staatliche Eingriffe erforderlich macht. So gesehen ist es aus Perspektive des Konsumentenschutzes weniger die Quantität der zum Schutz der Konsumenten bereitgestellten Informationen, sondern deren Qualität, die entscheidend ist (Rischkowsky und Döring 2008, S. 306). Weitere Aspekte des Verbraucherschutzes sind unfaire Vertragsbedingungen und langfristige Garantien (Field 2008). Ein weiterer Vorschlag zum Konsumentenschutz, die Cooling-off-Perioden, soll im nächsten Abschnitt näher beleuchtet werden.

2. Der Liberale Paternalismus Die mit Blick auf die Ordnungspolitik wichtigste Diskussion wird um den sogenannten „Liberalen Paternalismus" gefuhrt (Thaler und Sunstein 2003), dessen Kernidee darin besteht, die Erkenntnisse der Behavioral Economics zur staatlichen Verhaltenslenkung der Bürger einzusetzen. Thaler und Sunstein machen die Idee des Liberalen Paternalismus an einem einfachen Beispiel fest: Wie sollte der Manager einer Cafeteria die Speisen auf den Regalen anordnen, wenn er entdeckt, dass die Reihenfolge, in der er die Speisen präsentiert, Einfluss auf das Konsumverhalten seiner Gäste hat? Wenn er das gesunde Obst vor dem süßen Nachtisch platziert, so essen seine Gäste mehr Obst - er hätte durch einfache Umordnung der Speisen ohne jeglichen Zwang das Verhalten seiner Gäste zu deren eigenem Wohl beeinflusst. Die Grundidee des Liberalen Paternalismus, basierend auf den Ideen der Behavioral Economics, besteht also darin, dass Menschen Entscheidungen treffen, die sie so nicht machen würden, wenn sie vollständige Informationen, unbegrenzte kognitive Fähigkeiten, unbegrenzte Rationalität und unbegrenzte Willenskraft hätten. Und durch staatliche Eingriffe, welche die Ideen der Behavioral Economics nutzen und keinen Zwang beinhalten, kann man ihr Verhalten in die richtige Richtung lenken. Die Entscheidungsanomalien der Behavioral Economics sprechen also für ein mehr an paternalistischer Regulierung (Camerer et. al. 2003, S. 101). Wie das Beispiel des Cafeteria-Managers zeigt, muss der Staat bestimmte Entscheidungen ohnehin fällen (der Manager muss die Speisen in irgendeiner Reihenfolge anordnen) - warum also diese Entscheidung nicht so fallen, dass sie eine vom Staat gewünschte Entscheidung (mehr Obst essen) begünstigt, ohne die Bürger zu zwingen? Thaler und Sunstein sehen zwei Stufen des liberalen Paternalismus, die sich in ihrer Eingriffsintensität unterscheiden (Thaler und Sunstein 2003, S. 176 f.):

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— Von geringer Eingriffsintensität ist die Gestaltung sogenannter Default-Optionen, um den Status-Quo-Bias zu nutzen. Als Paradebeispiel dafür dient die Gestaltung betrieblicher Pensionspläne: Statt die Arbeitnehmer aufzufordern, an einem solchen Programm teilzunehmen (Opting-in-Klausel), deklariert man die Teilnahme am Programm als Regel; wer nicht teilnehmen will, muss dies explizit erklären (Opting-outRegel). Ökonomisch gesehen handelt es sich um äquivalente Gestaltungsmöglichkeiten, mit dem Blick der Behavioral Economics hingegen findet hier ein Framing statt, mit dessen Hilfe man den Status-Quo-Bias nutzen kann: Mit Hilfe der Opting-outKlausel steigt die Zahl der Teilnehmer an einem Pensions-Schema, verglichen mit einer Opting-in-Klausel. — Während die Gestaltung von Default-Regelungen unvermeidlich ist - in irgendeiner Anordnung muss der Manager der Cafeteria die Speisen anordnen - kann man auch einen Schritt weitergehen: Was, wenn der Cafeteria-Manager die Süßspeisen etwas weiter weg von den anderen Speisen platziert, um es den Gästen zu erschweren, diese zu essen? Auf den ersten Blick scheint es dabei nur Verlierer zu geben, schließlich steigen die Transaktionskosten derjenigen, die trotzdem süß essen wollen, aber niemand profitiert davon. Dennoch sehen die Verfechter des Liberalen Paternalismus auch in dieser Regelung Vorteile, nämlich für diejenigen, die sich gerne die Süßigkeiten versagen würden, es aber nicht können, wenn diese vor ihnen stehen, also zeitinkonsistentes Verhalten zeigen. Diese Personen, so die Idee der liberalen Paternalisten, sind dankbar, wenn der Staat ihnen eine Möglichkeit gibt, sich selbst in ihrem Handeln zu beschränken, um ihren eigenen Schwächen zu entkommen. Ein Beispiel für diese Argumentation ist das von Thaler und Bernatzi (Thaler und Bernatzi 2003) vorgeschlagene Modell Save More Tomorrow (SMT) zur Bekämpfung zeitinkonsistenten Verhaltens bei der Altersvorsorge: Bei diesem Programm verpflichten sich die Teilnehmer, einen Teil ihrer zukünftigen Gehaltssteigerungen zu sparen. Das Ergebnis: Rund 78 Prozent nahmen an dem Programm teil, 80 Prozent der Teilnehmer blieben auch nach der dritten Gehaltserhöhung dem Programm treu, die durchschnittlichen Sparraten stiegen über 28 Monate von 3,5 auf 11,6 Prozent (Thaler und Bernatzi 2004). Die letzte, invasivere Variante des Liberalen Paternalismus bereitet den Boden für weiterführende Ideen: Als asymmetrischen Paternalismus bezeichnen Camerer et al. (2003) eine Form der Regulierung, die rational handelnden Akteuren wenig Kosten auferlegt, aber große Vorteile für diejenigen bringt, die nicht uneingeschränkt rational handeln {Camerer et al., S. 2). Die ursprüngliche Form des Paternalismus zielte auf Personen ab, denen man rationales Handeln nicht zutraut3. Die Idee des asymmetrischen Paternalismus hingegen zielt nicht auf Personen, sondern auf Situationen ab: Selbst rationale Menschen, so die Idee, können in bestimmten Situationen verleitet werden, Dinge zu tun, die ihnen langfristig schaden. Die Behavioral Economics, so die Verfechter des asymmetrischen Paternalismus, zeigen, dass selbst kluge, rationale und besonnene Personen in bestimmten Situationen vorhersagbare Fehler machen - und dieser Befund schaffe Raum für paternalistische Politik (Camerer et al. 2003, S. 3). Neben den bereits diskutierten Default-Regelungen sehen die Verfechter des asymmetrischen Paternalis-

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Siehe dazu auch die Debatte um meritorische Güter in der Finanzwissenschaft (bspw. Andel 1984)

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mus drei weitere Möglichkeiten staatlicher Eingriffe, die wenig Kosten, aber hohen gesellschaftlichen Nutzen versprechen (Camerer et al. 2003): — Eine Versorgung mit Informationen und eine bewusste Aufbereitung dieser Informationen kann die Entscheidungsfindung der Bürger verbessern oder sogar - mit Blick auf das Framing - in eine vom Staat gewünschte Richtung lenken. Beispielsweise sollte man bei Appellen an gesundheitsbewusstes Verhalten weniger auf dessen Vorteile, sondern auf die negativen Folgen eines ungesunden Verhaltens abstellen - und damit das Framing und die Verlustaversion der Menschen als Motivation für eine gesündere Lebensweise nutzen. — Die Probleme der Menschen mit zeitkonsistentem Verhalten - man will auf die lange Frist das Richtige, tut aber kurzfristig das Falsche - sprechen für die Einführung von Verzögerungsperioden (Cooling-off-Perioden): Der Kauf wird mit ein paar Tagen Verzögerung abgewickelt, wenn man Gelegenheit hatte, seine Entscheidung zu überdenken. Alternativ kann man eine Periode einführen, innerhalb der es ohne Aufwand möglich ist, seine Entscheidung zu revidieren. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Rücktrittsrecht bei Haustürgeschäften. — Die stärkste Eingriffsintensität weisen Maßnahmen auf, welche die Rechte der Konsumenten in deren eigenem Interesse einschränken. Man gibt den Bürgern die Möglichkeit, sich zukünftige Handlungsoptionen zu versagen, von denen sie wissen, dass sie langfristig schädlich sind. Ein Beispiel dafür sind Listen mit Personen, denen der Zutritt zu Casinos auf Lebzeiten verboten ist - Spielsüchtige können sich freiwillig eintragen lassen und sich damit vor Rückfällen schützen. Man erweitert also die Handlungsoptionen der Bürger, indem man ihnen die Möglichkeit der Selbstbindung als zusätzliche Option gibt. Aus der Idee eines „weichen", also liberalen oder asymmetrischen Paternalismus leiten sich weitere Ideen ab, unter anderem die sogenannten Sündensteuern (Sin Taxes, O 'Donoghue und Rabin 2003): Steuern auf Tabak oder Alkohol sollen willensschwachen Konsumenten helfen, in ihrem Handeln zeitkonsistent zu werden und reduzieren die Gefahr, dass Menschen mit ihrem heutigen Konsum ihrem zukünftigen Selbst Schaden zufügen. Diese Idee eines externen Effektes zwischen dem heutigen Ich und dem zukünftigen Ich wird als Internalität bezeichnet (Hernstein et al. 1993) und rechtfertigt eine P/gow-Steuer zur Internalisierung der externen Effekts des Verhaltens des heutigen Ichs auf das zukünftige Ich4. Auf die Kritik an diesem Ansatz geht der nächste Abschnitt ein.

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Eine alternative Idee wäre es, statt der Steuern Raucherlizenzen zu verkaufen (O 'Donoghue und Rabin 2003): Man zahlt einen hohen Betrag, beispielsweise 8000 Euro, und erwirbt damit das Recht, 4000 Päckchen Zigaretten zu kaufen - ohne diese Lizenz darf man keine Zigaretten kaufen. Wer rational ist und willentlich rauchen will, kauft diese Lizenz, wer hingegen nicht rauchen will, aber ohne eine solche Regelung schrittweise zum Raucher werden würde, kauft diese Lizenz nicht und bewahrt sich selbst davor, aufgrund seiner zeitinkonsistenten Präferenzen gegen seinen Willen schleichend zum Gewohnheitsraucher zu werden. Abgesehen von Liquiditätsproblemen, die rationalen Rauchern das Rauchen unmöglich machen können, stehen dieser Idee auch Arbitrageprobleme entgegen: Der willensschwache Raucher wird die Lizenz mit dem Hintergedanken kaufen, dass er sie nur ein paar Tage nutzen will und danach weiterverkauft - unter dem Strich bleibt er dann doch Raucher, die Lizenz ist wirkungslos. Also müsste man die Lizenz personalisieren und eine Einhaltung dieser Personalisierung

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VII. Kritik 1. Kritik der traditionellen Ökonomik Das Forschungsprogramm der Behavioral Economics ist nicht ohne Kritik aus den Reihen der traditionellen Ökonomie geblieben (dazu u.a. Camerer 2006; Gilovich und Griffin 2002). Der erste Kritikpunkt entzündet sich an den Experimenten: Die Anreize zu rationalem Verhalten seien in den Laborexperimenten zu gering, als dass die Ergebnisse der Laborexperimente Rückschlüsse auf die reale Welt zulassen. Als Gegenbeweis gegen diese Kritik wird auf viele in der Realität beobachtete Phänomene verwiesen, die mit den Ideen der Behavioral Economics übereinstimmen, beispielsweise Beobachtungen auf den Finanzmärkten, auf denen systematische Abweichungen vom Prinzip der Rationalität zu beobachten sind, obwohl die Anreize zu rationalem Verhalten hier groß genug sein dürften. Wir können nicht so dumm sein. Das Heuristics-and-biases-Programm scheint uns zu kognitiven Versagern abzustempeln - das passt nicht zu der Beobachtung, dass wir so erfolgreich beim Lösen komplexer Aufgaben sind. Auch aus evolutorischer Sicht können Menschen gar nicht so falsch urteilen - sonst hätte die Menschheit nicht überlebt. Diese Kritik verkennt den positiven Charakter von Heuristiken: Sie sind extrem effiziente Problemlösungsstrategien für begrenzte Ressourcen, was nicht ausschließt, dass es dabei auch zu Fehlurteilen kommen kann. In der Literatur wird von „effizienten Heuristiken" gesprochen (Gigerenzer und Todd 1999), Heuristiken sind nach dieser Lesart keine Fehlergeneratoren, sondern effiziente - und damit ökonomische - Problemlösungsprogramme. Lerneffekte. Ernster zu nehmen ist der Einwand fehlender Lerneffekte: Bei wiederholter Aufgabenstellung, so das Argument, verschwinden viele der Verzerrungen und Anomalien. Auch wenn es Evidenz dafür gibt, dass Expertise nicht immer dazu führt, dass Verhaltensirrtümer verschwinden (Kahneman und Tversky 1982; Tversky und Kahneman 1982; Griffin und Tversky 1992), gibt es Belege dafür, dass Lerneffekte vor Irrtümern bewahren; so sind beispielsweise Meteorologen und professionelle BridgeSpieler weniger anfällig für Überoptimismus, ihre Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten sind recht gut kalibriert {Murphy und Winkler 1977; Keren 1987). Nimmt man allerdings die Ergebnisse zur Erforschung des Rückschaufehlers ernst, so bleiben viele Lerneffekte aus, da Menschen sich nicht ihre Fehler eingestehen, sondern stattdessen die Erinnerung an ihr Verhalten ändern und deswegen irrigerweise annehmen, sie hätten korrekt entschieden. Stimmt diese Einschätzung, so verhindert der Rückschaufehler, dass wir aus unseren Fehlern lernen - er wird damit zu einer wichtigen Rechtfertigung für die Forderungen der Behavioral Economics, da er Lerneffekte verhindert und damit Menschen dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Doch selbst wenn Lernen auf Dauer alle Irrtümer beseitigen würde, wäre es nachlässig, diese beiseite zu schieben, jedenfalls solange man nicht unterstellt, dass Wirtschaft nur von erfahrenen Akteuren bestimmt wird, die bereits die Gelegenheit hatten, zu lernen. Zudem lasüberwachen. Der daraus resultierende bürokratische Albtraum spricht nicht für die Idee eines PaternaIismus, der wenig Kosten und Nachteile für rationale Menschen mit sich bringt.

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sen sich nicht alle falschen Entscheidungen nach einem Lernprozess revidieren: die Entscheidung für eine Ausbildung, die Berufswahl, oder Sparentscheidungen für das Alter lassen sich nicht nachträglich revidieren - hier die Ideen der Behavioral Economics zu vernachlässigen, könnte bedeuten, sich wertvoller Ratschläge zu berauben. Survival of the fittest. In der perfekten Welt der Ökonomie dürften eigentlich nur rationale Agenten überleben - wer irrational handelt, wird von den rationalen Konkurrenten quasi aus dem Markt geschwemmt. Das muss nicht passieren - es geht weniger rationalen Wirtschaftssubjekten vielleicht nicht so gut wie ihren rationaleren Mitmenschen, aber sie werden nicht notwendigerweise aus dem Markt gefegt. Märkte können Anreize setzen, aber sie können niemanden zwingen, sich rational zu verhalten. Arbitrage. Irrationale Agenten, so die Idee, bieten rationalen Akteuren immer Möglichkeiten, gegen sie zu arbitrieren. Beispielhaft dafür sind die Geschehnisse am Aktienmarkt: Wenn einige Anleger bereit sind, zu hohe Preise für eine Aktie zu zahlen, so bietet dieses irrationale Verhalten anderen Marktteilnehmern Gelegenheit, gegen diese irrationalen Akteure zu spekulieren, indem sie diese Aktie beispielsweise leer verkaufen. Arbitrage bietet rationalen Marktteilnehmern die Möglichkeit, aus der Irrationalität anderer Menschen Profit zu schlagen, zugleich dämpfen sie die irrationalen Marktausschläge. Allerdings hat auch dieses Argument Schwächen: Zum einen kann es lange dauern, bis Arbitrage rationaler Marktakteure dem irrationalen Treiben auf den Kapitalmärkten ein Ende setzen - oft sind die Märkte länger irrational als Arbitrageure liquide sind. Zudem kann es rational sein, auf einer irrationalen Spekulationswelle mitzuschwimmen - man muss nur rechtzeitig aussteigen. Zudem lassen sich viele irrationale Entscheidungen nicht ausarbitrieren: Entscheidet sich jemand beispielsweise aufgrund von Irrationalitäten fälschlicherweise für die falsche Ausbildung oder ein falsches Produkt, so bietet dies keinen Spielraum für Arbitrage. Als ob. Möglicherweise wenden Menschen nicht bewusst und einsichtig die Theorien der Ökonomen an, aber zumindest intuitiv. Sie verhalten sich wie erfahrene BillardSpieler, die zwar nicht die Mathematik ihrer Stöße kennen, aber dennoch ihre Stöße annähernd korrekt ausführen können {Friedman und Savage 1948, S. 298). Vereinfacht gesagt: Die Theorie blendet aus, wie Entscheidungen zustande kommen - Rationalität wird als Zustand betrachtet, nicht als Prozess. In den Augen der Kritiker dieser Verteidigungslinie allerdings ist eine Theorie, die keine Aussagen darüber treffen kann, wie rationales Entscheiden zustande kommen kann, unvollständig. In der Tat lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen, wenn man weiß, wie genau Entscheidungen zustande kommen. Das Ziel der Behavioral Economics soll es auch gerade sein, diesen Prozess zu beleuchten und damit die ökonomische Theorie zu erweitern - nicht zu ersetzen. Normative und deskriptive Theorie. Eine weitere Verteidigungslinie der traditionellen Ökonomie besteht darin, den Homo oeconomicus als normative Vorgabe zu verstehen - Menschen sollen so handeln, um ihre Wohlfahrt zu maximieren. In der Tat sind viele Annahmen der Ökonomen und Empfehlungen der Ökonomie normativ in dem Sinne, als sie eine Empfehlung zur Nutzenmaximierung sind, aber nicht immer notwendigerweise die Präferenzen und das tatsächliche Verhalten der Menschen widerspiegeln. Vereinfachung zwecks Modellbildung. Wer mit wenigen Variablen und Annahmen aussagekräftige Modelle bilden will, muss sich mittels vereinfachender Annahmen das wissenschaftliche Leben leichter machen. Die Sinnhaltigkeit von Vereinfachungen in

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Modellen bestreitet niemand, die Frage ist lediglich, ob die Erkenntnisse der Behavioral Economics dazu beitragen können, die ökonomischen Modelle - bei sparsamer Verwendung weiterer Annahmen - zu bereichern. Vereinfachte Modelle sind sowohl aus Erkenntnisgründen als auch aus didaktischen Gründen sinnvoll - das sollte die Wissenschaft aber nicht davon abhalten, diese angesichts neuer Erkenntnisse auszubauen. Geringer Neuigkeitsgehalt. Viele der von der Behavioral Economics beschriebenen Schwächen menschlicher Entscheidungsprozesse sind der ökonomischen Literatur durchaus bekannt und werden in Modellen entsprechend berücksichtigt. Asymmetrische und unvollkommene Information, begrenzte Problemlösungskapazitäten oder Willensschwäche sind Ausgangspunkt vieler Forschungsprogramme, und viele der wirtschaftspolitischen Implikationen der Behavioral Economics lassen sich auch ohne psychologische Klimmzüge begründen, wie der nächste Kritikpunkt zeigt. Alternative Rechtfertigungsansätze fiir wirtschaftspolitische Maßnahmen. Die „großen" Verhaltensirrtümer, welche die Behavioral Economics postuliert, beziehen sich vor allem auf Entscheidungen mit einem langen Zeithorizont, also beispielsweise die Altersvorsorge - um hier einzugreifen, benötigt man keine psychologischen Argumente, eine Verpflichtung zur Altersvorsorge lässt sich mit der Gefahr von Trittbrettfahrertum im Alter rechtfertigen - man spart nicht und spekuliert darauf, dass der Staat seine Bürger nicht verhungern lässt, auch wenn sie nicht fürs Alter vorgesorgt haben. Das rechtfertigt nur eine verpflichtende Vorsorge in Höhe des Existenzminimums. Mit dem Argument der Zeitinkonsistenz hingegen muss man eine verpflichtende Altersvorsorge fordern, welche den Lebensstandard des Bürgers aufrecht erhält - möglicherweise scheinbar gegen seinen Willen, doch in seinem eigenen Interesse. Die entscheidende Frage ist, ob die Idee des zeitinkonsistenten Verhaltens derart weitreichende Eingriffe rechtfertigt. Unproblematischer wären Appelle und Beratungsangebote an die Bürger, die nicht in deren Entscheidungsfreiheit eingreifen. Gleiches gilt auch für die zweite große Kategorie der Verhaltensirrtümer mit langem Zeithorizont, den Umgang mit gesundheitsschädlichem Verhalten: Verbote oder Steuern sind ein weitreichender Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger, Informationspolitik ist weniger problematisch und invasiv. In den neunziger Jahren richtete sich der Fokus in der Erforschung systematischer Verzerrungen in der Entscheidungsfindung auf den Kontext, in dem diese getroffen werden {McKenzie 2005): Zahlreiche Studien zeigen, dass die Anwendung von Heuristiken, die in Laborexperimenten zu systematischen Fehleinschätzungen fuhren, sich unter einfachen Annahmen in der Realität als sinnvoll und leistungsfähig erweisen. Die Leistungsfähigkeit von Heuristiken ist also kontextabhängig; wird dieser Kontext in Laborexperimenten ausgeblendet, so entstehen Verzerrungen in der Entscheidungsfindung - diese dürfen dann nicht zu der Annahme verleiten, dass wir uns bei der Entscheidungsfindung permanent und systematisch irren. Wenn Rationalität also - wie es auch die liberalen Paternalisten postulieren - situationsabhängig ist, dann ist zu vermuten, dass es Situationen gibt, in denen Menschen sich rational verhalten und Situationen, in denen sie sich anders verhalten, als es das herkömmliche Modell der Ökonomen nahe legt. Vermutlich wählt der Mensch situationsabhängig zwischen verschiedenen Entscheidungsmodi. Dazu muss man die Dimensionen einer Entscheidung betrachten:

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— Konsequenzen: Die Anreize, also Belohnung oder Bestrafung, spielen bei einer Entscheidung eine wichtige Rolle. — Komplexität: Je größer die Anzahl der Optionen und die Zusammenhänge zwischen ihnen und den Handlungsalternativen ist, umso komplexer wird eine Entscheidung. Risiko und Unsicherheit erhöhen die Komplexität einer Situation ebenso wie die Novität und die zeitliche Komponente: Je weiter ein Ereignis vom Entscheidungszeitpunkt entfernt ist, umso schwieriger wird eine Entscheidung. — Auch die Person eines Entscheiders, seine Kenntnisse, Fertigkeiten und Präferenzen sind für eine Entscheidungssituation konstituierend. Mit Hilfe dieser Entscheidungsdimensionen lassen sich Entscheidungen in unterschiedliche Kategorien einteilen, bei denen unterschiedliche Methoden der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen: — Routine-Entscheidungen: Wiederholte Entscheidungen mit geringen Auswirkungen, wenig Risiko und wenig Neuigkeitsgrad werden automatisch entschieden. Geringe Kosten oder Erträge einer Entscheidung rechtfertigen den mentalen Aufwand einer gründlichen Entscheidungsanalyse nicht, und je ähnlicher ein Problem bereits bekannten Problemen ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man dieses mit bereits bekannten Lösungen beantwortet. Diese Art der Entscheidungen wird von Heuristiken dominiert, die hier eine einfache und effiziente Form der Problemlösung sind. Wie ausgeprägt hier die Gefahr von Irrtümern ist, ist schwer zu sagen, aber die Konsequenzen solcher möglicher Irrtümer sind aufgrund der geringen Kosten für die Entscheider vernachlässigbar. Diese Kategorie der Entscheidungen stellt damit ein für die Wirtschaftspolitik eher vernachlässigbares Problem dar, es sei denn, man unterstellt, dass sich Menschen durch Habitualisierung angewöhnt haben, sich in vielen kleinen Dingen grundsätzlich falsch zu entscheiden - dann ginge es darum, die Gewohnheiten der Bürger zu ändern. — Reflektierte Entscheidungsprozesse: Hier geht es um einen hohen Einsatz, ein hohes Risiko und Probleme, die neuartig sind - in diesen Situationen muss der Entscheider bewusst entscheiden und reflektieren; in solchen Fällen können Heuristiken und gewohnte Verhaltensmuster nicht angewendet werden, statt dessen dominiert hier das rational-abwägende Denken, wie es in ökonomischen Modellen vorherrscht. Die Komplexität dieser Entscheidungsprobleme liegt im mittleren Bereich, so dass sie für den Entscheider intellektuell beherrschbar erscheinen. Diese Kategorie der Entscheidungen ist die Domäne des Homo oeconomicus. — Komplexe Prozesse. Die entscheidungstheoretische Grauzone sind Prozesse, bei denen sich der Entscheider aufgrund ihrer Komplexität überfordert fühlt: Die zeitliche Komponente ebenso wie unklar formulierte Optionen und hohe Unsicherheit überfordern ihn - seine kognitiven Fähigkeiten reichen nicht aus, um ein solches Problem adäquat zu erfassen, zu bewerten und zu bewältigen. Zudem sind bei langfristigen Prozessen wie der Altersvorsorge aufgrund ihrer Dauer und Einmaligkeit kaum Lernprozesse möglich. In diesen Fällen gibt es mehrere Möglichkeiten, solche Probleme zu lösen: Man kann Berater zu engagieren oder man imitiert das Verhalten der Mehrheit, nahestehender Personen oder erfahrener Vorbilder, man nimmt die Default-Lösung, greift zu einfachen Daumenregeln (i.e. Heuristiken) oder setzt auf den

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Status quo, von dem man im Gegensatz zu den angebotenen Optionen sicher weiß, welche Konsequenzen er hat. Diese Problemlösungsstrategien können extrem effizient und damit ökonomisch sein, (das Verhalten der Mehrheit oder erfahrener Vorbilder zu imitieren, dürfte beispielsweise in vielen Fällen effizient sein) aber auch zu Fehlern in der Entscheidungsbildung führen. Tun sie dies, so sind sie wirtschaftspolitisch relevant, wenn es dabei um größere Kosten oder Erträge geht. Diese Klassifikation macht deutlich: Im Falle von Routineentscheidungen dürften die negativen Konsequenzen aus diesen Verhaltensanomalien zumeist hinter den Vorteilen einer schnellen, effizienten Entscheidungsfindung zurückstehen - hier wäre deren Korrektur wohlstandsmindernd. Bei solchen Entscheidungsproblemen sind Entscheidungstechniken wie Heuristiken, ein Festhalten am Status quo, Framing oder mentale Kontenführung effizient und damit ökonomisch. Bei den reflektierten Entscheidungsprozessen treten ohnehin keine Verhaltensanomalien auf, hier handeln Menschen ökonomisch. Es ist die letzte Kategorie der Entscheidungen, die zu den Problemen fuhren kann, welche der liberale Paternalismus aufgreift - ein Paradebeispiel dafür ist die Altersvorsorge. Die Entscheidung über die Altersvorsorge ist äußerst komplex: Die Anzahl der Produkte ist hoch, der zeitliche Horizont ist lang, Lernprozesse sind kaum möglich und die Unsicherheit bezüglich der erwarteten Erträge sowie der eigenen Lebenserwartung ist immens. Diese Einschätzung dürfte für viele Entscheidungssituationen gelten, deren Konsequenzen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (Rauchen, Diäten, Süchte, Sparen und Investieren), was auch erklärt, warum der liberalen Paternalismus einen Schwerpunkt auf der Betrachtung solcher Situationen hat. Bei diesen Prozessen lässt sich nur schwer festlegen, wann welche Individuen zu irrationalem Verhalten neigen - das ist situations- und personenabhängig. Damit wird die von den Behavioral Economics postulierte Irrationalität zu einer Frage der Situation, des Kontextes und der Person des Entscheiders und ist nicht universell postulierbar wann und in welchem Ausmaß systematisch mit „irrationalem" Verhalten zu rechnen ist, lässt sich nicht vorhersagen. Vielleicht sind die Erkenntnisse der Behavioral Economics in Einzelfällen realitätsnäher als die Idee des Homo oeconomicus, doch sie sind nicht universell postulierbar, entbehren eines einheitlichen, geschlossenen Theoriegebäudes und entziehen sich damit systematischen Ansätzen zur ihrer Lösung. Wirtschaftspolitik, die auf diesen Ideen aufbaut, ohne dabei selbst Fehler zu begehen, dürfte unmöglich sein. Unter dem Strich laufen solche Überlegungen nämlich darauf hinaus, dass die Politik Situationen identifizieren muss, in denen Menschen sich irren oder gegen ihre eigenen Präferenzen verstoßen - der Staat muss also situations- und personenabhängig die „wahren" Präferenzen seiner Bürger erforschen und dann eingreifen, was die Gefahr des punktuellen Interventionismus birgt (ein Versuch der Identifikation von Situationen, in denen es zu irrationalem Verhalten kommt, findet sich bei Beshears et.al. 2008). Selbst wenn man sich politisch auf bestimmte Situationen einigen könnte, in denen man, wenn nicht universales, so doch überwiegendes Versagen der Rationalität unterstellt, wären staatliche Eingriffe zur Korrektur dieser Verhaltensfehler nur gerechtfertigt, wenn es durch solche Fehler zu externen Effekten kommt oder man aber durch diese Interventionen die Gesamtwohlfahrt eines Landes erhöhen kann - die entscheidenden

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Argumente des liberalen und des asymmetrischen Liberalismus, die im nächsten Abschnitt untersucht werden sollen.

2. Ein Einfallstor in staatlichen Dirigismus? Die Idee eines liberalen Paternalismus klingt nach der Quadratur des Kreises - kann man den Bürger bevormunden, ohne ihn zu zwingen, und kann man die Wohlfahrt eines Staates dadurch erhöhen? Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn man durch die Interventionen externe Effekte beseitigen kann - die Frage ist allerdings, ob die Darstellung des Zeitinkonsistenz-Problems als besondere Variante externer Effekte, also als Internalitäten, gerechtfertigt ist. Im Gegensatz zu externen Effekten wird bei den Internalitäten keine Dritte, außenstehende Person geschädigt, die es zu schützen gilt, sondern nur ein zeitlich entferntes zweites Ich; letztlich trägt der Verursacher des Schadens diesen selbst - es liegt also nach wie vor eine Kongruenz von Entscheidungsbefugnis und Haftung vor. Die traditionelle Finanzwissenschaft unterscheidet zwischen externen Effekten und verzerrten Präferenzen - diese Begrifflichkeit wird dem Charakter des Zeitinkonsistenz-Problems eher gerecht, da es sich trotz aller theoretischen Finessen nachwievor nur um eine Person handelt, die sich mit den negativen Folgen der eigenen Handlungsweise auseinander setzen muss. Zudem macht diese Unterscheidung den bevormundenden Charakter solcher Argumente transparenter, denn wer Präferenzen „verzerrt" nennt, muss einen Maßstab dafür nennen und damit die Norm offen legen, mit deren Hilfe er staatliche Eingriffe rechtfertigt. Akzeptiert man aber die Idee, zeitinkonsistentes Verhalten als ein Problem intertemporaler externer Effekte zwischen dem willensschwachen heutigen Ich und dem morgigen Ich zu modellieren, so muss man fragen, wer wem schadet - schadet das heutige Ich dem morgigen Ich durch das Rauchen, oder ist es das morgige Ich, das mit seiner Forderung nach Gesundheit die Präferenzen des heutigen Ichs belastet? Handelt es sich in der Tat um einen externen Effekt, so ist die Verteilung der Eigentumsrechte unklar - und damit steht nicht automatisch fest, dass das heutige Ich dem zukünftigen Ich schadet. Möglicherweise ist es das zukünftige Ich, welches das heutige Ich in seinem Konsum übermäßig beschränkt - dann müsste man Tabakkonsum subventionieren. Gegen Sündensteuern spricht zudem, dass Menschen auch ohne staatliche Eingriffe Möglichkeiten haben, intrapersonelle Konflikte auszutragen, und zwar über Selbstbindungsmechanismen, Kompromisse oder Verhandlungslösungen (Whitman 2006): — Selbstbindungsmechanismen. Man beschränkt sich in seinen Handlungsmöglichkeiten, indem man beispielsweise wettet, dass man mit dem Rauchen aufhört - die Wette verteuert ein potentielles Fehlverhalten. — Kompromisse. Man beschließt, nur am Wochenende zu rauchen oder sich nur einmal die Woche Schokolade zu gönnen - Kompromisse zwischen den Bedürfnissen des heutigen und des morgigen Selbst ermöglichen es, heute ohne Schuldgefühle Dinge zu tun, die morgen negative Konsequenzen haben. Eine andere Form des Kompromisses sind mentale Konten, beispielsweise für Glücksspiele: Man setzt sich ein Limit für die monatlichen Ausgaben für solche Zwecke - und die mentale Kontenbildung hilft, solche Arrangements einzuhalten.

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— Verhandlungslösungen. Das heutige Ich wird durch Zugeständnisse des zukünftigen Ichs zu einem Verhalten bewogen, das die Interessen des zukünftigen Ichs wahrt. Man beschließt, sich etwas Gutes zu tun, wenn man heute auf etwas verzichtet - also beispielsweise belohnt man sich mit dem Kauf einer CD, wenn man sich das ungesunde Essen versagt oder erfolgreich für die Klausur lernt, statt ins Schwimmbad zu gehen. Erst wenn diese Selbstbindungsmechanismen unwirksam sind oder aber begründete Zweifel an deren Wirksamkeit bestehen, könnte ein staatlicher Eingriff zur Beseitigung der Internalität in Erwägung gezogen werden - vorausgesetzt man ignoriert die obige Kritik an der Verteilung der Eigentumsrechte. Selbst wenn man dieses tut und sich darauf einigt, dass der Gesetzgeber in verschiedenen Situationen eingreift, um mögliche Internalitäten zu beseitigen - ein großes Wenn — bleibt die Frage, ob man mittels einer solchen Regulierung die Gesamtwohlfahrt steigern kann - dies wäre nur der Fall, wenn man unterstellt, dass die Lasten einer solchen Intervention, welche diejenigen Bürger tragen, die nicht den unterstellten Verhaltensanomalien unterliegen, geringer sind als der Nutzen, den jene Bürger davontragen, die (wissentlich oder unwissentlich) von der staatlichen Regulierung profitieren - minimale Kosten und maximale Erträge, wie es der asymmetrischen Paternalismus postuliert 0Camerer et.al. 2003, S. 1222). Abgesehen von der Unmöglichkeit einer solchen Kalkulation5 zeigt die Kritik am liberalen Paternalismus, dass die Kosten solcher Interventionen höher sein könnten, als man es auf den ersten Blick vermuten würde, (u.a. Glaeser 2006; Field 2008): — Psychologische Kosten. Liberaler Paternalismus, der versucht, das Verhalten der Bürger und Konsumenten durch mehr Informationen zu beeinflussen, kann zwar ungewünschtes Verhalten reduzieren, fuhrt aber zu einer psychologischen Steuer für alle Bürger, die dieses Verhalten nicht ablegen wollen. Die Raucher rauchen weiter, haben aber wegen der staatlichen Maßnahmen (beispielsweise Aufklärungskampagnen) ein schlechtes Gewissen, was ihre Wohlfahrt reduziert. Im Vergleich zur Tabaksteuer hat diese psychologische Steuer den Nachteil, dass Kosten bei den Besteuerten anfallen, aber keine Steuererträge beim Staat. — Kontrolle. „Harter" Paternalismus in Form von Steuern lässt sich leichter verfolgen und demokratisch kontrollieren als „weicher" Paternalismus, dessen Ausmaß letztlich aufgrund der Beschaffenheit seiner Maßnahmen nicht feststellbar ist. Das lädt zu politischem Missbrauch des weichen Paternalismus ein. — Diskriminierung. Die Überzeugungsarbeit der liberalen Paternalisten kann dazu führen, dass Vorurteile gegen bestimmte Personengmppen aufgebaut werden - Raucher werden als schwach, selbstzerstörend wahrgenommen, Sozialhilfebezieher werden als Schmarotzer gebrandmarkt. Das schadet auf Dauer einer demokratischen Gesellschaft. — „Slippery slope". Weicher Paternalismus, so das Argument, führt später zu hartem Paternalismus, er ist eine Rutsche (Slippery slope), auf der es abwärts geht in Rich5 Eine solche wohlfahrtstheoretische Abwägung ist schon bei „normalen" Entscheidungsproblemen nahezu unmöglich; wie soll eine solche Nutzenabwägung aussehen, wenn man nicht auf die bekundeten Präferenzen der Bürger abstellt, sondern auf deren mutmaßliche Präferenzen?

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tung zu einem harten Paternalismus; er bereitet den Boden für weitergehende Maßnahmen. So begann auch der Weg in die Prohibition mit Versuchen, das Trinkverhalten der Bürger durch Appelle und Kampagnen zu ändern. — Missbrauch und Manipulation. Wie muss man es beurteilen, wenn der Staat Informationen oder Wahlmöglichkeiten ganz bewusst so formuliert, um die Präferenzen der Bürger zu lenken? Die Grenzen zur Manipulation sind fließend. Das Argument, dass der Staat ja irgendeine Entscheidung bei der Darstellung von Optionen oder bei der Festlegung von Default-Optionen treffen muss, lässt sich entgegenhalten, dass bei Wettbewerb sich diejenigen Regelungen durchsetzen werden, die den bekundeten Präferenzen der Konsumenten am nächsten kommen werden. Der CafeteriaManager, der seine Speisen gegen die Präferenzen seiner Kunden anordnet, wird gegenüber der Konkurrenz das Nachsehen haben. — Erzwungene Entscheidungen. Das Argument, dass man letztlich irgendeine DefaultRegelung angeben muss, überzeugt Kritiker nicht: Sie schlagen vor, dass man in solchen Situationen die Betroffenen zwingt, eine Entscheidung zu treffen - sie müssen also beispielsweise eine betriebliche Altersvorsorge wählen oder abwählen; Nichtstun ist als Option nicht möglich. Dem halten die Verfechter des liberalen Paternalismus entgegen, dass dies nur eine Scheinlösung sei: Diese Lösung sei ebenfalls paternalistisch, da sie nicht den Willen einiger Betroffener akzeptiert, deren Wunsch es ist, nicht zu entscheiden. Ein sehr gefahrliches Argument, da es suggeriert, dass manche Menschen eben wollen, dass der Staat für sie entscheidet. — Theoretische Einwände. Die Verfechter des liberalen Paternalismus überzeichnen die Rolle des Homo Oeconomicus in der traditionellen liberalen Theorie, die sehr wohl um die Schwächen und Irrtümer der Menschen weiß und dementsprechend versucht, diese in die theoretische Analyse mit einzubeziehen; beispielsweise indem man Lernprozesse oder die Rolle von Mittelmännern, Beratern und Agenten untersucht. Der liberale Paternalismus versucht also, offene Türen einzurennen (Klein 2004, S. 266).

— Politische Einwände. Um Politik im Sinne des liberalen Paternalismus zu betreiben, muss man unterstellen, dass die verantwortlichen Politiker selbst nicht Verhaltensanomalien unterliegen. Tun sie dies aber, so wird auch die Politik von Verhaltensfehlern geprägt sein. Angenommen jedoch, die Politiker sind frei von diesen systematischen Verhaltensfehlern, dann bleibt die Frage, ob sie ihre Politik auch am Allgemeinwohl ausrichten würden oder aber ihre Eigeninteressen verfolgen werden dann würde der liberale Paternalismus zur Ideologie einer eigennutzinteressierten Politikerkaste verkommen, die mit Verweis auf die Erkenntnisse der Behavioral Economics stimmenmaximierende (Klientel-)Politik betreibt. All diese Kritikpunkte zeigen, dass die Kosten paternalistischer Eingriffe ohne Not größer sein könnten, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Unter dem Strich bleiben viele Kritikpunkte an der theoretisch eleganten Idee des liberalen Paternalismus, nicht zuletzt auch das Argument, dass viele der vorgeschlagenen Maßnahmen sich auch mit Hilfe der traditionellen Ökonomie erklären und rechtfertigen lassen - die Idee der Informationsasymmetrien, ungleiche Machtverteilung zwischen Konsumenten und Produzenten beispielsweise rechtfertigen bereits mehr Informationen, Cooling-off-Perioden

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oder umfangreichere Rücktrittsrechte. Um diese Maßnahmen zu rechtfertigen, braucht man keine neuen theoretischen Klimmzüge.

VIII. Fazit Unter dem Strich lassen sich die Überlegungen zu den Behavioral Economics und dem liberalen Paternalismus in drei Schritten zusammenfassen: — Erstens: Ob ein Verhalten irrational ist und nicht den „wahren" Präferenzen des Entscheiders entspricht, hängt sowohl von der Entscheidungssituation als auch von der Person des Entscheiders ab - Rationalität oder Irrationalität, also der Verstoß gegen die eigenen Präferenzen ist damit situations- und personenspezifisch. Die von den Behavioral Economics postulierten Verhaltensanomalien sind damit erstens nicht systematisch; und zweitens handelt es sich dabei in vielen Fällen um effiziente Entscheidungsmechanismen, deren Korrektur in keinem Verhältnis zu den damit verbundenen Wohlfahrtsgewinnen steht. Möglicherweise führt deren Korrektur sogar zu Wohlfahrtsverlusten. — Damit lässt sich zweitens nicht eindeutig und systematisch feststellen, wann das tatsächlich offenbarte Verhalten von Menschen nicht ihren wahren Präferenzen entspricht und der Gesetzgeber deswegen korrigierend zu ihrem Wohl eingreifen sollte. Eingriffe zur Korrektur mutmaßlich irrationalen Verhaltens werden damit immer zu Wohlfahrtsverlusten bei einem Teil der Bürger fuhren, sobald der Staat fälschlicherweise annimmt, dass irrationales Verhalten vorliegt und eingreift. — Akzeptiert man, dass eine systematische Korrektur der offenbarten Präferenzen zu Beeinträchtigungen von Bürgern mit rationalen Präferenzen führt, so kann man drittens staatliche Eingriffe zur Korrektur nur rechtfertigen, wenn die Wohlfahrtsgewinne für diejenigen, deren Präferenzen man zurecht korrigiert, größer sind als die Wohlfahrtsverluste deijenigen, die bei diesen Eingriffen Wohlfahrtsverluste erleiden. Abschnitt VII2 hat aber gezeigt, dass die Kosten eines weichen Paternalismus größer sind, als man es auf den ersten Blick vermutet. Damit steht die Idee eines asymmetrischen Paternalismus, dessen Nutzen größer ist als die damit verbundenen Kosten, vorsichtig gesagt auf wackligen Beinen. Es bleibt die Frage nach der Wirtschaftspolitik, die man auf dieser Grundlage betreiben will. Unterstellt man die Freiheit des Einzelnen als normative Grundlage der Wirtschaftspolitik, so ist die einzige Alternative zu einem paternalistischen Interventionsstaat Ordnungspolitik, die der Tatsache Rechnung trägt, dass wir keine gesicherten Erkenntnisse über die wahren Präferenzen der Bürger haben, und die jedem Bürger die Freiheit lässt, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben - das kann auch die Freiheit sein, Fehler zu begehen. Eine kritische Betrachtung der Ergebnisse der Behavioral Economics zeigt, dass wir zu wenig darüber wissen, wie und warum Menschen entscheiden, als dass wir auf der Grundlage dieses geringen Wissens systematisch in die Präferenzen der Bürger eingreifen können, ohne dabei hohe Kosten zu verursachen. Wie wichtig es ist, die Grenzen der Behavioral Economics und die Leistungsfähigkeit der traditionellen Ökonomie zu erkennen, wird bei der Debatte um den Liberalen Paternalismus deutlich: Verhaltensanomalien, Irrtümer und Fehler in der Entschei-

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dungsbildung sind eine Einladung an Interventionisten, mehr Staat zu fordern - wenn der Bürger irrational ist, so ist das die perfekte Begründung für einen staatlichen Eingriff, wenngleich die Frage, warum denn der Staat oder seine Repräsentanten nicht diesen Irrtümern unterliegen, unbeantwortet bleibt. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Begründungen für mehr Staat als wenig überzeugend: Die Irrtümer in der Erwartungsbildung, wegen derer man den liberalen Paternalismus propagiert, reduzieren sich, wenn die monetären Anreize stimmen; zudem hat man in der Realität mehr Möglichkeiten als im Labor, Berater, Bücher oder das Internet zur Hilfe heranzuziehen und seine Entscheidung zu verbessern. Auch Erfahrungen verbessern unsere Entscheidungsfahigkeit. Das spricht dafür, dass viele Fehler respektive Verhaltensanomalien in der Realität nicht so häufig auftreten wie in den Laborsituationen der Experimente. Die Diskussion um die einzelnen Verhaltensanomalien hat gezeigt, dass der Korrekturbedarf durch staatliche Politik geringer ist, als es Laborexperimente nahelegen. Das Theoriegerüst der Ökonomen bedarf möglicherweise an einigen Ecken der Überarbeitung oder Ergänzung, doch ein neues theoretisches und damit auch politisches Paradigma wird nicht nötig sein. Behavioral Economics ist ein spannendes und fruchtbares Forschungsfeld - es zeigt uns, dass wir weniger von uns wissen als wir bisher gedacht hatten. Das spricht umso mehr dafür, sich bei der Wirtschaftspolitik auf Konzepte zu besinnen, die diesem Nichtwissen Rechnung tragen. Trotz der Fortschritte in den Behavioral Economics in den vergangenen Jahren, wissen wir zu wenig, um auf Basis dieser Erkenntnisse gesicherte Handlungsanweisungen zu geben. Vor diesem Hintergrund sind die Ideen der Ordnungspolitik aktueller denn je: Sie tragen der Vielfältigkeit der Menschen und unserem mangelnden Wissen über sie Rechnung und lassen ihnen genügend Freiheit, um diese Vielfalt auszuleben - ob mit oder ohne Fehler.

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Summary: Psychology and economic policy The new discipline of behavioral economics relies on psychological findings that humans show systematic deviations from rationality - they act altruistically and are concerned about fairness, they behave in a time-inconsistent manner and they don't have an unlimited capacity for information processing and storage. Based on these findings - the most important ones being described in this paper - , psychologists propose

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new ideas for politics in various fields: social policy, regulation of financial markets, finance, tax policy, volunteering, promoting reforms and consumer protection - all these fields may benefit from the insights of the new discipline of behavioral economics. The most important application in this field is the idea of a liberal paternalism: In contrast to traditional heavy-handed approaches to paternalism, liberal paternalism aims to improve individual choice without restricting it by making use of some of those behavioral biases. This policy seems to be very smart; nonetheless it brings several problems with it which are being addressed in this paper.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Dieter Schmidtchen

Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik: Eine Erwiderung auf Mestmäcker Inhalt I. Einleitung 153 II. Luhmann und die Folgen 155 III. Grenzen von Freiheit als Rechtsprinzip 158 1. Allokation von Property Rights 158 2. Kant und die Freiheit im Nirgendwo 160 3. Institutionalisierung des Wettbewerbs als einer Institution des Privatrechts 162 IV. Erlaubte Freiheit? 164 V. Schluss: Effizienz als Rechtsprinzip 165 Literatur 167 Zusammenfassung 167 Summary: On the Dualism of Law and Economics in the Interpretation and Application of Competition Rules

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I. Einleitung „Antitrust policy cannot be made rational until we are able to give a firm answer to one question: What is the point of the law - what are its goals? Everything else follows from the answer we give....Only when the issue of goals has been settled is it possible to frame a coherent set of substantive rules." (Robert Bork 1978, S. 50)

Mestmäcker (2008) setzt sich in seinem Aufsatz Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz mit den von mir {Schmidtchen 2008) vertretenen Ansichten zum Verhältnis von Freiheit und Effizienz bei der Begründung, Auslegung und Anwendung von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen auseinander. Dies geschieht in überwiegend kritischer Weise. Die folgenden Ausfuhrungen dienen dem Zweck, Fehlvorstellungen und Missverständnisse zu korrigieren sowie verbleibende Gegensätze zu kennzeichnen. Ich hatte in meinem Beitrag Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik {Schmidtchen 2008) Mestmäckers Ansichten zu den Grenzen der Ökonomik bei der normativen Grundlegung des Wettbewerbsrechts, die er in seinem Vortrag aus Anlass des 30-jährigen Bestehens der Monopolkommission dargelegt hatte {Mestmäcker 2005), kritisch analysiert. Mestmäcker weist in diesem Vortrag alle Versuche, die Wettbewerbspolitik auf ein

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Dieter Schmidtchen

ökonomisch definiertes Ziel auszurichten, d.h. „Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen und deren Auslegung danach zu beurteilen, ob sie den Erfordernissen ökonomischer Rationalität entsprechen", mit dem Hinweis darauf kategorisch zurück, dass das Recht eine „eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit" aufweise, „die sich nicht notwendig auf preistheoretisch optimierte Modelle wettbewerbsgemäßen oder wettbewerbswidrigen Verhaltens zurückführen lassen" (Mestmäcker 2005, S. 21). Da Wettbewerb aus der Ausübung von Freiheitsrechten, der Gewerbefreiheit, der Vertragsfreiheit, des Eigentums und anderer Vermögensrechte entstehe (Mestmäcker 2005, S. 23), sei alleiniges Ziel der Wettbewerbspolitik - und damit alleinige Legitimation staatlichen Zwangs - der Schutz der Wettbewerbsfreiheit. Die Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollen dabei die größte Freiheit aller Mitglieder einer Gesellschaft durch „genaue Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit gewährleiste(n), damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne" (Mestmäcker 2005, S. 24). Zwar beschränke staatliche Wettbewerbspolitik ebenfalls die Freiheit, etwa die von Kartellanten und Marktbeherrschern, aber die mit staatlicher Wettbewerbspolitik notwendig verbundenen Eingriffe in die Handlungs- und Vereinigungsfreiheiten, aus denen der Wettbewerb entsteht, hätten nur den Sinn der Freiheitssicherung. Sie seien erforderlich, um die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs im öffentlichen Interesse zu gewährleisten. Aus der Wettbewerbsfreiheit folge das Macht und Erfolg verteilende Ordnungsprinzip, woraus sich wiederum ein „Vorrang der Konkurrenzfreiheit vor dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und vor dem Grundsatz der allgemeinen zivilrechtlichen Handlungsfreiheit" ergebe (Mestmäcker 2008, S. 195). Anders als Mestmäcker konnte ich keinen Widerspruch der ökonomischen Rationalität zur Rationalität des Rechts entdecken, und ich führte Mestmäckers Behauptung eines Widerspruchs darauf zurück, dass er in seiner Rechtstheorie das Konzept eines Konditionalprogramms im Sinne Luhmanns vertrete. Seine These, dass Effizienz oder ökonomische Rationalität als Rechtsprinzip zur normativen Grundlegung des Wettbewerbsrechts nichts tauge, vielmehr Freiheit als Rechtsprinzip benutzt werden müsse, versuchte ich dadurch zu entkräften, dass ich anhand von drei Beispielen (Preiskartell, Unternehmenszusammenschluss und Lieferverweigerung) zum einen die Unbrauchbarkeit von Freiheit als Rechtsprinzip zur Lösung der in den drei Beispielen enthaltenen Interessenkonflikte zeigte und zum anderen auf die Gefahr des Leerformelcharakters des auf Kant zurückgehenden Prinzips hinwies, dass die Freiheit des einzelnen dort ende, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt. Schließlich wurde die Funktionsfahigkeit von Effizienz als Rechtsprinzip zur Lösung der in den drei Beispielen enthaltenen Interessenkonflikte demonstriert. Mestmäcker weist in seiner Erwiderung meine Vermutung, dass er sich einer „formalistisch juristischen Denkweise" bediene und in seiner Rechtstheorie dem Konditionalprogramm im Sinne des systemtheoretischen Ansatzes von Luhmartn in dessen Rechtssoziologie von 1972 folge mit dem Hinweis darauf zurück, dass ich seine Kritik an Luhmann ebenso übersehen habe wie dessen grundlegend veränderte Position in Das Recht der Gesellschaft von 1993. Außerdem wendet er sich gegen meine These, „dass es unmöglich ist, in Konfliktsituationen, also solchen Situationen, in denen ein Mehr an Freiheit des A ein Weniger an Freiheit des B impliziert, ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen." Seiner Ansicht nach widerspricht diese These „der Theorie des Wett-

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bewerbs als Entdeckungsverfahren ebenso wie dem Verständnis der Wettbewerbsfreiheit im Privat- und Wettbewerbsrecht" (Mestmäcker 2008, S. 208). Und er fugt hinzu: „Auch anhand des von Schmidtchen zugrunde gelegten Coase-Theorems lässt sich der Widerspruch der Wettbewerbsfreiheit mit sich selbst nicht begründen" {Mestmäcker 2008, S. 208). Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Idee, dass das Wettbewerbsrecht, hier verstanden als Kartellrecht, neben der Aufgabe der Verhaltenssteuerung die Funktion besitzt, mögliche Streitfalle einer gewissen Art zwischen den diesem Teil der Rechtsordnung unterworfenen Personen zu entscheiden. Die Entscheidung von Handlungskonflikten geschieht auf der Ebene des Gesetzgebers und der Rechtsanwender durch Spezifikation und personelle Zuteilung von Property Rights oder Handlungsrechten. Property Rights definieren die Grenzen, innerhalb derer der Inhaber der Rechte tun und lassen kann, was er will. Die Festlegung dieser Grenzen geschieht im Wettbewerbsrecht typischerweise durch Angabe dessen, was ein Akteur nicht tun darf. Bei der Entscheidung von Handlungskonflikten jeglicher Art durch Spezifikation und personelle Zuordnung von Property Rights handelt es sich um ein Nullsummenspiel. Man kann in einem Rechtsstreit, den ein Handlungskonflikt ausgelöst hat, nicht beiden Seiten Recht geben, wenn die Rechtsordnung dem Grundsatz der „compossibility" von Rechten verpflichtet ist (Steiner 1977). Aus dem Nullsummenspiel-Charakter der Entscheidung eines Interessenkonflikts folgt, dass mindestens eine der am Konflikt beteiligten Parteien einen Schaden erleidet: Erlaubt der Gesetzgeber z.B. Preiskartelle oder Unternehmenszusammenschlüsse, dann mögen die Konsumenten geschädigt werden; verbietet er dagegen Preiskartelle und Unternehmenszusammenschlüsse, dann werden die beteiligten Unternehmen geschädigt. Oder im Fall einer Lieferverweigerung: Definiert der Gesetzgeber oder ein Gericht eine Lieferverweigerung als rechtmäßig, dann werden die Unternehmen geschädigt, die gerne beliefert werden wollen. Wird die Lieferverweigerung untersagt, dann wird das liefernde Unternehmen geschädigt. Aus dieser Überlegung ergibt sich meine grundlegende These: Bei der Formulierung und Anwendung des Wettbewerbsrechts haben wir es mit einem Problem reziproker Natur zu tun, das Ronald Coase in seinem berühmten 1960er Artikel am Beispiel von negativen externen Effekten entfaltet hat {Coase 1960). Diese These ermöglicht es, die negativen Auswirkungen sogenannter wettbewerbsbeschränkender Handlungen auf Konkurrenten, Abnehmer oder Lieferanten als negative externe Effekte zu interpretieren und das Wettbewerbsrecht, insofern es öffentlichrechtlich ausgestaltet ist, als Institution zur Internalisierung solcher negativer externer Effekte zu begreifen.

II. Luhmann und die Folgen Luhmann unterscheidet in seiner Rechtssoziologie von 1972 zwei Arten von Normen: Zweckprogramme einerseits und Konditionalprogramme andererseits. Eine in die Form eines Zweckprogramms gekleidete Norm schreibt einem Entscheider die Erreichung eines Zieles vor. Um diesen Auftrag zu erfüllen, muss er die Folgen von Hand-

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Dieter Schmidtchen

lungsalternativen abschätzen und jene wählen, die den größten Beitrag zur Zielerreichung leistet. Reine Konditionalprogramme sind dagegen bedingte Nonnen: In ihnen sind die Bedingungen gesetzlich festgelegt, bei denen eine bestimmte Verhaltensweise geboten ist. Bei einer bedingten Rechtsnorm ist dies die Rechtsfolge. Ich hatte durch verschiedene Formulierungen Mestmäckers den Eindruck gewonnen, dass seine kategorische Zurückweisung aller Versuche, die Wettbewerbspolitik auf ein ökonomisch definiertes Ziel auszurichten, mit der Gründung seiner Rechtstheorie auf das Konzept von Konditionalprogrammen im Sinne Luhmanns zu erklären sei. Was sonst sollte mit dem Hinweis auf die „eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit des Rechts" gemeint sein? Ich hatte nicht bedacht - und dies hat Mestmäcker in seiner Erwiderung mit Recht klargestellt - , dass Luhmann seinerzeit das Recht auf jene Elemente reduzierte, die es zu einem selbständigen, in seinem Verhältnis zur Umwelt, geschlossenen System erhoben und dessen Operationen durch Selbstreferenz gekennzeichnet sind (Mestmäcker 2008, S.186 f f ) . Ökonomische Funktionalität spielt dann bei der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung keine Rolle. Folgenorientierung wird - wie Mestmäcker schreibt - „begrenzt durch die Positivität des Rechts und den damit einhergehenden Zwang, jeden Konflikt anhand der Rechtslage zu entscheiden" {Mestmäcker 2008, S. 187). Mestmäcker weist in seiner Erwiderung darauf hin, dass er niemals diese Position Luhmanns geteilt habe, weil sie die Bedeutung des Rechts hinsichtlich seiner ökonomischen Funktionen verkenne, dass er Luhmann wegen der Negierung der Interdependenz von Rechts- und Wirtschaftsordnung kritisiert habe und dass Luhmann selbst mittlerweile mit der Kategorie der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft diese Idee in seine Theorie aufgenommen habe (.Mestmäcker 2008, S. 187 ff.). Als ich seinerzeit die Position Mestmäckers kritisch würdigte, kannte ich Mestmäckers Kritik an Luhmann nicht. Nun - nach dieser nützlichen Aufklärung - verstärken sich allerdings die Zweifel an Mestmäckers Behauptung, dass ökonomische Rationalität im Widerspruch zur Rationalität des Rechts stehe. Ein Merkmal ökonomischer Rationalität ist der Fokus auf die Folgen von Entscheidungen - warum sollte es dann nicht möglich sein, Folgenorientierung mit der Positivität des Rechts zu verbinden? Und in der Tat, es ist genau das, was Mestmäcker konzediert: „Der Zweck von Normen gehört neben Wortlaut, Entstehungsgeschichte und systematischem Zusammenhang zum Standard der Rechtsauslegung auch im Wettbewerbsrecht" (Mestmäcker 2008, S. 186). Wenn dem aber so ist - und niemand wird das bestreiten - , dann ist es durchaus möglich, bedingte Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen nach Maßgabe der ökonomischen Funktionen von Wettbewerb auszulegen. Ja, es ist nicht einmal ausgeschlossen, bereits in der Wenn-Komponente einer Norm - alle Gebots-, Verbots- und Ermächtigungsnormen lassen sich als Wenn-Dann-Schema darstellen - eine gewünschte ökonomische Folge als Tatbestandsmerkmal aufzunehmen, dessen Erfüllung die Voraussetzung für die Auslösung der Rechtsfolge ist. Die deduktive Struktur juristischer Entscheidungsbegründungen (Koch und Rüßmann 1982, S. 14 f f , S. 48 ff. und S. 112 ff.) könnte grundsätzlich beibehalten werden, ohne den Rechtsanwender zu einem „begriffsgläubigen Subsumtionsapparat" (Mestmäcker 2008, S. 186) zu degradieren.

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Aber eine Aufnahme von Tatbestandsmerkmalen in die Wenn-Komponente einer Norm, deren Erfüllung nur aufgrund von wissenschaftlich fundierten Hypothesen oder Folgenanalysen nachgewiesen werden kann, ist nicht einmal erforderlich, um eine Normauslegung ökonomisch aufzuladen. Es genügte zu zeigen, dass der Zweck des Wettbewerbsrechts, sein Existenzgrund, zumindest auch ein ökonomischer ist. Es ist gewiss richtig, dass Wettbewerb aus der Ausübung von Freiheitsrechten entsteht, diese mögen um ihrer selbst willen geschätzt werden, aber nicht nur. Die ökonomischen Ergebnisse, die Förderung des Gemeinwohls, spielen ganz sicher auch eine wichtige Rolle. Dann aber reduziert sich die Kontroverse auf die Frage nach dem Zweck des Wettbewerbsrechts. In der Rechtswissenschaft unterscheidet man den subjektiven von dem objektiven Zweck einer Norm. Der subjektive Zweck ist der Zweck, den der historische Gesetzgeber mit der Norm verfolgte. Nun ist der Ökonom geneigt, die Figur „des Gesetzgebers" als ein Modell - ähnlich dem des Homo Oeconomicus - zu betrachten, das Juristen benötigen, um ihre Arbeit zu verrichten. Tatsächlich besteht der Gesetzgeber aus einer Gruppe von Menschen, die mit einem Gesetz ganz unterschiedliche Zwecke verbinden mögen. Auch die Gesetzesbegründungen sind nicht immer eindeutig. Außerdem repräsentieren historische Gesetzeszwecke den Stand des Wissens zu dem Zeitpunkt, als das Gesetz erlassen wurde. Auch ist der Zweck eines Gesetzes mit dem anderer Gesetze abzustimmen. Dies wirft die Frage auf, die hier allerdings nicht weiterverfolgt werden kann, inwieweit das historisch Gewollte die heutige Auslegung und Anwendung von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen bindet und binden sollte. Der objektive Zweck einer Rechtsnorm ist der Zweck, „den die Rechtsnorm als solche, von jeder menschlichen Zwecksetzung unabhängig" besitzt (Hoerster 2006, S. 129). Einen solchen Zweck gibt es jedoch nicht, vielmehr ist jeder Zweck subjektiver Natur {Hoerster 2006, S. 129). Eine Rechtsnorm besitzt auch nicht einen Zweck, sondern dieser wird ihr bestenfalls zugeschrieben. Gleichwohl lässt sich fragen, mit welchen Zwecken eine Norm vereinbar ist. Es dürfte nicht schwer fallen, eine konsistente Interpretation von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu liefern, die von Effizienz als Zweck der Normen ausgeht (Bork 1978; Posner 2001). Halten wir Folgendes fest: Das Recht als solches, die Natur des Rechts, die Rechtsidee oder die Rationalität des Rechts, verbieten nicht, Effizienz als Kriterium bei der Formulierung, Auslegung und Anwendung von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu benutzen. Auch wenn Recht eine eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit - alles keine wohldefinierten Begriffe! - aufweisen sollte, so gilt gleichwohl, dass Recht der Verwirklichung außerrechtlich bestimmter Zwecke dient.1 Andererseits mag Recht als eine Technologie zur Strukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien eine Schranke (Nebenbedingung) für die Formulierung von Zielsetzungen bezüglich der anzustrebenden Art sozialer Ordnung darstellen. Man sollte keine Ziele setzen, die man mit der Technologie Recht nicht verwirklichen kann. Diese Schranke ist aber ein technisches Problem.

1 Zur Problematik von „Law for Law's Sake" siehe Rabin (1996).

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Die Entscheidung bezüglich der Zwecke von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen beruht auf Werturteilen. Die Ökonomie als Erfahrungswissenschaft kann solche Werturteile nicht fallen (es ist auch fraglich, ob die Rechtswissenschaft dazu legitimiert ist). Gleichwohl ist die Ökonomie nicht zum Schweigen verurteilt. Sie kann Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen im Lichte eines positiven und normativen Erkenntnisinteresses analysieren, auf die Kosten nicht-effizienten Rechts hinweisen und nach der konstitutionellen Fitness bestimmter Rechtszwecke und Normen fragen.2

III. Grenzen von Freiheit als Rechtsprinzip Mestmäckers Hauptanliegen ist es, eine meiner grundlegenden Thesen zu widerlegen, „dass es unmöglich ist, in Konfliktsituationen, also solchen Situationen, in denen ein Mehr an Freiheit des A ein Weniger an Freiheit des B impliziert, ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen" {Schmidtchen 2008, S. 158). Ich hatte den Begriff Freiheit auf eine Eigenschaft bezogen, die einer (natürlichen oder juristischen) Person zukommt, und sie als rechtlich geschützte Erlaubnis zu einem Handeln definiert. Mit Hilfe des Konzepts der Property Rights wurden dann einige Implikationen des Begriffs herausgearbeitet und sodann anhand dreier Beispiele - Preiskartell, Unternehmenszusammenschluss und Lieferverweigerung - die Unbrauchbarkeit von Freiheit als Rechtsprinzip zur Lösung der mit diesen Beispielen illustrierten Handlungskonflikte abgeleitet. Aus dem aufzeigen von Freiheit als Rechtsprinzip folgt weder die Ablehnung einer freiheitlichen Handelnsordnung noch deren Unmöglichkeit. Vielmehr wird die Entscheidung für eine freiheitliche Handelnsordnung als Ausgangspunkt der Analyse akzeptiert. Mestmäckers Widerlegungsversuch meiner These erfolgt in mehreren Schritten: Zuerst wird das Modell Property Rights kritisiert, dann auf eine fehlerhafte Interpretation von Kant verwiesen (Freiheit im Nirgendwo) und schließlich betont, dass ich zentrale Aspekte einer Institutionalisierung des Wettbewerbs als einer Institution des Privatrechts übersehen habe.

1. Allokation von Property Rights Ich hatte die These vertreten, dass die Allokation von Property Rights (bei Vorliegen von Interessenkonflikten!) ein Nullsummenspiel sei. Diese Idee hatte ich am Beispiel sich überlappender Kreise zu illustrieren versucht (wobei Kreise die Interessensphären von Individuen repräsentieren sollten). Es ging dabei um die Frage, ob A das Recht haben sollte, einen negativen externen Effekt zu erzeugen, oder ob B, der negativ Betroffene, ein Abwehrrecht hat. Dazu schreibt Mestmäcker: „Diese Rechnung geht jedoch

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Die Frage nach der konstitutionellen Fitness von Rechtszwecken und Normen ist eine Frage danach, ob sie im gleichgerichteten Interesse aller liegen. Zu betonen ist, dass die Entscheidung für solche Zwecke und Normen nicht auf einer utilitaristischen Folgenabwägung beruht, sondern auf der Prüfung ihrer Konsensfähigkeit in einer Gesellschaft. Wie dies geschehen könnte hat Viktor Vanberg in seinen Artikeln Die normativen Grundlagen der Ordnungspolitik (Vanberg 1997) und Konstitutionenökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit (Vanberg 2001) gezeigt.

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nur auf, wenn man Rechte als Güter behandelt, deren Wert nach einem von allen Beteiligten anerkannten Maßstab vergleichend gewichtet werden kann" (Mestmäcker 2008, S. 190). Dies sei auch die Meinung von Bentham, dessen Argumentation nach Ansicht von Mestmäcker dazu führe, „dass es ein Widerspruch in sich ist, innerhalb der Rechtsordnung von Freiheitsrechten auch nur zu sprechen (.nonsense on stilts')" (Mestmäcker 2008, S. 190). In der Tat, Rechte können analog zu Gütern betrachtet werden, die einen Nutzen stiften. Dass es eine Vielzahl von Märkten gibt, in denen Rechte gehandelt werden, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden. Im Übrigen betont die Theorie der Property Rights, dass auch in Märkten für bewegliche und nicht bewegliche Sachen im Kern Rechte gehandelt werden und dass der Wert der Güter wesentlich durch das Bündel von deren Nutzungsrechten bestimmt wird. Mestmäcker schreibt: „Schmidtchen scheint die Lieblingsthese von Bentham zu bestätigen, dass wir alle unbewusst, ob wir wollen oder nicht, Utilitaristen seien. Selbst wenn dies zutreffen sollte, folgt daraus entgegen Schmidtchen (und Bentham) nicht, dass sich auch das Recht in den Dienst des größten Glücks der größten Zahl stellen sollte" (Mestmäcker 2008, S. 190). Mestmäcker übersieht nicht nur, dass der von mir definierte Begriff der Freiheit nichts mit dem von Bentham benutzten zu tun hat, sondern identifiziert außerdem fälschlicherweise Konsequentialismus mit Utilitarismus im Stile Benthams. Wir sind, bewusst oder unbewusst, ob wir das wollen oder nicht, Konsequenzialisten, aber nicht zwingend auch Utilitaristen. Auch wollen wir hoffen, dass der Gesetzgeber Gesetze wegen der von ihnen erhofften Wirkungen in der Lebenswirklichkeit erlässt. Es ist schließlich nicht ersichtlich, wie aus der von mir vertretenen Theorie das Rechts die Forderung abgeleitet werden könnte, das Recht in den Dienst des größten Glücks der größten Zahl zu stellen. Im Gegenteil wird Recht zum Schutze von Wettbewerbsfreiheit und Gewerbefreiheit als ein Mittel zur Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt begriffen, wobei letztere als „wealth" nach Maßgabe der individuellen Zahlungsbereitschaften (näherungsweise der Marktpreise) definiert ist. Mestmäcker behauptet, dass „(d)ie Eigenart der Rechtsordnung, in der es Property Rights gibt, ... ferner auch dann (verkannt werde), wenn man diese Rechte als sich überschneidende Kreise zeichnet, und folgert, der Rechteinhaber dürfe durch sein Handeln einem Anderen einen negativen oder positiven externen Effekt auferlegen (...). Vorausgesetzt wird damit eine Instanz, die Property Rights zuteilt, und folglich dem A nicht geben kann, ohne dem B etwas zu nehmen. Diese Annahme trägt jedoch nicht zum Verständnis eines Systems bei, in dem bei gegebener (Hervorhebung durch mich, D.S.) Verteilung von Property Rights zu unterstellen ist, dass die Rechte gegen Eingriffe gesichert sind und Veränderungen durch freie Handlungen möglich sind: Durch Vertrag, durch zurechenbare unerlaubte Handlungen und durch Wettbewerb" (Mestmäcker 2008, S. 190). Diese Aussage ist in mehrerlei Hinsicht irreführend: Zum einen werden in meinem Modell nicht Rechte als sich überschneidende Kreise gezeichnet oder begriffen, sondern Interessensphären. Zum anderen sollte die kritisierte Annahme auch nichts zu dem von Mestmäcker angesprochenen Verständnis beitragen. Sie diente vielmehr dem Zweck, das Problem der Allokation von Property Rights in einer Situation, in dem die Verteilung noch nicht gegeben, sondern erst zu bestimmen ist, als ein Nullsummenspiel zu charakterisieren.

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Ich hatte wettbewerbspolitische Probleme als Probleme reziproker Natur im Sinne von Ronald Coase betrachtet und im Scheitern der Coasesehen Verhandlungslösung auf Grund hoher Transaktionskosten eine Begründung für staatliches Tätigwerden in Form von Wettbewerbsrecht gesehen. Dies steht nicht im Widerspruch zur Aussage von Mestmäcker, dass „(im) Mittelpunkt der hier zu besprechenden Strukturen (...). Vertragsfreiheit und subjektive Rechte (stehen), ökonomisch gesprochen Tausch und Property Rights" (Mestmäcker 2008, S. 191). Ich folge Mestmäcker auch, wenn er Luhmann zitierend, subjektive Rechte „als die wohl bedeutendste Errungenschaft der neuzeitlichen Rechtsevolution", im „Vertrag (...) eine der bedeutendsten evolutionären Errungenschaften der Gesellschaftsgeschichte" sieht (Mestmäcker 2008, S. 191) und darauf verweist, dass es in beiden Bereichen um die „Personalisierung von Rechtslagen" geht und dass „erst ihr Zusammenwirken (...) Gesellschaftsstukturen (erklärt), die bestimmend sind für das Wirtschaftssystem" (Mestmäcker 2008, S. 191). Und wenn Mestmäcker erneut im Anschluss an Luhmann betont, dass subjektive Rechte „eine rechtstechnisch brauchbare Entfaltung des Freiheitsparadoxes", „also die Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen als Bedingung von Freiheit, eine Einschließung des Ausgeschlossenen, eine Individualisierung von Willkür", ermöglichen, so lässt sich das in schlichtem Deutsch auch so formulieren: Mit der Entscheidung eines Interessenkonflikts durch eine widerspruchsfreie Allokation von Property Rights (Definition von „protected domains") kann die Freiheit des A mit der Freiheit des B (jedes anderen) zusammen bestehen. In diesem Sinne ist das von mir vertretene Konzept kantianisch. Nach Mestmäcker spricht Kant „von der Notwendigkeit, Freiheit in einer positiven Rechtsordnung zu verwirklichen, welche die Grenzen des äußeren Mein und Dein normiert" (Mestmäcker 2008, S. 191). Mestmäcker irrt jedoch, wenn er meint, dass ich eine solche Möglichkeit - er spricht von der Auflösung der Paradoxie der Freiheitsrechte verneine. Alles, was ich sage ist: Die Paradoxie - ob es wirklich eine ist oder lediglich Folge von Wortspielen soll hier nicht näher untersucht werden - kann nicht mit Hilfe des Freiheitsbegriffs selbst aufgelöst werden, wohl aber unter Rückgriff auf das Konzept der Effizienz. Im Übrigen sollte man im wissenschaftlichen Diskurs auf Paradoxien als sich selbst widerlegende Aussagen verzichten, weil diese zu logischen und inhaltlichen Verwirrungen und endlosen geistigen Verrenkungen fuhren. Paradoxien sind wahr, wenn sie falsch sind, und falsch, wenn sie wahr sind. Auf Aussagen dieser Art kann man kein wissenschaftlich akzeptables Konzept von Wettbewerbsfreiheit stützen.

2. Kant und die Freiheit im Nirgendwo Wer aus dem Ziel Schutz der Wettbewerbsfreiheit (oder der Festlegung „des" Wettbewerbs als Schutzobjekt) Kriterien für die Abgrenzung individueller Handlungsrechte ableiten will, der muss entweder auf einen von den individuellen Freiheiten abgesonderten Meta-Freiheitsbegriff zurückgreifen (der Kriterien für die Definition individueller Handlungsrechte in Konfliktsituationen bereitstellt) oder aber eine Leerformel benutzen. Im ersteren Fall werden verschiedene Begriffe von Freiheit verwendet, was einem rationalen Diskurs nicht forderlich ist. Im letzteren Fall wird nur dem Anschein nach etwas Wahres oder Richtiges gesagt. Da eine solche Aussage zu unbestimmt ist, um überprüft werden zu können, geht ihr Informationsgehalt gegen Null. Der vielzitierte Satz „Die

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Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit der anderen beeinträchtigt" entpuppt sich als Leerformel, wenn man als Abgrenzungskriterium Freiheit selbst verwendet. Mit dem von mir Mestmäcker zugeschriebenen Zitat „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie Freiheit der anderen beeinträchtigt" sollte auf Kant angespielt werden, weil Mestmäcker sich mehrfach auf diesen berufen hatte. Nach Mestmäcker handelt es sich aber um „ein folgenreiches Fehlzitat. Unberücksichtigt ...(bleibt) nämlich der Teil der Formel, der ihr erst einen normativen Inhalt gibt. Über die Vereinbarkeit der gleichen Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen ist ,nach einem allgemeinen Gesetz' zu entscheiden" (Mestmäcker 2008, S. 192). Wie lautet das allgemeine Gesetz, das in den drei von mir diskutierten Konfliktsituationen die „Personalisierung von Rechtslagen" erlaubt? Mestmäcker beschäftigt sich mit dieser zentralen Frage nicht konkret, sondern bleibt im Ungefähren: „Das allgemeine Gesetz verweist auf die durch den Gesetzgeber ausgestaltete Rechtsordnung und schließt Einzelfallgesetze ebenso aus wie Befehle oder verbindliche Weisungen nach Plan" (Mestmäcker 2008, S. 192). Und wie sieht es aus? Mestmäcker vertritt in diesem Zusammenhang im Übrigen eine These, die eine Kernaussage meines Artikels voll bestätigt: „Weil Freiheit ohne Regel zur bloßen Beliebigkeit führt, ist sie zu ihrer Verwirklichung auf den Gesetzgeber angewiesen. Aus der Freiheit als solcher lassen sich keine anwendbaren Normen ableiten (Hervorhebung durch mich, D.S.). Sie bedarf zu ihrer Verwirklichung Regeln, die es gestatten über das äußere Mein und Dein zu urteilen" (Mestmäcker 2008, S. 192). Dieses Zitat, insbesondere der von mir hervorgehobene Teil, beschreibt exakt die zentrale Botschaft meines Artikels. Umso verwirrender ist es, wenn Mestmäcker feststellt: „Diese von mir (Mestmäcker, D.S.) wiederholt hervorgehobene schlechthin grundlegende Bedingung wird von Schmidtchen nicht berücksichtigt" (Mestmäcker 2008, S. 192). Mein Argument, dass der, der sich auf Freiheit als Rechtsprinzip zur Lösung von Interessenkonflikten berufe, im Nirgendwo lande, kontert Mestmäcker wie folgt: „Im Nirgendwo landet man auch dann, wenn man von der Möglichkeit ausgeht, dass es Gesellschaften ohne Property Rights (subjektive Rechte) oder Gesellschaften ohne Verträge geben könne. Oder wenn man annimmt, dass sich subjektive Rechte, insbesondere die Wettbewerbsfreiheit gegenseitig neutralisieren, wenn sie im Wettbewerb aufeinandertreffen" (Mestmäcker 2008, S. 192). Gesellschaften ohne oder ohne effektive (geschützte) Property Rights nennt man anarchisch. Mestmäcker verkennt erstens, dass es Gesellschaften gab und gibt, die diese Bezeichnung durchaus verdienen, zweitens, dass internationale Beziehungen zahlreiche anarchische Elemente enthalten (Schmidt-Trenz 1990; Schmidtchen 1995), und er übersieht drittens, dass die Anarchie eine Modellvorstellung ist (Powell und Stringham 2009), die sich als ausgesprochen nützlich bei der Behandlung der Frage nach der Begründung von Recht erwiesen hat. Verwiesen sei auf die Sozialvertragstheorie (Binmore 1993 und 1998). Die Sozialvertragstheorie liefert in vielerlei Hinsicht eine bessere Begründung für das Recht als ihre auf Moralvorstellungen oder vorpositive Maßstäbe richtigen Rechts, die jedem menschlichen Wünschen und Wollen vorgegeben sind (Hoerster 2006, S. 93), rekurrierenden Konkurrenten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass in dem von mir vertretenen Konzept von Recht angenommen wird, dass sich subjektive Rechte gegenseitig neutralisieren, wenn sie im

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Wettbewerb aufeinander treffen. In meinem Modell der sich überlappenden Kreise verbleibt im Falle von Wettbewerb eine nicht-leere Schnittmenge, d.h. die Austragung des Interessenkonflikts wird rechtlich erlaubt. Beide Seiten, der A und der B, haben das Recht sich wechselseitig negative externe Effekte aufzuerlegen. Es wird damit ein System von Property Rights installiert, bei dem alle ein Nutzungsrecht an einer knappen Ressource besitzen. Die knappe Ressource ist das im Markt vorhandene Gewinnpotential. Man nennt das Property Rights-Regime „Common Property". Die mit solchen Ressourcen bekanntlich einhergehende Übernutzung - die Erosion der Gewinne - ist hier im Gegensatz zum Fall natürlicher Ressourcen erwünscht und hat wohltätige Wirkungen für Dritte.

3. Institutionalisierung des Wettbewerbs als einer Institution des Privatrechts Wettbewerbsfreiheit lässt sich als institutionelles und unteilbares Rechtsgut dadurch schützen, dass man allen Teilnehmern am Wettbewerbsspiel individuelle Handlungsrechte, Property Rights, zuteilt. Wettbewerbsrecht tut genau dies: Es spezifiziert Property Rights und ordnet sie personell zu. Mestmäcker ist anderer Ansicht: „Eben dies tut der Gesetzgeber nicht, wenn er Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft setzt" {Mestmäcker 2008, S. 194). Dies ist zu bezweifeln: Beispielsweise definiert er Grenzen der Vertragsfreiheit. Er schränkt etwa in der Fusionskontrolle die Abschlussfreiheit ein, und er beschränkt, was die Preissetzung anlangt, die Abschluss- und die Inhaltsfreiheit. Mestmäcker fuhrt meinen angeblichen Irrtum darauf zurück, dass ich „den grundlegenden Unterschied der Wettbewerbsfreiheit von Property Rights, welche Nutzungsrechte zuweisen", verkenne und die damit verbundene „Gretchenfrage das Wettbewerbsrechts" negiere {Mestmäcker 2008, S. 194): „Zur Gretchenfrage des Wettbewerbsrechts fuhrt die Beurteilung der Wettbewerbsfolgen: Jeder erfolgreiche Wettbewerb, auch der mit rechtmäßigen Mitteln geführte, schädigt Mitbewerber. Das ist unabhängig davon, welche Property Rights davon betroffen sind" {Mestmäcker 2008, S. 194). In der Tat, Property Rights definieren Handlungs-, Schutz- und Abwehrrechte. Aber es stellt keinen Eingriff in die Property Rights eines Wettbewerbers dar, wenn sein Unternehmenswert im mit rechtmäßigen Mitteln geführten Wettbewerb sinkt. Handlungsrechte verleihen in diesem Zusammenhang keine Erfolgsgarantie bezüglich der wirtschaftlichen Folgen. So ist es nun einmal in einem Spiel, das auf der Idee von Common Property beruht. In den von mir betrachteten Konfliktsituationen ging es im Übrigen auch nicht um diese Frage, sondern um die Frage, was rechtmäßige Mittel im Wettbewerb sind. Bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung der Wettbewerbsfreiheit als subjektives Recht kommt Ermessen ins Spiel und bei der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung eröffnen sich für Behörden und Gerichte Beurteilungsspielräume {Mestmäcker 2008, S. 197). In diesem Zusammenhang beschreibt Mestmäcker meine Position korrekt: „(B)ei Konkurrenz oder Konflikten von mehreren Wettbewerbsfreiheiten müsse immer ein dem Kriterium der Wettbewerbsfreiheit exogenes Ziel vorgegeben sein, deshalb seien wir logisch gezwungen, Konsequenzialisten zu sein" {Mestmäcker 2008, S. 197). Aber

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diesem Zwang kann sich auch Mestmäcker nicht entziehen, wenn man sich an seine Aussage erinnert: „Aus der Freiheit allein lassen sich keine anwendbaren Normen ableiten. Sie bedarf zu ihrer Verwirklichung Regeln, die es gestatten, über das äußere Mein und Dein zu urteilen" {Mestmäcker 2008, S. 192). Es ist das allgemeine Gesetz im Sinne von Kant, das nach Mestmäcker der Formel „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit der anderen beeinträchtigt" erst einen normativen Inhalt gibt (Mestmäcker 2008, S. 192). Die Konkretisierung dieses Gedankens durch Mestmäcker scheint aber die von mir vertretene Position zu unterstützen: „Die Wettbewerbsfreiheit hat mit anderen gesetzgeberisch ausgestalteten Rechten gemeinsam, dass sie rechtlich geschützte Interessen konkretisiert. Rechtsauslegung und Rechtsanwendung bestehen in der Ermittlung der gesetzlich bewerteten Interessen. Daraus sind die Maßstäbe für die Entscheidung von Interessenkonflikten unter Berücksichtigung der Schutzzwecke von Verbotsnormen zu entnehmen. Die Interessen der an der Wettbewerbsbeschränkung beteiligten Unternehmen sind im Lichte des Wettbewerbsprozesses, an dem sie teilnehmen, und im Hinblick auf die Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs zu beurteilen" (Mestmäcker 2008, S. 197). Das Gesetz bewertet Interessen also nach Maßgabe des Zwecks des Gesetzes und dies sollten meines Erachtens auch Kartellbehörden und Gerichte tun. Findet man diesen Zweck in der Erhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs, dann muss nach dessen ökonomischen Funktionen im Dienste des Gemeinwohls gefragt werden. Die Förderung allokativer, technischer und dynamischer Effizienz bietet sich an. Schaffung und Schutz der Wettbewerbsfreiheit stellen dann ein Zwischenziel dar. Demgegenüber ist nach Mestmäcker nicht ausgeschlossen, „dass es Gründe für die Orientierung des Wettbewerbsrechts an der Wettbewerbsfreiheit gibt, die unempfindlich sind für exogene Ziele und nicht zu Zirkelschlüssen fuhren" (Mestmäcker 2008, S. 198). Wie sollte dies möglich sein? Schweres Geschütz fahrt Mestmäcker auf, wenn er schreibt, dass das „Effizienzprinzip als Teil der Gesamt- oder Konsumentenwohlfahrt (...) methodisch zu einer Neuauflage des Als-Ob-Wettbewerbs führt" (Mestmäcker 2008, S. 198), dass das von mir vertretene Konzept „perfekten dynamischen Wettbewerbs" mit seiner Fokussierung auf den maximal möglichen sozialen Überschuss sowohl mit der Vorstellung eines Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren als auch „mit einer Gesamtordnung unvereinbar (sei), die aus Wettbewerb hervorgeht und hervorgehen soll" (Mestmäcker 2008, S. 199 f.). Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Lösung eines der von mir behandelten drei Konflikte das Wissen um die Ergebnisse eines Als-Ob-Wettbewerbs erfordert. Es geht schlicht um die Lösung eines Problems reziproker Natur im Sinne von Coase. Im Übrigen halten viele Überlegungen zum Als-Ob-Wettbewerb, die auf abstrakter Ebene, in fast philosophischer und typisch deutscher Art vor vier Jahrzehnten angestellt wurden, einer kritischen Analyse im Lichte der Erkenntnisse der modernen Ökonomie nicht stand. Ohne hypothetische Aussagen über die Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen kann Wettbewerbsrecht weder in Kraft gesetzt noch ausgelegt und angewendet werden. Was das Argument angeht, dass Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren sei, das nur veranstaltet wird, „weil das Ergebnis unbekannt ist, das mit seiner Hilfe erreicht werden soll" (Mestmäcker 2008, S. 199), so ist ebenfalls nicht ersichtlich, inwiefern davon das

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von mir aufgeworfene Problem reziproker Natur berührt wird. Abgesehen davon, dass in Mestmäcker^ Argument offensichtlich Wettbewerb in den Dienst einer exogenen Zielsetzung gestellt wird, ist die Aussage, dass Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren sei, solange trivial oder tautologisch, als nicht gezeigt wird, dass und unter welchen Bedingungen er wünschenswerte Ergebnisse entdeckt. Damit sind wir beim dritten Einwand angelangt, dass wohlfahrtstheoretische Ansätze mit einer auf Wettbewerb beruhenden Gesamtordnung unvereinbar seien. Das mag aus einer bestimmten sozialphilosophischen und ordnungstheoretischen Perspektive so erscheinen, ist aber keineswegs zwingend so und entspricht nicht dem Stand moderner ökonomischer Forschung. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, inwieweit vom dritten Einwand das Problem reziproker Natur betroffen ist.

IV. Erlaubte Freiheit? Ich definiere den Begriff Freiheit als Erlaubnis, deren Umfang („protected domain") durch Property Rights festgelegt wird. Mestmäcker hält den von mir definierten Freiheitsbegriff in mehrfacher Hinsicht für verfehlt. So lasse sich „(d)er Wettbewerbsprozess, in dem über Erfolg und Misserfolg im Wettbewerb entschieden wird, (...) nicht auf ,Protected Domains' zurückfuhren" (Mestmäcker 2008, S. 200). Auch würden die Funktionen des Wettbewerbs verfehlt, „wenn man die Freiheit (Erlaubnis) als knappes Gut behandelt, über dessen Nutzung durch Allokation von Rechten entschieden würde", denn das „im Verhältnis zur Rechtsgüterverteilung übergreifende Prinzip ist die Gemeinfreiheit, die in der Wettbewerbsfreiheit stets mitgedacht ist" (Mestmäcker 2008, S. 200). Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, zwischen den Mitteln zu unterscheiden, die im Wettbewerb eingesetzt werden dürfen und an deren Einsatz Wettbewerber nicht gehindert werde dürfen, und den Ergebnissen des Wettbewerbs. Diese Mittel gehören zur „protected domain" eines jeden Wettbewerbers, die allerdings nicht so weit reicht, dass ein Wettbewerber ein ausschließliches Nutzungsrecht eines Mittels besitzt. Was die Wahl der Mittel anlangt, herrscht Gemeinfreiheit (Common Property). Dies impliziert, dass auch Gemeinfreiheit bezüglich der Ausschöpfung (Aneignung) des im Markt vorhandenen Gewinnpotentials existiert. Mit diesen Fragen habe ich mich aber nicht befasst, sondern anhand von drei Beispielen die Frage der Bestimmung des zulässigen Mitteleinsatzes diskutiert. Dass hier Freiheit als knappes Gut begriffen werden kann, lässt sich sehr schön an dem von Mestmäcker zur Widerlegung meiner These angeführten Beispiel patentrechtlich geschützten Wissens und dem „frei zugänglichen und nutzbaren Wissen" verdeutlichen: Soll es dem Patentinhaber erlaubt sein, einem Imitator von der Nutzung des Wissens auszuschließen oder soll es einem Imitator erlaubt sein, Wissen „frei" zu nutzen? Durch Allokation von Rechten wird dieser Konflikt entschieden. Ähnlich stehen die Dinge bei dem von Mestmäcker angeführten Beispiel von Kampfpreisen eines Marktbeherrschers. Aus dem von mir definierten Begriff der Freiheit folgt - entgegen Mestmäcker auch nicht, dass jemand, der „nur aufgrund einer Erlaubnis frei ist, (...) zum Träger utilitaristischer Funktionen" wird (Mestmäcker 2008, S. 201): Erlaubt ist, was weder geboten noch verboten ist; an eine ausdrückliche Erlaubnis etwa im Sinne einer Geneh-

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migung eines Antrags ist dabei nicht gedacht. Und wenn Mestmäcker in diesem Zusammenhang betont, dass das von mir mehrfach „herangezogene Verbot von Preiskartellen (...) keine Property Rights zwischen Anbietern und Nachfragern (verteile)", sondern „vielmehr die Wettbewerbsfreiheit (herstelle) und (...) es den Unternehmen und den Märkten (überlasse), wie sich diese Entscheidung auf die Güterverteilung auswirkt" (Mestmäcker 2008, S. 201), so wirft dies die Frage auf, warum die Wettbewerbsfreiheit hergestellt werden soll. Der Schutz der Unternehmen vor sich selbst, ist es sicher nicht. Es geht vielmehr um die Verhinderung einer Ausbeutung der Nachfrager durch Anbieter mit Marktmacht. Wir haben es deshalb mit einem Problem reziproker Natur zu tun, das in der von mir gewählten Weise modelliert werden kann. Damit soll nicht bestritten werden, dass es auch andere theoretische Zugriffe auf die Problematik geben mag. Mestmäcker sieht in der von mir vertretenen „Doktrin der effizienten Zuweisung von Property Rights (...) keine Theorie des Wettbewerbs, sondern eine Theorie der Regulierung", was durch meine These bestätigt würde, „dass die Missbrauchskontrolle und nicht die staatliche Genehmigung unternehmerischen Verhaltens das Herzstück einer Ordnung zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft darstelle" (Mestmäcker 2008, S. 201). Mestmäckers Urteil fallt hart aus: Einen einmaligen Eingriff (Genehmigung) durch eine laufende Verhaltenskontrolle in Form einer Missbrauchsaufsicht zu ersetzen, „empfiehlt sich als Kennzeichen eines Überwachungsstaates" (Mestmäcker 2008, S. 201). Ob Antragstellung und Warten auf eine staatliche Genehmigung eher mit den Grundsätzen einer Privatrechtsgesellschaft zu vereinbaren sind als eine Ex-PostKontrolle von Rechtsverstößen, will ich hier nicht diskutieren, sondern nur darauf hinweisen, dass wir uns nach Mestmäckers Diktum bereits in einem Überwachungsstaat größten Ausmaßes befinden, wenn man nur an § 19 GWB, Art 82 EGV und - bei einem weit gefassten Missbrauchsbegriff - an jene Bereiche unserer Rechtsordnung denkt, in denen über die Androhung von Sanktionen menschliches Handeln beeinflusst werden soll.

V. Schluss: Effizienz als Rechtsprinzip Bei der Formulierung, Auslegung und Anwendung des Wettbewerbsrechts haben wir es mit einem Problem reziproker Natur zu tun. Als Leitlinie für Effizienz als Rechtsprinzip zur Lösung des Problems gilt folgende Einsicht von Coase: Bei Transaktionskosten von Null bewirkt jede eindeutige Spezifikation und eindeutige personelle Zuordnung von Property Rights eine maximale Wertschöpfung (Effizienz). Sind die Transaktionskosten prohibitiv hoch, dann sollten die Property Rights so spezifiziert und personell zugeordnet werden, dass die maximale Wertschöpfung resultiert. Entgegen der Ansicht von Mestmäcker (2008, S. 202) weise ich dem Modell ohne Transaktionskosten keine Schlüsselrolle zu, sondern weise lediglich darauf hin, dass unter Effizienzgesichtspunkten kein Wettbewerbsrecht erforderlich ist, wenn diese gewiss unrealistische Annahme erfüllt wäre. Auch verstehe ich unter Effizienz nicht unternehmerische Effizienz, sondern allokative, dynamische und technische Effizienz. Mein Rückgriff auf Coase verfolgte den Zweck, die ökonomische Argumentation an die „rechtswissenschaftliche Tradition" anzunähern. Diese von Mestmäcker mir auch zugestandene Annäherung führt aber seiner Ansicht nach zugleich zu neuen Abgren-

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zungen (Mestmäcker 2008, S. 203). Mestmäcker zitiert Coase, dass bei der Lösung ökonomischer Probleme nicht nur Produktionswerte verglichen werden sollten, sondern „alle Sphären des Lebens zu berücksichtigen (seien). Dazu gehörten (...) die Öffnung der Wohlfahrtsökonomie für Kategorien der Ästethik und des Rechts" (Mestmäcker 2008, S. 203), und er fugt hinzu, dass „die Unterschiede des Wissens und der Informationen, die den verschiedenen, zur Entscheidung berufenen Institutionen zur Verfugung stehen" ebenfalls berücksichtigt werden müssen (Mestmäcker 2008, S. 203). Mestmäcker hat Recht. Die Grundlage zur Berücksichtigung dieser Faktoren liefert die ökonomische Theorie des „Second Best". Der „More-Economic-Approach" in der Wettbewerbspolitik verlangt bei den Interessenabwägungen nach einer Form von Nutzen-Kosten-Analysen. Kritiker weisen darauf hin, dass diese wesentlich komplexer seien, als dies die Modelle der Befürworter dieses Ansatzes vermuten lassen, weshalb sie weder ein Richter noch ein Kartellamt noch ein Gesetzgeber durchfuhren könne. In der Tat, die Zusammenhänge sind komplex, aber die Praxis hat gezeigt, dass Nutzen-Kosten-Analysen in mindestens so komplexen Situationen wie jenen, die durch Wettbewerbsrecht zu regeln sind, durchgeführt werden können. Man denke nur an die Weltklima-Diskussion. Die Behauptung, dass Richter, Kartellämter oder Gesetzgeber solche Analysen nicht durchführen könnten, unterstellt ihnen mangelnden ökonomischen Sachverstand. Wenn das so sein sollte, dann ließe sich dem leicht abhelfen. Im übrigen gehören Interessenabwägungen zum täglichen Geschäft von Gesetzgebern und Rechtsanwendern. Wenn der Gesetzgeber, eine Kartellbehörde oder ein Richter mit einem Interessenkonflikt konfrontiert ist, dann müssen die Interessen unter Benutzung eines einheitlichen Maßstabes vergleichend gewichtet werden. Soll dies logisch korrekt und intersubjektiv nachprüfbar geschehen, benötigt man ein Maß, das eine Dimension besitzt. Ein solches Maß stellt z.B. das Geld dar. Zu fragen wäre also bei der Interessenabwägung in den von mir betrachteten Problemen reziproker Natur, wie die maximale Zahlungsbereitschafit für das Handlungsrecht auf Seiten des A aussieht und wie viel der B maximal dafür zu zahlen bereit wäre, dass der externe Effekt nicht erzeugt wird. Diese Größen liefern Anhaltspunkte für die relativen Schäden der unmittelbar Betroffenen. Weitere externe Effekte können in Form einer Gewichtung der Interessen berücksichtigt werden. Die Kritik an der Praktikabilität des „More-Economic-Approach" ist auch ohnehin nur überzeugend, wenn nachgewiesen wird, dass die traditionelle, formbasierte Wettbewerbspolitik mit der Komplexität der Entscheidungssituation besser fertig wird als der „More-Economic-Approach". Mestmäcker zitiert zustimmend aus einer vergleichenden Analyse rechtlicher Institutionen: „Aus dem Zweck der allokativen Effizienz (...) folge im Ergebnis nichts für das Verständnis des Rechts und subjektiver Rechte" (Mestmäcker 2008, S. 200). Diese apodiktische Aussage wird ganz sicher nicht von allen geteilt, die sich mit der ökonomischen Analyse des Rechts befassen (Schäfer 1998; Ott und Schäfer 1989). Zuzugeben ist aber, dass die ökonomische Analyse des Rechts - wie übrigens auch die juristische nur „One View of the Cathedral" darstellt.

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Dieter Schmidtchen

Summary: On the Dualism of Law and Economics in the Interpretation and Application of Competition Rules This article defends the position that the basic problem to be solved by competition law is of a "reciprocal nature" (Coase). Giving more freedom to one party (extending the scope of its property rights) necessarily means less freedom to another party. Thus, the design of property rights is a zero-sum game that cannot be solved by using freedom as a guideline but by reference to economic efficiency. The article takes issue with a criticism of this position put forward by Mestmacker in this journal 2008.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Gerhard Schwarz

Über die Not-Wendigkeit von Nothilfe. Eine Handvoll ordnungspolitischer Betrachtungen angesichts der neuen Staatsgläubigkeit Inhalt I. II. III. 1. 2. 3. 4. IV. V. 1. 2. VI. 1. 2. 3. 4. VII. VIII.

Das Triumphgeschrei der Staatsgläubigen Realismus statt Dogmatismus Die Mitverantwortung der Liberalen Verdrängte Zyklizität Modell- und Mathematikgläubigkeit Der Markt als Vergrößerungsglas Ungenügende Haftung Mehr Staats- als Marktversagen Die Not-Wendigkeit einer Nothilfe Sicherung der Systemstabilität Konjunkturelle Stützung mittels Geld- und Fiskalpolitik Warnung vor Langfristfolgen Ausufern des Staates Inflation Überregulierung Aktivismus Krise als Chance Zwischen allen Stühlen

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Emergency measures help to save the free-market system

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* Dies ist die für die Veröffentlichung in ORDO leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor unter dem Titel „Liberalismus trotz allem. Eine Handvoll Bemerkungen zum Umgang mit der Gegenreformation der Staatsanbeter" am 12. Februar 2009 als 3. Wilhelm-Röpke-VoAesaag in Erfurt gehalten hat.

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I. Das Triumphgeschrei der Staatsgläubigen Die Geschichte des Liberalismus ist voll von Grabenkämpfen zwischen verschiedenen Fraktionen und Strömungen. Manchmal wurden sie auch hochgespielt. Sie mögen zum Teil der intellektuellen Weiterentwicklung genützt haben, der Verwirklichung der liberalen Idee dürften sie hingegen kaum nützen. Ein solcher Gegensatz, der gerne zelebriert wird, ist der zwischen den zwei liberalen Giganten Wilhelm Röpke und Friedrich August von Hayek. Das ist insofern verständlich, als sich die beiden Freunde im Rahmen der Mont Pèlerin Society (MPS), die sie gemeinsam gegründet hatten - ohne Röpke wäre die MPS nicht zustande gekommen, jedenfalls nicht mit der starken europäischen Verankerung - , zerstritten hatten. Aber das Zerwürfnis war nicht so sehr ein inhaltliches, sondern eher ein persönliches, geschuldet unter anderem dem langjährigen Sekretär der MPS, Albert Hunold, und seinem Einfluss auf Röpke (Schwarz 2006a; Hartwell 1995, S. 100 ff.). Natürlich waren sich die beiden auch in der Sache nicht immer einig, wie könnte das bei zwei starken Persönlichkeiten anders sein, aber es gab so viel mehr Verbindendes zwischen den beiden Kämpfern fur die Freiheit, dass der Unterschied, der Gegensatz, verblasst, verblassen sollte.1 Das Gemeinsame und Verbindende ist schon seit längerem auch im Verhältnis zwischen den Libertären und den vielen anderen Strömungen des Liberalismus, etwa den Ordoliberalen oder den klassischen Liberalen, vernachlässigt, ja fast beschädigt worden. So gibt es viele freiheitliche Organisationen, die die Libertären auszugrenzen versuchen, und umgekehrt ist bei den Libertären eine dogmatische Intoleranz weit verbreitet, alle, die nicht so denken wie sie, als unliberal, mindestens als weniger liberal als sie selbst, zu diskreditieren. Das schadet angesichts der Tatsache, dass die Liberalen aller Schattierungen zusammengenommen doch nur eine Minderheit in der Gesellschaft und in der Politik darstellen, der liberalen Sache. Deshalb würde man eigentlich erwarten, dass die Liberalen zusammenstehen, nicht nur in normalen Zeiten, sondern erst recht in besonders schwierigen Zeiten. Stattdessen ist es eher umgekehrt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Gegensätze noch verschärft, und die unterschiedlichen Auffassungen über das Ausmaß der angesichts der Krise zulässigen und vernünftigen Staatsinterventionen lassen den Graben zwischen den Libertären bzw. den „Austrians" und den übrigen Liberalen besonders weit und tief werden. Tatsache ist, dass die seit 2007, als in den USA die Subprime-Probleme allgemein bekannt wurde, zunehmend sich ausbreitende Wirtschaftskrise für die Liberalen eine große Verunsicherung bedeutet hat und bedeutet. Die Verunsicherung stammt erstens daher, dass die Welt die größte Wirtschaftskrise seit der großen Depression durchmacht, eine Krise, die zudem weniger monokausal und zugleich viel globaler ist als jene der dreißiger Jahre.2 Damit im Zusammenhang steht, zweitens, die Verunsicherung, dass die Ungewöhnlichkeit der Situation die Frage aufwirft, ob nicht auch ungewöhnliche, auf den ersten Blick nicht unbedingt liberale Therapien verlangt und gerechtfertigt sind. Schließlich trägt, drittens, zur Verunsicherung mindestens der um Lösungen ringenden 1

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Für viele ältere Mitglieder der MPS blieb Röpke allerdings nach seinem Austritt eine umstrittene Persönlichkeit. So wurde meine Rede am MPS-Meeting 1999 in Potsdam aus Anlass seines 100. Geburtstags von den einen beklatscht, von anderen aber keineswegs goutiert. Vgl. Schwarz (1999). Bei aller Sympathie für Querdenker halte ich Stefan Homburgs These, es sei keine Krise zu erkennen, für ein etwas gar zu gesuchtes Bemühen, aufzufallen. Vgl. Homburg (2009).

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und sich nicht in der Heilsgewissheit befindenden Liberalen bei, dass sie sich - quer durch alle Parteien - mit dem höhnischen Triumphgeschrei jener konfrontiert sehen, die dem freien Markt und der offenen Gesellschaft schon immer skeptisch bis feindlich gegenübergestanden sind. Der Übermut der vorbehaltlos Staatsgläubigen scheint fast grenzenlos. Was ist doch alles zu hören und zu lesen, vom Desaster der marktwirtschaftlichen Ökonomie bis zum Ende des Liberalismus, vom totalen Versagen des Marktes bis zur Jahrhundertkrise des Systems, von der Entlarvung der Fratze des Kapitalismus bis zum nun endlich fälligen Regimewechsel. Kein Geringerer als Nobelpreisträger Joseph Stiglitz meinte sogar, 2008 bedeute mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers für den Kapitalismus das, was 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer für den Sozialismus bedeutet habe (de Jasay 2008).

II. Realismus statt Dogmatismus Die Schlüsselfrage ist, wie die Liberalen auf diese Vorhaltungen und auf die Euphorie der Staatsgläubigen reagieren können und müssen. Diese erinnern einem in manchem ein wenig an die Gegenreformation, wobei hier nicht dem Missverständnis Vorschub geleistet werden soll, Reformation und Liberalismus seien eine fast zwingende Parallele - und umgekehrt Gegenreformation und Interventionismus. Dafür sind Lord Acton und Alexis de Tocqueville Gegenbeweis genug (Schwarz 2006b). Aber natürlich liegen in der starken hierarchischen Struktur und in der scharfen Abgrenzung gegenüber Andersgläubigen der katholischen Kirche Elemente, die weit weg scheinen von liberalen Ordnungsvorstellungen. Deshalb ist das Bild vermutlich, bei aller Überzeichnung, doch nicht ganz falsch. Dieses Bild mahnt außerdem, in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise einen zwar prinzipientreuen, aber zugleich doch undogmatischen Realismus zu pflegen. Die Reformation war ja ursprünglich als Reformbewegung innerhalb der Kirche gestartet, die das System Kirche funktionstüchtiger machen wollte. Erst die sich gegenseitig aufschaukelnde Verhärtung auf beiden Seiten führte dann zum Schisma. In der gegenwärtigen, sich in Zukunft wohl noch verschärfenden weltanschaulichen Debatte geht es nicht um ein Schisma - Liberale und Staatsgläubige sind bereits klar voneinander getrennt. Es geht aber darum, in dem von manchen Ökonomen gelegentlich vergessenen politischen Prozess - Liberale und Staatsgläubige sind nämlich Teil eines gemeinsamen, demokratischen Staatswesens - nicht eine Radikalisierung zu fordern, die die freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geradezu hinwegfegen könnte, wie das einst in deutschen Fürstentümern dem Protestantismus (oder andernorts dem Katholizismus) widerfahren ist. Deshalb braucht es von Seiten der Liberalen zwar das Bekenntnis zur eigenen Sicht der Dinge, zur eigenen Weltanschauung, aber dieses sollte gepaart sein mit der Einsicht, dass, erstens, alles Wissen nur vorläufiges Wissen und dass, zweitens, alles menschliche Handeln fehlerhaft ist. Schließlich gehört der Zweifel zu den Grundpfeilern eines Liberalismus, der nicht zur Kirche und nicht zur Sekte verkommen will. Zudem braucht es die Ehrlichkeit, dass die meisten Liberalen, darunter auch viele „Austrians", die Dinge eben doch nicht so klar kommen gesehen haben, wie es nun ex post erscheint oder dar-

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gestellt wird. Das heißt nicht, dass die Liberalen nun in Sack und Asche gehen sollten, denn natürlich ist es geradezu absurd, der Marktwirtschaft und ihren Anhängern die Schuld an den Entwicklungen der letzten Jahre in die Schuhe zu schieben. Schon gar nicht gilt dieser Vorwurf den Ordoliberalen, deren Sicht gerade im Vergleich mit der vieler amerikanischer Ökonomen bemerkenswert krisentauglich erscheint. Alles in allem braucht es eine Balance zwischen Selbstkritik und Selbstbewusstsein sowie ein Abwägen zwischen dem, was theoretisch ideal und dem, was realistischerweise möglich erscheint.

III. Die Mitverantwortung der Liberalen Von den vielen Entwicklungen, die schiefgelaufen sind, seien hier bunt gemischt einige wenige herausgegriffen, hauptsächlich solche eher mentaler, aber auch einige institutioneller Natur. Gemeinsam ist ihnen, dass sie weder keine noch die alleinige Verantwortung der Liberalen zeigen, hingegen sehr wohl eine Mitverantwortung.

1. Verdrängte Zyklizität Da ist zunächst das Verdrängen des Bewusstseins der Zyklizität allen Wirtschaftens, ja der Gesellschaften an sich (Eichengreen und Bordo 2009). Auch unter Liberalen herrschten in der Vergangenheit etwas gar viel Fortschrittsgläubigkeit, Überoptimismus und aszendente Weltsicht. Nicht, dass die Liberalen nicht im Prinzip um diese Zyklizität gewusst hätten und die Blasen früherer Zeiten, die Goldbonanza Spaniens, die Tulpenblase der Niederlande, das Ponzi-System des John Law oder die Mississippi-Bubble der USA nicht zu ihrem Hintergrundwissen gezählt hätten. Aber trotzdem haben sie zu wenig mit Insistenz und tiefster Überzeugung vor den Gefahren der Blasen der letzten Jahrzehnte und dem dramatischen Einbruch, der ihnen folgen könnte, gewarnt, nicht anders als all die anderen, die jetzt alle behaupten, es schon immer gewusst zu haben. Es gab zwar einige - nicht unbedingt liberale - Doom-Seher, die mit ihren Voraussagen genauso recht hatten, wie eine kaputte Uhr zweimal am Tag die richtige Zeit angibt. Es gab Exzentriker wie den hochgejubelten Nassim Taleb mit seinem „schwarzen Schwan" (Taleb 2008), der eigentlich auf Frank Knights Unterscheidung zwischen Unsicherheit und Risiko aufbaut (Knight 2005), es gab Außenseiter wie Nouriel Roubini (Roubini 2009 und Shiller 2008), aber im großen Ganzen wurden alle Ökonomen, liberale nicht minder als andere, an den Universitäten tätige genauso wie in den Volkswirtschafts-Abteilungen der Unternehmen beschäftigte, von den Entwicklungen überrascht. Es ist wie mit den Scheidungen: alle wissen, dass jede zweite Ehe geschieden wird, aber alle glauben an der eigenen Hochzeit, dass es sie nicht treffen wird. Ähnlich glaubten die meisten, es würde im Prinzip schon einmal eine Korrektur geben, aber nicht so schnell, so tiefgreifend und so weltumspannend, wie es nun geschehen ist. Röpke hat sich zu Krisen und Zyklen geradezu seherisch geäußert. Er nennt die Neigung zu Krisen jenes Passivum des Kapitalismus, das diesen vielleicht am meisten diskreditiert habe {Röpke 1979, S. 195 f.): „Es ist zuzugeben, dass das Gleichgewicht der kapitalintensiven Marktwirtschaft aus Gründen, über die sich die Krisentheoretiker heute einigermaßen einig geworden sein dürften, labil ist. Kleinere und

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teilweise Störungen werden durch den Steuerungsmechanismus des Marktes im allgemeinen leicht und kaum merklich überwunden. ... Aber von Zeit zu Zeit stellen sich jene schweren und totalen Gleichgewichtsstörungen ein, die uns als Krisen bekannt sind. Alles deutet darauf hin, dass ihre Hauptursachen, soweit sie wirklich im Mechanismus der Marktwirtschaft zu suchen, also .endogener' Art sind, in Unvollkommenheiten des Geld- und Kreditsystems und der Kapitalverteilung liegen"

2. Modell- und Mathematikgläubigkeit Ferner waren viele liberale Ökonomen auch nicht frei von zu viel Modell- und Mathematikgläubigkeit, was meist mit zu wenig Geschichtsbewusstsein einherging. Modelle bedeuten immer Komplexitätsreduktion. Sie braucht es, um die Komplexität - nicht Kompliziertheit - wirtschaftlicher Zusammenhänge erfassen zu können und kommunizierbar zu machen. Aber wenn man sich nicht gleichzeitig bewusst ist, dass diese Vereinfachung auch den Keim des Irrtums in sich tragen kann, wird man unvorsichtig und vertraut zu sehr auf Modelle und Berechnungen, die auf brüchigem Fundament basieren. Auch die Haltung, die etwa B. Mandelbrot vertritt, wonach es um bessere Modelle gehe, um bessere Grundannahmen, bleibt letztlich der Modellgläubigkeit verhaftet {Mandelbrot und Hudson 2008, S. XV ff.). Auch im Grundsatz marktwirtschaftlich und liberal denkende Ökonomen in all den Instituten und in den staatlichen Verwaltungen waren vor dieser Blindheit gegenüber der Scheingenauigkeit und der nur partiellen Erklärungskraft der Modelle nicht gefeit. Vielleicht sollte man sich, horribile dictu, wieder mehr der historischen Schule erinnern, die zwar keine verallgemeinerbaren Theorien lieferte und in vielem völlig falsch lag, die aber wenigstens das unglaublich vielfältige, nie in seiner Totalität erfassbare Beziehungsgeflecht einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bewusst machte. 3 Zugleich würde etwas mehr Beschäftigung mit der Psychologie nicht schaden. Um ein Beispiel herauszugreifen: Die Lehre Walter Adolf Jährs vom sozialpsychologischen Kernprozess beschreibt hervorragend das Wechselspiel von Ansteckung und Nachahmung, das man jetzt beobachten kann (Jähr 1952).4

3. Der Markt als Vergrößerungsglas Die aufkeimende Fundamentalkritik am Markt - der weder ein Gott, noch eine Institution, sondern bloß eine Art, allerdings die beste Art der Koordination der Interessen und Handlungen von unzähligen Menschen ist - übersieht, dass die Ergebnisse auf dem Markt die Folge menschlichen Handelns sind. Das wussten Liberale schon immer. Aber sie haben in der großen Mehrheit zu wenig bedacht, wie sehr der Markt menschliches Handeln potenzieren kann. Gemäß Niall Ferguson (2008) ist Geld eine Art Vergrößerungsglas, das alle menschlichen Eigenschaften potenziert, die guten wie die schlechten. Das kann man auch auf den Markt übertragen. Indem auf dem Markt das Streben und Handeln von vielen Menschen zusammengeführt wird, ergibt dies naturgemäß eine Vervielfachung - der Fähigkeiten, aber auch der Schwächen, der richtigen Entscheide, aber auch der Irrtümer. 3 4

Vgl. zur historischen Schule etwa (Burckhardt und Priddat 2000, S. 663 ff.). Die wesentlichen Überlegungen zum sozialpsychologischen Kernprozess finden sich ferner in (Jähr, 1990, S. 229 ff.).

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Viele Liberale haben, erstens, diese Potenzierung von menschlichen Schwächen wie Gier und Kurzsichtigkeit unterschätzt. Sie haben, zweitens, die von Hyman Minsky idealtypisch dargelegte Rationalität des Herdentriebs5 unterschätzt, der es für den Einzelnen vernünftig macht, sich mit anderen in die gleiche Richtung zu bewegen - selbst wenn er nicht an die Nachhaltigkeit der Entwicklung glaubt. Weil er das Platzen der Blase nicht voraussehen kann, schwimmt er lieber mit und hofft, sich rechtzeitig retten zu können. Schließlich haben viele Liberale, drittens, wie das Roland Vaubel formuliert, das „Irrtumspotenzial" der Menschen, in concreto der Banker, unterschätzt (Vaubel 2008). Trotz dieser menschlichen Schwächen charakterlicher und intellektueller Art ergeben sich daraus per se keinerlei Folgerungen in Richtung mehr Regulierung und mehr Aufsicht, denn nicht nur im Markt agieren Menschen, sondern auch der Staat wird von Menschen gebildet. Deshalb gilt alles, was wir an Menschen auf Märkten beobachten können, auch in der Verwaltung und im Staat. Dort potenziert die Macht des Gewaltmonopols die menschlichen Schwächen, dort äußert sich der Herdentrieb in Political Correctness und Mainstream-Denken, und dort ist das Irrtumspotenzial möglicherweise noch grösser, weil die Sanktionen beim Irrtum schwächer und die Anreize, sich nicht zu irren, kleiner sind. Außerdem erfolgt die Selektion der Leute nicht nach sachlicher Kompetenz, sondern oft nach politischen Kriterien.

4. Ungenügende Haftung Das führt direkt über zu einer besonders wichtigen Ursache, der ungenügenden Haftung. Das Prinzip der Haftung zählt gemäß Walter Eucken zu den konstituierenden Prinzipien einer Wettbewerbsordnung {Eucken 1972, S. 172 ff.). Die Missachtung des Prinzips in der Finanzwirtschaft hat die Krise enorm begünstigt. Zwar sind, wie Roland Vaubel schreibt, Haftungsbeschränkungen mittels Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung nichts Neues; sie haben den Aufstieg der modernen Industriestaaten ermöglicht oder zumindest begleitet (Vaubel 2008, S. 21). Aber gleichwohl sind diese Haftungsbeschränkungen nicht ohne Probleme. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass Liberale wie Röpke den Aktiengesellschaften mit Skepsis gegenüberstanden, unter anderem auch, weil sie zum „Kolossalkapitalismus" beitrugen (Starbatty 2006, S. 9 f.). Für viele große Banken in praktisch allen reichen Ländern wurde die Haftung auf ganz andere Weise ausgehebelt, nämlich in Form einer impliziten Staatsgarantie. Die Manager, die Aktionäre, die Obligationäre einer Deutschen Bank oder einer UBS, sie alle wussten, dass ihre Bank de facto nicht in Konkurs gehen würde, dass sie „too big to fail" ist. Das führte zu Verzerrungen des Verhaltens, der Preise und der Risikoprämien. Bei explizitem Staatsschutz wird diese Garantie in der Regel ökonomisch abgegolten. Implizite Staatsgarantien schaffen dagegen eine Rente für die jeweiligen Banken. Hier gilt es anzusetzen, wenn man über Krisenbewältigung und Reformen nachdenkt. Dabei gibt es bei „too big to fail" eigentlich nur zwei Auswege. Der eine ist die Umwandlung der impliziten in eine explizite Garantie, was in extremis eine Verstaatlichung bedeuten

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Vgl. etwa Minsky (2008) oder Schwarz (2008a).

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kann, der andere ist, zu verhindern, dass Unternehmen, Banken, überhaupt „too big to fail" werden. Dieser zweite Weg ist aus liberaler Sicht eindeutig der weniger schlechte.

IV. Mehr Staats- als Marktversagen Während die erwähnten vier Faktoren eine Mitverantwortung der Liberalen zeigen, belegen sie dennoch in keiner Weise die unsinnige These, die Krise sei eine eindeutige Folge von Marktversagen. Auf freien Märkten kommt es nicht automatisch zu paradiesischen Zuständen, denn auf Märkten finden Such- und Entdeckungsprozesse statt, kommt es somit sowohl zu Erfolg als auch zu Irrtum. Und selbstverständlich gibt es so etwas wie Marktversagen, aber es gibt eben auch Staatsversagen. Und in dieser Krise liegen viele Ursachen beim Staat im weitesten Sinne. Da steht weit vorne die sehr großzügige, sehr large Geldpolitik6 vor allem der amerikanischen Notenbank, aber auch der Europäischen Zentralbank, zumindest gemessen an den boomenden wirtschaftlichen Situationen etwa Spaniens oder auch Irlands.7 Dazu kommt die - fast ist man versucht zu sagen: schwäbische - Eigenheimphilosophie in den USA: jeder amerikanischen Familie ihr eigenes Haus, ob sie es sich leisten kann oder nicht. Fannie Mae und Freddie Mac lassen grüßen. Auch bleibt die These von der weitgehenden Deregulierung der Finanzmärkte eine Mär (Möschel 2008). Richtig ist, dass in diesem Bereich sehr viel reguliert wurde, oft das Falsche und oft falsch; richtig ist auch, dass - ökonomisch formuliert - sehr viel Regulierungsarbitrage betrieben wurde. Einfacher ausgedrückt kann man sagen, dass jede Regulierung dazu führt, dass sie umgangen wird. So sind die vielen außerbilanziellen Positionen der Banken auch als Reaktion auf die Regeln über die risikogewichtete Eigenmittelausstattung aufgebaut worden - zum Teil mit Wissen oder doch „Benign Neglect" der Aufsichtsbehörden.

V. Die Not-Wendigkeit einer Nothilfe Zu den großen und schwierigen Fragen in der Wirtschaftskrise gehört für alle liberalen Ökonomen jene, ob staatliches Handeln zur Bekämpfung der Krise vertretbar oder sogar nötig war. Die Tatsache, dass für den Ausbruch der Krise sowohl Staatsversagen als auch Marktversagen eine Rolle gespielt haben und dass die Liberalen nicht für sich beanspruchen können, alles richtig vorhergesehen zu haben, mahnt zu Bescheidenheit und Pragmatismus. Es lassen sich im Wesentlichen zwei Rechtfertigungen für Staatsinterventionen in der Krise anfuhren. Die eine ist, zu verhindern, dass der Zusammenbruch einer Bank oder einer Branche die ganze Wirtschaft in den Abgrund zieht - also die Systemstabilität. Die andere lautet, die Spirale des Misstrauens zu brechen, die ebenfalls in den Abgrund führen kann. Beide Argumente sind hochgradig missbrauchsanfallig und werden von den Staatsanbetern schamlos ausgenützt. Aber die Angst vor 6 7

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie mit ihrer These, dass Krisen im Kapitalismus immer die Folge von zu billigem Geld seien, kommt jetzt wieder zu Ehren. Noch grundlegender bleibt es ein Problem, dass alle Notenbanker unter der Federführung von Alan Greenspan behaupteten, steigende Vermögenspreise (Asset Price Inflation) stellten keine Gefährdung der Stabilität dar, ganz abgesehen davon, dass es gar nicht möglich sei, zu erkennen, wann sie zu hoch seien, wann also eine Blase entstanden sei.

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dem Missbrauch macht die Argumente nicht ungültig, und sie darf nicht zur Untätigkeit fuhren.

1. Sicherung der Systemstabilität Wenn ein Zusammenbruch des Finanzsektors droht und staatliches Handeln das verhindern kann, wäre staatliches Abseitsstehen schlicht unverantwortlich. Der Autor dieses Aufsatzes hat am 19. Januar 2008 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Entscheid der amerikanischen Notenbank, des Fed, folgendermaßen kommentiert (Schwarz 2008b): „Soll ein Arzt einem Schwerkranken die einzig wirksame Medizin vorenthalten, weil er um deren gravierende Langzeitfolgen weiß? Und würden viele leidende Patienten auf eine solche Therapie verzichten? Es wäre daher geradezu verantwortungslos gewesen, hätten die Geldpolitiker in der letzten Zeit die Märkte nicht mit Liquidität versorgt. Dies hätte mit größter Wahrscheinlichkeit zu Zusammenbrüchen nicht nur von einzelnen Banken, sondern des ganzen Geld- und Kreditsystems geführt. Es ging hier nicht um die Konjunktur, sondern um Systemstabilität. In dieser Situation wurde mit Recht alles getan, auch das, was aus orthodoxer Sicht nicht ganz koscher sein mag."

An dieser Einschätzung hat sich seither nichts geändert, was bei Journalisten keineswegs selbstverständlich ist. Grundlage des Urteils bildet die Überzeugung, dass solche Nothilfe genauso zu den staatlichen Grundaufgaben gehört wie etwa die Sicherung der inneren Ordnung oder die Pflege des Rechtssystems. Es braucht jenen zugleich schlanken und starken Staat, den die Ordoliberalen fordern, nicht nur, damit dieser sich in der Wettbewerbspolitik gegen die Partikularinteressen der Unternehmen und Branchen durchsetzen kann, sondern eben auch, damit er im Krisenfall, im Fall der systemgefährdenden Krise, notfallmäßig und unterstützend eingreifen kann. Auf Industriebetriebe, auch auf sehr große Unternehmen, trifft diese Charakterisierung der Systemrelevanz kaum einmal zu, wenn man Systemrelevanz eng definiert und nicht jeden größeren, aber doch halbwegs auf eine Branche beschränkbaren Totalschaden gleich als systemrelevant definiert. Die systemstabilisierende Nothilfe - bis hin zur vorübergehenden (Teil-)Verstaatlichung - darf nur unter Einhaltung ganz strikter Bedingungen erfolgen, und sie muss der Erhaltung des Systems, nicht der Erhaltung einzelner Unternehmen dienen {Schwarz 2008c). Dort, wo ein Unternehmen für sich allein systemrelevant ist, fallen die beiden Ziele natürlich zusammen. Vom Ansatz her ist die Lösung, die Schwedens bürgerliche Regierung Anfang der neunziger Jahre entwickelt hat - Rekapitalisierung systemrelevanter Banken durch eine staatliche Auffanggesellschaft und danach rascheste Reprivatisierung - ziemlich vernünftig (Gehrmann 2009). Die Hilfe im systemrelevanten Notfall bedeutet nicht, dass generell eine stärkere Rolle für den Staat angesagt wäre, im Gegenteil: der Staat sollte sich im „Courant Normal" zurückhalten, damit er im Krisenfall über die moralische Glaubwürdigkeit und die finanzielle Kapazität verfügt, um erfolgversprechend eingreifen zu können. Klar ist, dass dieses Eingreifen Ermessensentscheide verlangt und kaum systematisch angegangen werden kann. Hätte man Lehman Brothers retten müssen? Die Antwort wird immer offen bleiben müssen. Aber die Tatsache, dass es keine theoretisch sauberen Formen der Stützung von Einzelunternehmen geben kann und dass angesichts der Knappheit aller Mittel Diskriminierung unvermeidlich ist, darf nicht zu völliger Untätigkeit führen.

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2. Konjunkturelle Stützung mittels Geld- und Fiskalpolitik Zu der mit der Systemstabilität begründeten geldpolitischen Flutung und zu den Rettungsmaßnahmen für all die angeschlagenen Finanzinstitute kamen in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise schon bald eine eher konjunkturelle Motivation der Geldpolitik sowie später eine ganze Fülle von fiskalpolitischen Stützungsideen. Der Keynesianismus feierte Urständ - und Liberale begegnen ihm zu Recht mit Skepsis. Zum einen ist eine gewisse Zyklizität kaum abwendbar und vermutlich auch keineswegs nur nachteilig, zum anderen ist diese Glättung, wie sowohl Theorie als auch Empirie zeigen, nur begrenzt überhaupt möglich. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob man eine völlige Ablehnung aller Konjunkturprogramme wirklich vertreten kann, zumal, wenn jene Recht bekommen sollten, die die Schwere der jetzigen Krise mit jener der Großen Depression vergleichen.8 Rein ökonomisch bedeutete dies nämlich das Verschwinden zahlreicher zwar nicht kerngesunder, aber auch nicht sterbenskranker Firmen, einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, den forcierten Auszug von Hunderttausenden von Familien aus ihren Häusern und vorerst kräftige Wohlstandsverluste. Wer hier mit der langen Frist argumentiert, in der alles besser wird, vergisst, Künftiges ordentlich abzudiskontieren und erinnert damit an die Klimawandel-Fundis. Wilhelm Röpke hätte das wohl ähnlich gesehen. Jedenfalls hat er in den dreißiger Jahren als Liberaler ganz explizit staatliche Ausgabenprogramme bejaht, wenn es sich um eine selbstverstärkende Krise handle, eine „sekundäre" Depression, wie er das nannte.9 Dazu kommt: Die Ökonomie ist das eine, die Politökonomie etwas anderes. Dass die Bevölkerung bereit wäre, zwar unter dem Titel „Systemstabilität" Hunderte von Milliarden in die Finanzbranche zu „buttern", selbst aber als Folge der durch die Finanzkrise verschärften Rezession den Arbeitsplatz zu verlieren drohte, ist zu bezweifeln. Ohne die teilweise helfende Hand des Staates wird es nicht zu machen sein. Das ist natürlich auch die Crux mit Blick auf die Rettung großer, aber nicht systemrelevanter Unternehmen, etwa der Autoindustrie. Hier wird man einfach äußerst zurückhaltend sein müssen, aber man wird aus politökonomischen Gründen kaum den Staat gänzlich raushalten können.

VI. Warnung vor Langfristfolgen Die hier dargelegte Kompromissbereitschaft gegenüber Maßnahmen, die keinem Liberalen Freude machen können, nährt sich aus zwei Quellen, aus der Überzeugung, dass diese Maßnahmen einerseits nötig sind, um Schlimmstes zu verhindern, und anderseits aus der Einschätzung, dass ihre kategorische Ablehnung politisch nicht vermittelbar ist. Daraus ergibt sich eine zugegebenermaßen ebenfalls schwierige Position, die Ja sagt zur

8 Eine erfrischende neue Sicht auf die Weltwirtschaftskrise liefert Amity Shlaes (2008). 9 Röpke wurde tatsächlich zum „Keynesianer für einen Augenblick". Vgl. dazu Hennecke (2005, S. 84). Sehr schön beschreibt Hennecke hier, dass Hayek, der in einem Briefwechsel mit Röpke Bedenken anmeldete, in dieser Auseinandersetzung zwar um die geschlossenere theoretische Argumentation bemüht war, Röpke aber das schärfere Gespür für die psychologische und politische Dimension der Krise aufwies. Vgl. ferner Hieronymi (2002, S. 11).

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Nothilfe, aber nicht zu mehr, und die zugleich die Langfristfolgen dieser Nothilfe immer mitdenkt und frühzeitig adressiert. Es sind im Wesentlichen vier große Gefahren:

1. Ausufern des Staates Was immer der Staat legitimerweise auch tut, ob er Teil- oder Totalverstaatlichungen vornimmt, eine „Bad Bank" gründet, den Banken verbilligte Kredite gibt, sich für die verschiedenen Programme massiv verschuldet oder Steuern erhöht - sein Umfang und sein Einfluss werden dadurch wachsen, sollten es aber aus liberaler Sicht nicht tun. Das Gegensteuern ist schwierig, doch gibt es mindestens Ansatzpunkte. So ist etwa bei einer Teilverstaatlichung der Weg zurück leichter als bei einer Totalverstaatlichung, Kapitalbeteiligung an einer Bank verlangt nicht unbedingt Mitsprache im Verwaltungsrat, und fiskalpolitische Stimuli können durch eine saubere Rückzugs- und Schuldenabbauplanung oder gesetzlich festgelegte Schuldenbremsen ihrer langfristigen Explosionswirkung etwas beraubt werden. Geschieht das nicht, wird mit der Nothilfe der Grundstein für die nächste Bubble, ein staatliches Ponzi-System erster Güte, gelegt.

2. Inflation Je mehr die Vertreter von Zentralbanken oder wirtschaftspolitische Regierungsberater behaupten, die ganze bisherige Geldpolitik sei nicht inflationär, umso weniger glaubhaft wirkt das. Wenn man, nachdem man bei der Zinspolitik mit Sätzen gegen Null langsam am Ende der Fahnenstange angelangt ist, von „Quantitative Easing" spricht, was ein Euphemismus für das Bedienen der Notenpresse ist, ist kaum vorstellbar, dass dies nicht zu Inflation führen soll. Natürlich wirkt sich in einer Phase, in der Unternehmen und Haushalte zu hoher Kassahaltung und zum Horten neigen, die Liquiditätszufuhr der Notenbanken nicht preistreibend aus - weder im Konsum noch bei Vermögenswerten. Aber wenn die Geldpolitik und all die anderen Maßnahmen zu wirken beginnen, wird sehr wohl Inflationsdruck entstehen. Und spätestens in diesem Moment müssten die Notenbanken anfangen, Geld aus dem System herauszunehmen. Das wäre technisch zwar auch nicht einfach, aber immerhin machbar; politisch wird es dagegen fast ein Ding der Unmöglichkeit sein, denn nach einer Rezession, die tief und lang ist - oder zumindest eines von beidem werden die Geldbehörden zu hören bekommen, man dürfe jetzt doch nicht nach diesem konjunkturellen Winter gleich die ersten keimenden Blumen wieder abtöten. Dazu kommt, dass ein hochverschuldeter Staat ein Interesse an hoher Inflation hat, weil er auf diese Weise am leichtesten seine Schulden los wird. Vielleicht könnte man diesem doppelten Druck auf die Geldbehörden etwas entgegenwirken, wenn man schon heute einen relativ klaren und gültigen Plan für die Rückkehr zur Normalität veröffentlichte. Aber auch hier gilt: Die nächste Blase droht.

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3. Überregulierung Das Prozedere ist, Enron lässt grüßen, aus früheren Krisen wohlbekannt: Wenn immer etwas schief gelaufen ist, kommt der Ruf nach schärferen Regulierungen. Er ist auch jetzt unüberhörbar. Diese neuen, schärferen Regulierungen lösen dann meist die Probleme der Vergangenheit, während die Probleme der Zukunft im Ungewissen liegen und sich damit der Regulierung ziemlich entziehen. Die liberale Position sollte lauten, dass es selbstverständlich Unsinn ist, zu argumentieren, der Kapitalismus oder der freie Markt erlaube es nicht, Regeln und klar definierte Anreizstrukturen zu setzen (Hildebrand 2009). Das Gegenteil ist der Fall: Die Marktwirtschaft ist eine staatliche Veranstaltung. Alles andere ist Nirwana und hat mit der Realität nichts zu tun. Ebenso unbestreitbar ist wohl, dass es durchaus Verbesserungsbedarf bei den Regulierungen gibt; was ist schon perfekt? Aber Verbesserung heißt nicht mehr und detailliertere Regeln, sondern insgesamt eher weniger und einfachere Regeln. Schon gar nicht heißt Verbesserung der Regeln die Zentralisierung der Regeln auf internationaler Ebene. Der Wettbewerb der Systeme, der Jurisdiktionen, ist der Schlüssel sowohl zur Freiheit als auch zur Suche nach ständig noch besseren Regeln. Beatrice Weder (2009) hat die Forderung nach einfachen Regeln mit einem schönen Bild verdeutlicht. Hintergrund bildet die vor allem von vielen Notenbanken erhobene Forderung nach einer deutlich besseren Eigenmittelausstattung der Banken. Basel II mit seinen äußerst detaillierten, risikogewichteten Vorgaben sei, so sagt Frau Weder, wie ein Radar, der es einem Flugzeug erlaube, sehr knapp über dem Boden zu fliegen und sich dabei sehr genau an Hügel und Täler anzupassen. So technisch beeindruckend dieses Radarsystem sei, habe es aber doch den Nachteil, dass es bei der kleinsten Überraschung, Unaufmerksamkeit oder Falscheinstellung des Systems zum Absturz führe. Genau das haben wir erlebt. Die neuen, einfachen Leverage Ratios für Banken wirken dagegen im Urteil von Frau Weder wie eine Vorschrift, die eine so große Flughöhe vorschreibt, dass es eben nicht so leicht zu einem Aufprall an einem Berg oder Hügel kommen kann. Das zugegebenermaßen gröbere Instrument biete also mehr Sicherheit.

4. Aktivismus Spätestens nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers haben sich die Aktivitäten und Programme der Regierungen der Industriestaaten, allen voran der Regierung der USA, zur Rettung des Finanzsystems exponentiell vervielfacht: Zinssenkungen, Aufkauf von Unternehmens- und Staatsanleihen, Verstaatlichungen und immer wieder Hilfspakete. Hier gilt: Bei allem Verständnis für die Dringlichkeit von Rettungsmaßnahmen wäre weniger trotzdem vermutlich oft mehr. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Regierungen und Notenbanken habe ein gewaltiger Aktivismus erfasst nach dem Motto, es sei - für eine Wiederwahl - besser, zuerst zu handeln und erst dann zu denken. Das Anfang Februar 2009 vom amerikanischen Finanzminister Timothy Geithner vorgestellte 2000-Mrd.-$-Programm war symptomatisch: astronomisch groß, reichlich vage, wenig durchdacht und ziemlich symptomorientiert. Auch die Genesis des sogenannten Paulsen-Plans davor hat gezeigt, wie wenig Hektik bringt: Die frühe Ankündi-

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gung und der folgende Zickzack-Kurs haben die Unsicherheit nur verstärkt. Tatsache ist, dass in dieser Krise niemand wirklich den Durchblick hat, weil sie so ungewöhnlich ist, dass man die Rezepte nicht aus der Schublade ziehen kann, sondern besonders lange und tief nachdenken müsste, bevor man hoffen könnte, etwas Sinnvolles zu tun.

VII. Krise als Chance Man sollte ob all der kurzfristigen Not aber nicht nur die langfristigen Gefahren erkennen und im Auge behalten, sondern man sollte noch in einem anderen, positiveren Sinne langfristig denken: Die Liberalen sollten die Krise als Chance erkennen und nutzen, um jene strukturellen Reformen anzupacken, die ihnen schon lange am Herzen liegen. Natürlich kann man sie nicht mitten in der Krise umsetzen, sondern die große Herausforderung besteht darin, die langfristige Gesundung, sprich: strukturelle Reformen, anzumahnen, auch schon in die Wege zu leiten, aber gleichzeitig bei der kurzfristigen Therapie mitzumachen. Schließlich nützen dem toten Patienten gesunde Diäten nicht mehr viel. Hans-Christoph Binswartger hat beispielsweise unlängst vorgeschlagen, die Verstaatlichungstendenzen dazu zu nutzen, um ein neues Gesellschaftsrecht, ein neues Aktienrecht zu entwickeln, das weniger spekulations- und krisenfordernd ist, und die vorübergehend verstaatlichten Banken dann in dieses neue gesellschaftsrechtliche Regime zu entlassen (Binswanger 2008; Schüller 1979; Fehl und Oberender 1986). Auch auf dem Arbeitsmarkt oder in der Finanz- und Steuerpolitik gäbe es viel zu tun, darunter so manches, das auch Chancen beinhaltet, das System insgesamt dadurch krisenresistenter zu machen. So könnte man, ohne jede Steuererleichterung, einfach durch eine allerdings drastische Vereinfachung des Steuerrechts, jeder Volkswirtschaft einen kräftigen Windstoß verpassen. Deshalb ließe sich die Krise auch als Verkaufsargument für dringend nötige Reformen nutzen.

VIII. Zwischen allen Stühlen Mit der Haltung — Nothilfe und Krisenintervention als notwendige Übel zu akzeptieren — sie auf das wirklich Not-Wendige zu begrenzen — gleichzeitig alles daran zu setzen, um möglichst rasch aus diesem Ausnahmezustand wieder herauszufinden — und die Krise klug für Strukturreformen zu nutzen, setzt man sich natürlich zwischen alle Stühle. Für die Fraktion des radikalen „Laisser Faire" ist man damit zum Keynesianer, zum Interventionisten, ja zum Sozialisten verkommen. Dieser Gruppe ist entgegenhalten, dass das Nichtstun verheerende kurz- und mittelfristige ökonomische Folgen hat, die nicht zu verantworten sind. Selbst wenn man den Vergleich mit der Großen Depression berechtigterweise teilweise für Übertreibung und Panikmache hält, bleibt die Krise auch so groß genug. Fast noch mehr als die ökonomische Dimension ist im übrigen die politi-

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sehe besorgniserregend.10 Die sozialistische Hydra, die nun überall ihren Kopf erhebt und sich auch schnell in ein national-sozialistisches Ungetüm verwandeln kann, wird man nicht mit einer dogmatischen Radikalposition bekämpfen können, sondern allein dadurch, dass es gelingt, die schlimmsten Folgen früherer fehlgeleiteter Entwicklungen wenn nicht gänzlich, so doch halbwegs schmerzfrei zu überwinden. Für die hysterischen Macher ist man mit dem Hinweis auf die Langfristfolgen all der Rettungspakete entweder der lästige Nörgler und Mahner, der das rasche Eingreifen und damit den Genesungsprozess verzögert und behindert, oder allenfalls der dogmatische Ordnungspolitiker ohne Sinn für die Realität. Dieser im Gegensatz zur erstgenannten Fraktion nicht wirklich an einer freien Ordnung interessierten Gruppe ist in Erinnerung zu rufen, dass die Verabreichung einer hoffentlich wirksamen, aber zugleich äußerst giftigen und abhängig machenden Medizin besondere Sorgfalt, besondere Vorsicht verlangt - und die Bereitschaft, nach der Genesung dann genauso beherzt die vielen schädlichen „Nebenwirkungen" und die entstandene Medikamentensucht anzugehen. Von all dem ist bisher nichts, rein gar nichts zu sehen. Die Balance zwischen den Positionen ist intellektuell schwieriger und mutiger als die simplizistische Schwarz-Weiß-Sicht jenseits der ökonomischen, aber ganz sicher der demokratischen Realitäten, schwieriger und mutiger aber auch als der gänzlich prinzipienlose, allein dem Augenblick verpflichtete Pragmatismus. Hayek hat mit Blick auf letzteres Röpke sehr schön gewürdigt {Röpke 1959, S. 27): ,Jiöpkes Rolle in der intellektuellen Entwicklung unserer Zeit wird erst die Nachwelt beurteilen können. Aber eine Gabe darf ich hervorheben, für die wir, seine Kollegen, ihn besonders bewundem vielleicht weil sie unter Gelehrten die seltenste ist: Es ist sein Mut, die Zivilcourage. Damit meine ich nicht so sehr, sich bewusst Gefahren auszusetzen, obwohl Röpke auch dies nicht gescheut hat. Der Mut, den ich meine, ist der Mut, populären Vorurteilen entgegenzutreten, die im Augenblick als die Ideale aller gutgesinnten, fortschrittlichen, patriotischen oder idealistischen Menschen gelten."

Die Liberalen werden diesen Mut in den nächsten Jahren besonders brauchen, und zwar erst recht, wenn sie nicht Fundamentalopposition betreiben, sondern versuchen, im Dickicht der Krise und ihrer Bekämpfung dem Ziel einer freiheitlichen Gesellschaft auch real etwas näher zu kommen.

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10 Vgl. zu den politischen Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen Jähr und Schwarz (1980), besonders den Abschnitt über die Weltwirtschaftsdepression und ihre politischen Auswirkungen.

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Zusammenfassung Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass die Staatsgläubigen „in allen Parteien" Oberwasser bekommen haben. Gleichzeitig treten innerhalb des marktwirtschaftlichen, liberalen Lagers die Unterschiede zwischen den ordoliberalen und den libertären Strömungen deutlicher hervor. Der Beitrag tritt der Auffassung entgegen, man wäre der Krise am besten durch Nicht-Intervention entgegengetreten. Obwohl der Staat wesentlich die Krise verursacht und zu verantworten hat, kommt ihm als Nothelfer in aussergewöhnlichen Situationen durchaus eine zentrale Rolle zu. Ausserdem kann das marktwirtschaftliche Lager nicht einfach seine Hände in Unschuld waschen. Die Schlüsselfrage für alle, denen an einer freiheitlichen Ordnung gelegen ist, wird sein, wie man die vielen unerwünschten Langzeitfolgen der Krisenbekämpfimg vermeiden oder doch mildern kann. Marktorientierte Wirtschaftspolitik befindet sich in der Rolle des Arztes, der lebensrettende Sofortmassnahmen ergreift, obwohl er weiss, dass diese langfristige Schäden verursachen bez. zumindest zu Medikamentenabhängigkeit führen können. In einer Demokratie ist jedoch eine gesunde Mischung aus solchem Realismus und gesunder Selbstkritik der Glaubwürdigkeit und damit dem Einfluss einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik wohl zuträglicher als ein dogmatischer AntiInterventionismus .

Summary: Emergency measures help to save the free-market system One of the results of the global financial and economic crisis is the fact that in all parts of society believers in "big government" are in the ascendancy. At the same time, inside the free-market camp the differences between the "ordoliberal" and the libertarian school of thought have become more distinctive. This article opposes the view that non-intervention would have been the best medicine against the crisis. Although government bears a significant part of the blame for the crisis, it still has to play a central role as an emergency helper in extraordinary times of need. Moreover, the free-market camp cannot simply wash its hands of its responsibility. The key question for all who support a system based on freedom will be how to prevent or at least alleviate the many undesirable long-term consequences of the anti-crisis measures. Market-oriented economic policy now means playing the role of the physician who takes life-saving emergency measures, knowing that they can lead to long-term damage or at least to a dependence on prescription drugs. In a democracy, a healthy mix of realism and selfcriticism is more beneficial to the credibility and thus the influence of free-market economic policies than a dogmatic anti-interventionist position.

ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

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Finanzmarktkrise: Marktversagen oder Staatsversagen? Inhalt I. II. 1. 2. 3.

Problemstellung Finanzmarktkrise und Rezession: Die doppelte Last Die Entwicklung des Subprime-Segmentes am US-Immobilienmarkt Die Rolle der Kreditverbriefungen auf den internationalen Finanzmärkten Veränderte Refinanzierungskonditionen als Auslöser der Finanzkrise und der Rezession III. Kriterien stabiler Finanzmärkte IV. Ursachen: Ordnungsdefizite und Prozessversagen des Staates 1. Hat der Markt versagt? 2. Ordnungsdefizite durch staatliche Regulierung des Bankensektors 3. Mangelnde Haftung 4. Prozesspolitische Fehlentwicklungen V. Therapievorschläge 1. Ansätze zur Überwindung der aktuellen Krise 2. Vermeidung zukünftiger Finanzmarktkrisen VI. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Financial crisis: Failure of markets or politics?

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I. Problemstellung Seit dem Frühjahr 2007 ließ sich auf dem US-Markt für Hypothekenkredite mit geringer Bonität (Subprime-Segment) ein drastischer Anstieg von Zahlungsausfallen beobachten, der in der Folgezeit zu erheblichen Neubewertungen von (verbrieften) Krediten, Auflösungen von Kreditportefeuilles, Notfinanzierungen von Spezialinstituten bis hin zum Zusammenbruch von Finanzinstituten führte.1 Da die Refinanzierung der USHypothekenkredite auf den internationalen Finanzmärkten in Form von Kreditverbrie-

1 Im April 2007 beantragte einer der größten US-Hypothekenfinanzierer New Century Financial Insolvenz und rückte das Subprime-Problem erstmals in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Eine aktuelle Chronik, die sich auf die wesentlichen Aspekte beschränkt, findet sich bei Scharff (2009).

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fangen stattfand, erreichte die Subprime-Krise ab Mitte 2007 auch die Finanzmärkte anderer Industrieländer und löste in der Folgezeit eine weltweite Finanzkrise aus. Was waren die Ursachen dieser folgenschweren Entwicklungen für die Weltwirtschaft, die über das Jahr 2009 hinausreichen werden? Ist tatsächlich das prinzipielle Versagen der integrierten Finanzmärkte in einer globalisierten Welt der Hauptgrund für die Krise, wie es täglich von Politikern und der Öffentlichkeit behauptet wird? Hat die angeblich „unkontrollierte Deregulierung" der Finanzmärkte in Europa und in der Welt in den 1990er Jahren jenes Finanzmarktchaos verursacht, das in 2008 beinahe den Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems verursacht hat? Sind es geldgierige Manager von Finanzinstitutionen, die durch Fehlentscheidungen die Finanzkrise verursacht haben? Oder sind es falsche ordnungspolitische Rahmenbedingungen sowie diverse staatliche Prozesseingriffe in das Finanzmarktgeschehen, die systematisch einzelwirtschaftliches Fehlverhalten und damit gesamtwirtschaftliche Fehlentwicklungen ausgelöst haben? Welche Kriterien müssten erfüllt sein, damit im Zeitablauf stabile Finanzmärkte verwirklichbar sind? Im folgenden Abschnitte werden die einzelnen Eskalationsstufen, ausgehend von der Krise in einem spezifischen Segment der US-Hypothekenmärkte, über die allgemeine Krise auf den internationalen Finanzmärkten bis hin zu den drastischen Einkommensund Beschäftigungseffekten im realwirtschaftlichen Sektor skizziert. In den Folgeabschnitten werden die ordnungspolitischen Implikationen für ein funktionsfähiges Finanzsystem aufgezeigt (Abschnitt III) und anschließend die ordnungs- und prozesspolitischen Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten identifiziert (Abschnitt IV). Der fünfte Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage nach Therapiemaßnahmen, die geeignet sind, um die aktuelle Krise zu überwinden und die Gefahr künftiger Krisen auf den Finanzmärkten zu reduzieren. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst.

II. Finanzmarktkrise und Rezession: Die doppelte Last 1. Die Entwicklung des Subprime-Segmentes am US-Immobilienmarkt Abgrenzung des Subprime-Segmentes Ihren Ausgangspunkt nahm die Finanzmarktkrise in dem vergleichsweise kleinen Subprime-Segment des US-Hypothekenmarktes. 2 Die Einstufung als Subprime-Hypothek erfolgt, wenn der Kreditnehmer in der Vergangenheit zahlungsunfähig war, bei ihm eine Zwangsversteigerung dokumentiert wurde oder er mit Kreditraten in Verzug geraten ist. Als Indikatoren für die Subprime-Klassifizierung werden ferner das Verhältnis zwischen dem Schuldendienst und dem laufenden Einkommen („debt service-toincome ratio"; DTI ratio) sowie das Verhältnis der Kreditsumme zum Wert der Immobi-

2

Es gibt keine exakten Zahlen über das Volumen des Subprime-Marktes in den USA. Auf Basis von LoanPerformance, einer Datenbank, die ungefähr 70 % der Subprime-Kredite erfasst, betrug das Volumen Ende 2006 ca. 1.000 Mrd. USD. Die Mehrzahl der Kredite wurde danach in den Jahren 2004 bis 2006 vergeben.

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lie („mortgage loan-to-value ratio"; LTV ratio) herangezogen. Kreditnehmer mit einem geringen „credit score", einem DTI über 55 % oder einem LTV von über 85 % werden dem Subprime-Markt zugeordnet. Neben dem Subprime-Markt existiert das Marktsegment für „Alt A"-Kredite. Bei diesen Hypotheken muss kein oder kein vollständiger Einkommensnachweis vorliegen. Aufgrund der geringeren Dokumentationspflicht spricht man auch von „low doc / no doc loans" (Kiffund Mills 2007, S. 3).

Motivation für die Nachfrage nach Hypothekenkrediten Der hohe und seit Mitte der 1990er Jahre nochmals deutlich gestiegene Anteil von Hauseigentümern (1995: ca. 65 %; 2004: ca. 69 %) ist mit dem geringen Angebot an Mietwohnungen und entsprechend hohen Mieten in vielen US-Regionen erklärbar. Die Notwendigkeit, den Erwerb privaten Wohneigentums überwiegend mit Krediten zu finanzieren, lässt sich mit der geringen Sparquote in den USA begründen. Neben der mangelnden Sparfahigkeit von Beziehern niedriger Einkommen dürfte die mangelnde Sparwilligkeit breiter Bevölkerungsschichten ausschlaggebend sein. Trotz einer Vielzahl von Erklärungsansätzen (Messfehler, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, demografische Faktoren usw.) lässt sich der trendmäßige Rückgang der privaten Sparquote in den USA empirisch nicht zufriedenstellend erklären („Personal Saving Rate Puzzle"; siehe dazu Guidolin und La Jeunesse 2007, S. 512). Die Kreditaufnahme wurde durch ein „gutes" Finanzierungsumfeld begünstigt. Eine zunehmend stabilitätsorientierte Geldpolitik in vielen Industrieländern führte in den 1980er und 1990er zu einem Disinflationsprozess, der nicht nur längerfristig ein Absinken der langfristigen Nominalzinssätze im Sinne der FwAer-Relation auslöste, sondern - aufgrund sinkender Inflationsrisikoprämien - bis zum Jahr 2005 auch einen spürbaren Rückgang der Realzinssätze bewirkte. Neben diesem Absinken von makroökonomischen Risiken werden zunehmende globale Sparüberschüsse - insbesondere aus Schwellenländern wie China - für den tendenziellen Rückgang der Langfristzinsen verantwortlich gemacht. Die mangelnde Investitionsbereitschaft von inländischen Anlegern in Emerging Markets und ihre Suche nach sicheren Anlagehäfen führte zu einem Kapitalexport in die Industrieländer, speziell in die USA. Auch die Notenbanken der Schwellenländer legten ihre Devisenreserven schwerpunktmäßig in den USA an. Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den USA und der Versuch, durch Devisenmarktinterventionen eine Aufwertung der Inlandswährung gegenüber dem US-Dollar zu verhindern, führte zu einem stetigen Aufbau von Reservepositionen und einen entsprechenden Rückfluss in die USA.3 Auch das Petro-Dollar-Recycling der Öl exportierenden Länder sowie die Durchfuhrung von Carry Trades, d.h. die Kreditaufnahme auf dem Geldmarkt eines Niedrigzinslandes (beispielsweise Japan) und die simultane Anlage der liquiden Mittel in anderen Laufzeitsegmenten des US-Finanzmarktes begünstigte die Zinsentwicklung in den USA. Schließlich lassen sich auch demografische Veränderungen als Ursache für sinkende langfristige Zinssätze anführen.

3

Dieses nicht kodifizierte Währungssystem, das einige asiatische Währungen, darunter insbesondere den chinesischen Yuan nach 2001, an den US-Dollar „bindet", wird von einigen Ökonomen wie Dooley, Folkerts-Landau oder Garber auch als Bretton Woods //bezeichnet.

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Die Vermögensbildung gewinnt im Hinblick auf die Altersvorsorge in vielen Industrieländern eine zunehmende Bedeutung. Als Vehikel zur Alterssicherung werden häufig Pensionsfonds eingesetzt, die aufgrund gesetzlicher Restriktionen eine hohe Anlagepräferenz für Anleihen aufweisen.

Motivation fiir das Angebot von Hypothekenkrediten Betrachtet man die Kreditvergabe von US-Banken seit dem Platzen der DotcomBlase im Frühjahr 2000, so ist eine deutliche Umstrukturierung erkennbar. Während die Kredite an Unternehmen ab dem Jahr 2001 rückläufig waren, stieg die Vergabe von Hypothekenkrediten ab dem Jahr 2000 signifikant an, was auf eine Neuausrichtung des Geschäftsmodells vieler US-Finanzinstitute schließen lässt. Ob diese Neuorientierung zu Beginn aktiv erfolgte (restriktive Kreditvergabe an gewerbliche Kunden) oder passiv auf einen konjunkturbedingten Rückgang der Kreditnachfrage reagiert wurde, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Neuausrichtung des Geschäftes insbesondere in der privaten Immobilienfinanzierung setzte - angesichts einer Hauseigentümerquote von ca. 67 % aller US-Haushalte im Jahr 2000 - allerdings sehr bald die Erschließung neuer Kundengruppen (also des Subprime-Segmentes) voraus, die bislang für den privaten Immobilienerwerb nicht Frage kamen. Der rasante Anstieg der realen Hauspreise in den US-Ballungsgebieten seit Ende der 1990er Jahre und damit der zunehmende Wert der Kreditsicherheiten war ein Schlüsselfaktor für den Kreditboom auf den US-Hypothekenmärkten. Aus Sicht der Finanzinstitute bestand nur ein geringes Problem, Hypothekenkredite auch an solche Bürger zu vergeben, deren aktuelle und erwartete Einkommenssituation unzureichend war, um die Zins- und Kreditrückzahlungen auch bei veränderten Zinskonditionen in den Folgejahren zu gewährleisten. Die Möglichkeiten, die als Sicherheit bereitstehenden Immobilien zu verwerten, reichten für die Kreditvergabe aus. Angesichts der im Vergleich zu den langfristigen Hypothekenzinssätzen nochmals deutlich niedrigeren Geldmarktsätze waren viele US-Haushalte zudem bereit, variabel verzinsliche Hypothekenkredite aufzunehmen. 4 Variabel verzinsliche Hypothekenkredite (ARMs = „adjustable rate mortgage") sind hybride Produkte, sie kombinieren variable und feste Verzinsungen. Zwei Drittel aller ARMs sind sogenannte „2/28"-Hypotheken. Bei einer Laufzeit des Hypothekenkredits von dreißig Jahren wird für die beiden ersten Jahre ein Festzins vereinbart, der dann in eine variable Verzinsung umgewandelt wird. Die ARMs werden monatlich an die Zinsentwicklung auf den Geldmärkten angepasst, wobei unter-

4

Dabei ist zu beachten, dass die traditionell langfristige festverzinsliche Immobilienfinanzierung in den USA (z.B. über 30 Jahre) durch eine Besonderheit geprägt ist. Im Fall eines Zinsrückgangs auf den Hypothekenmärkten kann ein Kreditnehmer seinen Kredit vorzeitig aufkündigen und zu den günstigeren Zinskonditionen weitgehend kostenfrei einen neuen Vertrag abschließen. Die hohe Flexibilität auf dem US-Hypothekenmarkt verteuert allerdings a priori die festverzinsliche Immobilienfinanzierung in Abhängigkeit von der Laufzeit um ca. 0,5 bis 1,2 Prozentpunkte. Trotz der Flexibilität bei den festverzinslichen Krediten erklärte dies die Attraktivität zum Abschluss von Hypothekenkrediten mit variabler Verzinsung in einem Umfeld niedriger Geldmarktzinssätze. Alan Greenspan wies in einer Rede vor US-Kreditgenossenschaften zu Beginn des Jahres 2004 explizit darauf hin, dass sich mithilfe der variablen Verzinsung für die US-Haushalte Einsparpotenziale in Höhe fünfstelliger USD-Beträge ergeben könnten.

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schiedliche Geldmarktsätze als Referenz herangezogen werden können. Der ursprüngliche Festzins lag als Lockangebot („teaser rate") häufig unter der marktüblichen Verzinsung. Beim Übergang zur variablen Verzinsung kann - bei zwischenzeitlich veränderten Konditionen auf den Geldmärkten - ein Zinsschock („reset shock") auftreten, auch wenn in den Kreditverträgen häufig Zinsobergrenzen („caps") vereinbart wurden, die den Kreditnehmer vor einem raschen und scharfen Anstieg der Zinssätze schützen sollten. Die Mehrzahl der hybriden Hypothekenkredite trat in der zweiten Hälfte 2007 und im Jahr 2008 in die Phase der variablen Verzinsung ein, die anfanglich durch ein deutlich höheres Zinsniveau auf den US-Geldmärkten geprägt war. 5 Zusätzlich wurden Kreditverträge abgeschlossen, bei denen zunächst ausschließlich Zinszahlungen geleistet werden („interest-only mortgage") bzw. sogar negative Amortisationsraten („neg-am-loans") auftreten. Im zweiten Fall decken anfängliche Zahlungen der Kreditnehmer die laufenden Kreditzinsen nicht ab, sodass das Kreditvolumen weiter ansteigt. Beim Erreichen eines zuvor festgelegten Grenzwertes (Schuldenanstieg beispielsweise maximal um 20 % der ursprünglich vereinbarten Kreditsumme) bzw. fünf Jahre nach Vertragsabschluss beginnen die üblichen Zins- und Rückzahlungen. Darüber hinaus sind weitere Zahlungsoptionen denkbar, sodass man bei solchen Hypothekenkrediten auch von „option ARMs" spricht. Die Wahlmöglichkeiten werden bis zu fünf Jahre nach Vertragsabschluss gewährt bzw. laufen aus, wenn zwischenzeitlich die Verschuldungsobergrenze erreicht wurde (Übersicht bei Kiff und Mills 2007, Box 2, S. 8). Erst nach dem Umwandlungsdatum (,/ecast date") erfolgen die Rück- und Zinszahlungen. Obwohl „option ARMs" seit Jahrzehnten existieren, nahm ihre Bereitstellung erst ab 2003 deutlich zu. Von rund 10% der Alt-A-Hypothekenkredite stieg ihr Anteil auf 40 % im Jahr 2006. Die Quote der Zahlungsausfälle blieb zu Beginn der Subprime-Krise in 2007 zunächst niedrig, da die seit 2003 abgeschlossenen Kreditverträge erst später in die Umwandlungsphase eintraten. Im Ergebnis stieß eine zunehmende Nachfrage nach Hypothekenkrediten auf ein steigendes Angebot seitens der Kreditinstitute, die die Nachfrage durch „innovative" Kreditkonstruktionen zusätzlich unterstützten. Die Entwicklung auf den Hypothekenmärkten wurde zudem durch die US-Politik flankiert, die das Subprime-Segment mit den zahlreichen neuen Finanzierungsmöglichkeiten als ein geeignetes Vehikel betrachtete, den Immobilienerwerb von (einkommensschwachen) Minderheiten wie Afro- und Hispano-Amerikaner zu forcieren.

2. Die Rolle der Kreditverbriefungen auf den internationalen Finanzmärkten Die traditionelle Refinanzierung bzw. Besicherung von Krediten des SubprimeSegments über die Federal Housing Association (FHA) wurde für die US-Hypotheken-

5 Die Quote der privaten Haushalte (Subprime-Segment und variabel verzinsliche Hypothekenkredite) mit einem Zahlungsverzug („delinquency rate") von über 90 Tagen stieg beispielsweise von 1,86 % im 1. Quartal 2004 auf 7 % im 4. Quartal 2007 und betrug Ende 2008 11,6 %.

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banken zunehmend unattraktiv.6 Im Ergebnis erfolgte das Refunding der Kredite verstärkt über Investmentbanken, die sich ihrerseits zunehmend über die Verbriefung (Securization) von Krediten (ABS-Strukturen) refinanzierten. Unter Asset Backed Securities (ABS) versteht man einen Risikotransfer, bei dem ein Forderungspool verbrieft und das mit dem Pool verbundene Kreditrisiko auf andere Marktteilnehmer übertragen wird.7 Das Risiko des Forderungsverkäufers (Originator) - beispielsweise einer Investmentbank - wird somit vom Risiko des Forderangspools getrennt. Darüber hinaus werden bislang vergleichsweise illiquide Forderungspositionen - wie einzelne Hypothekenkredite - kapitalmarktfähig gemacht.8 Der Risikotransfer kann mithilfe unterschiedlicher Verbriefungstechniken erfolgen. Im Fall von True Sale Strukturen verkauft der Originator seinen Forderungspool an eine außerbilanzielle und insolvenzfeste Zweckgesellschaft (SPV = „special purpose vehicle"), sodass diese Forderungen nicht mehr in seiner Bilanz auftreten. Das SPV refinanziert den Kauf durch die Begebung von Anleihen. Die emittierten Anleihen können einzelnen Tranchen - die divergierende Ausfallrisiken bzw. Ratings aufweisen und damit unterschiedliche Risikoprämien beinhalten - zugeordnet werden. Neben Tranchen, für die ein Rating vorliegt, gibt es zumindest eine nicht bewertete Tranche („equity tranche"), die im Fall von Forderungsausfällen die ersten Verluste („first loss position") übernimmt. Diese Tranche wird häufig vom Originator selbst oder besonders risikobereiten Anlegern wie spezifischen Hedge Funds gehalten. Bei umfangreicheren Forderungsausfallen werden die übrigen Tranchen in einer zuvor festgelegten Reihenfolge an den Verlusten beteiligt („waterfall structure"). Bei synthetischen Strukturen verbleiben die Forderungen in der Bilanz des Originators, und der Risikotransfer erfolgt durch den Einsatz von Kreditderivaten (wie Credit Default Swaps [CDS] oder Garantien). Im Fall eines Kreditereignisses (Forderungsausfall, verspätete Zinszahlungen, Absenkung des Ratings etc.) erhält der ursprüngliche Kreditgeber bei Abschluss eines CDS Kompensationszahlungen seitens des SPV. Im Gegenzug muss er laufende Zahlungen im Sinne einer Versicherungsprämie an die Zweckgesellschaft leisten. Das SPV hat nun zwei Alternativen, die Risiken an Investoren weiterzugeben. Wie bei einem True Sale erfolgt die Risikoübertragung an die Investoren über die Begebung von Wertpapieren („fully funded"). Da das SPV nur Zahlungen im Fall von Leistungsstörungen an den originären Kreditgeber leistet, verfugt das SPV bei erfolgter Anleihenplatzierung über hohe liquide Mittel. Um die Zinszahlungen für die emittierten Anleihen sicherzustellen, wird das SPV diese Mittel wiederum in Wertpapieren mit hoher Bonität reinvestieren. Diese Papiere dienen zugleich als Sicherheit („collateral") für den Fall von erforderlichen Zahlungen aus dem CDS. Alternativ erfolgt die Risikoübertragung an die Investoren ebenfalls synthetisch über den Abschluss von CDS („unfunded"). Schließlich sind Kombinationen aus den beiden be-

6

7 8

FHA-Produkte wurden nicht schnell genug an veränderte Marktbedingungen angepasst, zugleich schrieb die FHA Beleihungsgrenzen vor, und die Bearbeitungskosten für FHA-gesicherte Hypotheken senkte die Gewinnmargen der Kreditinstitute. Zum Kreditrisikotransfer mithilfe von ABS-Strukturen siehe beispielsweise Rudolph et al. (2007). Eine Klassifizierung von ABS-Verbriefungen lässt sich anhand der zugrundeliegenden Forderungspools durchfuhren. Besteht der Forderungspool beispielsweise im Wesentlichen aus den Hypothekenkrediten privater Haushalte, spricht man von Residential Mortgage Backed Securities (RMBS).

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schriebenen Refinanzierungsformen denkbar („partially fiinded"). Bei Single Loan Transaktionen wird der klassische Fremdkapitalgeber - also in aller Regel ein Kreditinstitut - von vornherein durch die Kreditverbriefung ersetzt. Der Kreditnehmer erhält die Kreditsumme direkt vom SPV und leistet entsprechend Zins- und Rückzahlungen. Die Refinanzierung der Zweckgesellschaft erfolgt durch die Emission von Wertpapieren.9 Traditionell wurden die Forderungen vom Originator an das SPV im Sinne eines True Sale verkauft. Im Zeitraum von 2002 bis 2004 erfolgte der Risikotransfer verstärkt durch den Einsatz von Kreditderivaten wie CDS oder Garantien. Seit 2005 waren eine Renaissance von True Sale Transaktionen sowie die Zunahme von Single Loan Transaktionen zu beobachten. Die Existenz von Zweckgesellschaften lässt sich ökonomisch in zweifacher Weise begründen. Ein SPV nimmt eine Restrukturierung von Risiken vor. Für diese Intermediationsleistung (Risikotransformation) erzielen Zweckgesellschaften bzw. die Investoren in der Equity Tranche im Durchschnitt einen positiven Spread zwischen der Verzinsung des Forderungspools und den auftretenden Refinanzierungskosten. Durch die Ausnutzung unterschiedlicher Kapitalbindungsfristen von Forderungspool und emittierten Refinanzierungsinstrumenten können ein SPV bzw. die Investoren in der Equity Tranche ebenfalls positive Spreads generieren. Die Intermediationsleistung besteht in diesem Fall aus einer Fristentransformation im Hinblick auf die Kapitalbindung. In Abhängigkeit von der Struktur des Forderungspools, der Fristigkeit sowie der Struktur der Refinanzierung lassen sich Vehikel wie Special Investment Vehicles (SIVs), Collateralized Debt Obligations (CDOs) oder Commercial Paper Conduits (CP Conduits) differenzieren.10

Motivation fiir eine zunehmende Verbriefung von Krediten Die Märkte für Verbriefungen waren - wie die Abbildung 1 speziell für die Hypothekenmärkte verdeutlicht - in den Jahren bis 2007 durch einen enormen Anstieg der Volumina geprägt. Während der Gesamtbestand an verbrieften Forderungen in den USA im Jahr 2000 bei ca. 5 Bio. USD lag, wuchs er bis Ende 2006 auf mehr als 11 Bio. USD an. Dieser Trend lässt sich sowohl von der Angebots- als auch von der Nachfrageseite begründen. Aus Sicht von originären Kreditgebern weisen Verbriefungen eine Reihe von Vorteilen gegenüber der traditionellen Kreditvergabe auf. Durch die Ausgliederung von Krediten können Finanzinstitute ihre erforderliche Eigenkapitalausstattung reduzieren bzw. die Eigenkapitalunterlegung verbessern („regulatory arbitrage"). Zudem lassen sich in Abhängigkeit von der verwendeten Verbriefungstechnik Bilanzrelationen bzw. -kennziffern verbessern sowie leichter steuern, die Eigenkapitalrendite erhöhen oder stille 9

Aus Sicht der Kreditinstitute bewirkt der Verzicht auf das Kreditgeschäft zwar einerseits sinkende Zinseinnahmen, andererseits lassen sich zusätzliche Provisionseinnahmen durch die Organisation der Verbriefungsstruktur generieren und zugleich Eigenmittel schonen. 10 In der Literatur findet sich keine allgemein akzeptierte Klassifizierung von Refinanzierungsvehikeln. Eine in sich konsistente Differenzierung zwischen SIVs, CDOs und Conduits findet sich aber beispielsweise bei Polizu (2007). Vgl. dazu auch die Ausfuhrungen im Gutachten 2007/2008 des Sachverständigenrates (2007, Kapitel III).

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Reserven realisieren. Die Verbriefung erlaubt zudem das aktive Management unterschiedlicher Risiken und deren Transfer auf andere Marktteilnehmer. Die Kreditinstitute erhalten Zugang zu bankunabhängigen Finanzierungsquellen, zu Anlegern mit unterschiedlicher Risikobereitschaft, zu internationalen Investoren und senken durch diese Diversifikationsmöglichkeiten ihre Risiken und Kosten bei der Refinanzierung. Insgesamt lassen sich mit Hilfe von Verbriefungen das Bilanzstruktur-, das Risiko- und das Liquiditätsmanagement nachhaltig verbessern. Abb. 1: Die Entwicklung auf den Verbriefungsmärkten für Hypothekenkredite Mrd. USD Quaitely issuance „Other" includes auto, credit card and student loan ABS (b) Commercial mortgage backed securities (c) Residential mortgage backed securities

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Quelle: Dealogic

Motivation fiir den Erwerb von verbrieften Krediten Aus Sicht potenzieller Anleger weisen verbriefte Kredite ebenfalls Vorteile gegenüber traditionellen Anlageformen auf. ABS-Strukturen erlauben die gezielte Übernahme von Kreditrisiken; die Anlage kann präzise an das eigene Risikoprofil angepasst werden. Zugleich partizipiert der Investor von der Risikodiversifikation eines gut strukturierten Forderungspools. Bei Einzelengagements in Unternehmensanleihen müsste er diese Diversifikation selber sicherstellen und dafür entsprechende Ressourcen aufwenden. Angesichts geringer Korrelationen gegenüber traditionellen Asset-Klassen lassen sich zusätzliche Diversifikationseffekte generieren und damit ein verbessertes Rendite/Risiko-Profil realisieren. Zum Ausgleich eventueller Kreditausfalle werden in den Verbriefungsstrukturen zusätzliche Absicherungen („credit enhancements") integriert. Folgerichtig bewirken einzelne Forderungsausfalle noch keine Absenkung des Ratings („downgrading") bei der Risikobewertung des Forderungspools. ABS-Transaktionen hatten deshalb in der Vergangenheit eine höhere Rating-Stabilität und deutlich geringere Ausfallraten als beispielsweise Unternehmensanleihen. Im Vergleich mit traditionellen Anlageformen wiesen Wertpapiere aus ABS-Tranchen bei vergleichbaren Ausfallrisiken zudem signifikant höhere Spreads gegenüber den Refinanzierungskosten auf. Zugleich stiegen die Renditeaufschläge („spread pickups") mit der Komplexität der Ver-

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briefungen, sodass im Laufe der Zeit ein zunehmender Anreiz zu immer komplexer werdenden Verbriefungsstrukturen bestand, insbesondere in einem Umfeld, das durch niedrige Renditen in den langen Restlaufzeiten für Anleihen geprägt war.

Nachteile von Kreditverbriefungen Neben einer Vielzahl von Vorteilen lassen sich allerdings auch gravierende Nachteile von Verbriefungen identifizieren, die eine zusätzliche Begründung für die SubprimeKrise und ihre weitreichenden Auswirkungen liefern. Die Verlagerung der Kreditrisiken auf andere Marktteilnehmer verändert das Risikomanagement der originären Kreditgeber. Der Anreiz, die Qualität der Kreditnehmer detailliert zu prüfen sowie die Kreditvergabemodalitäten adäquat an die Bedürfnisse und die Zahlungsfähigkeit der Kreditnehmer anzupassen, ist deutlich gesunken. Die Bereitschaft des Originators, bei der Verbriefungsstruktur auf die besonderen Anlage- bzw. Risikobedürfnisse von Investoren einzugehen („bespoke deals"), reduziert den Liquiditätsgrad der emittierten Schuldtitel und damit - insbesondere in Phasen zunehmender Verspannungen auf den Märkt e n - deren Marktgängigkeit. Starke Wertschwankungen aufgrund von Illiquiditäten behindern eine zuverlässige und zeitnahe Bewertung der Wertpapiere („mark to market") und erzwingen möglicherweise beim Investor erhebliche Abschreibungen, was Vertrauensverluste auf den Finanzmärkten verstärkt. Die zunehmende Komplexität der Verbriefungen beeinträchtigt schließlich die Identifikation der inhärenten Risiken von derartigen Strukturen. Die Risikodiversifikationseffekte des Forderungspools werden überschätzt und die Risikovorsorge war dementsprechend unzureichend. Systematische Risiken, die beispielsweise aus einer geldpolitisch induzierten Liquiditätsverknappung resultieren und eine Vielzahl von Finanzmarktsegmenten treffen, werden in Investmentvehikeln nicht reduziert, sondern möglicherweise verstärkt." Die starke Konzentration von SIVs und Conduits auf die Fristentransformation setzt ferner eine hinreichende Liquidität auf den Geldmärkten (beispielsweise dem Markt für Asset Backed Commercial Papers) voraus. Das Prolongationsrisiko bzw. Liquiditätsrisiko wurde von den Marktteilnehmern zwar gesehen; die Gefahr eines „Austrocknens" - angesichts des starken Wachstums der verbrieften Geldmärkte in den letzten Jahren - aber als nicht relevant eingestuft. Zudem wurden zugesagte Kreditlinien der Banken zur Liquiditätssicherung als ausreichend betrachtet, ohne deren eigene Refinanzierungsmöglichkeiten ausreichend zu hinterfragen. Durch den verstärkten Einsatz von Verbriefungen mit ihren Möglichkeiten des Risikotransfers bzw. der Risikoreallokation waren in den letzten Jahren die Verflechtungen in der Finanzindustrie sowohl auf der nationalen als auch der internationalen Ebene deutlich angestiegen. Der Risikotransfer und damit die Risikostreuung auf eine Vielzahl von Marktteilnehmern wird im Normalfall die Absorptionsfähigkeit des internationalen Finanzsystems bei kleineren und mittleren Schocks erhöhen. Im Fall massiver Störungen funktioniert das weltweite Finanznetz aber wie ein Kanal, über den sich auftretende

11 Das Subprime-Segment selbst beinhaltete inhärent ein systematisches Risiko, da private Haushalte mit Krediten versorgt wurden, die in ihrer Mehrzahl nach den üblichen Vergabevoraussetzungen nicht kreditfähig waren.

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Risiken sehr rasch und weitgehend ungedämpft bzw. sogar verstärkt auf andere Marktsegmente übertragen können.

3. Veränderte Refinanzierungskonditionen als Auslöser der Finanzkrise und der Rezession Durch den Kurswechsel der US-Notenbank im Frühjahr 2004 und dem damit verbundenen raschen Anstieg der Geldmarktsätze erhöhten sich in der Folgezeit die Forderungsausfalle im Subprime-Segment mit variabel-verzinslichen Hypothekenkrediten. Die Kreditnehmer waren - angesichts der deutlich höheren finanziellen Belastungen nicht mehr in der Lage, ihren Schuldendienst zu leisten. Abbildung 2 beschreibt die Entwicklung des Affordability Index für die USA, d.h. die Fähigkeit der privaten Haushalte, ihren Kreditverpflichtungen nachzukommen. Seit 2004 ist ein signifikanter Rückgang der Indikatoren und damit eine Verschlechterung der RückZahlungsfähigkeit zu beobachten. Erst der erneute geldpolitische Kurswechsel im Jahr 2007 führte zu einer Entspannung auf den Hypothekenmärkten. Das veränderte monetäre Umfeld verschlechterte zeitgleich die Refinanzierungskonditionen für jene Verbriefungsstrukturen wie SIVs und CP Conduits, die auf eine kurzfristige Refinanzierung gesetzt hatten. Im Ergebnis kamen viele Vehikel somit von zwei Seiten unter Druck. Auf der Aktivseite durch steigende Ausfallrisiken und auf der Passivseite durch steigende Liquiditätsrisiken bzw. Refinanzierungskosten. Abb. 2: Entwicklung des Affordability Index in den USA Index

180,0 175,0 170,0 165,0 160,0 155,0 150,0 145,0 140,0 135,0 130,0 125,0 120,0 115,0 110,0 105,0 100,0 95,0 Jahr Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

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Die hohe Integration der internationalen Finanzmärkte im Bereich der strukturierten Produkte führte dazu, dass sich die massiven Kreditausfälle auf den US-Hypothekenmärkten, verknüpft mit einem drastischen Rückgang der Immobilienpreise in vielen USBallungsgebieten, sehr rasch zu einer allgemeinen Banken- oder Finanzkrise nicht nur in den USA, sondern rund um den Globus ausweitete. Angesichts der mangelnden Transparenz über die vorhandenen Risikopotenziale innerhalb und außerhalb der Bankenbilanzen stieg zwischen den Akteuren auf den Finanzmärkten das gegenseitige Misstrauen, was - nach der Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers Mitte September 2008 - zeitweilig zu einem nahezu völligen Zusammenbruch der Interbankenmärkte führte. Die Banken waren nicht mehr bereit, sich gegenseitig kurzfristige, ungesicherte Kredite bereitzustellen. Im Zuge der Finanzkrise verschärften die US-Finanzinstitute ihre Kreditvergabebedingungen gegenüber nicht-finanziellen Unternehmen sowie privaten Haushalten und kündigten angesichts sinkender Kreditsicherheiten infolge der fallenden Immobilienpreise vorhandene Verträge auf. Mit zeitlicher Verzögerung haben auch die Kreditinstitute in anderen Ländern ihre Kreditvergabepraxis entsprechend revidiert.12 Mancherorts wird angesichts rückgängiger Kreditvolumina deshalb bereits von einer Kreditklemme gesprochen.13 Der in vergangenen Jahren hohe Wachstumsbeitrag des (kreditfinanzierten) Konsums an der Entwicklung des US-Bruttoinlandsproduktes sank seit dem Herbst 2007 deutlich ab und erreichte im letzten Quartal 2008 einen Wert von -1,1 Prozentpunkte (binnen Jahresfrist sank der Konsum um -1,6 % p.a.). Weder die Nettoexporte noch die anderen inländischen US-Nachfragekomponenten konnten den Nachfrageausfall im privaten Konsum kompensieren. Auch der US-Arbeitsmarkt reagierte rasch auf die konjunkturelle Eintrübung, die Arbeitslosenquote stieg im Laufe des Jahres 2008 von 4,9 % auf 7,6 % an. Betrachtet man die Entwicklung in anderen Ländern wie Deutschland, so waren die realwirtschaftlichen Folgen der weltweiten Finanzkrise zunächst vergleichsweise moderat. Erst seit dem zweiten Halbjahr 2008 lassen sich die Auswirkungen der Krise aber insbesondere an der Entwicklung der Investitionsnachfrage und der Nettoexporte erkennen. Eine weltweite Konjunktureintrübung trifft exportorientierte Länder besonders hart, wie sich auch an asiatischen Ländern wie Japan und Taiwan zeigen

12 In der Eurozone lässt sich - auf Basis des Bank Lending Survey der Europäischen Zentralbank - ein signifikanter Anstieg der Kreditvergaberichtlinien von Finanzinstituten im 4. Quartal 2008 beobachten (ECB 2009). 13 Dabei muss allerdings beachtet werden, dass ein Rückgang der Kreditvergabe auch nachfrageseitig bedingt sein kann. Bei sinkenden Konjunkturaussichten und größerer Unsicherheit über die weitere Geschäftsentwicklung stellen viele Unternehmen geplante Investitionen zurück und passen folgerichtig ihren Fremdfinanzierungsbedarf nach unten an. Der starke Zufluss von liquiden Mitteln in Folge massiver Substitutionsprozesse zu Lasten von risikobehafteten Asset-Klassen und zu Gunsten von Termin- und Spareinlagen, der insbesondere bei Sparkassen und Kreditgenossenschaften zu beobachten ist, dürfte einer dauerhaften Verschärfung der Kreditkonditionen entgegenstehen. Bei einer zunehmenden „Passiv-Lastigkeit" ihrer Bilanzen werden die Banken gezwungen, ihr Aktivgeschäft zu forcieren. Die Eigenanlage der liquiden Mittel in Staatsanleihen ist auf Dauer gesehen keine Alternative, da angesichts niedriger Renditen sowohl die Zinsspanne unbefriedigend ist als auch die langfristigen Marktpreisrisiken nicht zu unterschätzen sind.

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lässt.14 Ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wirkt sich in Deutschland erfahrungsgemäß erst zeitverzögert auf dem Arbeitsmarkt in Form steigender Arbeitslosenquoten aus. Der deutliche Anstieg der Kurzarbeiterzahlen seit Ende 2008 spiegelte aber bereits die zunehmenden Verspannungen auf den Arbeitsmärkten wider. Bei der Beschreibung der realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise wird allerdings in der öffentlichen Diskussion häufig vernachlässigt, dass man in den meisten Industrieländern auch unabhängig von der Finanzkrise mit einer Eintrübung der Konjunktur in den Jahren 2008 und 2009 rechnen musste. Nicht nur die US-Notenbank, sondern auch andere Zentralbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) wurden im Laufe der Dekade angesichts einer monetären Überversorgung mit einem raschen Anstieg sowohl der Inflationspotenziale als auch der faktischen Inflationsrate konfrontiert.15 Als Reaktion wurden vielerorts die monetären Rahmenbedingungen - gemessen am Anstieg der Leitzinssätze bzw. dem Rückgang des Geldmengenwachstums - verschärft. Im Sinne des Transmissionsprozesses monetärer Impulse war deshalb mit einer zeitverzögerten Reaktion auf den Güter- und Faktormärkten zu rechnen, wie die folgende Abbildung 3 für die Eurozone bestätigt. Sie beschreibt die jährlichen Änderungsraten der Geldmenge Ml und des realen Inlandsproduktes Yr in der Eurozone. Abb. 3: Geldmengen- und Konjunkturentwicklung in der Eurozone in v.H. 11,0 Es wird eine Wirkungsverzögerung von ca. 1 Jahr unterstellt Aus diesem Grund wurde die Geldmengenreihe um 4 Quartale nach rechts verschoben. Ferner wird eine

10,0 9,0 8,0 7,0 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0 -1,0 -2,0 -3,0 -4,0

M "111111111111

11 111 111 111 111 111 111 111 111 111 111 111 111 11

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74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 990001 02 03 04 05 06 07 08 09 10

Jahr Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen 14 Die Industrieproduktion in Japan sank beispielsweise binnen Jahresfrist um 30,7 % (Stand: Frühjahr 2009). Der Rückgang in Deutschland um 21,6 % fällt damit im Vergleich geringer aus, ist aber deutlich höher als in anderen Industrieländern (USA: -13,4 %; Großbritannien: -12,3 %). 15 Es wird häufig vergessen, dass die Inflationsrate in der Eurozone noch bis November 2008 über der angestrebten Zielgröße von unter, aber nahe 2 % p.a. lag und sich noch Mitte 2008 der 4%-Marke annäherte. Dies erklärt auch, warum die Europäische Zentralbank bei den ersten Anzeichen der Finanzkrise ab der zweiten Hälfte des Jahres 2007 zunächst keine Bereitschaft zu einem geldpolitischen Kurswechsel erkennen ließ.

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Vor dem Hintergrund der realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise kann man also von einer doppelten Last für die Volkswirtschaften und die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger sprechen.

III. Kriterien stabiler Finanzmärkte Finanzmärkte, also Märkte für private und staatliche Kredite der kurzen, mittleren und langen Frist, funktionieren ebenso wie Gütermärkte nur dann und sind auch im Zeitablauf stabil, wenn sie die typischen Funktionen von Märkten in dezentralisierten Marktwirtschaften erfüllen: — Anhand der relativen Preise (Zinssätze) werden die finanziellen Mittel (insbesondere Ersparnisse des privaten Sektors) in jene Verwendungen gelenkt, wo sie am produktivsten sind bzw. den größten Nutzen stiften (Lenkungs- und Allokationsfunktionen). Änderungen der relativen Zinssätze bewirken Anpassungsprozesse, also Portfolioumschichtungen. Ihr Ausmaß und ihre Richtung hängen von den relativen Preisänderungen ab. — Relative Zinssätze erfüllen in einer dezentralen Marktwirtschaft wichtige Informationsfunktionen, weil sie über die relativen Knappheiten der verfügbaren, für Investitions- und Konsumzwecke nutzbaren finanziellen Mittel informieren (Informationsfunktion). Durchaus vorhandene Informationsasymmetrien auf den Kreditmärkten (Kreditnachfrager sind besser über Kredittilgungsmöglichkeit und -bereitschaft informiert als Kreditanbieter) können durch geeignete Maßnahmen (systematische Risikoabschätzungen, Risikozuschläge etc.) reduziert werden. Unsystematische Instabilitäten der Kreditmärkte lassen sich daraus kaum ableiten. — Märkte haben in einer privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft neben Leistungsanreizfunktionen auch sehr wichtige Kontroll- und Sanktionsfunktionen. Wettbewerbliche Ausleseprozesse funktionieren nur dann, wenn gewährleistet ist, dass nichtleistungsfähige Kreditmarktteilnehmer konsequent vom Markt verdrängt werden. Nicht nur der Marktzutritt, sondern insbesondere der Marktaustritt muss ordnungspolitisch offen gehalten werden. Nur eine latente Verdrängungsgefahr verhindert, dass auf den Kreditmärkten hohe Kreditrisiken wegen eines vagen Kreditversprechens eingegangen, laxe Kreditvergabeprinzipien angewendet und undurchschaubare Kreditverbriefungen akzeptiert werden. Damit diese Funktionen auf den Finanzmärkten möglichst gut erfüllt werden, was wegen ihrer Systemrisiken für die Gesamtwirtschaft besonders wichtig ist, müssen allerdings die ordnungspolitischen Regeln und Rahmenbedingungen sehr sorgfältig ausgewählt und langfristig in der nationalen Wirtschaftsverfassung und - weit schwierig e r - in der internationalen Finanzordnung verankert und ihre Einhaltung kontrolliert werden: — Erstens müssen die Eigentums- und Entscheidungsrechte klar definiert sein. Die Entscheidungsträger müssen für die Konsequenzen ihres Handelns haften. „ Wer den Nutzen aus wirtschaftlichem Handeln hat, muss auch potentiellen Schaden tragen" {Eucken 2004, S. 279). Wird das Haftungsprinzip rechtlich eingeschränkt oder fak-

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tisch durch staatliche Risikoübernahme („bail out") ex post beseitigt, sind Überschuldungen bzw. Kreditblasen wahrscheinlich. Ihr Platzen löst - wie die SubprimeKrise in der Gegenwart eindrucksvoll belegt - dramatische Fehlentwicklungen aus.16 — Zweitens dürfen Finanzmärkte nicht - wie z.B. im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 in Deutschland - als wettbewerbliche Ausnahmebereiche behandelt werden. Institutionelle und faktische Wettbewerbsbeschränkungen induzieren suboptimale Marktlösungen und lassen dauerhafte Marktmachtgewinne entstehen, die nicht auf Leistungen beruhen. Je umfangreicher und intensiver staatliche Regulierungsmaßnahmen angewendet werden, desto häufiger werden die Marktakteure „innovative" Umgehungsstrategien entwickeln und durchsetzen (z.B. Steueroasen, Steuersparmodelle, Kreditgeschäfte außerhalb der Bankbilanz und innovative Finanzinstrumente). — Drittens funktionieren Finanzmärkte reibungsloser, wenn auch alle anderen Faktorund Gütermärkte nach Wettbewerbsprinzipien organisiert sind. Wegen der generellen Interdependenz der Märkte werden Fehlentwicklungen auf einzelnen Strom- und Bestandsmärkten auf die Finanzmärkte übertragen und umgekehrt (z.B. die SubprimeKrise in den USA). — Viertens schließlich ist für die Stabilität der Finanzmärkte von größter Bedeutung, welche geldpolitischen Strategien die staatlichen Zentralbanken anwenden. Unabhängig davon, ob die Zentralbank eine geldangebots-(geldmengen-)orientierte oder eine zins-(preis-)orientierte Geldpolitik konzeptionell verankert hat bzw. faktisch betreibt - in beiden Fällen muss sie monetäre Schocks vermeiden. Expansive oder restriktive monetäre Schocks, also starke Veränderungen der Geldmenge oder der kurzfristigen Zinssätze, lösen zunächst auf den Vermögensmärkten, zeitlich verzögert auf den Gütermärkten Anpassungsprozesse aus. Die Effekte auf den Märkten und der Zeitbedarf der Portfolioanpassungen hängen von der Stärke der geldpolitisch ausgelösten Impulse ab: Je radikaler kurzfristige Strategiewechsel der Geldpolitik vollzogen werden, umso stärker sind die Erwartungsenttäuschungen der Marktakteure und daraus folgende Planrevisionen. Sollen Instabilitäten der Finanzmärkte vermieden werden, ist vorab die Geldpolitik der staatlichen Zentralbankmonopole selbst zu stabilisieren. Die Finanzmärkte sind das zentrale Glied in den vielfaltigen Transmissionsprozessen, die zwischen geldpolitischer Impulsauslösung und den Preis- und Mengenreaktionen auf den Gütermärkten ablaufen und einen hohen Zeitbedarf der Verhaltensanpassungen haben. Sind die ordnungspolitisch verankerten Rahmenbedingungen vernünftig (Meitzer 1971) und die geldpolitischen Prozesseingriffe dauerhaft stabil und vorhersehbar, besteht kein Anlass, an den doppelten Stabilitätseigenschaften von Finanzmärkten zu zweifeln: Finanzmarktakteure initiieren einerseits von sich aus keine dramatischen Instabilitäten, die über die - in einer dynamischen Volkswirtschaft typischen - Anpassungsflexibilitäten hinausgehen. Andererseits verfügen sie über hervorragende Fähig-

16 Röchet kommt in einer umfassenden Analyse von Bankenkrisen in Industrie- und Schwellenländem zu dem Schluss: „(• ••) the main reason behind the frequency and magnitude of recent banking crises is ... essentially the commitment problem of political authorities who are likely to exert pressure for bailing out insolvent banks." Röchet (2008, S. 33).

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keiten, exogene Impulse zügig durch Erwartungs- und Planrevisionen in stabilisierende Preis- und Mengenanpassungen umzusetzen. Worin liegen dann die Gründe für die massiven Schwierigkeiten auf den internationalen Finanzmärkten zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

IV. Ursachen: Ordnungsdefizite und Prozessversagen des Staates 1. Hat der Markt versagt? Folgt man bei der Suche nach den Ursachen der Finanzmarktkrise dem gegenwärtigen „main stream" in der politischen Diskussion, aber auch in weiten Bereichen der Wissenschaft, dann sind die Rollen klar und eindeutig verteilt: Im Finanzsektor habe das dezentrale, wettbewerbliche Marktgeschehen mit verheerenden Folgen versagt, weil unzureichende Staatskontrollen das an kurzfristigen Erfolgsindikatoren ausgerichtete Profitstreben von den an Eigeninteressen orientierten Finanzmanagern nicht eindämmen und in gesamtwirtschaftlich vernünftige Bahnen lenken konnte. Spekulanten haben die Abwesenheit effizienter Staatskontrollen zu ihrem Vorteil und zum Nachteil der Gesamtwirtschaft genutzt. Die Öffnung der Finanzmärkte in Europa und in der Welt hat das Marktversagen potenziert, weil parallel hierzu keine effizienten internationalen Regulierungs- und Kontrollbehörden geschaffen wurden. Diese weit gehende Abkehr in der öffentlichen Diskussion von den marktwirtschaftlichen Prinzipien und Wettbewerbslösungen der Allokations- und Lenkungsprobleme in komplexen Wirtschaftssystemen hat auch in der Bevölkerung das Vertrauen in Lösungspotenziale von Marktwirtschaften, in die Leistungsorientierung von Führungskräften in der Wirtschaft, insbesondere auch in die Leistungsgerechtigkeit der Einkommensund Vermögensverteilung drastisch sinken lassen.17 Diese Diskussion ist vordergründig. Sie verkennt die eigentlichen Ursachen der Finanzkrise. Die vorgeschlagenen therapeutischen Maßnahmen (z.B. Verstaatlichung der Geschäftsbanken, steuerfinanzierte Staatskredite, Höchstpreise für Top-Manager) kurieren - wenn sie überhaupt wirken - lediglich Symptome ohne die Ordnungsbedingungen auf den Finanzmärkten nachhaltig zu verbessern. Eine systematische Ursachenanalyse hat zwischen fehlerhaften langfristig geltenden Ordnungsbedingungen des Finanzmarktgeschehens einerseits und Schock auslösenden Prozessinterventionen des Staates andererseits zu unterscheiden.

2. Ordnungsdefizite durch staatliche Regulierung des Bankensektors Die Ordnungsdefizite resultieren insbesondere aus der Sonderrolle, die dem Bankensektor seit jeher in Deutschland und in anderen Ländern zugeschrieben wird. Der Bedarf 17 Das Vertrauen der Deutschen in die Soziale Marktwirtschaft schwindet zunehmend. Nur noch 51 % waren im Jahr 2009 - laut einer repräsentativen Umfrage des IPOS-Instituts im Auftrag des Bundesverbands Deutscher Banken - der Meinung, dass sich die Soziale Marktwirtschaft bewährt hat. Im Jahr 2000 waren es noch 70 % der Bundesbürger.

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an staatlicher Regulierung des Bankensektors wird begründet mit den Informationsasymmetrien zwischen Kreditanbietern und Kreditnachfragern, aber auch mit anderen diversen Risiken, die Kreditgeschäfte bergen (z.B. Marktpreis-, Ausfall-, Liquiditätsrisiken) und die sich zu einem - wie immer definierten - systemischen Risiko verdichten können. Diese Ausnahmeregelungen von den Wettbewerbsprinzipien, wie sie für den Bankensektor in Deutschland bereits im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 fixiert wurden, haben verschiedene Konsequenzen: Staatliche Regulierungen sind immer Eingriffe in die Wirkungsweise des wettbewerblichen Preissystems in Marktwirtschaften. Sie beeinflussen die relativen Preise im Finanzsektor und - wegen der Interdependenz aller Märkte - auch im realwirtschaftlichen Sektor. Hierdurch entstehen Allokations- und Verteilungseffekte, deren Ausmaß selten exakt empirisch belegt werden kann. Je intensiver und umfangreicher Regulierungsmaßnahmen sind, umso größer sind die Gefahren von Ausweichreaktionen der Finanzmarktakteure: Durch Regulierungen werden häufig spezifische Asset-Klassen (z. B. Immobilien durch begünstigte Bausparpläne, Lebensversicherungen, steuerbegünstigte Schifffahrts- oder Flugzeugfonds) oder einzelne Kundengruppen bevorzugt. Regulierungsarbitrage ist nicht selten das Motiv, neue (strukturierte) Finanzprodukte zu kreieren, die zudem wegen der Bilanzierungs- und Eigenkapitaldeckungsregeln (Basel II und seine Umsetzung in nationales Recht) häufig in Zweckgesellschaften außerhalb von Bankbilanzen gehandelt werden. Uneinheitliche Ordnungsregeln für einzelne Bankengruppen (z.B. Haftungsunterschiede zwischen öffentlichen und privaten Finanzinstituten) innerhalb eines Landes bewirken Renditeunterschiede und verfälschen den Leistungswettbewerb. Auch die Unterschiede der Rahmenbedingungen für Finanzinstitute in den verschiedenen, am internationalen Finanzmarktgeschehen teilnehmenden Ländern sorgen für regionale Wanderungsprozesse der Finanzströme und Finanzinstitute (z.B. unterschiedliche Mindestreservenregelungen in Europa vor der Währungsunion). Diese Beispiele belegen, wie bedeutsam ein halbwegs einheitlicher Ordnungsrahmen auch international für ein funktionierendes Finanzmarktgeschehen ist. In dieser Hinsicht hat die längerfristig ausgerichtete Ordnungspolitik für weltweit integrierte Finanzmärkte versagt: Die positive Entwicklung der Öffnung von Finanzmärkten in Europa und in der Welt war nicht begleitet von einer neuen Architektur der internationalen Finanzmarktordnung. Die wegen ihrer den Wettbewerb verzerrenden Effekte durchaus umstrittenen Regulierungen von Basel II wurden u.a. von den USA, die sie früher selbst angeregt haben, nicht ratifiziert. Auch die Ordnungsregeln für die Finanzaufsicht sind völlig ineffizient: In den USA kontrollieren sieben verschiedene Behörden nach völlig unterschiedlichen Kriterien die Geschäfte der Finanzinstitutionen - wie die jüngste Vergangenheit zeigt - mit wenig Erfolg. In Deutschland haben die Bundesanstalt fiir Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) und die Deutsche Bundesbank seit der Währungsunion um Kompetenzen gestritten. Rating-Agenturen und Hegde Funds blieben bislang außerhalb der Finanzaufsicht, obwohl sie das Finanzmarktgeschehen sehr stark beeinflusst haben. Diese kritische Sicht der Rahmenbedingungen betreffen die Art und Intensität der Regeln für die Finanzmärkte. Keineswegs wird damit die Notwendigkeit von vernünftigen Rahmenbedingungen, von Ordnungsregeln für die Finanzmärkte bestritten. Sie sind - ebenso wie für den realwirtschaftlichen Sektor - das Fundament von Wettbewerbs-

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Prozessen. Gerade deshalb müssen sie sehr sorgfältig ausgewählt und immer wieder empirisch überprüft werden, wenn dauerhafte Fehlentwicklungen - bis hin zu systemgefährdenden Finanzkrisen - vermieden werden sollen.

3. Mangelnde Haftung Ein zweites Bündel von Ordnungsdefiziten, das die Krise auf den Finanzmärkten wesentlich ausgelöst hat, resultiert aus verschiedenen Haftungsbeschränkungen der Marktakteure: Wenn Kreditnehmer wie auf den Immobilienmärkten in den USA lediglich mit der kreditierten Immobilie und nicht mit dem gesamten Vermögen haften, sind die Sanktionsmöglichkeiten sehr stark eingeschränkt. Dies beeinflusst das Marktverhalten der Akteure. Der fehlende Durchgriff auf das Gesamtvermögen reduziert ihr Risikobewusstsein und die bei privatem Eigentum und voller Haftung sehr effiziente Selbstkontrolle aus Eigeninteresse.18 Die Haftungsbeschränkungen begünstigen zudem den Aufbau komplexer Strukturen beim Kreditrisikotransfer. Die mit Qualitätssiegeln der Rating-Agenturen versehenen und mehrfach strukturierten Finanzprodukte wie Collateralized Debt Obligations sind für den Anleger völlig undurchschaubar.19 Relativ hohe Renditeversprechen schränken den Drang nach besserer Information ein. Auch die sehr stark eingeschränkte Haftung der Manager von Finanzinstitutionen reduziert deren Risikobewusstsein. Dies gilt auch für die Aufsichtsräte von privaten und Verwaltungsräte von öffentlichen Banken. Sie haben lange Zeit fehlerhafte Anreizsysteme für Manager toleriert, die ihre Entscheidungen wegen des hohen Anteils variabler Vergütungen an kurzfristigen Renditeindikatoren orientiert haben.

4. Prozesspolitische Fehlentwicklungen Diese Ordnungsdefizite, die der Staat zu verantworten hat, haben das beobachtbare Fehlverhalten auf den Finanzmärkten begünstigt. Sie allein können allerdings die Dramatik der Finanzkrise seit 2007 nicht vollständig erklären. Hierfür ist es notwendig, die finanz- und insbesondere die geldpolitischen Prozesseingriffe des Staates bzw. der Zentralbank heranzuziehen. Das Zusammenspiel zwischen den fehlerhaften Rahmenbe18 In der Praxis zieht ein Hausbesitzer in den USA, der seinen Hypothekarkredit nicht mehr bedienen kann, aus dem Haus aus, steckt die Haustürschlüssel in ein Kuvert und schickt ihn an seine Bank (,jingle mail"). Zwar droht kurzfristig ein Verlust der Kreditwürdigkeit, durch zuverlässige Zahlungen von Kreditkartenrechnungen kann das persönliche Rating aber rasch wieder verbessert werden. Die mangelnde Haftung für Hypothekenkredite begünstigte nicht nur das Subprime-Segment, sondern auch den spekulativen Erwerb von Immobilien. Spekulative Marktteilnehmer, die keine oder geringe Eigenmittel investieren, werden bei sinkenden Immobilienwerten keinen Sinn darin sehen, weitere Zins- und Rückzahlungen zu leisten. Man verliert im schlimmsten Fall seinen geringen Eigenmittelanteil und akzeptiert kurzfristig eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit. Bei steigenden Immobilienpreisen können spekulative Marktteilnehmer hingegen von der Marktentwicklung profitieren. Die steuerliche Abzugsfähigkeit der Kredite forcierte zudem die Fremdkapitalaufhahme für den spekulativen Erwerb einer Zweit- oder Drittimmobilie. 19 In der Praxis bestand der Forderungspool eines CDOs beispielsweise wiederum aus anderen CDOs (squared CDO; CDOA2) und diese resultierten möglicherweise wiederum aus weiteren Vehikeln (cubed CDO; CDOA3).

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dingungen im Finanzsektor und den staatlichen „stop and go"-Strategien folgenden Prozessinterventionen hat die Finanzmarktkrise einerseits und den zeitlich parallelen Konjunktureinbruch andererseits verursacht.

Fehlanreize im Steuersystem Hervorzuheben sind einmal die Verzerrungen in den Steuersystemen der einzelnen Länder. Sie haben ausgewählte Vermögensgüter steuerlich begünstigt (z. B. steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten im Bau- oder Verkehrssektor). Dadurch wurden steuermotivierte Überschussnachfragen auf den jeweiligen Märkten, Preisblasen und Überkapazitäten in den betreffenden Branchen etabliert. Die Immobilienblasen in den USA, aber auch in Großbritannien und in Spanien sind ein eindrucksvoller Beleg für solche durch staatliche Prozesseingriffe verursachte Fehlentwicklungen. In den USA hat das Steuersystem zudem die Kreditaufnahme und Kreditfinanzierung von Immobilien begünstigt, wodurch das Subprime-Segment in 2003/2004 drastisch expandierte mit den bekannten Konsequenzen von Zwangsversteigerungen und Insolvenzen, die noch über 2009 hinaus anhalten werden.20

Die Folgen einer unstetigen Geldpolitik Zentraler Auslöser der Kreditmarktkrise war die Geldpolitik in den USA. Für die US-Zentralbank (Federal Reserve System-, FED) existiert bis heute keine klare Zielhierarchie.21 Neben der Inflationsvermeidung verfolgt die FED auch realwirtschaftliche Ziele (z.B. reales Wirtschaftswachstum, hohe Beschäftigung), die langfristig nicht durch geldpolitische Maßnahmen verwirklicht werden können. Die Abbildungen 4 und 5 verdeutlichen eindrucksvoll, wie die US-Notenbank ihre zinspolitischen Entscheidungen in Abhängigkeit von der Höhe der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate seit Anfang der 1990er Jahre mehrfach revidiert hat.

20 Die Ausgestaltung des US-Steuerrechts veränderte die Finanzierungspraxis beim Erwerb von Immobilien. Überschreitet die Fremdfinanzierungsquote 80 % des Immobilienwertes, ist in den USA traditionell der Abschluss einer Ausfallversicherung (PMI; „private mortgage insurance") erforderlich, die bis zum Jahr 2007 nicht steuerlich abzugsfahig war und deren volle Abzugsfahigkeit auch danach an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Aus diesem Grund ging man dazu über, bei hohen Fremdfinanzierungsquoten neben einem ersten Hypothekenkredit (80 %) simultan einen zweiten (nachrangigen) Kredit („piggyback loan") aufzunehmen, mit dem man eine PMI vermeiden konnte. Beim Vergleich der beiden Finanzierungsformen führte die steuerliche Abzugsfahigkeit des zweiten Kredites häufig zu Kostenvorteilen gegenüber der Versicherungslösung. Während bei der traditionellen Finanzierung mit PMI üblicherweise ein Eigenanteil beim Immobilienerwerb erforderlich war, führte die „piggyback loan"-Finanzierung häufig zu einer vollständigen Fremdfinanzierung („80/20 loan"). 21 Im Federal Reserve Act von 1977 wird die Mehrzielorientierung ,jnaximum employment, stable prices, and moderate long-term interest rates" der US-Notenbank deutlich und begründet in konjunkturellen Abschwungphasen die starke Orientierung von geldpolitischen Maßnahmen an der Stabilisierung der Beschäftigungslage (Görgens, Ruckriegel und Seitz 2008, S. 82f).

Finanzmarktskrise: Marktversagen oder Staatsversagen?

Abb. 4: Entwicklung der Leitzinsen und der Inflationsrate in den USA in v.H.

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Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

Abb. 5: Entwicklung des Leitzinsen und der Arbeitslosenquote in den USA in v.H.

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Quelle. Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

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Wie die monetäre Transmissionstheorie belegt (siehe beispielsweise Thieme und Vollmer 1987), sind allerdings durch expansive (restriktive) geldpolitische Maßnahmen kurzfristig positive (negative) transitorische realwirtschaftliche Effekte zu erwarten, die sich schon mittelfristig wieder abbauen.22 Diese Wirkungsketten begründen, weshalb Politiker und Bürokraten die Geldpolitik immer wieder zu nutzen versuchen, um kurzfristig verschiedene monetäre oder reale gesamtwirtschaftliche Ziele zu verwirklichen. Daraus resultieren zyklische, unstetige Verlaufsmuster geldpolitischer Aktivitäten, unabhängig davon, an welchen monetären Indikatoren (Wachstumsraten diverser Geldaggregate oder kurzfristige Zinssätze) sie gemessen werden. Das gilt insbesondere für die Geldpolitik der US-Notenbank, die unter Alan Greenspan bis 2004 zunächst eine sehr expansive Geldpolitik betrieben hat: Die kurzfristigen, von der Zentralbank gesteuerten nominalen Zinssätze (siehe Abbildung 6) lagen über Jahre bis Mitte 2004 nahe 1 % und haben so den Kreditboom ausgelöst (vgl. auch Fleckenstein und Sheehan 2008). Aus Furcht vor einer - selbst verschuldeten - Immobilienblase und starken Inflationspotenzialen hat die FED ab Mitte 2004 die Zinssätze in 17 Trippelschritten sehr zügig von 1% auf 5,25 % erhöht. Diese äußerst scharfe monetäre Restriktion hat nicht nur die Kreditmarktkrise, insbesondere im Subprime-Segment, und zahlreiche Insolvenzen von Geschäftsbänken ausgelöst. Die restriktive Geldpolitik, die bis Mitte 2007 anhielt, hat auch die seit Ende 2007 einsetzende scharfe realwirtschaftliche Rezession in den USA verursacht. Die Furcht vor einem Zusammenbruch der Kreditmärkte und vor einer tiefen und anhaltenden Depression hat die FED, nun unter Ben Bernanke, veranlasst, seit Ende 2007 eine erneute Wende in der Zinspolitik einzuleiten, die den Leitzinssatz von 5,25 % bis Dezember 2008 drastisch absenkte. Die angekündigte Range für die Federal Funds Target Rate beträgt seitdem 0,00 bis 0,25 % (Stand: Juni 2009). Damit hat sie auch die Voraussetzung für einen zeitverzögerten Konjunkturaufschwung in 2010 geschaffen. Abb. 6: Entwicklung der Leitzinsen in den USA in v.H. Su bp rime-Kris e ab 2007

Fed Funds Rate

Discount Rate (Primary Credit Rate)

Fed Funds Target Rat«

Krise auf den Bondmärkten im Jahr 1994

Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 Jahr

Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

22 Eine vollständige Übersicht denkbarer Übertragungskanäle findet sich bei Mishkin (2007, Kapitel 24, S. 607 ff.).

Finanzmarktskrise: Marktversagen oder Staatsversagen?

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Die EZB hat ihre Geldpolitik - im Vergleich zu den USA - moderater gestaltet (siehe Abbildung 7). Die Wachstumszyklen diverser Geldmengenaggregate und die geldpolitisch verursachten Schwankungen der Interbankensätze waren weniger ausgeprägt als in den USA. In 2008 hat die EZB ein stärkeres Geldbasiswachstum zugelassen als die FED und damit die vermeintliche Kreditklemme bei den Geschäftsbanken durch „fresh money" reduziert. Sie hat damit allerdings die teilweise völlig unzureichenden Kreditwürdigkeitsprüfungen der Geschäftsbanken in der Vergangenheit nachträglich sanktioniert. Sowohl für die USA wie für die Europäische Währungsunion weisen die Daten seit dem Oktober 2008 bis zum Frühsommer 2009 auf ein extrem hohes Geldbasiswachstum hin. Dies resultiert offensichtlich aus der - auch von einigen Ökonomen geäußerten - Furcht vor einem massiven und dauerhaften realwirtschaftlichen Einbruch, begleitet von einer Deflation. Wenn der monetäre Expansionskurs weiter anhält, wird die Konjunktur zwar wieder angekurbelt, aber zugleich ein neuer Inflationszyklus initiiert. Das mittel- und langfristige Inflationspotenzial - gemessen an der Entwicklung der Geldmenge M2 - ist bereits gegenwärtig in der Eurozone massiv angestiegen (Abbildung 8) Abb. 7: Entwicklung der Leitzinsen in der Eurozone

Jahr Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

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Abb. 8: Entwicklung der Geldmenge M2 und der Inflation in der Eurozone in v.H. 12,0 Die Zeitreihen basieren auf einem gleitenden Durchschnitt von 36 Monaten für die jährlichen Änderungsraten der Geldmenge M2 bzw. des Preisindex der Lebenshaltung. Ferner wird eine Wirkungsverzögerung von ca. 2 Jahren unterstellt. Aus diesem Grund wurde die Geldmengenreihe um zwei Jahre nach rechts verschoben. Femer wird eine Geldmengenausweiturg von 350 Basispunkten i. S. der Fish er-Relation aIsi nflatbnsneutral unterstellt.

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Jahr Quelle: Thomson Financial Datastream und eigene Berechnungen

Damit sind die wichtigsten Ursachen der Finanzmarktkrise beschrieben: Die Politik hat versagt bei der ordnungspolitischen Gestaltung der längerfristigen Rahmenbedingungen, die in Abhängigkeit vom Finanzmarktgeschehen im Zeitablauf immer wieder sorgfaltig überprüft und gegebenenfalls angepasst werden müssen. Neben diesen Ordnungsdefiziten haben die finanz- und geldpolitischen Prozesseingriffe jene Kreditmarktprobleme verursacht, die sie nun durch hektisches Gegensteuern zu bekämpfen versuchen. Vor dem Hintergrund dieser Ursachenanalyse ist nunmehr zu prüfen, was von den in der Öffentlichkeit diskutierten, täglich neuen Lösungsvorschlägen zur Finanzmarktkrise zu halten ist. Welche kurzfristigen Sanierungsstrategien können das Vertrauen der Marktakteure in die Finanzinstitutionen zügig wiederherstellen ohne die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Systems dauerhaft zu beschädigen? Welche ordnungspolitischen Reformen sind notwendig, um die aufgezeigten Ordnungsdefizite und die daraus resultierenden Verhaltensweisen der Finanzmarktakteure zu beseitigen?

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V. Therapievorschläge 1. Ansätze zur Überwindung der aktuellen Krise Beseitigung kurzfristiger Liquiditätsengpässe Die Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 war aus Sicht vieler Beobachter eine wichtige Eskalationsstufe der Finanzkrise. Die mangelnde Bereitschaft der US-Regierung, einen der „Big Player" auf den internationalen Finanzmärkten vor der Insolvenz zu retten, führte zu einem massiven Vertrauensverlust zwischen den Kreditinstituten.23 Angesichts der mangelnden Transparenz über die vorhandenen Risikopotenziale innerhalb und außerhalb der Bankenbilanzen führte das gegenseitige Misstrauen zeitweilig zu einem fast völligen Zusammenbruch der Märkte für kurzfristige, ungesicherte Kredite (Interbankenmärkte). Die auftretenden Liquiditätsengpässe zwangen die Notenbanken in der Folgezeit, die Liquiditätsversorgung durch eine massive Ausweitung der Geldbasis sicherzustellen und damit ihre Aufgabe als „lender of last resort" wahrzunehmen. Da die Bereitstellung über die Absenkung der Leitzinssätze erfolgte, wurden die zinspolitischen Spielräume weitgehend ausgereizt und zwingen Notenbanken zum Einsatz alternativer Instrumente, wie den Ankauf von Staatsanleihen.24 Die Spätfolgen dieser expansiven Geldpolitik spiegeln sich in einem drastischen Anstieg der Inflationspotenziale wider und können bereits heute die Grundlage für kommende Finanzkrisen legen.25 Zudem sind diese Maßnahmen ungeeignet, die Überschuldungsgefahr der Kreditinstitute zu beseitigen, da sich die ausfallgefährdeten Wertpapiere weiterhin in den Bankbilanzen befinden, damit ihre Bewertung und demzufolge auch der Abschreibungsbedarf sowie die Effekte auf die Eigenkapitalausstattung unsicher bleiben.

23 Lehman Brothers gehörte zu einer Gruppe von ca. fünfzehn Finanzinstituten, die als „large complex financial institutions" (LCFI) eingestuft wird. Diese Institute spielen auf den internationalen Finanzmärkten - gemessen an der Konsortialfuhrerschaft bei Wertpapieremissionen, der Bereitstellung derivativer Produkte, im M&A-Geschäft, im FX-Handel usw. - eine exponierte Rolle {Marsh, Stevens und Hawkesby 2003). 24 Im März 2009 kündigte die US-Notenbank an, langlaufende US-Staatsanleihen im Volumen von bis zu 300 Mrd. USD anzukaufen. Zudem würden weitere forderungsbesicherte Wertpapiere im Wert von bis zu 750 Mrd. USD in die Notenbankbilanz aufgenommen. Darunter fallen Papiere, die mit Hypotheken oder Studentenkrediten hinterlegt sind. Die Europäische Zentralbank hat im Juni 2009 darauf hingewiesen, dass sie Pfandbriefe im Volumen von bis zu 60 Mrd. EUR auf den Primär- und Sekundärmärkten ankaufen wird, um die Liquidität des Finanzsystems sicherzustellen. 25 Der Renditeverfall auf den Märkten für langfristige Staatsanleihen lässt sich mit dem verstärkten Engagement der Anleger in sicheren Anlageformen und kurzfristigen Deflationserwartungen erklären. Sobald die Risikoaversion der Marktteilnehmer sinkt und zugleich das inflationsbedingte Risikopotenzial von Staatsanleihen in das Bewusstsein der Anleger rückt, dürften sich die Substitutionsprozesse umkehren und zu einem massiven Kursverlust auf den Rentenmärkten führen.

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Staatsgarantiert und Staatsbeteiligungen an Finanzinstituten Angesichts des drastischen Vertrauensverlustes auf den Finanzmärkten wurde sehr rasch nach der Insolvenz von Lehman Brothers seitens der Politik signalisiert, dass künftig keine „systemrelevante" Bank zusammenbrechen wird. Die Ankündigungen bestanden nicht nur in einer allgemeinen Zusicherung, sondern spiegeln sich auch in der konkreten Umsetzung bei der Übernahme von Bürgschaften für neuemittierte Bankschuldverschreibungen, bei einer umfassenden Einlagensicherung sowie einer staatlichen Beteiligung an den Kreditinstituten wider, die im Extremfall bis zur vollkommenen Verstaatlichung fuhren könnte.26 Zwar verzichtete die Politik auf die konkrete Benennung systemrelevanter Banken, die „too big to fail" sind, und wies daraufhin, dass durch die verbleibende Unsicherheit die Sanktionsmechanismen des Marktes weiterhin greifen und deshalb trotz der gegebenen Staatsgarantien eine ausreichende Anreizkompatibilität besteht. Letztlich wird aber der Kreis nicht systemrelevanter Banken in vielen Ländern stark eingegrenzt sein. In Deutschland dürften nur wenige Regional- und Privatbanken nicht systemrelevant sein. Die Rettungsmaßnahmen für die vergleichsweise kleine IKB Deutsche Industriebank AG liefert Hinweise für eine Untergrenze (die Konzernbilanzsumme betrug im Frühjahr 2007 ca. 52 Mrd. EUR). Volksbanken und Raffeisenbanken sowie die Sparkassen werden im Fall einer Schieflage durch ihre jeweiligen Verbundsysteme abgesichert, die aufgrund ihrer Größe wiederum kaum als konkursfahig klassifiziert werden können. Die verbleibende Unsicherheit auf den Märkten dürfte deshalb weniger darin bestehen, dass die Marktteilnehmer Zweifel an der generellen staatlichen Bereitschaft zur Bankenrettung haben als vielmehr Bedenken an der finanziellen Belastbarkeit öffentlicher Haushalte. Der rasche Anstieg der Zinsspreads zwischen den Staatsanleihen einiger Länder der Eurozone und vergleichbaren deutschen Bundesanleihen sind ein deutlicher Beleg für die Einschätzung der Marktteilnehmer. Die Forderungen nach direkten Beteiligungen des Staates an den Banken, die in der Öffentlichkeit häufig breite Zustimmung finden und mit den verbesserten Kontroll- und Einflussmöglichkeiten begründet werden, muten angesichts der Ertragsentwicklung öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute in den letzten Jahrzehnten besonders kurios an. Nach dem Ende der industriepolitischen Ausrichtung vieler deutscher Landesbanken als verlängerter Arm der jeweiligen Landesregierung war es nicht gelungen, tragfähige Geschäftsmodelle für diese Institutsgruppe zu entwickeln. Angesichts der schwachen Ertragssituation nahmen die Landesbanken nahezu zwangsläufig zusätzliche Risiken auf ihre Bücher, die bereits vor der Finanzkrise massive Verluste begründeten.27 All dies geschah unter der Kontrolle von (ehemaligen) politischen Entscheidungsträgern in Leitungspositionen und in den Verwaltungsräten der Banken. Die Finanzkrise hat dies mit

26 Anfang April 2009 wurde in Deutschland das sog. Rettungsübernahmegesetz verabschiedet, das bei der geplanten Verstaatlichung auch die Enteignung von Altaktionären vorsieht. Das Gesetz ist befristet und zugeschnitten auf eine Übernahme der Hypo Real Estate („Lex HRE"), bei der sich der Großaktionär Flowers weigerte, seine Anteile mit großen Preiszugeständnissen zu verkaufen. 27 So führte beispielsweise das Engagement der Westdeutschen Landesbank Girozentrale (WestLB) beim britischen TV-Geräteverleiher Boxclever bereits im Jahr 2003 zu einem mehrere Hundert Millionen Euro umfassenden Wertberichtigungsbedarf.

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ihren massiven Schieflagen bei den Landesbanken, für die letztlich der Steuerzahler unmittelbar die Verantwortung übernehmen musste, nochmals eindrucksvoll bestätigt. Staatliche Beteiligungen bei Banken bergen auch in Zukunft die Gefahr, dass die Politik in die Allokationsprozesse der Märkte eingreifen wird. Bereits frühzeitig wurde gefordert, dass nach dem Einstieg des Staates eine verstärkte Ausrichtung auf die Finanzierung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, die das „Rückgrat" der deutschen Wirtschaft darstellen, erfolgen sollte. Diese von der Öffentlichkeit gut nachvollziehbare und populäre Forderung vergisst allerdings, dass traditionell die Sparkassen und Kreditgenossenschaften den Mittelstand mit Krediten versorgen („ (Liquiditäts-) Tankstelle des Mittelstandes", Paul 2009, S. 1) und viele andere Banken in den letzten Jahren versuchten, in dieses Segment vorzustoßen. Insoweit ist die Wettbewerbsintensität in diesem Markt bereits heute sehr hoch und würde beim Auftreten neuer Wettbewerber einen politisch vermutlich nicht erwünschten Verdrängungswettbewerb initiieren. Ferner besteht die Gefahr, dass weitere, nicht-ökonomische Ziele Eingang in die Kreditvergabeentscheidungen finden. Bereits heute wird die Forderung laut, die Kreditvergabe auch nach ökologischen Gesichtspunkten vorzunehmen. In Abhängigkeit von den politischen Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern dürfte dieses Entscheidungsszenario künftig an Relevanz gewinnen. Bei einer staatlichen Beteiligung des Staates an den Banken muss auch eine deutlich erkennbare Exit-Strategie existieren, die zurzeit weder in Sicht ist noch ausreichend diskutiert wird. Klar ist lediglich, dass im Fall staatlicher Beteiligungen das Konkursrisiko der betroffenen Institute minimiert wird. Der politische Druck - insbesondere auch unter dem Aspekt des Arbeitsplatzerhalts - dürfte so groß sein, dass eine Insolvenz nicht in Frage kommt. Die sukzessive Bekanntgabe neuer Risiken und damit neuer finanzieller Belastungen würden zwar in der Öffentlichkeit heftig diskutiert, letztlich aber vom Steuerzahler finanziert.

Effiziente Lösungen der Finanzmarktkrise Weder eine expansive Geldpolitik noch die zuvor beschriebenen Staatsgarantien und Staatsbeteiligungen sind geeignet, die Finanzkrise rasch zu überwinden. Die volle Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte setzt voraus, dass die Banken ihre traditionellen Intermediationsleistungen wieder ohne Restriktionen erfüllen können. Die Fähigkeiten lassen sich nur wieder herstellen, wenn die ausfallgefahrdeten Wertpapiere (Problemaktiva, „toxische" Papiere) zeitnah und eigenkapitalschonend aus den Bankbilanzen entfernt bzw. in den Bilanzen neutralisiert werden.28 Aus Sicht der Wirtschaftspolitik sollten dabei Nebenbedingungen erfüllt sein: — Erstens dürfen die Hilfsmaßnahmen zu keiner nachhaltigen Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte führen und damit künftige Generationen belasten. — Zweitens muss eine ggf. erforderliche Liquiditätsversorgung der Finanzinstitute mit dem Ziel der Preisniveaustabilität kompatibel sein.

28 Die Kreditrisiken resultieren inzwischen allerdings nicht mehr allein aus den „toxischen" Wertpapieren, sondern zeigen sich - angesichts der konjunkturellen Eintrübung - im zunehmenden Maße auch bei traditionellen Krediten (IMF 2009).

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— Drittens muss die Gefahr von Fehlallokationen auf den Finanzmärkten minimiert werden, d.h. die Informationseigenschaften der relativen Preise sowie die Sanktionsmechanismen der Märkte dürfen nicht eingeschränkt werden. — Viertens müssen die gewählten Maßnahmen eindeutig und zeitlich befristet sein. Den Marktakteuren muss unmissverständlich signalisiert werden, dass für die gewählte Lösung lediglich ein enges Zeitfenster geöffnet wird, das in Zukunft nicht mehr existiert, und deshalb Moral Hazard nahezu unmöglich ist. — Fünftens dürfen die betroffenen Finanzinstitute nicht dauerhaft aus ihrer Haftung für die aktuellen Fehlentwicklungen entlassen werden. Es soll lediglich eine zeitliche Streckung der finanziellen Belastungen angestrebt werden. Eine Möglichkeit zur raschen Bereinigung der Bankbilanzen wäre die Implementierung von „Bad Banks". Die Problemaktiva werden in eine spezielle Gesellschaft ausgelagert, die entweder durch den privaten Sektor oder durch den Staat refinanziert wird. Der Refinanzierungsbedarf hängt davon ab, zu welchem Preis die Wertpapiere von den Banken übernommen werden.29 Dieser Bewertungsaspekt wird von Kritikern als zentrales Problem beim Aufbau von Bad Banks angesehen, da für viele strukturierte Finanzprodukte zurzeit keine ausreichende Marktliquidität existiert und demzufolge eine zuverlässige Marktbewertung unmöglich erscheint. Auch eine Bewertung mithilfe von Modellrechnungen („mark to model") ist angesichts der Instabilität vieler Bewertungsparameter nicht zielführend, zumal die Finanzinstitute den Anreiz haben, die Problemaktiva im Fall der Auslagerung überhöht zu bewerten. Die Kritik verkennt allerdings die Tatsache, dass jede Lösung den kurzfristigen Wertberichtigungsbedarf und damit die Eigenkapitalbelastung der Banken minimieren muss. Vor diesem Hintergrund ist die Herauslösung der Wertpapiere zum Buchwert eines spezifischen Stichtages sinnvoll und vermeidet zunächst das kritisierte Bewertungsproblem. Hier setzt allerdings ein zweiter Kritikpunkt an: Bei einer Übernahme zum Buchwert müssen die Kreditinstitute nicht für ihre Fehlentscheidungen in der Vergangenheit haften, demzufolge ist die „Bad Bank"-Lösung nicht anreizkompatibel. Dieser Kritikpunkt lässt sich entkräften, wenn die Konstruktionsmerkmale der Bad Bank eine zeitliche Streckung der Haftung integrieren.30 Bei der praktischen Ausgestaltung von Bad Banks gibt es sicherlich eine Reihe weiterer Probleme (beispielsweise die Zustimmung der EU-Kommission, die Diskussion über eine zentrale oder dezentrale Lösung etc.), die sich aber durchaus lösen lassen.31 Alternativ bietet sich der Verbleib der Problemaktiva in den Bilanzen der Finanzinstitute an („on balance"-Lösung). Den Banken wird in einem Zeitfenster von wenigen Wochen die Möglichkeit eingeräumt, für ihre ausfallgefährdeten Wertpapiere Sonderpositionen in den Bilanzen einzurichten. Die toxischen Papiere werden zu einem Stich-

29 Unabhängig von den Bewertungsmodalitäten dürfte der Refinanzierungsbedarf allerdings so hoch sein, dass letztlich nur eine staatliche Lösung in Frage kommt. 30 Paul (2009) schlägt beispielsweise eine Lösung über Besserungsscheine vor, durch die die Finanzinstitute zu späteren Ausgleichszahlungen verpflichtet werden, wenn die an eine staatsfinanzierte Bad Bank übertragenen Problemaktiva am Laufzeitende einen geringeren Restwert als den Übernahmepreis generieren. Diese Lösung würde auch die Gefahr einer bewussten Fehlbewertung seitens der Institute minimieren. 31 Zu den Detailproblemen siehe beispielsweise Joebges und Krieger (2009). Eine ausführliche Übersicht denkbarer Bad Bank Varianten findet man in einer Publikation der DZ Bank (2009).

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tag „mark to market" bewertet, mit diesem Wert in die Bücher genommen und weiterhin täglich bewertet.32 Die Bewertungsdifferenz zwischen dem Buchwert und dem Marktwert zum Stichtag wird hingegen den Sonderpositionen zugeführt. Für diese Posten werden längerfristige Abschreibungsmöglichkeiten eingeräumt, die sich entweder an der verbleibenden Laufzeit der Problemaktiva oder aber an festen Zeiträumen orientieren können.33 Mithilfe dieser „Bilanzlösung" bleiben die toxischen Wertpapiere weiterhin für alle Marktteilnehmer sichtbar und vollständig in der Verantwortung der betroffenen Bank. Für die Banken besteht kein Anreiz, ihre Problemaktiva überhöht zu bewerten, da sie damit ihren Abschreibungsspielraum reduzieren. Auch die Gefahr einer Unterbewertung der Aktiva kann ausgeschlossen werden, wenn eine zeitnahe Zuschreibung bei den wertbereinigten Papieren erfolgt. In der Gewinn- und Verlustrechnung der Folgejahre würden diese Zuschreibungen überhöhte Abschreibungen neutralisieren. Jede Bank verwaltet weiterhin ihre eigenen Problemaktiva, die Frage nach den Kosten für den Aufbau und den Betrieb einer Bad Bank stellt sich bei dieser Lösung nicht. Zwar lassen sich einerseits bei dieser institutsspezifischen Lösung potenzielle Skaleneffekte einer großen Bad Bank {Paul 2009) nicht nutzen, andererseits ergeben sich aber auch keine zusätzlichen Informationskosten, die zumindest einmalig bei einem Transfer auf die Bad Bank entstehen. Anzumerken bleibt, dass auch für die Berechnung des regulatorischen und ökonomischen Eigenkapitals Sonderregelungen erforderlich wären, um einen übermäßigen Anstieg der aktuellen Eigenkapitalanforderungen zu limitieren (zu den Anforderungen siehe Schulte-Mattler und Gaumert 2008). Da die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger in vielen Ländern eine generelle Erhöhung der Eigenkapitalunterlegung bei Finanzinstituten anstreben, könnte diese Sonderbehandlung bei den Berechnungsmodalitäten allerdings vergleichsweise bescheiden ausfallen. Festzuhalten bleibt schließlich, dass der Lösungsvorschlag vorhandene Liquiditätsverspannungen bei den Banken nur mittelfristig - durch den sukzessiven Verkauf der wertbereinigten Problemaktiva - auflösen kann. Die vorgeschlagene „Bilanzlösung" belastet nicht die Steuerzahler, verursacht nur geringe (Bürokratie-)Kosten außerhalb der Bank und belässt die Verantwortung für die Problemaktiva dort wo sie entstanden, bei den Finanzinstitutionen. Die betroffenen Finanzinstitute können zwar die Lasten ihrer Fehlentscheidungen langfristig strecken, dennoch werden die Sanktionsmechanismen der Märkte greifen. Die Abschreibungslasten der kommenden Jahre werden sich auch in den Aktienkursen und den Refinanzierungskonditionen dieser Institute niederschlagen und ihre Stellung im Wettbewerb nicht einfacher machen. Dies ist aber auch gewünscht, weil sich gegenwärtig der Eindruck verstärkt, dass staatliche Rettungsmaßnahmen eher geeignet sind, die Wett-

32 Für den Fall, dass eine Marktbewertung nicht möglich ist, kann alternativ eine Bewertung „mark to model" erfolgen. 33 Die zweite Variante ist insbesondere dann zu präferieren, wenn der Umfang der Problemaktiva mit kurzen Restlaufzeiten die Bilanzen dominiert. Denkbar ist auch eine Staffelung der Sonderpositionen mit Laufzeiten von 5, 10 oder 20 Jahren, die über die eigentliche Restlaufzeit hinausgehen können. Bei Fälligkeit der Papiere müsste dann die Sonderposition in Abhängigkeit vom Restwert der Papiere ggf. nochmals nach oben oder unten angepasst werden.

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bewerbsposition gegenüber unbelasteten Instituten - wie kleinen Kreditgenossenschaften und Sparkassen - zu verbessern.34

2. Vermeidung zukünftiger Finanzmarktkrisen Spätestens seit der Verschärfung der Finanzkrise im Herbst 2008 werden zahlreiche Regulierungsvorschläge zur Neuordnung des internationalen Finanzsystems diskutiert.35

Harmonisierung der Regulierung im Finanzsektor Es wird kritisiert, dass die Regulierungsinstitutionen in vielen Ländern zu schwach oder zu stark zersplittert sind und die Finanzinstitute einer unterschiedlichen Regulierungsintensität unterliegen. Folglich können die Aufsichtsbehörden Finanzkrisen weder vermeiden noch bekämpfen und den Marktteilnehmern wird ein breiter Spielraum für Regulierungsarbitrage eingeräumt.36 Die Schaffung gleicher Regulierungsbedingungen („level playing field") erscheint deshalb auf der nationalen Ebene erstrebenswert. Ob hingegen eine umfassende internationale Harmonisierung angestrebt werden soll, ist fraglich. Sofern man sich nur auf Mindeststandards einigt, besteht sicherlich die Gefahr der Regulierungsarbitrage, ob dies aber zwangsläufig zu einem Regulierungswettbewerb zwischen den Ländern mit einem „race to the bottom" führt, ist eher unsicher. Die Regulierung von Banken verursacht aus Sicht der Wirtschaftspolitik nicht nur Kosten (sinkende Anteile auf den internationalen Finanzmärkten) sondern ist auch nutzenstiftend: die Stabilität des nationalen Finanzsystems hat den Charakter eines öffentlichen Gutes. Auch aus Sicht von Banken macht es wenig Sinn, in Ländern zu operieren, deren Finanzstabilität aufgrund mangelnder Regulierung permanent gefährdet ist. Wettbewerbsnachteile wären erst dann zu befürchten, wenn die Regulierungsmaßnahmen über das für die Finanzstabilität hinausgehende Maß intensiviert werden. Im Ergebnis minimiert hingegen der Wettbewerb zwischen den Ländern die Gefahr einer Überregulierung. Bei einer internationalen Harmonisierung der Vorschriften besteht stattdessen die Gefahr einer zu hohen Regulierungsintensität, da sich kein Finanzinstitut den Beschränkungen entziehen kann und die Wirtschaftspolitik im Zweifelsfall das Regelwerk „überdimensioniert". Auch die Gefahren bei einer harmonisierten, aber „fehler-

34 So lassen sich in Deutschland die Zahlungen aus dem Bankenrettungsfonds für die Eingliederung der Dresdner Bank in den Commerzbank-Koraern nur schwer vermitteln. Aus Sicht vieler Beobachter (und scheinbar auch der EU-Kommission) finanziert letztlich der Steuerzahler die Übernahmekosten, die die Commerzbank selbst nicht mehr „stemmen" konnte. Unterstellt man, dass die Übernahme der Dresdner Bank die gewünschten Synergieeffekte hebt und ein zweiter - von der Politik gewünschter nationaler Champion neben der Deutschen Bank entsteht, dürfte sich die Situation für die Mitbewerber sowohl in den Ballungsgebieten als auch in der Fläche deutlich verschärfen. 35 Die Beschlüsse beim Treffen der G20-Länder Anfang April 2009 blieben allerdings - entgegen den Erwartungen oder Befürchtungen - recht vage. Neben einer Absichtserklärung, die Schwellenländer mit bis zu 1100 Mrd. USD (davon 750 Mrd. USD über den IMF) in den kommenden Jahren zu unterstützen, beschränkten sich die Beschlüsse auf eine Stärkung des Internationalen Währungsfonds (IMF) und die verbesserte Kontrolle von Hegde Funds. 36 Regulierungsarbitrage war die zentrale Triebkraft für die rasante Entwicklung bei komplexen Verbriefungsstrukturen in den letzten Jahren.

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haften" Regulierung sind nicht zu unterschätzen. 37 Die Forderung, für die größten Finanzgruppen eine internationale Finanzaufsicht, beispielsweise beim Internationalen Währungsfonds (IMF) anzusiedeln, ist ebenfalls kritisch zu bewerten. 38 Weder ist sichergestellt, dass eine derartige Behörde effizient arbeitet, noch besteht die Garantie, dass die einzelnen Länder bereit sind, ausreichende Kompetenzen abzugeben. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller zu sein, den Informationsaustausch zwischen den Regulierungsbehörden zu intensivieren. Insgesamt muss bei einer Stärkung der Finanzaufsicht beachtet werden, dass der Aufbau entsprechender Kompetenzen bereits in der Vergangenheit nur unzureichend realisiert wurde. 39 Es besteht die Gefahr einer Regulierungsillusion und dass die Marktteilnehmer, im Vertrauen auf Regulierungsmaßnahmen und Aufsichtsbehörden, die Risiken von Finanzprodukten nicht ausreichend selbst bewerten und demzufolge auch künftig unterschätzen.

Regulierung von strukturierten Finanzprodukten Das unkontrollierte Wachstum und die mangelnde Transparenz bei strukturierten Produkten (z.B. Collateralized Debt Obligations) sowie Kreditderivaten (z.B. Credit Default Swaps) soll künftig durch stärkere Regulierungen verhindert werden. Da viele Produkte in der Vergangenheit ausschließlich „over-the-counter" zwischen den Banken gehandelt wurden, verspricht man sich durch die Standardisierung von Produkten und die Schaffung zentraler Clearing-Stellen eine erhöhte Transparenz. Die Bereitstellung börsengehandelter Produkte zur Steigerung der Transparenz und der Liquidität verbessern die Funktionsfahigkeit der Märkte und sind grundsätzlich zu begrüßen. Da einige Börsen aufgrund der entstehenden Nachfrage nach börsengehandelten Produkten bereits den Aufbau entsprechender Plattformen planen, bedarf es letztlich keiner zusätzlichen staatlichen Aktivitäten. Andere, nicht börsenfähige Transaktionen sollen der Regulierungsbehörde gemeldet werden. Eine zuverlässige Risikoabschätzung der Produkte - die letztlich auch zu einem Einschränken oder zum Untersagen der Finanzkonstruktionen führt - ist damit allerdings noch nicht verknüpft. 40 Es ist fraglich, ob eine solche Bewertung vom staatlichen Regulierer überhaupt geleistet werden kann. Für diesen Fall müsste auch beachtet werden, dass nicht die ursprünglichen Aufgabe der Finanzprodukte, bei Credit Default

37 Zwar wurde das Trennbankensystem (Glass-Steagall Act von 1932) in den USA, das aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1929 eingeführt wurde, bereits im Jahr 1999 aufgehoben, dennoch bestand de facto weiterhin die Trennung in Commercial und Investment Banks. Die heftigsten Turbulenzen auf den US-Finanzmärkten gingen im Wesentlichen von Investmentbanken aus, während viele Universalbanken in anderen Ländern vergleichsweise glimpflich davon kamen, weil sie auch in der Krisenphase weiterhin ertragsstabile Geschäftsfelder hatten. 38 Die G20-Länder haben im April 2009 beschlossen, die Rolle des IMF als zentrale internationale Krisenbekämpfungsagentur zu stärken. Sein Budget soll zu diesem Zweck verdreifacht werden. Zugleich wird die Kreditvergabe an Länder erleichtert, die nicht mehr gezwungen werden, bestimmte wirtschaftspolitische Auflagen zu erfüllen. 39 Öffentlich-rechtliche Besoldungsstrukturen sind kaum geeignet, im großen Umfang und rasch hoch qualifiziertes Personal für die Aufsichtsbehörden zu rekrutieren. 40 Darüber hinaus gehende Forderungen, beispielsweise die Schaffung eines Finanz-TÜVs, sind zwischen den G20-Ländern kaum mehrheitsfahig.

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Swaps beispielsweise der Risikotransfer zur Vermeidung von Klumpenrisiken, eingeschränkt wird. Im Ergebnis würden die Regulierungsmaßnahmen die bankspezifischen Risiken erhöhen bzw. die effiziente Reallokation des Kapitals a priori verhindern, weil die Kreditinstitute die zugrunde liegenden Kreditgeschäfte nicht mehr durchfuhren. Zudem ist eine rasche Regulierung der strukturierten Finanzprodukte nicht zwingend erforderlich. Seit 2007 ist beispielsweise ein signifikanter Rückgang bei der Emission verbriefter Strukturen zu verzeichnen, die Marktbereinigung hat also bereits eingesetzt, und man reguliert im Ergebnis ausgetrocknete oder sogar „tote" Märkte.

Regulierung von Hedge Funds Hegde Funds werden aufgrund ihrer Refinanzierungspraktiken sowie ihrer Bereitschaft, höhere Risiken einzugehen, bereits seit Jahren - insbesondere in Europa - als wesentliche Auslöser von Instabilitäten auf den Finanzmärkten identifiziert. Aus diesem Grund sollen diese weitgehend unregulierten Investmentfirmen stärkeren Restriktionen unterworfen bzw. eine Angleichung an die Regulierungen anderer Marktteilnehmer gewährleistet werden (Schaffung des „level playing fields").41 In den USA wurden bereits neue Regeln eingeführt. So müssen Hedge Funds ihre Leerverkaufspositionen an die Börsenaufsicht melden. Auf dem Treffen der G20-Länder im April 2009 wurde beschlossen, dass sich die Manager von Hedge Funds künftig registrieren müssen und dabei angeben, wie groß der Kredithebel (Leverage) bei ihrem Fond ist. Zugleich müssen sie den Nachweis erbringen, dass sie über ein ordentliches Risikomanagement verfugen.42 Zu beachten bleibt ferner, dass sich der Markt für Hegde Funds gegenwärtig selbst bereinigt. Die Anleger haben in den letzten Monaten in hohem Umfang Kapital aus den Hegde Funds abgezogen, was dazu führte, dass bis März 2009 bereits 1500 Hedge Funds aufgelöst wurden.

Änderung der Bilanzierungsregeln Aus Sicht vieler Beobachter haben die internationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS die Finanzkrise verschärft, weil Vermögenswerte nach aktuellen Marktwerten („mark to market") zu bewerten sind. Dies führte zu massiven Wertberichtigungen bzw. Abschreibungen und einem entsprechenden Korrekturbedarf in den Bankbilanzen. Eine Lockerung der Regeln ist allerdings mit Problemen verknüpft, da sich derartige Regeln möglicherweise nicht auf alle Wertpapiere beziehen. Unklar bleibt auch, ob laxere Regeln die Krise wirklich entschärfen können, insbesondere bei den komplex strukturierten Wertpapieren. Darüber hinaus resultiert eine prozyklische Wirkung aus den Eigenkapitalunterlegungsvorschriften von Basel II. Während die Banken in konjunkturellen Boom-Phasen mit einem reduzierten Kreditausfallrisiko eine geringere Eigenkapitalunterlegung 41 Alternativ bieten sich auch Restriktionen beim Erwerber von Hedge Funds-Produkten an. 42 Hierbei wurde allerdings eine Hintertür bei der Regulierung eingebaut. Die einzelnen Länder können „kleinere" Fonds von der Regulierung ausnehmen, wobei sie selbst entscheiden, wie ein kleiner Fonds zu definieren ist.

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für die Kreditvergabe benötigen, steigt der Eigenkapitalbedarf in den Abschwungphasen deutlich an. Der entsprechende Kapitalbedarf lässt sich allerdings gerade in solchen Phasen über die Märkte nur unzureichend decken, insbesondere dann, wenn keine Aussichten auf ausreichende Gewinne bei den Kreditinstituten erkennbar sind. Vor diesem Hintergrund wird eine Anpassung der Eigenkapitalvorschriften angeregt, die darauf abzielt, dass sich die Banken im Konjunkturaufschwung ein höheres Eigenkapitalpolster schaffen.43

Unterschiedliche Behandlung von Finanzinstituten Große Banken sind „too big to fail" und entziehen sich demzufolge den Sanktionsmechanismen des Marktes. Deshalb gibt es Vorschläge, dass große Banken künftig mehr Eigenkapital vorhalten sollen als kleine, um das Risikopotenzial besser abzusichern. Zugleich bestünde aus Sicht der Marktteilnehmer ein Anreiz, die Institutsgröße zu limitieren. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, was die Befürworter eines solchen Vorschlags unter „großen" Banken verstehen. Die Bilanzsumme liefert nur begrenzte Hinweise, inwieweit eine Bank auf den internationalen Finanzmärkten verflochten ist und welche Auswirkungen sich aus ihrer Insolvenz ergeben würden. Alternativ wird darüber nachgedacht, dass es spezielle Insolvenzverfahren für Banken geben soll. Darüber hinaus ist vorstellbar, dass für spezifische Geschäfte eine „zentrale Gegenpartei" eingerichtet wird, die für den Fall einer Insolvenz einspringt und das Counterparty Risiko für andere Banken reduziert.

Regulierung von Rating-Agenturen Bei der Verbriefung strukturierter Produkte kommt den Rating-Agenturen eine besondere Bedeutung zu. Ihre Fehleinschätzungen in bezug auf die Ausfallwahrscheinlichkeiten von Krediten bzw. den Korrelationen derartiger Wahrscheinlichkeiten haben zum Ausmaß der Finanzkrise beigetragen. Die Fehleinschätzung resultiert nicht nur aus der fehlenden Kenntnis der Dynamik von Kreditausfallen in extremen Situationen, sondern möglicherweise auch daraus, dass sie von den Originators der verbrieften Kreditstrukturen beauftragt wurden, das Risikopotenzial der SPVs abzuschätzen. Es liegt der Verdacht nahe, dass es in der Vergangenheit signifikante Verzerrungen bei der Bewertung zugunsten der Originators und zu Lasten der Anleger gab. Aus diesem Grund besteht die Forderung, die Rating-Agenturen selbst stärker zu kontrollieren. Auch hier muss eingewandt werden, dass die Regulierungsbehörden weder personell noch fachlich in der Lage sein werden, diese Kontrolle wirksam wahrzunehmen. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob man Rating-Agenturen nicht für eine fehlerhafte Bewertung in Haftung nehmen kann. Die Agenturen könnten sich gegen entsprechende Fehlbewertungen und daraus folgende Regressansprüche versichern. Dies führt zu einer Verteuerung des Rating-Prozesses und senkt zugleich den Anreiz zum übermäßigen Aufbau von Verbrie-

43 Bislang gibt es keine konkreten Beschlüsse der G20-Länder. Ober Details soll im Laufe des Jahres 2009 diskutiert werden. Eine Umsetzung der daraus folgenden Beschlüsse ist erst nach dem Ende der Krise geplant.

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fungsstrukturen. Sofern das Fehlbewertungsrisiko aufgrund der hohen Unsicherheiten nicht versicherbar ist, stellt sich die grundlegende Frage nach der Existenzberechtigung von Rating-Agenturen.44 Eine Risikoabschätzung kann alternativ auch marktbasiert erfolgen. Durch die Schaffung standardisierter und somit börsenfähiger Credit Default Swaps lässt sich das Risikopotenzial von größeren Unternehmen und Staaten zeitnah ermitteln.

Entlohnung von Managern In der öffentlichen Kritik stehen in besonderem Maße die Gehälter - speziell die Bonusregelungen - für Vorstände von Finanzinstituten. Künftig sollen Bankvorstände mehr nach ihrem langfristigen Erfolg bezahlt werden, zum Beispiel, indem sie ihre Aktienoptionen drei oder vier Jahre behalten müssen. Die absolute Beschränkung der Einkommen ist hingegen international nicht mehrheitsfähig, da einzelne Länder befürchten, für gute Banker an Attraktivität zu verlieren. Generell ist gegen derartige Beschränkungen im Entlohnungssystem einzuwenden, dass sie einen massiven Eingriff in die Entscheidungen von privaten Unternehmen darstellen. Letztlich müssen die Eigenkapitalgeber bzw. ihre Vertreter in den Aufsichtsräten selbst für ein anreiz-kompatibles Vergütungssystem sorgen, das im Fall von Verlusten ein hinreichendes Sanktionspotenzial aufweist, also zugleich die Haftungsfrage integriert. In diesem Zusammenhang bleibt auch zu beachten, dass sich die Diskussion um Managergehälter in der Öffentlichkeit häufig auf die Zahlungen für Vorstände fokussiert. Es stellt sich aber vielmehr die Frage, wie eine leistungsgerechte Vergütung auf den nachgelagerten Managementebenen, beispielsweise für Mitarbeiter in den Handelsräumen oder im Bereich der Kreditverbriefungen, gewährleistet wird. Die übliche Vorgehensweise, neben dem Grundgehalt fixe Boni und Boni auf unrealisierte Gewinne auszuschütten, ohne dass im Fall von Verlusten eine Sanktionsgefahr besteht, ist letztlich aus Sicht des Kreditinstitutes nicht zielführend.

Haftung von Managern Die öffentlichen Forderungen nach einer verstärkten Regulierung des Bankensektors, die von vielen Politikern häufig dankend aufgegriffen werden, sind im Ergebnis eher kontraproduktiv. Die künftige Stabilität des internationalen Finanzsystems hängt nicht zuletzt von der Wirksamkeit der Sanktionsmechanismen auf den Märkten ab. Auf die Gefahren, die sich durch zunehmende Haftungsbeschränkungen in einer modernen Volkswirtschaft ergeben, hat bereits Walter Eucken nachdrücklich in seinen konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung hingewiesen. Nur wenn die Marktteilnehmer für ihre Entscheidungen persönlich zur Rechenschaft gezogen werden, er-

44 Sowohl auf der untemehmensspezifischen (z.B. Enron, Parmalat) als auch auf der makroökonomischen Ebene (beispielsweise Asien-Krise, Subprime-Krise) wurden Fehlentwicklungen in der Vergangenheit häufig nicht rechtzeitig identifiziert. Gegenwärtig drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass die Rating-Agenturen wieder zum „Tagesgeschäft" übergegangen sind und keine systematische Refiektion der Fehleinschätzungen stattfindet.

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folgt eine sorgfältige Disposition des Kapitals und ein vorsichtiges Abtasten der Märkte (Eucken 1952, S. 280). Die Risiken, die sich aus Gesellschaftsformen wie der Aktiengesellschaft oder der GmbH durch die Aufspaltung von Lenkungsbefugnis und Haftung ergeben, sind kennzeichnend für die aktuelle Finanzkrise. Banken, in denen Vorstände weder Eigentümer sind noch von Aufsichtsräten wirksam kontrolliert werden, sind bereit, höhere Risiken einzugehen. Die im Aktiengesetz (§93 AktG) fixierten Haftungsregeln reichen nicht aus, um die Risikobereitschaft von Vorständen - und damit auch der nachgelagerten Managementebenen - wirksam zu reduzieren.45 Maßstab für die persönliche Haftung von Unternehmensleitern ist im Aktiengesetz die Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns. Eine persönliche Haftung des Unternehmensleiters kommt aber nicht in Betracht, wenn dieser die Grundlagen seiner Entscheidungen sorgfaltig ermittelt, sich dabei nur am Unternehmenswohl orientiert und keine unverantwortlichen Risiken eingeht. Ist allerdings streitig, ob ein Schaden durch ein pflichtwidriges Verhalten der Vorstände entstanden ist, trifft das betroffene Vorstandsmitglied die Beweislast, dass er nicht pflichtwidrig gehandelt hat. Gerade die Beweislastumkehr (§ 9311 Satz 2 AktG) wird von Juristen häufig als Hinweis auf eine ausreichende Schärfe der Haftungsregeln angeführt, die nur konsequent angewandt werden müssen. Dabei wird zugleich die Meinung vertreten, dass Bankleiter angesichts der hoch komplexen Verbriefungsstrukturen keine sorgfältige Risikoabwägung vorgenommen haben und deshalb auch in der Haftung stehen. Diese Position dürfte aber kaum haltbar sein, wenn Rating-Agenturen - die aus Sicht des Gesetzgebers (§§52ff. Solvabilitätsverordnung) eine vitale Rolle bei der Risikomessung spielen - strukturierten Finanzprodukten eine sehr gute Bonität attestierten und diese Einschätzung von Wirtschaftsprüfern sowie Regulierungsbehörden nochmals bestätigt wurde. Gegen eine Verschärfung der Haftungsregeln wird ferner eingewandt, dass sich Unternehmensleiter dann auf eine zu risikoarme Führung der Geschäfte verlegen würden. Dieses Problem lässt sich aber durch eine ausgewogene Anreizstruktur - wie im Weiteren noch gezeigt wird - durchaus vermeiden. Sofern die Vorstände im hohen Maße weisungsungebunden agieren (z.B. bei Aktiengesellschaften im Streubesitz), sollte sich die Haftung so auf das Privatvermögen der Vorstände erstrecken, dass nicht nur justiziable Verfehlungen sondern auch die ökonomischen Ergebnisse ins Kalkül einbezogen werden. Die bereits praktizierte, „schwächste" Form der Haftung wäre die teilweise Vergütung des Managements durch Aktien oder Aktienoptionen des eigenen Unternehmens, mit der Auflage, diese Papiere erst nach einer längeren Haltefrist veräußern zu dürfen. Denkbar wäre aber auch die Zahlung eines Grundgehalts, das mit einem „Erfolgsindikator" multipliziert wird. Dieser Indikator orientiert sich an a priori vereinbarten betriebswirtschaftlichen Kennziffern, die sich aus den langfristigen Unternehmenszielen ableiten lassen.46 Durch die Auswahl und Gewichtung der Kennziffern besäße der Indikator zugleich den Charakter eines Nachhaitigkeitsfaktors. Eine Neugewichtung des Indikators wäre nur in größeren Zeit-

45 Die Haftungsregeln des Aktiengesetzes werden analog auch für andere Unternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft angewandt. 46 Die Vorgehensweise ist dabei nur bedingt vergleichbar mit den üblichen Zielvereinbarungen in Unternehmen. Diese werden häufig nur für sehr befristete Zeiträume abgeschlossen, beinhalten auch qualitative Elemente und werden häufig gemeinsam mit den Beteiligten ausgehandelt.

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abständen erforderlich und er kann im praktischen Einsatz sowohl negative als auch positive Werte annehmen. Bei einem Indikatorwert von 1 (Benchmark) würde der Vorstand sein Grundgehalt beziehen; wird die Benchmark übertroffen, sind deutliche Zusatzeinkommen realisierbar. Im Fall eines Wertes von kleiner Eins müsste der Vorstand auf einen Teil seines Grundgehalts verzichten bzw. im Fall negativer Werte sogar mit seinem Vermögen haften, wobei die Einrichtung einer Untergrenze (floor) in Höhe der bislang bezogenen Vergütungen denkbar wäre. Durch die konkrete Ausgestaltung ließe sich zudem der Wertebereich des Indikators sowohl nach unten als auch nach oben limitieren. Der Vorstand könnte sein Haftungsrisiko durch den Erwerb einer entsprechenden Versicherung reduzieren. Hierbei muss allerdings darauf geachtet werden, dass die Versicherungskosten nicht - wie heute bei den D&O-Managerhaftpflichtversicherungen häufig üblich - vom Unternehmen getragen, sondern vom Vorstand persönlich übernommen werden. Im Fall, dass der Vorstand von den Plänen und Anweisungen eines Mehrheitsaktionärs abhängt, sollte dieser die entsprechende Haftung übernehmen. Im Finanzsektor wäre auch eine Renaissance der Privatbanken mit persönlich haftenden Gesellschaftern wünschenswert. Die Rechtsform des Einzelhandelskaufmanns ist aber seit der Novelle zum Kreditwesengesetz (KWG) von 1976 für Neugründungen nicht mehr erlaubt (§ 2b Abs. 1 KWG), da sie angesichts der Anforderungen an das Bankgeschäft unter kapitalmäßigen und personellen Aspekten als nicht mehr hinreichend stabil angesehen wurde. Im Ergebnis sind viele Regulierungsvorschläge, die im Zusammenhang mit der Finanzkrise geäußert wurden, bei einer näheren Betrachtung nicht hilfreich, um die künftige Stabilität auf den Finanzmärkten zu verbessern. Sie erhöhen vielmehr durch Ausweichreaktionen der Akteure die Gefahr zukünftiger Fehlentwicklungen. Wenige Regeln, die im Rahmen von Mindeststandards international harmonisiert sind und die im Wesentlichen auf eine verstärkte und diskriminierungsfreie Haftung aller Marktteilnehmer und eine erhöhte Transparenz abzielen, sind ausreichend, um Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten rechtzeitig zu identifizieren und rasch zu sanktionieren.

VI. Fazit 1. Die weltwirtschaftliche Lage im Frühjahr 2009 ist geprägt durch eine doppelte Last: Auf der einen Seite ist die Finanzmarktkrise, die im Frühjahr 2007 im SubprimeSegment der amerikanischen Hypothekenmärkte einsetzte und die sich wegen der Finanzmarktintegration weltweit fortpflanzte, keineswegs ausgestanden. Auf der anderen Seite haben die gestiegenen Inflationspotenziale und der faktische Anstieg der Inflationsraten zunächst ab Mitte 2004 in den USA, später auch in Europa und Asien die Zentralbanken veranlasst, eine Phase restriktiver Geldpolitik einzuleiten, die mit zeitlicher Verzögerung deutliche realwirtschaftliche Rückschläge verursacht hat. Beide Entwicklungen überlagern sich, sind aber gleichwohl unabhängig zu analysieren. 2. Unter vernünftigen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft haben auch Finanzmärkte doppelte Stabilitätseigenschaften: Sie initiieren von sich aus keine dramatischen Instabilitäten („systemische Krisen") und verfügen über

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hervorragende Fähigkeiten, exogene (wirtschaftspolitische) Impulse zügig durch Erwartungs- und Planrevisionen in stabilisierende Preis- und Mengenanpassungen umzusetzen. 3. Für die aktuelle Finanzmarktkrise sind insbesondere zwei Bündel von Ursachen zu identifizieren. Erstens haben vielfaltige staatliche Regulierungen Defizite der Ordnungsbedingungen der Finanzmärkte begründet, die effiziente Wettbewerbsprozesse behinderten und gesamtwirtschaftlich ineffiziente Ausweichreaktionen der Finanzmarktakteure begünstigten. Hierzu haben auch die verschiedenen Haftungsbeschränkungen der Entscheidungsträger in den Finanzinstitutionen beigetragen. Zweitens sind es die finanz- und insbesondere geldpolitischen Prozessinterventionen des Staates, die durch kurzfristige „stop and go"-Strategien Fehlanreize für die Marktakteure gesetzt und Fehlanpassungen der Kreditmarktteilnehmer verursacht haben. 4. Wirtschaftspolitische Therapien müssen zunächst darauf gerichtet sein, die aktuelle Finanzmarktkrise zu überwinden, indem das gegenseitige Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der Finanzinstitutionen wiederhergestellt wird. Dies gelingt nur, wenn die ausfallgefährdeten („toxischen") Wertpapiere zeitnah und eigenkapitalschonend aus den Bankbilanzen entfernt bzw. in den Bilanzen neutralisiert werden. Die vorgeschlagene „Bilanzlösung" belastet nicht die Steuerzahler, verursacht nur geringe (Bürokratie-) Kosten und belässt die Verantwortung für die Problemaktiva in den Finanzinstitutionen. 5. Risiken zukünftiger Finanzmarktkrisen können nicht beseitigt, wohl aber reduziert werden, wenn die bestehenden Ordnungsdefizite und fehlerhaften Rahmenbedingungen aufgedeckt und behoben werden. Dabei geht es nicht um ein „Mehr" an möglichst umfassender Regulierung zur Eindämmung von Marktprozessen, sondern um weniger, aber bessere nationale und internationale Ordnungsregeln als Fundament des Wettbewerbsgeschehens auf den Finanzmärkten.

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weichreaktionen der Finanzmarktakteure begünstigt wurden. Hierzu haben falsche Haftungsregeln der Entscheidungsträger in den Finanzinstitutionen wesentlich beigetragen. Finanzpolitische Maßnahmen des Staates und insbesondere kurzfristige geldpolitische Prozessinterventionen der Zentralbanken haben zudem massive Fehlanreize für die Marktakteure gesetzt und Fehlanpassungen der Kreditmarktteilnehmer verursacht. In einer kritischen Analyse werden sodann die zahlreichen Vorschläge zur Überwindung der aktuellen Finanzmarktkrise gewürdigt und Möglichkeiten zur Verbesserung der langfristigen Ordnungsbedingungen für Finanzinstitutionen und Finanzmärkte aufgezeigt. Sie können die Risiken zukünftiger Finanzmarktkrisen nicht beseitigen, wohl aber reduzieren.

Summary: Financial crisis: Failure of markets or politics? In the first six month of 2009 the worldwide economic situation is characterised by a double burden: On the one hand the financial crisis is still on-going with limit signs of any recovery. The crisis which arose in the subprime segment of the US mortgage market extended due to the international integration of financial markets. On the other hand signs of increasing inflation, with the potential for more to come in the USA since middle of 2004 and later in Europe and Asia, have forced central banks to introduce a phase of very restrictive monetary policy. With time lags the monetary policy has caused significant negative real economic effects. Both developments overlap. In this paper the different escalation stages of the financial crises are initially indicated and - against the background criteria of a functioning financial system - are followed by an analysis of the ordinal-political and process-political undesirable developments in the financial markets over the past decades. They are identified as the most important causes of the monetary and real economic undesirable trends: Varied state regulations have created deficits of the basic regulatory framework of the finance markets by which competitive processes were hindered and ineffective evasive reactions of the participants at the financial markets were rewarded. Moreover wrong liability rules of the decision makers in the financial institution have substantially contributed to these behaviours. The financial policy of many countries and in particular short-term process interventions of the monetary policy of central banks have put massive false incentive in place for the market participants and have caused mismatching within the loan market players. In a critical analysis numerous proposals are suggested for overcoming the current financial crisis and possible options for the improvement of the long-term regulatory framework are indicated. Whilst they cannot fully remove the risks of future financial crisis, they can help reduce them.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Ulrich van Suntum und Cordelius Ilgmann

Das Bilanzproblem der Banken - Ein Lösungsvorschlag Inhalt I. II. III. IV. V. VI. VII.

Die Finanzkrise in historischer Perspektive Ursachen der aktuellen Krise Bewertung aktueller Vorschläge Ein Ansatz aus der deutschen Geschichte: Die Ausgleichsforderungen Vorschlag: Zinslose Staatspapiere mit offener Laufzeit Mögliche Einwände Schlussbetrachtung

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The bank's balance sheet problems: a proposal for a Solution

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I. Die Finanzkrise in historischer Perspektive Knapp zwei Jahre nach Beginn der Finanzkrise haben die Verwerfungen im Finanzsektor die Realwirtschaft voll erfasst. Der Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung hat mittlerweile das Niveau der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren erreicht (Eichengreen und O'Rourke 2009) und teilweise sogar übertroffen. Der IMF (2009a, S. 3) bezeichnet die aktuelle Finanzkrise als ein „once-in-a-century event". Für Deutschland bedeutet dies 2009 voraussichtlich den höchsten Rückgang des Bruttoinlandsproduktes seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Neben direkten Kosten der Bankenrettung werden vor allem die Mehrausgaben der Sozialkassen sowie die Ausgaben für die Konjunkturpakete den Staatshaushalt auf Jahre belasten (Reinhart und Rogoff 2008b, S. 2). Der durchschnittliche Schuldenstand eines Staates verdoppelt sich im Zuge einer Finanzkrise erfahrungsgemäß in etwa, wobei sich ältere Industrienationen wenig von neu aufstrebenden Ländern unterscheiden {Reinhart und Rogoff 2008a, S. 43 ff). Dies bedeutet angesichts der bestehenden, sehr hohen Verschuldung in vielen entwickelten Ländern auch eine Gefahr für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung. Die aktuelle Krise trifft die marktwirtschaftlich-demokratisch verfassten Gesellschaften in einem Moment, in der die Legitimität der Wirtschaftsordnung aufgrund der Globalisierung selbst in Zeiten des Aufschwungs in Frage gestellt wird. Schon Walter Eucken sah die Gefahr, dass Krisen der marktwirtschaftlichen Ordnung immer auch den Ruf nach deren Abschaffung oder Überwindung laut werden lassen (Euchen 1990, S. 152 und 317 f.). In historischer Perspektive sind Wirtschaftskrisen in der Tat meistens

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auch Krisen des politischen Systems gewesen, denn wesentlicher Teil der Legitimation von Herrschaft ist die soziale Sicherheit der Beherrschten. Die Überwindung der Finanzkrise ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Notwendigkeit. Allerdings ist festzustellen, dass Finanzkrisen1 deutlich älter sind als Marktwirtschaft und Kapitalismus. Als Beispiele mögen der Tulpenwahn in den Niederlanden zu Beginn des 17. oder das Papiergeld John Laws in Frankreich zu Beginn des 18. Jahrhunderts genügen (Ilgmann und van Suntum 2008, S. 741 ff.; Kindleberger et al 2005, S. 9; Reinhart und Rogoff 2008c). Dabei lässt sich ein wiederkehrendes Muster erkennen, 2 das für Finanzkrisen typisch zu sein scheint (Reinhart und Rogoff 2008b, S. 11). Am Anfang steht ein Konjunkturaufschwung, verbunden mit starker Kreditausweitung und Finanzinnovationen. In der Euphorie des Booms werden die damit verbundenen Risiken systematisch unterschätzt, wie die Geschichte des Wechsels, des Papiergeldes und der Aktie zeigen (Bordo 2008, S. 6 f.). Typischerweise werden Finanzinnovationen zudem von bestehenden Regelungen nicht erfasst bzw. speziell zu deren Umgehung erfunden (Reinhart und Rogoff200Sb, S i l ; Bordo 2008, S. 6 f.). In der Folge entstehen Spekulationsblasen3, d.h. eine Preisbildung unabhängig von den fundamentalen Werten, von denen die meisten im 20. Jahrhundert im Immobilenund Aktienmarkt auftraten (Kindleberger et al. 2005, S. 29 f.). Speziell für Immobilienmärkte sind die selbstverstärkenden Effekte von Ausweitung der Kreditvergabe, folgender Hauspreissteigerung und erneuter Ausweitung der Kreditvergabe ein wiederkehrendes und gut dokumentiertes Phänomen (Jaffee 2008, S. 4 f.). Aufgrund der Verzerrung des Preismechanismus wird es schwieriger, zwischen Änderungen der nominellen und der relativen Preise zu unterscheiden, die Gefahr von Fehlallokationen in der Realwirtschaft wächst (Issing 1997, S. 168). Letztlich fuhrt die Boomphase zur Überschuldung, da Kredite in Erwartung zukünftiger Wertsteigerungen aufgenommen werden. Die Krise folgt, wenn Investoren gezwungen sind, ihre Vermögenspositionen zu verkaufen, jedoch keine Käufer finden, was einen Preisverfall auslöst. Die daraufhin notwendigen Wertberichtigungen in den Büchern zwingen zu weiteren Verkäufen, ein Teufelskreis entsteht. Während im Aufschwung die Vermögenspreise zu hoch angesetzt waren, sind sie nun in der Krise unter1

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Der Begriff Finanzkrise umfasst Bankenkrisen, Währungskrisen, Finanzsystemkrisen sowie Krisen, in denen ein Land oder einzelne Länder ihre Auslandsschulden nicht mehr bedienen können ( I M F 1998, S. 74 f.). Für den Historiker ist jede Finanzkrise einzigartig in ihren historischen Kontext eingebettet, so dass Aussagen über Muster nur mit großer Vorsicht getroffen werden können (Kindelberger et al. 2005, S. 24). Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich wiederkehrende Krisen aus systematischen Defekten des Marktes und/oder der staatlichen Rahmenbedingungen erklären lassen. "Economists use the term bubble to mean any deviation in the price of an asset or a security or a commodity that cannot be explained in terms of the 'fundamentals.' Small price variations based on fundamentals are called 'noise.' In this book, a bubble is an upward price movement over an extended period of fifteen to forty months that then implodes. Someone with 'perfect foresight' should have foreseen that the process was not sustainable and that an implosion was inevitable" (Kindelberger et al 2005, S. 29). Die Begründung hierfür liegt in dem Auseinanderfallen von Gegenwarts- und Zukunftswert: "A mania involves increases in the prices of real estate or stocks or a currency or a commodity in the present and near-future that are not consistent with the prices of the same real estate or stocks in the distant future." (Ebd, S. 12).

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bewertet {Kindleberger et al 2005, S. 11). Dieser Mechanismus bildete schon den Kern der monetären Überinvestitionstheorie, deren Ursprünge bis in 19. Jahrhundert zurück reichen (Kindleberger et al. 2005, S. 24-37; Bordo 2008, S. 7).4

II. Ursachen der aktuellen Krise Die aktuelle Finanzkrise ist eine systemische Finanz- bzw. Bankenkrise,5 welche durch einen Rückgang der Vermögenswerte und die Zahlungsunfähigkeit zahlreicher Unternehmen der Finanzwirtschaft und in der Folge auch anderer Branchen gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu Bankenkrisen im 19. und frühen 20. Jahrhundert kommen die Banken derzeit allerdings weniger von der Passivseite unter Druck, da insbesondere die Privatkundeneinlagen durch Gewährleistungsfonds und staatliche Garantien gesichert sind.6 Der entscheidende Mechanismus ist vielmehr die Abwertung der Aktiva und die damit verbundene Reduktion des Eigenkapitals, welche aufgrund der geltenden Eigenkapitalrichtlinien Notverkäufe und damit erneute Kursverluste an den Wertpapiermärkten verursacht (Bordo 2008, S. 9 f.). Über die Ursachen der aktuellen Krise herrscht weithin Einigkeit. Demnach stand am Anfang ein monetär angefachtes Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten mit einer langen Periode niedriger Zinssätze, wobei der kreditfinanzierte Boom in den USA durch die starke Sparneigung insbesondere in Asien, aber auch in Europa finanziert wurde (Buiter 2008, S. 130; Mizen 2008, S. 533). Durch das Platzen der „Dotcom" Blase und der anschließenden expansiven Geldpolitik kam es zu einem starken Anstieg des Volumens der amerikanischen Immobilienkredite von etwa einer Billion Dollar im Jahre 2000 auf 3,9 Billionen im Jahre 2003. In den folgenden drei Jahren belief sich das Volumen auf etwa drei Billionen Dollar jährlich und sank erst 2007 auf etwa 2,5 Billionen ab (Sanders 2008, S. 254). Gleichzeitig nahm der Anteil des „Subprime"7 Segmentes zwischen 2001 und 2007 von etwa 7% auf 20% zu ( J a f f e e 2008, S. 9 f; Sanders 2008, S. 257). Ariccia et al. (2008) zeigen anhand einer empirischen Analyse des U.S. Kreditmarktes, dass (1) Kreditvergabestandards vor allem dort sanken, wo die Kreditausweitung am größten war, dass (2) geringere Standards mit steigenden Immobilienpreisen einhergingen, dass (3) dort, wo neue Akteure in den Markt eintraten, die Standards deutlich sanken und dass (4) die Standards dort stärker sanken, wo Kredite weiterverkauft wurden. Das Anwachsen der Kreditvergabe ging also mit einem Sinken der Vergabestandards einher, da die Gläubiger auf den Wertzuwachs der Häuser spekulierten, der seinerseits aber wiederum aus der überreichlichen Kreditvergabe resultierte.

4 Als historisches Beispiel für die lange Tradition dieses Ansatzes vgl. Haberler (1937). 5 „Systemic financial crises are potentially severe disruptions of financial markets that, by impairing markets' ability to function effectively, can have large adverse effects on the real economy" (IMF 1998, S. 75). Vgl. mit einer Umfangreichen Definition von Bankenkrisen Laeven und Valencia (2008, S. 5). 6 Einzige bisherige Ausnahme ist die Northern Rock Bank in Großbritannien, die in der Folge eines Schaltersturms am 22. Februar 2008 verstaatlicht wurde. 7 „Die Einstufung als Subprime erfolgt unter anderem dann, wenn der Kreditnehmer bereits eine Zahlungsunfähigkeit oder Zwangsversteigerung hinter sich hat oder wenn er mit Kreditraten in der jüngeren Vergangenheit in Verzug geraten ist" (Sachverständigenrat 2007, S. 99).

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Die Schätzungen der notwendigen Abschreibungen im „Subprime" Segment belaufen sich auf 100 bis 200 Milliarden Dollar. Dies ist relativ wenig im Vergleich mit dem Gesamtkreditvolumen und auch im Hinblick auf die 5 Billionen Dollar, die während der „Dotcom" Krise verloren gingen (Spaventa 2008, S. 49). Das gilt selbst dann, wenn man mit einbezieht, dass viele Investoren durch hohe Leverage-Grade8 mit kurzfristigem Fremdkapital ihr Risiko massiv erhöht haben (Mizen 2008, S. 539; Jaffee 2008, S. 5). Laut Wyplosz (2008, S. 17) ist der amerikanische Immobilienboom daher keine hinreichende Erklärung für die weltweite Finanzkrise.9 Diese konnte erst mit dem Hinzutreten weiterer Vermögenspreisinflationen entstehen, wobei der „Subprime" Bereich wegen der geringen Bonität der Kreditnehmer allerdings zuerst reagierte {Mizen 2008, S. 541; Sanders 2008, S. 256). Mit dem Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft (IMF 2009b, S. 2-6) kamen schließlich sämtliche Vermögenspositionen unter Druck, so dass der ursprünglich überschaubare Abschreibungsbedarf vervielfacht wurde (EEAG 2009, S. 96). Hatten Finanzinstitutionen und Haushalte in den letzten Jahren einen starken Anstieg der Verschuldung verzeichnet, folgte nun das „Deleveraging" und damit ein Rückgang des globalen Kreditvolumens (IMF 2009a, S. 4 ff.). Entscheidend für die rasche internationale Verbreitung und die Schwere der Bankenkrise war der Prozess der Kreditverbriefung. Erst dieser „modern twist" (Bordo 2008, S. 10) hat sie zu einer weltweiten systemischen Finanzkrise gemacht. Instrumente der Verbriefung, bei der auf der Basis bestehender Buchforderungen neue Wertpapiere herausgegeben werden (Rudolph et al. 2007, S. 37), waren in den Vereinigten Staaten schon seit Ende der 1960er Jahre für Hypothekarkredite bekannt. Der Staat spielte eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung dieses neuen Instrumentes.10 „Asset-Backed Securities" sind festverzinsliche Wertpapiere oder Schuldscheindarlehen, die durch einen Bestand von Forderungen gedeckt sind und in erster Linie dem Risikotransfer vom ursprünglichen Kreditgeber auf einen bzw. viele Investoren dienen. Sie streuen also im Prinzip das Risiko gemäß der individuellen Risikobreitschaft der jeweiligen Anleger (Michler 2008). Ursprünglich wurden sie für erstklassige Hypotheken, seit den 1980er Jahren auch für weitere Vermögenspositionen und Ansprüche emit8

Ein Leverage-Grad von 10 zu 1 kann schon bei einem Verlust von 10% zu einem Totalverlust des Eigenkapitals fuhren (Joffe 2008, S. 5). 9 „The second observation that all agree about is that the total size of the now infamous subprime loans, even augmented by normal mortgages, does not add up to a huge amount. Normally, most financial institutions should be able to absorb them without much damage. Of course, a few may have bought too much of the stuff and they will go belly-up, but that is how things normally are. Most significant financial institutions should be able to absorb those particular losses" (Wyplosz 2008, S. 18). 10 „Ausschlaggebend fur die erfolgreiche Entstehung des Marktes für Mortgage-Backed Securities war die Unterstützung durch mehrere Subventionsagenturen der Regierung, die unter den Namen Fannie Mae (Federal National Mortgage Association, gegründet 1938), Freddie Mac (Federal Home Loan Mortgage Corporation, gegründet 1970) und Ginni Mae (Government National Mortgage Association, 1968 als Teil der Federal National Mortgage Association verselbstständigt) bekannt wurden. Die Agenturen hatten die Aufgabe, das Risiko der neu emittierten Wertpapiere durch die Bereitstellung zusätzlicher Sicherheiten fur die Hypothekenpools zu verringern (Credit Enhancement). Zusätzliche Sicherheiten bzw. Garantien waren notwendig, da die Käufer der Mortgage Backed Securities die Qualität der abgetretenen Hypothekenforderungen in keiner Weise beurteilen konnten. Mit der zur Verfugung gestellten Garantie entfiel für die Käufer das Kreditrisiko, so dass sie wie bei anderen Anlagen in langfristige Anleihen nur das Zinsänderungsrisiko und das in den USA typische Vorauszahlungsrisiko (Prepayment Risk) zu tragen hatten" (Rudolph et al. 2007, S. 38).

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tiert. Die Verbriefung von Subprime-Krediten begann allerdings erst Mitte der 90er Jahre, und zur gleichen Zeit entstand auch der europäische Markt für Kreditverbriefungen CRudolph et al. 2007, S. 38 f.; Mizen 2008, S. 536 f.). Die ökonomischen Vorteile der Verbriefung von Krediten sind unstrittig (Wyplosz 2008, S. 18; Jaffee 2008, S. 30), jedoch haben sie eben auch gravierende Nachteile, wie die aktuelle Krise gezeigt hat. Ein Aspekt ist, dass sie die Bildung von Preisblasen fordern können. So kann der leichtere Zugang zu internationalen Kapitalgebern bei der Refinanzierung von Kreditinstituten (Michler 2008) spekulative Vermögenspreisblasen auf bislang lokalen Märkten massiv anschwellen lassen. Ein weiterer Punkt ist, dass Investoren, die in Verbriefungen investieren, nicht an die strengen Eigenkapitalvorschriften für Banken gebunden sind. Hebelinstrumente mit kurzfristigem Fremdkapital sind entsprechend weit verbreitet und waren einer der wesentlichen Treibsätze der Krise (Mizen 2008, S. 539; Jaffee 2008, S. 29; EEAG 2009, S. 69). Hinzu kam die Umgehung des Haftungsprinzips durch das „originate and distribute"11 Modell bei den Hypothekenbanken. Man könnte zwar einwenden, dass die Haftung auf die Anleger übergangen sei, jedoch stehen diesem Argument ausgeprägte Informationsasymmetrien und Anreizprobleme entgegen. So haben die Banken einen geringeren Anreiz, die Bonität der Schuldner zu prüfen bzw. diese Informationen auch wahrheitsgemäß an die Anleger weiterzugeben (.Mizen 2008, S. 550-554). Die teilweise mehrfache Strukturierung12 der verbrieften Kreditforderungen erhöht die Komplexität der Papiere zusätzlich und erschwert den Zugriff auf die dahinter liegenden Vermögensgegenstände. Daher bergen Kreditverbriefungen die Gefahr von Marktversagen aufgrund asymmetrischer Informationen in sich. Die hohen Abschreibungen von Anlegern in der aktuellen Finanzkrise machen deutlich, dass nicht einmal hoch spezialisierte Finanzinstitutionen und Ratingagenturen13 in der Lage waren, die wahren Risiken der Finanzprodukte zutreffend einzuschätzen {Jaffee 2008, S. 4; Sachverständigenrat 2007, S. 115). Ihre komplizierte Struktur erlaubt weder die Berechnung eines fundamentalen (Mindest) Wertes, noch den Durchgriff der Investoren auf die dahinter stehenden „Assets", da die Eigentumsverhältnisse kaum nachzuvollziehen sind (Mizen 2008, S. 540 f.; EEAG 2009, S. 69). Im Resultat ist bei vielen Papieren der Wert erst nach ihrer Fälligkeit und eventuell kostspieliger und langwieriger Vollstreckung zu erkennen. Der daraus resul-

11 Das traditionelle Geschäftsmodell, bei dem Banken die vergebenen Kredite in ihren Bilanzen halten, wird als „originate and hold" bezeichnet. Beim „originate and distribute" werden diese Kreditforderungen an den Kapitalmarkt weitergereicht (für eine übersichtliche Behandlung der damit verbundenen Problematik siehe Mizen 2008, S. 550-554). 12 Um die Marktgängigkeit der verbrieften Forderungen zu erhöhen, werden diese in Tranchen (man spricht daher auch von „Tranchierung") aufgeteilt, die unterschiedlich hohe Verlustrisiken beinhalten. Die Strukturierung ist daher rein fiktiver Natur, weil den jeweiligen Tranchen keine spezifischen Forderungen zugeteilt werden, sondern nur das Risiko des Pools aufgeteilt wird. Die verschieden hohen Risiken der Tranchen werden bei der Verzinsung durch unterschiedliche Prämien vergütet. Mit Hilfe der Strukturierung kann unter Zuhilfenahme von Modellen, welche die Ausfallwahrscheinlichkeiten des Pools modellieren, aus einem Topf relativ unsicherer Forderungen ein sehr hoher Anteil an „AAA" Anlagen gewonnen werden (für eine Übersicht über den Strukturierungsprozess siehe Sachverständigenrat 2007, S. 112-115). 13 Im Falle der Ratingagenturen muss man zusätzlich einen erheblichen Interessenskonflikt attestieren, der daher rührt, dass diese Agenturen von den „Produzenten" der Verbriefungen bezahlt worden sind, bzw. oftmals gut dotierte Beraterverträge erhielten (Mizen 2008, S. 551).

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tierende Zusammenbruch der Märkte für „Asset-Backed Securities" sowie für Vermögenswerte allgemein hat bis Ende 2008 zu einem Abschreibungsbedarf von einer Billion Dollar gefuhrt (EEAG 2009, S. 89 f. und S. 96). Der Gesamtabschreibungsbedarf wird vom IMF mittlerweile auf vier Billionen Dollar geschätzt, wovon zwei Drittel auf die Banken entfällt (IMF 2009a, S. 27 f.). Was auf einem überhitzten lokalen Markt begann, hat sich auf diese Weise in ein weltweites Problem verwandelt. Aufgrund des Misstrauens in die Solvenz der Marktpartner ist der Interbankenmarkt geradezu ausgetrocknet, und fur Fremdfinanzierungen werden hohe Risikoaufschläge gefordert.14 Die hohe Liquiditätsnachfrage und das „Deleveraging" verhindern bisher das Wirksamwerden der expansiven geldpolitischen Impulse der Zentralbanken (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2009, S. 83 ff.). Damit hat sich eine systemische Finanzkrise von historischen Ausmaßen entwickelt. Presseberichten zufolge haben 20 Banken in Deutschland den Nominalwert ihrer toxischen Papiere gegenüber der Bafln auf 158 Milliarden Euro beziffert. Nach internen Einschätzungen geht die Bafin offenbar jedoch von einem maximalen Abschreibungsbedarf in Höhe von mehr als 800 Milliarden Euro aus (Schäfers 2009a; Bohsem, Hesse und Hulverscheidt 2009). Selbst wenn man davon ausgeht, dass in der Krise ein Großteil der Papiere unterbewertet sind und sich nur ein Bruchteil dieses Volumens als tatsächlich notleidend erweisen sollte, dürfte dies ohne entsprechende Gegenmaßnahmen eine weitere Spirale von krisenverschärfenden Bilanzverkürzungen bedeuten. Die Erfahrung - nicht zuletzt auch aus der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre15 lehrt, dass die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Kreditsystems von zentraler Bedeutung für die wirtschaftliche Erholung ist. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Bankbilanzen von den giftigen Wertpapieren entlastet werden müssen. Nur so kann der Teufelskreis - auch bekannt als Irving Fishers „Debt-Deflation Cycle" - aus Wertberichtungen, Notverkäufen und erneuten Wertberichtungen durchbrochen werden. Je schneller dies geschieht, desto besser. Das Beispiel Japan macht deutlich, dass eine langsame Liquidierung der Vermögenspositionen die Krise nur verlängert (Calomiris und Mason 2003, S. 28; Anari et al. 2005; S. 771). Während Geld- und Fiskalpolitik diesmal sehr schnell und massiv reagiert haben (IMF 2009b, S. xiii), ist in diesem entscheidenden Punkt bisher noch kein wirklicher Durchbruch erzielt worden. Die Zuführung neuen Eigenkapitals durch den Staat zum Ausgleich der Verluste ist kein in großem Umfang gangbarer Weg. Zum einen sind die Kosten enorm hoch, weil

14 "In this case the drawback is that no one knows who holds how much of these bad loans. Where things got bad is that, the same as many other human beings, and maybe a little more so, financiers are prone to mood swings. When all was going well, they trusted each other as if they had gone to the same schools, which in fact they did. When the situation soured, they went at light speed to the other corner and started to suspect that everyone else was more in trouble, especially those they knew best because they went to school together. So the interbank market froze" (Wyplosz 2008, S. 18). 15 Friedman und Schwartz (1963) haben die monetäre Sichtweise begründet, wonach ein Rückgang der Geldmenge, bedingt durch die Bankenkrisen, einen „normalen" Abschwung in eine tiefe Rezession verwandelte (Rothermund 1993, S. 10; Termin 1976, S. 15). Obwohl dieser Ansatz von Termin und Kindleberger kritisiert wurde (Termin 1976; Kindleberger 1973), ist er heute immer noch die vorherrschende Erklärung für die Stärke der Krise. So gab Bernanke (2002), heute Vorsitzender der FED, der kontraktiven Geldpolitik der FED im Angesicht der Bankenkrise die Schuld an der Heftigkeit der Großen Depression.

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dabei im Prinzip für jeden Euro Abschreibungsbedarf auf der Aktivseite ein Euro Eigenkapitalbedarf entsteht. Wenn die Verluste nur nach und nach aufgedeckt werden, kauft sich der Staat zudem zu teuer in die betreffende Bank ein, da der Unternehmenswert bei der Eigenkapitalzufuhr überhöht ist. Zudem bedeutet dieser Weg letztlich eine Verstaatlichung oder zumindest Teilverstaatlichung der Banken, was langfristig ordnungspolitisch problematisch ist. Auch ein einfaches Aufkaufen der toxischen Papiere durch den Staat würde diesen nicht nur finanziell weit überfordern, sondern auch Anreize für die Banken setzen, sich in der nächsten Blase erneut zu exponieren. Auch politisch ist eine solche Sozialisierung der Verluste nicht vermittelbar, sie würde die Legitimation des marktwirtschaftlichen Systems untergraben. Gemäß dem Haftungsprinzip sollten vielmehr die Banken für die von Ihnen verursachten Verluste letztlich selbst einstehen. Andererseits muss aber eine weitere Verschärfung der Bilanzprobleme durch die krisenbedingte Unterbewertung vermieden werden. Eine befriedigende Lösimg für dieses Dilemma ist bisher nicht gefunden worden.

III. Bewertung aktueller Vorschläge Im Folgenden werden zunächst einige Konzepte zur Lösung der Bankenkrise vorgestellt und problematisiert. Neben ihrer Eignung zur Lösung der aktuellen Bilanzprobleme sind dabei die Kosten für den Staat sowie ordnungspolitische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Es wird deutlich werden, dass keiner der vorliegenden Pläne allen Anforderungen entspricht. Nach dem Rettungsplan, den der amerikanische Finanzminister Geithner im März 2009 vorgelegt hat16, sollen neu zu gründende Investmentfonds in öffentlich-privater Kofinanzierung im Rahmen eines Public-Private Investment Programs den Banken ihre faulen Wertpapiere abkaufen. 17 Für jeden Dollar privaten Kapitals, das in die „PublicPrivate Investment Funds" (PPIF) fließt, will das Finanzministerium einen weiteren Dollar aus den Mitteln des „Troubled Asset Relief Program" (TARP) bzw. aus dem „Financial Stability Plan" (FSP) bis zu einer Gesamthöhe von 75 bis 100 Milliarden Dollar dazugeben. Das Programm besteht zum einen aus einer Initiative zum Aufkauf von Krediten („Legacy Loans Programm"). Dazu werden zusätzlich zu dem Eigenkapital der PPIFs Garantien für Fremdkapital seitens des amerikanischen Sicherungsfonds, der „Federal Deposit Insurance Corporation" (FDIC), bis zu einem maximalen Verhältnis („Leverage") von 6:1 gewährt. Zum anderen sollen Kreditverbriefungen aufgekauft 16 Das von Geithner vorgestellte Modell ist eine Initiative aus dem „Troubled Asset Relief Program" (TARP), welches durch den „Emergency Economic Stabilization Act of 2008" (EESA) unter der Regierung Bush begründet wurde (für einen Überblick über den EESA siehe Nothwehr 2008). 17 Ziel des Programmes ist es, die Unsicherheit bezüglich der Solvenz der Marktteilnehmer zu beheben: „[.. .]the financial system is still working against economic recovery. One major reason is the problem of "legacy assets" - both real estate loans held directly on the books of banks ("legacy loans") and securities backed by loan portfolios ("legacy securities"). These assets create uncertainty around the balance sheets of these financial institutions, compromising their ability to raise capital and their willingness to increase lending" (U.S. Treasury 2009).

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werden („Legacy Securities Program"), mit dem Ziel, den Markt für diese Produkte wiederzubeleben. Davon erhofft man sich, die Bilanzen der Banken zu entlasten und die Unsicherheit bezüglich der Bewertung der Papiere zu reduzieren. Notwendiges Fremdkapital soll mittels der „Term Asset-Backed Securities Loan Facilities" (TALF)18 durch die Zentralbank bereitgestellt werden. Im Endeffekt hoffit man, durch beide Programme 500 Milliarden bis 1 Billion Dollar an Kaufkraft zu mobilisieren (U.S. Treasury 2009). Der Plan ist von vielen Ökonomen zu Recht kritisiert worden. Krugman (2009) u.a. haben deutlich gemacht, dass in dem Programm erhebliche Subventionen zu Gunsten der privaten Investoren enthalten sind. Letztendlich wird nur ein geringer Anteil des Kaufpreises für die Giftpapiere privat finanziert, während für die Risiken letztlich der Staat geradestehen muss (Hartmann-Wendels 2009). Es ist zudem unklar, zu welchem Preis die faulen Papiere von den Fonds letztlich aufgekauft werden. Für die Preisfindung sind Auktionen vorgesehen (U.S. Treasury 2009). Damit werden aber diejenigen Banken, die entweder gar keine Käufer für ihre toxischen Papiere finden oder dies nur zu einem sehr geringen Preis, weitere Abschreibungen tätigen müssen. Desweiteren ist nicht zu erwarten, dass Banken sich von ihren toxischen Papieren zu einem „fairen" Preis trennen werden, wenn sie danach als überschuldet gelten müssen (Wilson 2009). Aber selbst wenn die Bankbilanzen bereinigt werden, setzt der Geithner-VXarv keine Anreize, die Kreditvergabe zu erhöhen. Es wird vielmehr befürchtet, dass die Banken die freiwerdenden Mittel für andere Zwecke einsetzen (Mclntire 2009). Ungeachtet der hohen Kosten für den Steuerzahler löst Geithners Plan daher nicht das zentrale Problem. Ein anderes, vielfach diskutiertes Konzept ist die bilanzielle Auslagerung der toxischen Papiere in eine sogenannte „Bad Bank". Sowohl eine einzige, staatliche „Bad Bank" als auch dezentrale Zweckgesellschaften sind dafür in der Diskussion. Die Grundidee ist es, die Abwertungsspirale in den Bankbilanzen zu durchbrechen und den Instituten gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, sich wieder ganz auf die normale Geschäftstätigkeit zu konzentrieren. Die „Bad Bank" wiederum kann die problematischen Papiere ohne Zeitdruck verwerten, da sie nicht den üblichen Bilanzierungsvorschriften unterliegt und ihre Verbindlichkeiten staatlich garantiert sind. Nach einem solchen Modell ist insbesondere die schwedische Bankenkrise Anfang der 1990er Jahre erfolgreich bewältigt worden. Dabei blieben im Endeffekt kaum Kosten für den Steuerzahler übrig, denn mit der Überwindung der Krise erholten sich viele der zuvor stark gefallenen oder unverwertbar erscheinenden Vermögenswerte - hauptsächlich Immobilien - wieder (Sachverständigenrat 2008, S. 150 f.). Auch für die Lösung der aktuellen Krise sind verschiedene „Bad Bank"-Konzepte in der Diskussion. Sie basieren auf der gemeinsamen Idee, Zeit zur Sanierung der Banken zu erkaufen. Die Unterschiede liegen in folgenden Punkten: (1) Wie sind die toxischen Papiere zu bewerten bzw. zu welchem Preis sollen sie den Banken abgenommen werden? (2) Sollen die Banken im Austausch für diese Papiere Bargeld, Anteilsscheine oder Staatsanleihen erhalten, und wie sind in den letzteren Fällen die Konditionen hinsichtlich Fälligkeit und Verzinsung? (3) Wie refinanziert sich die „Bad Bank", bzw. wer

18 Für einen Überblick und weitere Einzelheiten zu TALF vgl. Board of Governors of the Federal Reserve System und U.S. Treasury (2009).

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trägt die Risiken, wenn der Übernahmepreis für die von ihr übernommenen toxischen Papiere sich als zu hoch angesetzt erweist? Ein vom Bundesverband deutscher Banken vorgeschlagenes Modell 19 sieht die Einrichtung eines „Mobilisierungsfonds" beim SoFFin vor, in den die Giftpapiere eingebracht werden sollen. Im Gegenzug sollen die Banken dafür Staatspapiere erhalten, die zum 3Monatszins Fibor verzinst werden. Nach zehn Jahren sind sie aus den bis dahin erzielten Veräußerungserlösen der toxischen Papieren zu tilgen. Wenn in dieser Schlussabrechnung ein Fehlbetrag verbleibt - wovon auszugehen ist - soll dieser in einer „fairen Lastenverteilung" gemeinsam von Staat und Banken getragen werden. Eventuelle Gewinne sollen hälftig an den Staat und an die Banken gehen. Auch dieses Modell bürdet einseitig die Risiken dem Staat auf. Gewinne sind zumindest im Saldo nicht zu erwarten, und die Verlustanteile der Banken sind nach den Vorstellungen des Verbandes so zu begrenzen, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit - auch im Vergleich zur staatlich unterstützten Konkurrenz aus dem Ausland - erhalten bleibt. Die zwischenzeitliche Verzinsung der Staatspapiere soll zwar bei der Schlussabrechnung berücksichtigt werden. Im Endeffekt ist dies aber angesichts der dabei vorgesehenen Verlustbegrenzung der Banken ohne wirkliche Bedeutung. Dieser Vorschlag widerspricht eindeutig dem marktwirtschaftlichen Haftungsprinzip und ist damit sowohl aus fiskalischen als auch aus ordnungspolitischen Gründen abzulehnen. In etwas andere Richtung geht ein vom Finanzministerium erarbeiteter Plan, zu dem ebenfalls bisher nur ein unveröffentlichtes Konzeptpapier „Bilanzentlastung einer Bank: Modell einer Bad Bank" sowie Pressemeldungen und Interviews des Finanzministers vorliegen (Schäfers 2009a).20 Demnach sollen die Banken ihre toxischen Papiere an Zweckgesellschaften (dezentrale „Bad Banks") zum Buchwert übertragen. Im Gegenzug stellen sie Anteile an diesen Zweckgesellschaften in gleicher Höhe in ihre Bilanzen. Diese müssen nicht abgeschrieben werden, weil die „Bad Banks" nicht den üblichen Bilanzrichtlinien unterliegen. Abgerechnet wird hier bei Fälligkeit der übernommenen Papiere. Da die tatsächlichen Erlöse sicher weit unter dem Nennwert liegen, haben die Banken bis dahin Ausgleichszahlungen in Höhe des voraussichtlichen Fehlbetrages zu bilden. Die Höhe dieser Zahlungen - und damit der faktische Übernahmepreis der toxischen Papiere - muss in Verhandlungen zwischen Staat und Banken vorab festgelegt werden. Erweisen sie sich im Nachhinein als zu niedrig, so trägt auch hier zunächst der Staat das Risiko, denn der SoFFin garantiert in dem Konzept für den Nominalwert der Anteile an den Zweckgesellschaften. Dafür müssen die Banken hier allerdings eine risikoadäquate Gebühr zahlen, und zudem soll ein etwaiger Fehlbetrag durch spätere Gewinne der Banken dem Staat erstattet werden. 21 Im Kern zielt auch diese Konstruktion auf Zeitgewinn, versucht dabei aber die Kosten für den Staat gering zu halten. Denn die Banken werden zwar bilanzmäßig entlastet, 19 Es gibt dazu lediglich Pressemeldungen sowie ein unveröffentlichtes Positionspapier des Verbandes, welches den Verfassern vorliegt. 20 Der Vorschlag ist Mitte Mai 2009 modifiziert worden. Wir stellen hier diese Version dar. 21 Ursprünglich war dies nicht vorgesehen, und es waren auch nur Rückstellungen anstelle von Ausgleichszahlungen zu bilden. Mit den im Mai 2009 vorgenommenen Modifikationen näherte sich der Plan dem hier vertretenen Konzept bereits tendenziell an.

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müssen aber aus künftigen Gewinnen den - voraussichtlichen - Wertverlust ihrer Aktiva in Form von Rückstellungen letztlich doch selbst tragen. Gleichwohl hat der Vorschlag zwei gravierende Nachteile. Zum einen erfordert er eine Vorabfestlegung des Wertes der toxischen Papiere, was letztlich Verhandlungssache ist. Solange die Banken nicht zur Kooperation gezwungen werden, sitzen sie dabei am längeren Hebel. Es ist daher zu erwarten, dass die Preise tendenziell zu hoch ausfallen werden22 und somit im Saldo ein Fehlbetrag bei Fälligkeit verbleibt. Inwieweit dieser durch die für diesen Fall vorgesehene Ausschüttungssperre tatsächlich kompensiert werden wird, ist unklar. Keinesfalls reicht hier eine bloße Abdeckung des nominellen Fehlbetrages aus, es müssen vielmehr auch die Kosten der Vorfinanzierung durch den SoFFin berücksichtigt werden. Bisher hat das Finanzministerium keine entsprechende Barwertkalkulation23 vorgelegt, wie auch überhaupt die Details des Konzeptes derzeit noch weitgehend im Dunkeln liegen. Der zweite Nachteil des Steinbruck-Modells liegt darin, dass in diesem Konzept den Banken relativ wenig Zeit für den realen Verlustausgleich bleibt. Die Garantiegebühren und Ausgleichszahlungen belasten sowohl ihre Liquidität als auch das Eigenkapital und stehen daher dem Ziel einer raschen Wiederbelebnung der Kreditvergabe an die Unternehmen entgegen. Wie weiter unten gezeigt werden wird, ist ein im Prinzip ähnlicher, aber wesentlich einfacherer Weg möglich, der das Problem über wesentlich längere Zeiträume verteilt und damit den kontraproduktiven Liquiditätsentzug des SteinbrückVorschlages vermeidet.

IV. Ein Ansatz aus der deutschen Geschichte: Die Ausgleichsforderungen In Deutschland wurde schon zweimal ein massives Bilanzproblem der Banken in Folge der Entwertung ihrer Aktiva erfolgreich gelöst, zum einen nach dem Zweiten Weltkrieg und zum anderen nach der Deutschen Wiedervereinigung. Es wurden dabei jeweils spezielle Bilanzausgleichsposten, sogenannte Ausgleichsforderungen24, geschaffen, die letztlich nicht anderes als verzinsliche Staatspapiere waren. Sie dienten dazu, die sich aus den historischen Ereignissen ergebende Entwertung von Bankaktiva zum einen bilanzmäßig abzufangen und zum anderen den Banken entsprechende Ersatzeinnahmen für die entfallenen Erlösquellen zu verschaffen. In beiden Fällen hat dies weit22 Die „Fair Value" Bewertung erlaubt den Banken in Abwesenheit eines Marktes eine „market-tomodel" Bewertung, die wegen ihrer großen Ermessensspielräume zu Gunsten der Banken auch als „market-to-maybe" verspottet wird. (Baetge 2009a, S. 23). Gleichzeitig gilt natürlich das zuvor gesagte bezüglich des Unwillens der Banken, ihre „toxischen" Papiere abzugeben (Wilson 2009). 23 Eine solche Kalkulation findet sich bei van Suntum (2009c). 24 Eine Ausgleichsforderung ist eine „Geldforderung der Geldinstitute, Versicherungsunternehmen und Bausparkassen gegen die öffentliche Hand" (Goerke 1961, S. 13), die dem Ausgleich einer währungsgesetzlich bedingten Unterbilanz sowie auferlegter Belastungen dient. Zu den Geldinstituten wurden alle Banken, Bankgeschäfte, Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Girozentralen, die Bank deutscher Länder, die Landeszentralbanken, Postscheckämter, Postsparkassen, alle Kreditanstalten des öffentlichen Rechts, Grundkreditanstalten, Kommunalkreditanstalten, Schiffbeleihungsbanken und Ablösungsanstalten gezählt. Die Versicherungsunternehmen umfassten auch die Rückversicherungsunternehmen (Goerke 1961, S. 13 f.).

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gehend reibungslos funktioniert. Es liegt daher nahe, sich auch in der gegenwärtigen Finanzkrise an dem damaligen Vorgehen zu orientieren, was auch schon frühzeitig in die politische Diskussion eingebracht wurde. 2 5 Ausgleichsforderungen wurden zum ersten Mal bei der Währungsreform 1948 eingesetzt. D i e s e war notwendig geworden, da der Zweite Weltkrieg die Staatsfinanzen und das Währungssystem des Deutschen Reiches komplett zerrüttet hatte. 26 Die westdeutsche 2 7 Währungsreform v o m 21. Juni 1948 war einer der schärfsten Währungsschnitte in der deutschen Geschichte: Bei einem Gesamtumtauschverhältnis von 100 R M zu 6,5 D M wurden 93,5% des Geldvolumens „eingedampft" (Abelshauser 2004, S. 125). D a Forderungen, d.h. im Wesentlichen Kriegsanleihen der Geschäftsbanken und Verbindlichkeiten w i e z.B. Mieten, Löhne, Renten etc., nicht gleichmäßig, sondern unter sozialpolitischen Gesichtspunkten umzutauschen waren, 2 8 wurden für den Bilanzausgleich des Finanzsektors spezielle Schuldtitel der öffentlichen Hand eingeführt. 2 9 Das Konzept der Ausgleichsforderungen basierte auf dem Plan30

Colm-Dodge-Goldsmith-

der amerikanischen Militärregierung, der die wesentlichen Eckpunkte der Wäh-

rungsreform für Westdeutschland diktierte ( W a n d e l 1980, S. 162 ff.; Abelshauser

2004,

S. 125). D i e Ausgleichsforderungen 3 1 waren unterverzinslich 32 und kaum fungibel 3 3 . D a 25 So die Vorschläge im Januar 2009 von dem haushaltspolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Steffen Kampeter und zeitgleich von Ulrich van Suntum (Schäfers und Frühauf 2009 sowie van Suntum 2009a). 26 Zwar war es dem deutschen Reich gelungen, etwa die Hälfte der Kriegskosten aus laufenden Einnahmen zu decken, die andere Hälfte wurde jedoch über Kredite finanziert. Um jedoch die laufend steigende Staatsverschuldung vor der Bevölkerung zu verheimlichen, wurden die Anleihen nicht wie im Ersten Weltkrieg an das Publikum ausgegeben, sondern an die Geschäftsbanken, welche in Ermangelung alternativer Anlageformen gezwungen waren, diese zu zeichnen (Wandel 1998, S. 34 ff.). Die Geldmenge nahm von Herbst 1939 bis zum Herbst 1944 von 51 Milliarden RM auf 160 Milliarden. RM zu (Buchheim 1988a, S. 199), und das bei stetig sinkenden Güterangebot durch zunehmende Rüstung. Die dadurch induzierte und während des Krieges durch staatliche Bewirtschaftung zurückgestaute Inflation führte nach dem Krieg zum raschen Währungsverfall, so dass die Zigarette auf dem Schwarzmarkt beinahe das alleinige Zahlungsmittel im täglichen Leben wurde (Wandel 1980, S. 142). 27 Die Währungsreform in der SBZ ist im Wesentlichen eine vorbereite Reaktion auf die Reform in den Westgebieten (für einen kurzen Überblick siehe Abelshauser 2004, S. 125 f.). 28 Für einen Überblick über die genauen Modalitäten der Umstellung Buchheim (1988a, S. 217 ff.). 29 Die gesetzliche Grundlage dafür bildeten das Umstellungsgesetz und die Bausparkassenverordnung. Der Zweck dieser Ausgleichsforderungen bestand darin, dass „nach den genannten Rechtsquellen [...] mit Hilfe des neuen Titels den nach den Währungsgesetzen in die DM-Eröffhungsbilanzen der Geldinstitute, Versicherungsunternehmen und Bausparkassen eingestellten Passiven einschließlich des Eigenkapitals ein Vermögensposten gegenbergestellt werden [soll], soweit die ebenfalls gesetzlich umgestellten Aktiven zu deren Deckung nicht ausreichen" (Goerke 1961, S. 7). 30 Der Plan legte in Art. III, Abschnitt 3 folgendes fest: „Zur Sicherung gewisser für das Wirtschaftsleben notwendige Arten von Geldforderungen erhalten Banken, Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungskassen und andere noch näher zu bestimmende Institutionen unter Berücksichtigung des Wertes aller anderen ihnen verbleibenden Aktiva einen ausreichenden Betrag der in Artikel III, Abschnitt2 vorgesehenen provisorischen deutschen Schuld zum Ausgleich ihrer endgültig ermittelten und anerkannten Verbindlichkeiten in Deutscher Mark (ausschließlich Eigenkapital) gegenüber dem deutschen Publikum" (Einen Abdruck in deutscher Sprache findet sich bei Möller 1961, S. 214-254). 31 Die folgenden Abschnitte beruhen, soweit nicht anders vermerkt, im Wesentlichen auf dem Aufsatz zu den Ausgleichsforderungen in den Monatsberichten der Bundesbank. Neben den „normalen" Ausgleichsforderungen bestanden noch Sonderausgleichsforderungen und Rentenausgleichsforderungen (vgl. hierzu Bundesbank 1995, S. 56).

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anfangs zudem eine Tilgung nicht vorgesehen war, hätten die Forderungen bilanzrechtlich erheblich unter dem Nennwert angesetzt werden müssen, z.B. bei einer mit 3% verzinsten Forderung unter der Hälfte des nominellen Wertes. Dies hätte aber dem Ziel des Bilanzausgleiches widersprochen. Daher wurde gesetzlich bestimmt, dass Ausgleichsforderungen nur zum Nennwert bilanziert und veräußert werden durften {Bundesbank 1995, S. 57 ff.). Schuldner der Ausgleichsforderungen waren im juristischen Sinne die Länder, in denen die Finanzinstitute ihren Sitz hatten. Wirtschaftlich waren sie Forderungen gegen die noch nicht bestehende Bundesrepublik. Insgesamt sind durch die Währungsreform von 1948 und die Folgegesetze etwa 22,2 Milliarden DM Ausgleichsforderungen entstanden, wovon 8,7 Milliarden DM auf die Bundesbank bzw. ihre Vorläufer, 7,3 Milliarden DM auf die Kreditinstitute, 5,9 Milliarden DM auf die Versicherungen und 66 Millionen DM auf die Bausparkassen entfielen. Der Anteil der Ausgleichsforderungen am Geschäftsvolumen der Kreditinstitute betrug 1950 im Durchschnitt etwa 15%, wobei die Sparkassen mit 38% und die Kreditgenossenschaften mit 27% deutlich darüber lagen. Die Versicherungen wiesen im Durchschnitt sogar 60% aus. Die Ablösung der Schuld wurde 1956 durch das Gesetz über die Tilgung von Ausgleichforderungen geregelt34 und durch das zweite Tilgungsgesetz 1965 im Wesentlichen dem Bund übertragen35 und seit den 1970er Jahren zunehmend schneller bis 1995 durch den Bundesbankgewinn und aus dem Staatshaushalt abgebaut. Die Ausgleichsforderungen der Bundesbank wurden allerdings bis heute nicht getilgt. Da diese jedoch nach EU-Vertrag (Art. 104) einen verbotenen Notenbankkredit darstellen, wurde im Bundeshaushalt 1994 eine Tilgung über zehn Jahre im Zeitraum 2024-2034 beschlossen (Bundesbank 1995, S. 57). Die Ausgleichsforderungen bedeuteten trotz ihrer Verzinslichkeit eine erhebliche Belastung für die Rentabilität und Liquidität des Finanzsektors (Bundesbank 1995, S. 58 f.). Sie konnten lombardiert werden, was allerdings erhebliche Kreditkosten nach sich zog. Daher wurden unter besonderen Umständen, z.B. bei besonderer wirtschaftlicher Belastung eines Kreditinstituts, die Ausgleichsforderungen schon seit 1948 in Form von sogenannten „Dringlichkeitskäufen" zurückgenommen, allerdings befristet bis zur Bes32 Den Landeszentralbanken, der Bank Deutscher Länder und den Kreditinstituten wurde ein Zinssatz von 3%, den Versicherungen von 3,5% (0,5% Verwaltungskostenaufschlag, die Sonderausgleichsforderungen aber ebenfalls zu 3%), den Realkreditinstitute von 4,5%, wenn diese der Deckung von Schuldverschreibungen dienten, gewährt. 33 Die Veräußerung der Ausgleichsforderungen war nur nach Eintragung in die Schuldbücher möglich (vgl. hierzu zeitgenössisch Meder und Ernst 1950), wobei allerdings die Handelbarkeit auf den Finanzsektor begrenz wurde. Einzige Ausnahme war der Ankauf oder Beleihung von Ausgleichsforderungen im Verkehr mit dem Zentralbanksystem. In realiter wurden die Ausgleichforderungen im Wesentlichen nur im Zuge von Fusionen und Bestandsübertragungen der Gläubigerinstitute gehandelt (Bundesbank 1995, S. 58 f.). 34 Bezüglich der Tilgung der Ausgleichsforderungen sah das Gesetz eine langfristige Bartilgung vor, wobei die Tilgungsdauer in einem angemessenen Verhältnis zu den Regelungen des Lastenausgleichsgesetzes und des Kriegsfolgensehlussgesetzes stehen musste (Schlichting 1956, S. 32). Verzinsliche Ausgleichsforderungen waren halbjährlich nachträglich mit 0,5% zuzüglich der durch die Tilgung ersparten Zinsen und unverzinsliche Ausgleichsforderungen mit 2% zu tilgen. Demnach wären die letzte Schuld bis 2002 abgetragen worden (vgl. mit genauen Angaben zum Tilgungsverlauf Bundesbank 1995, S. 62-67). 35 Nach Art. 120 GG hat der Bund die Kriegsfolgelasten zu tragen, weswegen das Bundesverfassungsgericht das erste Tilgungsgesetz für nichtig erklärte (Bundesbank 1995, S. 64 f.).

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serung der wirtschaftlichen Lage. Daneben standen die „Nivellierungskäufe" nach § 9 des Tilgungsgesetzes v o n 1956, mit denen Spitzenbelastungen von Gläubigern mit hohem Bilanzanteil von Ausgleichsforderungen gemindert werden sollten. Die hohe B e lastung mit Ausgleichsforderungen scheint insgesamt allerdings weder den Finanzsektor noch das Wirtschaftswachstum wesentlich behindert zu haben. 3 6 Im Zuge der Währungsunion v o m 1. Juli 1990 wurde erneut auf das bewährte Instrument zurückgegriffen. 3 7 Banken und Außenhandelsbetriebe wurden mit Ausgleichsforderungen gegen den „Ausgleichsfonds Währungsumstellung" ausgestattet, u m Bilanzlücken zu schließen und eine angemessene Eigenkapitalausstattung der Banken zu gewährleisten. Denn aufgrund der - wiederum politisch motivierten - asymmetrischen Umstellung der Aktiva überstiegen die DM-Sparguthaben der ostdeutschen Bevölkerung die Betriebsvermögen erheblich. Zusätzlich galt es, die Überschuldung der als sanierungsfahig geltenden Unternehmen zu verhindern (Kreiss 2003, S. 70;

Bundesbank

1996, S. 48). Daher wurden auch ihnen Ausgleichsforderungen gegen die Treuhand eingeräumt. 38 Beide Formen der Bilanzhilfen sind letztlich in den Erblastentilgungsfond 3 9 überfuhrt worden {Bundesbank

1996, S. 37 f.).

36 In den meisten Arbeiten zur Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit werden die Ausgleichsforderungen kaum oder nur unter technischen Gesichtspunkten erwähnt, was letztlich auf geringe gesamtwirtschaftliche Auswirkungen schließen lässt (beispielhaft Wehler 2003; Wandel 1998; Abelshauser 2004). 37 Die Regelungen über Ausgleichsforderungen und Verbindlichkeiten der Unternehmen wurden im §§ 24 und 25 des DM-Bilanzgesetzes (DMBilG) vom 18. April 1991 niedergelegt. Für Kreditinstitute und Außenhandelsbetriebe wurden auf Grundlage des Art. 8 § 4 der Anlage I zum Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währung-, Wirtschafts- und Sozialunion und einiger Verordnungen des Bundesaufsichtsamt fiir das Kreditwesen Ausgleichsforderungen zugeteilt bzw. eingestellt. Die wesentlichen Bestimmungen fanden Eingang in die § § 4 0 und 41 des DMBilG (Kreiss 2003, S.100 f; Bundesbank 1996, S. 41). 38 Alleiniges Finanzierunginstrument in der DDR waren Bankkredite, die nach Plankriterien zugeteilt wurden. Daher bestanden die Passiva der Betriebe fast vollständig aus Bankkrediten (Kreiss 2003, S. 234). 39 „Der Erblastentilgungsfonds wurde durch das Föderale Konsolidierungsprogramm geschaffen und fasst die wesentlichen Elemente der finanziellen Erblasten der ehemaligen DDR zusammen, verzinst und tilgt sie. Er hat 1995 und 1997 folgende Verbindlichkeiten übernommen (jeweils mit Schuldübernahmebetrag per 31. Dezember 2004): 1. Die Verbindlichkeiten des Kreditabwicklungsfonds (Vorläufer des ELF) - ca. 58 Milliarden [....], 2. Als Mitschuldner die bis zum 31. Dezember 1994 aufgelaufenen Verbindlichkeiten der Treuhandanstalt aus Wertpapieremissionen und sonstigen aufgenommenen Krediten, übernommenen Altkrediten und Ausgleichsforderungen von Treuhandunternehmen (im Innenverhältnis zur Treuhandanstalt ist der Fonds alleiniger Schuldner) - ca. 105 Milliarden. €, 3. Altverbindlichkeiten von Wohnungsunternehmen und privaten Vermietern von Wohnraum im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nach den Vorschriften des Altschuldenhilfe-Gesetzes. - ca. 14 Milliarden €, 4. Die am 1. Januar 1997 bei der Gesellschaft für kommunale Altkredite und Sonderaufgaben der Währungsumstellung (GAW) zu Buche stehenden Kredite für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen. (Nach Altschuldenregelungsgesetz leisten die neuen Bundesländer einen Beitrag zur Tilgimg dieses Kreditvolumens -[...]))- ca. 4 Milliarden €. 5. Der Gesamtbetrag der vom ELF übernommenen Verbindlichkeiten ohne Berücksichtigung zwischenzeitlicher Tilgungen (Schuldenhöchststand) beläuft sich aus heutiger Sicht auf ca. 181,4 Milliarden. € und kann sich aufgrund weiterer Teilentlastungen nach Altschuldenhilfegesetz nur noch geringfügig erhöhen. [....] Ende 2000 betrugen die Schulden des ELF noch rd. 127 Milliar-

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Insgesamt entstanden im Zuge der Wiedervereinigung bis ins Jahr 2000 Ausgleichsforderungen der Banken und Außenhandelsbetriebe40 gegen den Ausgleichsfonds Währungsumstellung in Höhe von 88,8 Milliarden DM, wobei davon auszugehen ist, dass zu diesem Zeitpunkt die Zuteilung weitestgehend abgeschlossen war (Kreiss 2003, S. 136 f.).41 Ein wesentlicher Unterschied zu 1948 war, dass die im Zuge der Wiedervereinigung entstandenen Forderungen marktmäßig entsprechend dem 3-Monatszins FIBOR verzinst wurden, mit dem Ziel, die korrespondierenden Lücken in den Erträgen der Banken zu schließen. Die Ausgleichsforderungen sind in den Bilanzen zum Nennwert anzusetzen42 und vom Ausgleichsfond jährlich, beginnend mit dem 1. Juli 1995, nachträglich mit 2,5% zu tilgen {Bundesbank 1996, S, 41 ff.; Kreiss 2003, S. 106-109). Zudem können endgültig43 zugeteilte Ausgleichsforderungen in börsennotierte, voll lombardfahige Inhaberteilschuldverschreibungen umgewandelt werden („Mobilisierung"). Dies führte dazu, dass ihr Bestand in den Bilanzen der Banken rasch abnahm {Bundesbank 1996, S. 46 f.); bis zum 1. Januar 2001 wurden etwa 85,3 Milliarden DM, d.h. 96%, verbrieft {Kreiss 2003, S. 138). Im Unterschied zu 1948 stellten die Ausgleichsforderungen von 1990 nicht nur einen reine Bilanzhilfe dar, sondern waren wegen ihrer Verzinsung und hohen Liquidität ein gefragtes Anlagemedium.44 Die Belastungen aus der Währungsumstellung wurden also nicht auf die Geldinstitute abgewälzt, sondern vom Steuerzahler getragen {Bundesbank 1996, S. 44). Zusammenfassend lassen sich aus der Anwendung der Ausgleichsforderungen folgende Schlüsse ziehen: Erstens sind eventuell notwendige Änderungen von Bilanzierungsregeln durchaus möglich, ohne dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.

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den. €. Anfang 2001 wurden unter Einsatz von Einnahmen aus der Versteigerung der UMTSLizenzen Verbindlichkeiten des AFW von rd. 34 Milliarden. € getilgt. Ende 2003 betrugen die ELF-Schulden noch ca. 40 Milliarden. €. Die letzte planmäßige Verbindlichkeit des ELF steht 2011 zur Tilgung an. Somit wird der ELF aufgrund der 1999 erfolgten Schuldenmitübernahme durch den Bund und der Verwendung der UMTS-Mittel erheblich früher getilgt als innerhalb einer Generation, wie ursprünglich bei seiner Errichtung im Jahr 1993 vorgesehen worden war" ('Bundesministerium der Finanzen 2005). Ausgleichsforderungen in Höhe von 1,6 Milliarden DM gingen an rund 50 Außenhandelsbetriebe der ehemaligen DDR aufgrund der Differenz zwischen Wechsel- und offiziellen Umtauschkurs. Auf Ostmark lautende Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, wurden im Verhältnis 2:1 umgestellt, die Valutaverbindlichkeiten blieben allerdings in gleicher Höhe erhalten. Die Ausgleichsforderungen wurden lediglich soweit zugeteilt, wie es zur Begleichung aller Verbindlichkeiten notwendig war. Anschließend erfolgte die Abwicklung aller Außenhandelsbetriebe. Wegen der geringen Summe sollen sie an dieser Stelle jedoch nicht explizit betrachtet werden (Bundesbank 1996, S. 47; Kreiss 2003, S. 28). Legt man, in Ermangelung genauerer statistischer Nachweise, die zuvor angegeben Zahlen zugrunde, ergibt sich eine Gesamtsummer der aus Wertberichtigungen stammenden Ausgleichsforderungen von etwa 52,3 Milliarden DM (Kreiss 2003, S. 104). Die in Schuldverschreibungen umgewandelten Ausgleichsforderungen sind jedoch wie vergleichbarer Wertpapiere zum Niederstwertprinzip zu bewerten {Deutsche Bank 1996, S. 42). Vorläufig zugeteilte Forderungen konnten bis zu einem Anteil von 75%, später 90%, mobilisiert werden. Diese Grenze soll dazu dienen, bei nachträglicher Wertberichtigung Komplikationen zu vermeiden {Bundesbank 1996, S. 42; Kreiss 2003, S. 107). So urteilt die Bundesbank. „Im Ergebnis hat die Bewältigung der umstellungs- und abschreibungsbedingten bilanziellen , Schieflagen' inzwischen keine große Bedeutung mehr; die Ausgleichsforderungen sind von den ostdeutschen Banken zur Liquiditätsbeschaffung und zur Steuerung der Aktivseite eingesetzt worden" {Bundesbank 1996, S. 46).

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Zweitens ist der Finanzsektor in der Lage, trotz der damit verbundenen Rentabilitätsund Liquiditätsbelastung einen relativ hohen Anteil an niedrigverzinslichen Anleihen zu halten. Drittens ermöglichen Ausgleichsforderungen durch die Instrumente der „Dringlichkeits"- und „Nivellierungsankäufe", aber auch durch Veränderung der Zinssätze, relativ flexible, einfache und transparente Maßnahmen zur Unterstützung von notleidenden Finanzinstituten.

V. Vorschlag: Zinslose Staatspapiere mit offener Laufzeit Im Folgenden wird nun ein Vorschlag dargelegt, der die Grundidee der Ausgleichsforderungen aufgreift und geeignet ist, mehrere der mit einer Bad Bank verbundenen Schwierigkeiten simultan und unter Einhaltung ordnungspolitischer Grundsätze zu lösen. Ein einfaches „Herauskaufen" des ganzen Bankensystems wäre jedenfalls keine ordnungspolitisch tragfähige Lösung, da es langfristig die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer erhöht sowie die Marktbereinigung verlangsamt (Calomiris und Mason 2003, S. 5 f.)45. Neben dem rein bilanziellen Verzehr des Eigenkapitals kann auch chronische Illiquidität oder mangelnde Ertragskraft zur Insolvenz von Banken fuhren. Deshalb ist es zweckmäßig, zwischen verschiedenen Graden der Betroffenheit einer Bank zu unterscheiden:46 — A-Banken unterliegen Wertberichtigungen und/oder Kursverlusten auf der Aktivseite, können jedoch die ökonomisch und rechtlich notwendigen Mindesteigenkapitalquoten aus eigener Kraft aufrechterhalten. — B-Banken sind zwar auf Dauer ertragsstark genug, um die Verluste auf der Aktivseite durch spätere Gewinne auszugleichen. Sie drohen jedoch aufgrund der bilanzrechtlich vorzunehmenden Abschreibungen zumindest vorübergehend unter die Mindesteigenkapitalquoten zu sinken und damit insolvent zu werden. — Bei C-Banken sind die Verluste auf der Aktivseite so groß, dass ihre Ertragskraft auch auf Dauer ihre Kosten nicht mehr deckt oder zumindest temporäre Illiquidität droht. Sie haben damit nicht nur ein rechtliches Bilanzproblem, sondern können sich auch ökonomisch nicht mehr aus eigener Kraft im Markt halten. Sie künstlich am Leben zu halten, wäre sogar kontraproduktiv, da die Eigner dazu neigen werden, hochspekulative Projekte im Rahmen eines „gamble for resurrection" zu unterstützen (Wilson und Wu 2008, S. 5 f.). Solche C-Banken sind abzuwickeln, wovon in Deutschland vor allem die Landesbanken betroffen wären. 45 "The implication is clear: safety nets themselves, through their effects on bank behavior have been a significant contributor to the cost of resolving bank distress. And it is worth reiterating that one of the supposed benefits of safety net assistance - limiting the reduction in bank credit supply in the wake of macroeconomic shocks - is usually illusory: Financial crises produce the worst credit crunches because "resurrection strategies" by banks magnify initial bank losses from macroeconomic shocks and ultimately reduce credit supply accordingly. Once banking systems collapse under the weight of safety net-induced risk taking, the ultimate credit crunch is deeper and lasts longer" (Calomiris und Mason 2003, S. 5 f.). 46 Eine ähnliche Unterscheidung wurde bei der Lösung der schwedischen Bankenkrise von 1992 verwendet {Sachverständigenrat 2008, S. 149; Andersson und Viotti 1999).

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Der hier präsentierte Vorschlag zielt vor allem auf die Stabilisierung der A- und BBanken.47 Grundsätzlich ist die Rettungsstrategie so zu wählen, dass „Moral Hazard" reduziert und „Market Discipline" erzwungen wird (Calomiris und Mason 2003, S. 6 und S. 31). Da in der aktuellen Krise der Wertverfall ihrer Aktiva von den Banken selbstverursacht ist, besteht kein Anlass, den Staat an den Kosten zu beteiligen, wie es bei den verzinslichen Ausgleichsforderungen der Fall war. Vorgeschlagen wird vielmehr der Austausch der toxischen Papiere gegen unverzinsliche Staatsanleihen (Zerobonds) mit zunächst offener Laufzeit.48 Konkret sieht der Plan folgendes vor: — Im ersten Schritt nimmt der Staat den Banken ihre toxischen Papiere zum aktuellen Nennwert in der Bilanz ab, der beispielsweise 100 beträgt. Dafür erhält jede Bank unverzinsliche Staatsanleihen in gleicher Höhe, und zwar mit zunächst unbestimmtem Fälligkeitstermin. — Die vom Staat übernommenen Papiere werden zweckmäßigerweise von einer zentralen Stelle angekauft und verwaltet („Bad Bank"). Für jede Bank wird dabei aber ein eigenes Depot angelegt, so dass die Wertentwicklung der von ihr übernommenen Giftpapiere jederzeit nachvollziehbar bleibt. Sie sollte auch an der Verwaltung und an späteren Verwertungsentscheidungen beteiligt sein. Die zum Ausgleich in ihre Bilanz eingestellten Zerobonds haben damit praktisch den Charakter von Depotscheinen. — Wenn sich die Lage auf den Finanzmärkten allmählich normalisiert, versucht die staatliche „Bad Bank", die toxischen Papiere bestmöglich zu verkaufen oder abzuwickeln49. Als marktmächtiger und zudem nicht unter Liquiditätsdruck stehender Akteur hat sie hierfür weitaus bessere Möglichkeiten als eine einzelne Geschäftsbank. Daher wird sie dabei nicht prozyklisch agieren. — Die Erlöse legt die Bad Bank zinsbringend so lange an, bis diese insgesamt wieder den Nominalwert der dafür hingegebenen Zerobonds der betreffenden Bank (hier im Beispiel 100) ergeben. Erst dann löst sie die Zerobonds mit diesen Erträgen wieder ab. Dies kann je nach Güte der Papiere wenige Jahre oder auch mehrere Jahrzehnte dauern. Im Grenzfall völlig wertloser Aktiva bleiben die Zerobonds so lange in der Bilanz der betreffenden Bank, bis es deren Ertragslage ihr erlaubt, sie regulär auf Null abzuschreiben.50 Den Steuerzahler kostet dieses Verfahren nichts, abgesehen von den Verwaltungskosten der „Bad Bank". Der Teufelskreis aus Abschreibungen und Notverkäufen wird 47 Er ist auch auf C-Banken wie die Hypo Real Estate anwendbar, jedoch bedürfen diese des Einsatzes zusätzlicher Instrumente. In Frage kommen hier neben der Ultima Ratio einer Verstaatlichung insbesondere staatliche Garantien für den Zinsendienst, etwa für Pfandbriefe. Es versteht sich von selbst, dass die Aktionäre von solcherart staatlich geschützten C-Banken erst dann wieder Dividenden erhalten dürfen, wenn die Kosten für den Steuerzahler aus späteren Erträgen der Bank vollständig abgetragen worden sind (van Suntum 2009b). 48 Die offene Laufzeit ist dabei das Entscheidende, sie kann auch mit einer (Unter-)Verzinsung verbunden werden (vgl. da™ weiter unten). 49 Mit „abwickeln" ist hier sowohl das Abwarten der sich tatsächlich ergebenden Zahlungsströme als auch der Rückgriff auf dahinter stehende Sicherheiten („Assets") gemeint, der aufgrund der Komplexität der Produkte einige Zeit in Anspruch nehmen wird. 50 Die Zerobonds sollten analog zu 1948 nicht handelbar sein. Andernfalls könnten problematische Arbitragegeschäfte zur Manipulation der Eigenkapitalquoten getätigt werden.

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gleichwohl wirkungsvoll unterbrochen und das kurzfristige Insolvenzrisiko sinkt. Gleichzeitig ist das scheinbar so schwierige Problem einer Bewertung der toxischen Papiere damit automatisch gelöst. Denn die Bewertung findet über den variierenden Rückzahlungszeitpunkt quasi erst im Nachhinein statt: Je schlechter die Papiere vermarktet werden können, desto länger muss die Bank auf die Einlösung der Zerobonds warten. Mit dem auf diese Weise entstehenden Zinsverlust trägt sie die Kosten für ihr Fehlverhalten letztlich selbst, wenn auch verteilt über viele Jahre oder gar Jahrzehnte. Damit kommt der marktwirtschaftliche Sanktionsmechanismus der Haftung für eigene Verluste letztlich voll zum Tragen, ohne zum gesamtwirtschaftlich unerwünschten Zusammenbruch der Banken zu fuhren. Damit dieser Plan funktioniert, müssen die Zerobonds bestimmte Anforderungen erfüllen: 1. Insbesondere müssen sie mit dem Nennwert in die Bankbilanzen eingestellt werden, obwohl ihr Marktwert eigentlich viel niedriger ist. Das widerspricht zwar dem „fairvalue"-Prinzip der aktuellen Bilanzregeln, die jedoch entsprechend geändert werden können und teilweise schon sind.51 Angesichts der außergewöhnlichen Notlage sollten ebenfalls einer entsprechenden Sonderregelung für die staatlichen Zerobonds keine unüberwindbaren Hindernisse entgegenstehen, zumal auch in der Vergangenheit die Bilanzrichtlinien bei Bedarf schon mehrfach durch Sonderregelungen variiert worden sind {Baetge 2009b). Eine Reform der Bilanzierungsregeln ist wegen ihres prozyklischen Charakters ohnehin erforderlich {Baetge 2009a, S. 22; EEAG 2009, S. 79 und S. 98). 2. Zusätzlich sollten die zinslosen Staatspapiere frei von einer entsprechenden Eigenkapitalunterlegungspflicht sein. Immerhin ist ihre Rückzahlung zum Nennwert garantiert, und der Staat ist ein Schuldner höchster Bonität. Vor allem aber würden die Zerobonds damit automatisch antizyklisch wirken, indem sie der betreffenden Bank die Möglichkeit verschaffen, ihre Aktivseite auszuweiten und somit wieder vermehrt normale Kredite zu vergeben. Dies vermindert auch die Gefahr, dass die betreffenden Banken mangels hinreichender Erträge auf der Aktivseite in Liquiditätsschwierigkeiten oder doch noch in die Insolvenz geraten. Mit einer solchen Ausgestaltung erhalten die Zerobonds gleichsam den Charakter eines „Quasigeldes" bzw. künstlicher Liquidität. Sie wirken praktisch als zweites, staatlich garantiertes Reservemedium neben den Barreserven auf der Aktivseite der Bilanz und entlasten zudem das Eigenkapital. Da sie andererseits weder gegen Güter noch unmittelbar gegen Zentralbankgeld eingetauscht werden können, verbleiben sie stets im inneren Kreislauf des Finanzsektors. Ähnlich den Sonderziehungsrechten des IWF versorgen die Zerobonds somit den Finanzsektor mit Liquidität, ohne gleichzeitig eine Inflationsgefahr in der Realwirtschaft heraufzubeschwören. Besonders deutlich wird ihre systemstabilisierende Funktion in dem Fall, dass eine mit staatlichen Zerobonds zunächst am Leben gehaltene Bank schließlich doch noch insolvent wird. Dies ist keineswegs ausgeschlossen, da die Zerobonds ja nur die Bilanzrelationen verbessern, aber keinen echten Ertrag erbringen. Angenommen etwa, Bank C 51 Die EU-Kommission hat in der Verordnung (EG) Nr. 1004/2008 vom 15. Oktober 2008 die FairValue Bewertung teilweise ausgesetzt (Baetge 2009a, S. 22).

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wird insolvent, und die ebenfalls bereits angeschlagene Bank B habe ihr eine Summe von 100 geliehen. Erhält sie dafür aus der Konkursmasse beispielsweise nur noch 30 als Entschädigung, so entsteht auch in ihrer Bilanz ein entsprechender Abschreibungsbedarf und das Problem pflanzt sich damit im Finanzsektor fort. Anders ist es jedoch, wenn Bank B mit staatlichen Zerobonds aus den Beständen von Bank C entschädigt wird. Da die Zerobonds kein Eigenkapital binden, kann Bank B ihr Aktivgeschäft sogar ausweiten und so versuchen, den real erlittenen Verlust von 70 aufzufangen. Das System wirkt also stark antizyklisch in der Krise, ohne indessen Bank B ihre realen Verluste letztlich abzunehmen. Diese werden vielmehr wiederum nur auf viele Jahre, nämlich über die gesamte Laufzeit der von Bank C übernommenen Zerobonds, verteilt.

VI. Mögliche Einwände Gegen den hier vorgelegten Plan sind verschiedene Einwände vorgetragen worden,52 die jedoch entweder auf Missverständnissen beruhen oder denen sich entsprechend Rechnung tragen lässt. Eine eher oberflächliche Kritik verweist darauf, dass die Zerobonds in Wirklichkeit weit weniger wert sind als ihr Nennwert. Da dies an den Finanzmärkten bekannt sei, könnten sie somit nicht zur Vertrauensbildung beitragen. Richtig ist, dass sich an dem realen Unternehmenswert der Bank durch den Bilanztausch nichts ändert. Das soll auch gar nicht sein, denn andernfalls würden die Banken ihre Verluste eben nicht vollständig selber tragen. Sehr wohl ändert sich aber das Zeitprofil der Kosten und Erträge: Aus einer für die Bank fatalen Sofortabschreibung wird durch die Zerobonds ein auf viele Jahre verteilter Zinsverlust, der dazu noch transparent in der Bilanz ausgewiesen wird. Das entsprechend vermiedene bzw. zumindest sehr viel unwahrscheinlichere kurzfristige Insolvenzrisiko wird offen gelegt, und darauf kommt es für das Vertrauen der Kapitalmärkte vor allem an. Ein ähnlicher Einwand richtet sich gegen die Unbestimmtheit des Tilgungszeitpunkts für die Zerobonds. Auch hier wird auf eine damit verbundene, mögliche Verunsicherung der Kapitalmärkte verwiesen. Hier muss jedoch genau zwischen Eigen- und Fremdkapitalgebern unterschieden werden: Erstere mögen sich in der Tat von den unsicheren künftigen Erlösaussichten abgeschreckt fühlen, was aber auch für alle anderen, ohnehin unvermeidlichen Marktrisiken gilt. Für die Funktionsfahigkeit der Kreditmärkte sind jedoch vor allem die Gläubiger der Bank wichtig. Sie sind indessen von den langfristigen Ertragsaussichten der Bank gar nicht betroffen, mit Ausnahme eines möglichen Insolvenzrisikos, das aber durch den hier vorgelegten Vorschlag gerade sinkt. Ernster zu nehmen ist der Einwand, dass die Zerobonds bei entsprechendem Bilanzanteil die betreffenden Banken in Liquiditätsschwierigkeiten bringen könnten. Dem kann man jedoch dadurch Rechnung tragen, dass in solchen Fällen die Bonds eben doch verzinst werden, allerdings unterhalb des Marktzinssatzes. Die Zeitdauer für die Tilgung der Bonds würde sich dadurch automatisch verlängern, denn die gezahlten Zinsen wären in der Ertragsrechnung der Bad Bank als Negativposten zu berücksichtigen. In der Bar52 Die Verfasser haben ihren Vorschlag bisher in Internetforen, auf Tagungen sowie im politischen Raum zur Diskussion gestellt.

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Wertrechnung gibt es dann keinen Unterschied zu der Variante mit den Zerobonds, es wird der Bank lediglich noch mehr Zeit für die Abtragung ihrer Verluste eingeräumt. Schließlich mag man noch ganz generell in Zweifel ziehen, dass ein bloßer Bilanztrick ein reales und so gravierendes Problem wie die aktuelle Finanzkrise lösen kann. Man sollte sich allerdings vergegenwärtigen, dass Bilanztricks wie die Auslagerung von Krediten in Zweckgesellschaften schließlich auch eine wesentliche Ursache der Krise waren. Insoweit ist es durchaus folgerichtig, die Folgen des Bilanz-Voodoo quasi mit der gleichen Waffe zu bekämpfen. Sicher ist das alleine noch nicht ausreichend; es dürfte aber die fundamentale Unsicherheit bezüglich einer kurzfristigen, bilanzinduzierten Insolvenz der Marktteilnehmer entscheidend verringern.

VII. Schlussbetrachtung Derzeit zeichnet sich ab, dass die Politik wohl dem weiter oben skizzierten Steinbrück-Plan folgen wird. Dieser hat sich in seiner jüngsten Version dem hier vertretenen Konzept bereits deutlich angenähert, ist aber viel umständlicher und weniger zielgenau in seinen Auswirkungen. Im Grunde könnte auf die dort vorgesehenen Ausgleichszahlungen, Garantiegebühren und nachträglichen Gewinnabführungspflichten ganz verzichtet werden. Die Banken müssten stattdessen lediglich dazu verpflichtet werden, die Anteile an den Zweckgesellschaften so lange zu halten, bis über die Verwertung der toxischen Papiere genug Geld für ihre Ablösung zusammengekommen ist. Im Ergebnis läuft die inzwischen im Steinbrück-Vorschlag vorgesehene Ausschüttungssperre ja bereits darauf hinaus, ebenso wie das Nebeneinander von verzinslichen Anteilen und gleichzeitigen Ausgleichszahlungen letztlich dem hier vertretenen Konzept der Zerobonds sehr nahe kommt. Mit diesen Modifikationen würden die Banken mehr Zeit für das „Abstottern" ihrer Verluste erhalten. Denn der Ausgleich der Verluste erfolgt jetzt in zwei aufeinanderfolgenden Phasen, nämlich zunächst durch Verwertung und danach durch Reinvestition der Erlöse. Dadurch wäre die Nicht-Inanspruchnahme des Steuerzahlers gesichert bei gleichzeitig weitestgehender Schonung von Liquidität und Eigenkapitalbasis der Banken. Es erscheint zudem sinnvoll, alle Finanzinstitute mit nennenswerten Anteilen von Problempapieren in ihrer Bilanz zur Beteiligung an diesem Vorgehen zu zwingen. Dies rechtfertigt sich aus den negativen Externalitäten, welche mit weiteren Abschreibungen oder gar Bankinsolvenzen in der aktuellen Krise verbunden wären. Damit wäre auch der Einwand hinfällig, der hier vertreten Ansatz sei zu wenig attraktiv für die Banken und werde deshalb scheitern. Wer so argumentiert, macht sich von vorneherein erpressbar, da zumindest größere Banken darauf vertrauen können, dass der Staat ihnen ohnehin zur Hilfe eilen muss. Aus ordnungspolitischer Perspektive ist es daher nur folgerichtig, notfalls auch durch entsprechende Druckmittel das Haftungsprinzip durchzusetzen.

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Lebens-

Zusammenfassung In dem Aufsatz wird ein Vorschlag für eine Rettung des Bankensystems gemacht, der nicht zu Lasten der Steuerzahler geht. Dies geschieht durch die Anwendung des Instrument der Ausgleichsforderungen. Bereits zweimal, zum einen nach dem Ende des Dritten Reiches und zum anderen nach der deutschen Wiedervereinigung, wurden den Banken Ausgleichsforderungen zugeteilt, da die Aktiva durch Krieg bzw. friedliche Revolution zum größten Teil entwertet worden waren. Die Ausgleichsforderungen waren zum Bilanzausgleich gedacht, der aufgrund der asymmetrischen Umstellung von Forderungen und Verbindlichkeiten im Zuge der Währungsreform notwendig wurde. Diese Staatspapiere waren nicht fungibel, verzinslich und wurden im Laufe der Zeit langsam durch den Staat getilgt. Im Gegensatz zum damaligen Ansatz, schlagen wir vor, dass in der aktuellen Krise die toxischen Papiere, statt gegen verzinsliche, gegen unverzinsliche Staatspapiere ausgetauscht werden. Die Idee ist, die in den Bilanzen versteckten Risiken über die Zeit zu strecken und so dass die Banken die Zeche selber zahlen, ohne dass sie durch die Krise in die Insolvenz getrieben werden. Wie wir zeigen werden, ist diese Vorgehensweise aus ordoliberaler Sicht existierenden Lösungsansätzen vorzuziehen. Unverzinsliche Staatspapiere würden nicht nur den Steuerzahler schonen, sondern auch das Haftungsprinzip stärken und somit keine Anreize für ineffiziente Risikobereitschaft während der nächsten Blase schaffen.

Summary: The bank's balance sheet problems: a proposal for a solution In this paper, we propose a method for a bail-out of the banking system without expenses to the taxpayer. This is done by applying an instrument that has been twice proven to work successful. On two occasions, after the end of the Third Reich in World War II and after German Reunification in 1990, so called "Ausgleichsforderungen" (compensation bonds) were assigned to banks because the turmoil of war and peaceful revolution respectively had rendered worthless a great part of banks' assets. These compensation bonds were designed to agree the balance after an asymmetric conversion of outstanding accounts and liabilities during currency reform, which would have left most financial institutions in a state of over-indebtedness. These bonds were none fungible, bore interest and were in the course of time slowly redeemed by the German government. Contrary to this past approach, we suggest that in the current crisis the toxic assets should be exchanged by zero bonds rather than by interest bearing bonds. The key idea is to spread the hidden balance risks over time and thus, ultimately, make the banks themselves pay for the costs without forcing them into crisis induced insolvency. As will be outlined, this course of action is from an ordoliberal point of view superior to existing solution. Not only will zero bonds save taxpayer's money, but

246 •

Ulrich van Suntum und Cordelius Ilgmann

also uphold the market principle of liability for one's actions, thereby avoiding to set incentives for inefficient risk-prone behavior during the next bubble.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Roland Vaubel

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension Inhalt I. 1. 2. II. III. 1. 2. IV.

Ursachenanalyse 247 Falsche Marktanreize, unvollkommene Voraussicht oder Staatsversagen?. 247 Ein internationaler Deregulierungswettbewerb als Ursache der Krise? 252 Krisenmanagement 255 Der langfristige Reformbedarf 258 Dezentrale Lösungen 258 Die internationale Dimension 261 Schluss 264

Literatur

265

Zusammenfassung

265

Summary: Lessons from the financial crisis: The role of government and the international dimension

266

I. Ursachenanalyse Wenn man Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen will, muss man sich über ihre Ursachen im Klaren sein. Leider besteht in dieser Frage keine Einigkeit. Ich möchte neue Überlegungen in die Diskussion einbringen.

1. Falsche Marktanreize, unvollkommene Voraussicht oder Staatsversagen? Einige Ökonomen - vor allem in Deutschland - vertreten die Meinung, dass die Krise durch falsche Marktanreize verursacht wurde. Zu den Protagonisten dieser Schule gehörte schon sehr früh H.-W. Sinn: „Die Wechselwirkung zwischen dem Anreiz, das Eigenkapital zu minimieren, und dem Anreiz zum Glückspielen verursachte die amerikanische Krise ... Die Krise breitete sich aus, weil ^as Bankensystem nicht ausreichend risikoscheu war, ja in vielen Fällen das Risiko geradezu suchte."

1

Sinn (2008a), vgl. auch Sinn (2009).

248

Roland Vaubel

„Bei hoher wirtschaftlicher Unsicherheit kann die Haftungsbeschränkung ... zum Problem werden, weil sie den Wagemut zum Glücksrittertum übersteigert ... Die fünf großen US-Investmentbanl^en, von denen bisher drei der Krise zum Opfer fielen, haben hemmungslos auf diese Strategie gesetzt."

Das ist die These vom Marktversagen. Danach haben die Banken wider besseres Wissen die Krise riskiert, weil der Markt ihnen nicht die richtigen Anreize bot. Dabei ist zwischen den Eigentümern und den Managern der Banken zu unterscheiden. Die Eigentümer waren angeblich zu risikofreudig, weil ihre Haftung im Konkursfall beschränkt ist, während ihnen die Gewinne unbegrenzt zugute kommen. Die Manager waren angeblich zu risikofreudig, weil sie nur auf Zeit beschäftigt werden und daher nicht so langfristig denken wie die Eigentümer und weil sie Jahr für Jahr erfolgsabhängige Bonusse erhalten, die im Falle eines späteren Misserfolgs nicht zurückzuzahlen sind. Die Nachteile von Haftungsbeschränkungen sind seit Jahrhunderten bekannt, und sie gelten für Banken wie Nichtbanken. Trotzdem haben sich das Prinzip der beschränkten Haftung, die Delegation der Unternehmensführung an Manager und die Erfolgsbeteiligung der Manager weithin durchgesetzt und im Markt bewährt. Weshalb sollten diese bewährten Prinzipien der Unternehmensverfassung gerade jetzt zu einer stark übersteigerten Risikobereitschaft - Glücksrittertum, wie es Sinn nennt - geführt haben? Sinn (2009) beruft sich darauf, dass Walter Euchen die Haftung als konstitutives Prinzip der Marktwirtschaft betrachtet hat. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass Eucken die schon damals im Gesellschaftsrecht existierenden Beschränkungen der Haftung abgelehnt hätte. Dass die Manager einen kürzeren Zeithorizont haben als die Eigentümer, war schon immer so. (Ebenso haben die Politiker einen kürzeren Zeithorizont als die Bürger - die Macht wird ihnen nur für kurze Zeit übertragen.) Dass jede Form der Erfolgsbeteiligung die Manager zur kurzfristigen Gewinnmaximierung anregt, ist auch nicht neu. Dass sich die Erfolgsbeteiligung der Manager seit einigen Jahren nicht mehr (nur) nach dem Betriebsergebnis, sondern (auch) nach dem Aktienkurs oder Shareholder Value bemisst, hat die Kurzfristorientierung der Manager nicht verstärkt, sondern verringert. Denn der Aktienkurs spiegelt die langfristigen Gewinnerwartungen der Marktteilnehmer - genauer: der Anleger - wider. Die potentielle Asymmetrie der Erfolgsbeteiligung gibt es nicht erst seit den Aktienoptionen. Außerdem haben sich diese Bonussysteme nicht nur bei den Banken, sondern in allen Wirtschaftszweigen durchgesetzt. Sind jetzt alle Manager zu „Glücksrittern" geworden? Das ist vielleicht die Welt der Abenteuerfilme, aber nicht die Realität. Richtig ist, dass die Haftungsbeschränkungen die volle Internalisierung der Risiken verhindern. Aber daraus folgt nicht, dass die Manager - oder Eigentümer - den Konkurs leichtfertig in Kauf nehmen oder nahmen und daher - wie Sinn meint - „die Risiken suchten". Ein Bild soll dies verdeutlichen. Betrachten wir den Piloten eines vollbesetzten Passagierflugzeugs - eines Jumbos. Er haftet nur für einen winzigen Bruchteil des Schadens, den er anrichtet, wenn er einen schweren Fehler macht, das Flugzeug abstürzt und alle Insassen umkommen. Da er selbst nur einen Teil des Schadens trägt, müsste er eigentlich - nach Sinns Argumenta-

2

Sinn (2008b), vgl. auch Sinn (2009).

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

249

tion - zu risikofreudig sein. In Wirklichkeit ist er es aber nicht, denn der Absturz würde ihn sein Leben kosten. Das ist für ihn ein hinreichender Anreiz, den Absturz zu vermeiden. Ein Konkurs ist ein Absturz. Eigentümer und Manager haben in aller Regel einen hinreichenden Anreiz, ihn zu vermeiden. Technisch ausgedrückt: nicht alle Externalitäten sind allokationsrelevant. Viele sind intramarginal und daher zu vernachlässigen. Das ist seit langem anerkannt, wird aber von den Propheten des Marktversagens gerne übersehen. Nicht unmittelbar absturzgefährdet waren die Credit-Rating-Firmen und die sogenannten "Special Purpose Facilitities", die die Kredite verbrieften und weiterverkauften, ohne selbst in größerem Umfang am Risiko beteiligt zu sein. Auch diesen beiden Akteuren musste jedoch klar sein, dass die Vortäuschung niedriger Risiken ihren Geschäftserfolg langfristig gefährden würde. Vom Konkurs zu unterscheiden ist die vorzeitige Entlassung von Managern. Dass solche Manager trotz ihres Misserfolgs Abfindungen erhalten, ist der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln. Dennoch haben sich solche Abfindungsregelungen im internationalen Wettbewerb um Spitzenmanager durchgesetzt. Daraus kann man schließen, dass hochqualifizierte Manager sehr begehrt sind und dass der Misserfolg nicht vorhersehbar war oder dass es unmöglich oder zumindest sehr schwierig wäre, ihnen auf rechtlich überprüfbare Weise ein persönliches Verschulden - d.h. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit - nachzuweisen. Doch auch die Abfindungen ändern nichts daran, dass der Misserfolg und die vorzeitige Entlassung für die betroffenen Manager unangenehm und daher nicht vorsätzlich sind. Es gibt aber nicht nur allgemeine Plausibilitätsüberlegungen, die gegen die These von den verzerrten Marktanreizen und damit gegen Marktversagen sprechen. Die ökonometrische Evidenz (Gorton 2008, S. 74) zeigt nämlich, dass der Anteil der notleidenden Kredite in den USA ganz überwiegend durch die Veränderungen der Immobilienpreise erklärt werden kann und kaum von den Vergabekriterien der Hypothekenbanken abhing. Das deutet daraufhin, dass die Hypothekenbanken selbst von den massenhaften Kreditausfällen überrascht wurden. Außerdem ist bekannt, dass viele Banker auch in ihren privaten Vermögensdispositionen - wo die Anreize nach einhelliger Auffassung stimmten - herbe Verluste erlitten haben. Ich neige deshalb zu einer anderen Erklärungshypothese: Die Banker haben sich geirrt. Auslöser der Krise waren falsche Erwartungen, nicht falsche Anreize - jedenfalls nicht falsche Marktanreize. Die Banker haben die Risiken nicht „gesucht" (Sinn), sondern unterschätzt. Die Wirtschaft funktioniert - wie die Wissenschaft - nach dem Prinzip des „trial and error" (Karl Popper). Denn der Wettbewerb bietet maximale Anreize zur Innovation. Die modernen Finanzmärkte sind das beste Beispiel. Irrtum ist unvermeidlich.3 Zum reinen Glückspiel oder "Kasinokapitalismus", wie es Sinn (2009) nennt, wird die Marktwirtschaft dadurch nicht.

3

Vgl. Phelps (2009).

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Roland Vaubel

Dass sich die Menschen irren, bedeutet nicht, dass die Marktwirtschaft ein ineffizientes System ist. Die Marktwirtschaft ist ein Koordinationsmechanismus; diese Aufgabe erfüllt sie herrschaftsfrei und hocheffizient. Aber sie kann natürlich nichts daran ändern, dass die Zukunft ungewiss ist. Wer von der Marktwirtschaft vollkommene Voraussicht fordert, verlangt Unmögliches. Deshalb macht es auch keinen Sinn, den Irrtum als „Marktversagen" zu bezeichnen. Unvollkommene Voraussicht ist kein Systemfehler. Worin bestand der Irrtum? 1. Viele Banken und Anleger schätzten die zukünftige Entwicklung der Immobilienpreise falsch ein - vor allem der Preise im amerikanischen Subprime-Segment. 2. Die Kreditvermittlungskette war überdehnt: die Geschäftsbanken und Anleger in aller Welt, aber auch die Credit Rating Agencies, wussten zu wenig über die Risiken, die sich hinter den "Asset-Backed Securities" der kreditverbriefenden Special Purpose Vehicles verbargen. 3. Über die verbleibende Eigenbeteiligung der kreditvergebenden Hypothekenbanken ("Originators") an den Hypothekenforderungen war wenig bekannt. 4. Über die Special Purpose und Structured Investment Vehicles der Banken, die die Hypothekenkredite und die verbrieften Asset-Backed Securities aufkauften, gaben die Bilanzen der Banken keine Auskunft. 5. Die Bankenvorstände überschätzten die Leistungsfähigkeit der mathematischstatistischen Risiko-Management-Systeme, die sie vor noch gar nicht langer Zeit eingeführt hatten. Sie erkannten nicht, dass die Risikoanalysen, die ihnen ihre Spezialisten lieferten, auf Erfahrungswerten (Korrelationen) weniger Jahre basierten und die systemischen Risiken völlig ignorierten. Insofern ist die Krise das bisher gravierendste Beispiel dafür, wie die kritiklose Anwendung und Überschätzung der Mathematik in der ökonomischen Analyse zu falschen Schlussfolgerungen und schweren Fehlentscheidungen führen kann. Dass nicht falsche Marktanreize, sondern falsche Erwartungen ausschlaggebend für die Entstehung der Krise waren, zeigt die Entwicklung der relativen Risikoprämien. Wie Demyanyk und van Hemert (2008, Abb. 6 und 7) gezeigt haben, sind die Risikoprämien bei den amerikanischen Subprime-Hypotheken in den Jahren vor der Krise - ab 2001 - gefallen. Wenn dies Ausdruck einer sinkenden Risikoaversion gewesen wäre, hätten sie auch in den anderen Bereichen des US-Finanzsystems - zum Beispiel am Corporate Bond-Markt - fallen müssen, was nicht zutrifft (a.a.O.). Die fallenden Risikoprämien für Subprime Mortgages zeigen daher an, dass die zunehmenden Risiken in diesem Markt nicht erkannt wurden. Die empirische Evidenz deutet auf einen Irrtum hin. Dass nicht falsche Marktanreize, sondern falsche Erwartungen ausschlaggebend für die Entstehung der Krise waren, macht schließlich ein einfaches Gedankenexperiment deutlich. Nehmen wir an, die Banken hätten alle Risiken richtig eingeschätzt, aber die Haftungsbeschränkungen wären geblieben. Wäre die Krise trotzdem ausgebrochen? Sicher nicht. Oder umgekehrt: unterstellen wir, es hätte die Haftungsbeschränkungen nicht gegeben, aber die Prognosefehler der Banken wären geblieben. Wäre es trotzdem zu der Krise gekommen? Ja natürlich.

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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Die Haftungsbeschränkungen waren weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für den Ausbruch der Krise. Eine notwendige Bedingung war die Unterschätzung der Risiken. Gab es noch weitere notwendige Bedingungen? Es könnte sein, dass zwar nicht vom Markt, aber doch vom Staat falsche Anreize ausgingen. Haben sich die Banken vielleicht darauf verlassen, dass der Staat für sie einspringen würde, wenn sie zu große Risiken eingehen und in Schwierigkeiten geraten würden? Das ist das Moral-HazardProblem, wie wir es aus der Versicherungsökonomik kennen. Ich sehe zwei gewichtige Einwände: 1. Selbst wenn der Staat alle Banken rettet, ist den Bankmanagern - wie bereits erwähnt - von vornherein klar, dass eine solche Krise für sie äußerst unerfreuliche Konsequenzen - von Anfeindungen bis hin zur Schande einer Entlassung - hat, und auch die Eigentümer der Banken mussten für den Fall der Krise mit einem dramatischen Kursverfall bei Bankaktien, d.h., mit herben Vermögensverlusten rechnen. 2. Eine Reihe von Banken wurde ja gerade nicht vor dem Konkurs bewahrt. Das prominenteste Beispiel ist Lehman Brothers. Dennoch besteht Einigkeit, dass auch staatliche Maßnahmen zur Entstehung und Verschärfung der Krise beigetragen haben, ja dass Staatsversagen eine weitere notwendige Bedingung für die Entstehung der Krise war. Darüber ist schon viel geschrieben worden; deshalb will ich diese wirtschaftspolitischen Fehler nur kurz benennen: 1. Es fing damit an, dass das amerikanische Department of Housing and Urban Affairs im Wahljahr 1996 den in staatlichem Auftrag operierenden Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac vorschrieb, mindestens 12 Prozent ihrer Kredite an Personen zu vergeben, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des örtlichen Medianeinkommens betrug. Diese Quote wurde im Wahljahr 2000 auf 20 Prozent und 2005 auf 22 Prozent erhöht. Der Eigenkapitalanteil der Kreditnehmer brauchte noch nicht einmal 10 Prozent zu betragen. Außerdem kauften Fannie Mae und Freddie Mac in großem Umfang verbriefte Subprime Hypothekenkredite von privaten Institutionen auf. Die verfehlte Vermögensbildungspolitik des amerikanischen Staates hat die dramatische Expansion des höchst labilen Subprime-Immobilienmarktes daher begünstigt und wahrscheinlich überhaupt erst möglich gemacht. 2. Ohne die viel zu expansive Geldpolitik der amerikanischen Notenbank in den Jahren 2002 bis 2004 wäre es nicht zu der Immobilienpreisblase gekommen. Verfehlt war nicht die Niedrigzinspolitik des Jahres 2002, denn 2001-02 befand sich die amerikanische Wirtschaft in einer Rezession. Aber nachdem die Wirtschaft 2003 und 2004 wieder ansehnliche reale Wachstumsraten von 2,5 und 3,6 Prozent erreicht hatte, hätte die Geldpolitik unverzüglich auf einen neutralen Kurs zurückschwenken müssen.4 Dass es nicht dazu kam, lag wahrscheinlich daran, dass 2004 ein Wahljahr war. Außerdem waren die Konjunkturprognosen der Fed für 2003 und 2004 viel zu pessimistisch. Aber das kann Absicht gewesen sein. Vielleicht sollten sie dazu dienen, die expansive Geldpolitik vor der Wahl zu rechtfertigen. Die Niedrigzinspolitik

4

Taylor (2009) zeigt, dass die Geldpolitik der Fed in dieser Zeit ganz untypisch war (Figure 1) und dass eine regelkonforme Geldpolitik den Anstieg der Immobilienpreise weitgehend verhindert hätte (Figure 2).

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der Fed ermutigte nicht nur zum kreditfinanzierten Immobilienkauf. Als Folge der expansiven Geldpolitik wurde auch die Ertragskurve so steil, dass sich die Banken für eine stärkere Fristentransformation entschieden. Das trug zur Labilität des Bankensystems bei. 3. Sowohl Fannie Mae und Freddie Mac als auch die rein privaten Hypotheken-, Investment- und Depositenbanken unterstanden einer staatlichen Aufsicht. Die staatlichen Regulierungsbehörden haben versagt. Weshalb versagte die Bankenaufsicht in den USA und anderswo? Mehrere mögliche Ursachen werden in der Literatur diskutiert: 1. Der Staat, die Politiker und Beamten, wissen es auch nicht besser. Im Gegenteil, diejenigen, die die besten Voraussagen machen, zieht es eher in den gut bezahlten Bankvorstand als in den engen Rock des Beamten. Selbst wenn die Aufsichtsbehörden alle Daten der Banken und viel weiter reichende Kontrollbefugnisse gehabt hätten, an dem Ausbruch und Verlauf der Krise hätte das nichts geändert. Deshalb wird es nicht helfen, den Aufsichtsämtern größere diskretionäre Entscheidungsspielräume zu gewähren. 2. Die Aufsichtsbehörden werden von den Interessenverbänden der Produzenten - der Banken - beeinflusst, die keine weitreichenden Regulierungen wünschen ("regulatory capture"). Damit ist zu rechnen. Auch in diesem Fall hilft es nicht, die Befugnisse der Aufsichtsbehörden zu erweitern. 3. Die nationalen Aufsichtsbehörden waren nicht streng genug, weil die Nationalstaaten um das internationale Bankgeschäft konkurrierten, welches Arbeitsplätze und Steuereinnahmen versprach. Dagegen spricht, dass die Bankenaufsicht in den USA und den meisten anderen Industrieländern nicht oder nicht allein dem Finanzministerium, sondern (auch) der meist unabhängigen Zentralbank untersteht. Aber hat vielleicht ein internationaler Deregulierungswettbewerb zwischen den Gesetzgebern, d.h., den Politikern, zu der Krise gefuhrt?

2. Ein internationaler Deregulierungswettbewerb als Ursache der Krise? Auch diese Erklärung findet sich in prononcierter Form bei H.-W. Sinn5: „Die Regulierung war einem Laschheitswettbewerb unterworfen, der sie wirkungslos werden ließ. Wer weniger streng als andere regulierte, der konnte seinen Banken einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz aus anderen Ländern verschaffen. Man wusste zwar, dass eine nachlässige Regulierung die Käufer der Finanzprodukte schädigen könnte, weil die Rückzahlungswahrscheinlichkeit damit verringert wurde. Aber die Käufer hatten keine Lobby und saßen zum Teil ohnehin im Ausland ... Der Wettbewerb der Staaten kann grundsätzlich nicht funktionieren ..."

Auch auf der Ebene der Staaten lautet Sinns Diagnose also auf Wettbewerbsversagen. Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Deregulierung Innovationen begünstigt und dass Innovatoren zum Teil - jedenfalls vorübergehend - irren. Aber welche konkreten Deregulierungsmaßnahmen können tatsächlich für die Finanzmarktkrise verantwortlich gemacht werden?

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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Kreditverbriefungen, Special Purpose Vehicles und Structured Investment Vehicles (conduits) waren in den USA schon immer erlaubt. Sie gehören zu den Finanzmarktinnovationen der achtziger Jahre. Wenn die Krise durch eine Deregulierungsmaßnahme ausgelöst worden sein soll, so kommt dafür nur die Aufhebung des Glass-Stegall-Act im Jahr 1999 in Frage. Damit wurde in den USA die gesetzliche Trennung zwischen Depositenbanken und Investmentbanken beseitigt und wieder die Bildung von Universalbanken ermöglicht, wie sie in Europa üblich sind. Wie die Krise gezeigt hat, bieten Universalbanken jedoch mehr Stabilität als hochspezialisierte Investmentbanken - insofern war die Deregulierung gerade geeignet, der Krise entgegenzuwirken. Die Deregulierungsgegner argumentieren nun, dass die Beseitigung der Wettbewerbsschranken zwischen Depositen- und Investmentbanken die weniger regulierten Investmentbanken in die Lage versetzte, in die traditionellen Märkte der Depositenbanken einzudringen, und so die Depositenbanken veranlasste, durch die Gründung von Structured Investment Vehicles die Eigenkapitalvorschriften zu umgehen. Aufgabe der Structured Investment Vehicles war es unter anderem, Asset-Backed Securities zu erwerben und zur Finanzierung kurzfristige Wertpapiere zu emittieren - also in großem Stil Fristentransformation zu betreiben. Ob die zunehmende Verbreitung der Structured Investment Vehicles wirklich dem schärferen Wettbewerb von Seiten der Investmentbanken zuzuschreiben war, ist nicht eindeutig zu klären. Auf jeden Fall ist jedoch Regulierungsversagen zu konstatieren. Das Problem war nicht, dass der Staat deregulierte und mehr Wettbewerb zuließ, sondern dass er den Versuchen der Depositenbanken, die für sie geltenden Eigenkapitalvorschriften zu unterlaufen, keinen Riegel vorschob. Außerdem ist zu beanstanden, dass es weder vor noch nach 1999 hinreichende Eigenkapitalvorschriften für die Investmentbanken gab. Aber auf Deregulierungsmaßnahmen geschweige denn einen internationalen Deregulierungswettbewerb - ist die Krise nicht zurückzuführen. Die These vom Versagen des Staatenwettbewerbs steht auch theoretisch auf schwachen Füßen. Das zeigt die berühmte "Assignment Solution" (Zuordnungslösung) von Robert Mundeil, der - unter anderem dafür - 1999 den Nobelpreis erhielt.6 Danach ist dezentrale Wirtschaftspolitik auch bei internationaler Interdependenz der Märkte effizient, wenn jeder Staat jedem seiner wirtschaftspolitischen Ziele das jeweils effektivste wirtschaftspolitische Instrument zuordnet. Jede Regierung achtet dann darauf, was die anderen Regierungen tun, und sie reagiert darauf. Die Regierungen können und sollten einander zwar informieren, aber sie treffen keine Absprachen. Das Ergebnis dieses „nicht-kooperativen Spiels" ist ein „Nash-Gleichgewicht", das zugleich stabil und effizient ist. Eine solche eindeutige Zuordnung von Instrument und Ziel ist nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert. Denn sie macht klar, wer bei Zielverfehlungen verantwortlich ist und zur Rechenschaft gezogen werden muss. Nur so kann demokratische Kontrolle funktionieren. Ein möglicher Einwand ist nun, dass die Zuordnungslösung zwar optimal („firstbest") ist, dass sie aber in der Realität keine Chance hat, weil die Politiker den Hals 6 Im internationalen Kontext wird die Assignment-Lösung zum Beispiel von Patrick (1973) dargestellt und analysiert.

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nicht voll bekommen können, d.h., weil sie mehr Ziele als Instrumente haben. Zum Beispiel wollen sie mit dem Instrument Bankenregulierung nicht nur das Ziel Finanzmarktstabilität erreichen, sondern auch den Weltmarktanteil der heimischen Banken maximieren, weil das für mehr Beschäftigung und höhere Steuereinnahmen sorgt. In einer solchen „second-best world" bietet sich eine Technik an, die in der quantitativen Theorie der Wirtschaftspolitik als „Optimierung bei flexiblen Zielen" bezeichnet wird. Bei diesem Verfahren werden die konkurrierenden Ziele gewichtet und der Verlust aus den Zielverfehlungen minimiert. Wenn nun jede Regierung den Weltmarktanteil der heimischen Banken maximieren will und sich die Bankenregulierung negativ auf diesen Marktanteil auswirkt, furchten viele einen internationalen Wettlauf zum regulatorischen Nullpunkt („race to bottom"). Dieser Schluss ist jedoch voreilig. Denn die Regulierung der Banken hat ja für die Regierungen nicht nur Kosten (beim Marktanteil), sondern auch einen Nutzen: Finanzmarktstabilität, ein öffentliches Gut. Der Deregulierungswettbewerb zwischen den Staaten löst daher nicht einen Wettlauf zum Nullpunkt, sondern einen Wettlauf zum NashPunkt aus. Das Problem ist nur, dass der Nash-Punkt im Fall der Optimierung flexibler Ziele nicht mehr optimal ist. Die Frage ist aber, ob die Finanzmarktstabilität wirklich ein flexibles Ziel ist. Denn keine Regierung hat ein Interesse daran, durch übermäßige Deregulierung Banken anzulocken, wenn sie erwarten muss, dadurch eine Finanzkrise auszulösen. Wenn es trotzdem - wie im letzten Jahr - zu einer Panik kommt, so kann der Grund nicht ein „Laschheitswettbewerb" (Sinn), sondern nur ein Irrtum sein. Die unzureichenden Eigenkapitalvorschriften waren also nicht eine Folge falscher Anreize, sondern falscher Erwartungen. Daraus folgt: das Ziel der Finanzmarktstabilität ist im kritischen Bereich nicht flexibel, sondern fix, und es hat Vorrang vor der Maximierung des Weltmarktanteils. Damit ist aber Mundells Assignment-Lösung wieder anwendbar. Dezentrale Regulierung funktioniert. Nur in dem Bereich, in dem die Regulierung über das für die Finanzmarktstabilität notwendige Maß hinausgehen würde, hängt die von der Regierung gewählte Regulierungsintensität davon ab, wie stark die anderen Regierungen die Banken regulieren. Deshalb fuhren internationale Absprachen, denen keine Bank entkommen kann, zu einer Überregulierung - d.h. zu einer Regulierungsintensität, die über das für Finanzmarktstabilität notwendige Niveau hinausgeht. Eine weitere Komplikation kommt hinzu. Welche Bank hat ein Interesse daran, sich in einem Land anzusiedeln, dessen Finanzmarktstabilität wegen mangelnder Regulierung ernsthaft gefährdet ist? "Regulierungsarbitrage" findet nur insoweit statt, als das, was anderswo erlaubt ist, auch tatsächlich für die Banken attraktiv ist. Das heißt: selbst wenn jede Regierung für ihr Instrument Bankenregulierung nicht ein Ziel, sondern zwei Ziele - Finanzmarktstabilität und einen möglichst großen Weltmarktanteil im Bankgeschäft - hätte, so wären diese Ziele nicht voneinander unabhängig, sondern positiv miteinander verknüpft. Die Regulierung würde zur Erreichung beider Ziele beitragen. Jede Regierung würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Auch in diesem Fall ist Mundells Assignment-Lösung anwendbar.

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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Wie zitiert sieht Sinn ein weiteres Problem darin, dass die Käufer der Finanzprodukte zum Teil im Ausland sitzen. Aber weder die Banken noch die Regierungen haben ein Interesse daran, das lukrative Auslandsgeschäft zu verlieren. Schließlich meint Sinn, dass die Bankenregulierung zu „lasch" sei, weil die Käufer der Finanzprodukte keine Lobby haben, während die Banken gut organisiert und politisch schlagkräftig sind. Diese Asymmetrie gibt es natürlich, aber sie ist noch viel stärker, wenn die Finanzmarktregulierungen nicht dezentral in den einzelnen Staaten, sondern zentral auf internationaler Ebene beschlossen oder ausgehandelt werden. Für die Interessengruppen ist es nicht schwer, sich auf europäischer oder atlantischer Ebene zu organisieren. Die Anleger können dem nichts entgegensetzen - sie verstehen noch nicht einmal, was in Brüssel oder Washington gespielt wird. Ursache der Finanzmarktkrise war nicht, dass die einzelnen Staaten - insbesondere die USA - keine hinreichenden Anreize gehabt hätten, die Krise zu verhindern, und das Gleiche gilt für die Bekämpfung der Krise.

II. Krisenmanagement Die Finanzmarktstabilität ist ein öffentliches Gut. Deshalb ist es Aufgabe des Staates, im Falle einer Krise die Geld- und Kreditversorgung der Wirtschaft zu garantieren. Dazu kann gehören, dass entweder die Zentralbank oder die Einlagenversicherung als Lender of Last Resort - gegen Sicherheiten und zu einem Strafzins! - Kredite an illiquide Banken vergibt und dass der Staat insolvente Banken, die kein Privater übernehmen und weiterfuhren will, in eine Auffanggesellschaft überführt, rekapitalisiert, restrukturiert und nach der Krise wieder am Markt verkauft.7 Aber es ist nicht Aufgabe des Staates, solvente Banken zu subventionieren, ihnen notleidende Kredite abzukaufen, sich an ihnen zu beteiligen oder sogar ihre Verstaatlichung zu erzwingen. Wenn er es trotzdem tut, wird er seine Hilfe an Bedingungen knüpfen - zum Beispiel, den Banken Vorschriften für die Kreditvergabe (in Deutschland an die kleinen und mittleren Unternehmen), die Managergehälter und die Dividendenpolitik machen. Dann verheddert sich die Politik in diskretionären Eingriffen und der Befriedigung von Interessengruppen. Sie hält sich nicht mehr an Regeln. Dem punktuellen Interventionismus sind dann keine Grenzen mehr gesetzt. Melden die Banken dagegen Konkurs an, so haben Manager und Eigentümer ihr (Verfügungs-)Recht verloren. Dann darf man den Managern nicht die Schande des Konkurses und den Eigentümern nicht den totalen Verlust des Aktienkapitals ersparen. Die staatliche Auffanggesellschaft sollte die insolventen Banken daher, soweit sie systemrelevant sind, zu einem symbolischen Preis - z.B. von einem Euro - übernehmen. Es geht nicht an, dass die Aktien eigentlich insolventer Banken nur deshalb zu einem positiven Kurs gehandelt werden, weil die Börse vom Staat Subventionen oder einen ansehnlichen Kaufpreis erwartet. Einige Ökonomen befürchten, dass die Banken, wenn sie nach all den Verlusten ihre Eigenkapitalquoten wieder anheben, weniger Kredite vergeben werden, anstatt ihr Ei7 Die Auffanglösung wurde ab den achtziger Jahren in den USA und Anfang der neunziger Jahre von der bürgerlichen Regierung Schwedens praktiziert.

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genkapital zu erhöhen. Das ist das Schreckgespenst einer - möglicherweise viele Jahre anhaltenden - "Kreditklemme". Ob sich eine solche Kreditklemme anbahnt, ist völlig ungeklärt. Denn es ist ganz normal, dass die Banken in einer Rezession weniger Kredite vergeben, weil die Zahl der Erfolg versprechenden Investitionsprojekte zurückgeht.8 Von einer restriktiven Kreditvergabe berichteten im Juli 2008 weniger Unternehmen als noch 2004 (ifo-Konjunkturtest). Für H.-W. Sinn ist die Kreditklemme eine ausgemachte Sache, und er schlägt drastische Maßnahmen vor, um sie zu bekämpfen. Der Staat soll die Banken - auch die solventen Banken - zwingen, ihr Eigenkapital wieder auf den Stand zu bringen, den es an einem (willkürlich gewählten) Stichtag vor Ausbruch der Krise erreicht hatte. Wenn sie sich nicht im vorgeschriebenen Umfang am Markt rekapitalisieren, soll sich der Staat auch gegen ihren Willen - selbst an den Banken beteiligen: "Der Staat muss den Banken sagen: Entweder ihr besorgt Euch frisches Kapital, oder wir steigen bei Euch ein."9 Das ist ein äußerst problematischer Vorschlag. Selbst wenn der Staat stimmrechtslose Aktien erwerben würde, würde er sich doch anmaßen, eine bestimmte Allokation des Kapitals vorzuschreiben. Er würde sich nicht darauf beschränken, zum Zwecke der Risikovorsorge eine Mindestrelation zwischen Krediten und Eigenkapital vorzugeben, sondern die absolute Höhe des Eigenkapitals, die mindestens vorzuweisen ist, fixieren. Das ist keine Globalsteuerung mehr, sondern Strukturpolitik im Geiste der siebziger Jahre. Es ist keine Makropolitik, sondern Mikrointervention. Dafür fehlt dem wohlwollenden Diktator Staat das notwendige Wissen. Die Landesbanken sind der schlimmste Beweis. Die von Sinn propagierten Brachialmethoden sind nicht nur ordnungspolitisch problematisch, sie sind auch gar nicht notwendig, um einer Kreditklemme vorzubeugen. Die marktkonforme Ursachentherapie bestünde vielmehr darin, die Eigenkapitalvorschriften vorübergehend auszusetzen, bis die Wirtschaft wieder auf ihren langfristigen Wachstumspfad zurückgekehrt ist.10 Denn andernfalls können die Eigenkapitalvorschriften prozyklisch wirken. Das regulatorische Eigenkapital ist kein Risikopuffer - der Puffer ist das freie Eigenkapital. Längerfristig müssen die Eigenkapitalvorschriften dahingehend reformiert werden, dass die vorgeschriebene Quote regelgesteuert mit der Auslastung der Kapazitäten variiert, wie dies im Abschnitt III beschrieben wird. Die Banken werden auch unabhängig von den staatlichen Vorschriften ihre Eigenkapitalbasis wieder aufbauen, wenn die Zeit dafür günstig ist. Ihr Kreditgeschäft werden sie deshalb nicht vernachlässigen, denn damit erwirtschaften sie ihre Gewinne. Wird sie der Wettbewerb zwingen, ihre Eigenkapitalquoten überstürzt zu erhöhen und ihre Kreditvergabe einzuschränken, weil sie sich sonst nicht mehr am Markt refinanzieren können? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte; damit ist auch nicht zu rechnen, wenn der Staat 8

Die Granger-Kausalitätstests von Kashyap, Stein und Wilcox (1993) belegen für die USA, dass eine restriktive Geldpolitik die reale Kreditvergabe der Banken an die Unternehmen vermindert, dass aber gleichzeitig die Emission von kurzfristigen Industrieobligationen (commercial paper) zunimmt. Der Nettoeffekt auf die Investitionen - insbesondere die Ausrüstungsinvestitionen - ist negativ. 9 Sinn (2008d). 10 Vgl. die Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium fiir Wirtschaft und Technologie vom 23.01.2009. Der Vorschlag des Beirats bezieht sich nur auf Basel II; aus den gleichen Gründen wären aber auch die prozyklisch wirkenden Eigenkapitalvorschriften von Basel I vorübergehend auszusetzen. Zu Basel II vgl. Blum und Hellwig (1995) sowie Repullo und Suarez (2008).

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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- wie ich oben vorgeschlagen habe - in der Krise die Verbindlichkeiten der Banken garantiert. Die Bundesregierung ist unter der Federführung von Finanzminister Steinbrück dem Vorbild der britischen Labour-Regierung folgend - den Weg der Subventionierung, Kapitalbeteiligung, Verstaatlichung und Gängelung solventer Banken gegangen. Wie in Großbritannien wurden die Banken zwar nicht gezwungen, die angebotenen Steuergelder anzunehmen, aber wer es tat, konnte seine Kreditvergabe, seine Dividenden und seine Gehaltsstruktur nicht mehr frei bestimmen. Außerdem verlängerten die verschiedenen staatlichen Finanzspritzen und Subventionen die Krise. Dadurch, dass von Fall zu Fall schwache Banken künstlich am Leben erhalten wurden, blieb der Eindruck, dass es noch weiter bergab gehen könne. Da die notwendige Flurbereinigung ausblieb, hielten Anleger und Banken ihr Pulver trocken und flüchteten vorläufig in die Liquidität. Hätten die nicht überlebensfähigen Banken dagegen schon frühzeitig Konkurs anmelden und von der Auffanggesellschaft übernommen werden müssen, wäre die Talsohle eher erreicht worden und der nächste Aufschwung früher in Gang gekommen. Die Auffanglösung impliziert, dass der Staat alle Verbindlichkeiten insolventer Banken garantiert. In dieser Hinsicht ging die Bundesregierung - trotz all ihrer fallweisen Interventionen - nicht weit genug. Sie garantierte nur die Guthaben der Einleger - mit der Folge, dass der Interbankenmarkt zusammenbrach. 11 Zum Schluss fand sich die Bundesregierung sogar bereit, eine staatliche "Bad Bank" zu installieren, die - willkürlich ausgewählte - "toxische" Forderungen der Banken übernehmen und garantieren sollte. Das war ein Fehler, denn damit subventionierte sie solvente Banken. In Schweden, das häufig als Vorbild genannt wird, wurde dies 1992 ausdrücklich vermieden. Die schwedischen Bad Banks übernahmen die notleidenden Kredite der insolventen Banken, die sich in der Auffanggesellschafit befanden. Wenn der Staat über seine Auffanggesellschaft die Verbindlichkeiten aller systemrelevanten Banken garantiert, ist eine staatliche "Bad Bank" für die notleidenden Kredite der solventen Banken überflüssig. Das Ziel sollte nicht sein, solvente Banken durch staatliche Kreditgarantien zu subventionieren, sondern die Gläubiger der Banken vor den Folgen drohender Bankenkonkurse zu schützen. Für die Bekämpfung der Rezession war vor allem wichtig, dass die Notenbanken dafür sorgten, dass die Geldmenge weiter - nicht weniger als das Produktionspotential anstieg. Der Kardinalfehler, den die Notenbanken während der Weltwirtschaftskrise von 1929-33 begingen, als sie einen dramatischen Rückgang der Geldmenge zuließen, wurde damit vermieden. Den Notenbanken mangelte es jedoch an Geduld. Nachdem die notwendigen Lockerungen vollzogen worden waren, bestand keine Notwendigkeit, immer wieder nachzulegen. Die Konjunkturwirkungen der Geldpolitik treten nun einmal erst mit einer Verzögerung von 3-5 Quartalen ein. Da hilft nur Abwarten. Auch die automatischen Stabilisatoren der Fiskalpolitik wurden diesmal nicht außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus wurden riesige staatliche Ausgabenprogramme in Gang gesetzt. Sie krankten daran, dass sich die zusätzliche oder vorgezogene Güternachfrage 11 Die Ausdehnung der Garantie auf die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Banken hat zum Beispiel der Kronberger Kreis (2009) gefordert.

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des Staates meist nicht auf diejenigen Produktionskapazitäten richtete, die unterausgelastet waren. Außerdem ist der Staat erfahrungsgemäß zu schwerfällig, um kurzfristig zusätzliche Investitionen durchzufuhren. Wie die Panik von 1907 - die letzte globale Panik vor der Weltwirtschaftskrise zeigte, braucht eine durch Fehlspekulationen und Konkurse großer Banken entstandene Krise nur wenig mehr als ein Jahr zu dauern, wenn geldpolitische Fehler vermieden werden.12 In einem solchen Fall kommt die Wirkung staatlicher Ausgabenprogramme zu spät. Steuersenkungen können schneller wirken als Ausgabenprogramme. Zum Beispiel hätte man den Mehrwertsteuersatz für langlebige Konsumgüter ein halbes Jahr lang herabsetzen können. Eine international koordinierte Konjunkturpolitik war nicht erforderlich, denn jede Regierung und Zentralbank hatte einen hinreichenden Anreiz, die eigene Wirtschaft zu stabilisieren. Die Tatsache, dass sich nationale Stützungsmaßnahmen auch im Ausland günstig auswirken, bedeutet ja nicht, dass die einzelnen Länder ohne internationale Absprachen zu wenig tun würden. Jeder wird im eigenen Interesse berücksichtigen, was die Anderen vorhaben. Zu diesem Zweck kann ein internationaler Informationsaustausch nützlich sein, aber internationale Gipfeltreffen oder Absprachen braucht man dafür nicht. Wichtig ist lediglich, dass keiner versucht, sich zu Lasten der Anderen zu sanieren - zum Beispiel durch protektionistische Handelsbeschränkungen oder Subventionen.

III. Der langfristige Reformbedarf 1. Dezentrale Lösungen Da für den Ausbruch der Krise nicht falsche Marktanreize, sondern Staatsversagen und Irrtum ausschlaggebend waren, geht es nicht darum, in die Kreditgewährung, Dividendenpolitik und Entlohnungssysteme der Banken einzugreifen, sondern den Staat zu reformieren und die Transparenz und Risikopuffer der Finanzinstitutionen zu verbessern. Dem geldpolitischen Wahlzyklus ist schwer beizukommen, solange die Geldmenge von einer staatlichen Zentralbank kontrolliert wird. Auch wenn die staatliche Zentralbank frei über ihren Instrumenteneinsatz entscheiden kann und die Mitglieder des Zentralbankrats nicht wiederernannt werden dürfen, neigen sie dazu, im Wahljahr mit ihrer Geldpolitik die Partei zu begünstigen, die ihnen zu ihrem Amt verholfen hat; denn sie sind ernannt worden, weil sie diese Partei präferieren.13 Wollte man den geldpolitischen

12 Die Panik von 1907 wurde ebenfalls durch Bankenkonkurse an der Wall Street ausgelöst und breitete sich auch in Europa aus. In den USA ging das reale Bruttoinlandsprodukt von einem Jahr aufs andere um 11 Prozent zurück, kehrte aber im folgenden Jahr - so, als ob nichts gewesen wäre - auf den Potentialpfad zurück (Bruner und Carr 2007, Figure 1.2). In Deutschland war die Rezession insgesamt schwächer, verteilte sich aber auf zwei Jahre: die Industrieproduktion sank 1907 um 1,2 Prozent und 1908 um 4,8 Prozent. 13 Zur Empirie vgl. Vaubel (1993, 1997) für Deutschland und McGregor (1996) für die USA.

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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Wahlzyklus verhindern, so müsste man wohl die Wahltermine - innerhalb einer Marge von mehreren Jahren - kurzfristig durch das Los bestimmen. Eine Vermögensbildungspolitik, wie sie in den USA betrieben wurde, ist schon deshalb problematisch, weil sie nicht die Präferenzen der Bürger respektiert, sondern ihre Kaufentscheidungen durch staatliche Subventionen zu manipulieren sucht. Dass sich die Menschen irren, ist unvermeidlich. Aber man kann versuchen, dem Irrtum vorzubeugen und sich dagegen abzusichern. Vorbeugend wirken alle Maßnahmen, die die Transparenz verbessern. Manchmal ist Irrtum Folge einer bewussten Irreführung bis hin zum Betrug. Staatliche Offenlegungspflichten können als Mittel der Betrugsprävention gerechtfertigt sein. Auf den Finanzmärkten geht es dabei vor allem um Folgendes: 1. Kreditverbriefende Banken müssen die Selbstbeteiligungsquoten der Hypothekenbanken bekannt geben. 2. Alle Banken müssen ihre außerbilanziellen Positionen berichten - insbesondere ihre Fristentransformation in Structured Investment Vehicles. 3. Rating-Agenturen müssen ihre Beratungsaufträge offen legen. Die Politik schießt hier übers Ziel hinaus. Zum Beispiel hat die amerikanische Börsenaufsicht den Rating-Agenturen untersagt, strukturierte Anleihen zu bewerten, an deren Zusammenstellung sie beratend beteiligt waren. Die Europäische Kommission will dieses Verbot kopieren und darüber hinaus die Zusammensetzung, Vertragsdauer und Entlohnung der Vorstände regeln (KOM (08) 704). Es würde genügen, auf mögliche Interessenkonflikte hinzuweisen. Die Krise hat gezeigt, dass das Irrtumspotential auf den Finanzmärkten größer ist, als man geglaubt hatte. Deshalb müssen sich die Banken besser dagegen absichern. Die vorgeschriebenen Eigenkapitalquoten sollten deutlich erhöht und auf die Investmentbanken ausgedehnt werden. Auch die Structured Investment Vehicles der Geschäftsbanken und die Hedge-Fonds sollten verpflichtet werden, ihre Verbindlichkeiten in erheblichem Umfang mit Eigenkapital zu unterlegen. Die Begründung für die Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften ist nicht - wie bei Sinn - , dass sonst die Haftungsanreize nicht stimmen. Das war und ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Irrtumswahrscheinlichkeit größer ist, als man bisher geglaubt hatte, und dass Hebel in der bisherigen Größenordnung daher zu gefahrlich sind. Da die größte Gefahr von den systemrelevanten Großbanken ausgeht, sollten ihnen höhere Eigenkapitalquoten auferlegt werden als den anderen Banken.14 Wie bereits erwähnt bietet es sich außerdem an, die Eigenkapitalvorschriften als eingebaute Stabilisatoren einzusetzen. In Spanien wird dies bereits praktiziert. Die vorgeschriebene Kernkapitalquote sollte im Boom höher sein als in der Rezession, so dass die im Boom angesammelten Risikopuffer in der Krise frei werden und tatsächlich eingesetzt werden können. Es wäre überdies effizient, wenn der Staat auf folgende Weise Anreize für die Bildung freiwilligen Eigenkapitals setzen würde. Wenn die "systemrelevanten" Banken in Zukunft darauf bauen können, dass der Staat sie nicht Konkurs gehen lässt, sondern

14 Vgl. dazu den Vorschlag von Alan Greenspan (2009).

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auffängt und rekapitalisiert, dann wird der Bankensektor auf Kosten der anderen Branchen subventioniert und die Allokation verzerrt. Deshalb sollten die Banken in Zukunft selbst für die Kosten der Institutsgarantie aufkommen. Für diese Lösung spricht auch, dass sich die Banken sonst darauf verlassen könnten, auf Kosten der Steuerzahler vor der Insolvenz bewahrt zu werden. Die systemrelevanten Banken sollten daher verpflichtet werden, sich für den Konkursfall zu versichern - die kleineren auf dem Weltversicherungsmarkt, die großen zu entsprechenden Konditionen beim Staat. Der Beitragssatz würde von der jeweils nachgewiesenen Eigenkapitalquote der Bank, einer schematischen Risikoklassifizierung ihrer Forderungen und dem Ausmaß der Fristentransformation abhängen. Je höher also die Eigenkapitalquote das zulässige Minimum übersteigt und je geringer das Risiko der Forderungen und die Fristentransformation, desto niedriger der Beitragssatz.15 In der Diskussion sind jedoch ganz andere Reformvorschläge, die in die Irre führen: 1. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Managergehälter zu beschränken. Die Krise ist nicht durch zu hohe Managergehälter verursacht worden. Die Entlohnung der Manager in Banken und anderswo ist das Ergebnis des internationalen Wettbewerbs um Spitzenkräfte. Dabei stehen für die einzelnen Großunternehmen dreistellige Millionenbeträge und mehr auf dem Spiel. 2. Es ist weder notwendig, noch sinnvoll, die bestehenden Haftungsbeschränkungen aufzuheben. 3. Es wäre falsch, den Banken vorzuschreiben, was für Forderungen sie erwerben dürfen: in welchem Umfang und mit welchen Risiken. Denn davon versteht der Staat nichts. Leider gibt das deutsche Finanzmarktstabilisierungsgesetz dem Staat das Recht, Kreditvergabequoten festzulegen. 4. Weder die Europäische Union noch die einzelnen Staaten sollten den RatingAgenturen ein bestimmtes Geschäftsmodell vorschreiben. 5. Ganz verfehlt wäre es, - wie von vielen gefordert - , durch staatliche Verbote oder eine Börsenumsatzsteuer die Spekulation zu unterdrücken oder zu erschweren. Das gilt auch für Leerverkäufe von Nichtbanken. Die Spekulation erfüllt eine nützliche Funktion. Die Preise, die die Spekulanten fordern oder bieten, zeigen ihre Erwartungen an. Diese Preissignale sind wichtige Informationen auch für andere, die sich kein eigenes Urteil zutrauen. Insofern stellen die Spekulanten - ohne es zu wollen für die Allgemeinheit ein öffentliches Gut bereit. Man kann nicht dadurch, dass man das Thermometer (die Spekulation) vernichtet, die Krankheit (den Irrtum) oder das Fieber (die Krise) bekämpfen. Insgesamt sollte sich die Reform von den folgenden Grundsätzen leiten lassen: 1. Regulierung ja, wenn es darum geht, sich besser auf den - auch in Zukunft unvermeidlichen - Irrtum vorzubereiten. Regulierung nein, wenn sich der Staat anmaßt, kraft besseren Wissens Irrtümer verhindern zu wollen. 2. Wenn der Staat die Banken zwingt, sich besser auf den Irrtum vorzubereiten, sollte er nicht punktuell intervenieren - dazu fehlt ihm das Wissen - , sondern strengere 15 Die Versicherungslösung ist effizienter als eine stärkere Umlagefinanzierung unter den Banken, wie sie der Kronberger Kreis (2009) vorschlägt, denn im Krisenfall schwächt die Umlage auch noch die gesunden Banken und zieht sie womöglich mit in den Abgrund.

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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Regeln aufstellen. Das heißt: Ja zu strikteren gesetzlichen Finanzierungsregeln; nein zu einer mächtigeren staatlichen Regulierungsbehörde, die nach eigenem Ermessen in die Dispositionsfreiheit der Banken eingreift. 3. In Maßen vertretbar sind Vorschriften, die mehr Transparenz herstellen und auf diese Weise den Marktteilnehmern helfen, sich vor Irrtum und Betrug zu schützen. 4. Es ist notwendig, dem Moral Hazard vorzubeugen, der in Zukunft von der viel weiter reichenden Bestandsgarantie für Banken ausgehen wird. 5. Die staatliche Bestandsgarantie darf nicht dazu fuhren, dass die Banken subventioniert und damit gegenüber den anderen Wirtschaftszweigen bevorzugt werden.

2. Die internationale Dimension Die Krise ist nicht dadurch entstanden, dass die Bankenaufsicht als nationale Aufgabe betrachtet wurde. Keine noch so enge internationale Koordination der Bankenaufsicht oder generell der Finanzmarktregulierung hätte an dem Ausbruch oder dem Ausmaß der Krise das Geringste geändert. Deshalb ist es abwegig, jetzt in der Europäischen Union oder auf der Ebene des Internationalen Währungsfonds eine zentrale Bankenaufsicht oder Regulierung der Finanzmärkte zu fordern. Es ist aber nicht verwunderlich, dass diese internationalen Organisationen eine Chance wittern, ihren Zuständigkeitsbereich zu erweitern. Außerdem versucht die Mehrheit der hochregulierten EU-Staaten den schwächer regulierten Konkurrenten ein höheres Regulierungsniveau aufzuzwingen. Zum Teil haben sich die Politiker auch einfach einen Ersatzschauplatz gesucht, weil sie meinen, einen Schuldigen präsentieren zu müssen (obwohl es sich doch im Kern um einen Irrtum handelt) und weil sie nicht als untätig erscheinen wollen. Richtig ist, dass - ganz unabhängig von der Krise - die zunehmende Internationalisierung des Bankgeschäfts nach grenzüberschreitenden Lösungen für die Bankenaufsicht verlangt. In der Europäischen Union werden die ausländischen Töchter der Banken sowohl von den Behörden des Mutterlandes als auch von den Behörden des Gastlandes beaufsichtigt. Die Banken sind verpflichtet, an beide Behörden zu berichten. Dieses System der doppelten Kontrolle ist nicht nur völlig ausreichend, sondern sogar intensiver als eine zentrale Kontrolle. Doppelt hält besser. Außerdem können die Behörden vor Ort besser beurteilen, was das Problem ist und wie es am besten gelöst werden kann. Es ist nicht zweckmäßig, dass eine EU-Aufsichtsbehörde in Brüssel die Stadtsparkasse XYZ beaufsichtigt. Auch zentrale europäische Regulierungen, wie sie die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und die von Jacques de Larosiere geleitete Expertengruppe vorgeschlagen haben, sind weder notwendig noch sinnvoll. Weder die europäischen Institutionen noch der Internationale Währungsfonds haben die Krise vorhergesehen. Der IWF schrieb im April 2007: "The amount of potential credit loss in subprime mortgages may be fairly limited".16 Die Wirtschaftsprognosen des IWF waren sogar in der Vergangenheit besonders schlecht. Eine gute Aufsichtsbehörde muss die Zukunft gut einschätzen können.

16 IMF (2007, S. 7).

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Roland Vaubel

Durchschnittliche absolute Prognosefehler für das reale Wirtschaftswachstum im Folgejahr 1973-85, in Prozent

r j Land

mrc t. IWF-Prognose

Nationalstaatliche Prognose

„ . , n Private Prognose

USA

1,4%

1,4%

1.0%

Japan

1,8%

1,2%

-

Deutschland

1,6%

1,2%

-

Großbritannien

1,4%

-

Frankreich

1.1 %

Italien

2,2%

1.1 %

1,2%

-

1,9%

-

Erläuterung:

kursiv: höchster absoluter Prognosefehler unterstrichen: niedrigster absoluter Prognosefehler. Quelle: Michael Artis (1988). Wie Tabelle 1 zeigt, lieferte der IWF in den Jahren 1973-85 für fünf der sechs größten Industrieländer die unzuverlässigsten Wachstumsprognosen. Demgegenüber waren die Prognosen der Privaten stets die besten, die der betreffenden Nationalstaaten in der Hälfte der Fälle. Tab. 2:

Land

Durchschnittliche absolute Prognosefehler für das reale Wirtschaftswachstum, Herbstprognose für das Folgejahr, 1990-2004, in Prozent

IWF

OECD

NIESR

AWF

SVR

Economist andere Consensus

USA

1,2%

1,2%

1,2%

1,2%

1,2%

1,1 %

Japan

1,6%

1,3%

1,5 %

1,5 %

1,4%

1,4%

Deutschland

1,1 %

0.9 %

1,1 %

1,0%

0,9 %

0,9 %

Großbritannien

1,0%

0,8 %

0,8 %

0,8 %

0,7 %

0,9 %

Frankreich

1,1 %

0,8 %

0,8 %

0,9 %

1,0%

0,8 %

Italien

1,2%

0,9 %

0.8 %

1,5%

0,9 %

0,8 %

Kanada

1,5%

1,4%

1,2%

1,3%

1,3 %

1,2%

Durchschnittl. Prognosefehler

1,24%

1,04%

1,06%

1,17%

1,06%

1.01 %

Erläuterung:

kursiv: höchster absoluter Prognosefehler unterstrichen: niedrigster absoluter Prognosefehler. Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage von Aldenhoff (2006).

ASA/ NBER

1.1 %

IfW

0.9 %

0.8 %

Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension

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In Tabelle 2 habe ich die Analyse für den Zeitraum 1990-2004 aktualisiert. Die Vergleichsprognosen stammen von der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), dem National Institute for Economic and Social Research, London (NIESR), der Arbeitsgemeinschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute (AWF), dem Sachverständigenrat (SVK), den privaten Consensus Forecasts des Economist, der American Statistical Association und des National Bureau for Economic Research (ASA/NBER), dem Institut für Weltwirtschaft, Kiel (IfW) und dem Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques, Paris (INSEE). Da zum Beispiel der Sachverständigenrat keine Frühjahrsprognosen veröffentlicht, habe ich mich auf die Herbstprognosen beschränkt. Für sechs der sieben Industrieländer weisen die Prognosen des IWF den größten Fehler auf. Das gleiche gilt im Durchschnitt der sieben Länder. Am treffsichersten sind die privaten Prognosen des Economist Consensus und, soweit vorhanden, die Prognosen, die die drei in der letzten Spalte genannten wissenschaftlichen Institute jeweils für das eigene Land vorgelegt haben. Die Ergebnisse der beiden Tabellen deuten auf drei Regelmäßigkeiten hin: 1. Die besten Prognosen sind die privaten. 2. Unter den öffentlichen Institutionen liefern die örtlichen die besten Prognosen. 3. Unter den internationalen Organisationen ist die Organisation der Industrieländer (OECD) treffsicherer als die weltumspannende Organisation (IWF) - jedenfalls wenn es um die wirtschaftliche Entwicklung in den Industrieländern geht. Globale Finanzmarktkrisen nehmen ihren Ausgang in den großen Industrieländern. Es kommt hinzu, dass die Wachstumsprognosen des IWF - wie Aldenhoff gezeigt hat17 - , im Durchschnitt viel zu optimistisch sind. Sowohl die Frühjahrs- als auch die Herbstprognosen für das Folgejahr sind im Fall der sieben größten Industrieländer auf dem Ein-Prozent-Signifikanzniveau in Richtung Optimismus verzerrt - möglicherweise weil die Regierenden der Mitgliedstaaten dies gerne sehen (vor allem vor Wahlen). Die Frühjahrs- und Herbstprognosen für Asien und die Frühjahrsprognosen für Lateinamerika sind desto stärker in Richtung Optimismus verzerrt, je größer die Kredite, die der IWF in dem betreffenden Jahr an die Länder der betreffenden Region vergibt. Diese Korrelationen sind teilweise auf dem Fünf-Prozent und teilweise auf dem Zehn-ProzentNiveau signifikant. Als internationale Aufsichtsbehörde ist der IWF auch aus anderen Gründen völlig ungeeignet. Er äußert sich zwar von Zeit zu Zeit zur Lage der Finanzmärkte in verschiedenen Mitgliedstaaten, aber mit dem Bankgeschäft hat er nichts zu tun. Er verleiht das ihm anvertraute Kapital an Regierungen, nicht an Banken. Für internationale Aspekte der Bankenregulierung ist seit 1999 das "Financial Stability Forum" der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel zuständig. Dort ist die erforderliche Expertise, dort können Informationen ausgetauscht werden. Wenn der IWF im Rahmen seiner wirtschaftspolitischen Überwachungstätigkeit (Surveillance) wichtige vertrauliche Informationen erhält, die die Regulierung der Banken und die Finanzmarktstabilität betreffen, sollte er sie dem Financial Stability Forum zur Verfügung stellen.

17 Aldenhoff (2007, Tables 1 und 2).

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Roland Vaubel

Selbst in seinem Kerngeschäft - der Kreditvergabe - macht der IWF keine gute Figur. Zum Beispiel erhöht er seine Kredite regelmäßig dann, wenn im Empfängerland Wahlen anstehen.18 Er vergibt seine Kredite zu subventionierten Zinsen. Ein Lender of Last Resort sollte einen Strafzins fordern (Bagehot). Dann würde sich zeigen, ob und inwieweit der IWF tatsächlich zusätzliche Finanzmittel benötigt. Wenn die Mittel nicht ausreichen, wäre es wichtig, dass sie nicht permanent, sondern nur für die Dauer der Krise erhöht werden Der IWF hatte eine Verdopplung seiner Ressourcen gefordert. Die Regierungen der G-20-Länder haben sich Anfang April darauf geeinigt, sie zu vervierfachen: um 500 Mrd. Dollar im Rahmen der General Agreements to Borrow (GAB) und um 250 Mrd. Dollar in Form neuer Sonderziehungsrechte. Die Erweiterung der GAB kann befristet werden, die Zuteilung zusätzlicher Sonderziehungsrechte nicht. Die GAB-Kredite können gezielt an Bedürftige vergeben werden, die Sonderziehungsrechte erhalten alle gemäß ihren Anteilen am Kapital des IWF. Die GAB-Kredite können an wirtschaftspolitische Bedingungen geknüpft werden, die Inanspruchnahme der Sonderziehungsrechte nicht. Deshalb hatten sich die Industrieländer jahrzehntelang geweigert, zusätzliche Sonderziehungsrechte zu schaffen. Jetzt sind alle Dämme gebrochen. Der Panik der Märkte folgte die Panik der Politik. Für die Bundesrepublik bedeutet dies, dass der Bund in erheblichem Umfang Kredite an Staaten - genauer: Regierungen vergeben wird, die der Weltkapitalmarkt als besonders kreditwnwürdig einstuft. Die Gewinne der Bundesbank werden daher stark zurückgehen.

IV. Schluss Die Politiker, die sich heute für eine weit- oder europaweite Zentralisierung oder internationale Absprachen im Bereich der Finanzmarktpolitik einsetzen, lassen sich von vordergründigen Argumenten leiten. Zum einen meinen sie laienhaft, gemeinsame Probleme müssten gemeinsam gelöst werden. Ob zwei Menschen oder Länder das gleiche Problem haben, sagt aber nichts darüber aus, ob sie es am besten gemeinsam oder einzeln lösen können. Zum anderen denkt der Laie, dass bei zunehmend integrierten Finanzmärkten auch die Finanzmarktpolitik integriert werden müsse. Die AssignmentLösung von Robert Mundeil (vgl. Abschnitt 1.2 oben) beweist das Gegenteil. Dezentrale nationale Finanzmarktpolitik ist auch bei größter internationaler Interdependenz der Finanzmärkte effizient, solange die Instrumente - was ja nicht schwierig ist - gemäß ihrem komparativen Vorteil zugeordnet und eingesetzt werden. Die klassischen Begründungen des Subsidiaritätsprinzips gelten auch für die Finanzmarktpolitik: 1. Auf dezentraler Ebene verfügt die Politik über bessere Informationen. 2. Auf dezentraler Ebene funktioniert die demokratische Kontrolle besser. 3. Auf dezentrale Ebene werden die Unterschiede in den Präferenzen und Bedürfnissen besser berücksichtigt. 4. Eine Vielzahl von Experimenten begünstigt die Innovation. 5. Dezentrale Wirtschaftspolitik lässt den Bürgern mehr Freiheit.

18 Vgl. die empirische Evidenz in Dreher und Vaubel (2004, Table 1).

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Roland Vaubel

ist. Die gleichen Faktoren, die das Versagen der Bankenaufsicht erklären, sprechen dagegen, die diskretionären Eingriffsrechte der Aufsichtsbehörden zu erweitern. Eine Internationalisierung der Bankenregulierung, wie sie jetzt in der Europäischen Union angestrebt wird, hätte die Krise nicht verhindert. Da jedes Land einen hinreichenden Anreiz hat, die Stabilität seines Finanzsystems zu gewährleisten, ist die Krise nicht durch einen Mangel an internationaler Koordination verursacht worden. Aus dem gleichen Grund bedarf es auch in Zukunft nicht einer internationalen Regulierung, sondern lediglich eines - möglicherweise verbesserten - Informationsaustauschs. Wie gezeigt wird, sind die Wirtschaftsprognosen internationaler Organisationen - insbesondere des IWF - sogar besonders unzuverlässig. Der Staat sollte solvente Banken nicht subventionieren und sich auch nicht an ihnen beteiligen. Banken, die Konkurs anmelden müssen, sollten dagegen von einer staatlichen Auffanggesellschaft vorübergehend weitergeführt und dann möglichst bald wieder verkauft werden. Die Eigenkapitalvorschriften müssen verschärft und flexibilisiert werden. Es ist auch Aufgabe des Staates, den Finanzinstituten Offenlegungspflichten aufzuerlegen.

Summary: Lessons from the financial crisis: The role of government and the international dimension The financial crisis is not due to distorted market incentives but to error and government failure. A comparison of risk premia in the US mortgage and corporate bond markets reveals that the crisis was not caused by low risk aversion; rather, the market underestimated the risk. The same factors which explain US regulatory failure in, and prior to, the crisis also throw doubt on current proposals to give regulators more discretionary powers. The regulations which are now to be introduced at the EU level would not have prevented the crisis. Since each country has a sufficient incentive to maintain the stability of its financial system, the crisis is not due to a lack of international cooperation, and there is no need for international regulation in the future. However, the exchange of information may be improved. The paper demonstrates that the economic forecasts of international organisations like the International Monetary Fund are less reliable than those of private and national institutions. Governments should not subsidise solvent banks, nor should they contribute to their capital. Banks which declare bankruptcy, however, should be taken over, restructured and resold by a public agency. Capital requirements ought to be raised and vary with the business cycle. There is also a case for rules requiring more transparency.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Erich Weede

Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus: Überlegungen zu (allzu) menschlichem Handeln in Wirtschaft und Politik Inhalt I. Einleitung II. Staatsaufgaben und Staatseingriffe III. Determinanten der Finanzkrise IV. Die Grenzen der Rationalität V. Auftraggeber und Auftragnehmer VI. Politik in der Demokratie VII. Egoismus, Altruismus, Paternalismus VIII. Abschließende Überlegungen Literatur Zusammenfassung Summary: The Financial Crisis as a Crisis of the Legitimacy of Capitalism

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I. Einleitung Unbeliebt ist der Kapitalismus in Deutschland und in weiten Teilen Kontinentaleuropas schon lange. In Deutschland wird selbst das Wort Kapitalismus fast nur dann verwendet, wenn das so benannte Wirtschaftssystem kritisiert werden soll. Sonst sagen wir lieber Marktwirtschaft oder noch lieber soziale Marktwirtschaft, obwohl ein Nobelpreisträger, nämlich Friedrich August von Hayek (1971), schon vor Jahrzehnten die Befürchtung äußerte, dass das Adjektiv .sozial' die Marktwirtschaft gefährden könnte. Andere Denker, wie der Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, bemühten sich um die Unterscheidung zwischen der positiv beurteilten sozialen Marktwirtschaft und dem negativ beurteilten Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat (vgl. dazu Habermann 2000). Die Entwicklung der nach Erhard kräftig angestiegenen Sozialtransferquoten und Staatsquoten spricht nicht dafür, dass es im politischen Alltagsgeschäft von Demokratien leicht fällt zu verhindern, dass das Soziale die Marktwirtschaft immer weiter in die Defensive treibt (vgl. die Daten bei Tanzi und Schuknecht 2000). Sogar der Erfolg des Kapitalismus bei der Überwindung der Massenarmut oder gar der Erzeugung von .Wirtschaftswundern' - ob in den 1950er Jahren in Westdeutschland oder später vor allem in Ostasien - trägt zu seiner Delegitimation bei. Joseph Schumpe-

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ter (1950) hatte das schon in den 1940er Jahren geahnt, als er die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus nicht wegen seiner Schwächen, sondern wegen seiner Folgen in den Köpfen der Menschen bezweifelte. Zeitgenössische Sozialwissenschaftler drücken das anders aus und verweisen auf den Wertewandel, also die Durchsetzung postmaterialistischer Werte und die Abschwächung der Leistungsmotivation infolge des Wohlstandes und des Wohlfahrtsstaates (Inglehart 1997). Man ist versucht zu sagen: Je erfolgreicher der Kapitalismus bei der Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse ist, desto weniger wollen wir ihn und den damit verbundenen Leistungswettbewerb ertragen. Die Globalisierung hat mit dem zunehmenden internationalen Handel, mit weitgehend freien Kapitalmärkten und der Entstehung von globalen Wertschöpfungsketten den Wettbewerb auf den Märkten verstärkt. Konsequenz dieses verschärften Wettbewerbs ist die Beschleunigung der .schöpferischen Zerstörung' bzw. des Strukturwandels, wodurch Schumpeter die kapitalistische Wirtschaftsordnung charakterisiert hatte. Komparative Kostenvorteile, Standortvorteile, Marktbeherrschung werden zunehmend angreifbar. Der Notwendigkeit der Anpassung kann man immer seltener mit Aussicht auf Erfolg entkommen. Im Prozess der schöpferischen Zerstörung kann es nicht nur Gewinner geben. Es gibt immer auch Verlierer. Weil die Globalisierung Wettbewerb, schöpferische Zerstörung und Anpassungszwänge verstärkt hat, hat sie wesentlich dazu beigetragen, den Kapitalismus noch unbeliebter zu machen als er schon vorher war. Schon seit Jahren greift diese Unbeliebtheit von europäischen Alt-68ern sogar auf amerikanische Durchschnittsverdiener über. Um das Ansehen des Kapitalismus oder der Marktwirtschaft weiter zu beschädigen, da hat die jedenfalls außerhalb der USA 2007 noch schleichende und 2008 überall in der Welt galoppierende Finanzmarktkrise mit ihren gewaltigen Kapitalverlusten und der folgenden Infektion der Realwirtschaft gerade noch gefehlt. Viele, auch kleine Kapitalanleger mussten große Verluste hinnehmen. Das Bankrottrisiko ist gestiegen. Arbeitsplätze gehen nicht mehr nur in der amerikanischen Bauwirtschaft verloren (.Reinhart und Rogoff2008). Man ist betroffen, entsetzt und ärgert sich über hoch bezahlte Bankund Finanzmarkt-Manager, die das Ganze zumindest nicht verhindert und sicher teilweise sogar mit-verschuldet haben. Die Frustration droht in Aggression gegen die Leitenden der kapitalistischen Wirtschaft umzuschlagen. Bevor man dieser allzu menschlichen Neigung nachgibt: Frustration, Wut und Aggressionsneigung erhöhen bekanntlich nicht das Urteilsvermögen - auch und gerade dann nicht, wenn man diese Gefühle mit vielen anderen teilt und sich deshalb in der Masse sicher fühlt.

II. Staatsaufgaben und Staatseingriffe Staat und Markt sollte man nicht - wie die Anarchokapitalisten - in erster Linie als Gegensätze, sondern eher als sich ergänzende Einrichtungen begreifen. In der Sprache der Ordnungspolitik und ihrer stärker angelsächsisch beeinflussten Variante, der Institutionenökonomik, kann man sagen, dass Politik und Staat für die Rahmenbedingungen bzw. die Rechtsordnung zuständig sind und der Markt für Arbeitsteilung und Tausch innerhalb des staatlich gesetzten Ordnungsrahmens. Nicht wenige Ordnungspolitiker postulieren, dass der Wettbewerb auf Märkten durch Gesetze und Kartellbehör-

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den erhalten werden muss (Plickert 2008). In der Sprache der ökonomischen Theorie der Politik bzw. von Public Choice kann man auch sagen, dass der Staat für die Beschaffung öffentlicher Güter, der Markt aber für die Produktion und Verteilung privater Güter zuständig ist. Immer dann, wenn es gesetzliche Zahlungsmittel und staatliche Zentralbanken gibt, gehört zu den Staatsaufgaben, für ein wertbeständiges Geld zu sorgen und die Eigenkapitalerfordernisse für die Banken und die Bilanzierungsvorschriften festzulegen - ob das Marktwerte oder Niederstwerte (der niedrigere Wert von Anschaffungswert oder Marktwert) sein sollen. Weil Inflationsvermeidung und Regulierung der Finanzmärkte Staatsaufgaben sind, sind schon nationale Finanzmarktkrisen - die gegenwärtige Krise hat ja als nationale Krise in den USA begonnen - nicht ohne staatliche Mitwirkung und Mitverantwortung denkbar. Nur die Abschaffung des staatlichen Geldmonopols durch die Privatisierung des Geldes und konkurrierende Privatwährungen, wie gerade von Polleit, Prollius, Schäffler und Tofall (2009) im Anschluss an Friedrich August von Hayek zur Diskussion gestellt, würde es dem Staat erlauben, bei Finanzkrisen glaubhaft seine Unschuld zu beteuern. Alle Welt ruft zurzeit nach dem Staat, sogar die Führungen vieler westlicher Großbanken. Dennoch sollte man auch in der Krise nicht vergessen, dass selbst ein immer wieder von Krisen erschütterter Kapitalismus immer noch mehr als eine vom Staat dominierte oder Zentralverwaltungswirtschaft leistet. Zur Erinnerung: Vor zehn Jahren gehörte Südkorea zu den am härtesten von der Asienkrise betroffenen Volkswirtschaften. Das ändert nichts daran, dass das südkoreanische Pro-Kopf-Einkommen irgendwo zwischen dem 10- und 15-fachen des nordkoreanischen liegt. Vielleicht hatte ja Wladimir Putin mit seiner positiven Beurteilung der DDR Recht. Die hatte vielleicht ein Drittel, mindestens aber ein Viertel der westdeutschen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung erbracht. Vielleicht deutet das die Grenze der Leistungsfähigkeit stabiler sozialistischer Volkswirtschaften verglichen mit dem immer wieder von Krisen geschüttelten Kapitalismus an. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates sollte man trotz der Finanzmarktkrise nicht überschätzen. Das soll nicht bedeuten, dass jeder Ruf nach staatlichen Eingriffen in der gegenwärtigen Krise unvernünftig ist. Denn funktionierende Finanzmärkte, in denen Banken und andere Akteure einander vertrauen und vertrauen können oder ein Ende der Panik an den Börsen, wo die Erwartung weiter fallender Kurse eine Zeit lang eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bleiben könnte, das sind öffentliche Güter. Staatsaufgabe ist vor allem die Realisierung gemeinsamer Interessen der Menschen oder die Beschaffung öffentlicher Güter. Falls öffentliche Güter beschafft oder öffentliche Übel beseitigt werden, dann haben alle etwas davon. Wenn es dem Staat durch den Einsatz von zwangsweise erhobenen Mitteln, also Steuern, oder besser noch Garantien, die vielleicht nie (oder nur teilweise) eingelöst werden müssen, gelingt, die Finanzmärkte zu beruhigen und den Schaden für die Realwirtschaft zu minimieren, dann nützt uns das allen. Die Überwindung der Finanzkrise hilft nicht nur den Bankvorständen, sondern auch den Kleinaktionären, die für das Alter Vorsorgen, oder den Arbeitnehmern, deren Arbeitsplatz nach dem Ende der Krise wieder sicher wird. Hauptanliegen der Staatseingriffe sollte dabei zunächst nicht die Suche nach Schuldigen und deren Bestrafung sein, sondern die möglichst kostengünstige Beschaffung des öffentlichen Gutes ,Ende der Unsicherheit auf den Finanzmärkten'. Das kann die Über-

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nähme fauler Kredite durch den Staat oder ausnahmsweise sogar Verstaatlichung von Banken bedeuten. Der Staat kann auch vorübergehend Aktionär bei angeschlagenen Banken werden. Der Staat kann auch die privaten Guthaben bei Banken oder darüber hinaus auch die Kredite der Banken unter einander garantieren. Bei aller Unsicherheit in Wissenschaft1 und Politik darüber, welche Maßnahme in welchem Land am schnellsten und nachhaltigsten Erfolg verspricht, wie die Dauerbelastung des Steuerzahlers durch die Rettungsmaßnahmen minimiert werden kann, spricht die Erfahrung aus vorhergehenden Krisen und deren Bewältigung nach dominanter Auffassung (z.B. Barbera 2009; Krugman 2008) eher für ein schnelles und kräftiges Eingreifen des Staates als für Zaudern.2 Die staatlichen Eingriffe haben allerdings Nebenwirkungen: Wenn der Staat viele Akteure auf den Finanzmärkten rettet, dann gewöhnt man diesen Akteuren das Risikobewusstsein ab. Es gibt immer auch Zielkonflikte. Je schlimmer die Krise ist, desto wichtiger wird deren schnelle Überwindung, auch wenn die Rettungsmaßnahmen von gestern möglicherweise zur Krise von morgen beitragen. Wenn die Politik den unvermeidbaren Kollateralschaden nach Ende der Krise vergisst, statt wenigstens nachträglich noch nach Mitteln der Schadensbegrenzung zu suchen, dann haben wir natürlich bald wieder ein Problem. Ein Kollateralschaden zeichnet sich als besonders bedrohlich ab, nämlich ein sprunghaftes Ansteigen der Staatsverschuldung, die in den ergrauenden Gesellschaften des Westens auch schon vor der neuen Zusatzbelastung nicht wirklich unter Kontrolle war.3 Dabei sind weniger die direkten Kosten der Unterstützungsmaßnahmen für die Banken als vielmehr die rezessionsbedingten Steuerausfalle und die Konjunkturprogramme das Hauptproblem (Reinhart und Rogoff 200%). Obwohl die Zentralbanken grundsätzlich in der Lage sind, ihre Bilanzsummen und die Geldmenge wieder unter Kontrolle zu bringen, bleibt es natürlich schwierig, den optimalen

1

Nach Anna Schwartz (im Interview mit Camey 2008) oder Woods (2009) hätte der amerikanische Staat besser darauf verzichtet, insolvente Banken zu retten. Weil Schwartz im Gegensatz zu Woods nicht der österreichischen Schule zugerechnet werden kann, ist diese Übereinstimmung bemerkenswert. Genau die entgegen gesetzte Auffassung vertritt Barbera (2009), der schöpferische Zerstörung' für die Realwirtschaft, aber nicht für das Finanzwesen akzeptiert. Nach seiner Auffassung hätte auch Lehman Brothers gerettet werden müssen. 2 Die Grenzen unseres Wissens über die langfristigen Folgen von staatlichen Rettungsversuchen sind umstritten. Eine extreme, nur von einer Minderheit der Fachleute akzeptierte Auffassung vertritt Hülsmann (2008-09, S. 6-7): „Die .Stabilisierung' der Wirtschaft durch Fiskalpolitik und Geldpolitik ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht zweckmäßig. Kurzfristig hilft sie bestimmten Gruppen zu Lasten der Restgesellschaft. Auf längere Sicht lähmt sie das Wachstum insgesamt. Was aber sind die Alternativen? Der gerade Weg ist häufig der beste: kein Eingreifen der Geldpolitik und keine Fiskalpolitik. Die Folge wäre ein deflationäre Selbstreinigung des Marktes." Ebenfalls auf der österreichischen Theorie (Mises, Hayek) aufbauend, vertritt Higgs (2009) die Auffassung, dass die Fehlinvestitionen in der vergangenen Niedrigzinsphase (z.B. in Häuser und Wohnungen) nicht ohne Bankrott und Entlassungen korrigiert werden können. Woods (2009, S. 94) weist ebenfalls aus österreichischer Perspektive daraufhin, dass die vergessene, aber schwere Depression von 1920-21 in den USA schnell überwunden wurde, gerade weil Regierung und Zentralbank nicht eingegriffen haben. 3 In einem Vorschlag zur Konjunktursteuerung verpackt, in einem Plädoyer für eine Staatsschuldensteuer und konjunkturabhängige Steuerlasten, analysiert Carl Christian von Weizsäcker (2008, S. 12) den Status quo der politischen Anreize zur Staatsverschuldung so: „Wenn der Staat bei guter Konjunktur am besten in der Lage wäre, Schulden abzubauen, tut er das heute nicht, weil die Defizite automatisch zurückgehen und die Politik sich das noch als Verdienst anrechnet." Das möchte ich als Staatsversagen bezeichnen. Wer den Haushalt bei guter Lage nur langsam konsolidiert, rechnet implizit mit sehr langen Schönwetterperioden.

Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus

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Zeitpunkt zu finden und das Notwendige gegen politischen Widerstand durchzusetzen (Gordon 2009). Wo die Zentralbanken zu spät und zu zaghaft reagieren, da droht dann Inflationsgefahr.

III. Determinanten der Finanzkrise Die gegenwärtige Krise wird die negative Bewertung von Kapitalismus oder Marktwirtschaft in Deutschland, in Europa und im Westen weiter verfestigen. Sie wird die Legitimitätskrise unserer Wirtschaftsordnung verschärfen. Die psychologische Wirkung der Krise ist so, als ob die Krise Resultat von purem Marktversagen wäre. Das ist sie aber überhaupt nicht {Taylor 2009; Wohlgemuth 2008). Denn der Staat - weil die Krise auf dem amerikanischen Häusermarkt begonnen hat, zuerst und vor allem der amerikanische Staat - hat durchaus dazu beigetragen. Zum Staat gehören natürlich nicht nur Regierung und Parlament, sondern auch die Zentralbank und die staatliche Finanzaufsicht. Hintergrundbedingungen der Krise sind: 1. die Politik des billigen Geldes, die die amerikanische Notenbank seit mehr als einem Jahrzehnt betrieben hat (Anna Schwartz im Interview mit Carney 2008), der auch andere Notenbanken gefolgt sind. Aus der Perspektive der österreichischen Theorie kann man sogar sagen, dass gesetzliche Zahlungsmittel, eine Zentralbank und deren Einfluss auf das Zinsniveau mehr Ähnlichkeit mit der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft haben als mit freien Märkten (Woods 2009, S. 153). John Taylor (2009) geht soweit zu behaupten, dass eine Befolgung der nach ihm benannten Taylor Rule, die den Leitzins in Abhängigkeit von Inflationsrate und Wirtschaftswachstum festsetzt, die die amerikanische Zentralbank bis 2001 auch lange und mit guten Ergebnissen befolgt hatte, hätte die Krise vermeiden können. Seines Erachtens haben erst die viel zu lockere Geldpolitik und die zu niedrigen Zinsen die Blasenbildung auf dem amerikanischen Häusermarkt ermöglicht. Woods (2009, S. 8) fasst den Beitrag der amerikanischen Zentralbank so zusammen „The Fed's policy of intervening in the economy to push interest rates lower than the market would have set them was the single greatest contributor to the crisis that continues to unfold before us. Making cheap credit available for the asking does encourage excessive leverage, speculation, and indebtedness. Manipulating interest rates and thereby misleading investors about real economic conditions does in fact misdirect capital into unsustainable lines of production...". 2. die lange schon asymmetrische Geldpolitik, die darin besteht, in Krisen die Zinsen schnell zu senken, bei sich andeutender Blasenbildung auf den Vermögensmärkten aber gar nicht, zögerlich oder langsam zu reagieren (Barbera 2009, S. 189). Während die Zentralbank die Rahmenbedingungen für die Fehlallokation der Ressourcen geschaffen hat,4 haben Regierung und Kongress in den USA die Feinsteuerung der Fehlallokation übernommen.

4

Obwohl Krugman (2008, S. 152) als Keynesianer grundsätzlich andere Auffassungen als der Österreicher' Woods vertritt, kommt er ihm in der Beurteilung der Geldpolitik Alan Greenspans nahe: „Cynics said that Greenspan had succeeded only by replacing the stock bubble with a housing bubble - and they were right."

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3. die bloße Existenz von Fannie Mae und Freddy Mac, die schon vor der Krise mit einer impliziten Regierungsgarantie ausgestattet waren, denen die Politik auch zugedacht hatte, ,kleinen Leuten' den Erwerb von Hauseigentum zu ermöglichen. Die Politiker wollten gar nicht, dass die Zahlungsfähigkeit der Hauskäufer allzu gründlich geprüft würde. Man kann sogar noch weiter gehen und darauf verweisen, dass sogar die steuerliche Absetzbarkeit der Hypothekenzinsen beim Hauskauf eine Subventionierung darstellt, die auch nur bedingt zahlungsfähige Menschen zu Erwerb eines Eigenheims verleitet hatte (Economist 2009a, S. 22). Unter Berufung auf den Nobelpreisträger Vernon Smith verweisen Bajaj und Leonhardt (2008, S. 11) auf die verhängnisvolle Rolle der Steuerreform der C/i«ton-Administration. Nach 1997 wurden Wertsteigerungen bei Häusern im Gegensatz zu den Erträgen anderer Investitionen in der Regel nicht besteuert, was einen Anreiz zur Überinvestition auf dem amerikanischen Immobilienmarkt vermittelt hat. Außerdem hat der .Community Reinvestment Act' die Banken zur .affirmative action' gegenüber den Angehörigen der wirtschaftlich weniger erfolgreichen Minoritäten gezwungen (Woods 2009, S. 17-21). Kein Geringerer als Barack Obama hat als Rechtsanwalt und Community Organizer daran mitgewirkt (Sinn 2009, S. 118). Das ist kein Beispiel für fehlende Regulierung, sondern für staatliche Fehlregulierung.5 4. Regulierung und Bankenaufsicht haben versagt (Hellwig 2008). Nach den Basler Abkommen von 1988 und 1996 konnte es zu einer deutlichen Senkung der Eigenkapitalquoten der Banken kommen. Als das Niederstwertprinzip des deutschen Handelsgesetzbuches noch galt, also der jeweils niedrigere Wert von Anschaffungswert und Marktwert in der Bilanz erscheinen musste, war beispielsweise bei der Deutschen Bank (in den 1980er Jahren) die bilanzielle Eigenkapitalquote noch ungefähr dreimal so hoch wie 2008 (Sinn 2009, S. 88 und 155). Das ,fair value accounting' hat die Eigenkapitaldecke der Banken in der Krise belastet den Verkaufsdruck auf den Märkten verstärkt. Nach Krugman (2008, S. 166 ff.) ist das weitgehend unregulierte Schattenbankensystem der Kern der Finanzkrise. Nach Eichengreen (2009, S. 12) litten die Regulierungsbehörden vor der Krise unter ,cognitive regulatory capture', weil sie sich zu sehr den Vorstellungen der von ihnen regulierten Finanzmarktakteure angepasst hatten. 5. Finanzinnovationen entstehen immer auch durch Versuche der legalen Umgehung von bestehenden Regulierungen - ähnlich wie Steuerberatung ja immer auch darin besteht, auf legalem Wege die Steuerlast des Klienten durch Aufspüren von Schlupflöchern zu reduzieren. Der Staat ist also immer auch Pate von Finanzmarktentwicklungen. Auf Finanzmärkten können Innovationen darin bestehen, die Eigenkapitalunterlegung von riskanten Krediten dadurch zu umgehen, dass man verbriefte Kredite bei Zweckgesellschaften und außerhalb der eigenen Bilanz unterbringt. Im Idealfall führt die Verbriefung von Krediten und der Verkauf dann dazu, dass diejenigen die Risiken tragen, die sich das leisten können. Aus amerikanischer Sicht ist die Sache auch nicht nur schlecht gelaufen. Dass auch deutsche oder schweizerische Banken und nicht nur amerikanische unter dem Verfall der amerikanischen Hauspreise leiden, bedeutet ja, dass die Verluste verteilt worden sind. Man kann Finanzmarktinnovationen auch als dynamisches Rennen von privaten Akteuren auf der Su5

Krugman (2008, S. 162-163) widerspricht dieser Interpretation.

Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus

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che nach profitablen neuen Möglichkeiten und der staatlichen Finanzaufsicht betrachten, die gefahrlichen Entwicklungen eigentlich schnell entgegensteuern sollte (Barbera 2009, S. 187). Aber Bürokratien haben einen fast so schlechten Ruf wie der Kapitalismus. Die Regulierungsbehörden haben die Genehmigung neuer Finanzprodukte noch nicht einmal immer davon abhängig gemacht, dass sie die Produkte verstanden haben. Das ist Politikversagen, wofür Sinn (2009, S. 171) den ,Laschheitswettbewerb' der nationalen Regulierungsbehörden verantwortlich macht. Sie gelten als schwerfällig und langsam. Sicher können auch Politiker und Bürokraten sich irren. Auf dem amerikanischen Immobilienmarkt haben sie das ja schon gezeigt. Ihre professionelle Qualifikation und erst recht ihre Bezahlung ist in der Regel schlechter als die der Finanzmarktakteure (Economist 2009a, S. 20). Nicht nur die amerikanische Politik, sondern auch die Politik anderswo kann zum Entstehen der Krise beigetragen haben. Nicht nur, aber besonders oft Amerikaner (beispielsweise Altman 2009; auch Economist 2009b; Wolf 2009) verweisen gern auf eine globale Ersparnisschwemme im Allgemeinen und den Beitrag von Chinesen und Ölexporteuren im Besonderen. Vielleicht die überzeugendste Formulierung dieser These stammt von Wolf (2009, S. 100): "The rest of the world's capital outflow supports the dollar. At the resulting elevated real exchange rate for the United States, the output of the sectors that produce tradable goods and services shrinks, other things beings equal. The Federal Reserve cuts interest rates, thereby preventing excessive unemployment. As it does so, a large excess demand for tradable goods and services emerges in the United States. This, finally, appears in the trade and current account deficits. One consequence of all this is that U.S. domestic demand had to grow faster than real GDP, to ensure that the latter grows in line with potential."

Die ostasiatisch-arabische Ersparnisschwemme (vor der Krise) kann sicher nicht erklären, warum die gegenwärtige Krise gerade auf dem amerikanischen Immobilienmarkt begonnen hat, sondern höchstens, warum es lange niedrig Zinsen und ein sich langsam aufbauendes Krisenpotential gegeben hat. Für ausgewogen halte ich den Kommentar des Economist (2009b, S. 71) zum Beitrag der Sparernationen zur Krise: „In fact, Asian savings may have provided the rope; but America hanged itself." Die Ersparnisschwemme wird üblicherweise auf eine Unterbewertung des chinesischen Yuan und hohe Ölpreise zurückgeführt, also auf die Politik Chinas und der in der Opec zusammengeschlossenen Staaten. Es wäre schon abwegig, das als Versagen des Kapitalismus oder des Marktes auszugeben. Soweit die Anlage von ostasiatischen und arabischen Kapital im Westen eine Herausforderung darstellt, ist allerdings zu befürchten, dass die gegenwärtige Krise zwar die Überschüsse der Ölexporteure reduziert, aber das Sicherheitsbedürfnis und die Sparneigung der Ostasiaten eher verstärkt als verringert hat (Economist 2009b). Auch wenn der Staat im Allgemeinen und der amerikanische Staat im Besonderen bei der Geldpolitik, bei der Förderung des Eigenheimerwerbs, bei der Regulierung und Aufsicht über die Finanzmärkte Fehler gemacht hat und damit den Spielraum für die Finanzmarktakteure in aller Welt geschaffen hat, weitere Fehler zu machen, erklärt das allein nicht, warum die Banken und andere Akteure auf den Kapitalmärkten diesen Spielraum für Fehlentscheidungen so gründlich ausgenützt haben. Warum auf den Finanzmärkten immer kompliziertere Produkte angeboten wurden, das ist klar. Da wurden Gebühren, Kommissionen und Bonuszahlungen verdient. Außerdem erlaubten Verbrie-

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fungskaskaden es, 'mortgage-backed securities', 'asset-backed securities' und darauf aufbauende 'collateralized debt obligations' mit Hilfe der Rating-Agenturen risikoloser aussehen zu lassen als sie es waren und diese ,heißen Kartoffeln' (Sinn 2009, 6. Kapitel) weiterzureichen. Als Rationalisierung wurde das Argument verwendet, dass damit die Risiken denen übertragen wurden, die sie am besten tragen könnten. Zumindest seit der Krise ist allerdings der Verdacht plausibler, dass die Risiken denen übergeben wurden, die sie am wenigsten durchschauten. 6 Nach Kay (2009a, 2009b, vor allem S. 69, 73, 167, 216) spielte mit zunehmender Komplexität der immer schwerer abschätzbare fundamentale Wert von hypothekengesicherten Papieren oder Kreditderivaten eine immer geringere Rolle fur den Preis. Der Kaufanreiz wurde von Anderen vermittelt, die ebenfalls solche Produkte erwarben. Kay (2009b, S. 163) fasst die Absurdität der Situation so zusammen. "Banks and building societies sold portfolios of mortgages they had themselves assessed, and used the proceeds to buy bonds based on portfolios of mortgages about which they knew nothing." Das darf man durchaus Kapitalmarktversagen nennen. 7 Weil die Chefs von Großbanken deutlich besser als die deutsche Bundeskanzlerin oder der amerikanische Präsident bezahlt werden, ist die Empörung über dieses Kapitalmarktversagen und die wichtigsten Akteure dabei natürlich groß. Auch wenn man darüber streiten kann, ob Oskar Lafontaine und seine Genossen es schaffen, so wirksam die Legitimität des Kapitalismus zu untergraben wie manche Bankvorstände, sollte man wenigstens überlegen, ob staatsnahe Banken besser durch die Krise gekommen sind als privatkapitalistische. In Deutschland gilt das nicht! Außerdem kann man mit Woods (2009, S. 32) die Auffassung vertreten, dass staatliche Rettungsaktionen für riesige und deshalb ,systemrelevante' Banken deren Risikobereitschaft verstärkt haben und jetzt weiter verstärken und damit das Stabilisierungsziel von Regulierung hintertreiben.

IV. Die Grenzen der Rationalität Viele (aber nicht alle) Ökonomen reden gern von Rationalität. In einer Krise wirkt das auf Nicht-Ökonomen befremdlich. Eigentlich meinen die Ökonomen damit nicht viel mehr als, dass Menschen auf Anreize reagieren, besonders viele von uns auf pekuniäre Anreize, oder auch den Versuch der Nutzenmaximierung. Versuche können fehlschlagen. Auch Ökonomen wissen: Irren ist menschlich. Sie wissen sogar noch mehr. Diese Aussage gilt für die Politik genauso wie für den Markt. Nur wenige Ökonomen neigen zu der grotesken Vorstellung, dass Gott dem, dem er ein Amt gegeben hat, auch den dazu nötigen Verstand gibt. Leider gilt diese Volksweisheit weder für Bankvorstände, noch für Minister. Fehlentscheidungen wird es also auf dem Markt und im Staat

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Kritisch zum Wert von Verbriefungen äußert sich Kay (2009a, S. 11): "There was never an economic rationale for structured products on the scale on which they were created." Vgl. auch Barbera (2009, S. 214-215). Aus dieser Diagnose folgt dann ein vernichtendes Urteil über einige Rettungsmaßnahmen: „The British government plans to provide insurance for new asset-backed securities. That is like helping a junkie to detox by guaranteeing drug supplies until the local dealer resumes service." Die Wissensdefizite der Banker nach zuviel Innovation auf den Finanzmärkten sind noch nicht überwunden. Der Nobelpreisträger Edmund Phelps (2009, S. 20) fürchtet: „Die Bankvorstände wissen letztlich selbst nicht, wie ihre Unternehmen dastehen."

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immer wieder und überall geben. Deshalb muss man sich fragen, wo oder unter welchen Bedingungen Fehlentscheidungen am ehesten korrigierbar sind. Ohne das unten gewählte Etikett dafür zu verwenden, aber in der Sache vertritt Barbera (2009) in Anlehnung an Hyman Minsky eine Zyklentheorie der Fehleranfälligkeit. Je länger eine Volkswirtschaft bei niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit schnell wächst, je plausibler die These der Effizienz von Finanzmärkten wird, weil die letzte Krise schon lange zurück liegt, desto risikofreudiger werden die Investoren beim Aktienerwerb, beim Hauskauf, auch beim Erwerb komplizierter Finanzmarktprodukte. Schon kleine Enttäuschungen vieler Hoffnungen - beispielsweise auf schnell steigende Hauspreise, wie in den USA 2006-2007 - können in Anbetracht der Hebelwirkung bei Fremdfinanzierung ausreichen, um schwerwiegende Finanz- und Wirtschaftskrisen einzuleiten. Lange Perioden vorsichtiger, also risikoneutraler oder risikoscheuer, Finanzierung neigen also dazu, in Perioden größerer Risikoakzeptanz und damit Fehleranfälligkeit überzugehen. Diese Theorie hat zwei Vorzüge. Abweichungen vom Versuch der Nutzenmaximierung, Risikoakzeptanz und Fehleranfälligkeit bleiben nicht idiosynkratische Merkmale von Individuen, sondern werden grundsätzlich vorhersagbar. Außerdem impliziert diese Theorie die Einsicht, dass Märkte und vor allem Finanzmärkte notwendigerweise krisenanfällig sind und bleiben. Jedenfalls bisher hat die Wirtschaftsgeschichte diese Einsicht noch nicht widerlegt. Man kann Fehler nur korrigieren, wenn man sie überhaupt bemerkt. Außerdem muss man dann die Fehler korrigieren wollen und können. Man darf bezweifeln, dass die Vorstände unserer Großbanken gut genug bezahlt worden sind, dass sie allen Geschädigten, denen sie beispielsweise verbriefte Forderungen mit inzwischen stark gefallenem Wert verkauft haben, oder auch nur ihren eigenen Aktionären den Wertverlust seit Jahresbeginn 2008 ersetzen können - selbst wenn das ihr Herzenswunsch wäre. Von den damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten und dem Problem der Zurechnung von Fehlentscheidungen zu konkreten Akteuren kann man in Anbetracht der mangelnden Zahlungsfähigkeit schon fast absehen. Man kann die folgende zynische Verallgemeinerung wagen: Bei kleinen Schäden, die kleine Leute verursachen - etwa wenn das Auto in der Werkstatt nicht repariert, sondern ruiniert wird - da ist es denkbar, die Schuldigen die finanziellen Folgen tragen zu lassen.8 Wer die Macht hat, flächendeckend großen Schaden anzurichten, hat meist gar nicht das Vermögen für die Schäden einzutreten, die man vielleicht mal verursacht. Vor allem in der Politik (aber nicht nur dort) vermittelt Machtkonzentration außerdem Ressourcen für die Vertuschung eigener Fehler. Wer möchte sich schon gern blamieren? Was folgt aus diesen Überlegungen? Die Voraussetzungen für die Korrektur von Fehlern und Anreize für Anstrengungen zur Vermeidung von Fehlern sind am ehesten dann gegeben, wenn Menschen für ihre Handlungsfolgen haften bzw. dafür verantwortlich gemacht werden. Dezentralisierung oder Individualisierung von Entscheidungen trägt dazu bei, dass das Hafitungs- oder Verantwortungsprinzip überhaupt durchgesetzt werden kann. Machtkonzentration dagegen trägt dazu bei, dass die Handelnden den

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In Amerika werden allerdings in der Oiama-Administration Pläne diskutiert, wie man unvorsichtige Hauskäufer zulasten des Steuerzahlers von den Folgen ihres Tuns entlasten kann. Eine derartige Umverteilung von den Umsichtigen zu den Unvorsichtigen kann Rationalität nicht fördern.

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Schaden bei Fehlentscheidungen gar nicht tragen können. Das ist ein Plädoyer für eine möglichst dezentralisierte Wirtschaft (Köster 2001 \Lenel 2000) und damit geradezu das Gegenteil von Staatswirtschaft, Sozialismus oder Zentralverwaltungswirtschaft. Am besten funktionieren Haftung und Verantwortung bei der großen Zahl der kleinen Eigentümer-Unternehmer. Sie wissen, dass ihnen niemanden die Folgen der eigenen Fehlentscheidungen abnehmen will. Sie bemühen sich deshalb darum diese zu vermeiden. Es gibt in diesem Bereich auch keine Anreize dafür, Risiken falsch einzuschätzen. Leider ist eine moderne Volkswirtschaft ausschließlich auf der Basis von durch die Eigentümer geführten Unternehmen nicht denkbar. Aber es wäre durchaus wünschenswert, wenn die Politik einsähe, dass detaillierte Reglementierung und die Abwälzung von Bürokratiekosten vom Staat auf die Unternehmen Klein- und Mittelbetriebe mehr belastet als Großbetriebe, die sowieso eine große Rechtsabteilung und damit einen natürlichen Ansprechpartner für die Staatsbürokratie haben müssen.9 Nach Sinn (2009) ist eine Haftungsbeschränkung auf das eingesetzte Kapital bei großen Kapitalgesellschaften zwar unvermeidbar, aber bei niedriger Eigenkapitalquote ein Anreiz, riskante Geschäfte zu machen. Im Erfolgsfall profitiert die mit wenig Eigenkapital ausgestattete Bank und erwirtschaftet traumhafte Renditen für ihre Aktionäre, bei Misserfolg leiden die Gläubiger oder der Steuerzahler. Nach Sinn (2009, S. 89 ff.) wurden die Banken in Anbetracht der geringen Ausstattung mit haftendem Eigenkapital zu .Glücksrittern'. Zum abnehmenden Risikobewusstsein hat natürlich auch die von Minsky und Barbera (2009) hervorgehobene lange Periode von Wachstum (bei niedriger Inflationsrate) und Wohlstand beigetragen. Hinzu kommt, dass mit der Ernsthaftigkeit der Probleme nicht imbedingt das menschliche Wissen, was man tun sollte, zunimmt. In der aktuellen Finanzkrise sehen ein prominenter deutscher Ökonom, Joachim Starbatty (2008), und eine ebenso prominente Wirtschaftsjournalistin, Karen Horn (2008), nicht nur ein Versagen des Staates oder der Bankvorstände, sondern auch der Ökonomen als Zunft, weil sie vor der Krise nicht rechtzeitig gewarnt und vorbeugende Maßnahmen dagegen gefordert haben.10 Auch in den Aussagen des Economist (2009a) oder von Martin Wolf{2009) zur inhärenten Instabilität von Finanzmärkten sehe ich ein Element der Anerkennung der Grenzen des professionellen Wissens darüber, wie diese Märkte funktionieren bzw. wie die optimalen Rahmenbedingungen beschaffen sein müssten. Am deutlichsten werden die Grenzen des professionellen Wissens vielleicht dadurch illustriert, dass noch 2003 der 9 Zu den auf die Wirtschaft abgewälzten Bürokratiekosten gibt das finanzwissenschaftliche Lehrbuch von Blankart (2008a, S. 129) für 2003 den Hinweis, dass es ca. 46 Milliarden Euro seien. In der ersten Auflage des Lehrbuches (1991, S. 114) waren es noch ,nur' 10 Milliarden DM. 10 Vor allem Horns Kritik an der zunehmenden Mathematisierung der Ökonomik kann ich mich nur teilweise anschließen. Zumindest würde ich zwischen zwei Verwendungen von Mathematik unterscheiden wollen. Mathematik kann Sprache der Formulierung von Theorien sein. Eine bestimmte Art angewandter Mathematik, die Ökonometrie, dient weniger der Formulierung als vielmehr der empirischen Überprüfung von Theorien. Gegenüber der ersten Art von „Mathematik" kann ich Horns Skepsis nachvollziehen, gegenüber der Ökonometrie aber gar nicht. Aus dem Teil der Ökonometrie, den ich selbst am besten überblicke, den international vergleichenden Wachstumsstudien, habe ich sehr viel über die Grenzen unseres Wissens gelernt. Genau diese Grenzen des professionellen Wissens will auch Horn wieder stärker in Erinnerung rufen. In dieser Beziehung sind wir dann wieder einer Meinung. - Für Amerika diskutiert Posner (2009, 8. Kapitel) die Grenzen des Wissens von Ökonomen am härtesten und gründlichsten.

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Nobelpreisträger Robert Lucas vor der American Economic Association erklären konnte, dass das Problem der Verhütung von Depressionen praktisch gelöst sei (Krugman 2008, S. 9). Wer die Grenzen des professionellen Wissens sieht, muss sich natürlich fragen, ob das Wissen der westlichen Politiker und ihrer besten Berater jetzt zur Bewältigung der Krise ausreicht. Möglicherweise überfordert das Krisenmanagement die westlichen Politiker heute genauso wie damals in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre oder die sowjetischen Bürokraten bei ihrer Zentralverwaltungswirtschaft. Nach John Taylor (2009) hat die amerikanische Politik viel Zeit damit verloren, eine nicht vorhandene Liquiditätskrise zu bekämpfen, statt schnell die Eigenkapitalausstattung der Banken zu verbessern oder toxische Finanzprodukte zu entsorgen. Das ist vielleicht ein extremer Standpunkt, aber der Erfinder der Taylor Rule ist auch nicht irgendwer, Auch wenn es den Staaten des Westens gelingt, die Finanzmarktkrise nur in eine bald vorübergehende Rezession statt in eine langjährige Depression münden zu lassen, besteht die Gefahr, dass die damit verbundene Ausweitung der Staatstätigkeit, der Regulierung und der zunehmenden Staatsverschuldung unser Wirtschaftssystem krisenanfälliger machen. Der Economist (2009b, S. 72) hat schon folgende Befürchtung geäußert: "It would be foolish to focus on fixing the financial industry only to find that public finances are in ruins." Ob ein solches Szenario ein kleineres oder ein noch größeres Problem beschreibt, soll hier offen bleiben. Genauso plausibel ist die Befürchtung von Gunther Schnabl (2009, S. 12): „Mit zuviel billigem Geld bereiten die Zentralbanken den Boden für neue Fehlspekulationen." Deshalb halten manche Autoren (Woods 2009) jegliche Rettungsaktion - auch zugunsten von systemrelevanten Banken - für einen Fehler. Nicht nur radikale Staatskritiker (wie Hülsmann 2008-09), sondern auch andere Ökonomen (wie Blankart 2008b) stehen staatlichen Konjunkturprogrammen skeptisch gegenüber. In Amerika haben Anfang 2009 ca. 200 Ökonomen - darunter die Nobelpreisträger Buchanan, Preston und Smith - in Anzeigen vor Obamas keynesianischer Politik gewarnt. Der Nobelpreisträger Becker (und Murphy 2009) hat die Befürchtung geäußert, dass das Anwachsen der Staatsquote nicht vorübergehend bleibt, sondern die Volkswirtschaften dauerhaft belastet. Und der Wachstumsforscher Barro (2009) warnt vor „Voodoo Multipliers", also der Hoffnung, dass zusätzliche Ausgaben und Defizite des Staates mehr Wachstum bewirken könnten als sie kosten. Nach Barro (2009, S. 3) ist noch nicht einmal die Signifikanz der Effekte von „deficit spending" in Friedenszeiten sicher. Der Wirtschaftshistoriker Ferguson (2009, S. 12) kann sich nicht vorstellen, dass Politiker dazu in der Lage sind, ein sinnvolles Konjunkturprogramm zusammenzustellen, denn er schreibt: „Den Kongress zu bitten, 800 Milliarden in vernünftiger Weise auszugeben, ist so, als würde man eine Gruppe von Alkoholikern bitten, eine Bar vernünftig zu leiten. Ich glaube, das Paket wird kaum oder gar keinen makroökonomischen Effekt haben." Wer die Entwicklung der Staatsausgaben seit dem Ende des 19.Jahrhunderts beobachtet (Tanzi und Schuknecht 2000), wird daraus ableiten müssen, dass eine Rücknahme von Staatsausgaben und Staatsaufgaben selten oder nie nachhaltig gelingt. Je größer der Einfluss des Staates auf die Volkswirtschaften ist, desto kleiner wird der Spielraum für viele kleine Fehler von selbständigen Eigentümer-Unternehmern, bei denen das Haftungsprinzip oder der Fehlerausgleich greifen kann, desto größer wird der Spielraum für

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große Fehler seitens einer Politik, die sich der Zuständigkeit für Alles oder dem Sozialismus nähert und immer mehr Selbständigen durch Überregulierung und Steuerlasten den Garaus gemacht hat. Auch wenn man Regulierungsdefizite wesentlich für die Finanzmarktkrise verantwortlich macht, folgt daraus nicht, dass es leicht sein wird, die Wiederholung solcher Defizite zu vermeiden. Erstens gibt es das von Barbera (2009) in Anlehnung an Minsky hervorgehobene Phänomen, dass die Risikobereitschaft nach langen Perioden von Wachstum und Wohlstand zunimmt und die Vorsicht abnimmt. Zweitens besteht die Gefahr von 'cognitive regulatory capture' (Eichengreen 2009, S. 12), also der Anpassung der Regulierungsbehörden an die Vorstellungen der Banker und Finanzmarktakteure. Drittens bestehen die allgemeinen Probleme der Grenzen des Wissens über den Regulierungsbedarf und der Fehlbarkeit menschlicher Entscheidungen. Der Economist (2009c, S. 13) hat das so formuliert: "The more a financial system depends on the wisdom of regulators, the more likely it is to fail catastrophically."

V. Auftraggeber und Auftragnehmer Zielorientiertes Handeln wird immer dort schwierig, wo es Prinzipale oder Auftraggeber und Agenten oder Auftragnehmer gibt (Coleman 1990, S. 146-174). Anteilseigner, die das Kapital stellen, sind Prinzipale. Manager, die das Unternehmen fuhren, sind Agenten oder Auftragnehmer. Agenten haben immer auch eigene Interessen und nicht nur das Interesse, ihrem Prinzipal zu dienen. Vor allem, wo es eine Vielzahl von Prinzipalen gibt, wie bei Aktiengesellschaften, fällt den Prinzipalen die Beaufsichtigung ihrer Agenten, der Manager, schwer. Das ist keine neue Einsicht. Adam Smith (1776/1990, S. 629-630) wusste das schon am Ende des 18. Jahrhunderts11: „Von den Direktoren einer solchen Gesellschaft, die ja bei weitem eher das Geld anderer Leute als ihr eigenes verwalten, kann man daher nicht gut erwarten, dass sie es mit der gleichen Sorgfalt einsetzen und überwachen würden, wie es die Partner in einer privaten Handelsgesellschaft mit dem eigenen zu tun pflegen. Wie die Verwalter eines reichen Mannes halten sie Sorgfalt in kleinen Dingen gerne für etwas, was sich mit dem Ansehen des Herrn nicht vertrage, so dass sie es damit auch nicht sehr genau nehmen. Daher müssen Nachlässigkeit und Verschwendung in der Geschäftsführung einer solchen Gesellschaft stets mehr oder weniger vorherrschen."12

Außerdem gilt: Für die Manager gibt es praktisch immer Haftungsbeschränkungen. Selbst wenn es die rechtlich nicht gäbe, hätten sie faktisch oft nicht das Vermögen, die finanziellen Folgen von großen Fehlentscheidungen zu tragen. Weil Manager anderer Leute Geld verwalten und damit immer auch Risiken eingehen müssen, entsteht das Problem asymmetrischer Risikowahrnehmung. Falls es schief geht, kann das Management ohnehin den Schaden nicht voll tragen. Falls es gut geht, sind Reputationsgewin-

11 Diesen Hinweis verdanke ich Thomas Kösters Beitrag zu einer Veranstaltung der Handelskammer Düsseldorf. 12 Diese Einsicht ist natürlich auch zeitgenössischen Ökonomen bekannt. Bei Eichengreen (2009, S. 12) steht: "Borrowers also have an incentive to take on more risk when using other people's money or if they expect to be bailed out when things go wrong." Obwohl Sinn (2009) in Haftungsbeschränkungen der Banken eine ganz wesentliche Determinante der Finanzkrise sieht, scheint er in den Beziehungen zwischen Eigentümern bzw. Aktionären und Management kein großes Problem zu sehen. An dieser Stelle sehe ich die Dinge anders als er.

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ne, Einkommenszuwächse oder Bonuszahlungen drin, also Gewinnbeteiligungen, die das Ausmaß der denkbaren Verlustbeteiligung übertreffen. Das verzerrt die Anreize. Was man tun kann, um diese Anreizverzerrangen zu minimieren, kann hier nicht diskutiert werden. Es ist nicht mal klar, ob dieses Problem irgendwo voll befriedigend gelöst worden ist. Die Trennung von Eigentum und Management und die damit implizierten PrinzipalAgent-Probleme berühren nicht nur das Funktionieren von Marktwirtschaft und Kapitalismus, sondern - worauf Schumpeter (1950) bei der Behandlung der Frage: ,Kann der Kapitalismus weiterleben?' hingewiesen hat - auch dessen Akzeptanz oder Legitimität. In der gegenwärtigen Krise hat man den Eindruck, dass exorbitante Bonuszahlungen an Manager in der Öffentlichkeit auf deutlich weniger Verständnis stoßen als Gewinne unabhängig von deren Höhe. Das hängt wohl damit zusammen, dass Bonuszahlungen allzu oft ,Belohnungen' für kurzfristige Erfolge zulasten der langfristigen Profitabilität oder gar Lebensfähigkeit von Unternehmen gewesen sind. Bei EigentümerUnternehmern gibt es zwar auch Fehlentscheidungen und Misserfolge, aber nicht die Gleichzeitigkeit von Fehlentscheidungen und exorbitanten Belohnungen. Verschiedene von Managern geführte große Unternehmen, einschließlich der Großbanken, werden mit den vielen Prinzipal-Agenten-Problemen innerhalb des Unternehmens - es gibt sie ja nicht nur zwischen Anteilseignern und Management, sondern auch zwischen Management und Abteilungsleitern oder zwischen Vorarbeitern und einfachen Arbeitern - unterschiedlich gut fertig. In dem einen Unternehmen wissen beispielsweise die Abteilungsleiter besser als in anderen, auf welchen Mitarbeiter sie sich verlassen können. Das ist lokales Wissen, zu dem die Business School nicht mehr als Problembewusstsein beitragen kann. Wenn also lokales und teilweise implizites Wissen so wichtig ist, wenn dieses Wissen nicht leicht von einem Unternehmen auf ein anderes übertragbar ist, weil es sozusagen Teil der Unternehmenskultur wird, dann ist Wettbewerb zwischen von einander unabhängigen Unternehmen wertvoll. Wer die Prinzipal-AgentProbleme (und natürlich auch andere Probleme) besser löst als die Wettbewerber, wird wachsen. Andere werden schrumpfen. Damit breiten sich die besseren Praktiken aus. Natürlich werden sich die weniger erfolgreichen Unternehmen in einer Wettbewerbswirtschaft auch an der erfolgreicheren Konkurrenz orientieren und wegen des Wettbewerbsdrucks versuchen dazu zu lernen. Prinzipal-Agent-Probleme gibt es in allen Organisationen, Betrieben und Unternehmen. Tendenziell nehmen sie mit der Größe von Unternehmen und der Länge der Auftragsketten zu. Prinzipal-Agent-Probleme gibt es nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern auch im demokratischen Staat. Auf den ersten Blick könnte man hoffen, dass die Demokratie ähnlich wie die Privatwirtschaft einen Mechanismus zur Fehlerkorrektur besitzt. In der Privatwirtschaft ist das der Bankrott. Wenn die Unternehmensleitung viele große Fehler macht, dann ist irgendwann das Unternehmen ruiniert und verschwindet vom Markt. Je größer das Unternehmen im Allgemeinen und eine Bank im Besonderen allerdings ist, desto eher wird die Politik versucht sein, wegen der Kollateralschäden des Zusammenbruchs einzugreifen. Am besten funktioniert die Fehlerkorrektur des Marktes bei Klein- und Mittelbetrieben.

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VI. Politik in der Demokratie Normativ liegt es nahe unter Demokratie die Herrschaft des Volkes zu verstehen und dann zuerst an die Durchsetzung der gemeinsamen Interessen der Bürger zu denken (Vanberg 2008). Dann stellen sich Fragen der Verfassungsökonomik, wobei die Vorteile und Nachteile verschiedener Mechanismen zur Erfassung von Konsens zu bedenken sind: von der einfachen über qualifizierte Mehrheiten bis hin zur Einstimmigkeit (Buchanan und Tullock 1962). In der Verfassungswirklichkeit der demokratischen Gesellschaften dominieren das Erfordernis der einfachen Mehrheit oder der qualifizierten - oft zwei Drittel - Mehrheit bei der Regierungsbildung und Gesetzgebung, wobei sich ,Mehrheit' in der Regel auf die abgegebenen und gültigen Stimmen und nicht auf die Wahlberechtigten bezieht. Im Interesse erträglicher Entscheidungskosten nehmen Demokratien damit gute Durchsetzungschancen für Partikularinteressen und Rent-Seeking hin (Bernholz 1977; Buchanan, Tollison, und Tullock 1980; Weede 2008). Dann wird worauf Hayek (2002) hingewiesen hatte - mehr als in vordemokratischen Regimen regiert, nicht zuletzt im Interesse von organisierten Partikularinteressen. In der Politik ist der Korrekturmechanismus die Abwahl der Regierenden. Wenn die Wähler mit den Leistungen der Regierung unzufrieden sind, dann können sie die Regierung bei der nächsten Wahl entlassen. In der Praxis funktioniert dieser Korrekturmechanismus allerdings ziemlich schlecht. Denn in der Massendemokratie ist das Gewicht der eigenen Stimme so gering, dass viele Wähler sich gar nicht informieren und folglich bei der Wahl noch nicht mal die eigenen Interessen wahrnehmen können. Seit den Arbeiten von Downs (1968) und Olson (1968) sprechen .Public Choice'-Ökonomen deshalb von rationaler Ignoranz. Außerdem ist zu befürchten, dass die Wähler als ökonomische Laien zu vielen zentralen Fragen der Wirtschaftsordnung ganz andere Vorstellungen als die Fachleute vertreten. Ökonomen halten viel von Knappheitspreisen und Freihandel, Laien halten davon wenig. Kündigungsschutz und Minimallöhne sind bei Laien viel beliebter als unter Ökonomen. In der gegenwärtigen Krise von besonderer Bedeutung ist, dass sich im März 2009 mehr Befragte für staatliche Hilfen zugunsten von Opel als zugunsten der Banken ausgesprochen haben. Unter Ökonomen dürften da ganz andere Auffassungen dominieren (Sinn 2009, S. 234). Möglicherweise belohnen Wähler die Politiker sogar dafür, wenn sie sich ihren unrealistischen Vorstellungen über wirtschaftliche Zusammenhänge unterwerfen (Caplan 2007). Mit der hier angedeuteten Demokratiekritik soll nicht der Wert der Möglichkeit zur Fehlerkorrektur alle vier Jahre bestritten werden. Aber die Mängel des politischen Korrekturmechanismus deuten zumindest an, dass man den marktwirtschaftlichen Korrekturmechanismus nicht außer Kraft setzen sollte, obwohl auch dieser nicht immer und überall gut funktioniert - beispielsweise weil die Politik ihn nicht wirken lässt. Die meisten Leute wägen nun mal ihre Entscheidung bei der Wahl eines Neuwagens oder anderer Güter sorgfaltiger ab als bei der Wahl einer politischen Partei. Der Markt muss nicht perfekt funktionieren, um neben der Politik seine Existenzberechtigung zu behalten. Die oben angesprochenen Prinzipal-Agent-Probleme sind nirgendwo größer als in der Politik. In der Demokratie sind letztlich die Bürger und Wähler die Prinzipale. Weil die Zahl der Bürger in der Massendemokratie so groß und das Gewicht ihrer einzelnen Stimmen notwendigerweise so klein ist, ergeben sich nur minimale Anreize für die Bür-

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ger-Prinzipale ihre Agenten, die Politiker und Beamten, zu kontrollieren. Die Politiker in Parlament und Regierung sind ja schon Beauftragte oder Agenten. Innerhalb des Staatsapparates bzw. in der Bürokratie gibt es lange Auftragsketten, aber nur beschränkte Anreize für die Politiker, hier ihre Aufsichtsfunktion wahrzunehmen. Das wäre für die Beamten lästig. Auch Beamte sind Wähler. Deshalb wollen Politiker sie nicht unnötigerweise verärgern. Außerdem: Behörden sind nicht dem Wettbewerb unterworfen. Sie werden so gut wie nie aufgelöst und abgeschafft. Dieser Korrekturmechanismus fällt also aus. Weil Staat, Regierung und Bürokratie monopolistisch organisiert sind, gibt es auch weniger Vergleichsmöglichkeiten, um Leistungsschwächen auch nur frühzeitig zu bemerken. Fast kein Ökonom hält Staatsbetriebe für genauso effizient wie Privatbetriebe. Nur wenige Bürger haben viel Freude am Umgang mit der Bürokratie, sagen wir: ihrem zuständigen Finanzamt.

VII. Egoismus, Altruismus, Paternalismus Zusammen mit dem Kapitalismus und der Privatwirtschaft droht das eigennützige Handeln in Misskredit zu geraten. Seit Adam Smith (1776/1990) erwarten Vertreter der Marktwirtschaft ja vom Zusammenspiel eigennütziger Akteure auf dem Markt, dass damit den Konsumwünschen aller Beteiligten in einer arbeitsteiligen Wirtschaft gedient wird. Der Wettbewerb zwingt alle Marktteilnehmer so zu handeln, als ob sie den Konsumwünschen ihrer Mitmenschen dienen wollten. Die Institution des Marktes erlaubt uns, eigennützig zu sein und dennoch so zu handeln, als ob wir Altruisten wären und Interesse am Wohlergehen unserer Mitmenschen hätten. Gute Institutionen zeichnen sich genau dadurch aus, dass sie funktionieren, auch wenn die Menschen keine Heiligen sind. Die Einsicht, dass die eigennützige Zusammenarbeit von Menschen der Allgemeinheit nützen kann, hat der Nobelpreisträger Paul Krugman (2008, S. 27) in Bezug auf die Globalisierung folgendermaßen formuliert: „No matter how base the motives of those involved, the result was to move hundreds of millions of people from abject poverty to something that was in some cases still awful but nonetheless significantly better." In der Politik gibt es kein Äquivalent zur unsichtbaren Hand. In Anbetracht der rationalen Ignoranz der Wähler gibt es zwar Anreize vom Gemeinwohl zu reden, aber es ist unklar, ob auch nur der Versuch diesem zu dienen immer zum Machterhalt beiträgt. Die Delegitimation des eigennützigen Handelns wird vermutlich eher zur Heuchelei führen als dazu, dass sehr viele von uns bald edlere Menschen werden. Man kann in der Verteidigung des Eigennutzes sogar noch weiter gehen. Der Eigennützige stellt nur bescheidene Ansprüche an seine kognitiven Fähigkeiten. Man beansprucht nur, seine eigenen Präferenzen zu kennen. Man sucht nur nach Mitteln, seine eigenen Präferenzen zu befriedigen. Je umfassender aber der Altruismus eines Menschen wird, desto mehr Präferenzen anderer Menschen muss man kennen, desto mehr Mittel und Wege, auch diese Bedürfnisse zu befriedigen, muss man kennen. Kann ein Mensch das leisten? Entspricht das eigennützige Handeln der meisten von uns nicht viel besser den Grenzen unserer kognitiven Fähigkeiten? Vielleicht ist Eigennutz sogar eine Voraussetzung für Rationalität. Wer durch eigene Fehler eigene Ziele verfehlt, der spürt das, der leidet, der lernt dazu. Darf man das auch erwarten, wenn eigenes Handeln trotz

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bester Absichten Anderen nicht gut tut? Das kann man allzu leicht übersehen.13 Außerdem: Wer glaubt besser zu wissen, was für einen Anderen gut ist als dieser selbst, erhebt einen Herrschaftsanspruch und bestreitet damit das Freiheitsrecht des Anderen. Das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung sollte man nicht paternalistisch regeln. Adam Smith (1776/1990, S. 371) wusste das schon am Ende des 18. Jahrhunderts, als er folgendes schrieb: „Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan...Ein Staatsmann, der es versuchen sollte, Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital investieren sollten, würde sich damit nicht nur, höchst unnötig, eine Last aufbürden, sondern sich auch gleichzeitig eine Autorität anmaßen...die nirgendwo so gefahrlich wäre wie in der Hand eines Mannes, der, dumm und dünkelhaft genug, sich auch noch für fähig hielte, sie ausüben zu können."

Auch wenn der Staat im gemeinsamen Interesse der Bürger vorübergehend stabilisierend in die Finanzmärkte eingreift, sollte er uns möglichst bald wieder ganz gewöhnliche Eigennutzmaximierer auf Wettbewerbsmärkten sein lassen. Sonst überfordert er gleichzeitig sich selbst und uns. Paternalismus oder der politische Wille, auch den Armen oder den nur begrenzt Zahlungsfähigen den Hauserwerb zu ermöglichen, trug ja zur Krise bei.

VIII. Abschließende Überlegungen Von Marx bis Lenin waren die Erwartungen und Theorien über den baldigen Niedergang des Kapitalismus durch zwei Merkmale geprägt: Erstens war der Wunsch Vater des Gedankens. Zweifel daran, ob es gelänge ein besseres Wirtschaftssystem aufzubauen, hatten die meisten Marxisten bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht. Außerdem diagnostizierte man die Wurzel des Problems im wirtschaftlichen Unterbau, in der mangelnden Leistungsfähigkeit des Kapitalismus bei der Versorgung der arbeitenden Bevölkerung mit materiellen Gütern. Seit Schumpeter (1950) sind diejenigen, die den Kapitalismus für gefährdet halten, nicht mehr sicher, ob danach etwas Besseres kommt. Außerdem verorten sie die Krise des Kapitalismus nicht in seinem Versagen bei der Versorgung der Menschen mit materiellen Gütern, sondern eher im Überbau, auf der Ebene der Akzeptanz oder Legitimität des Systems. Das gilt nicht nur für Schumpeter, sondern auch für Hayek (1971, 1976), der zwar das Wort Kapitalismus nicht mochte, aber das so bezeichnete Wirtschaftssystem für freiheitlicher und effizienter als die sozialistische Alternative hielt. Das gilt für Hirsch (1976), nach dessen Auffassung gerade der Erfolg des Kapitalismus bei der Versorgung der Menschen mit normalen materiellen Gütern dazu führt, dass immer mehr Menschen nach Positionsgütern - vor allem nach mit Selbstverwirklichungschancen ausgestatteten und oft auch leitenden Positionen streben, wobei notwendigerweise viele scheitern müssen. Das gilt für Ingleharts (1997) Arbeiten zum Wertewandel, die zwar nicht explizit den Kapitalismus und seine Zukunft thematisieren, aber darauf hinweisen, dass Wohlstand und Sozialstaat einen Wertewandel auslösen, der die Leistungsbereitschaft untergräbt und sog. post-materialistische

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Werte fordert. Das gilt auch für Lindbeck und Nyberg (2006), die befurchten, dass im Sozialstaat die Bereitschaft von Eltern sinkt, ihre Kinder zu harter Arbeit anzuhalten.14 Im Zusammenhang mit der Finanz und Wirtschaftskrise besonders relevant sind die Theorien von de Jasay und Caplan. Nach de Jasay (1985) gilt, dass staatliche Versuche, Legitimität oder Loyalität mit Umverteilung zu erkaufen, den Kapitalismus untergraben. Man kann in de Jasays Theorie eine Erklärung für den bei Tatizi und Schuknecht (2000) beschriebenen Zuwachs an Staatsausgaben während des 20. Jahrhunderts sehen. Nach Caplan (2007) gilt, dass die Politiker in der Demokratie sich allzu oft den unrealistischen Vorstellungen der Laien darüber unterwerfen müssen, wie Wirtschaft funktioniert. Obwohl Akerlof und Shiller (2009) Keynes bewundern und keine Angst vor einer übermäßigen Ausweitung von Staatstätigkeit und Staatsausgaben haben, kommen sie Caplan doch recht nahe. Sie begründen ihre Präferenz für eine leichte Inflation statt Geldwertstabilität mit den Grenzen menschlicher Rationalität oder animalischen Triebkräften. Akerlof und Shiller gehen davon aus, dass Unternehmer ihren Arbeitnehmern freiwillig mehr als den Knappheitspreis der Arbeit bezahlen. Denn die Arbeitnehmer müssen den Lohn als fair empfinden, damit sie gut arbeiten. Aber das impliziert unfreiwillige Arbeitslosigkeit, denn bei fairen Löhnen werden zu wenige Arbeitsplätze angeboten. Wer mit Akerlof und Shiller an die Existenz einer Geldillusion glaubt und daran, dass Nominallohnkürzungen fast immer als unfair empfunden werden, muss in etwas Inflation - etwa zwei statt null Prozent - eine Möglichkeit sehen, die ,fairen' Löhne weitgehend unbemerkt in Richtung auf den Markt räumende Löhne zu verschieben und damit der Vollbeschäftigung näher zu kommen. Leichte Inflation erlaubt also einer klugen und hinterhältigen Politik die Irrationalität der Arbeiter und Wähler in deren Interesse zu kompensieren. Implizit wird dabei allerdings unterstellt, dass Politiker weniger irrational bzw. weniger animalischen Triebkräften unterworfen und weniger eigennützig sind als andere Menschen. Sofern die Wirtschaftspolitik zunächst den Wiederwahlinteressen der gerade amtierenden Politiker dient, ist klar, dass der Staat in der Krise handeln muss und die Krise nicht einfach aussitzen kann. Das gilt unabhängig davon, ob die Fachleute den politischen Maßnahmen positiv oder negativ gegenüberstehen. Erst recht gilt es unabhängig von den langfristigen negativen Folgen von Staatseingriffen. Schnabls (2009) oben erwähnte Befürchtung, dass eine lockere Geldpolitik den Keim zukünftiger Krisen pflanzt, wird die Politiker vermutlich nicht beunruhigen. Beckers (2009) Befürchtung, dass die Ausweitung der Staatsausgaben nicht zeitweilig bleibt, wird sie genauso wenig beunruhigen wie Barros (2009) Befürchtung, dass die Multiplikatorwirkung von Staatsausgaben in der Nähe von Null sein könnte. Noch weniger politisch korrekt sind auf der österreichischen Theorie aufbauende Argumente {Hülsmann 2008; Higgs 2009), wonach Bankrott und Entlassungen jetzt unvermeidbar sind, um die Fehlinvestitionen und strukturellen Verzerrungen aus der vergangenen Phase des billigen Geldes zu korrigieren. Woods (2009, S. 76) befürchtet sogar:

14 Es gibt allerdings auch theoretische Überlegungen, wonach Markt und Tausch die moralischen Grundlagen der Gesellschaft festigen statt untergraben könnten (Baurmann 1996; Hazlitt 1964; Hirschman 1977).

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„The bust period is longer the more the government prevents the economy from reallocating labor and capital into a sustainable pattern of production. Government interference, in the form of wage and price controls, emergency lending, additional 'liquidity', further monetary inflation, and so on - all aimed at diminishing short-run pain - exacerbate the long-term agony." Warum Nichtstun die beste Politik sein könnte, begründet Woods (2009, S. 79) so: „Diverting resources from those who have successfully met consumer demand to those who have not serves only to weaken the economy still further and make recovery much more difficult." Ob die Neo-Keynesianer (wie Krugman 2008 oder jedenfalls für die aktuelle Situation auch Sinn 2009) Recht haben oder nicht, sie versprechen den Politikern ein Rezept und den Kauf von Legitimität.15 Schlimmer noch: Politiker, die solchen Rezepten skeptisch gegenüber stehen, werden einfach nicht gewählt. Der Legitimitätsgewinn von Staat und Politikern gegenüber Wettbewerbsmärkten und Kapitalisten' wird allerdings nur dann von Dauer sein, wenn die Politiker die Krise schnell und nachhaltig lösen statt den Bankrott der Banken nur durch den der Staaten und den Bankrott der von der Politik zu verantwortenden sozialen Sicherungssysteme in ergrauenden Gesellschaften zu ersetzen. Das wird sicher schwer fallen. Denn entscheidende Fragen, wie die Multiplikatorwirkung von Staatsausgaben oder der Zusammenhang von Inflation und Vollbeschäftigung, bleiben in der Wissenschaft selbst umstritten. 16 Die Politik fühlt sich dennoch zum Handeln gezwungen, genau wie die Banker angesichts halb verstandener Finanzinnovationen, die bis 2008 Gewinne, Gebühren und Bonuszahlungen versprachen.

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Summary: The Financial Crisis as a Crisis of the Legitimacy of Capitalism In Germany as well as in most of Continental Europe capitalism has never been popular. At first, prosperity and the welfare state, then globalization and the financial crisis contributed to this lack of legitimacy. For some time government and the state will gain in legitimacy because of the financial and economic crisis, although the financial crisis has been caused by government failure more than by market failure. Monetary policy, distorted incentives in American real estate markets and regulatory deficits contributed to the crisis. By poorly understood innovations in capital markets bankers contributed to the crisis, too. The errors committed by politicians and bankers should remind one of the fallibility of human beings. Principal-agent-problems add another layer of complexity. Transferring ever more tasks from the private economy to government implies hopes for the wisdom of governmental decisions, for the altruism and paternalism of politicians which are likely to overburden them. Professional economists deliver only disputed and contradictory recommendations. Moreover, even where professional advice is unambiguous, politicians find it hard to heed it.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Rüdiger Pohl

Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise* Inhalt I. II. 1. 2. 3. III. 1. 2. 3. 4. 5. IV. 1. 2. 3. 4. V.

Einleitung Krisenbewältigung durch den Staat Staatliche Stabilisierung mit ungewissem Erfolg Aufweichung der Budgetbeschränkung Verzerrungen im Finanzsystem Grenzen für eine Krisenvermeidung: Risikoanhäufung Leichtfertige Risikoanhäufung Finanzinnovationen Risikoentwöhnung und Herdentrieb Untragbare Renditeziele? Billige Liquidität Grenzen für staatliche Regulierungen Informationsbeschränkungen Risikobegrenzung versus Marktdynamik Überregulierung vermeiden Risiken internationaler Regulierung Abschließende Bemerkungen

289 290 291 294 295 297 297 299 300 303 304 305 305 307 309 311 313

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Crisis resolution and future crisis prevention: lessons from the recent financial crisis 316

I. Einleitung Der Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 traf die Weltöffentlichkeit wie ein Schock. Die Krise hat sich mit hohem Tempo vom Krisenherd Vereinigte Staaten von Amerika auf Europa und viele Schwellenländer ausgebreitet und damit ein globales Ausmaß erreicht. Das Finanzsystem als Ganzes ist unter Druck, es handelt sich um eine * Ich danke U. Neyer, G. Holterhus und H.-U. Zabel sowie den anonymen Referees für kritische Kommentare und Anregungen.

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Rüdiger Pohl

systemische Krise. Durch die Finanzkrise kommt es zu erheblichen Einbußen in der RealWirtschaft1 mit destabilisierenden Rückwirkungen auf das Finanzsystem. In diesem Beitrag sollen erste Lehren aus der Finanzkrise gezogen werden.2 Es ist eine Zwischenbilanz im dritten Jahr (2009) der noch andauernden Krise. Die umfassende empirische und analytische Aufarbeitung der Krise wird erst nach deren Beendigung möglich sein. Dennoch sind bereits Einschätzungen möglich. Im Vordergrund stehen hier zwei Aspekte: die Krisenbewältigung heute und die Krisenvermeidung in der Zukunft. Die Krisenbewältigung ist zur Angelegenheit des Staates geworden, der den völligen Zusammenbruch des Finanzsystems verhindern muss. Die staatliche Stabilisierung droht aber ordnungspolitische Langzeitschäden auszulösen. In der historischen Rückschau wird die Rolle des Staates nicht nur daran zu würdigen sein, dass er maßgeblich zur Krisenbewältigung beigetragen hat, sondern auch daran, inwieweit er dabei schädliche Nebenwirkungen vermieden hat. Angesichts der großen Schäden durch die Finanzkrise hat die Aufgabe einer Krisenvermeidung in der Zukunft hohe Priorität. Die internationale Staatengemeinschaft sucht das durch eine Neuregulierung des internationalen Finanzsystems zu erreichen. Doch können dadurch krisenhafte Zuspitzungen an den Finanzmärkten nicht wirksam unterbunden werden. Das Finanzsystem bleibt unlösbar mit Risiken und einem daraus resultierenden Krisenpotential verbunden. Den Kosten von Krisen stehen die positiven Wohlfahrtseffekte gegenüber, die das Finanzsystem mit der Allokation des Kapitals leistet.

II. Krisenbewältigung durch den Staat Die Finanzkrise, von Intensität und globaler Dimension her ausgeprägter als jede Krise seit der Großen Depression, liefert das Ausgangsmaterial für eine Fallstudie zum Thema Krisenbewältigung in der Marktwirtschaft. Es sind eine Reihe von Fragen zu stellen: — Sind staatliche Interventionen zur Bewältigung der Krise erforderlich oder kann auf die Selbstheilungskräfte der Märkte gesetzt werden? - Soll der Staat auch dann eingreifen, wenn der Erfolg nicht garantiert ist und somit für ihn das Risiko des Scheiterns besteht?

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„Die Weltwirtschaft befindet sich im Frühjahr 2009 in der tiefsten Rezession seit der Großen Depression", Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2009). Blanchard (2009) schätzt auf der Basis von /MF-Prognosen, dass die anfanglichen, relativ geringen Verluste im Subprime-Bereich einen zwanzig Mal so großen Outputverlust in der Weltwirtschaft hervorrufen (4.700 Mrd. USD im Zeitraum 20082015). Cardarelli et al. (2009) zeigen, dass Outputverluste nach vorangegangenen Finanzkrisen besonders ausgeprägt sind. Sie identifizieren mit einem Index für finanziellen Stress 113 Stressepisoden in 17 Industrieländern über die vergangenen 30 Jahre. Das Ergebnis ist, dass "cumulative output losses (relatively to trend or until recovery) in downturns that follow financial stresses were about 2.8 percent of GDP for slowdowns and about 4.4. percent of GDP for recessions, significantly larger than in episodes of slowdowns and recessions that were not preceded by financial stress (about 1.6 and 2.3 percent respectively)" (Cardarelli et al. 2009, S. 14). Zur Interpretation und den Ablaufdaten der Finanzkrise vgl. Rudolph (2008), Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2007 und 2008), BIZ (2008, Abschnitt VI), Burghof und Prothmann, (2008), Hartmann-Wendels (2008), Neubäumer (2008).

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— Treten schädliche Nebenwirkungen durch die staatlichen Krisenbewältigung auf und inwieweit wird damit der Keim für neue Krisen gelegt? — War die staatliche Krisenbewältigung im Ergebnis erfolgreich und um welchen Preis? Zu den ersten drei Fragen werden im Folgenden Abwägungen vorgenommen. Die Antwort auf die vierte Frage muss offen bleiben, solange die Finanzkrise noch in vollem Gange ist. Die Fallstudie wird also fortzuschreiben sein.

1. Staatliche Stabilisierung mit ungewissem Erfolg Stabilisierungsaktivitäten des Staates in der Finanzkrise sind mit Blick auf den systemischen Charakter der Krise unverzichtbar. Eine große Zahl von Finanzinstituten ist von Illiquidität und Insolvenz bedroht. Die Ungewissheit darüber verursacht einen Vertrauensverlust, der auch solvente Institute in Bedrängnis bringt. Der Interbankenmarkt funktioniert nicht. Die Banken kämpfen mit massiven Refinanzierungsproblemen. Zugleich sind sie mit einem hohen Abschreibungsbedarf konfrontiert, was eine Erosion der Eigenkapitalbasis bewirkt. In diesem Krisenumfeld droht - Ausdruck der systemischen Krise - ein Zusammenbruch des Finanzsystems. Intermediationsketten reißen großflächig. Die Kapitalallokation über das Finanzsystem wird für lange Zeit beeinträchtigt. Das alles steht auf dem Spiel. Zwar würden Selbstheilungskräfte des Marktes irgendwann eine Konsolidierung einleiten. Nach einem fortschreitenden Verfallsprozess würde der Finanzsektor den Boden erreichen und von dort allmählich zu einer normalen Intermediation zurückfinden. Doch ginge diesem marktendogenen Erholungsprozess eine, wie angesichts der Wucht der Krise zu vermuten ist, langjährige starke Kontraktion der Wirtschaft voraus. Das hätte die Wohlfahrt der Menschen weit stärker beeinträchtigt, als es jetzt schon der Fall ist: Verfall der Aktivapreise, Produktions- und Einkommenseinbrüche, steigende Arbeitslosigkeit. Den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern und so die Wohlfahrtsverluste zu begrenzen, legitimiert den Staat zum Handeln. Die Bewältigung einer Krise, die sich zur Katastrophe auszuweiten droht, ist eine ureigene staatliche Aufgabe. Die staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen sollen die Finanzinstitute vor Illiquidität und Insolvenz bewahren. Dafür gibt es drei Ansätze, die im deutschen Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG)3 und in den Programmen anderer Staaten enthalten sind: — Garantien: Der Staat übernimmt Garantien für begebene Schuldtitel und begründete Verbindlichkeiten von Unternehmen des Finanzsektors, „um Liquiditätsengpässe zu beheben und die Refinanzierung am Kapitalmarkt zu unterstützen" (§ 6 FMStG). Die Banken werden so in die Lage versetzt, in einem Umfeld des Vertrauensverlustes für fallige Verbindlichkeiten neue Einlagen zu beschaffen.

3 Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz - FMStG) vom 17. Oktober 2008. Vgl. auch Verordnung zur Durchführung des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes (Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung - FMStFV) vom 20. Oktober 2008, Gesetz zur weiteren Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz - FMStErgG) vom 7. April 2009.

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— Rekapitalisierung: Der Staat „kann sich an der Rekapitalisierung von Unternehmen des Finanzsektors beteiligen, insbesondere gegen Leistung einer Einlage Anteile oder stille Beteiligungen erwerben" (§ 7 FMStG). Die Maßnahme beugt Eigenkapitalengpässen vor, sofern die Beschaffung von Eigenkapital am Kapitalmarkt stockt. — Risikoübernahme: Der Staat übernimmt „von Unternehmen des Finanzsektors ... erworbene Risikopositionen, insbesondere Forderungen, Wertpapiere, derivative Finanzinstrumente, Rechte und Pflichten aus Kreditzusagen oder Gewährleistungen und Beteiligungen" (§ 8 FMStG). Die Banken werden durch diese Maßnahmen von notleidenden Krediten und Wertpapieren entlastet, weil sie anderenfalls durch die hohen Abschreibungen auf ihre Aktiva zu viel Eigenkapital verlieren. Neben dem Staat greift die Zentralbank stützend ein. Solange der Liquiditätsausgleich unter den Banken über den Interbankenmarkt mangels Vertrauen nicht funktioniert, stellt die Zentralbank die von den Banken nachgefragte Liquidität in vollem Umfang bereit, auch wenn das weit über das hinausgeht, was die Banken zur Erfüllung der Mindestreserve benötigen. 4 Die staatliche Aktivität basiert auf der Annahme, dass der Staat zur wirksamen Bekämpfung der Finanzkrise tatsächlich in der Lage ist. Es kann jedoch der Fall eintreten, dass der Staat seine Bemühungen abbrechen muss, weil weitere Hilfe jeden vertretbaren finanziellen Rahmen sprengen würde. Die Zwischenbilanz der staatlichen Programme ist noch ambivalent. Zwar haben sie den unmittelbaren Kollaps des Finanzsystems verhindert, auch und gerade nach dem Konkurs von Lehman Brothers. Insbesondere haben sie das Vertrauen der privaten Einleger soweit bewahren helfen, dass es nicht zum Worst Case, dem panikartigen Run auf die Banken kam. Wie wichtig staatliche Stabilisierungsaktivitäten quantitativ sind, zeigen Daten des IWF. So stellte der Staat knapp die Hälfte (380 Mrd. US-Dollar) des von den Banken für den Ausgleich ihrer Abschreibungen (792 Mrd. US-Dollar) mobilisierten Kapitals (826 Mrd. US-Dollar) bereit (IMF 2009a).5 Trotz alledem ist das Finanzsystem im dritten Jahr der Krise weiterhin instabil, der endgültige Erfolg der staatlichen Stabilisierung ungewiss. Das hat drei Ursachen. Erstens ist die staatliche Hilfe symptomorientiert und nicht ursachenadäquat. Der Staat kann zwar die Insolvenz von in Bedrängnis geratenen Finanzinstituten verhindern (durch Kapitalzuführungen), aber die eigentliche Ursache der Schieflage (Entwertung von Aktiva, Vertrauenseinbußen, Verluste im laufenden Geschäft) nicht beseitigen. So sind Banken, die soeben eine Kapitalhilfe erhalten haben, alsbald auf eine neue angewiesen.

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Die EZB wendet seit Oktober 2008 für Hauptrefinanzierungsgeschäfte und Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte einen Mengentender an. Der Refinanzierungszins ist dabei von der EZB vorgegeben. Die Banken geben Gebote über die gewünschte Höhe (Beträge) der Refinanzierungsgeschäfte ab. Die EZB teilt die Gebote zu 100 Prozent zu. Das extreme Liquiditätsbedürfnis der Geschäftsbanken zeigt sich daran, dass die Banken zusätzlich zu den Guthaben auf Girokonten bei der EZB (die in etwa dem Mindestreserve-Soll entsprechen) zeitweise extrem hohe Beträge in der niedrig verzinsten Einlagefazilität bei der EZB halten (Größenordnung bis zu 200 Mrd. Euro; „normal" sind Beträge unter 1 Mrd. Euro). 5 Der IMF (2009b, S. 31) fugt hinzu: ".. .additional equity is still needed to cushion potential writedown and to restore investors confidence".

Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise

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Zweitens stößt der Staat an finanzielle Grenzen. Von Anfang an war ungewiss, wie groß die quantitative Belastung der Finanzinstitute durch die Krise und damit der Bedarf für staatliche Finanzhilfen sein würden. Doch die Krise verschärft sich. Wertpapiere werden an den Kapitalmärkten immer niedriger bewertet und zwingen die Finanzinstitute zu weiteren Abschreibungen. Wegen der Verschlechterung der Wirtschaftslage müssen die Finanzinstitute erhöhte Kreditausfalle hinnehmen. Das zwingt sie zu größer Zurückhaltung bei Kreditgewährungen, was in eine „Kreditklemme" münden kann und den Abschwung forcieren würde.6 Ein Prozess der sich selbst verstärkenden Kontraktion kommt in Gang. Wie dramatisch die dynamische Verschlechterung ist, zeigen Revisionen von Verlustschätzungen des IMF. Im Oktober 2008 hatte der IMF die Wertverluste der Finanzinstitute noch auf 1.400 Mrd. US-Dollar geschätzt, im Januar 2009 bereits auf 2.200 Mrd. US-Dollar.7 Im April 2009 wurde die Sachätzung auf 4.000 Mrd. US-Dollar erhöht (wobei allerdings neben US-basierten Aktiva noch Aktiva anderer reifer Märkte einbezogen wurden) ( I M F 2009b, S. X V ) . Der helfende Staat bleibt unsicher über das benötigte Budget. Er kann die entstehenden Kosten zwar aufgrund seiner Steuerhoheit ex post der Gesellschaft anlasten. Doch rechtfertigt das nicht jedwedes Finanzvolumen für die Stabilisierung der Finanzmärkte. Die Grenze ist spätestens erreicht, wenn bei den Kreditgebern Zweifel aufkommen, ob der Staat die steigenden Finanzlasten verkraften kann. Schon jetzt müssen einige Staaten steigende Risikoprämien an den Kapitalmärkten entrichten, in einzelnen Fällen wird selbst ein Staatsbankrott nicht mehr ausgeschlossen. Drittens besteht Unsicherheit über das adäquate Instrumentarium für die Krisenbewältigung. Die grundlegenden Ansätze (Garantien, Rekapitalisierung, Risikoübernahme) sind plausibel. Die konkrete Ausgestaltung ist es nicht durchweg, oder sie spiegelt ein Dilemma. Unplausibel ist es, wenn der Staat den Finanzinstituten Gebühren für die Stabilisierungsmaßnahmen berechnet, weil dadurch den in großer Bedrängnis befindlichen Finanzinstituten mitten in der Krise zusätzliche Kosten aufgebürdet werden. Zielfuhrend wäre es, Zahlungspflichten in die Zeit nach Überwindung der Krise zu verschieben. Vor einem Dilemma steht der Staat, wenn es um die Entlastung der Finanzinstitute von Risikopositionen (etwa „toxischen" Wertpapieren durch eine Bad Bank) geht. Die Übernahme von Risikopositionen der Finanzinstitute durch den Staat bringt nichts, wenn ein späterer Rückkauf durch die Finanzinstitute vorgesehen ist. Das Risiko lastet so weiter auf den Finanzinstituten. Übernimmt der Staat die Risikopositionen hingegen unkonditioniert, trägt er das volle Abschreibungsrisiko und gibt den Banken den

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Eine „Kreditklemme", also eine durch verschlechterte Finanzierungsbedingungen und erhöhte Eigenkapitalkosten der Banken verursachte Kreditangebotsverknappung bei weiterhin hoher Kreditnachfrage wird nicht schon durch eine rückläufige Kreditgewährung angezeigt. Dies kann auch Ausdruck einer konjunkturell bedingten geringeren Kreditnachfrage sein. Eine Verschärfung der Kreditkonditionen durch die Banken ist, sofern sie auf ein konjunkturbedingt steigendes Risiko der Kreditnehmer zurückzuführen ist, ebenfalls nicht mit einer „Kreditklemme" in Verbindung zu bringen. 7 IMF (2009a, S. 2): "The worsening of credit conditions affecting a broader range of markets have raised our estimate of the potential deterioration in U.S.-originated assets held by banks and others from $1.4 trillion in the October 2008 GSFR to $2.2 trillion. Much of this deterioration has occurred in the mark-to-market portion of our estimates (mostly securities), but degradation is also occurring in the loan books of banks, reflecting the weakening outlook for the economy".

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falschen Anreiz, mehr Risiken als eigentlich nötig an den Staat zu übertragen. Zwischen wirksamer Entlastung und Begrenzung des Risikos für den Staat gilt es abzuwägen. Mangelnde Ursachenadäquanz, Grenzen der Finanzierbarkeit, instrumentelle Ineffizienz: dass die staatliche Stabilisierung des Finanzsystems letztlich als nicht durchhaltbar abgebrochen werden könnte, stellt ein gesellschaftliches Risiko dar. Mit dem Abbruch würde der Kollaps des Finanzsystems, den zu verhindern das Ziel war, doch noch eintreten, und dies verschärft, weil die in den Staat gesetzte Hoffnung der Marktteilnehmer enttäuscht wird. Trotzdem war es nicht unverantwortlich, dass sich der Staat auf die Stabilisierungsaktivitäten eingelassen hat. Dem Risiko staatlichen Handelns, dass es am Ende erfolglos bleiben kann (aber nicht muss), stehen die sicheren gesellschaftlichen Kosten staatlichen Nicht-Handelns gegenüber: der unmittelbare Zusammenbruch des Finanzsystems und die dadurch ausgelösten Belastungen. Diese sind in dieser Krise als so hoch einzuschätzen, dass der Staat im Sinne des Gemeinwohls zum stabilisierenden Eingriff trotz nicht garantierten Erfolgs verpflichtet ist.

2. Aufweichung der Budgetbeschränkung Das Votum zugunsten staatlicher Stabilisierungsaktivitäten bedeutet nicht, dass ihnen eine ordnungspolitische Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt werden könnte. Sorgen bereitet die drohende Aufweichung der Budgetbeschränkung des Staates. Die Sorge bezieht sich nicht auf das Finanzvolumen der Stabilisierungsprogramme selbst. Es ist völlig offen, wie hoch der finanzielle Aufwand dafür am Ende sein wird. Den Aufwendungen heute stehen Rückflüsse nach Überwindung der Krise gegenüber. Risikopositionen, die der Staat in der Krise übernommen hat, können nach der Wiederbelebung der Finanzmärkte verkauft werden. Nur soweit das nicht gelingt, wird der Staat endgültig belastet. Das kann erst in einigen Jahren bilanziert werden. Mit Aufweichung der Budgetbeschränkung sind hier die finanziellen Mehrbelastungen gemeint, die durch finanzpolitische Trittbrettfahrer in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ausgelöst werden. Das Trittbrettfahrer-Verhalten ist ein Reflex auf die enormen Finanzvolumina der Stabilisierungsprogramme. Wo der Staat bisher strenge Regeln an sein Budget stellt, wo im politischen Prozess über Ausgaben von wenigen Millionen Euro kontrovers gerungen wird, werden nun Hunderte von Milliarden Euro mobilisiert, um einen einzigen Bereich der Wirtschaft, den Finanzsektor, zu stabilisieren. Das löst Begehrlichkeiten aus. Industrieunternehmen mit Absatz- und Finanzproblemen verlangen und erhalten staatliche Unterstützung. Bereitwillig verabschieden die Regierungen Konjunktuipakete, finanziert durch zusätzliche Staatsverschuldung und verbunden mit dem wenig glaubwürdigen Versprechen, „die Staatsverschuldung nach Bewältigung der Krise im nächsten Aufschwung wieder abzubauen".8 Begehrlichkeit zielt auf eine Ausweitung der Sozialleistungen. Symptomatisch hierfür ist die Vorhaltung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, es mache „mehr als nachdenklich, wenn wir über Nacht zur Lösung von Finanz- und Wirtschaftsproblemen Milliardenbe-

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BMF (2009): Anzumerken ist freilich, dass es dem Staat selbst in dem kräftigen Konjunkturaufschwung 2006/2007 nicht gelungen ist, den Schuldenstand abzubauen. Versprechen zum Schuldenabbau haben sich bisher als unglaubwürdig erwiesen.

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träge bereit stellen und andererseits die Mittel fehlen, um das Kindergeld um mehr als 10 € im Monat zu erhöhen oder die Bezuschussung für Kindergärten und Schulen bisher nicht in der erforderlichen Weise aufgebaut wird" (Zollitsch 2008). Die finanziellen Forderungen der Trittbrettfahrer finden in der Öffentlichkeit Zustimmung, nicht zuletzt weil die gesellschaftliche Akzeptanz der staatlichen Hilfen für den Finanzsektor eng begrenzt ist. Nicht jedermann akzeptiert, dass die Gemeinschaft der Bürger für kostspielige Programme aufkommen soll, um einen Wirtschaftszweig, den Finanzsektor, zu stützen, der, wie unterstellt wird, durch Fehlverhalten und Maßlosigkeit der dortigen Akteure (der „Banker") in Not geraten ist. Bei dieser Kritik wird freilich verkannt, dass die staatliche Stabilisierung nicht darauf zielt, die Verursacher der Krise zu schützen, sondern die Bürger selbst, die extrem stark getroffen werden, wenn Banken mit systemischer Bedeutung insolvent werden. Die Legitimation des finanziellen Aufwands für die Stabilisierung des Finanzmarktes ergibt sich allein daraus, dass es dort um die Eingrenzung einer systemischen Krise mit potentiell katastrophalen Folgen für die Gesellschaft geht. Diese Legitimation ist bei den Forderungen der Trittbrettfahrer nicht gegeben. Trotzdem werden ihre finanziellen Forderungen von der Politik nicht energisch abgewehrt, im Gegenteil! Für Forderungen wie „Arbeitsplätze sichern" und „mehr Sozialleistungen" findet sich allemal eine Mehrheit. Dass die damit ausgelösten Mehrausgaben in der Konsequenz zu einer erhöhten Zinslastquote des Staates und zu höheren Steuern führen, ist eine Fehlentwicklung, die billigend in Kauf genommen wird. Politiker, die heute an der Aufweichung der Budgetbeschränkung mitwirken, werden morgen für die negativen finanziellen Folgen nicht haftbar gemacht. Ihr Anreiz, sich den Forderungen der Trittbrettfahrer zu widersetzen, ist somit gering. Die Aufweichung der Budgetbeschränkung ist ordnungspolitisch als Langzeitschaden der Finanzmarktstabilisierung zu werten.

3. Verzerrungen im Finanzsystem Kritisch sind die durch die staatliche Stabilisierung ausgelösten Verzerrungen im Finanzsystem zu bewerten, die im schlimmsten Fall den Keim für künftige Krisen legen: Moral Hazard, falsche Selektion, übermäßiger staatlicher Einfluss auf Finanzinstitute, Überliquidisierung. Moral Hazard ist das Ergebnis einer Signalwirkung. Der Staat signalisiert mit den Stabilisierungsaktivitäten, dass er einer systemischen Krise im Finanzsystem entgegentritt. Das wird in Zukunft nicht anders sein. Im Vertrauen darauf gehen die Finanzmarktakteure erneut hohe Risiken ein, weil damit hohe Ertragserwartungen verbunden sind. So steigt die Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen Finanzkrise. Zu den Erfahrungen der Marktakteure in dieser Krise gehört allerdings, dass trotz staatlicher Hilfe massive Verluste im Finanzsektor auftreten (Kurseinbruch an den Wertpapiermärkten, Untergang von ganzen Marktsegmenten, Jobverluste). Das wirkt dem Moral Hazard entgegen, vorausgesetzt allerdings, dass die handelnden Manager auftretende Verluste mittragen müssen, also nicht mit hohen Abfindungen aus einem ins Trudeln geratenen Finanzinstitut ausscheiden können.

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Der Staat greift mit den Stabilisierungsaktivitäten verzerrend in den Selektionsprozess des Finanzmarktes ein. Die Finanzkrise trifft nicht alle Finanzinstitute gleich. Die interne Bewältigung der Krise gelingt den Banken unterschiedlich. Wie jede Krise würde auch diese einen Selektionsprozess auslösen, der zum Ausscheiden der schwächsten Finanzinstitute führte. Die staatliche Stabilisierung wirkt dem entgegen. Sie fordert gerade das Überleben schwacher Institute, was das Finanzsystem als Ganzes belastet. Umso dringlicher wird nach Überwindung der Finanzkrise die Frage nach einer strukturellen Bereinigung des Finanzsektors zu stellen sein.9 Der Staat greift mit den Stabilisierungsmaßnahmen in die Geschäftstätigkeit der Banken ein. Die unterstützten Banken „müssen die Gewähr für eine solide und umsichtige Geschäftspolitik bieten" (§10 FMStG). Der Staat stellt Anforderungen an die geschäftspolitische Ausrichtung, die Verwendung der aufgenommenen Mittel, die Vergütung, die Eigenmittelausstattung, die Ausschüttung von Dividenden. Den schärfsten Eingriff stellt eine Verstaatlichung von Banken dar. In diesem Fall beherrscht der Staat die Bank uneingeschränkt. Derartige Eingriffe stellen ordnungspolitisch eine Gratwanderung dar. Der Staat muss dafür sorgen, dass die den Banken bereitgestellten Mittel zu einer Konsolidierung führen, die den späteren Rückfluss der Mittel erwarten lässt. Das legitimiert Eingriffe. Allerdings geht der Staat damit ein erhebliches Risiko ein. Ihm mangelt es an unternehmerischer Professionalität, seine Eingriffe können Banken schwächen (wie die Schieflagen staatlicher Landesbanken zeigen). Verantwortung wird verwischt. Bleibt eine staatlich gestützte Bank in der Schiefläge, ist ungewiss, inwieweit dafür falsche Vorgaben des Staates verantwortlich sind. Gelingt einer verstaatlichten Bank die Konsolidierung nicht, wird der Staat das Finanzinstitut eher weiter betreiben, statt das Scheitern einzugestehen. Bleibt am Ende ein Bestand an nicht selbständig überlebensfähigen und daher dauerhaft verstaatlichten Banken erhalten, wäre das als ordnungspolitischer Langzeitschaden der Finanzmarktstabilisierung zu werten. Dem lässt sich dadurch entgegenwirken, dass es für die staatliche Einwirkung auf Bankinstitute ein zeitlich enges Ausstiegsszenario gibt und den Managern Anreize gegeben werden, die Ausstiegsstrategie rasch umzusetzen. Überdies muss die Liquidation schwacher Finanzinstitute - in wieder ruhigeren Zeiten - ernsthaft betrieben wird. Die Zentralbanken haben auf die Finanzkrise mit einer drastischen Senkung der Refinanzierungszinsen reagiert. Den Banken wird soviel Liquidität bereitgestellt, wie diese wünschen. Das kann zu einer Überliquidisierung führen. Sie stellte ein Inflationspotential dar und begünstigte die Finanzierung riskanter Anlagen, was den Keim für eine neue Finanzkrise legen könnte. Allerdings sind diese Gefahren beherrschbar. Die Liquiditätsanreicherung befriedigt lediglich die durch die Krise extrem gesteigerter Liquiditätspräferenz der Banken. Sobald sich diese normalisiert, wird es für die Zentralbanken ein Leichtes sein, die Liquidität wieder abzuschöpfen. Ein Restrisiko bleibt allerdings: dass die Zentralbanken die liquiditätspolitische Kehrtwendung zu spät einleiten.10

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Der schwedische Banksanierer Kvarnström (2009) vertritt die Einschätzung, dass Deutschland zu viele und zu kleine Banken hat. Auch seien die Geschäftsmodelle insbesondere der Landesbanken zu überprüfen. 10 Ein hier nicht zu behandelndes Thema ist, ob die massiven Interventionen der Notenbank, die über die herkömmliche Geldpolitik hinausgehen, das Verhältnis zum Staat beeinflussen können, weil sie stark in die Kapitalmärkte und damit auch in die Finanzierungsbedingungen des Staates eingreifen. Der

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Bewertung der staatlichen Stabilisierungsaktivitäten am Ende um so besser ausfallen wird, je wirksamer schädliche Nebenwirkungen unterbunden wurden, das heißt — je entschiedener die finanziellen Forderungen der Trittbrettfahrer zurückgewiesen und eine Ausuferung der Staatsverschuldung unterbunden werden, — je weniger trotz systemstabilisierender Aktivität des Staates das individuelle Verlustrisiko der Akteure an den Finanztransaktionen ausgeschlossen wird, — je rascher die strukturelle Bereinigung des Bankensektors vorankommt, — je konsequenter der Staat den Ausstieg aus zuvor gestützten Finanzinstituten vollzieht, — je sensibler die Zentralbank bei beginnender Konsolidierung Überschussliquidität abbaut.

III. Grenzen für eine Krisenvermeidung: Risikoanhäufung Die hohen, in ihrem ganzen Ausmaß noch nicht einmal abschätzbaren volkswirtschaftlichen Kosten der Finanzkrise unterstreichen die Dringlichkeit einer verbesserten Krisenprävention. Der Frage nach dem Wie ist allerdings die Frage voranzustellen, ob sich Finanzkrisen überhaupt wirksam vermeiden lassen. Das ist zu verneinen. Kernpunkt ist das Krisenpotential des Finanzsystems. Das Finanzsystem leistet die Allokation von Kapital unter Unsicherheit, was unauflösbar mit Risiken verbunden ist. Es kann immer zu Fehlallokationen kommen, die zu einer krisenhaften Zuspitzung führen. In die gegenwärtige Krise hat eine leichtfertige Risikoanhäufung gefuhrt, was Marktversagen darstellt. Dahinter stehen Phänomene, die allgegenwärtig sind, auch in Zukunft auftreten und Krisen auslösen können.

1. Leichtfertige Risikoanhäufung Die Ausfälle im Subprime-Segment des US-amerikanischen Finanzsystems waren das auslösende Moment für die internationale Finanzkrise, aber nicht die eigentliche Ursache. Subprime-Kredite sind Hypothekenkredite an Kreditnehmer mit zweifelhafter Bonität. Sie wurden in der Erwartung weiter steigender Immobilienpreise und anhaltend niedriger Zinsen vergeben. Daher waren sie mit erheblichen Ausfallrisiken verbunden, da sich die Trends bei Immobilienpreisen und Zinsen jederzeit umkehren konnten (und es taten). Die entscheidende Frage lautet, weshalb derart riskante Kredite an den internationalen Finanzmärkten überhaupt in einem großen Umfang refinanziert werden konnten. Im Kern ist das auf einen weltweit leichtfertigen Umgang der privaten und institutionellen Anleger sowie der Finanzinstitute mit den Ausfallrisiken von Finanzanlagen zurückzufuhren. Das ist Marktversagen. Erst dadurch wurde es möglich, dass zweifelhafte Kredite, weil sich die Kreditgeber ihrer durch Verbriefungen entledigen Staat könnte die operationeile Unabhängigkeit der Notenbank in Frage stellen, zumindest mehr Einfluss auf die Entscheidungen der Notenbank verlangen. Das berührt die Unabhängigkeit der Notenbank. Vgl. hierzu Stella (2009).

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konnten, stark expandierten. So kam es zu einer am Ende nicht mehr tragbaren Risikoanhäufung im Finanzsystem. 11 Nicht Risiko als solches, sondern dessen leichtfertige Anhäufung charakterisiert die Finanzkrise. Risiken sind mit den Finanzmärkten unlösbar verbunden. Dass die Allokation von Kapital durch das Finanzsystem in einem unsicheren Umfeld geleistet wird, folgt aus dem intertemporalen Charakter von Finanzanlagen. Kredit- und Anlageentscheidungen basieren auf Erwartungen über die Rentabilität der zu finanzierenden Projekte. Die Erwartungen können falsch sein, sodass sich die daran orientierte Kapitallokation ex post als nicht optimal, als Fehlallokation erweist. Das ist eine alltägliche Situation. Kreditausfälle werden bei der Kreditvergabeentscheidung einkalkuliert, zum Beispiel in Form von Risikoprämien im Zins.12 Neben Kreditausfallen setzen Kursverluste von Wertpapieren Anleger und Finanzinstitute unter Druck. Solange sich Kreditausfälle und Marktwertverluste in einem „normalen", das heißt den bisherigen Erfahrungen entsprechendem Rahmen halten, werden sie von den Finanzinstituten über das Eigenkapital aufgefangen. Übersteigen sie das „normale" Maß, geraten die Finanzinstitute unter Stress, es kann zu einer Finanzkrise kommen. Krisenhafte Zuspitzungen an den Finanzmärkten treten häufig auf. Laeven und Valencia (2008) dokumentieren für die Zeit von 1970 bis 2007 nicht weniger als 124 systemische Bankkrisen (und zuzüglich 208 Währungskrisen). 13 Aus dieser Sicht ist die derzeitige Finanzkrise nur eine weitere in der historischen Reihe von Finanzkrisen, allerdings eine besonders schwere. Nicht ein ungewöhnliches Ausmaß von Kreditausfallen oder eine atypische Volatilität der Marktwerte haben in die Krise gefuhrt. Vielmehr haben die Akteure an den internationalen Finanzmärkten in den vergangenen Jahren in großem Umfang Aktiva erworben, ohne die damit verbundenen Ausfallrisiken sachgerecht zu bewerten. Für diese These spricht die Tatsache, dass Wertpapiere große Verbreitung fanden, in denen komplexe Risiken gebündelt waren, die selbst professionelle Anleger kaum mehr überschauen und mangels Erfahrungen kaum mehr bewerten konnten. 14 Das war leichtfertig, und es reflektiert Marktversagen. Die daraus folgende massive Anhäufung von Risiken hat das Finanzsystem labil gemacht. Als sich die Risiken in Form von Anlageausfällen realisierten, konnte das von den Anlegern nicht mehr verkraftet werden. Die Akteure an den Finanzmärkten sind damit letztlich schlecht gefahren. Vermögensverluste sind der zu zahlende Preis. Der Schock der Finanzkrise hat den Akteuren deutlich gemacht, dass sie die Ausfallrisiken ihrer Anlagen stark unterschätzt haben. Dies wird sie künftig vorsichtiger disponieren lassen. Aktiva mit unüberschaubaren Risiken sollten vorerst keinen Absatz mehr finden. Doch ist das keine Gewähr, dass sich

11 Die BIZ (2008, S. 143) fasst es so zusammen: „The fundamental cause of today's emerging problems were excessive and imprudent credit growth over a long period". 12 Die Abschreibungen und Wertberichtigungen von Krediten sowie die Neubewertung von Wertpapieren durch die Monetären Finanzinstitute ist den Monatsberichten der Europäischen Zentralbank (Tabelle 2.7 des Statistischen Teils) zu entnehmen. 13 Auch in der wissenschaftlichen Literatur sind Finanzkrisen häufig analysiert worden, vgl. die Aufsatzsammlungen von Allen und Gale (2008) sowie Evanoff et al. (2007). 14 Blanchard (2009, S. 4) nennt als Grund der Krise „the underestimation of risk contained in newly issued assets; the opacity of the derived securities on the balance sheets of financial institutions" und fügt zwei weitere Gründe hinzu: "the connectedness between financial institutions ...; and, finally, the high leverage of the financial system as a whole".

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in Zukunft leichtfertige Risikoanhäufungen nicht mehr einstellen. Denn die Szenarien, aus denen diese erwächst, können sich jederzeit wiederholen. Die Szenarien sind unspektakulär, vor allem deshalb, weil sich die Risikoanhäufung nicht mit einem Schlag, sondern schleichend über lange Zeit vollzieht, von Frühwarnsystemen im Finanzsektor nicht zu orten. Ein solches Szenario besteht aus mehreren Elementen: Finanzinnovationen, Risikoentwöhnung, Herdentrieb.

2. Finanzinnovationen Es mag heikel erscheinen, Finanzinnovationen an den Anfang eines Krisenszenarios zu stellen. Finanzinnovationen sind mit einer Verbesserung der Kapitalallokation in Verbindung zu bringen, einem die Wohlfahrt fordernden Prozess. Aber die Finanzmarktakteure brauchen Zeit, bis sie die Innovationen an den Finanzmärkten richtig verstehen, ihre Vorteile und Risiken einschätzen und die neuen Instrumente sachgerecht handhaben können. Innovationen sind mit dem Risiko des Neuen gegenüber dem Gewohnten verbunden. Die Deutsche Bundesbank (2008a, S. 15 ff.) hat den Innovationsprozess im internationalen Finanzsystem prägnant beschrieben. Zu den tiefgreifenden Veränderungen im Weltfinanzsystem gehört seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass traditionelle Bankprodukte durch innovative und komplexe Finanzierungs- und Risikotransfertechniken ergänzt worden sind. Somit sind die Finanzmärkte insbesondere in den Industrieländern immer mehr durch die Handelbarkeit von Krediten und Kreditrisiken geprägt (in den Schwellenländer war hingegen eine kräftige Ausweitung traditioneller Bankkredite zu beobachten). Kennzeichnend hierfür ist das starke Wachstum von Derivaten und strukturierten Produkten, in denen Kredite gebündelt werden, damit Wertpapiere besichert und somit am Markt weitergegeben werden können. Indem die Banken einen Aktivtausch betrieben (Buchkredite durch Wertpapiere ersetzt haben), gewann die Refinanzierung über die Kapitalmärkte eine immer größere Bedeutung. Zugleich gewannen unregulierte Finanzinstitute wie Hedgefonds, die sich bei ihren Geschäften großer Hebeleffekte bedienten, eine immer größere Bedeutung. Zeitgleich mit dem starken Wachstum ging eine zunehmende Verflechtung der Finanzmärkte einher; besonders ausgeprägt zeigt sich die finanzielle Globalisierung zwischen den Industrieländern (stark steigender finanzieller Offenheitsgrad). Der Home Bias verringert sich, den Privatanlegern wurden ausländische Finanzmärkte erschlossen. Der gelegentlich zu hörende These, dass sich der Finanzsektor gegenüber der Realwirtschaft verselbständigt habe, stellt die Bundesbank entgegen, „dass die Expansion der Finanzmärkte in den Industrieländern vor allem eine verstärkte Arbeitsteilung innerhalb des Finanzsystems widerspiegelt; in den Schwellenländern ist sie auch Ausdruck eines verbesserten Zugangs privater Haushalte und Unternehmen zu Finanzdienstleistungen" {Deutsche Bundesbank 2008a, S. 17). Als Triebkräfte der finanziellen Globalisierung hebt die Bundesbank die Liberalisierung und Deregulierung an Finanzmärkten hervor, aber auch Fortschritte in der Datenverarbeitung und -Übermittlung. Verstärkend wirkte zudem, dass die Anleger in einem Umfeld reichlicher Liquidität und niedriger Zinsen eine profitable Portfoliodiversifikation anstrebten, was die Etablierung neuer Finanzprodukte am Markt begünstigte.

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Die Bundesbank betont zu Recht, dass sich die Veränderungen im Weitfinanzsystem positiv auf die internationale Kapitalallokation ausgewirkt haben: „Das Wachstum des Weltfinanzsystems, die damit einhergehende zunehmende Breite und Tiefe der Märkte und ihre globale Vernetzung sind grundsätzlich positiv zu werten. So sollte das Wirtschaftswachstum von einer Öffnung der Finanzmärkte durch mehr Wettbewerb und die verbesserten Möglichkeiten der globalen Kapital- und Risikoallokation profitieren" {Deutsche Bundesbank 2008a, S. 30). Die Verbriefung von Kreditbeziehungen hat die Produktivität der Finanzintermediation und die Kreditverfugbarkeit erhöht. Illiquide Forderungen und einzelne Risiken werden auf diese Weise handelbar, was die Finanzmärkte verbreitert. Zugleich weist die Bundesbank auf problematische Aspekte hin. Durch die Weitergabe von Krediten löst sich die Kreditüberwachung von der Kreditgewährung, damit steigt das Kreditausfallrisiko. Mit der Verbriefung verlängern sich die Intermediationsketten, was Risikoverteilungen und Risikokonzentrationen intransparent macht. Die Bewertung strukturierter Produkte erfordert erhebliche Marktkenntnis. Das Rating blieb unzureichend, wenn es sich nur auf das Kreditausfallrisiko bezog. Mit der zunehmenden internationalen Vernetzung der Finanzmärkte wird die Übertragung von Störungen begünstigt. Insgesamt, so die Bundesbank, „haben die Ereignisse gezeigt, dass die Ansteckungsrisiken mit zunehmender Integration und Verflechtung wachsen, Störungen sich schnell und in nicht vorhersehbarer Weise über Ländergrenzen hinweg ausbreiten und in Einzelfallen rasch zu Schieflagen von systemischer Relevanz führen können" (Deutsche Bundesbank 2008a, S. 31). Die Abwägungen der Bundesbank machen deutlich, dass Innovationen nicht kostenlos zu haben sind. Die innovative und dynamische Entwicklung des Weltfinanzsystems hat in den letzten beiden Dekaden dazu beigetragen, dass die globale Wirtschaft kräftig wachsen konnte, was insbesondere den Entwicklungsländern zugute kam.15 Das ist der positive Aspekt. Dass die Entwicklung in die Finanzkrise abglitt, ist ihr krass negativer Aspekt.

3. Risikoentwöhnung und Herdentrieb Um die Finanzkrise zu interpretieren, genügt es nicht, die mit der Entwicklungsdynamik an den Finanzmärkten verbundenen neuen Risiken in den Blick zu nehmen. Neuen Risiken bei Finanzinnovationen stehen neue Chancen gegenüber, zum Beispiel die Erweiterung der Diversifikationsmöglichkeiten oder die Erhöhung des Liquiditätsgrades von Aktiva, wie es die Bundesbank beschrieben hat. Neue Finanzprodukte werden dieser Vorteile willen in die Portefeuilles aufgenommen. Doch warum ist es im Vorfeld der Finanzkrise zu einer ungewöhnliche Risikoanhäufung gekommen? Immerhin geht es um die Ausweitung von Anlageformen, die hochgradig intransparent hinsichtlich ihrer Risiken waren. Man kann den Privatanlegern vorhalten, sie seien „bei der Bewertung der teilweise komplexen Papiere überfordert" gewesen {Deutsche Bundesbank 2008a, S. 20). Aber auch institutionelle Anleger und Finanzinstitute haben die Risiken nicht richtig eingeschätzt. Die Unfähigkeit, das mit einem Aktivum verbundene Risiko sachge-

15 Die Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts lagen im Zeitraum 1990 bis 2005 für die Welt bei 2,8 Prozent, darunter für die Entwicklungsländer bei 4,8 Prozent. In den Jahren 2006 bis 2007 lagen sie bei 3,9 Prozent (Welt) und 7,2 Prozent (Entwicklungsländer), vgl. UNCTAD (2008, S. 398).

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recht bewerten zu können, sollte bei rationalem Verhalten eher zum Verzicht auf den Erwerb dieses Aktivums führen. Doch es kam anders, und dazu haben zwei Phänomene beigetragen: Risikoentwöhnung und Herdentrieb. Mit Risikoentwöhnung wird hier ein Prozess abnehmender Risikowahmehmung durch die Anleger bezeichnet. Einem Anleger wird ein neues Aktivum mit attraktiver Rendite angeboten, jedoch ist das Risiko für ihn nicht einschätzbar, ein Totalausfall vorstellbar. Das muss nicht zum völligen Verzicht auf den Erwerb dieses Aktivums führen. Vielmehr wird der Anleger das Aktivum seinem Portefeuille wegen der attraktiven Rendite beimischen, aber wegen des unüberschaubaren Risikos nur in geringem Umfang, sodass selbst ein Totalausfall verschmerzbar erscheint. Nun macht der Anleger Jahr für Jahr die Erfahrung, dass das Aktivum kontraktgemäß bedient wird und sein Marktkurs stabil bleibt. Der Anleger gewinnt allmählich Vertrauen in das Aktivum, er schätzt das Risiko des Ausfalls immer niedriger ein, obwohl sich objektiv an dem Risiko nichts geändert hat (Risikoentwöhnung). Der Anleger investiert daraufhin zusätzlich in dieses Aktivum. Die Risikoentwöhnung wurde in den vergangenen Jahren verstärkt durch die kraftvolle Entwicklung an den Weltfinanzmärkten und in der Weltwirtschaft. Die positive Grundstimmung hat die Wahrnehmung von Risiken überstrahlt. Selbst wenn in den Verkaufsprospekten der Banken für die darin angebotenen Finanzanlagen ein Totalausfall als größtmögliches Risiko gekennzeichnet waren, wurden die Anlagen erworben in der Erwartung, dass der schlimmste Fall schon nicht eintreten werde. Im Ergebnis gewinnen objektiv zweifelhafte Anlagen wegen der durch die guten Erfahrungen in einem dynamischen Umfeld ausgelösten Risikoentwöhnung im Laufe der Zeit ein immer höheres Marktvolumen. Risikoentwöhnung ist nicht nur ein Phänomen ungeübter Privatanleger. Es trifft auch professionelle Finanzinstitute. In den Banken hat man sich auf ausgefeilte mathematische Risikomodelle verlassen. Dass Risikomodelle gar nicht alle Risiken und Risikointerdependenzen adäquat abbilden, wurde ignoriert {Rudolph 2008). Gleichzeitig fehlten für die Berechnung von Ausfallkorrelationen gerade im Subprime-Segment entsprechende Daten, was durch Rückgriff auf die Daten anderer Teilmärkte nur unzulänglich „gelöst" werden konnte. Das unkritische Vertrauen der Institute in das bisher weitgehend bewährte Risikomanagement ist eine Ursache für die Risikoanhäufung bei den Finanzinstituten. Die Ausbreitung zweifelhafter Anlagen wird durch den Herdentrieb unterstützt. Viele Akteure an den Finanzmärkten fühlen sich subjektiv auf der sicheren Seite, wenn sie sich wie die anderen Marktteilnehmer verhalten. Sie wählen die am Markt verbreitete Anlagestrategie, auch wenn sie diese nicht durchschauen und die Risiken nicht einschätzen können. Das steigende Marktvolumen eines Aktivums (zum Beispiel aufgrund von Risikoentwöhnung) ist die beste Empfehlung zum Einstieg - unter Verzicht auf die eigenständige Abschätzung des Risikos. Ein Bankmanagement, welches ein bestimmtes Marktsegment wegen unüberschaubarer Risiken meiden möchte, gerät durch den Herdentrieb unter Legitimationsdruck. Wenn Aktionäre, Aufsichtsorgane, Analysten, Medien dieses Marktsegment positiv sehen (wenn auch objektiv falsch), ist es für das Bankmanagement einfacher, dem Druck nachzugeben als zu widersprechen. Ratingagenturen verstärken den Herdentrieb, weil sie Anleger dazu verleiten, auf eine eigenverantwortliche Risikoabschätzung zu verzichten. Die öffentlich zugänglichen Ratings

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befördern den Gleichschritt der Anleger, auch den Gleichschritt in die Krise. Dass Ratingagenturen trotz des ihnen unterstellten Vorsprungs an Professionalität falsch liegen können, hat die Finanzkrise schmerzlich erfahren lassen.16 Risikoentwöhnung und Herdentrieb implizieren, dass sich problematische Anlagen nicht schlagartig, sondern im Reflex auf gute Erfahrungen allmählich ausbreiten. Genau dieses Entwicklungsmuster war zu beobachten.17 Die Anzahl der weltweit operierenden Hedgefonds lag im Jahr 1990 erst bei circa 600, und sie verwalteten Aktiva in Höhe von knapp 40 Mrd. US-Dollar; im Jahr 2007 gab es dann etwa 10.000 Hedgefonds mit verwalteten Aktiva von rund 1,9 Billionen US-Dollar. Das Wachstum dieses Marktsegments vollzog sich nicht spontan, sondern kontinuierlich über mehr als fünfzehn Jahre. Der Nominalwert ausstehender börsengehandelter Derivate hat sich ebenfalls nur langsam, über fast fünfzehn Jahren von 1993 bis 2007 verzehnfacht. Kreditausfall-Swaps (CDS) stiegen von unter 1 Billion US-Dollar im Jahr 2001 auf 58 Billionen US-Dollar in 2007. Der Wert neu ausgegebener CDOs stieg von 150 Mrd. US-Dollar in 2000 auf 1,2 Billionen US-Dollar in 2007. Die allmähliche, in der Regel unspektakuläre Ausbreitung von objektiv problematischen Anlagen, Intermediationsformen, Geschäftstypen fördert bei den Finanzmarktakteuren die Einschätzung, dass es sich um nachhaltige, stabile Entwicklungen handelt, auf die man weiter setzen kann. Leichtfertig bleibt das dennoch, denn weder Risikoentwöhnung noch Herdentrieb beinhalten eine sachgerechte Einschätzung der Anlagerisiken. So nimmt die Finanzkrise schleichend ihren Lauf. Es fehlt in der Regel an Stimmen nicht, die dies erkennen und warnen. Doch Kassandrarufe unterliegen Abnutzungserscheinungen, wenn die Marktakteure gerade positive Erfahrungen machen. Die Risikoanhäufung wird so immer stärker. Schließlich erreicht sie ein so hohes Ausmaß, dass das Finanzsystem instabil wird, das heißt Schocks nicht mehr absorbieren kann. Im Jahr 2007 war es so weit. Mit Zinssteigerungen und sinkenden Immobilienpreisen in den USA wurde der Schock in Form hoher Kreditausfalle im SubprimeSegment ausgelöst. Das instabil gewordene Finanzsystem hatte keine Widerstandskraft mehr, sodass es zu der Finanzkrise kam. Die Krise, einmal in Gang gesetzt, verstärkt sich rasch. Vertrauensverlust entsteht, weil für die Marktteilnehmer ungewiss ist, wie stark die einzelnen Finanzinstitute von der Krise betroffen sind. Wegen der Unsicherheit darüber gewähren sich die Banken keinen Kredit mehr, der Liquiditätsausgleich über den Interbankenmarkt stockt. Die Emission neuer für fällig werdende Wertpapiere verteuert sich wegen gestiegener Risikoprämien. Marktabwertung, also Kursverluste bei Aktien und Wertpapieren treten ein, weil private und institutionelle Anleger die Risiken ihrer Assets neu bewerten und Positionen abbauen. Der Verfall der Assetpreise schlägt negativ auf die Banken zurück, die mit einem anschwellenden Abschreibungsbedarf auf ihre Anlagen konfrontiert sind. Die Realwirtschaft gerät durch den Verfall der Wertpapierpreise und durch steigenden Risi-

16 Die Deutsche Bundesbank (2008a, S. 23) merkte ein unzureichendes Rating bei strukturierten Produkten an. Es werde nur das Kreditausfallrisiko beurteilt. „Andere relevante Risiken, vor allem Marktund Liquiditätsrisiken bleiben dagegen unberücksichtigt." 17 Die folgenden Daten sind entnommen Deutsche Bundesbank (2008a, S. 22, 23 und 25).

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koprämien in den Zinsen unter Druck. Die folgende Rezession erhöht die Kreditausfälle bei den Banken.

4. Untragbare Renditeziele? Risikoentwöhnung und Herdentrieb sind kein Ruhmesblatt für die Akteure an den Finanzmärkten. Welche Verhaltensprägungen dahinter stehen, mögen Psychologen klären. Gier, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, Vorrang für den schnellen Erfolg, Spielermentalität, eingeschränkte Schuld- und Schamgefühle, Naivität: alles das steht auf der Liste der Vorhaltungen. Bevorzugt wird dies den Managern der Finanzinstitute vorgehalten. Dabei haben sich auch Privatanleger nicht mehr mit niedrig verzinsten Sparbüchern zufrieden geben wollen und eine Extrarendite gesucht. Auch institutionelle Anleger haben bereitwillig komplexe Anlagen erworben, die sie nicht durchschauten. Eine Aufrechnung im Sinne einer Schuldzuweisung wird am Ende alle Marktteilnehmer treffen. Nicht alles, was in der öffentlichen Diskussion an Kritik gegenüber den Finanzmarktakteuren vorgebracht wird, ist in der Sache berechtigt. So ist der verbreitete Vorwurf eines „überzogenen" Renditestrebens schlecht begründet. Auslösendes Moment ist das umstrittene Renditeziel von 25 Prozent, welches einige Banken verfolgen. 18 Der Bundesfinanzminister spricht von einem „wahnsinnigen Streben nach immer höherer Rendite" (Steinbrück 2008a). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands sieht in derartigen Renditeerwartungen „eine Form des Götzendienstes", „den Tanz ums Goldene Kalb", und so sei „das Geld zum Gott geworden" (Huber 2008). Sachgerecht wäre eine differenzierte Beurteilung der Renditeziele. Eine hohe Eigenkapitalrentabilität dient vor allem der Stärkung der Risikoposition eines Kreditinstituts in einem volatilen Umfeld. Eine Eigenkapitalrentabilität von 25 Prozent anzustreben, bedeutet nicht, sie in jedem Jahr erreichen zu können, nicht einmal über einen mehrjährigen Zeitraum. Vielmehr sind die international aktiven Großbanken in ihren Geschäftsfeldern einer erheblichen Volatilität ausgesetzt, die sich in einer stark schwankenden Eigenkapitalrentabilität niederschlägt. So lag die Eigenkapitalrentabilität der Großbanken im Zeitraum 2003 bis 2007 zwischen stark negativen -12,9 Prozent (2003) und stark positiven 31,7 Prozent (2005) {Deutsche Bundesbank 2008b, S. 15 ff). Das mit der globalen Ausrichtung verbundene hohe Risiko macht bei den Großbanken ein höheres Renditeziel erforderlich als bei den nur lokal agierenden Sparkassen oder Kreditgenossenschaften. Deren Eigenkapitalrentabilität schwankt nur wenig.19 Auf längere Sicht ist die Eigenkapitalrentabilität der Großbanken nur wenig höher als die der Kreditgenossenschaften und Sparkassen (im Durchschnitt von 2003 bis 2007 bei den Großbanken 11,0 Prozent, den Kreditgenossenschaften 10,8 Prozent, den Sparkassen 9,4 Prozent). Hiervon sind die Steuern abzuziehen. Dass solche Renditewerte nicht überzogen sind, zeigt der Vergleich mit der Gesamtwirtschaft. Im Unternehmenssektor machte das Jahresergebnis vor Gewinnsteuern 2007 bezogen auf die Eigenmittel 37 Prozent aus (Deut-

18 Ausgelöst hat es der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackerman. Vgl. Einecke (2005). 19 Es lag zwischen 7,2 Prozent (2007) und 10,9 Prozent (2003) bei den Sparkassen und zwischen 8,1 Prozent (2007) und 13,8 Prozent (2005) bei den Kreditgenossenschaften.

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sehe Bundesbank 2009, S. 33 ff). 20 Das erfährt keine öffentliche Kritik. Mit „Wahnsinn" und „Götzendienst" kann das Renditestreben der (Groß)-Banken eher nicht gleichgesetzt werden. Würden die Großbanken ein wenig ehrgeiziges Renditeziel anstreben, kämen sie angesichts unvermeidlicher schlechter Jahre im Durchschnitt auf eine niedrigere Eigenkapitalrentabilität als bisher. Dass eine niedrige Eigenkapitalrentabilität nicht zur Stabilität beiträgt, zeigt das Beispiel der staatlichen Landesbanken. Sie sind mit ihrer bescheidenen Eigenkapitalrentabilität von 3,2 Prozent (2003 bis 2007) von der Finanzkrise besonders stark betroffen.

5. Billige Liquidität Die US-Notenbank hat mit dem Platzen der Dotcom-Blase am Aktienmarkt die Geldmarktzinsen massiv gesenkt; die Federal Funds Target Rate wurde im Verlauf des Jahres 2001 von 6,5 % auf 1,75 % herabgesetzt und später bis auf 1 % zurückgenommen. 21 Damit war Liquidität reichlich und billig verfügbar. Das hat die Risikoentwöhnung und den Herdentrieb der Marktteilnehmer tendenziell verstärkt, weil beispielsweise das Liquiditätsrisiko bei der Refinanzierung von Zweckgesellschaften angesichts der billigen Liquidität gering schien. Selbst wenn man deshalb eine „Mitschuld" der Geldpolitik an der Finanzkrise feststellen wollte, muss man doch Marktversagen konstatieren. Es war überaus leichtfertig, wenn sich die Akteure an den Finanzmärkten bei ihren Transaktionen von der Erwartung leiten ließen, dass es bei der historisch außerordentlich billigen und reichlichen Liquiditätsversorgung bleiben würde. Es verkennt die Rolle einer Zentralbank, die die Zinspolitik an der Stabilisierung der Preise und (in den USA) der Konjunktur ausrichten muss. Die Marktteilnehmer hätten einkalkulieren müssen, dass die US-Notenbank früher oder später genötigt sein würde, die Zinsen anzuheben. Soweit sie das nicht getan haben und dann durch steigende Zinsen unter Druck geraten sind (von Mitte 2004 bis Mitte 2006 hob die US-Notenbank die Federal Funds Rate schrittweise von 1 % auf 5,25 %), liegt das nicht in der Verantwortung der Notenbank es ist Marktversagen. Eine ganz andere Frage ist, ob die Geldpolitik der US-Notenbank mit Blick auf die Ziele Preis- und Konjunkturstabilisierung „angemessen" war. Dies zu vertiefen, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. In die Bewertung müsste einfließen, dass die Zinssenkungen in den USA dazu beigetragen haben, den Wachstumseinbruch nach der Dotcom Krise schnell (bereits 2002) zu überwinden, was im Euroraum erst zwei Jahre später gelang. Zugleich lag die Inflationsrate im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2007 in den USA mit 2,7 Prozent nur unwesentlich über der im Euroraum (2,2 Prozent), auch dies ist kein Indiz für eine inakzeptable Geldpolitik.

20 Die Eigenmittel der Unternehmen werden für 2007 mit 608,5 Mrd. Euro, das Jahresergebnis vor Gewinnsteuern mit 226,5 Mrd. Euro angegeben. Erfasste Unternehmensbereiche sind das Verarbeitende Gewerbe, Baugewerbe, Handel und Verkehr, unternehmensnahe Dienstleistungen. 21 Die Refinanzierungszinsen der EZB schwankten ebenfalls, aber in einem geringeren Ausmaß (zwischen 4,75 und 2 %) als in den USA.

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Finanzinnovationen, Risikoentwöhnung, Herdentrieb, Selbstverstärkung: das geschilderte Szenario für die Entstehung der Finanzkrise enthält keine historisch singulären Elemente. Die Handelbarkeit von Krediten und Kreditrisiken wird wegen der damit verbundenen Vorteile Bestand haben. Finanzinnovationen bei Aktiva, Intermediationsformen und Finanzinstitutionen wird es in der dynamischen Entwicklung des internationalen Finanzsystems weiterhin geben, die damit einhergehenden Risiken werden schwer einschätzbar bleiben. Aktiva mit lukrativen Renditen werden auch in Zukunft trotz unüberschaubarer Risiken Absatz finden, sodass es erneut zu einer Risikoanhäufung kommen kann. Das ist keine Prognose, dass es so kommen muss. Aber es ist die Einschätzung, dass im Finanzsystem kein Selbstregulierungsmechanismus vorhanden ist, der eine leichtfertige Risikoanhäufung und damit das Abgleiten in eine Finanzkrise wirksam verhindert. In diesem Sinne reflektieren Finanzkrisen Marktversagen.

IV. Grenzen für staatliche Regulierungen Da kein Selbstregulierungsmechanismus Krisen im Finanzsystem verlässlich unterbindet, ist der Staat aufgerufen, durch Regulierung die Stabilität zu gewährleisten. Die internationale Staatengemeinschaft strebt eine Neuregulierung des Finanzsystems an. Das kann dessen Stabilität erhöhen. Es wäre jedoch eine Illusion zu glauben, dass durch staatliche Regulierungen Krisen im Finanzsystem verlässlich unterbunden werden können. Der Staat unterliegt Informationsbeschränkungen bei der Identifikation von Krisen, und er kann Risiken an den Finanzmärkten nicht ausschließen.

1. Informationsbeschränkungen Die Finanzkrise unterstreicht einmal mehr den Bedarf an Regulierungen, die Krisen entgegenwirken. Allerdings belegt sie auch das Gegenteil: das Versagen staatlicher Regulierung. Der Finanzsektor unterliegt bisher schon strengen Regulierungen und staatliche Finanzaufsicht. Trotzdem ist die Finanzkrise im Jahr 2007 ausgebrochen. Die Regulierungen haben keinen stabilen Rahmen für das Finanzsystem geschaffen. Das liegt in der Verantwortung des Staates, es ist Staatsversagen.22 Der Einwand, die international unterschiedliche Regulierungsdichte hätte eine schädliche Regulierungsarbitrage ermöglicht, entlastet den Staat nicht; denn Regulierungsunterschiede sind ebenfalls vom Staat zu verantworten.23 Der Staat, der mit der Regulierung eine umfassende Kompetenz für administrative Eingriffe in den Finanzsektor beansprucht (bis hin zu dem Recht, Finanzinstitute zu schließen), muss sich vergewissern, dass im Finanzsektor Entwicklungen unterbleiben, die der Intention der Regulierung zuwider laufen. In dieser Hinsicht hat der Staat im

22 Regulierungsmängel gehören zum Staatsversagen. Aber das Staatsversagen umfasst darüber hinaus noch anderweitiges Fehlverhalten des Staates im Vorfeld der Krise, etwa den massiven Druck der amerikanischen Regierung auf die Banken zur Vergabe von Subprime-Krediten. 23 Zudem ist die These von den Regulierungslücken zu relativieren. So musste der Bundesfinanzminister einräumen (Steinbrück 2008b), dass Vertreter der Bundesbank eine deutsche Bank in Irland geprüft haben, obwohl es keine Prüfungsrechte deutscher Aufsichtsbehörden in Irland gibt.

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Vorfeld der Finanzkrise ebenfalls versagt. Die krisenhafte Zuspitzung an den Finanzmärkten ist nicht nur von den Akteuren an den Märkten selbst übersehen worden (das gehört zum Marktversagen), sondern auch vom Staat nicht erkannt, geschweige denn mit Gegenmaßnahmen beantwortet worden (das gehört zum Staats versagen). Die Ausweitung der problematischen Subprime-Kredite in den Vereinigten Staaten und die internationale Verbreitung der Risiken über die Verbriefungen geschah nicht im Geheimen, sondern unter den Augen des Staates, der keinerlei Anstalten zum Gegensteuern unternahm. Selbst als die Finanzkrise voll im Gange war, wurde ihr Ausmaß von Bankenaufsicht und Regierung massiv unterschätzt. Ein halbes Jahr nach Ausbruch der Krise (im November 2007) beruhigte die Deutsche Bundesbank (2007, S. 12) die Öffentlichkeit: „Insgesamt hat sich die Risikotragfahigkeit des deutschen Bankensystems auf hohem Niveau stabilisiert. ... Die Kapitalisierung bleibt auch dann zufriedenstellend, wenn einzelne Banken Vermögenswerte aus außerbilanziellen Vehikeln in die Bilanz aufnehmen oder Ausplatzierungen von Krediten nicht im geplanten Umfang durchfuhren können".24 Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) schätzte die Qualität der Banken immer besser ein. Für die Risikoklassifizierung der Banken verwendet BaFin eine vierstufige Qualitätseinordnung (hoch, mittelhoch, mittel-niedrig, niedrig) (BaFin 2005, 2006, 2007 und 2008). In die beiden besten Stufen wurden im Jahre 2005, also vor der Krise, 72,9 Prozent der Banken eingeordnet, in den Krisenjahren 2007 und selbst noch 2008 aber deutlich mehr, nämlich 83,2 Prozent bzw. 82,7 Prozent. Das beschreibt das Gegenteil einer krisenhaften Zuspitzung. Als sich die Krise ein Jahr nach dem Ausbruch durch den Konkurs von Lehman Brothers (15.9.2008) gerade empfindlich verschärfte, fehlte der Bundesregierung noch immer das Problembewusstsein. Der Bundesminister der Finanzen stellte in einer Regierungserklärung am 25.9.2008 fest, „dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risikotragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, die Verluste auszugleichen und die Sicherheit der privaten Ersparnisse zu gewährleisten" (Steinbrück 2008a). Die Krise sei Folge einer „unverantwortlichen Überhöhung des ,Laissez-faire'-Prinzips, also dem von staatlicher Regulierung möglichst vollständig befreiten Spiel der Marktkräfte im angloamerikanischen Finanzmarktsystem" (Steinbrück 2008a). Ein Rettungsprogramm wie in den Vereinigten Staaten lehnte der Bundesfinanzminister ausdrücklich ab: „...weil die Verhältnisse bei uns anders sind, ist ein ähnliches Programm in Deutschland oder Europa weder notwendig noch sinnvoll. Nach wie vor ist wahr: Die Finanzmarktkrise ist vor allem ein amerikanisches Problem!" (Steinbrück 2008a). Zum Zeitpunkt dieser Regierungserklärung war die Finanzkrise längst in Deutschland angekommen, waren auch die der strengen deutschen Finanzmarktaufsicht unterstehenden Finanzinstitute voll in den Strudel der Finanzkrise geraten. Nur kurze Zeit nach der Regierungserklärung musste die Bundesregierung ein massives Rettungsprogramm für den Finanzsektor auf den Weg bringen. Auch die von der Bundesregierung nun für erforderlich gehaltenen neuen Regulierungen25 richten sich nicht auf Anpassungen der Regulierungen in den USA

24 Es ist auffällig, dass die Bundesbank nach ihrer Fehleinschätzung von November 2007 im Folgejahr auf die Veröffentlichung eines Finanzstabilitätsberichts ganz verzichtet hat. 25 Unter anderen höhere Liquiditätsvorsorge, Verbot spekulativer Leerverkäufe, Selbstbehalt bei Kreditrisiken, keine Platzierung von Risiken außerhalb der Bilanz, vgl. Steinbrück (2008a).

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oder in den Offshore-Zentren allein, sondern auch auf das deutsche Finanzsystem - ein implizites Eingeständnis für das Versagen des deutschen Regulierungssystems. Die lange Zeit mangelhafte Wahrnehmung der Krise durch den Staat hat klargestellt, dass der Staat über kein im Vergleich zu den Marktakteuren überlegenes Wissen verfügt, das ihn in die Lage versetzen würde, aufkommende Finanzkrisen verlässlich zu diagnostizieren und ihnen frühzeitig entgegenzuwirken. Zwar analysieren die Notenbanken in ihren Finanzstabilitätsberichten detailliert die Finanzmärkte. 26 Liquiditätsausstattungen, Marktvolatilitäten, Ausfallwahrscheinlichkeiten, Risikoprämien, Spreads, Leverages, Marktstrukturänderungen werden ausgewertet, angereichert mit Stresstests, die die Stabilität der Finanzinstitute überprüfen sollen. Es ist im Prinzip alles vorhanden, was ein Frühwarnsystem für Finanzkrisen darstellen könnte. Tatsächlich hat die EZB im Vorfeld der Finanzkrise problematische Entwicklungen an den Finanzmärkten und im Sommer 2006 erstmals sogar „risks for euro area financial system stability" diagnostiziert.27 Doch mit der Diagnose von Risiken wird die entscheidende Frage nicht beantwortet: ob der Ausbruch einer Finanzkrise tatsächlich bevorsteht und ob staatliche Eingriffe (und welche?) zur Krisenabwehr erforderlich sind. Finanzkrisen werden erst wahrgenommen, wenn sie ausgebrochen sind. Auf die bloße Möglichkeit einer Krise hin prophylaktisch einzugreifen, birgt die Gefahr von Fehlgriffen und unterbleibt deshalb. Damit wird der Zeitpunkt für ein rechtzeitiges korrigierendes Eingreifen zur Abwehr einer Finanzkrise versäumt. Es ist letztlich diese Informationsunsicherheit, die eine wirksame Krisenvermeidung durch den Staat verhindert. Das sehen professionelle Finanzmarktregulierer nicht anders. Schon vor Ausbruch der Finanzkrise stellte die BIZ (2005, S. 148) fest: „Identifying when financial imbalances are building up, to a point likely to involve substantial macroeconomic costs, is a serious practical problem". Unter dem Eindruck der Krise resümierte der Präsident der deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht: „Da aber die Zukunft zu viele unbekannte Faktoren aufweist, gelingt es uns so gut wie nie vorherzusagen, welche Gestalt der Worst Case beim nächsten Mal annimmt" (Sanio 2008).

2. Risikobegrenzung versus Marktdynamik Dennoch: auch wenn staatliche Aufsicht über den Finanzsektor wegen der Informationsprobleme nicht perfekt funktioniert, ist es doch erforderlich, aus der Finanzkrise Konsequenzen für die Regulierung des internationalen Finanzsystems zu ziehen. Eckpunkte für eine verbesserte Regulierung werden vor allem sein: die Stärkung der Risikotragfähigkeit der Banken durch erhöhte Eigenkapitalanforderungen, die internationale Vereinheitlichung zur Vermeidung von Regulierungsarbitrage, die Schaffung von mehr

26 Oosterloo et al. (2007) geben einen Überblick über die anschwellende Zahl von Finanzstabilitätsberichten. 27 Die EZB hat in ihren Financial Stability Reviews bereits 2004 mit Bezug auf den USHypothekenmarkt das „risk from rising interest rates" (EZB 2004, S. 20 f.) herausgestellt. Die zunehmende Komplexität der Finanzprodukte würde die Risikoeinschätzung erschweren, (so etwa für den CDO Markt: „a key problem is the scarcity of empirical data on default correlation", (EZB 2008, S. 144). Die Stabilitätsrisiken für das europäische Finanzsystem werden erstmals in EZB (2006, S. 23) angesprochen.

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Transparenz im Finanzsektor, die Überarbeitung der Bewertungsregeln für Finanzaktiva.28 Das grundlegende Problem einer Finanzmarktregulierung liegt in der unauflösbaren Verbindung der Kapitalallokation mit Risiken. Regulierung ist ein Abwägungsproblem. Einerseits muss sie der Risikoanhäufung und damit der Krisenanfälligkeit des Finanzsystems entgegenwirken; andererseits darf sie die zentrale Funktion der Finanzmärkte, eine effiziente Allokation von Kapital in einer unsicheren Welt zu bewerkstelligen, nicht beeinträchtigen. Um die Allokationsfunktion des Finanzsystems zu bewahren, wird selbst eine ambitionierte staatliche Regulierung risikobehaftete Transaktionen an den Finanzmärkten nur begrenzen, nicht unterbinden. Damit verbleibt im Finanzsystem immer ein Restrisiko, ein Krisenpotential, welches zu Finanzkrisen führen kann. Der Konflikt zwischen Risikobegrenzung und Marktdynamik kann an Eigenkapital und Leveraging exemplarisch gezeigt werden: — Eigenkapital als Puffer bei Kreditausfällen stabilisiert den Finanzsektor. Von daher ist eine hohe Eigenkapitalquote (Mindestverhältnis des Eigenkapitals zu den risikogewichteten Aktiva der Bank) vorteilhaft. Doch damit wird das Kreditangebot der Banken eingeschränkt, weil Eigenkapital als Träger des Risikos im Vergleich zu Fremdkapital teuer ist. Zugleich ist ein prozyklischer Effekt zu bemängeln. Wenn die Finanzinstitute in einer Wirtschaftskrise wegen der dann schrumpfenden Eigenkapitalausstattung ihre Kreditvergabe reduzieren müssen, verstärkt das den Abschwung der Wirtschaft. Eigenkapitalquoten sollten also in Krisenzeiten temporär unterschritten werden dürfen. Das gilt freilich nicht, wenn ein Finanzinstitut aus unternehmensspezifischen Gründen und ohne dass eine allgemeine Krise vorliegt Eigenkapital verliert. In diesem Fall sind korrigierende Interventionen der Finanzaufsicht notwendig. Es ist in der Praxis schwer zu unterscheiden, inwieweit der Eigenkapitalverlust eines Finanzinstituts eine allgemeine Krise oder unternehmensspezifische Faktoren reflektiert. — Leveraging bedeutet, dass die Banken Kredite mit Fremdkapital refinanzieren, was (vorausgesetzt die Kreditzinsen übersteigen die Fremdkapitalzinsen) die Eigenkapitalrendite erhöht. Dies begünstigt das Kreditangebot, zugleich macht es aber risikoanfälliger, weil das Fremdkapital nicht als Risikopuffer zur Verfügung steht. Mit einer Vorgabe für die Leverage-Rate (Mindestverhältnis des Eigenkapitals zur Bilanzsumme der Bank, ohne Berücksichtigung von Risiken) kann der Regulierer auf die Kreditvergabe einwirken. Eine hohe Leverage-Rate wirkt stabilisierend auf das Finanzinstitut, beschränkt aber das Kreditangebot. Neben diesem Zielkonflikt besteht die Gefahr von Ineffizienz, wenn der Regulierer die Leverage-Rate und die Eigenkapitalquote nebeneinander anwendet. Nehmen die Risiken bei einer Bank ab, wäre von der Eigenkapitalquote eine Ausweitung der Kreditvergabe möglich, die jedoch

28 Die Diskussion ist in vollem Gange. Orientierungen zur Neuordnung des globalen Finanzsystems haben die G20-Staaten auf dem Weltfinanzgipfel vom 15.11.2008 getroffen. Zur Vorbereitung des G20-Gipfels in London am 2.4.2009 fand am 22.2.2009 der Berliner Gipfel statt. Dort wurden unter anderem die Aufsicht über alle Finanzmärkte, -produkte und Marktteilnehmer, Maßnahmen gegen Steueroasen, Ausweitung der Eigenkapitalpuffer der Banken gefordert. Vgl. Gipfeltreffen (2009).

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an der Leverage-Rate scheitern kann. Mit der Leverage-Rate würde der Staat die kritische Grenze zu einer quantitativen Kreditkontrolle überschreiten.29 In der Abwägung zwischen Risikobegrenzung und Aufrechterhaltung der Marktdynamik besteht unter dem Schock der Finanzkrise die Gefahr, dass die Politik zu weit in Richtung Risikovermeidung geht. Das würde die Akzeptanz der Regulierungen schwächen. Zwar sind sich die Akteure an den Finanzmärkten bewusst, dass staatliche Regulierungen unumgänglich sind, um die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems zu begrenzen. Doch stellen Regulierungen immer auch Einschränkungen dar, die der Expansion der Geschäftstätigkeit und der Etablierung innovativer Produkte entgegenwirken. Dies fuhrt zu Ausweichreaktionen, was nicht strafbare Verstöße gegen Regulierungen meint, sondern die legitime Suche nach unreglementierten Segmenten im Finanzsystem. Diese gibt es im Prinzip immer, weil der Staat ex ante nicht alle denkbaren Handlungsoptionen regulieren kann. Die Vorstellung des Berliner Gipfels vom 22.2.2009, „dass alle Finanzmärkte, Finanzprodukte und Marktteilnehmer ihren Umständen entsprechend reguliert oder überwacht werden" (Gipfeltreffen 2009) sollen, ist eine Absichtserklärung, aber keine Beschreibung des Erreichbaren. Die Suche nach unreglementierten Segmenten kann dazu fuhren, dass die Regulierung die Risikoanfalligkeit des Finanzsystems erhöht. Zwar werden im regulierten Bereich Risiken begrenzt. Doch die induzierten Ausweichoperationen können zu Aktivitäten führen, die noch mehr Risiken in sich bergen.

3. Überregulierung vermeiden Die Kunst staatlicher Regulierung in einer freiheitlich marktwirtschaftlichen Gesellschaft besteht darin, wo immer es geht, auf Regulierung zu verzichten. Regulierungen auf das Notwendige zu beschränken, liegt im Interesse von Staat und Gesellschaft, weil so das Ausufern von Kontrollkosten verhindert wird. Der Frage nach dem Wie ist also die Frage nach dem Ob von Regulierungen vorzuschalten. Ein Beispiel für Regulierungen, die besser unterbleiben, liefern die Anreizsysteme für Bankmanager. Die Politik strebt die Einbeziehung der Anreizsysteme für die Manager der Finanzinstitute in die staatliche Regulierung an. Der Bundesfinanzminister hat in der Regierungserklärung vom 25.9.2009 ausgeführt: „Es ist schizophren, wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern, ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichtigen. Das wollen wir ändern!" (Steinbrück 2008a). 30 Das deckt sich mit der in der Öffentlichkeit verbreiteten Auffassung, dass die Finanzkrise vornehmlich dem Fehlverhalten der Manager in den Finanzinstituten anzulasten ist. Die in der öffentlichen Wahrnehmung überhöhten Bonuszahlungen seien zu sehr am kurzfristigen, statt am langfristigen Geschäftserfolg orientiert,

29 Blanchard (2009, S. 20), der für einen niedrigeren Leverage im Finanzsystem votiert, lenkt den Blick vor allem auf den hohen Leverage der Wirtschaft insgesamt. Dieses Problem müsse durch Änderungen von Steuervorschriften gelöst werden. 30 Der Berliner Gipfel vom 22.2.2009 hat als Aufgabe formuliert: „die Überprüfung der Vergütungspraktiken hinsichtlich der Anreize für Risikobereitschaft und Innovation".

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hätten damit eine übermäßige Risikobereitschaft gefördert und so die Krise heraufbeschworen. Die Regulierung der Anreizsysteme erscheint gerechtfertigt, wenn am kurzfristigen Geschäftserfolg orientierte Vergütungssysteme systematisch dazu führen, dass die Finanzinstitute risikoreiche kurzfristige Geschäfte bevorzugen und das notwendigerweise höhere langfristige Ausfallwahrscheinlichkeiten verursacht und das von den Anteilseignern der Finanzinstitute billigend in Kauf genommen wird. Doch wirft das eine Reihe von Fragen auf. Zum einen wäre erst noch nachzuweisen, dass eine Orientierung am kurzfristigen Erfolg wirklich systematisch den langfristigen Misserfolg impliziert - systematisch: denn nur das und nicht der anekdotische Einzelfall rechtfertigt eine alle Finanzinstitute umfassende Regulierung. Ebenso plausibel ist die Position, dass langfristiger Erfolg eines Finanzinstituts aus einer Abfolge kurzfristiger Erfolge resultiert, ein am kurzfristigen Geschäftserfolg orientiertes Anreizsystem steht dann nicht in einer Spannung zum langfristigen Erfolg. Zum anderen ist die Abgrenzung von kurz-und langfristig zu hinterfragen. Die in der Vorphase zur Finanzkrise praktizierten Geschäftsmodelle waren über viele Jahre hinweg erfolgreich, in der Wahrnehmung der Akteure wohl schon „langfristig". Von Fehlanreizen kann dann keine Rede sein. Mit regulierenden Eingriffen in die Anreiz- und Vergütungssysteme des Finanzsektors überschreitet der Staat eine ordnungspolitische Grenzlinie. Aus gutem Grund belässt der marktwirtschaftliche Staat die Vergütung in der Tarifautonomie der Marktakteure beziehungsweise in der Verantwortung der Anteilseigner der Unternehmen. Die Vergütung im Finanzsektor zu regulieren, geschieht zwar in der guten Absicht, zur Stabilität des Finanzsystems beizutragen. In die gleiche Richtung zielt die Absicht, die Finanzinstitute dadurch zu weniger riskanten Aktivitäten zu veranlassen, dass die Manager für Fehlanlagen verstärkt haften.31 Doch der guten Absicht stehen kaum überwindbare Hemmnisse entgegen. Kernproblem ist das Risiko. Wenn der Staat mit der Regulierung der Anreizsysteme auf eine Begrenzung der Risiken zielt, muss er den Finanzinstituten justiziable Vorgaben für tragbare Risiken machen. Das wird ihm nicht gelingen. Die Finanzkrise hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es weder den Marktakteuren noch den Regulierungsbehörden noch der Regierung gelingt, die verschiedenen Arten von Risiken (Marktrisiken, Liquiditätsrisiken, Kreditrisiken) auch nur annähernd vollständig zu erfassen, adäquat zu bemessen und in ihrer Interdependenz sachgerecht zu beurteilen. Bei der Einschätzung „des Risikos" bleibt ein Unschärfebereich, der auch mit Risikomodellen nicht aufgehoben werden kann. Es ist dieser Unschärfebereich, der eine Regulierung der Anreiz- und Vergütungssysteme fragwürdig macht. So müsste der Staat bei der Regulierung von Anreizsystemen ex ante konkrete Vorgaben über die zulässigen und unzulässigen Risiken (der Art, der Häufung, der Höhe nach) machen, angesichts der Unschärfe nicht zu leisten. Die Akteure an den Finanzmärkten sind unterschiedlich risikofreudig. Der Staat müsste ex ante entscheiden, welcher Grad an Risikovorliebe noch tragbar ist. Es genügt nicht zu fordern, die Bankmanager müssten Risiken und Chancen

31 Die Bundesregierung tritt „für eine stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Finanzmarktakteure" ein (Steinbrück 2008a).

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bei den Finanztransaktionen sorgfaltiger abwägen.32 Die entscheidende Frage ist, bis zu welchem Grade sich die Manager dabei irren dürfen. Dass ein Finanzgeschäft Verluste einbringt, ist niemals auszuschließen und kann für sich keine Vergütungsabschläge oder gar Haftung begründen. Der Staat müsste in dem von ihm regulierten Anreizsystem ex ante festlegen, bis zu welchem Grad Fehlanlagen ohne Einbußen bei der Vergütung möglich sind. Setzt er die Grenzen für das zulässige Risiko niedrig, lähmt er das Finanzsystem. Setzt er die Grenze hoch, läuft die Regulierung ins Leere. Wenn der Staat wegen dieser für ihn unüberwindbaren Schwierigkeiten auf Eingriffe in die Vergütungsund Haftungssystem verzichtet, können sich trotzdem am Markt unterschiedliche Vertragsgestaltungen für die Vergütung und Haftung der Manager der Finanzinstitute herausbilden. Mit einer Regulierung der Anreizsysteme selektiv für die Finanzinstitute greift der Staat jenseits des Wettbewerbs an Märkten in die Vergütungsstruktur der Volkswirtschaft ein. Der Finanzsektor wird im Wettbewerb um Humankapital gegenüber anderen, in der Vergütung nicht regulierten Wirtschaftszweigen benachteiligt. Da Regulierungen ihrer Natur nach auf Vereinheitlichung drängen, würden differenzierte Vergütungsformen im Finanzsektor zurückgedrängt, mit negativen Auswirkungen auf die Leistungsanreize. Die staatlich regulierte Vergütung im Finanzsektor würde der Opportunität des politischen Prozesses unterworfen, in dem sich Populismus und Neidreflexe niederschlagen. Angesichts all dieser Hemmnisse wird es zu einer wirklich substantiellen staatlichen Regulierung der Anreiz- und Vergütungssystem im Finanzsektor nicht kommen. Es ist eine Sache, Maßlosigkeit in den Vergütungen des Finanzsektors (oder von Fußballspielern und Popstars) öffentlich anzuprangern. Eine andere Sache ist es, die Vergütungen zum Gegenstand staatlicher Regulierung zu machen. Der klug handelnde Staat wird davon Abstand nehmen, weil er sich damit überfordert.

4. Risiken internationaler Regulierung Mit einer internationalen Vereinheitlichung von Regulierungen werden möglicherweise neue Risiken geschaffen. Man kann aus der Finanzkrise zwar den Schluss ziehen, dass einheitlichen Regulierungen weltweite Geltung zu verschaffen sei. Da die Finanzmärkte immer stärker international vernetzt sind, können divergierende nationale Regulierungen zur Regulierungsarbitrage führen, die Finanztransaktionen tendenziell dorthin verlagert werden, wo die Regulierungsintensität am geringsten ist. Die Regulierungsarbitrage ist individuell rational, gleichwohl kann sie durch Umgehung den mit den Regulierungen angestrebten Stabilisierungseffekt unterminieren. Doch die Vereinheitlichung hat eine Schattenseite, nämlich die Homogenisierung der Finanzsysteme.33 Die internationale Angleichung der Standards im Finanzsektor fuhrt dazu, dass die nationalen Finanzsysteme homogener werden. Was an Aktivitäten im Finanzsystem erlaubt ist, was mit Sanktionen unterbunden wird und welche institutio-

32 So fordert der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Huber (2008), „dass Akteure auf dem Finanzmarkt gezwungen werden, Chancen und Risiken in gleicher Weise in ihre Überlegungen einzubeziehen". 33 Zu kritischen Beurteilung einer globalen Finanzaufsicht vgl. Burghof und Prothmann (2008, S. 705).

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nellen Ausgestaltungen zulässig sind, ist durch die Vereinheitlichung überall gleich. Homogene Systeme sind allerdings hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Schockabsorption kritisch zu beurteilen. Schocks treffen die gleichartigen Finanzinstitutionen aller Nationen gleichzeitig und in gleichem Maße, stellen sich also weltweit ein. Der Vorteil „einer hohen Vielfalt von Institutionen innerhalb eines Finanzsystems und der Existenz von sehr unterschiedlich gestalteten Finanzsystemen in fruchtbarer Konkurrenz nebeneinander" (Burghof und Prothmann 2008, S. 707) liegt nicht zuletzt darin, dass sich Schocks leichter in heterogenen, diversifizierten Strukturen absorbieren lassen, weil dann immer nur ein Teil der Struktur unmittelbar betroffen wird. Mit der angestrebten Internationalisierung der Finanzregulierung wird also der angestrebte Vorteil - Zurückdrängen unerwünschter Regulierungsarbitrage - mit einem Nachteil erkauft: der größeren Schockanfälligkeit und verstärkten Schockübertragung in einem global homogenisierten Finanzsystem. Die Neuregulierung des internationalen Finanzsystems ist allerdings nicht schnell zu erwarten. Und es ist fraglich, ob sie umfassend sein wird. Die Finanzkrise hat Regulierungslücken im internationalen Finanzsystem sichtbar gemacht. Eine Neufassung erfordert Verhandlungen auf internationaler Ebene. Dass die Industrieländer stärker als je zuvor auf den Konsens mit den Schwellenländern angewiesen sind, ist die Folge des mit der Globalisierung gewachsenen Gewichts dieser Länder. Die internationale Dimensionierung erschwert freilich die Finanzmarktregulierung. Da die Verhandlungspartner auf internationaler Ebene sehr inhomogen sind (im wirtschaftlichen Entwicklungsstand, in den politischen Systemen, in der Mentalität, in den historischen Erfahrungen), wird die Herstellung eines Konsenses schwierig. Die sich über Jahre erfolglos hinziehenden Verhandlungen im Rahmen der WTO bebildern das. Nicht nur die Heterogenität der verhandelnden Länder erschwert die Neuregulierung des Finanzsektors. Auf internationaler Ebene mag auch die grundlegende Zielrichtung der Neuregulierung thematisiert werden. Zunächst geht es um die Verringerung der Störanfälligkeit des Finanzsystems. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, dass das Finanzsystem mit der Allokation des Kapitals einen entscheidenden Beitrag zur Realisierung von Innnovationen in Wirtschaft und Gesellschaft und damit zum Erhalt und zur Steigerung der Wohlfahrt der Menschen leistet, was durch Störungen beeinträchtigt würde. Man kann das (bisherige) Finanzsystem allerdings ganz anders, viel kritischer beurteilen: dass es mit dem globalisierten Kapitalfluss zu einer Übernutzung bis hin zur Zerstörung von Ökosystemen in der Welt, auch zu Armut in Teilen der Welt fuhrt. Internationale Regulierung müsste dann anders orientiert werden, nämlich ein ökologisch optimiertes globales Finanzsystem anstreben. Wie dieses aussehen könnte, ist nicht einmal in Umrissen absehbar und kein Gegenstand rasch erzielbarer einvernehmlicher Lösungen. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass eine konsistente internationale Regulierung des Finanzsystems auf lange Zeit nicht zustande kommen wird. Die Regulierungen des internationalen Finanzsystems bleiben lückenhaft. Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar in Reaktion auf die Finanzkrise nach verbesserten Regulierungen für das Finanzsystem gesucht werden muss. Doch stößt das an Grenzen, wie Blanchard (2009, S. 20) zutreffend feststellt: "Even if and when new regulation is introduced ..., we should be under no illusion that systemic risk will be fully under control. Regulation will be imperfect at best, and always lag behind finan-

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cial innovation". Angesichts dieser Grenzen und unter Berücksichtigung der weiterhin bestehenden Möglichkeit von Versagen an den Finanzmärkten (leichtfertige Risikoanhäufung) bleibt nur der Schluss, den die BIZ (2008, S. 147) zieht: „To be realistic, there have been financial crises with significant economic costs since time immemorial, and we should not think they can ever be eliminated".

V. Abschließende Bemerkungen Mitten in einer akuten Wirtschaftskrise sind die Perspektiven für deren Überwindung häufig verdeckt. Doch die Erfahrung lehrt: in einer Krise werden Kräfte wirksam, die ihr entgegenwirken und sie letztlich überwinden. Auch aus der Finanzkrise wird eine historische Episode werden. Im kollektiven Bewusstsein wird in Erinnerung bleiben, dass die Krise eine schwere Funktionsstörung des Finanzsystems war, dass die Realwirtschaft in eine Rezession geraten ist und dass der Staat mit massiven Eingriffen dem Kollaps des Finanzsystems entgegengetreten ist. Als Menetekel der marktwirtschaftlichkapitalistischen Wirtschaftsordnung, als Anfang von deren Ende gar, wird die Finanzkrise letztlich nicht in die Geschichte eingehen. Die Marktwirtschaft war nie dadurch gekennzeichnet, dass sich der Allokationsprozess reibungslos und krisenfrei vollzieht. Entscheidend ist die Fähigkeit der Marktwirtschaft, Krisen zu überwinden und die marktwirtschaftliche Allokation zu bewahren. Neben den Marktkräften gehört zur marktwirtschaftlichen Ordnung der intervenierende und regulierende Staat, der aktiv Krisenbewältigung betreibt und institutionelle Rahmenbedingungen dort anpasst, wo sie sich nicht bewährt haben. Alles dies geschieht in dieser Krise, und es ist systemimmanent. Sorge bereiten ordnungspolitische Langzeitschäden, die nach der Überwindung der Krise bestehen bleiben können. Der staatliche Eingriff zur Stabilisierung des Finanzsystems als solcher ist ordnungspolitisch geboten, um sonst auftretenden massive Nachteile für die Bevölkerung zu vermeiden. Doch droht im Prozess der Krisenbewältigung eine Aufweichung der Budgetbeschränkung des Staates. Die verzerrenden Effekte staatlicher Eingriffe in den Finanzsektor könnten perpetuiert werden, insbesondere wenn Segmente des Finanzsektors verstaatlicht werden und es bleiben. Schließlich könnte die Neuregulierung des Finanzsystems zu stark auf Risikobegrenzung fokussiert sein mit nachteiligen Folgen für die künftige internationale Kapitalallokation Die Erwartung für die Zukunft ist, dass das Finanzsystem mit neuer Regulierung weniger krisenanfällig ist. Doch ist die Perspektive nicht, dass es keine Finanzkrisen mehr geben wird. Die Kapitalallokation bleibt unauflösbar mit Risiken verbunden. Daher kann es weiterhin zu Fehlallokationen kommen; das setzt im ungünstigen Fall krisenhafte Entwicklungen in Gang. Shiller (2008) wendet sich trotzdem gegen Pessimismus: „Spekulationsblasen und die anschließenden Krisen sind nicht das Ende der Welt. Sie sind sogar ein Zeichen für eine dynamische Wirtschaft".34 Das internationale Finanzsystem leistet mit der globalen Allokation des Kapitals einen entscheidenden Beitrag zur

34 Er fugt hinzu: „Wir stecken in der größten Finanzkrise seit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre aber in der historischen Perspektive war nicht einmal die Weltwirtschaftskrise sonderlich schlimm".

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Realisierung von Innnovationen in der Welt und damit zum Erhalt und zur Steigerung der Wohlfahrt der Menschen. Das bleibt trotz Risiken und Krisen gültig.

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Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise

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Rüdiger Pohl

Summary: Crisis resolution and future crisis prevention: lessons from the recent financial crisis The purpose of this paper is to draw some early lessons from the recent financial crisis, particularly with regard to the crisis resolution and the prevention of future crises. In order to stabilize the financial system, government activities are essential even though success is uncertain. Nevertheless, there is rising concern of possible negative side effects such as a softening of the government's budget constraint caused by government activities or distortions of competition in the financial sector. The reduction of these side effects remains a main challenge for the government. The judging of the government in the future will jointly depend on the dealing with crisis resolution and the causing or rather prevention of negative side effects. Due to the enormous output loss caused by the financial crisis, crisis prevention is gaining a high priority. However, thinking that the possibility of future financial turmoil can be eliminated by implementing new regulation frameworks is not realistic. The reason is that risk as a crisis potential is inseparably involved in financial transactions. Phenomena such as a declining risk awareness and a widespread herd instinct, which have caused the unsustainable accumulation of risks in the current crisis in the first place, will still be at work in the future. This cannot be completely suppressed by regulating the financial markets. Even a more ambitious regulation of the financial system, which is on the way as a reaction to the crisis, must give room for risk taking, otherwise it would undermine the efficiency of the allocation of capital.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

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Der Krise entkommen - das Geld privatisieren Inhalt I. Einleitung II. Das Problem des staatlichen Papiergeldes III. Schulden, Deflation und Rezession IV. Reformnotwendigkeiten Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Escaping the crisis - privatise money

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I. Einleitung Die Ursache für die sogenannte „internationale Kreditkrise", die im Sommer 2007 ihren Ausgangspunkt im amerikanischen Markt für Hypothekenkredite schlechter Bonität („Subprime") nahm und die nachfolgend das globale Finanz- und Wirtschaftssystem erfasste, wird weithin dem Versagen des Kapitalismus angelastet - also im Kern dem System, das für die uneingeschränkte Achtung der Privateigentumsrechte steht. Doch eine solche Ursachendiagnose ist falsch. Denn die allseits beklagten Missstände spiegeln das Versagen des Interventionismus wider, also des Systems des fallweisen Eingreifens des Staates in das freie Marktgeschehen. Genauer: Die Krise ist das Ergebnis der planwirtschaftlich verfassten Geldordnung, in der die staatlichen Zentralbanken das Monopol über das Geldangebot halten, das durch Bankkredite „aus dem Nichts" also ohne entsprechende Ersparnisbildung - geschaffen wird. Ob US-Dollar, Euro, Britisches Pfund oder Schweizer Franken - sie alle sind nicht einlösbares, beliebig vermehrbares, durch Bankkreditvergabe produziertes Staatsgeld. Ein solches Regime ist in der Währungsgeschichte einmalig (Friedman 1994, S. 249). Über Jahrhunderte und Kulturen hinweg war ein Sachgut wie z.B. Gold, zuweilen auch Silber und Kupfer, das frei gewählte Geld, das sich im Marktprozess, ohne staatliches Dazutun, herausgebildet hat. Insbesondere aber das Gold stieg zum „Weltgeld" auf. Erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs gingen die Staaten vom Gold ab, und dies nicht etwa, weil das Gold schlecht funktioniert hätte, sondern weil es als wertbeständiges Geld der Kriegsfinanzierung durch Inflation im Wege stand. Mit dem Ausbreiten sozialistischer Ideologien wurde nachfolgend die Rückkehr zu einem dem Staat-

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Thorsten Polleit

liehen Zugriff entzogenen Geld politisch unerwünscht. Folglich mussten auch alle (Schein)Versuche scheitern, das System des gedeckten (Gold)Geldes wiederzubeleben.1 Das System von Bretton Woods, das das internationale Währungssystem nach Ende des Zweiten Weltkriegs wiederherstellen sollte, war daher auch nur ein halbherziger Entschluss, das Geld wieder im Gold zu verankern. Mit dem endgültigen Ende der Eintauschpflicht des US-Dollar in Gold am 15. August 1971 wurden die letzten Überbleibsel des Goldgeldregimes beseitigt, und die Epoche des nicht mehr einlösbaren, durch Kredit geschaffenen staatlichen Geldes brach an.2 Es brachte zunächst in vielen Ländern hohe Inflation, in nicht wenigen Ländern gar Hyperinflation, weil Regierungen (und auch durchsetzungsstarke Interessengruppen) die Macht über die Notenpresse missbrauchten. Die überaus hohen Kosten der Geldentwertung in Form von Produktions- und Beschäftigungsverlusten und politischen Verwerfungen zwangen dann jedoch zum Umdenken: Den Regierungen wurde - ermuntert vor allem auch durch die geldtheoretischen Arbeiten von Milton Friedman (1912 - 2006) der direkte Zugriff auf die Geldmenge entzogen: Zentralbanken wurden in die politische Unabhängigkeit entlassen und auf das Ziel „Preis(niveau)stabilität" verpflichtet. Doch auch diese institutionellen Verbesserungsversuche können die Krisen verursachende Wirkung des Staatsgeldsystems nicht entschärfen.

II. Das Problem des staatlichen Papiergeldes Das Staatsgeld wird durch Kreditgewährung sprichwörtlich „aus dem Nichts" produziert und ist damit ein Fremdkörper und Störfaktor im System freier Märkte. Hier werden nämlich Güter unter Achtung des Privateigentums der Marktakteure geschaffen und zwar durch Produktion und Handel. Und dasjenige Gut, das die Geldfunktion am besten erfüllt, bildet sich im Marktsystem als das allgemein akzeptierte Tauschmittel, also Geld, heraus; ein Prozess, den Carl Menger (1840 - 1921) bereits im Jahre 1871 theoretisch aufgezeigte (ders. 2007). Freies Marktgeld ist demnach stets ein Sachgut mit intrinsischem Wert. So kann beim Blick auf die Währungsgeschichte auch nicht verwundern, dass immer wieder Edelmetalle wie Gold und Silber, aber zuweilen auch Kupfer, die Geldfunktionen am relativ besten erfüllten. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte dann Ludwig von Mises (1881 - 1973) mit seinem „Regressionstheorem" logisch auf, dass sich Geld aus

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Für eine logisch-deduktive Ableitung der historischen Entwicklung vom freien Marktgeld zum staatlich beherrschten Geldsystem siehe Rothbard (2005). Siehe auch Hoppe (1994). Anzumerken ist, dass die Historie keine Grundlage für eine abschließende Bewertung der Funktionsweise des Gold gedeckten Geldes bereithält, denn der Staat griff nur zu häufig in das Geldsystem ein (zum Beispiel, indem er die Goldeinlösepflicht der Banken willkürlich suspendierte), so dass vor allem die eigentumsrechtlichen Grundprinzipien des Goldstandards schwer verletzt wurden. Daher lassen sich auch die beobachtbaren Missstände (Geldentwertung, Wirtschafts- und Finanzkrisen) nicht dem Gold gedeckten Geld zuweisen.

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dem Gütertausch etabliert haben muss und untermauerte damit Mengers Theorie.3 Aus dem Regressionstheorem folgt zudem, dass sich in einem freien Markt ein nichteinlösbares Papiergeld (oder, im Computerzeitalter: Geld in Form von „Bites and Bytes") unmöglich etablieren kann, sondern dass dies nur durch einen staatlichen (Enteignungs)Akt möglich ist (etwa dadurch, dass die Goldeinlösungspflicht der Banken gegenüber dem Einleger aufgehoben wird). Mittlerweile ist es gängige Praxis, dass das staatliche Geld per Bankkreditvergabe geschaffen wird, ohne dass dafür eine entsprechende Ersparnisbildung vorhanden sein muss. Mises bezeichnete diese Form des Bankkredits als Zirkulationskredit - im Gegensatz zum Sachkredit, der aus der Ersparnisbildung finanziert wird. Wann immer Banken Kredite vergeben (oder Güter von Nichtbanken kaufen), emittieren sie - dank eines staatlich gewährten Privilegs - neues Geld. Und es ist das Ausweiten des Geldangebots durch Zirkulationskredite, das für die „Boom-and-Bust"-Zyklen sorgt.4 Wenn die Geldmenge per Kredit erhöht wird, wird der Marktzins künstlich unter sein „neutrales Niveau" abgesenkt.5 Das zusätzlich durch Kredit geschaffene Geldangebot gaukelt damit ein erhöhtes Sparangebot vor, obwohl sich der Teil des Einkommens der Volkswirtschaft, der für Investitionszwecke zur Verfügung steht, nicht ausgeweitet hat. Der künstlich verminderte Zins verleitet Unternehmen zu Investitionen, die ohne das Heruntermanipulieren des Zinses nicht angegangen worden wären. Die Investitionen nehmen zu, während das Sparen der Privaten sinkt, und gleichzeitig wird ein größerer Teil des Einkommens für Konsum ausgegeben. Die monetäre Nachfrage übersteigt die realen Ressourcen der Volkswirtschaft. Das führt nicht nur zu allgemein steigenden Preisen wie Löhnen, Rohstoffen und auch Vermögensbeständen (Aktien, Häuser etc.), sondern der künstlich gedrückte Zins verzerrt zudem auch die volkswirtschaftliche Produktionsstruktur. Das Heruntermanipulieren des Marktzinses führt dazu, dass die Güterproduktion zusehends kapitalintensiver wird: Immer mehr knappe Ressourcen werden in langfristigen Investitionsobjekten gebunden. Der wirtschaftliche Erfolg der neuen, durch niedrige Zinsen angestoßenen Investitionen und die dadurch entstandenen Arbeitsplätze hängen nun davon ab, dass der Marktzins auf dem künstlich verminderten Niveau verbleibt, oder dass er gar auf ein noch niedrigeres Niveau abgesenkt wird. Früher oder später passen jedoch die Privaten ihr Spar-Konsum-Verhältais, das durch die Zinsmanipulation gestört wurde, an die gewünschte Relation an. Weil dadurch der Marktzins aber ansteigt, erweisen sich die (Grenz)Investitionen als „Flop". Unternehmen kürzen Produktion und Beschäftigung, und es kommt zur Rezession. Sie ist im Grunde der notwendige Bereinigungsprozess, weil sie die Produktions- und Beschäfti-

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Mises entwickelte das „Regressionstheorem" in der ersten Ausgabe seines Buchs „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel", das im Jahr 1912 veröffentlicht wurde. Eine Erläuterung des Theorems findet sich auch z.B. in Mises (1996, S. 408-410). 4 Für eine detaillierte Erläuterung des monetären Konjunkturzyklustheorie der Österreichischen Schule siehe insbesondere Mises (1996, S. 538-586), ebenso Garrison (2004). 5 Die monetäre Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule fußt im Kern auf der Integration von drei Theorieelementen: (1) dem „Boom-Bust-Zyklus"-Modell der Currency School, (2) Knut Wicksells Differenzierung zwischen dem Marktzins und dem „natürlichen Zins" und (3) Eugen von BöhmBawerks Kapital- und Zinstheorie.

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gungsstruktur, die durch die Zinsmanipulation der Zentralbank verzerrt wurde, wieder in Einklang mit den Konsumentenwünschen bringt. So gesehen ist der Aufschwung („Boom"), angeheizt mit aus dem Nichts geschaffenem Geld, die Phase, in der Fehlinvestitionen auflaufen, und es ist der viel gescholtene Abschwung („Bust"), der die Fehlentwicklungen bereinigt. Weil die Rückkehr zum Gleichgewicht jedoch mit Rezession und Arbeitslosigkeit verbunden ist, regt sich schon bei den ersten Abschwungsanzeichen öffentlicher Widerstand gegen eine Bereinigungsrezession. Die Zentralbank wird aufgefordert - von Regierungspolitikern, Unternehmensverbänden, Gewerkschaften und keynesianisch gesinnten Ökonomen - , den drohenden Einbruch der Produktion und die damit verbundenen Arbeitsplatzverluste zu „bekämpfen". Die Geldpolitiker beugen sich früher oder später dem Druck, senken die Zinsen durch ein weiteres Ausweiten des Kredit- und Geldangebots, und das unheilvolle Spiel beginnt von neuem. Eine solche (konjunkturorientierte) Geldpolitik verhindert nicht nur, dass bereits aufgelaufene Fehlinvestitionen bereinigt und die dafür aufgenommenen Kredite zurückgezahlt werden, sondern sie setzt auch weitere Investitionen in Gang, die sich früher oder später als unrentabel erweisen. Und so taumeln die Volkswirtschaften unter dem Staatsgeldsystem, in dem Geld durch Kredit geschaffen wird, von einer Wirtschafts- und Finanzkrise zur nächsten. Die unausweichliche Bereinigungsrezession wird dabei umso schwerer ausfallen, je länger (und erfolgreicher) sie durch eine fortgesetzte Geldpolitik des niedrigen Zinses in die Zukunft verschoben wurde. Im Zuge einer solchen Geldpolitik schwellen zudem die Kreditmengen stärker an, als die volkswirtschaftlichen Einkommen zunehmen. Bei unverändertem Zins müssen die Schuldner daher einen immer höheren Anteil ihrer Einkommen für Zinszahlungen aufwenden. Um die Zinslasten zu senken, wächst daher der politische Druck auf die Zentralbank, eine Niedrigzinspolitik zu verfolgen - also noch mehr Kredit und Geld bereitzustellen. Der politische Druck für eine Niedrigzinspolitik nimmt zu, je stärker einflussreiche Gesellschaftsgruppen - insbesondere die Regierungen selbst - verschuldet sind.

III. Schulden, Deflation und Rezession In vielen Volkswirtschaften scheint aus dem jahrzehntelangen Anwachsen der Kreditschulden mittlerweile eine Überschuldungssituation entstanden zu sein. Kreditgeber haben nun die Sorge, dass Schuldner ihre Verbindlichkeiten nicht mehr wie versprochen bedienen können: Sie wollen daher fallige Kredite nicht mehr, oder wenn, dann nur zu deutlich höheren Zinsen erneuern. Gleichzeitig scheinen (Dauer-)Schuldner nicht in der Lage zu sein, ihre fallig werdenden Kredite zu tilgen oder aber höhere Zinsen auf neue (Anschlussfinanzierungs)Kredite zu zahlen. Geschäftsbanken, die sich im Zuge des Kreditbooms steigenden Kredit- und Marktrisiken ausgesetzt haben, machen (Buch)Verluste, die ihr Eigenkapital vermindern. Um dem Bankrott zu entkommen, drängen die privaten Bankeigentümer auf Korrektur der bisher verfolgten Geschäftsmodelle: Sie wollen ihr Kapital nicht mehr, oder wenn, dann nur zu erheblich höheren Kreditzinsen als bislang, den Risiken des Kreditgeschäfts aus-

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setzen und beauftragen das Bankmanagement, die Kreditvergabe einzuschränken und die Bankbilanzen von Risiken zu entlasten („De-leveraging" und „De-risking"). Werden fällige Kredite jedoch nicht mehr verlängert, sondern zur Rückzahlung gestellt, finden der Kreditboom und der von ihm finanzierte Aufschwung sein jähes Ende. Wenn nämlich Schuldner ihre Bankkredite zurückzahlen müssen, schrumpft die umlaufende Geldmenge. Dann wird Geld knapp. Käufer schränken ihre Ausgaben ein, und Umsätze und Gewinne der Unternehmen nehmen ab (trotz einer „Politik der drastischen Preisnachlässe") - und enttäuschen die Erwartungen der Investoren. Reichen die Einzahlungen aus den Investitionen nicht aus, um die Kreditschulden zu tilgen, müssen Schuldner ihr Vermögen (Häuser, Aktien, Unternehmensteile etc.) verkaufen. Das steigende Angebot drückt die Preise, und es kommt zur Deflation. Deflation - die Kontraktion der Geldmenge, verbunden mit sinkenden Preisen auf breiter Front - ist die unweigerliche Korrektur eines vorangegangenen inflationären Booms. Fehlinvestitionen werden liquidiert, und die freigesetzten Ressourcen stehen für neue Verwendungen zur Verfügung. Doch gegen eine Korrektur im Wege der Deflation regt sich Widerstand, insbesondere beim chronisch auf Pump finanzierten Umverteilungsstaat (und denjenigen, die von ihm profitieren). Denn versiegt der inflationäre Kreditstrom, laufen Staaten Gefahr, ihre Schulden nicht mehr fristgerecht bedienen zu können, weil Steuerzahler vermutlich weder in der Lage noch willens sein dürften, fallige Zins- und Tilgungszahlungen aus eigener Tasche zu zahlen. Konfrontiert mit dem Szenario einer „Bereinigungsrezession und -deflation" werden Regierungen alle Hebel in Bewegung setzen, um eine „Kreditklemme" abzuwehren. Doch vermutlich werden weder aus Steuergeldern bereitgestellte Eigenkapitalspritzen noch Garantieerklärungen der Staaten die Bankkreditvergabe wieder „ankurbeln", wenn die Eigner der Geschäftsbanken fürchten, dass ihre Kreditnehmer überschuldet sind. Wenn Banken weiter nach betriebswirtschaftlichem Kalkül agieren, dürfte eine Kontraktion des Kredit- und Geldangebots nahezu unausweichlich sein. Will der Staat Deflation verhindern, wird wohl letztlich nichts anderes übrig bleiben, als weite Teile des Bankenapparates zu verstaatlichen und die Kreditvergabe unter staatliche Direktive zu stellen. Nach einem solchen Schritt würde die Kredit- und Geldschöpfung politischen Erwägungen und nicht mehr dem Effizienzkalkül folgen; Wachstumseinbußen und Schwund der Kaufkraft des Geldes wären absehbar. Vor allem aber würde ein Kredit- und Geldsystem, in dem die disziplinierenden Anreize der privaten Bankeigentümer zu Gunsten der Staatsinteressen gänzlich ausgeschaltet sind, geradewegs in die Staats-, oder Kontroll- und Befehlswirtschaft führen: Denn es wäre der Staat allein, der bestimmt, wer wann zu welchen Konditionen Kredit erhält und somit in der Lage ist, Investitionen zu finanzieren und Arbeitsplätze zu schaffen.

IV. Reformnotwendigkeiten Die jüngste Kreditkrise stellt die Volkswirtschaften vor einen Scheideweg. Der eine Weg ist, die Fehlentwicklungen des staatlich monopolisierten Geldangebots mit immer mehr markteinschränkenden Interventionen beheben zu wollen: also auf den Interven-

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tionismus mit noch mehr Interventionismus zu antworten. Das würde die Volkswirtschaften jedoch absehbar immer tiefer in das Gestrüpp der Staatseingriffe fuhren und früher oder später die bürgerlichen und unternehmerischen Freiheitsgrade - und damit die Grundlagen für Wachstum und Wohlstand - radikal beschneiden oder gänzlich zerstören. Der andere Weg ist, das Kredit- und Geldsystem zu reformieren, um die Geldproduktion wieder in Einklang mit marktwirtschaftlichen Prinzipien zu bringen. In seiner außergewöhnlichen Voraussicht erarbeitete und verbreitete Ludwig von Mises (1881 1973) bereits in den frühen 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Vorschlag, um das entfesselte Staatsgeldsystem wieder im Gold zu verankern und auf diese Weise die Rückkehr zum freien Marktgeld zu ebnen;6 sein Schüler Murray N. Rothbard (1926 - 1995) errichtete nachfolgend eine eigene, auf Praxiserfordernisse zugeschnittene Mehrstufen-Strategie (ders. 1983, S. 263 ff.). 7 In einem ersten Schritt wären die Papiergeldmengen in einem festen Umtauschverhältnis an die Goldbestände zu binden, die noch in den Kellern der Zentralbanken lagern. Gleichzeitig erhielten die Geldhalter das Recht, ihre Guthaben jederzeit in eine entsprechende Menge Feingold umzutauschen. In einem zweiten Schritt könnte das Bankensystem privatisiert und in ein System des „Free Banking" überführt werden. Das Papiergeld würde einen Anker erhalten, die Zahlungsfähigkeit der Banken wäre gewahrt und die Marktkräfte könnten frei entscheiden, ob neben Gold auch andere Medien als Geld Verwendung finden. Ein solcher Regimewechsel würde vermutlich einen Verlust des Tauschwertes des Geldes zum Vorschein bringen. Denn eine nicht unbedeutende Goldmenge befindet sich in privaten Händen. Diese Goldbestände würden - neben dem Gold, das noch in den Zentralbankkellern lagert - Geldfunktion erlangen, möglicherweise zusätzlich auch weitere Edelmetalle. Die gesamte Geldmenge würde also durch die Umstellung (einmalig) ansteigen, und damit auch die Güterpreise. Doch die offensichtlich werdenden Verluste für die Halter des Papiergeldesgeldes und den auf in Papiergeld denominierten Zahlungsversprechen sind ohnehin bereits unwiderruflich entstanden. Wird nämlich der Weg in die Deflation gewählt, so würden Sicht-, Termin- und Spareinlagen sowie Bankschuldverschreibungen (teilweise) ausfallen, weil diese Verbindlichkeiten nicht mehr (in vollem Umfang) bedient werden könnten, und den Geldhaltern und Investoren Verluste bescheren. Sollten die Zentralbanken die Verluste der Banken durch neu gedrucktes Geld finanzieren, folgt daraus Inflation, die den Geldwert schmälert. Weiten die Regierungen die Staatsverschuldung aus, um den Konjunktureinbruch abzuwehren und die Verluste der Banken zu bezahlen, wird die offene Rechnung lediglich von der laufenden auf die künftige Generation der Steuerzahler abgewälzt. Spätestens sie werden mit der Bezahlung der Schuldenlast konfrontiert sein, deren Begleichung man heute mit Staatsverschuldung ausweichen will. 6

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Mises fügte einen solchen Vorschlag (den er im Jahre 1952 verfasste) als Teil 4 „Monetary Reconstruction" in die amerikanische Ausgabe von „The Theory of Money and Credit" aus dem Jahre 1953. Siehe Mises (1981, S. 453). Weitere Vorschläge für die Rückkehr zu einem freien Marktgeld stammen z.B. von de Soto (2006, S. 715-812) sowie Sennholz (1979 und 1985). Für eine kritische Würdigung der Vorschläge siehe Bagus (2008).

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Wie man es aber nun auch drehen und wenden mag: Mit dem staatlichen Papiergeld haben sich die Volkswirtschaften auf einen unheilvollen Pfad eingelassen, ein Pfad, auf dem sie mit immer mehr Kredit und Geld und immer niedrigeren Zinsen der unausweichlichen Bereinigungskrise zu entkommen suchen, die die Geldpolitik des unablässigen Ausweitens von Kredit und Geld zu immer niedrigeren Zinsen unausweichlich verursacht hat. Es wäre trügerisch, von den Kunstgriffen der Regierungen und ihren Zentralbanken eine Lösung fur den entstandenen Schaden zu erhoffen. Um die Kosten des Staatsgeldregimes nicht noch weiter in die Höhe zu treiben, ist also eine Reform der Geldordnung notwendig. Das Privatisieren des Geldes drängt sich mittlerweile geradezu auf.

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Zusammenfassung Die internationale Kreditkrise, die im Sommer 2007 ihren Ausgangspunkt im amerikanischen Markt für Hypothekenkredite schlechter Bonität („Subprime") nahm, ist nicht etwa ein Versagen des Kapitalismus, sondern sie spiegelt das Scheitern des Interventionismus wider, also des fallweisen Eingreifens des Staates in das System der freien Märkte. Die Krise ist im Kern das Ergebnis einer planwirtschaftlich verfassten Geldordnung, in der die staatlichen Zentralbanken das Monopol über das Geldangebot halten und in der die Geldmenge per Kredit ausgeweitet wird, ohne dass dafür entsprechende Ersparnisse zur Verfügung stehen. Das Privatisieren des Geldwesens („Free Banking") ist der Ausweg aus den immer schwerer werdenden Wirtschafts- und Finanzkrisen, die das Staatsgeldsystem hervorbringt und die letztlich die Freiheit der Gesellschaften ernstlich bedrohen.

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Thorsten Polleit

Summary: Escaping the crisis - privatise money The international credit crisis, which began in the summer of 2007 in the US market for low-rated mortgages („subprime"), is not a failure of capitalism: it gives evidence of the failure of interventionism. At its core, the crisis is the direct outcome of a plannedeconomy style monetary system in which state-owned central banks hold the money supply monopoly and increase the money stock through credit which is not backed by real savings. The privatisation of the monetary system ("free banking") is the way out of a vicious cycle of boom-and-bust, provoked by government money, which seriously threatens societal freedom.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Wilhelm

Meyer

Finanzmarktinnovationen und Finanzkrisen: Historische Perspektive* Inhalt I. Einleitung II. Vom Handelswechsel zum Call Money 1. Handelswechsel 2. Banknoten 3. Terminmärkte und Tulpenblase 4. Aktiengesellschaft und Gründungsschwindel 5. Call Money und der große Krach III. Bretton Woods und Probleme der Finanzmarktliberalisierung 1. Kontrollierte Stabilität 2. Finanzmarktliberalisierung und Immobilienkrisen IV. Finanztheoretische Revolution und Goldgräberstimmung in Amerika 1. Die Theoretiker 2. Goldgräber und ihre Produkte 3. Kleine Unfälle 4. Große Unfälle V. Verbriefung von Krediten 1. Die drei Ursachen der Finanzkrise 2. Verbriefung und Hypothekenkredit 3. Die CDOs und die Finanzkrise VI. Das Ende des Kapitalismus? Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Financial innovations and financial crisis: a historical perspective

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* Überarbeiteter Vortrag, den der Verfasser bei der Tagung der Interdisziplinären Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgruppe (ISAG) am 24.01.09 in Karlsruhe gehalten hat. Mitglieder der ISAG sind: Hans Albert, Bruno Frey, Klaus Foppa, Wilhelm Meyer, Karl-Dieter Opp, Kurt Stapf, Wolfgang Stroebe, Viktor Vanberg. Ich danke den Mitgliedern der ISAG für hilfreiche Kommentare. - Zwei anonymen Gutachtern bin ich für kritische und nützliche Hinweise dankbar.

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Wilhelm Meyer

I. Einleitung

„Not only have individual financial institutions become less vulnerable to shocks from underlying risk factors, but also the financial system as a whole has become more resilient." Allan Greenspan (2004)

„Axiom number one: Inflation depends on the growth of money. Axiom number two: Asset price bubbles depend on the growth of credit." Charles P. Kindleberger (2005)

„Credit creation has to be a regulated business." George Soros (2008)

Die These dieses Beitrags lautet: Finanzmarktinnovationen sind vermutlich eine INUS-Bedingung für Finanzkrisen.1 Ich verwende hier einen Begriff von Mackie (1974), den er im Zusammenhang mit seiner Regularitätstheorie der Kausalität entwickelt hat. Nach dieser Auffassung sind Ereignisse immer die Folge von hinreichenden Ursachenkomplexen. Diese Ursachenkomplexe sind eine Konjunktion mehrerer Faktoren, etwa: ABC. Die Faktoren A, B oder C sind einzeln keine hinreichenden Ursachen; sie sind aber fur die ursächliche Wirkung des Komplexes notwendig. So ist zum Beispiel C ein nicht hinreichender, aber notwendiger Teil eines hinreichenden, aber nicht notwendigen Bedingungskomplexes ABC für ein bestimmtes Ereignis P. Damit ist vereinbar, dass P auch durch alternative Komplexe DEF oder GHI verursacht werden kann. Finanzmarktinnovationen sind vermutlich in diesem Sinne eine Teilursache von Finanzkrisen. Ob sie für jede Finanzkrise notwendig sind, möchte ich offen lassen, ich möchte in diesem Zusammenhang also keine Gesetzmäßigkeit behaupten. Innovationen haben meist positive und negative Auswirkungen. Dieser Beitrag befasst sich nur mit den negativen Auswirkungen von Finanzmarktinnovationen. „Finanzmarktinnovationen" verstehe ich in einem sehr weiten Sinne: Sie beziehen sich auf Finanzmarktinstrumente wie Wechsel, Aktien, Anleihen, Futures, Optionen, Zertifikate, Asset Backed Securities, Credit Default Swaps und manches andere mehr, auf die Organisation von Finanzmärkten wie OTC, Börsen, Kassamärkte, Terminbörsen, und auf Geschäftsideen von Finanzhäusern wie Banken, Kapitalanlagegesellschaften, Beteiligungsgesellschaften, Hedge-Fonds. Eine Liberalisierung des Kapitalmarkts erleichtert den Zugang zu Krediten. Daraus ergeben sich Geschäftsmodelle, die als Folge der Entfesselung des Kapitalmarkts entstehen. Diese Geschäftsmodelle könnte man Quasi-Innovationen nennen: Man betreibt

1

INUS sind die Anfangsbuchstaben von: Insufficient, Non-redundant, Unnecessary und Sufficient.

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nun legal Geschäfte, die vorher verboten waren. Man muss dabei lernen, man macht Fehler, es kann zu Finanzkrisen kommen. Im Folgenden gehe ich kursorisch auf einige Finanzmarktinnovationen ein, um mei2 ne Vermutung , dass sie für Finanzkrisen kausal relevant sind, zu illustrieren.

II. Vom Handelswechsel zum Call Money 1. Handelswechsel Die kommerzielle Revolution in Europa nach dem späten 11. Jh. war begleitet von der Erfindung des Handelswechsels. Wechselähnliche Handelsinstrumente waren schon früher im 8. und 10 Jh. von den Arabern verwendet worden. Das Neue der westlichen Erfindung war die Verbriefiing einer abstrakten Schuld, die unabhängig von dem Vertragsverhältnis war, das zu ihrer Entstehung gefuhrt hat. (Berman 1991, S. 552) Der Aussteller des Wechsels (der Verkäufer der Ware) forderte eine Person (den Käufer der Ware) auf, an ihn (den Verkäufer der Ware) oder seine Order eine bestimmte Summe zu zahlen. Das Akzept des Bezogenen machte den Wechsel zu einer übertragbaren Zahlungsverpflichtung. Er wurde für die Gemeinschaft der Kaufleute praktisch Geld. Seit dem 12. Jh. entwickelten sich die Champagnemessen zur Clearingstelle für alle anderweitig eingegangenen Verbindlichkeiten. Die Messen wurden zum „Europäischen Wechseldomizil" (Pirenne 1986, S. 102.) Ein Hauptproblem für jeden Kreditgeber ist das Erfüllungsrisiko seitens des Schuldners. Da die Gemeinschaft der Kaufleute aus einem Kreis von Personen bestand, die vielfache Geschäfte miteinander tätigten, war das Erfüllungsrisiko vermutlich nicht besonders groß. Im heutigen Wechselrecht wird dem Problem des Erfüllungsrisikos durch zahlreiche Artikel Rechnung getragen. Lakonisch formuliert Art. 43 WG: „Der Inhaber kann gegen die Indossanten, den Aussteller und die anderen Wechselverpflichteten bei Verfall des Wechsels Rückgriff nehmen, wenn der Wechsel nicht bezahlt wurde." Oder, wie mein juristischer Repetitor in Köln es ausgedrückt hat: Es gilt der „Schein der Berechtigung, die formelle Legitimation", nicht die sachliche Berechtigung der Forderung. (.Kallwass 1958, S.117) Ob es in der frühen Zeit im Zusammenhang mit dem Wechsel Finanzkrisen gegeben hat, weiß ich nicht. Im 19. Jh. gibt es jedenfalls zahlreiche Vorkommnisse, die darauf hindeuten, dass der massenhafte Gebrauch von Wechseln mit Wirtschaftskrisen in Verbindung stehen kann. So endete in England die wirtschaftliche Expansion von 1852 bis 1857 mit einer Finanzkrise. Der Umlauf der Noten der Bank von England nahm im Aufschwung um 9 Millionen Pfund ab! Die Depositen bei den fünf Banken in London stiegen von 17,7 Millionen auf 40 Millionen Pfund (Giralgeld). Aber am stärksten stieg der Bestand an Handelswechseln: von 66 Millionen auf 200 Millionen Pfund: Handelswechsel wurden zum Geldsubstitut. (Kindleberger und Aliber 2005, S. 76)

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Das ist natürlich keine neue Vermutung. Kindleberger und Aliber (2005, S. 57) sprechen in diesem Zusammenhang von „displacement". Bookstaber (2007, S. 255) fragt: „Why are the markets actually becoming more crisis-prone? One answer can be found in the effects of innovation".

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Man hielt damals Handelswechsel für ungefährlich, weil der Ausweitung des Kredits durch Wechsel immer auch eine Verminderung des Kreditvolumens entsprechen müsse, sobald der Käufer der Ware - der Kreditnehmer - seine Ware verkauft und dann seine Schulden bei Fälligkeit des Wechsels beglichen haben würde. Dabei wurde zweierlei übersehen: (1) In Zeiten fallender Güterpreise reichen die Erlöse nicht immer aus, um alle Kredite zurückzahlen zu können. Das kann zu Insolvenzen von Unternehmen und Banken fuhren. (2) Handelswechsel können verdeckte Finanzwechsel sein, die zur spekulativen Finanzierung langfristiger Finanzanlagen (Gebäude, Grundstücke, Ausrüstungen, illiquide Wertpapiere) verwendet werden, um durch Verkauf dieser Finanz-Anlagen einen Gewinn zu erzielen. Fallen die Werte dieser Anlagen, dann können die präsentierten Wechsel nicht immer eingelöst werden. Das fuhrt dann zu Verkäufen der Finanzanlagen und zu weiteren Wertminderungen. Solange der Absatz floriert und solange die Werte der Finanzanlagen steigen, ist alles in scheinbar bester Ordnung. Wenn Güterpreise und Werte sinken, droht eine Finanzkrise. Die übermäßige Nutzung des Kreditinstruments, hier des Wechsels, setzt anscheinend das Aufkommen einer Hochstimmung, also die Entwicklung einer bestimmten Erwartung bezüglich der zukünftigen Geschäftslage voraus. Um 1850 waren die neuen Goldfunde in Kalifornien und Australien vermutlich der Auslöser der aufkommenden Hochstimmung. Hyman Minsky hat ein Schema vorgeschlagen, das nach Kindleberger typisch für Finanzkrisen ist: In Zeiten einer wirtschaftlichen Hochstimmung steigt die Kreditaufnahme immer stark an. Die Risiken werden nun von den Kreditgebern geringer eingeschätzt als vorher. Setzt ein wirtschaftlicher Niedergang ein, dann stagnieren oder sinken die Erlöse. Diese reichen dann nicht aus, um Zins und Tilgung leisten zu können. Immer mehr Firmen zahlen nur noch die Zinsen für aufgenommene Kredite, manche zahlen gar nichts mehr. Die Banken sind immer weniger bereit, Kredite zu verlängern oder gar neue Kredite zu vergeben. {Kindleberger und Aliber 2005, S. 73, siehe auch Chapter 2) Diese typisierte Vorstellung von Aufschwung und Krise macht deutlich, dass neue Kreditinstrumente und ihre Nutzung nicht ausreichen, um Finanzkrisen zu erklären. Es muss etwas hinzukommen, was die übermäßige Nutzung motiviert. Will man die übermäßige Nutzung des Kredits verhindern, muss man den Zugang zu Krediten allgemein erschweren.

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2. Banknoten Zu einem bedeutsamen Kreditinstrument, nämlich der Banknote, nur so viel: Banknoten waren eine Erfindung von Banken, also Unternehmen, die Goldmünzen, Goldbarren oder Silber in Verwahrung nahmen und darüber ein Zertifikat, die Banknote, ausstellten. Es ist klar, dass dadurch die Geldmenge nicht erhöht wurde. Erst als die Banken dazu übergingen, mehr Banknoten auszugeben als Gold oder Silber bei ihnen eingelegt wurde, entstand für die Kundschaft zusätzliche Kaufkraft, und für die Bank eine zusätzliche Verbindlichkeit in Form von nicht gedeckten Banknoten. Das war die Erfindung eines neuen Geschäftsmodells. Bis zur allgemeinen Etablierung dieses Geschäftsmodells scheint es lange gedauert zu haben, möglicherweise von 1650 bis 1800. (Schmoller 1904, S. 193) Adam Smith (1996, S. 244 ff.) hat die Entwicklung des Bankkredits und die Zunahme des Papiergeldes in Schottland seit etwa 1700 beschrieben. Die neuen schottischen Banken haben wie andere Banken Wechsel diskontiert und ihren Kunden unter bestimmten Bedingungen Kreditlinien (Cash accounts) eingeräumt. Die Rückzahlung der in Anspruch genommenen Kredite konnte bei schottischen Banken in Raten erfolgen, was anscheinend eine Neuerung im Bankgeschäft gewesen ist. Das alles erleichterte es den schottischen Kaufleuten, Geschäfte zu tätigen und hat anscheinend erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung Schottlands beigetragen, wie Smith feststellt. Der Wettbewerb der Banken hat dazu geführt, dass einzelne Banken eine extensive Kreditpolitik betrieben haben, wodurch übermäßig viele Banknoten ohne ausreichende Gold- und Silberreserven emittiert wurden. Die jeweiligen Inhaber dieser bankspezifischen Noten scheinen diese sobald wie möglich zur Einlösung in Gold oder Silber präsentiert zu haben, um - wie Smith vermutet - damit Auslandsgeschäfte zu betreiben. Das führte zu einem stetigen Abfluss von Gold und Silber aus den Banken. Einige Banken waren nicht in der Lage, sich kostengünstig mit der notwendigen Liquidität zu versorgen und gingen in Konkurs. Andere Banken versuchten sich damit zu behelfen, dass sie die Einlösung ihrer Noten unter Anwendung einer Optionsklausel um sechs Monate hinausschoben, was den Wert ihrer Noten gegenüber Silber- und Goldmünzen minderte. Um derartige Mängel der Geldversorgung durch konkurrierende Banken zu beheben, schlug Smith vor, dass erstens der Nennwert der Banknoten einen Mindestbetrag nicht unterschreiten dürfe (die Banknoten sollten primär dem Transaktionsbedarf der Kaufleute dienen) und dass zweitens alle Banknoten bei Vorlage bedingungslos einzulösen seien. Das würde alle Banken zwingen, „umsichtiger in ihrer Politik zu sein und sich selbst gegen jenen maliziösen Run zu schützen, zu dem die Rivalität so vieler Konkurrenten jederzeit führen kann, indem sie die Ausgabe ihrer Papiere streng nach den Reserven ausrichten." (Smith 1996, S. 271) Die einzelne Bank kann sich durch Barreserven und Guthaben bei anderen Banken gegen einen unerwarteten Abfluss von Einlagen sichern. Aber wenn alle Banken von skeptischen Kunden heimgesucht werden, reichen diese Reserven nicht aus, das System bricht zusammen. Dieser Gefahr begegnete man im 19. Jahrhundert in Großbritannien, Frankreich und Deutschland durch die Schaffung einer Zentralbank, die als letzter Kreditgeber einspringen konnte. In den USA wollten die Bundes-Staaten lange nicht auf

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das Recht verzichten, eigene Noten-Banken zu haben. Es zeigte sich, dass Länder mit Zentralbank wenige Bankpaniken hatten, während die USA ohne eine Zentralbank zahlreiche Finanzkrisen und Bankzusammenbrüche erlebt hat. (Allen und Gale 2007, S. 3 ff.) Im Zeitraum 1873 bis 1914 gab es in den USA 11 Bankkrisen, wobei sieben Krisen in eine Bankpanik mündeten. Ein Finanzsystem, das alle vier bis fünf Jahre zusammenbricht, muss reformiert werden. 1914 kam es in den USA zur Errichtung des Federal Reserve Systems. In der Zeit nach 1919 zeigte sich jedoch, dass dieses System auch nicht krisensicher war; es fehlte die Einlagenversicherung. Das wurde dann überall nachgebessert.

3. Terminmärkte und Tulpenblase Es gab im 17. Jahrhundert in Holland seltene Tulpen, die von wohlhabenden holländischen Sammlern nachgefragt wurden und für die man bereit war, einen sehr hohen Preis zu zahlen, sowohl vor als auch nach der Tulpenkrise im Februar 1637. Die Handelsobjekte der Tulpenblase waren dagegen ganz gewöhnliche Tulpenzwiebel. Auf dem Höhepunkt der Spekulationsblase sollen für gewöhnliche Tulpenzwiebel Preise erzielt worden sein, die ausgereicht hätten, eine Handwerkerfamilie 10 Jahre lang mit allem Notwendigen zu versorgen. (Bookstaber 2007, S. 174) Eine andere Quelle behauptet, dass auf dem Höhepunkt der Spekulation „eine einzige Zwiebel ohne eigentlichen Wert gegen eine neue Kutsche und zwei Grauschimmel samt Geschirr eingetauscht wird". CBraudel 1986, S. 101) Warum im Herbst 1636 in Holland plötzlich das Spekulationsfieber ausbrach, ist schwer zu sagen. Jedenfalls stieg die Nachfrage nach Tulpenzwiebeln, und es stiegen täglich die Preise, auch für gewöhnliche Tulpenzwiebel. Man kaufte die Zwiebeln pfundweise und ohne nähere Qualitätsprüfung. Als Händler traten nicht nur Personen in Erscheinung, die den Handel gewerbsmäßig betrieben, sondern breite Schichten der Bevölkerung verfielen dem Rausch: Maurer, Klempner, Krämer, Geistliche und Anwälte. Fast niemand hatte ein Interesse an der Ware als solche, fast keiner wollte die Tulpenzwiebel für seinen eigenen Garten oder für seine Tulpenzucht verwenden. Das einzige Interesse der Käufer war der Wiederverkauf und der dabei erhoffte Gewinn. Die Lebensdauer der Tulpenblase betrug etwa sechs Monate. Im Februar 1637 war alles vorbei. Es gab damals keine Bank, die den Spekulanten Kredit gewährt hätte. Aber woher hatten die Spekulanten das Geld, um immer höhere Preise bezahlen zu können? Die Ausbreitung des spekulativen Fiebers wurde durch die Organisation des Terminmarktes ermöglicht. Anders als beim Kassageschäft fallen beim Termingeschäft Vertragsabschluss und Erfüllung des Vertrages, also Lieferung und Bezahlung, zeitlich auseinander. Vor allem: Der Abschluss eines Terminvertrags ist kostenlos. Termingeschäfte machten es möglich, Zwiebeln zu verkaufen, die man nicht besaß, und Zwiebeln zu kaufen, ohne dass man über die erforderlichen Gelder verfügte. Dadurch wurden riesige Umsätze ohne Geldzahlung möglich. Als der Februar kam und es sich auf der Auktion in Harlem zeigte, dass kaum Nachfrage nach gewöhnlichen Tulpenzwiebeln vorlag, platzte die Blase.

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Der damalige Terminhandel fand in Räumen von Gasthäusern statt. Ein Sekretär notierte die Abschlüsse. Das war alles! Anders als bei heutigen Terminbörsen gab es keine Kreditabteilung, und von den Marktteilnehmern wurden keinerlei Einschüsse oder Sicherheiten verlangt. Es gab weiter keine Vorschriften der Höchstwerte für tägliche Preisbewegungen und auch keine Vorschriften für den maximalen Umfang einer Position als Verkäufer oder Käufer. Es gab keine Stelle, die die täglichen Gewinne oder Verluste der Händler erfasste, um gegebenenfalls Nachschüsse zu verlangen. Bei den sehr hohen Preisen hätten die Ein- und Nachschüsse bedeutend sein müssen. Der damalige Terminhandel enthielt keinerlei Vorkehrungen zur Ausschaltung des Erfüllungsrisikos.

4. Aktiengesellschaft und Gründungsschwindel Die Periode 1871 bis 1873 brachte dem Deutschen Reich nach dem Frankreichkrieg einen bis dahin nicht gekannten Wirtschaftsaufschwung: Im Zeitraum 1871 bis 1873 wurden insgesamt 843 Aktiengesellschaften gegründet, darunter 103 Aktienbanken, 25 Eisenbahngesellschaften, 102 Baugesellschaften und 93 Montanunternehmen. Der Aktienindex war vom Jahresbeginn 1871 bis Ende 1872 um 85 % gestiegen. Ab dem 9. Mai 1873 kam es in Wien zur Panik und Mitte Mai 1873 setzte in Berlin ein Kurssturz ein. Das war der Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs, der bis 1879 dauerte. Dieser Abschwung brachte Kursverluste von 64%. Die Kurse lagen im Mai 1877 ein Drittel unter dem Jahresdurchschnitt von 1869. Es waren 61 Banken, 4 Eisenbahngesellschaften und 115 Industriegesellschaften zusammengebrochen. Vermutlich wurde der schnelle Wirtschaftsaufschwung durch das extreme Geldmengenwachstum begünstigt. Die französischen Reparationszahlungen betrugen immerhin das l,5fache des Geldumlaufs im Jahre 1870. Der Staat hatte diese Mittel benutzt, um seine Anleihen zurückzuzahlen, die Wirtschaft wurde mit Liquidität überschüttet. Die Geldmenge stieg rapide an: 1872 um 25% und 1873 um 13%. Bis 1870 bestand für Aktiengesellschaften ein Konzessionszwang. Dieser wurde im Zuge von Maßnahmen zur Förderung der Gewerbefreiheit mit dem neuen Aktiengesetz im Juni 1870 in Preußen aufgehoben. Bereits im Frühjahr 1871 hatte es die ersten Gründungen von Aktiengesellschaften gegeben. Ab August steigerte sich die Bewegung zum Boom. Die ersten Gründungen seien betont solide gewesen, heißt es. (Kiehling 2000, S. 51 und 53) Das änderte sich im Laufe der Zeit grundlegend. Es kamen Gesellschaften an den Markt, die kaum eine Überlebenschance hatten und deren Kurse, verglichen mit dem allgemeinen Kursniveau, völlig überhöht waren. Die Finanzierung von privaten Aktiengesellschaften durch Emission von Aktien war für Preußen eine Neuheit, sowohl für die Gründer von Aktiengesellschaften wie auch für die Banken, die die Emissionen betrieben. Das Gesetz ließ es zu, dass nur 10% bis 20% auf neu emittierte Aktien eingezahlt werden musste. Die Offenlegung aller Verhältnisse der Gründungen war nicht erforderlich. So etwas wie einen Börsenprospekt gab es nicht. Im Falle der Täuschung der Öffentlichkeit und der Gläubiger über die 3

Moderne Terminbörsen können „übertriebene" Preissteigerungen wohl auch nicht verhindern, wie das Beispiel der Ölpreisentwicklung gezeigt hat. Das hat vermutlich mit den riesigen Beträgen zu tun, die Hedge-Fonds anlegen können.

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Verhältnisse der Gründer brauchten diese den Staatsanwalt nicht zu fürchten. „Breiteste Schichten der Bevölkerung, vom Hochadel bis zum Dienstmann, wurden von der Spekulationslust und Gründungslust ergriffen". Es schien, „als ob eine Epidemie entfesselter Geldgier" die Menschen befallen habe. (Treue 1978, S. 234) Auf der ersten Tagung des Vereins für Socialpolitik 1873 wurden die Thesen von Adolph Wagner (1873) diskutiert, die sich mit den Schwächen des neuen Aktiengesetzes befassten. Aber erst 11 Jahre später wurde die Erhöhung der Mindesteinzahlung gesetzlich vorgeschrieben, 1896 erfolgte eine Neufassung, die unter anderem Terminbörsen untersagte. Es gab damals erhebliche Möglichkeiten für Anleger, sich durch Kreditbeschaffung und durch Einsatz moderner Finanzinstrumente an der Börse zu betätigen. Die meisten Anleger konnten Wertpapierkredite aufnehmen. Die Beleihungsgrenzen waren mit 75% recht hoch und konnten bei allgemeiner Kurssteigerung noch ansteigen. Termingeschäfte spielten zu Beginn der Kaiserzeit anscheinend eine größere Rolle als noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Dabei standen Fixgeschäfte (Futures) und Optionen im Mittelpunkt. Wegen der großen Kredit-Hebel bei diesen Instrumenten und wegen der hohen Verschuldung vieler Anleger waren im Abschwung, also in der Baisse, Liquidationen an der Tagesordnung. Die Banken haben anscheinend die Problematik der neuen Finanzierung von Unternehmen durch Aktienemission nicht richtig eingeschätzt. Zunächst vermieden sie, mehrere Plazierungen auf einmal durchzuführen. Mit der Zeit wurden die Möglichkeiten des Scheiterns aber nicht mehr erwogen. Es kam zu Häufungen von Plazierungsflops, die die Banken zwangen, viele Aktien selbst zu übernehmen. Manche Bank ist deswegen zusammengebrochen. Ihre Wertpapiere fanden keinen Käufer, sie waren deshalb fast wertlos. Die fehlerhafte Gesetzgebung war vermutlich ursächlich für den Gründerschwindel. Ob ein adäquates Aktiengesetz die Finanzkrise, nämlich Sturz der Aktienkurse, Zusammenbruch vieler Unternehmen und Banken, lang anhaltende Rezession, vermieden hätte, ist schwer zu sagen. Der wirtschaftliche Niedergang von 1873 bis 1897 war die schwerste Rezession vor 1929. Einige Daten mögen das verdeutlichen (Nipperdey 1990, S. 284): — der Roheisenverbrauch sank zwischen 1874 und 1879 auf 52 %, — der Eisenpreis sank von 181 auf 76 Indexpunkte, — die Kohlepreise sanken von 116 auf 49, — die Großhandelspreise sanken von 118 auf 79, also um ein Drittel, — die Aktienrendite sank von 8% auf 5 %, — das Sozialprodukt schrumpfte bis 1879 nominal um 13 %, — es herrschte ein allgemeiner Preisverfall, es gab eine Deflation, — die Arbeitslosigkeit stieg. Ahnliche Symptome einer schweren Krise gibt es auch heute. Die Südseeblase von 1720 zeigt ähnliche Züge wie der Gründungsschwindel. Der Kurs der mit Monopolrechten zur Finanzierung der Staatsschuld ausgestatteten Südseegesellschaft stieg durch Betrug, Täuschung, Fehlinformation und politische Machen-

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Schäften von 120 Pfund je Aktie in kürzester Zeit auf 1 000 Pfund je Aktie. Es kam zu zahlreichen Gründungen von Joint Stock Companies. Aber „das Parlament versäumte dabei, eine allgemeine gesetzliche Grundlage für Kapitalgesellschaften zu schaffen, die Haftung der Eigentümer und Gläubiger sowie die Legalität des Handels mit Aktien eindeutig zu klären. Auch wurden keine juristischen Verfahren zur Kontrolle der Unternehmensführung vorgeschrieben, die hätten helfen können, die Anteilseigner und die Öffentlichkeit vor Betrug und Misswirtschaft bei der Gründung und der Führung von Joint Stock Companies zu schützen." (Sträfling 2000, S. 31) - Isaac Newton hatte sich an der Spekulation beteiligt und dabei ein Vermögen von 20 000 Pfund verloren: „I can calculate the motions of heavenly bodies, but not the madness of people," soll er gesagt haben. {Kindleberger und Aliber 2005, S. 47)

S. Call Money und der große Krach Der extensive Gebrauch von Krediten für Aktienkäufe hat sowohl bei der Finanzkrise in Frankreich 1881/82 als auch beim großen Krach in den USA im Oktober 1929 eine bedeutende Rolle gespielt. Die besondere Form der damaligen Aktienkredite nennt man Call money. Diese Kredite waren Ausleihungen für einen Tag, sie wurden meist jedes Mal verlängert. Kreditgeber waren Banken, Individuen und von Banken eingerichtete Fonds. Der Börsenmakler oder sein Kunde mussten 10% des Kaufwerts der Aktien aufbringen, 90% wurden auf dem Call money Markt geliehen. Diese Kredite waren eine rentable Geldanlage, solange alles gutging. Stiegen die Kurse, stieg auch der Call money Zins und lockte so mehr Anbieter auf den Markt: In Frankreich stieg der Zins für Call money von 5% Ende 1880 auf 10 % im Frühjahr 1881 und auf 12% im Herbst 1881. Im Dezember hatte der Aktienboom seinen Höhepunkt erreicht, und der Zusammenbruch der Kurse und der Banken folgte im Januar 1882. Der große Krach in Amerika zeigte ähnlich Züge: der Call money Kredit beflügelte die Nachfrage nach Aktien und bewirkte den Anstieg der Kurse. Mit steigenden Kursen erhöhten die Banken außerhalb von New York ihre Call money Kredite: von 2 Mrd. Dollar gegen Ende 1926 auf 4 Mrd. $ im Dezember 1928 und auf 6,6 Mrd. $ Anfang Oktober 1929. Danach wurden die Banken vorsichtiger. (Kindleberger und Aliber 2005, S. 81) Seit Juni 1929 fällt der Index der Industrieproduktion: von 127 Punkte auf 99 Punkte im Dezember 1929. Die Automobilproduktion fällt von März bis Dezember 1929 um 86%: von 660 000 Einheiten im März auf 92 500 Einheiten im Dezember 1929. Das war der Beginn einer Rezession. Der Beginn der Rezession war begleitet von Preissenkungen. Viele Kreditnehmer konnten deshalb ihre Kredite nicht bedienen. Als dann der Aktienmarkt im Oktober einbrach, sahen die Banken ihre Sicherheiten dahinschwinden. Sie reagierten mit drastisch reduzierter Kreditvergabe an Börsenmakler, Spekulanten und andere Kreditsucher. Die Schuldner mussten Aktien verkaufen, was die Kurse weiter drückte. Im Anschluss an den Börsenkrach stiegen zunächst die Konkurse von Unternehmen, dann nahmen auch die Bankzusammenbrüche zu: Schon im Jahre 1930 mussten 5,6 % aller amerikanischen Banken ihre Schalter schließen. Bis Ende 1933 sank die Zahl der

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selbständigen Banken auf die Hälfte. Die überlebenden Banken machten in dieser Zeit große Verluste. Die Anfälligkeit des amerikanischen Bankensystems hat mit ihrer historisch gewachsenen Struktur zu tun. Die Amerikaner misstrauten der Macht von Großbanken, und die diesem Misstrauen entsprechenden gesetzlichen Beschränkungen des Filialbankensystems sorgten für das Überleben vieler kleiner und wenig leistungsfähiger Banken. Darauf gehe ich nicht weiter ein. (Bernanke 1983, S. 259) Die Bankenkrise von 1930 bis 1933 war vermutlich die Ursache der schweren Depression der amerikanischen Wirtschaft. (Bernanke 1983) Die Banken bestanden auf Rückzahlung ihrer Kredite, erhöhten das Verhältnis ihrer Reserven zu ihren Depositen und legten ihre Mittel in rediskontierbaren Papieren an. Nur der Staat und große Unternehmen bekamen von den Banken hinreichende Mittel. Aber Landwirte, Personengesellschaften, private Haushalte und kleine Aktiengesellschaften wurden oft abgewiesen. Diese Gruppe war aber für die Finanzierung und Refinanzierung auf Bankkredit angewiesen. Ohne die Übertreibungen auf dem Aktienmarkt, also ohne den Call money Markt, wäre den USA vielleicht die schwere Depression erspart geblieben.

III. Bretton Woods und Probleme der Finanzmarktliberalisierung 1. Kontrollierte Stabilität Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine neue Weltwährungsordnung eingeführt: der Gold-Devisenstandard. Zur Vermeidung von Zahlungsbilanzkrisen wurde der Internationale Währungsfonds eingerichtet. Er vergab unter strengen Auflagen Devisen-Kredite an Länder, die ihre internationale Zahlungsfähigkeit eingebüßt hatten. Auf diese Weise wollte man die handelspolitische Kriegsführung - Abwertung der Währung und Erhöhung der Einfuhrzölle - verhindern. Das System von Bretton Woods wurde 1971 abgeschafft. Die USA hatten die Welt mit Dollars überschwemmt - Folge des Vietnamkriegs - und weigerten sich seit 1971, ihre Währung gegen Gold einzutauschen. Die Notenbanken der wichtigsten Handelsnationen weigerten sich, den wertlosen Dollar zum alten Kurs anzukaufen. So kam es zur Einführung von flexiblen Wechselkursen für die Währungen der wichtigsten Handelsnationen. Die Volatilität der Wechselkurse nahm ein ungeahntes Ausmaß an: Der Dollar stand 1972 auf 3,19 DM (Jahresdurchschnitt), er kostete im Januar 1980 1,72 DM, im März 1985 3,31 DM und im Februar 1991 1,48 DM. Aufgrund der Erfahrungen mit Bankenkrisen in der Zwischenkriegszeit gingen die nationalen Regierungen nach dem Krieg daran, die Geschäftstätigkeit ihrer Banken zu kontrollieren. Banken wurden verstaatlicht oder ihre Geschäftstätigkeit wurde strengen Regulierungen unterworfen. Für Deutschland ist hier das Kreditwesengesetz von 1961 zu nennen. Man kann grob vier währungspolitische Perioden unterscheiden: Goldstandard 1880 - 1913; Zwischenkriegszeit 1919 - 1939; Bretton Woods 1945 - 1971; Jüngste Periode 1973 - 1997.

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Ein Vergleich der Häufigkeit der Bankenkrisen in den vier Perioden zeigt: In der Bretton Woods-Periode von 1945 bis 1971 gab es praktisch keine! Bankenkrise, während in den anderen Währungsperioden zahlreiche Bankzusammenbrüche oder Bankenkrisen vorkamen mit einer durchschnittlichen Häufigkeit von 2 % pro Jahr. 4 (.Allen und Gale 2007, S. 11) In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, wie Soros (2008, S. 109) das Geschäftsklima der amerikanischen Bankenwelt zu Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts beschreibt: „Banks at the time were considerad the stodgiest of institutions. Management had been traumatized by the failures of the 1930s, and safety was the paramount consideration, overshadowing profit or growth. The structure of the industry was practically frozen by regulation. Expansion accross State lines was prohibited, and in some states even Branch banking was outlawed."

Auf den ersten Blick scheint die Stabilität des Finanzwesens mit dem Ausmaß der Regulierungen in Verbindung zu stehen.

2. Finanzmarktliberalisierung und Immobilienkrisen Bis Anfang der achtziger Jahre gab es in Japan eine weitgehende Regulierung der Wirtschaft. Die Einlagenzinsen und die Kreditzinsen der Banken waren durch Verordnungen der Regierung als Höchstzinsen festgesetzt, sie lagen unterhalb der Inflationsrate. Ausländer hatten es schwer, ihre Produkte in Japan zu verkaufen, Niederlassungen zu gründen oder einen Sitz an der japanischen Aktienbörse zu kaufen. Das ist der japanische Protektionismus. (Dazu und zum Folgenden: Kindleberger und Aliber 2005, S. 149 ff.) Auf vielfachen Druck Amerikas hin willigten die japanischen Behörden schließlich ein, den Finanzmarkt zu liberalisieren und den Amerikanern und Europäern Zutritt zu gewähren. Den japanischen Banken wurde erlaubt, den Anteil ihrer Darlehen an der Bilanzsumme für den Erwerb von Grundstücken, für gewerbliche Bauten und für Häuser beträchtlich zu vergrößern. Gleichzeitig zwang Amerika Japan, den Yen aufzuwerten. Um die nachteiligen Folgen für Japans Wirtschaft zu mildern, hat die japanische Notenbank die Geldmenge stark ausgeweitet. Die Folgen dieser Finanzmarktliberalisierung und der Geldmengenausweitung waren ein enormer Bauboom, stark steigende Grundstückspreise und stark steigende Aktienkurse. Die Grundstückspreise stiegen jährlich um 30%. Der Nikkei-Index lag 1985 bei 10 000 Punkten, vier Jahre später (1989) hatte er den Wert von 38 916 erreicht. (Allen und Gale 2007, S. 15) Die Banken hatten in ihren Büchern viele Aktienwerte und Grundstückswerte. Ihre Kredite waren überwiegend durch Grundstücke besichert. Bei steigenden Aktienkursen und Grundstückspreisen stieg somit das Kapital der Banken und sie konnten großzügig weitere Kredite gewähren. Infolge der Liberalisierung konnten sie nun auch Kunden bedienen, denen sie vorher keine Kredite gewähren durften. Etwaige Verluste bei einzelnen Geschäften blieben geringfügig, da die Werte ihre Aktiva - Aktien und Immobi4

Allerdings: Hätten die USA im 19. Jh. eine Zentralbank gehabt, hätte der Goldstandard in Bezug auf Bankenkrisen vermutlich günstiger abgeschnitten.

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lien - permanent stiegen. Solange die Grundstückspreise stiegen, solange stiegen auch die Gewinne der Grundstücksfirmen. Diese konnten neue Kredite aufnehmen und gewinnbringend anlegen. Die Gewinne durch Kapitalmarktgeschäfte waren größer als die Gewinne, die durch die Produktion von Stahl, Automobilen oder elektronischen Geräten zu erzielen waren. So nahmen die großen Industriefirmen Kredite auf, um sich auch auf dem Finanzmarkt zu betätigen. Die Firmen entwickelten ein neues Finanzinstrument: eine besondere Form der Wandelanleihe. Dabei begeben die Unternehmen Schuldverschreibungen mit sehr niedrigem Zinssatz. Der Inhaber dieser Schuldverschreibung hat das Recht, sie zu einem im Voraus festgelegten Preis gegen Aktien der Firma einzutauschen. Der Zinssatz der Schuldverschreibungen ist höher als die Aktiendividende. Für den Erwerber dieser Wandelanleihen ist der Umtausch lukrativ, solange die Aktienkurse steigen. Diese japanische Wandelanleihe ist im Grunde genommen eine Kaufoption zum Bezug von Aktien. Nach der Kapitalmarktliberalisierung beginnen sieben Großbanken mit der Errichtung von Spezialinstituten - jusen genannt - zur Vergabe von Wohnungsbaudarlehen. Diese Spezialinstitute leihen sich das Geld von diesen sieben Banken und vermitteln es weiter an Personen, die Häuser kaufen wollen. Da die Häuser mit der Zeit sehr teuer wurden, werden Hypotheken mit 100-jähriger Laufzeit entwickelt, um die Tilgungsrate erträglich zu machen. Der neue Gouverneur der Bank von Japan machte dieser Entwicklung 1989 ein Ende. Er war besorgt wegen der stark gestiegenen Hauspreise und begrenzte die Zuwachsrate der Kredite für Grundstückskäufe durch Bindung an die Gesamtkredite. Das führte Anfang 1990 zum Platzen der Blasen. In den folgenden Jahren mussten drei große Banken ihre Schalter schließen und eines der größten Wertpapierhäuser ging in Konkurs. Die Konsumgüterpreise begannen zu sinken, Japan erlebte eine Deflation und eine zehnjährige Wirtschafitsflaute. Es gab jedoch keinen Run auf die Banken durch die Bankkunden: Auch ohne Depositenversicherung war der japanische Bürger sicher, dass die Regierung für die Sicherheit seiner Einlagen sorgen würde. Das hat die Regierung auch getan. So hat sie Banken nicht geschlossen, obwohl deren zu Marktpreisen bewertete Forderungen (Mark to Market genannt) niedriger waren als ihre Verbindlichkeiten. Das war die japanische Art, die Bankverbindlichkeiten zu garantieren. Die achtziger und neunziger Jahre waren weltweit eine Periode der Deregulierung und Kapitalmarktliberalisierung. Schweden erlaubte seinen Banken, zinsgünstige Kredite im Ausland aufzunehmen. Diese Mittel wurden überwiegend zur Finanzierung von Häusern und Immobilien angelegt. Es entwickelte sich 1985 bis 1989 eine Immobilienund Aktienblase. Im Herbst 1990 wurde die Kreditvergabe durch die Politik erschwert und die Zinsen stiegen. 1991 bekamen viele Banken Schwierigkeiten, da ihre Ausleihungen durch die jetzt fallenden Werte der Immobilien besichert waren und nun an Wert verloren hatten. Es gab eine schwere Banken- und Wirtschaftskrise. {Allen und Gale 2007, S. 15) Die Regierung stellte eine Garantie für alle schwedischen Banken und gründete zwei Banken, die mit der Abwicklung der notleidenden Kredite einer Großbank beziehungsweise einer kleineren Regionalbank betraut wurden. Andere schwedische Banken gründeten ebenfalls „Bad Banks", jedoch ohne staatliche Hilfe. Die Ret-

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tung der schwedischen Banken soll den schwedischen Steuerzahler schätzungsweise 2 Prozent des BIP gekostet haben. Das war die schwedische Art, eine Bankenkrise zu überwinden. (Balzter 2009) Wenn man in diesem Zusammenhang nach einer Ursache der Krisen fragt, dann wird man nicht umhin können, die Kreditexpansion zu nennen. Sie erst hat die Spekulationsblasen auf dem Aktien- und auf dem Immobilienmarkt ermöglicht. Eine angemessene Geld und Kreditpolitik hätte diese Finanzkrisen verhindern können.

IV. Finanztheoretische Revolution und Goldgräberstimmung in Amerika Die Deregulierung des Kapitalmarkts in den USA hat in Verbindung mit einer Revolution der Finanztheorie in Amerika eine Goldgräberstimmung der Finanzmarktakteure erzeugt. Es kam zu neuen Finanzprodukten und zu neuen Geschäftsmodellen der Investmentbanken, zum stürmischen Wachstum von Investmentfonds und schließlich zu zahlreichen Gründungen von Hedge-Fonds. Der Besitz von Aktien oder Fondsdepots nahm in den USA dramatisch zu. 1982 besaßen 6 Millionen Amerikaner Fondsanteile, 1998 waren es 120 Millionen. (Shiller 2000, S. 52)

1. Die Theoretiker In den fünfziger und sechziger Jahren fangen einige amerikanische Ökonomen an, sich mit der Theorie des Kapitalmarkts zu befassen. Darunter sind: Harry Markowitz, Franco Modigliani, Merton Miller, James Tobin, William Sharpe, Fischer Black, Myron Scholes und Robert C. Merton. Alle Genannten haben später den Nobel-Preis der ökonomischen Wissenschaften erhalten. Diese Ökonomen haben ein neues Fach geschaffen. In Deutschland gab es dafür keinen eigenen Namen, weil die Probleme dieses Gebietes überwiegend von Betriebswirten behandelt wurden, im Sinne von Banken- und Börsenwesen. Heute bezeichnet man dieses Fach in Deutschland meist mit Kapitalmarkttheorie oder Finanzmarkttheorie. Im Zusammenhang mit den neuen Finanzprodukten spricht man gelegentlich auch von Finanzingenieuren, wenn man an die Erfinder der Produkte denkt, Produkte, die nicht nur Laien des Bankgeschäfts kaum verstehen. Selbst George Soros (2008, S. 121) traut sich nicht, die neuesten Instrumente zur Mehrung seines Fondsvermögens einzusetzen. Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts spielten die neuen Theorien der Finanzmarktökonomen für die Praxis des Börsengeschäfts kaum eine Rolle. Das änderte sich mit dem Aufkommen der modernen Rechner und den Arbeiten von Black, Scholes und Merton. Die Revolutionäre der Finanzmarktökonomie hatten es damals in Amerika nicht leicht. Die gängigen wissenschaftlichen Zeitschriften wollten ihre Aufsätze meist nicht veröffentlichen. So ging es auch Black und Scholes. Das Journal of Political Economy lehnte 1970 den eingereichten Artikel: A Theoretical Valuation Formula for Options, Warrants, and Other Securities ab, auch Harvards Review of Economics and Statistics lehnte ab. Keine der beiden Zeitschriften hat den Aufsatz zur Begutachtung weitergegeben. Erst nachdem Eugine Fama und Merton Miller, zwei Chicago-Professoren, ein

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gutes Wort für Black und Scholes bei dem JPE eingelegt hatten, wurde der Artikel im Mai 1972 angenommen und im Mai / Juni 1973 veröffentlicht. (Bernstein 2005, S. 220 f.) Neben Black, Scholes und Merton ist heute William Sharpe der bekannteste Finanzmarkt-Theoretiker. Auf ihn geht das CAPM zurück. Der Titel seines bahnbrechenden Aufsatzes lautet: Capital Asset Prices: A Theory of Market Equilibrium Under Conditions of Risk (1964). Die Grundidee besteht in der Hypothese, dass die Renditen einzelner Aktien vom Marktrisiko aller Aktien und von firmenspezifischen Faktoren abhängen. Das Marktrisiko kommt in der Rendite des Marktportfolios zum Ausdruck. Der Parameter BETA erfasst den Zusammenhang zwischen individueller Rendite einer Aktie und der erwarteten Marktrendite aller Aktien. Die Kapitalkosten einer Aktiengesellschaft orientieren sich heute anscheinend an dem CAPM. (Zum CAPM siehe Spreman und Gantenbein 2005, S. 183 ff.) Jedem Börsianer und jedem Wertpapierberater einer deutschen Bank ist heute die Sharpe Ratio bekannt. Diese Kennzahl misst die Rendite einer Geldanlage an der Volatilität, mit der die Rendite erzielt wurde. Je größer die Kennzahl, desto besser war die Wertentwicklung im Vergleich zu einer risikolosen Anlage. Die Sharpe Ratio ermöglicht somit auch einen Vergleich zweier Fonds, von denen der eine zwar etwas schwächer in der Rendite, aber auch weniger schwankungsanfällig war.

2. Goldgräber und ihre Produkte Bis Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war Investmentbanking eher eine Angelegenheit für eine elitäre Bruderschaft. Diesem Geschäft fehlten Risiko, Kapital und Phantasie. Morgan Stanley, eine der vornehmsten Firmen, hatte nur 30 Partner und weniger als 20 Millionen Dollar Kapital. Man beriet Firmenkunden bei Fusionen und Übernahmen und brachte bei Aktienemissionen die Aktien der Firmenkunden unter, indem man sie an weniger renommierte Geldhäuser weitergab, die das mühsame Geschäft des Vertriebs besorgten. Bei den Fusionen und Übernahmen hatte man es meist mit alten Verbindungen aus der Schulzeit zu tun oder mit Mitgliedern des Country Clubs. (Bookstaber 2007, S. 33) Mitte der siebziger Jahre kam die erste Herausforderung an die alte Ordnung im Investmentbanking. Solomon war es leid, nur die mühsame Arbeit des Vertriebs zu übernehmen. Sie wollten auch direkt am lukrativen Geschäft mit der Emission von Wertpapieren beteiligt werden und nahmen den etablierten Häusern Kunden und Geschäft ab. Im Gegenzug drängten die „feinen" Häuser in das Geschäft des Handels mit Wertpapieren, vor allem mit Staatsanleihen. Nachdem sie dort einen Fuß in die Türe gesetzt hatten, drängten sie auch in den riskanteren Markt für Unternehmensanleihen. Gute Händler und rührige Vertriebsorganisationen, genaue Kenntnisse der Kundenwünsche, der Besitzer und potentiellen Käufer von Wertpapieren wurden wichtige Elemente im Wettbewerb. Der Ankauf und Weiterverkauf von Anleihen konnte in kürzester Zeit große Erlöse erzielen. So erzielte man beim Verkauf von Anleihen im Wert von 100 Millionen Dollar 250 000 Dollar Provision, und das, indem man nur einige Telefonate tätigt, heißt es. (Bookstaber 2007, S. 34)

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Ausgelöst wurde dies alles vermutlich durch die gewaltige Zunahme der Fusionen und Übernahmen, die durch Kreditaufnahme - auch durch Emission von Junk Bonds oder High Yield Bonds - finanziert wurden.5 Beflügelt und getrieben wurde das Geschäft der Investmentbanken durch den Wettbewerb mit immer neuen Finanzprodukten in der Form von Swaps, Derivaten und Hypotheken. Die Banken stellten Mathematiker und Physiker ein und leasten Supercomputer, um die Eigenschaften ihrer neuen Produkte zu verstehen. Jede Welle neuer Produkte brachte neue Gewinne und schwemmte die alten Produkte vom Markt. Die Inflation der neuen Produkte hatte mehrere Konsequenzen: — die Finanzingenieure hatten keine Zeit, die Eigenschaften ihrer Erzeugnisse sorgfältig zu testen, — das Vertriebspersonal konnte die Kunden nicht hinreichend informieren, — Auf- und Abbau der Handelspositionen der Positionshändler in den Wertpapierhäusern konnten von der bankinternen Kontrolle und der Innenrevision nicht zeitgerecht überwacht werden, — die Händler konnten bei Bedarf die Buch- und Wirtschaftsprüfer täuschen, — die staatliche Aufsicht begriff die Lage meistens erst, wenn es zu spät war. In einer solchen Lage muss es zu Finanzkrisen kommen: zu kleineren oder größeren.

3. Kleine Unfälle (1) 1992 hatte die „Metallgesellschaft Refining and Marketing" (MGRM), eine Tochter der Metallgesellschaft in Frankfurt, versucht, durch Festpreiskontrakte mit Laufzeiten bis zu 10 Jahren das Ölpreisrisiko für Verarbeiter von Ölprodukten zu übernehmen. Die Strategie wurde abgesichert durch kurzfristige Energiefutures (das sind an der Terminbörse gehandelte Terminkontrakte). Fällt der Ölpreis, dann verlieren die Energiefutures an Wert, und es müssen Nachschüsse geleistet werden. Gleichzeitig steigt aber der Wert der Fixpreiskontrakte (der Lieferverpflichtung zum Festpreis), da die Lieferung durch Bezug am Kassamarkt dann billiger wird. Gewinne aus dem Ölgeschäft stellen sich erst nach Lieferung des Öls ein (nach Ablauf der Verfallzeit des Vertrags), aber Verluste aus der Absicherung mit Futures müssen sofort beglichen werden. Im Herbst 1993 fielen die Ölpreise und die Firma sah sich einer Cash-flow Krise von 100 Millionen Dollar gegenüber. Die Muttergesellschaft half aus, beschloss aber gleichzeitig, die gesamten Finanzkontrakte aufzulösen, um die Ungewissheit weiterer Verluste

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Das Geschäft mit den High Yield Bonds, das sind Unternehmensanleihen mit geringer Schuldnerbonität, durch die zweitklassige Investmentbank Drexel Burnham Lambert spielt hier eine unrühmliche Rolle. Das Geschäftsmodell dieser Bank bestand in der skrupellosen Ausnutzung der staatlichen Absicherung der Depositen von Genossenschaftsbanken und Sparkassen. Diese übernahmen High Yield Bonds von konkursnahen Firmen. Diese Firmen wiederum waren von Freunden der Investmenbank Drexel Burnham Lambert gekauft worden (MBO). Machte der Emittent der High Yield Bonds Konkurs, macht nichts, denn man hatte ja nur mit geliehenem Geld gearbeitet. Machten die Sparkassen, Versicherungen und Genossenschaften Konkurs: macht nichts, denn der Staat sprang dann ein, mit mehreren 10 Milliarden Dollar. Siehe: Kindleberger und Aliber 2005, S. 74.

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auszuräumen. Die gesamte Aktion kostete der Metallgesellschaft in Frankfurt eine Milliarde Dollar. {Bookstaber, S. 37 f.) (2) Anfang der neunziger Jahre hatte der Kämmerer von Orange County in Kalifornien eine gute Idee, wie seine Gemeinde Geld sparen könnte, und zwar mit Hilfe von Freunden bei der Investmenbank Merrill Lynch. Er borgte sich kurzfristig Geld bei Merrill Lynch und legte es mittelfristig in Wertpapieren von Merrill Lynch an. Die Strategie benutzte das ökonomische Quasigesetz, wonach die kurzfristigen Zinssätze unter den mittelfristigen Zinssätzen liegen. Das funktionierte auch, und der Fonds des Kämmerers nahm an Wert zu - bis zum Februar 1994. Die Fed begann 1994 damit, die Zinsen zu erhöhen, und die Fristenstruktur der Zinssätze kehrte sich um: die Kurzfristzinsen lagen über den Mittelfristzinsen. Der Fonds des Kämmerers verlor dramatisch an Wert, etwa 1,7 Mrd. Dollar, der Landkreis war zahlungsunfähig und strengte einen Prozess gegen Merrill Lynch an: Die Bank habe den Landkreis in ein Geschäft mit hochriskanten Wertpapieren verwickelt. Merrill Lynch war bereit, 400 Millionen Dollar zu zahlen. {Bookstaber 2007, S. 38) (3) Nick Leeson war ein unauffälliger Angestellter der Barring Bank in Singapur. Über mehr als zwei Jahre konnte er ohne Kontrolle durch ein Back-office Derivate handeln und dabei große offene Positionen halten. Im Juni 1992 unterlief ihm ein Fehler, der zu einem Verlust von 60 000 Dollar führte, eigentlich kein großes Problem. Er wollte das Ganze als Fehlbuchung vertuschen und später nach entsprechenden Gewinnen wieder geraderücken. Das gelang ihm aber nicht, vielmehr wurden die Verluste seiner Position immer größer. Er hatte schließlich gleichlaufende Puts und Calls (Verkaufsund Kaufoptionen) auf den Nikkei 225 Index verkauft. Diese Options-Strategie - ShortStraddle genannt - verspricht Gewinne durch die Verkaufsprämien, solange der Kurs des Basiswerts - hier des Nikkei 225 Indexes - nicht stark um den Ausübungspreis der Optionen schwankt. Zu seinem Pech gab es ein schweres Erdbeben in Kobe. Darauf fiel der Nikkei Index: am Tag des Bebens um 300 Punkte, am nächsten Tag um 1 000 Punkte und am folgenden Tag um mehr als 1 000 Punkte. Derartige Kursänderungen führen bei einem Short-Straddle zu riesigen Verlusten, da der Stillhalter des Puts (das ist der Verkäufer der Verkaufsoption) verpflichtet ist, den ihm angebotenen Index zu dem viel höheren Ausübungspreis des Puts zu übernehmen bzw. den erforderlichen Barausgleich zu leisten. Im Februar 1995 war Barring, das älteste britische Bankhaus, konkurs. Leeson hatte der Bank einen Verlust von einer Milliarde Dollar beschert, und keiner hatte etwas bemerkt. (Bookstaber 2007, S. 39, Kindleberger un&Aliber 2005, S. 168 f.) (4) Joe Jett, ein MIT Chemieingenieur mit einem MBA von der Harvard Business School, war zunächst ein wenig erfolgreicher Händler bei Morgan Stanley und dann bei First Boston. Im Juli 1991 begann er als Positionshändler bei Kidder, der Investmentbank von General Electric. Zunächst war Jett auch hier wenig erfolgreich und erhielt negative Bewertungen als Händler. Nach kurzer Zeit aber stieg seine Beurteilung von „eher schlecht" auf „herausragend". Seine Vorgesetzten nannten ihn bald einen der bes-

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ten STRIPS-Händler der Firma.6 1992 wurde er wieder gelobt, denn der Handel mit STRIPS hatte einen Gewinn von 32 Millionen Dollar eingebracht. Jett wurde befördert und bekam einen Bonus von 2,1 Millionen Dollar. 1994 war ein weiterer Rekord zu vermelden: Im Zeitraum von September 1993 bis März 1994 machte die STRIPSAbteilung unter Jett einen Gewinn von 150 Millionen Dollar. Jett wurde mit einem Bonus von 9,3 Millionen Dollar belohnt und erhielt den schönen Titel: Kidder's Mann des Jahres. Sein Vorgesetzter war stolz auf seine Abteilung und verlangte einen Bonus von 20 Millionen Dollar. Jett wurde immer wieder gefragt, mit welcher Strategie er so erfolgreich das STRIPS-Geschäft betrieb. Die Antworten waren barsch und vage. Schließlich wurde sein Vorgesetzter argwöhnisch: Wo so hohe Gewinne anfielen, da musste es ein großes Risiko geben. Die angeordnete Untersuchung brauchte nicht lange, um zu entdecken: das „System Jett" war nichts anderes als ein geschickt getarnter Phantomhandel auf der Basis eines Pyramidenschemas. Jett wurde gefeuert, General Electric übernahm den angerichteten Schaden in Höhe von 350 Millionen Dollar und verkaufte seine Investmentbank für 600 Millionen Dollar. (Bookstaber 2007, S. 39 f.) Was zeigen diese kleineren Unfälle? Für alle Nichtbeteiligen sind es eher anekdotische Begebenheiten, die bestenfalls Schmunzeln oder Verwunderung hervorrufen, aber keinesfalls zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen Anlass geben können. Es sind jedoch die Summen, um die es bei den kleineren Unfällen geht. Sie werfen ein Licht auf die großen Risiken, die mit den neuen Finanzprodukten und den neuen Geschäftsmodellen für den engen Kreis der Betroffenen verbunden sind. Darüber hinaus sind es Fälle für die Reorganisation von Geschäftsabläufen und für eine diese Risiken adäquat berücksichtigende Rechtsprechung.

4. Große UnfäUe Portfolio Insurance. Im Jahre 1981 gründeten zwei Berkeley Professoren für Finance zusammen mit dem Vertriebs- und Marketingfachmann O'Brien die Leland-O'BrienRubinstein Partnerschaft, kurz LOR genannt. Zweck dieser Partnerschaft war die Vermarktung einer neuen Finanzstrategie, die die beiden Finance-Professoren auf der Basis der Optionspreistheorie von Fischer Black, Myron Scholes und Robert C. Merton entwickelt hatten. Die neue Strategie sollte der Absicherung von großen Vermögen gegen Wertverluste dienen, sie heißt: Portfolio Insurance. Man rechnete sich einen großen Bedarf nach dem Produkt aus, da es viele Institutionen wie Pensionsfonds und andere gab, die schon von Gesetzes wegen auf Sicherung des Wertes ihrer Anlagen bemüht sein mussten. Im Sommer 1987 hatte sich der Dow Jones Index seit 1982 etwa verdreifacht. Wegen der mehljährigen Kurssteigerungen hatten viele Vermögensverwalter Aktien in ihren Portfolios übermäßig gewichtet. Diese Werte wollte man absichern. So fand LOR schnell Kunden. 6

STRIPS bedeutet: Separate Trading of registered interest and principal securities; man trennt den Zinsschein vom Mantel des Wertpapiers. Beide Bestandteile der Zahlungsverpflichtungen des Anleiheschuldners können getrennt gehandelt werden.

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Am Beginn eines jeden Tages übermittelte LOR seinen Kunden Anweisungen, was sie tun sollten, um ihr Portfolio gemäß dem Black-Scholes Modell gegen Wertverlust bestmöglich abzusichern; die Maßnahmen selbst wurden von den Vermögensverwaltern der Kunden ausgeführt. Für ihren Rat erhielt LOR je 1 Milliarde abzusicherndes Vermögen eine Jahresgebühr von 1,5 Millionen Dollar. In kurzer Zeit hatte LOR viele Kunden - und viele Konkurrenten. Im Jahre 1987 wurden mehr als 60 Mrd. Dollar mit der Technik abgesichert. (.Bookstaber 2007, S. 10; siehe auch Bernstein 2005, S. 282 f.) Im Prinzip ist die Technik einfach: Bei fallenden Aktienkursen sind Aktien zu verkaufen und der Erlös in Geldmarktpapieren anzulegen, die Zinserträge bringen. Steigen die Aktienkurse, dann verkauft man Geldmarktpapiere und investiert den Erlös in Aktien. Das ist ein dynamischer Hedge. Das Problem für große Portfolios sind: Auswahl, Zeitpunkt, Umfang und Kosten der Käufe und Verkäufe. Mit Hilfe der Optionspreistheorie lassen sich die Kosten der Strategie berechnen. Die notwendige Überwachung und Auswertung der Entscheidungskriterien sowie die reaktionsschnelle Auftragsausführung machen den Gebrauch von Computern und programmierter Strategiendurchführung erforderlich. Das heißt: die Strategie der Portfolio Versicherung mündet in den sogenannten Programmhandel. (Uszczapowski 1993, S. 246) Wenn viele Vermögensverwalter ihre sehr großen Portfolios wie beschrieben absichern, dann muss ein allgemeiner Kursverlust einen sehr großen Druck auf die Kurse der Aktien ausüben. Das ereignete sich Mitte Oktober 1987. Im Jahre 1987 war der Dow Jones Index bis Ende August um 40 % gestiegen. In der Woche vor dem 19. Oktober 1987 fiel der Index an zwei Tagen um 4 %: am Mittwoch waren es 95 Punkte, am Freitag waren es mehr als 100 Punkte, und am Abend des 19. Oktober, am schwarzen Montag, war der Dow Jones erstmals in seiner Geschichte an einem Tag um mehr als 22 % gefallen. Dieser Kurssturz war nicht auf die USA beschränkt, er war weltweit. Eine Untersuchungskommission des Präsidenten unter Leitung des späteren Finanzministers Brady kam zu dem Ergebnis, der Kurssturz am 19. Oktober sei die Folge der Konzentration der Verkaufsaufträge auf wenige Institutionen gewesen. Die vier größten Verkäufer an der Aktienbörse in New York waren für 14 % aller Verkaufsaufträge verantwortlich; 20 % aller Verkäufe entfielen auf nur 15 Verkäufer. {Bernstein 2005, S. 288) Um ein extremes Beispiel der Arbeitsweise der Portfolio Insurance Strategie zu geben: Ein Kunde hatte in der Woche vor dem Crash von Mittwoch bis Freitag alle Anweisungen seines Ratgebers befolgt. Über das Wochenende wurde der Kunde von seinem Berater auf der Basis der Schlusskurse am Freitag informiert, er müsse 70% seiner übrigen Aktien verkaufen, um den Parametern des Versicherungsmodells zu entsprechen. - Das ist ein extremes Beispiel. Das typische Modell schrieb vor, bei einer 10%igen Kurssenkung 20% des Aktienbestandes zu verkaufen. (Bernstein 2005, S. 289) Der Crash der Aktienkurse war gewaltig: Insgesamt verlor der Aktienmarkt an diesem Montag 500 Mrd. Dollar an Wert. Ungezählte Investoren waren ruiniert. Allerdings dauerte der Absturz nicht lange. Allan Greenspan war seit August 1987 Chef der amerikanischen Notenbank. Schon am Dienstag, also einen Tag nach dem Crash, machte er durch eine knappe Mitteilung dem Spektakel ein Ende: Er versicherte, die Fed werde

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das Finanzsystem und die Wirtschaft insgesamt mit Liquidität versorgen. Der damalige Chef der Federal Reserve Bank in New York, Gerald Corrigan, verpflichtete noch am selben Tag in persönlichen Gesprächen die Spitzen der großen Banken und Maklerhäuser, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und verschaffte ihnen durch Ankäufe von Staatsanleihen in Milliardenhöhe die nötige Liquidität. Am Mittwoch stabilisierte sich der Markt. LTCM. John Meriwether galt als der beste Bondhändler. Bis 1994 arbeitete er für die Investmenbank Solomon Brothers. Aufgrund einer Unlauterkeit einer seiner Mitarbeiter beim Handel mit US-Staatsanleihen musste er Solomon Brothers verlassen. Er gründete einen Hedge Fonds: Long-Term Capital Management genannt. Das Management des Fonds sollte nur in Händen von Könnern der Materie liegen, also zum Beispiel von Leuten, die am MIT unter Samuelson, Scholes, Merton oder in Harvard die quantitativen Methoden des Finanzmarktgeschäfts studiert hatten und promoviert worden waren. Als Partner hatte er David Mullins gewonnen, den früheren Vizepräsidenten des Federal Reserve Board. Etwas später wurden Scholes und Merton ebenfalls Partner von LTCM. Mit den fachlich hochkarätigen Partnern gelang es Meriwether auf Anhieb 1,3 Mrd. Dollar Geld für seinen Fonds einzusammeln. Später verfügte der Fonds über 5 Mrd. Dollar Eigenkapital und 125 Mrd. Dollar Fremdmittel (ein riesiger Kredithebel). In den ersten beiden Jahren war der Fonds außergewöhnlich erfolgreich. Seine Investoren erzielten mit ihren Anteilen zunächst eine Rendite von 27 %, dann 1995 und 1996 Renditen von mehr als 40 %. Das Jahr 1997 war nicht so gut, der Fonds erwirtschaftete nur 27 %. Mit dem Ausbruch der Rußlandkrise im Sommer 1998 kam das schnelle Ende. Um eine systemische Finanzkrise durch Notverkäufe von LTCM Positionen abzuwenden, organisierte die Federal Reserve Bank von New York die Rettung des Fonds: die 14 großen Gläubiger stellten 3,6 Mrd. Dollar zur Verfügung, übernahmen 90% des Eigenkapitals und damit das Management von LTCM. {Allen und Gale 2007, S. 17) Unter den Großgläubigern waren: Merrill Lynch, J.P. Morgan, Chase Manhatten und die schweizerische Großbank UBS. Manche dieser großen Geldhäuser gibt es schon nicht mehr. Was war das Besondere, das Neue bei LTCM? Nach Bookstaber (2007, S. 101) war das die Relative Wert Strategie in Verbindung mit der Anlage riesiger Mittel: Man sucht systematisch und aufgrund von Zeitreihenanalysen nach Finanzinstrumenten, die gleich hohe Erträge versprechen, aber vom Markt nicht gleich bewertet werden. Man glaubt, dass der Markt im Zeitablauf seinen Fehler korrigiert, der Markt also informationseffizient ist. So verkauft man leer die (geborgten) Wertpapiere mit dem etwas höheren Preis und kauft gleichzeitig die Papiere mit dem zu niedrigen Preis. Die Gewinnmöglichkeiten sind bei dieser Strategie ziemlich sicher, aber sehr gering. Der Preisunterschied beträgt gewöhnlich höchstens 0,2 bis 0,3 Prozent. Bei einem Einsatz von 1 Mrd. Dollar erzielt man einen Gewinn von 2 bis 3 Millionen Dollar. Wenn man seinen Geldgebern eine Rendite von 30% oder mehr verspricht, muss man einen sehr großen Hebel einsetzen, das heißt man muss Fremdmittel zu Eigenmitteln im Verhältnis von 50 zu eins oder gar 100 zu eins verwenden. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin, dass man die allgemeine Richtung des Marktes nicht zu kennen braucht, es kommt ja nur auf die relative Bewertung der Papiere an. Aber die Strategie in der von LTCM verwendeten Form hat auch Risiken {Bookstaber 2007, S. 101 f.):

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(1) Sehr große Vermögenspositionen lassen sich nicht leicht liquidieren. Marktunvollkommenheiten mit gewinnbringenden Preisunterschieden gibt es eher in neuen Märkten, etwa den Kapitalmärkten von Schwellenländern. Aber diese Märkte sind meist nicht sehr liquide. (2) Der Markt mag die zu niedrige Bewertung des gekauften Papiers korrigieren, aber der Manager weiß nicht, wie lange das dauert, und er muss solange seine Positionen behalten. Die auslösende Ursache für den Untergang von LTCM war vermutlich eine Fehleinschätzung der Lage in Russland im Sommer 1998 durch Victor Haghani in Verbindimg mit einer Entscheidung von Meriwether ein Jahr früher. Haghani war Partner bei LTCM, er glaubte seinen Informanten und vertraute auf seine russischen Kontakte. Entgegen dem Markttrend für russische Anleihen - die Kurse sanken - kaufte er für viele hundert Millionen weiter kurzfristige russische Papiere, die aber schließlich wertlos wurden. (Bookstaber 2007, S. 102 ff.) Meriwether hatte ein Jahr zuvor (1997) 2,7 Mrd. Dollar an seine Investoren zurückgegeben, um seinem Eigenkapital durch die Tätigkeit des Fonds größere Gewinne zuführen zu können. Die 2,7 Mrd. Dollar fehlten in der Krise. (Allen und Gale 2007, S. 17) UBS und Preferrence Shares. Das Ende von LTCM führte viele Banken in Schwierigkeiten, auch die schweizerische UBS. Zu den großen Verlusten durch LTCM kamen noch Verluste wegen eines Engagements in Japan. Schließlich wurde die UBS von der kleineren Swiss Bank übernommen. Der Fall der UBS ist auf eine Finanzinnovation der Japaner zurückzuführen, deren Tücke die UBS anscheinend nicht rechtzeitig erkannt hatte. Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts brauchten die japanischen Banken Geld. Der schwache Kapitalmarkt hatte ihr Eigenkapital dezimiert. Da erfanden sie ein neues Finanzinstrument: eine Wandelanleihe besonderer Form. Sie nannten sie Preference shares. Mit unseren Vorzugsaktien haben sie nur den Namen gemein. Wie gewöhnliche Wandelanleihen konnten sie in Aktien eingetauscht werden. Allerdings zu einem im Voraus festgesetzten Zeitpunkt. Der Vorteil für den Anleger ergibt sich aus einer weiteren Bedingung: Dem Inhaber der Wandelanleihe wurde bei Fälligkeit eine bestimmte Anzahl an Aktien zum Tausch dargereicht. Hatte sich der Aktienkurs inzwischen verdoppelt, so bekam der Berechtigte die halbe Anzahl an Aktien, war der Kurs um die Hälfte gefallen, so erhielt er die doppelte Anzahl. Das bedeutet: Die Rückzahlung der Anleihe in Aktien war dem Wert nach immer dem Wert der Wandelanleihe zu ihrem ursprünglichen Kaufpreis in Yen gleich. Man hatte also mit den Preference shares eine wertstabile An7 läge in Yen gewählt.

7 Die japanischen Preference shares (Wandelanleihen) unterscheiden sich von den Bankprodukten, die man Aktienanleihen nennt. (1) Die Preference shares sind ein Finanzierungs-Instrument für Aktiengesellschaften, die Aktienanleihen sind dagegen ein von Banken emittiertes Produkt zur Geldanlage von Privatkunden. (2) Aktienanleihen sind Inhaberschuldverschreibungen, bei denen die Emittentin (die Bank) bei Fälligkeit der Schuldverschreibung das Recht hat, die Anleihe in Geld oder in Aktien einer bestimmten Firma zurückzuzahlen. Für das Risiko, bei Fälligkeit eventuell weniger als den Nennwert der Anleihe zu bekommen, erhält der Anleger einen Kupon, der erheblich über dem Marktniveau liegt. Die Rückzahlung der Anleihe in Aktien setzt voraus, dass der betreffende Aktienkurs bei Fälligkeit der Anleihe einen bestimmten Kurswert unterschritten hat. Das Ganze ist also eine implizite Put

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Die Konstrukteure der Preference shares hatten bedacht, dass ein starker Fall des Aktienkurses automatisch zu einer so großen Zunahme der Aktien führen könnte, dass der Kurs der Aktie unter großen Preisdruck geraten müsste und eine starke Verwässerung der Aktien zum Nachteil der Altbesitzer bedeutete. Um dem vorzubeugen, wurde eine Sicherheitsgrenze - ein Cap - eingeführt: Ist der Kurs am Ende der Laufzeit der Wandelanleihe um mehr als 60% gefallen, dann werden nicht mehr Aktien ausgegeben, als diejenige Anzahl, die einem 60-prozentigen Wertverlust entspricht, also nicht mehr als das 1,66-fache der Anzahl, die zu Vertragsbeginn dem Wert der Wandelanleihe entsprochen hat. Jede weitere Kurssenkung führt dann zu einem entsprechenden Verlust des Anlegers. Wegen einer Besonderheit des japanischen Aktiengesetzes kann das Portfolio der Preference shares nicht leicht durch Shorting (Leerverkauf durch Leihe von Aktien) abgesichert werden. An zwei Stichpunkten im Jahr müssen die zum Zwecke der Absicherung jeweils geliehenen Aktien im Besitz des Verleihers sein. Im September 1998, als LTMC den Boden unter den Füßen verlor und die Asienkrise den Märkten viel Liquidität raubte, fielen die Aktien der zwei japanischen Großbanken, deren Preference shares UBS gekauft hatte, um 67% bzw. um 75 %. Das japanische Engagement der UBS brachte ihr einen Verlust von mehr als 500 Millionen Dollar. (Bookstaber 2007, S. 116) Man sieht: Auch die Kenner der Gesetzmäßigkeiten der Finanzmärkte durchschauen nicht immer die Risiken von neuen Finanzprodukten, so dass es zu Bankkrisen kommen kann. Die hier genannten größeren Unfälle haben eines gemeinsam: Die neuen Finanzprodukte und die damit verbundenen Geschäftsmodelle waren gefährlich, weil es um große, ja um riesige Positionen ging, die bewegt wurden. Die Portfolio Insurance Technik kann automatisch zu riesigen Verkäufen und damit zu „unberechtigten" Kursstürzen führen: „The 1987 Crash simply was not the result of rational reaction to new information." {Bookstaber 2007, S. 14) LTCM musste gerettet werden, um riesige Notverkäufe des Hedge-Fonds zu verhindern, die zu großen Wertberichtigungen oder gar Abschreibungen bei den großen Gläubigern mit unübersehbaren Folgen geführt hätten. Wenn heute außer den Finanzmarktinnovationen die schiere Größe eine weitere Bedingung für Finanzkrisen ist: „The financial industry was allowed to get far too profitable and far too big" (Soros 2008, S. 144), dann müsste man versuchen, diese Größe zu begrenzen.

Option für die Emittentin, wobei der Käufer der Aktienanleihe der implizite Stillhalter ist. Der Ausübungspreis der Option ist der in den Bedingungen der Aktienanleihe genannte kritische Aktienkurs. Aus steuerlichen Gründen war die Aktienanleihe bisher in Deutschland nicht sehr verbreitet, wohl aber in der Schweiz. Die Aktienanleihe ist ein sogenanntes strukturiertes Finanzprodukt. Siehe Wiedemarin, Ächtert und Betz 2006., S. 88 ff.)

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V. Verbriefung von Krediten 1. Die drei Ursachen der Finanzkrise Der INUS-Komplex (ABC) für die derzeitige Finanzkrise enthält drei kausalrelevante Elemente: A: Die Politik des billigen Geldes durch die amerikanische Notenbank seit 2001. B: Ein eigentumspolitisches Ziel aller amerikanischen Regierungen und die dazu gehörende Gesetzgebung seit 1980. C: Die Erfindung und weltweite Verbreitung von „strukturierten Anleihen". Das eigentumspolitische Ziel der amerikanischen Gesellschafitspolitik lautet: Jeder Amerikaner soll ein eigenes Haus erwerben können. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es drei Gesetze, die der Förderung des Hauseigentums durch den Markt dienen. (Bloss et al. 2008, S. 64) (1) Ein Gesetz zur Kapitalmarktöffnung: Im Jahre 1980 wurden staatlich festgesetzte Zinsobergrenzen für Kredite abgeschafft (Depository Institutions Deregulation and Monetary Control Act). (2) Ein Gesetz zur Vertragsvielfalt bei Hypothekenkrediten von 1982: Der „Alternative Mortgage Transaction Parity Act" erlaubt eine Vielzahl von alternativen Hypothekenformen, zum Beispiel: — Hypotheken mit variablen Zinssätzen (Adjustable Rate Mortgage), — Hypotheken mit negativer Amortisation (eine festgeschriebene Zahlungsobergrenze kann die Schuld erhöhen); — Interest only Hypotheken (in der Anfangsphase sind nur Zinsen zu zahlen), — Payment-option Hypotheken (der Schuldner kann jeden Monat aus mehreren Zahlungsoptionen auswählen, zum Beispiel Zins und Tilgung, oder nur Zins, oder Mindestzahlung unterhalb der Zinsen. Es gibt viele weitere Gestaltungsmöglichkeiten für Hypothekenverträge. (3) Ein Gesetz zur Verbilligung des Eigenheimkredits: Das Steuerreform-Gesetz (Tax Reform Act) von 1986 begünstigt steuerlich Eigenheimkredite und benachteiligt reine Konsumkredite. Dieses Gesetz enthält einen Anreiz zur Aufnahme von Krediten, die durch den Wert des Eigenheims besichert sind (Home Equity Loans). Diese Mittel können für beliebige Zwecke verwendet werden. Das alles hat anscheinend die Vermittlung und Vergabe von Subprime Hypotheken durch Hypothekenbanken und Hypothekenmakler an einkommensschwache Haushalte gefordert und sie in die Lage versetzt, ein Haus zu erwerben. (Subprime-Hypotheken sind Hypothekenkredite für Kreditnachfrager mit geringen Bonitätswerten; der Zinssatz liegt um etwa 1 % bis 2 % über dem Normalsatz für Hypothekenkredite.) Der Anteil der Subprime-Hypotheken am Neugeschäft stieg von 5 % 1995 in zehn Jahren auf 20 %. Im selben Zeitraum stieg die Hauseigentümerquote von 65 % auf 69 %. (Bloss et al. 2008, S. 16, 20 und 64)

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Für das Wachstum der Hypothekenkredite ist vermutlich auch eine Innovation der Finanzbranche verantwortlich: die Verbriefung von Hypotheken, die Schaffung und Vermarktung von Mortgage Backed Securities (MBS). Diese Wertpapiere haben als Anlageobjekte auf dem Sekundärmarkt das Kapital großer Anleger wie Pensionsfonds, Investmentfonds, Hedge-Fonds und Versicherungen mobilisiert. Dadurch war es auch für einkommensschwache Amerikaner möglich, Hypothekenkredit auf dem Markt zu erhalten.8 Meine These lautet: A, B und C erklären die Immobilienblase, C (das Verbriefungswesen) erklärt die Finanzkrise. Auf A und B gehe ich nicht näher ein.

2. Verbriefung und Hypothekenkredit Verbriefung ist eine Methode, aus illiquiden Forderungen auf einen Zahlungsstrom handelbare Forderungen zu machen. Also zum Beispiel aus Autokrediten, Übernahmekrediten, Studentenkrediten, aus Kreditkartenforderungen, Hypotheken, Leasingkrediten, aus hochverzinslichen Anleihen und so weiter ein Wertpapier zu gestalten, das ein Großinvestor gerne erwerben würde, um hohe oder sichere Erträge zu erzielen. Ein Beispiel für die Verbriefungsmethode sind die MBS, die Mortgage Backed Securities. Das sind durch Hypotheken besicherte strukturierte Wertpapiere. Diese Wertpapiere werden durch einen Prozess geschaffen, den man Securitization (Verbriefung) nennt. Der Prozess läuft etwa wie folgt ab. Prozess. Investmentbanken kaufen und bündeln Kredite von Regionalbanken und Hypothekenbanken. Dann gründen sie Zweckgesellschaften. An diese verkaufen sie die gebündelten Kredite und übertragen gleichzeitig das Eigentum der dazugehörigen Sicherheiten an die Zweckgesellschaft. Damit hat sich die Investmentbank der Kredite entledigt. Das Volumen der übertragenen Werte kann leicht 1 Mrd. Dollar betragen. Das Bündel der neu erworbenen Vermögenswerte enthält Kredite mit unterschiedlichen Ausfallwahrscheinlichkeiten, Laufzeiten und Zinssätzen. Produkt. Auf der Basis dieses Bündels emittiert die Zweckgesellschaft eine Anleihe, die aus mehreren Teilstücken, Tranchen oder Klassen genannt, besteht. Diese Tranchen erhalten Bonitätsnoten, welche von privaten Ratingagenturen vergeben werden. Zum Beispiel AAA, AA, A, BBB, BB, B und so weiter. Je besser die Bewertung, umso geringer ist die mutmaßliche Ausfallwahrscheinlichkeit der Tranche und umso geringer ihr Zins. Investoren kaufen Anteile an den Tranchen, die für sie nach Ausfallwahrscheinlichkeit und Zinssatz passend sind. Käufer der AAA Tranche sind oft Versicherungen, Käufer der Tranchen mit höheren Renditen sind Hedge-Fonds und Banken, vielleicht auch Landesbanken.

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Kenner der Materie beschreiben die Situation so: „Die Vorteile von Hauskäufern in einem von Finanzinnovationen und Liquidität geprägten Marktumfeld liegen insbesondere in der zunehmenden Zahl an Kreditgebern, die aktiv am Hypothekenmarkt miteinander konkurrieren, in den weitreichenden Produktangeboten, dem optimierten Kreditvergabeprozeß, den geringeren Risikoprämien auf Kreditzinsen sowie in der relativ einfachen Möglichkeit, einen Hypothekenkredit zu erhalten. Kurz gesagt, die Verbriefung hat dazu geführt, mehr Eigenheimbesitzer zu schaffen." (Bloss et al. 2008, S. 25 f.)

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Risiken. Wenn Hypothekenschuldner nicht zahlen, muss jemand den Schaden tragen. Dafür ist bei den strukturierten Anleihen folgende Regelung vorgesehen. Den ersten Ausfall tragen die Inhaber der untersten, nicht gerateten Tranche, bis sie ihren Wert verloren hat. Weitere Zahlungsausfalle müssen jeweils von der nächst höher eingestuften Tranche absorbiert werden. Auf diese Weise wird das Risiko einer riesig großen Zahl von Hypothekenkrediten auf Anleger verteilt, die die jeweiligen Risiken gegen die entsprechende Risikoprämie tragen wollen. Das ist zweifellos eine intelligente Methode der Risikoverteilung und der Mobilisierung von Kapital und Ausweitung der Kreditmöglichkeiten der Banken. Allerdings: Die Weitergabe von Hypothekenkrediten durch die Methode der Verbriefung überträgt das Kreditrisiko von den Regionalbanken und kleinen Hypothekenbanken auf die großen Anleger. Dadurch steigen Informationsasymmetrie und Moral hazard: Die Letzteren, die großen Anleger, kennen die Kreditnehmer und deren individuelle Bonität nicht, und die Ersteren können bei der Kreditvergabe etwas sorgloser sein, wenn sie wissen, dass ihr Risiko weitergegeben wird. Wie groß der Anteil der fahrlässig vergebenen Kredite ist, weiß ich nicht. Aber da man auch für die Kreditvergabe an wenig kreditwürdige Haushalte Provision und Bearbeitungsgebühren erhält, ist es möglich, dass der Anteil der fahrlässig vergebenen Kredite durch das Verbriefungswesen gestiegen ist.9 Für die Beurteilung des Gesamtrisikos eines MBS, einer durch Hypotheken besicherten strukturierten Anleihe, ist nun entscheidend, wie die Gütenoten verteilt sind. Bei den Unternehmensanleihen erhalten nur etwa 5 % die Bestnote AAA, aber für fast 60% aller strukturierten Finanzprodukte wurde die Bestnote AAA vergeben. (Braunberger und Fehr 2008, S. 213) Man hat es anscheinend mit einer Inflation von Bestnoten zu tun. Und das, obwohl die Sicherheiten fur RMBS - Residential Mortgage Backed Securities (strukturierte Anleihen, die durch Eigenheime besichert sind) - viele Subprime Hypotheken enthalten. Ob die Ratingagenturen fahrlässig gehandelt haben, kann ich nicht beurteilen. Man müsste wissen, ob die Inflation der Bestnoten auch noch in der Phase der starken Zinssteigerungen zu beobachten ist. 10 Fakten. Die Verbriefung von Hypothekenkrediten hat in den USA eine große Rolle gespielt. Der amerikanische Verband der Hypothekenbanken teilt mit, dass im Jahre 2006 von den neu vergebenen Hypothekenkrediten 76 % in MBS verbrieft wurden. Der Anteil der Subprime-Kredite innerhalb der MBS-Verbriefungen stieg von 8,6 % im Jahre 2001 auf 20 % im Jahre 2006. {Bloss et al. 2008, S. 64) Der Zins für den Hypothekenkredit hängt positiv vom Leitzins der Notenbank ab. Der Leitzinssatz der amerikanischen Notenbank betrug bis April 2004 nur 1 %. Er wurde bis Juni 2006 kontinuierlich auf 5,25 % heraufgesetzt. Wenn diese Erhöhung auf die Hypothekenzinsen durch9

Ein besonders guter Kenner des amerikanischen Immobilienmarktes äußert sich dazu so: „Mortgage originator, who planned to sell off the mortgages to securitizers, stopped worrying about repayment risk. They typically made only perfunctory efforts to assess borrowers' ability to repay their loans often failing to verify borrowers' income with the Internal Revenue Service, even if they possed signed authorization forms permitting them to do so." (Shiller 2008, S. 6) 10 Vermutlich hat die Inflation der Bestnoten mit dem Verbriefungsprozess zu tun. Aus einem Portfolio aus BBB gerateten Vermögenswerten können Tranchen mit AAA-Einstufung gebildet werden, weil diese Tranche durch alle unter ihr liegenden Tranchen vor dem Zahlungsausfall von Schuldnern geschützt wird, es fallen nie alle Schuldner aus.

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schlägt, dann bedeutet das eine sehr große Belastung für die Hypothekenschuldner. Da der Anteil der variabel verzinslichen Hypothekenkredite (ARM) an den gesamten Hypothekenkrediten zwischen 40 % und 20 % lag, musste es zu Zahlungsschwierigkeiten und Notverkäufen vieler Hausbesitzer kommen.

3. Die CDOs und die Finanzkrise Im Gefolge der Subprimekrise des amerikanischen und englischen Häusermarktes entwickelte sich die Finanzkrise. Ohne Subprimekrise keine Finanzkrise. Für die Entwicklung zur Finanzkrise ist vermutlich eine weitere Finanzmarktinnovation bedeutsam, die so genannten CDOs. Diese Wertpapiere gibt es seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie dienten seit 1987 zunächst der Verbriefung von hochverzinslichen Anleihen. Innerhalb von 10 Jahren hatten diese CDOs ein jährliches Emissionsvolumen von 100 Mrd. Dollar erreicht, im Jahre 2004 betrug das Emissionsvolumen schon etwa 240 Mrd. USD. CDOs entstehen auf dieselbe Weise wie die MBS. Es ist zweckmäßig, einen CDO von den CDOs zu unterscheiden: „A CDO is a distinct legal entity, usually ioncorporated in the Cayman Islands. Its liabilities are called CDOs. ... so 'the CDO issues CDOs'". {Lucas, Goodman und Fabozzi 2006, S. 14) Die CDOs sind durch Schuldtitel unterlegte und in Tranchen strukturierte Anleihen. Die Verbriefung und damit die Übertragung des Risikos kann sich auf praktisch jeden Vermögenswert (Asset) beziehen. Die meisten CDOs scheinen durch hochverzinsliche Anleihen oder hochverzinsliche Darlehen besichert zu sein; CDOs können auch mit MBS unterlegt sein. Die Tranchen der CDOs sind wie die Tranchen der MBS mit Noten versehen: AAA, AA, A, und so weiter. Der Anreiz zur Schaffung und Entwicklung einer CDO-Struktur (oder CDOTransaktion) ergibt sich aus der Möglichkeit, Kreditrisiken einer Bank auf eine Zweckgesellschaft (den CDO) zu verlagern. Dadurch mindert sich das Ausfallrisiko der Bank und damit das regulatorisch erforderliche Eigenkapital. Das regulatorisch erforderliche Eigenkapital einer Bank kann je nach Ausgestaltung der CDO-Struktur von 8 % eines Bankkredits bis auf 1 % der Verbindlichkeiten der CDO-Struktur vermindert werden. {Lucas, Goodman und Fabozzi 2006, S. 243) Man hat es hier mit einer legalen Umgehung der Basel II-Regeln zu tun. Das ist eine der ungewollten Wirkungen der Regulierung des Bankgeschäfts. Das Potential der CDO-Struktur wurde neuerdings erweitert, indem man die Tranchen mit niedrigen Bonitätswerten zusammengefasst und daraus neue CDOs zusammengestellt hat. Da ein Element der CDO-Struktur immer die bevorzugte Bedienung der Inhaber von besser eingestuften Tranchen ist, steigt durch diesen Prozess der Vervielfachung die Kreditschöpfungsfahigkeit des Eigenkapitals einer Bank. Vermutlich sinkt im Verlaufe der so erzeugten Vermehrung von CODs die durchschnittliche Bonität des Portfolios, das die Anleihen besichern soll. Den Konstrukteuren der CDOs ist es gelungen, die Investoren in aller Welt - USA, Europa, Asien - davon zu überzeugen, dass die Papiere nicht nur ertragreich, sondern auch ziemlich sicher sind. Dazu hat ihnen die Mitarbeit der Ratingagenturen verholfen,

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die - gegen Entgelt - für die Ausgestaltung der jeweiligen CDO-Transaktion eine maßgebliche Rolle spielt. Nachdem sich Zahlungsausfälle infolge der Subprimekrise häuften, war das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Bonitätsbeurteilung durch die Ratingagenturen anscheinend plötzlich dahin. Zahlreiche Papiere wurden in kurzer Zeit herabgestuft, nicht selten um zwölf Schritte auf einen Schlag. Inhaber von strukturierten Anleihen in Höhe vieler Milliarden verloren plötzlich ihre Kreditwürdigkeit, da ihre Sicherheiten - die strukturierten Anleihen - nicht mehr handelbar waren und damit wertlos wurden. Die Mark to Market Vorschrift der neuen Rechnungslegung, wonach die Aktiva einer Bank immer zu Marktkursen zu bewerten sind, führte dazu, dass große Wertberichtigungen und Abschreibungen vorzunehmen waren. Die entstehenden Verluste schränkten die Kreditvergabefähigkeit der Banken ein, die problematisch gewordene Kreditwürdigkeit der potentiellen Kreditnehmer ließ das Kreditangebot der Banken untereinander versiegen. Der Interbankenkredit brach zusammen, die Finanzkrise war da.

VI. Das Ende des Kapitalismus? Nach meiner Auffassung sind in einer offenen Gesellschaft - in einer Marktwirtschaft - Finanzmarktinnovationen unvermeidlich. Zeitpunkt und Auswirkung derartiger Innovationen sind nicht voraussehbar. In diesem Sinne gleichen sie den technologischen Neuerungen: Es werden positive Wirkungen angestrebt, meist auch realisiert, aber man muss mit negativen Auswirkungen rechnen. Im Unterschied zu den technologischen Neuerungen kosten Finanzmarktinnovationen keine Menschenleben, sondern Einkommen, Vermögen und Arbeitsplätze in der Finanzwelt. Die unbeabsichtigten, aber nicht vorausgesehenen negativen Folgen von technologischen Neuerungen werden durch Ingenieurskunst und Rechtsordnung im Laufe der Zeit oft gemildert, aber nicht immer ganz vermieden. Man braucht in diesem Zusammenhang nur an Dampfmaschine und Dampfkessel oder an die Erfindungen von Nobel zu denken: Die Nutzung der Dampfkraft hat noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 20 000 Arbeitern das Leben gekostet; und erst nachdem Alfred Nobel die Stoßempfindlichkeit von Nitroglycerin durch Zusatz von Kieselgur praktisch gezähmt hatte, erst als aus Nitroglycerin Dynamit wurde, war der Umgang mit der gewaltigen Sprengkraft ungefährlich. Ahnliches gilt auch für Finanzmarktinnovationen. Auch ihre Sprengkraft wird durch geeignete Maßnahmen gezähmt werden. Wer die Komplexität der modernen Finanzmärkte nicht wirklich kennt, muss sich mit detaillierten Ratschlägen zurückhalten. - Natürlich muss der Staat in einer solchen Lage wie der jetzigen eingreifen. Zunächst als Nothelfer, um eine kumulative Abwärtsbewegung zu unterbinden, dann aber als ordnungspolitischer Gestalter einer Finanzwelt, die weniger anfällig ist als die bisherige. Hierzu gibt es inzwischen zahlreiche und kluge Vorschläge. (Weder di Mauro 2009; Kirchner 2009, Kronberger Kreis 2009; Shiller 2008) Die Maßnahmen zur akuten Nothilfe müssen von Land zu Land verschieden ausfallen, weil die betroffenen Staaten unterschiedliche institutionelle Arrangements aufwei-

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sen. Die strategischen Maßnahmen sollten sich im Sinne eines kritischen Liberalismus11 von zwei Maximen leiten lassen: (1) Der undogmatischen Verwendung der Freiheitsidee und (2) der Bevorzugung von staatlichen Regulierungen zur Verbesserung der Funktionsfahigkeit der Märkte gegenüber solchen, die marktverdrängenden Charakter aufweisen. Adam Smith kam bei seiner Analyse der Funktionsweise des Geldwesens zu dem Ergebnis, dass der schrankenlose Wettbewerb der Banken für die Allgemeinheit schädliche Folgen hat. Sein Vorschlag, die Notenausgabe durch die Banken Beschränkungen zu unterwerfen, beinhaltete zweifellos eine Verletzung der persönlichen Freiheit. Zur Rechtfertigung dieser Freiheitsbeschränkung führte er an: „Solche Vorschriften mögen, ohne Zweifel, in gewisser Hinsicht als eine Verletzung der persönlichen Freiheit (im Original: natural liberty) betrachtet werden, doch wenn einige wenige dieses Naturrecht so ausüben, dass sie die Sicherheit des ganzen Landes gefährden, so schränkt jede Regierung, die liberalste wie die diktatorischste, dieses Recht gesetzlich ein, und zwar ganz zu Recht." (Smith 1996, S. 267) Alan Greenspans Vermutung, man könne das Risikomanagement des Finanzsystems den Finanzmarktteilnehmem überlassen, hat sich empirisch als falsch erwiesen. (Soros 2008, S. 143 f.) Deshalb ist der Empfehlung von Soros (2008, S. 144) zuzustimmen, wonach die monetären Behörden nicht nur die Expansion der Geldmenge, sondern auch die Expansion der Kredite zu kontrollieren haben, um die Entstehung von Blasen der Vermögenswerte zu unterbinden. Ein Problem bei der Vergabe von Krediten - vielleicht das Hauptproblem für den Gläubiger - ist die Ausschaltung des Erfüllungsrisikos. Durch die Erfindung und Entwicklung der Credit Default Swaps (CDS), der handelbaren Kreditausfallversicherungen, hat die Finanzbranche ein Instrument geschaffen, mit dem ein Kreditgeber sich durch Zahlung einer Prämie gegen den Ausfall seiner Forderungen quasi versichern kann: Ein Sicherungsgeber übernimmt gegen eine über die Laufzeit des CDS zu zahlende Prämie im Falle eines Kreditereignisses die im Wert geminderte Forderung (Referenzaktivum) des Sicherungsnehmers und erstattet diesem den Nennwert. Der Sicherungsnehmer erwirbt durch Zahlung der Prämie also eine Art Put Option, der Sicherungsgeber ist der Stillhalter. (Genauer: Lucas, Goodman und Fabozi 2006, S. 219 ff. und Martin, Reitz und Wehn 2006, S. 24 ff.) Es hat sich ein sehr großer Markt für dieses Finanzprodukt entwickelt. Allerdings hat sich im Verlaufe der Finanzkrise gezeigt, dass die bisherige Form des Handels mit CDS die Risiken nicht ausschalten konnte. Der riesige amerikanische Versicherungskonzern AIG, ein Hauptakteur auf dem Markt für CDS, hat im Jahre 2008 mit diesem Produkt einen Jahresverlust von mindestens 40 Mrd. USD gemacht. (Braunberger 2009) Bei den Verträgen besteht einerseits das Problem, wie ein Kreditereignis definiert wird (für amerikanische Banken sieht das anders aus als für europäische), und andererseits, wie man das sogenannte Kontrahentenrisiko vermeiden kann, die Möglichkeit, dass der Sicherungsgeber im Schadensfall nicht leisten kann. Das ist für den Sicherungsnehmer auch deswegen von Bedeutung, weil das

11 Hans Albert (1978) stellt in seiner politischen Philosophie die Verbindung von Fallibilismus und Liberalismus als allgemeine Orientierung für eine zeitgemäße rationale politische Praxis heraus. Man könnte diese Position kritischen Liberalismus nennen.

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Rating des Sicherungsgebers das regulatorisch erforderliche Eigenkapital des Sicherungsnehmers bestimmt: Sinkt das Rating des Sicherungsgebers, steigt das erforderliche Eigenkapital des Sicherungsnehmers. Es scheint nun in diesem Zusammenhang die Möglichkeit zu bestehen, den Handel mit CDS durch ein Clearinghaus oder analog der Börse für Futures zu organisieren. Auf diese Weise könnte das Kontrahentenrisiko praktisch ausgeschaltet werden, da Käufer und Verkäufer nur mit dem Clearinghaus bzw. mit der Börse Geschäfte abschließen würden, die für die Lieferfähigkeit bzw. Zahlungsfähigkeit der Händler sorgen könnte. Soros (2008, S. 145 f.) schlägt dies als mögliche Verbesserung des Finanzwesens vor. Ergänzend könnte der Staat die Banken veranlassen, einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit zu gründen. „Jede teilnehmende Bank würde den bei einer anderen im System versicherten Bank erlittenen Kreditausfall zu einem vorbestimmten Anteil oder auch vollständig von der Gemeinschaft der sich an der Versicherung beteiligenden Banken ersetzt bekommen." (Kronberger Kreis 2009) Zur Not könnte der Staat die inländischen Banken zwingen, sich einem derartigen Schutz des Interbankenkredits zu unterwerfen. Damit wäre auf einfache Weise das Vertrauen auf Zahlungsfähigkeit im Interbankengeschäft herzustellen. In seinem Buch The Subprime Solution hat Robert J. Shiller (2008) zahlreiche Vorschläge gemacht, wie man die Stabilität des Finanzsystems erhöhen und damit dessen allgemein wohltätige Wirkungen sichern kann. Da er sich im Wesentlichen auf die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika bezieht, möchte ich hier nur einige Vorschläge nennen. Märkte funktionieren schlecht, wenn Teilnehmer über keine hinreichenden Informationen verfügen oder wenn sie die Eigenarten der gehandelten Produkte nicht kennen. Das dürfte für die Produkte des Immobilienmarktes oder des Finanzmarktes gelten, seien es Hypotheken, Zertifikate oder andere Finanzprodukte. Zur Beseitigung dieses Defizits schlägt Shiller die öffentliche Förderung einer neutralen gewerblichen Finanzberatung vor: eine Art gebührenpflichtiger Verbraucherberatung für Finanzprodukte zu geringen Kosten. {Shiller 2008, S. 123 ff.) Er vermutet, dass ein eingeführtes System qualitativ guter, vertrauenswürdiger Beratung das Entstehen der Immobilienblase und damit der Subprime Krise in den USA verhindert hätte. - Bei vielen Konsumgütern, wie Automobilen, Nahrungsmitteln und Medikamenten, gibt es staatliche oder im staatlichen Auftrag tätige Einrichtungen zur Prüfung der Verkehrs- bzw. Produktsicherheit von auf dem Markt angebotenen Erzeugnissen. In analoger Weise solle man die Sicherheit der modernen Finanzprodukte einer Prüfung unterwerfen, bevor sie zugelassen würden. {Shiller 2008, S. 129 f.) Ähnliches verlangt Soros (2008, S. 143): „The regulators need to gain a better understanding of the recent innovations, and they ought not allow practices that they do not fully understand." - Immobilien, wie Einfamilienhäuser, sind für die meisten Haushalte die größte Investition in ihrem Leben. Der Markt für derartige Immobilien ist wenig liquide und die Objekte unterliegen oft spekulativen Wertänderungen. Wenn es Terminbörsen für die Preise von Einfamilienhäusern gäbe, dann könnten diese Märkte zur Zähmung von Blasen für Häuserpreise beitragen. Ohne derartige Zukunftsmärkte kann der Hausbesitzer nichts anderes tun, als angesichts einer Blasenbildung sein Haus rechtzeitig zu verkaufen, wenn er dem Preisverfall entgehen möchte. Zusammen mit seinen Kollegen hat Shiller den Case-Shiller Preisindex für Häuser ent-

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wickelt. Auf der Grundlage dieses Indexes hat die Chicago Mercantile Exchange (CME) 2006 den Terminhandel mit Einfamilienhauspreisfutures eröffnet. (Shiller 2008, S. 149 f.) Man wird abwarten müssen, ob sich die Hoffnungen von Shiller erfüllen. Es trifft vermutlich zu, wenn man die derzeitige Finanzkrise als die größte Herausforderung des Kapitalismus seit der großen Krise der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts bezeichnet. Diese Herausforderung kann auf eine rationale Weise gemeistert werden. Nicht durch irgendeine Spielart des Alternativ-Radikalismus und wohl auch nicht durch Appelle, doch weniger gierig zu sein, sondern durch die Konstruktion von Institutionen, die auf der Grundlage der Erfahrungen mit den Innovationen des Finanzmarkts dessen Mängel beseitigen, die verlorene Stabilität wiedergewinnen und die Leistungsfähigkeit der Finanzmärkte erhöhen helfen.

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Summary: Financial innovations and financial crisis: a historical perspective There is a remarkable phenomenon: the recurrence of financial crisis in the economic life of the states. This article starts with the idea that financial innovations could be main elements of the set of sufficent conditions for this phenomenon. In order to illustrate this assumption this article describes some historical and some modern cases of financial crisis. In modern times there are smaller and greater financial accidents, so to speak. These are less relevant for political action than the big ones of today. This article argues that there are three causal elements that might come close to the complete set of sufficient conditions for todays financial crisis. Among them are the MBS and CDOs, remarkable inventions of the financial industry. This article briefly deals with some recent proposals for the improvement of the financial system. They are selected because they seem to be in accordance with critical liberalism, a view which is due to the philosopher Hans Albert.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Alfred Schüller

Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe* „Je mehr Stabilisierung, umso weniger Stabilität" Wilhelm

Röpke

Inhalt I. II. 1. 2. III. 1. 2. IV. 1. 2. V. 1. 2.

Das Problem Konkurrierende Stabilisierungsansätze Der ordnungsökonomische Ansatz Der interventionistische Ansatz Die derzeitige Finanzkrise als Krise des Interventionismus Die USA als Brandherd der Krise Interventionistische Triebkräfte der Krisenausbreitung Stabilisierung durch isolierte Bankenregulierung? Erfahrungen mit der bisherigen Bankenaufsicht in Deutschland Das Problem der privilegierten Banken Stabilisierung als ordnungspolitische Aufgabe heute „Je mehr Stabilisierung, umso weniger Stabilität" Stärkung des mikroökonomischen Stabilisators - Abbau staatlicher Investitions- und Beschäftigungshindernisse 3. Stärkung des makroökonomischen Stabilisators - Alternativen VI. Zusammenfassung

355 357 357 358 359 359 364 367 367 370 371 371 372 374 383

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The role of institutional economics in crisis prevention

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I. Das Problem Die jüngste, von den USA ausgehende Krise des Finanzsystems hat weltweit das Wirtschaftsgeschehen erschüttert und auch in Deutschland tiefe Spuren und eine höchst angespannte Wirtschaftslage hinterlassen. Sicher erwartete Aufträge, sorgfältig bedachte Investitions-, Produktions-, Finanzierungs- und Vorsorgepläne sind plötzlich (über die üblichen Risiken hinausgehend) extrem unsicher geworden. Das gilt auch für die künftigen Erträge und Risiken des Human-, Sach- und Finanzvermögens, für die Pla*

Der Autor dankt Hans Willgerodt und Josef Molsberger und Hinweise.

für hilfreiche Kritik, wertvolle Anregungen

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Alfred Schüller

nung der Vermögensstruktur und der Beschaffung von Eigen- und Fremdkapital. Offensichtlich sind damit wichtige wirtschaftliche Grundlagen der menschlichen Daseinserhaltung und -gestaltung gefährdet. Zu Recht stehen deshalb auch die Bemühungen um angemessene Stabilisierungsmaßnahmen im Mittelpunkt der staatlichen Wirtschaftspolitik. Aber was ist angemessen? In Deutschland - viel stärker als in den USA - neigt man seit den 1960er Jahren allenthalben dazu, auf jedes auftauchende Problem mit staatlichen Eingriffen in den Wirtschaftsprozess und mit staatlichen Finanzhilfen zu reagieren. Und wer bisher schon ohne Rücksicht auf die Anforderungen solider Staatsfinanzen in wachsenden Staatsaufgaben und -ausgaben ein wirtschaftspolitisches Ideal gesehen hat, wird nun erst recht vom Staat erwarten, dass er illiquide Banken auffängt, Unternehmen und Arbeitsplätze rettet, mit hoher Neuverschuldung die defizitären Staats- und Sozialkassen finanziert, mit Konjunkturprogrammen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, Produktion und Beschäftigung zu stimulieren versucht - alles in der Hoffnung, mit diesen und anderen Interventionen die komplexe Ordnung des wirtschaftlichen Geschehens wieder ins Gleichgewicht bringen zu können. Ordoliberale haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass bei eingetretenen Kreislaufstörungen makroökonomische Prozessinterventionen erforderlich sein können.1 Doch beruhen solche Empfehlungen auf einer möglichst sorgfältigen Diagnose der Krisenursache und einer Therapie, die zugleich auf Krisenprävention bedacht ist. Hierfür ist die Annahme grundlegend, dass die Wohlfahrt einer Gesellschaft eine Funktion ihrer grundlegenden Ordnungsbedingungen (Institutionen) ist. Demzufolge ist die Art, wie die geltenden Institutionen des Finanz- und Marktsystems zusammengewirkt haben, wichtig, um die Frage zu klären: Wie ist die Krise entstanden und wie können künftige Krisen vermieden werden? Heute herrscht vielfach die Handlungsmaxime vor: „Not kennt kein Gebot". Demzufolge wird versucht, das aufgetauchte Problem weitgehend, wenn nicht ausschließlich prozesspolitisch in den Griff zu bekommen - nach dem Grundsatz „Je mehr (interventionistische) Stabilisierung, umso mehr Stabilität". Kann darin tatsächlich ein konkurrenzloser Ersatz für die ordnungspolitische Sicht des Problems und für Lösungen nach dem Grundsatz gesehen werden „Je mehr (ordnungspolitische) Stabilisierung, umso mehr Stabilität"? Damit rücken zwei konkurrierende Stabilisierungslösungen ins Blickfeld. Sie beruhen auf unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Handlungskonzepten - dem ordnungsökonomischen und dem interventionistischen Ansatz. Im Folgenden werden die sich daraus jeweils ergebenden Konsequenzen für die Krisenanfälligkeit, für die Krisenbekämpfung, vor allem aber für die Krisenprävention vergleichend betrachtet.

1

Siehe den Beitrag von Hans Willgerodt in diesem Band mit Literaturhinweisen. Siehe auch V.2.

Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe

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II. Konkurrierende Stabilisierungsansätze 1. Der ordnungsökonomische Ansatz Zur ordnungsökonomischen Tradition der Klassischen, Österreichischen und Freiburger Schule der Nationalökonomie gehört die Erkenntnis: Gesamtwirtschaftliche Aufund Abwärtsbewegungen liegen in der Natur einer ausgedehnten marktwirtschaftlichen Wissens- und Arbeitsteilung. Sie lassen sich aber in Verbindung mit den wirtschaftspolitischen Zielen Geldwertstabilität, Währungskonvertibilität und durch Marktkräfte stabilisierte Wechselkurse (sog. klassische Zieltriade) in einer vereinfachten Betrachtung durch zwei komplementäre Regel- und Anreizkonstellationen begrenzen: Erstens durch eine marktwirtschaftliche Rahmenordnung, in der sich die Kräfte der Selbststeuerung und Selbstheilung entfalten können. Bei steigender Nachfrage und aufstrebender Konjunktur können die persönlichen und sachlichen Produktionsmöglichkeiten erweitert und ausgeschöpft, der technische und wirtschaftliche Fortschritt vorangetrieben werden. Und im Abschwung müssen bei rückläufiger Nachfrage und verstärkter Preiskonkurrenz die Unternehmer darauf bedacht sein, neue Absatz- und Gewinnchancen aufzutun oder bekannte Gelegenheiten vorteilhafter zu nutzen, jedenfalls alles zu tun, um den leistungsfähigsten Stand der Investitionen, des produktionstechnischen, organisatorischen, finanz- und absatzwirtschaftlichen Wissens zu erreichen. Dieser mikroökonomische Stabilisator kann umso besser wirken, je geringer der Einfluss der Bereiche auf das Wirtschaftsgeschehen ist, die sich der unternehmerischen Anpassung an veränderte Absatzbedingungen, an marktgerechte Güterpreise, Löhne, Zinssätze und Wechselkurse entziehen können. Unternehmerische Pläne können sich also als irrtümlich erweisen und scheitern. Insolvenzen und Marktaustritte gehören deshalb so selbstverständlich zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung wie die Tatsache, dass unternehmerisches Handeln neben der Aussicht auf Gewinn auch die Verlusthaftung einschließt. Diese Gefahr kann nach dem ordnungsökonomischen Ansatz nicht ausgeschlossen, wohl aber durch eine Politik der Wettbewerbsordnung und eine verlässliche Geld- und Finanzpolitik eingeschränkt werden (Eucken 1952/1990, Viertes und Fünftes Buch) - als Voraussetzung für einen verzerrungsfreien Wettbewerb und die Möglichkeit, eine geldpolitisch verursachte Krisenanfalligkeit der Unternehmen zu vermeiden. Damit ist zweitens der makroökonomische (währungspolitische) Stabilisator benannt. Gemeint ist ein Geld- und Kreditsystem mit dem Potential für eine stabilitätsorientierte Verknüpfung von nationalen Geldmengen, Preisniveaus und Zinssätzen, für eine eingebaute marktmäßige Begrenzung der Wechselkurse und Konjunkturschwankungen. Nach Schumpeter (1965, S. 893) erkannte die Mehrzahl der Ökonomen früher einmal in den selbststeuernden Elementen des internationalen Goldstandards sowohl ein „moralisches als auch ein ökonomisches Ideal" - vor allem wegen der Fesseln, die damit Neigungen zur staatlichen Lenkung des Wirtschaftsablaufs (also zum Interventionismus) auferlegt werden können. Die mit dem konjunkturellen Aufschwung verbundenen Expansionskräfte und die mit dem konjunkturellen Niedergang einhergehenden Gefahrdungen von Unternehmen und Arbeitsplätzen konnten - in Verbindung mit dem mikroökonomischen Stabilisator - in dem Maße begrenzt werden, wie die Regeln und Funktionsbe-

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dingungen der Goldwährung eingehalten wurden.2 Diese können ein grundsätzliches Bewusstsein dafür vermitteln, wie ein an Regeln gebundenes Stabilisierungskonzept funktioniert und auch heute funktionieren könnte. Jedes andere Geld- und Kreditsystem3, von dem möglichst viele Vorteile des makroökonomischen Stabilisators erwartet werden, müsste ein ähnliches Muster an institutionellen Vorkehrungen aufweisen. Die liberale Ordnungsgrundlage und die ebenfalls auf verlässliche Regeln angewiesene Geld- und Kreditordnung4 sind wechselseitig darauf gerichtet, die Kräfte der Selbststeuerung, Selbstheilung und der monetären Stabilisierung zu stärken und den Belangen der marktwirtschaftlichen Gesamtordnung Vorrang vor einer Herrschaft von Sonderinteressen zu geben. Zugleich ermöglichen die beiden Stabilisierungskräfte eine international umfassende menschliche Kooperation - ausgehend von souveränen Staaten, die auf dem Gebiet der Ordnungspolitik im friedlichen Wettbewerb um die bestmöglichen Regeln (Institutionen) stehen. Tatsächlich hat sich dieses umfassend angelegte Stabilisierungskonzept (bei allen Unvollkommenheiten, vor allem in der Zeit seines Niedergangs) insgesamt als außerordentlich effizient erwiesen - jedenfalls gemessen an den späteren interventionistischen Lösungen. Es kann deshalb eine Orientierungshilfe für die Vorzüge einer langfristig ausgerichteten geldpolitischen Strategie sein - als Voraussetzung für eine Politik der nachhaltigen Krisenprävention.

2. Der interventionistische Ansatz Die Wirtschaftspolitik ist nach dem Niedergang der liberalen Bewegung Ende der 1870er Jahre auch in Deutschland stärker von unbestimmten und widersprüchlichen Zielen bestimmt worden. Die Absicht dieses Wandels der Politik war es, mit prozesspolitischen Eingriffen des Staates in das Marktgeschehen genauer, schneller und verlässlicher bestimmte politisch erwünschte Ergebnisse zu erzielen und dabei Konjunkturen und Krisen zu vermeiden. Dieser Stilwandel der Wirtschaftspolitik hat eine neue Zeit des Interventionismus eingeleitet.5 Die grundlegende Darstellung und systematische Kritik von Mises (1929/1976) und von Röpke (1929) verdienen für eine Politik der Kri2

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Die Goldwährung war das Kernstück des Finanzsystems und des Konjunkturzyklus' im 19. Jahrhundert. Nachdem bis 1879 immer mehr Länder zur Goldwährung übergegangen waren, kann für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg von einem ersten hoch entwickelten Weltwährungssystem gesprochen werden - mit folgenden Vorzügen: Einfache Spielregeln (siehe hierzu Lutz 1935/1962), eine enge Begrenzung der nationalen Kreditpolitik durch Bindung der Geldpolitik an die Veränderungen des Goldbestandes („Die goldene Bremse an der Kreditmaschine" der Zentralbanken; siehe Schumpeter (1927, S. 80 ff.). Mag es auf dem Gold-Devisen-, Gold-Dollar-, Dollar- oder Euro-Standard, dem Standard der Sonderziehungsrechte (SZR) oder einem beliebigen anderen Währungsstandard beruhen. Hierbei erfordert die Stabilisierung der Wechselkurse eine symmetrische Geldpolitik der beteiligten Länder, wie sie der Mechanik der Goldwährung entspricht. Siehe Hayek (1965, S. 20); Dürr (1978, S. 143 ff.); Williamson (1989, S. 39-43). Der Vorteil eines Papiergeldstandards gegenüber der Goldwährung kann u. a. in der Möglichkeit gesehen werden, das Geldmengenwachstum verlässlicher zu planen. Zusammen werden die beiden Stabilisierungskräfte im Folgenden als der „innere Arzt" des Marktsystems bezeichnet. Das interventionistische Handlungskonzept ging und geht - vielfach verdeckt - bis heute mit politischen Bestrebungen einher, sich an der Organisation der Kriegswirtschaft mit einer weitgehenden politischen Durchdringung der Privatwirtschaft zu orientieren und darin Schritte zum Sozialismus zu sehen. Siehe die Nachweise in Huhn (2003, S. 27 ff.).

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senprävention gerade heute wieder besondere Beachtung. Von den zahlreichen Erscheinungsformen des Interventionismus (siehe Schüller 2002, S. 105 ff.) interessieren im Folgenden vor allem die mit sehr kurzen Fristen arbeitende prozessorientierte Geld- und Kreditpolitik in Verbindung mit dem Versuch, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steuern. Damit folgte man unter anderem den Lehren von Lord Keynes sowie dem wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus und forderte zugleich die Neigung zu staatlichen Subventionen. Der interventionistische Stabilisierungsansatz ist darauf gerichtet, das regelgebundene Handeln des „inneren Marktarztes" durch diskretionäre Handlungsspielräume von „äußeren Ärzten" zu ergänzen oder zu ersetzen. Das damit vor allem gemeinte Wirken von interventionistischen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitikern ist mehr oder weniger der übergeordneten marktwirtschaftlichen Idee einer „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs" (siehe Eucken 1952/1990, S. 241-324) entzogen. Verbunden ist damit die Neigung, die Fehlbarkeit menschlicher Pläne durch politische Eingriffe außer Kraft zu setzen.6 Dies wird durch unbestimmte und widersprüchliche Zielvorgaben erleichtert. Die Interventionskräfte wirken mit den jeweiligen Interessenverbänden zusammen und können sich im Neben- und Gegeneinander der Eingriffe zu eigenständigen wirtschaftsund sozialpolitischen Machtköipern entwickeln. Diese werden je nach den verfolgten Zielen, nach politischem Gewicht und Beharrungsvermögen versuchen, sich notfalls auch auf Kosten der Stabilität der Gesamtordnung durchzusetzen. Es stellt sich die Frage: Wie können im demokratischen Parteienwettbewerb die „äußeren Ärzte", die Umfang und Stärke sowie die Wirkungen des interventionistischen Lösungsansatzes bestimmen, daran gehindert werden, krisenhafte Entwicklungen auszulösen, zu verstärken und zu verlängern?

III. Die derzeitige Finanzkrise als Krise des Interventionismus Die jetzige Finanzkrise offenbart erneut die Bedeutung der USA für die Wohlfahrt anderer Nationen. Und wieder wird sichtbar, wie von den USA ausgehende Störungen des Geld- und Kreditsystems sich weltweit fortpflanzen und sich unter dem Einfluss einer interventionistischen Stabilisierungspraxis wie Feuersbrünste ausbreiten können:

1. Die USA als Brandherd der Krise (1) Die USA haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur ordnungspolitischen Führungsmacht der Welt entwickelt. Die freiheitlichen Elemente der internationalen Wirt-

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Der interventionistische Großversuch, den Wirtschaftsprozess zu politisieren, läuft auf das hinaus, was staatsbürokratischer Sozialismus oder Zentralverwaltungswirtschaft genannt werden kann. Damit sollten unerwünschte (planwidrige) Entwicklungen auf der Betriebsebene durch detaillierte finanzielle, materielle und arbeitsrechtliche Verhaltensvorschriften und die Androhung von Sanktionen verhindert werden. Hierbei entwickelte sich in der DDR wie in allen Ostblockländern eine verhängnisvolle Regulierungs- und Stabilisierungsillusion. Der Ausweg aus betrieblichen Insolvenzen bestand unter anderem in einer erzwungenen Kreditaufnahme der Betriebe und in einer automatischen Sozialisierung der Verluste. Der Versuch, betriebliche Insolvenzen und Konkurse auszuschließen, endete in staatlich verursachten ständigen krisenhaften Unsicherheiten.

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schaftsordnung von heute gehen weitgehend darauf zurück. Die Orientierung am ordnungsökonomischen Stabilisierungsansatz ermöglichte es, dass die grenzüberschreitenden Währungs- und Wirtschaftsbeziehungen einen Aufschwung nehmen konnten, der früher zu beobachtende Wachstums- und Wohlstandsschübe bei weitem übertraf. Die wirtschaftliche Integration im Verständnis einer „Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft" (Wilhelm Röpke) bezog immer mehr Nationen und Regionen ein. Unter John F. Kennedy ab 1961 und verstärkt ab Ende 1963 unter Lyndon B. Johnson nahm dann die amerikanische Wirtschaftspolitik interventionistische Züge an - inspiriert von John M. Keynes, John K. Galbraith und Walt W. Rostow sowie anderen. Dieser Wandel der amerikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik äußerte sich in der Unterordnung der Geld- und Kreditpolitik unter die Fiskalpolitik und im Einfluss auf den IWF, sich weniger an der monetären (stärker ordnungsökonomisch fundierten) und mehr an der strukturalistischen (interventionistisch angelegten) Zahlungsbilanztheorie zu orientieren. Damit hat sich auch die Kreditpolitik des IWF und der Weltbank in der Weise verändert, dass die regelgebundenen Ordnungselemente stärker von den diskretionär-interventionistischen Einflüssen verdrängt worden sind. Mit der Schwächung des währungspolitischen Stabilisators ist weltweit ein destabilisierender Inflationismus und Handelsprotektionismus vorgedrungen. Die Destabilisierung drückte sich in einer zunehmenden Irrealität des Fixkurssystems im Rahmen des IWF, in verstärkten Konvertibilitätsbeschränkungen und in Störungen des internationalen Preiszusammenhangs aus. Die damit verursachten monetären und realwirtschaftlichen Fehlanpassungen lösten immer wieder neue krisenhafte Prozesse aus. Im Frühjahr 1973 setzte sich auch in der Praxis eine länger schon von Ökonomen vertretene Auffassung durch: Die nationale autonome Wirtschaftspolitik sei notwendig, verursache aber internationale Ungleichgewichte, so dass unter den gegebenen Umständen der Übergang zu flexiblen Wechselkursen erforderlich sei. Und schon bald setzte sich weitgehend die Erkenntnis durch: „Solange nicht die geldpolitischen Ziele international harmonisiert sind, sollte kein Anlass bestehen, das derzeitige Weltwährungssystem grundlegend zu ändern" (Molsberger 1978, S. 169). Dabei ist es bis heute geblieben. Doch zugleich blieb die amerikanischen Geld- und Fiskalpolitik weiterhin der Linie des interventionistischen Ansatzes treu - selbst nach der von Ronald Reagan Ende der 70er Jahre eingeleiteten Anti-Inflations- und Deregulierungspolitik. Immer wieder haben Versuche, mit hektischen Zins- und Devisenmarktinterventionen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren, zu destabilisierenden Fluktuationen der Zinssätze und Wechselkurse geführt7: Es bestätigte sich erneut, dass Versuche, bestimmte Makrogrößen zu steuern, ohne deren mikroökonomische Bestimmungsgründe zu beachten, den Marktverhältnissen, die schnellen unerwarteten Veränderungen unterliegen, nicht gerecht werden können. Die Gefahr prozyklisch wirkender Eingriffe ist immer wieder von den Interventionsinstanzen unterschätzt worden. Insgesamt wurde mit dieser Stabilisierungspolitik das Prinzip der Selbststeuerung der Mikrorelationen über das System der relativen Preise geschwächt. Es büßte an Fähigkeit ein, im ständigen wirtschaftlichen Wandel die jeweiligen Knappheitsverhältnisse anzuzeigen und Anreize hervorzubringen, auf diese Signale unternehmerisch zu reagieren und damit unbewusst die stabi-

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Allein das Rätseln um die politisch angepeilten Zins- und Wechselkursziele wurde zu einem eigenen Motiv für Devisen- und Kapitalmarkttransaktionen.

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lisierende Kraft des inneren Arztes des Marktsystems zu stärken (siehe Lucas 1973, S. 326 ff.; Hayek 1975, S. 12 ff.). Wird diese Bedingung für eine Politik der Krisenprävention ignoriert, entstehen fortschreitend neue schwerwiegendere Probleme. Werden diese dann nicht dem interventionistischen Ansatz, sondern dem Marktsystem als Versagen angelastet, liegt es unter dem Druck enttäuschter Erwartungen nahe, die Interventionsintensität zu verstärken. Insgesamt gehen auf den interventionistischen Kurs der amerikanischen Geldund Finanzpolitik auch der Crash, der sog. „schwarze Montag" vom 19. Oktober 1987, und andere Erschütterungen des internationalen Finanzsystems seit dem Jahre 2000 zurück.8 Die interventionistische Geld-, Zins- und Wechselkurspolitik ist in den USA, aber auch in anderen Ländern, danach ein wichtiges Element politischen Handelns geblieben. Schon vorher, nämlich 1987, hatte die amerikanische Geld- und Kreditpolitik unter Alan Greenspan, dem Vorsitzenden der US-Notenbank, begonnen, nicht nur konjunktur- und beschäftigungspolitische Ziele zu verfolgen. Künstlich niedrig gehaltene Zinssätze sollten zugleich einem sozialpolitischen Zweck dienen. Die Bürger sollten Immobilienkredite aufnehmen können, um ihren Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen. Die zinsgünstige Hypothekenfinanzierung wurde durch steuerliche Privilegien zusätzlich erleichtert. Viele Menschen wurden bei steigenden Immobilienpreisen dazu verleitet, sich bei variablen Zinssätzen und ohne hinreichende private Kapitalbildung bis über die Ohren zu verschulden. (2) Im Interesse einer künstlich hoch gehaltenen Nachfrage kann ein einseitig verstandenes makroökonomisches Stabilisierungskonzept dazu verleiten, den gesamtwirtschaftlichen Wert des Sparens9 als Grundlage der individuellen Existenzsicherung und des Wohlstands dem kurzfristigen Denken in vermeintlich konjunktur- und beschäftigungsgerechten Stromgrößen unterzuordnen: Auch in den USA hat die Bausparkassenfinanzierung, die auf dem jahrelangen Ansparen basiert, eine lange Tradition. Doch diese solide Finanzierungsmethode wurde von Hypothekaranbietern, die glaubten, auf verlässliche Ansparsummen verzichten zu können, zurückgedrängt. Und es waren diese „Non-Banks", die über die Entwicklung des Subprime-Marktes schließlich die Finanzkrise ausgelöst haben - durch eine unbesorgte Nutzung der Wertverbriefung und des Prinzips der Fristentransformation10 sowie durch Fehleinschätzung des Liquiditätsrisikos. Zahlreiche Hypothekenkreditnehmer befanden sich bei den unzureichenden Eigenkapitalanforderungen und konjunkturanfälligen Erwerbssituationen von vornherein in 8

Schon 1987 gab es Hinweise, dass der insbesondere von großen New Yorker Firmen praktizierte „computerisierte" Programmhandel am 19. Oktober in den letzten Börsenminuten zu einer Beschleunigung des Abwärtstrends geführt hat. Damals wurde bereits dieser Art von Spekulationsgeschäften eine völlig unzureichende Verknüpfung von Entscheidung und Haftung attestiert. Und es wurde eine allfällige stärkere Kapitalfundierung empfohlen - bei den Akteuren der New York Stock Exchange (NYSE), bei den Over-the-Counter (OTC-)Spezialisten, bei den Brokern in New York und in Chicago. Schließlich wurde insgesamt festgestellt, dass die Kapitalbasis der Banken angesichts extrem hoher Risiken in kritischen Situationen unzureichend sein könnte. Eine rasche Regeländerung wurde als eine vordringliche wirtschaftspolitische Aufgabe angesehen (siehe NZZ, Nr. 257 vom 6. 11. 1987, S. 19). Dabei ist es geblieben. 9 Siehe hierzu grundsätzlich Willgerodt (1957, S. 175 ff.). 10 Siehe Kapitel V.3. Spontane Ordnungen in der Geld- und Kreditwirtschaft und das Stabilitätsproblem.. Auf die Versuchung, das Prinzip der Fristentransformation unbesorgt, ja teilweise verantwortungslos zu nutzen, kann die Neigung der Banken zu einer hohen Fremdfinanzierung im Verhältnis zur Eigenkapitalausstattung zurückgeführt werden.

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einem Zustand der latenten Überschuldung. Dieser wurde sichtbar, als die Zentralbank ihre lockere Geldpolitik aufgab und die Zinssätze drastisch anhob. Die Wirtschaftssubjekte, die sich von einer künstlich hochgetriebenen Nachfrage haben mitziehen lassen, ohne das Zinsänderungsrisiko hinreichend zu beachten, hatten plötzlich einen erhöhten Kapitaldienst zu verkraften. Mangels hinreichender Eigenkapitalvorsorge führte die prozyklische Notenbankpolitik zu massenhaften Insolvenzen und Notverkäufen, begleitet von einem beschleunigten Verfall der Immobilienpreise. (3) Dem Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienkreditmarktes ging die Umwandlung der Hypotheken in marktgängige Vermögensansprüche durch mehrfache Verbriefungen voraus. Für die Bonität der Papiere wurde in der Branche und von Rating Agenturen auf der Grundlage von Computer-gestützten Risikomodellen geworben. Der Glaube in die vermeintlich objektiven, in Wirklichkeit undurchsichtigen Maßstäbe der Risikobeurteilung war schließlich unbegrenzt. Die ungeheure Fülle der herangezogenen und verarbeiteten Daten, auf die sich die Risikomodelle für die Beurteilung der jeweiligen Verbriefungen bezogen, beeindruckte so stark, dass auch im Falle von Mehrfachverbriefungen nicht mehr nach der zugrunde liegenden Wertbasis gefragt wurde. Risiken wurden nur noch als Chance11, nicht mehr auch als Verlustgefahr angesehen - bis sich alle Akteure der Gefahren bewusst wurden. Nach Aufdeckung gravierender staatlicher Versäumnisse in der Geld- und Kreditpolitik, bei den Rating-Agenturen sowie der Wirtschaftspolitik (siehe Möschel 2008, S. 1285) brachte der Herdentriebeffekt die entstandene Blase zum Platzen und löste weltweit eine pessimistische Stimmung aus. (4) Der Schaden aus dem unbegrenzten Vertrauen in die Risikobeherrschung erinnert an jene Vorbehalte gegenüber dem Prinzip der Wertverbriefung, die Adam Smith im Zusammenhang mit der spontanen Entwicklung der „echten" Banknote, als Massenform der Verbriefung von Gold- und Silbergeld im 17. Jahrhundert durch die sog. Zettelbanken12, geäußert hat.13 Smith beschreibt zunächst eindrucksvoll die mit der Verbriefung verbundenen Vorteile.14 Doch dann gibt er zu bedenken: 11 Zum Einfluss dieser Neigung auf Entstehung und Verlauf der jüngsten Krise siehe Issing Committee (2009, S. 27): „These tendencies, to extrapolate the good times und to excessively discount riks (especially tail risk), also explain the recent popularity of strategies which promised significant and steady up front returns, while also increasing exposure to low probability but high cost events, including reputation loss". 12 Im 17. Jahrhundert gingen in den meisten europäischen Ländern, vor allem in Großbritannien, immer mehr Juweliere und Edelmetallhändler dazu über, von ihren Kunden Münzen und Edelmetalle zur sicheren und wertbeständigen Aufbewahrung und gegen Aushändigung von Depotscheinen (Zertifikate oder Zettel) entgegenzunehmen. Diese Papiere, die den Inhaber berechtigten, das Depot bei Sicht zu beheben, stellten für den Einleger eine Erleichterung des Zahlungsverkehrs dar. Die Depotstellen konnten auf der Grundlage der Depositen verzinsliche Kredite gewähren. Es bildete sich spontan die Gepflogenheit der Dritteldeckung heraus. Damit entstand eine beachtliche zusätzliche und - wie sich dann mehr und mehr zeigte - inflatorisch wirkende multiple Geldschöpfung, zumal die Banknoten anders als die hinterlegten Werte - praktisch unbegrenzt mit minimalen Kosten produziert werden konnten. Zu allen Missbräuchen, zu welchen die Errichtung der Zettelbanken Anlass gegeben haben, „besteht vielleicht der größte in den unangemessenen Darlehen, die sie verschwenderischen Regierungen haben geben müssen. Fast immer sind Verluste für die Bankiers und das Publikum und Erleichterungen der Gelegenheit, Böses zu tun, für die Regierung die Folge gewesen" (Say 1845, S. 178 ff.). Um das Ausmaß der Verschuldung und der dadurch angerichteten monetären Brandstiftung zu verschleiern, wurden im Zusammenspiel zwischen Banken und Regierungen die Anleiheformen getarnt, „um weniger skandalös" zu erscheinen. Dieser Weg, auf dem sich Regierungen ihre „kostspieligen Gedanken" und ihre „politischen Leidenschaften" finanzieren ließen (Say ebenda, S. 183), endeten in

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„Handel und Gewerbe des Landes, wiewohl sie sich dadurch etwas vergrößern lassen mögen, (können) doch nicht so sicher sein, wenn sie gewissermaßen an den Dädalusflügeln des Papiergeldes hängen, wie wenn sie auf dem festen Boden von Gold und Silber reisen. Zusätzlich zu den Unglücksfallen, denen sie durch das Ungeschick der Lenker dieses Papiergeldes ausgesetzt sind, müssen sie verschiedene andere gewärtigen, vor denen keine Vorsicht, keine Geschicklichkeit dieser Lenker sie bewahren kann"."

Smith erkennt, dass die Möglichkeit, Menschen ohne deren Wissen und Wollen in riskante Transaktionen hineinzuziehen und ohne Aussicht auf Kompensation zu schädigen, auf einer ungerechten Rechtsverteilung beruht, die auch im Interesse der Stabilisierung und der Stabilität der Gesamtordnung eine tiefgreifende Korrektur erfordert: Diejenige „Ausübung der natürlichen Freiheit einiger weniger, welche die Sicherheit der ganzen Gesellschaft gefährden könnte, muss von den Rechtsordnungen aller Staaten verhindert werden, der freiesten wie der despotischsten. Die Verpflichtung zur Errichtung von Brandmauern, um das Übergreifen von Bränden zu verhüten, ist ein Verstoß gegen die natürliche Freiheit von genau der gleichen Art wie die hier empfohlenen Beschränkungen des Bankgewerbes" (S. 357) - im Sinne der Currency-Lehre, nach der die verbrieften Rechte nur so gut sein können, wie die zugrunde liegenden Vermögenswerte, ist hinzuzufügen. Diese vor allem von David Ricardo begründete Position wurde dann 1844 durch die PeeV sehe Bankakte zum Leitgedanken einer neuen englischen Geld- und Kreditordnung. 16 Die, wie gesagt, schon von Adam Smith erkannte Gerechtigkeitsfrage, die die Wertverbriefung aufwerfen und sich in kühnen, leichtsinnigen, vielleicht sogar betrügerischen Schädigungen zu Lasten der Bürger und der Gesamtordnung äußern kann, legt es nach den Grundsätzen der Regeln gerechten Verhaltens17 nahe, diese negativen externen Effekte zu begrenzen und sich mit Bauplänen für eine nach menschlichem Ermessen angemessene Mauer zum Schutz vor dem Übergreifen monetärer Brandausbrüche zu beschäftigen. Ein solches Bemühen greift allerdings zu kurz, wenn Vorkehrungen gegen die Gefahr der Brandausbreitung unterbleiben.

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einem Währungs- und Bankenchaos, das als Versagen des Free Banking-Prinzips gedeutet werden kann. Siehe den Abschnitt „Geld als besonderer Teil des allgemeinen Vermögens der Gesellschaft oder: die Erhaltungskosten des volkswirtschaftlichen Kapitals" (Smith 1776/2005, S. 322 ff.). Zur heutigen Sicht der Verbriefungsproblematik siehe die Beiträge von Meyer sowie Thieme und Michler in diesem Band. Siehe V.3. Das Trenn-Banken-System - Eine Brandmauer gegen das Übergreifen monetärer Feuersbrünste. Peels Akte gründet auf der Idee einer Trennung der hoheitlich streng limitierten Banknotenausgabe von der Möglichkeit, auf dieser Grundlage Kredite zu gewähren. Dies erfordert eine direkte Verbindung von Geldschöpfung (als Privileg der staatlichen Zentralbank) und Kreditgewährung. Doch sollten beide Vorgänge unterschiedlich geordnet werden. Die Kreditgewährung sollte - zur Vermeidung einer erneuten Politisierung des Kreditgeschäfts - nicht dem Staat oder Banken zustehen, die von diesem beherrscht werden. Die Geschäftsbanken sollten selbständig sein und um die üblichen Einlagenund Kreditgeschäfte sowie andere Bankdienstleistungen konkurrieren - gewinnorientiert und für Fehlentscheidungen haftend. Siehe hierzu Hayek (2003, S. 181.)

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2. Interventionistische Triebkräfte der Krisenausbreitung Die jüngste Finanzkrise ist von den USA ausgegangen, sie hat sich zur Wirtschaftskrise fortentwickelt und weltweit ausgebreitet. Für eine Politik der Krisenprävention sind die Faktoren wichtig, die die Ausweitung, Intensität und Dauer der Krise beeinflussen. Aus ordnungsökonomischer Sicht verdienen hierbei besondere Beachtung: Vorausgegangene und fortwirkende Fehlanreize, Fehlallokationen und Erstarrungen des Wirtschaftsgeschehens, die auf die Praxis des interventionistischen Stabilisierungskonzepts zurückgeführt werden können.

Der wohlfahrtsstaatliche

Interventionismus

Der wohlfahrtsstaatliche Interventionismus dient in Deutschland seit Bismarck, aber auch in vielen anderen Ländern, als Mittel, um Regierungsmacht zu gewinnen und zu sichern. Im Wettlauf der Parteien, Interessengruppen und Sozialbürokratien machen versorgungsstaatliche Ansätze immer wieder süchtig nach mehr Staat, um alte und neue „soziale Errungenschaften" dem Einfluss der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung zu entziehen. So haben die deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker die Bevölkerung seit Ende der 60er Jahre immer großzügiger mit Sozialansprüchen „versorgt". Der Trend von der Erwerbs- zur Transfergesellschaft als Ergebnis einer staatlich verordneten und organisierten Solidarität hat typische Begleiterscheinungen: Der menschliche Wille, eigene Initiativen zu entfalten und selbstverantwortlich zu handeln, erlahmt; private Vorsorgeeinrichtungen können mit nachlassendem politischen Widerstand der Wähler diskriminiert werden; damit werden die Bürger immer mehr von Sozialkassen und Einrichtungen der staatlichen Fürsorge abhängig; es wird versucht, sie mit immer neuen Verordnungen, Vorschriften und Subventionen zu gängeln und zu ködern; die Steuerbelastungen und Budgetdefizite steigen massiv und dauerhaft an; sie bilden die Vorstufe künftiger Steuerbelastungen und inflatorischer Prozesse, erschweren jedenfalls eine langfristig auf Kaufkraftsicherung ausgerichtete geldpolitische Strategie. Mit der sich ausbreitenden Unsicherheit, die sich aus der ständigen Erhöhung der Staatsverschuldung, Steuer- und Sozialabgabenlast sowie der Inflationsgefahr ergibt, nimmt die Krisenanfalligkeit der Wirtschaft zu. Die sich ausbreitende Unsicherheit folgt dem jahrzehntelangen Versuch, mit Hilfe von Sozialansprüchen die Belastbarkeit der Wirtschaft zu testen. Mit einem ständig steigenden Finanzierungs-, Sanierungs- und Reformbedarf ist daraus eine Interventionsspirale entstanden. Davon ist in der eingetretenen Krise die Existenz vieler Unternehmen und Arbeitsplätze bedroht. Bei Erlösrückgängen und einer auf hohem Niveau verharrenden Steuer-, Lohn- und Sozialkostenbelastung18 fehlt ihnen die notwendige Bewegungsfreiheit und die mikroökonomische Hilfe des inneren Arztes. Selbst Unternehmen, die sich zunächst als vergleichsweise anpassungsfähig und schockfest, ja als Motor des Strukturwandels erwiesen haben, geraten in Gefahr, mitgerissen zu werden. Jedenfalls können auch sie sich nicht den Folgen des verschärften Absatz- und Kostenwettbewerbs entziehen. Ihr unternehmerisches Handeln hat sich deshalb auch darin zu 18 Die Sozialansprüche sind teilweise oder ganz von den Unternehmen zu erfüllen (siehe Schüller 2002, S. 111 ff.).

Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe

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bewähren, die Leistungserstellung kapitalintensiver zu gestalten, um vor allem Geringqualifizierte einzusparen - mit beschleunigten Einnahmeeinbußen und Belastungen der sozialen Sicherungssysteme. Nun wird in der jüngsten Krise immer wieder behauptet, der hochgradige wohlfahrtsstaatliche Interventionismus sei ein unverzichtbarer Stabilisierungsfaktor. Die staatlich organisierte Daseinsvorsorge sei auf lange Sicht eben zuverlässiger als die private Vermögensbildung. Tatsächlich haben im 20. Jahrhundert Ansprüche aus Sozialversicherungen immer wieder größere politische und wirtschaftliche Umbrüche besser überstanden als die Ansprüche aus Geldvermögensanlagen, betrieblichen Pensionskassen und privaten Lebensversicherungen. Dies aber nur deshalb, weil der Gesetzgeber es gewollt oder hingenommen hat, dass Einrichtungen der privatwirtschaftlichen Vorsorge massiv diskriminiert worden sind. Die Benachteiligung der eigenverantwortlichen Vorsorge ist auch jetzt wieder in hohem Maße auf (ordnungs-)politisches Versagen des Staates zurückzuführen. Und die weitgehende Abkoppelung der inflexiblen wohlfahrtsstaatlichen Systeme der Sozialen Sicherung vom Marktsystem mit Hilfe der staatlichen Steuerhoheit bedeutet: Die nicht privilegierten Bereiche der Wirtschaft und der Vermögensbildung müssen umso mehr die Last der unausweichlichen Anpassung und Krisenbewältigung tragen. Das bedeutet, dass die Kräfte zusätzlich geschwächt oder gefesselt sind, die jetzt zur Krisenüberwindung und Krisenprävention besonders beitragen könnten (siehe Kapitel V.2.). Dadurch wird die Krise verschärft und verlängert. Es wäre fatal, würde der Wohlfahrtsstaat deutscher Prägung jetzt ideologisch noch zusätzlich mit einer Brandmauer zum Schutz gegen Versuche versehen, Freiheit und soziale Sicherheit nicht länger isoliert zu gestalten. Beide Aspekte sollten im Rahmen einer Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs in eine Beziehung der produktiven Gleichrichtung gebracht werden, gerade auch im Interesse einer langfristig geringeren Krisenanfälligkeit.19

19 Tatsächlich wird das liberale Ordnungsdenken, das dem Wirken des mikroökonomischen Stabilisators zugrunde liegt, in der Vorstellungswelt breiter Bevölkerungsschichten als Ideenlehre im Dienste der Unternehmer empfunden. Das war und ist eine Verfälschung eines Konzepts, das gegenüber der früheren bäuerlich-ständischen Verfassung nicht nur die freie Berufswahl und völlig neue Einkommensund Beschäftigungsgelegenheiten für alle ermöglicht, sondern auch Vorsorgemöglichkeiten für die Zukunft eröffnet hat, die es vorher nicht gab. So sind im 19. Jahrhundert aus der freiheitlichen Ordnungsidee soziale Sicherungseinrichtungen hervorgegangen - als integrierter Bestandteil der dezentralen (mikroökonomischen) Stabilisierung (siehe Kapitel II. 1.). Vor allem seit den 40er Jahren entstanden im verstärkten Maße betriebliche, überbetriebliche und andere privatwirtschaftliche Einrichtungen der sozialen Sicherung: Betriebliche Kranken- und Pensionskassen, Werkswohnungen und Erholungsheime, Konsumvereine, Fabriksparkassen, private Lebensversicherungen sowie Arbeitslosenkassen in der Regie von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften. Die Ausformung der marktwirtschaftlichen Ordnung in sozialer Hinsicht vollzog sich dezentral in vielfaltigen freivertraglichen Institutionen und Organisationen. Parallel diente der wirtschaftliche Wettbewerb mehr und mehr dazu, hierfür leistungsfähige Vertragstypen zu entwickeln und auszuprobieren. Damit wurde auf den deutschen Versicherungsmärkten vielfach das nachgeholt, was in den USA und in Großbritannien schon vorher existierte - zunächst mit Hilfe des selbst geschaffenen Rechts der Wirtschaft, das dann vielfach durch zwingendes Recht ergänzt oder ersetzt wurde. Mit dem Niedergang der liberalen Bewegung in Deutschland Ende der 1870er Jahre wurde unter Bismarck der interventionistische Weg der zentralen staatlichen Vorsorge eingeschlagen. Marktmäßige Vorsorgealternativen und freivertragliche Vermögensansprüche werden seitdem immer mehr diskriminiert und sind der Gefahr ausgesetzt, (sozialpolitischen Umverteilungswünschen geopfert zu werden. Von diesem politischen Bestreben her mag es zu erklären sein, wenn heute viele die umfassende staatliche Daseinsvorsorge als das allein in

366 Subventionsbedingte

Alfred Schüller

Krisenanfälligkeit

Verbände, Parteien und staatliche Stellen wirken vielfach zusammen, um bestimmten Unternehmen, Branchen und Regionen, die im Prozess der Markt- und Einkommensentwicklung nicht mehr Schritt halten können, mit staatlichen Mitteln zu helfen, ihre wirtschaftliche Position zu verbessern. Häufig dienen solche Eingriffe dazu, dem inneren Arzt des Marktsystems in den Arm zu fallen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Daneben gewähren öffentliche Stellen in Deutschland seit den 1970er Jahren zunehmend Kredithilfen und andere Sondervergünstigungen, um Investitionen „anzustoßen" - vor allem für politisch bevorzugte Produktions- und Beschäftigungsentwicklungen sowie für industrie- und regionalpolitische Zwecke. Hierdurch ist der Anteil der nicht oder wenig am jeweiligen Marktzins orientierten Kredite an der gesamten Außenfinanzierung 20 der inländischen nicht-finanziellen Sektoren in Deutschland schon bis 1992 stark gestiegen {Deutsche Bundesbank 1992, S. 23).21 Auch mit dieser Schwächung des inneren Marktarztes wird die Krisenanfalligkeit der Wirtschaft erhöht: — Die „fühlbar eingeschränkte" Steuerungsfunktion des Marktzinses verfälscht auch bei den Kreditgebern, den Geschäfts- und Landesbanken, das Rentabilitätsdenken. Deren Interesse an der unternehmerisch anspruchsvolleren bankmäßigen Finanzierung erlahmt. Denn die Kredithilfe verleitet dazu, sich möglichst darauf zu konzentrieren, Vorhaben mit einem staatlichen Engagement zu finanzieren. Der Staat ist damit (nach 1989 vor allem auch in den neuen Bundesländern) indirekt in die Rolle des Fremdkapital- und Arbeitgebers gerückt.22 — Mit der teilweise verstaatlichten Finanzierung und Sicherung von Unternehmen und Arbeitsverhältnissen wird die wettbewerbliche Marktkontrolle vom Prinzip der Staatskontrolle verdrängt. Diese enthält wegen der damit verbundenen Politisierung für sich wieder den Keim für weitere wirtschaftliche Fehlentwicklungen. Mit dem Grad und der Dauer der Isolierung vom marktwirtschaftlichen Wettbewerb lassen Kraft und Bereitschaft der Begünstigten nach, den Erfordernissen des mikroökonomischen Stabilisators Rechnung zu tragen. Mangelt es an greifbaren Erfolgen, die vom staatlichen Engagement erwartet werden, wird kaum damit zu rechnen sein, darin starke Indizien für Fehlinvestitionen und eine verschwenderische Ausgabenpolitik zu sehen. Vielmehr wird es als notwendig angesehen, mehr zu helfen als bisher. Und tauchen unvorhersehbare Sonderprobleme oder - wie jetzt - krisenbedingte

Frage kommende Rezept für eine gerechte und krisensichere Sozialgestaltung betrachten (siehe Schüller 2002, S. 111 ff.) und z. B. in Rentenerhöhungen, losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung, einen Beitrag zur Belebung der Wirtschaft sehen. 20 Die Außenfinanzierung umfasst die externe Eigenkapitalzuführung und die Fremdfinanzierung; die Innenfinanzierung setzt sich zusammen aus Abschreibungen, Gewinnzuführungen, Rückstellungen. 21 (Eine Anschlussuntersuchung der Deutschen Bundesbank liegt leider nicht vor). In den 90er Jahren hat in Deutschland allein der Bund über 40 spezielle Kreditförderungsmaßnahmen angeboten. Hinzu kamen zahlreiche Hilfsprogramme der Bundesländer und der EU-Kommission, die sich inzwischen entgegen ihrem Auftrag der Beihilfekontrolle - mit rasch zunehmenden Finanzhilfen zu einer rechtlich kaum noch kontrollierbaren „Subventionsbehörde" entwickelt (Mestmäcker 2006, S. 55 und 71). 22 Diese Rolle hat gleichzeitig für private Investoren und Arbeitgeber, die keine Subvention erhalten, an Attraktivität verloren, zumal der Staat ein produktivitäts- und wettbewerbswidriges Lohnkartell toleriert hat.

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wirtschaftliche Notlagen auf, wird es für den Staat besonders schwierig, die Rolle des Protektors aufzugeben, wenn er verhindern will, dass er in der Öffentlichkeit in die Rolle des Schuldigen gedrängt wird. Eine hoch entwickelte Subventionspraxis ist für eine Politik der Krisenbewältigung und -prävention eine schwere Hypothek: Bei vernebelter Kalkulation der Investitionspläne leisten Sparer und Steuerzahler ungewollt einer schwachen, politisch bestimmten Verwendungsqualität der Sparmittel und einer Anreizkonstellation von Wirtschaft und Staat Vorschub, durch die der Anpassungsdruck auf die nicht begünstigten Bereiche der Wirtschaft wächst. Zur Praxis interventionistischer Stabilisierungsbemühungen gehört auch die herkömmliche Gestaltung der Bankenordnung in Deutschland.

IV. Stabilisierung durch isolierte Bankenregulierung? 1. Erfahrungen mit der bisherigen Bankenaufsicht in Deutschland Immer wieder werden Krisen der Finanzmärkte nicht als Verstoß gegen den ordnungsökonomischen Stabilisierungsansatz, sondern isoliert als Marktversagen vor allem auf der Ebene der privaten Banken angesehen (siehe Fey 2006, S. 174 ff.). Die Freiheit in der Führung ihrer Geschäfte wurde als zu weitgehend betrachtet. Dabei haben häufig monetäre und wirtschaftspolitische Fehlsteuerungen und Versäumnisse der staatlichen Zentralbanken und der Regierungen den Zusammenbruch von Banken verursacht - wie im Falle der Darmstädter und Nationalbank 1931.23 Um die Depositen zu sichern, wurden die Banken mit staatlichen Mitteln gestützt und saniert. Das Reichsgesetz über das Kreditwesen vom Dezember 1934 sollte die Banken stoßfester machen. Neben notwendigen und zweckmäßigen Bestimmungen ging es auch darum, die Zinskartelle, die im deutschen Bankenwesen schon vor 1931 üblich waren, zu legalisieren. Deren Steuerung oblag nach 1945 der Bankenaufsicht, seit 1961 im Rahmen des neuen Kreditwesengesetzes dem „Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen".24 Der Zusammenbruch der privaten Herstatt-Bank hat die Bundesregierung 1974 erneut veranlasst, das Kreditwesen-

23 Auch damals breitete sich die von den USA ausgehende Krise weltweit aus. Zum Gesamtkomplex der Weltwirtschaftskrise siehe Haberler (1976, S. 212 ff.). 24 In der jüngsten Finanzkrise ist wieder eine lebhafte Phantasie im Bereich staatlicher Interventionen aufgekommen. Deshalb sei hier an die volkswirtschaftlich negativen Konsequenzen des Zinsdirigismus und der damit verfolgten präventiven Stabilisierungspolitik erinnert. Siehe im einzelnen Meyer (1960, S. 7 ff.): 1. Eine Zweckentfremdung der Zinspolitik; 2. die Unterstellung jedes Kreditinstituts unter das „Prinzip des Denkmalschutzes", was einem Freibrief für beliebige Aufwandssteigerung und für schlechte Geschäfte gleichkommt; 3. Schaffung von Anreizen zu vielfaltigen Umgehungen zugunsten großer Einleger und Kreditnehmer - auch durch erfinderische Finanzmakler wie Rudolf Münemann, dessen 1970 am Zinsänderungsrisiko gescheitertes innovatives Kreditmodell („Revolving-System" nach dem Prinzip der Fristentransformation) das Ergebnis einer Reaktion auf staatliche (Fehl-) Regulierungen war; 4. die Gewährung einer Kartellrente an alle Institute, die ertragsmäßig über der Grenze der Banken liegen, nach denen sich die Zinsspanne richtet. Dies geht auf Kosten kleinerer Kreditnehmer und der kleinen Sparer und ihrer Möglichkeit, Geldvermögen zu bilden. Schließlich haben 5. die deutschen Zinskartelle die Bankenkrise von 1931 nicht verhindern können. Mit der Aufhebung des Zinsdirigismus am 1. 4. 1967 hat sich der Konditionenwettbewerb verstärkt. Die Kosten der Kapitaltransformation über den Bankensektor sind erheblich gesunken. Die Gefahr der Misswirtschaft im Bankenwesen war damit allerdings nicht gebannt, wie der Herstatt-Fall gezeigt hat.

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gesetz zu novellieren.25 Die Vorgehensweise war widersprüchlich und ließ das weiterhin ungelöste Problem der Bankenordnung im Rahmen des staatlichen Monopols der Geldemission erkennen: Noch wenige Monate vor dem Herstatt-Fall hatte die Bundesregierung auf dem Deutschen Bankiertag in Bonn die angeblich zu hohen Rückstellungen der Banken für Risiken aus dem Kreditgeschäft als „verkappte Profite" kritisiert (siehe Brestel 1974, S. 11). Dabei hatten deutsche Banken im Gefolge der beiden Weltkriege und Inflationen fast ihre gesamten Reserven eingebüßt. Schon deshalb waren sie gut beraten, auf eine angemessene Risikovorsorge bedacht zu sein. Im Gefolge der Herstatt-Pleite, die zum Abzug von Einlagen vor allem bei den kleineren Banken führte, zeigte sich: Die Rückstellungen für den Ernstfall waren nicht übermäßig. Die Einlagen wurden anschließend großen privaten und staatlichen Instituten zugetragen. Diese konnten ihre Depositen und Bilanzsummen 1974 sprunghaft auf Kosten der kleineren Konkurrenten erhöhen26. Die ordnungspolitische Bedeutung der Reaktion des Gesetzgebers auf den HerstattFall liegt weniger in nachhaltigen Vorkehrungen für den Sparer- und Liquiditätsschutz27, sondern in dem damit ausgelösten Strukturwandel. Dieser hat, im Zeichen des neuen (interventionistischen) Leitbilds der Wirtschaftspolitik stehend, zu einer erheblichen Bankenkonzentration geführt. Inzwischen gibt es allenfalls noch fünf große europäische Banken ohne direkten staatlichen Einfluss. 28 Und wenn diese, wie in der jüngsten Krise die Deutsche Bank, ohne staatliche Hilfe durch die Finanzkrise kommen wollen, müssen sie sich gegen aufgezwungene Staatsgarantien29 zur Wehr setzen, weil im Verständnis staatskapitalistischer Anmaßungen nicht sein kann, was nicht sein darf. Banken, denen es gelingt, ohne fremde Hilfe in der Krise zu überleben, müssen damit rechnen, in Verruf gebracht zu werden und dadurch Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Um dem vorzubeugen, könnte es nahe liegen, sich der aufgedrängten staatlichen Garantie zu bedienen und die eigenen Sanierungsanstrengungen zu vernachlässigen. Mit dem deutschen Kreditwesengesetz von 1934, bis heute mehrfach novelliert, hat sich die Praxis einer Regulierung entwickelt, die den üblichen Argumenten des Marktversagens (siehe Fey 2006, S. 115 ff.) folgt. Deshalb lag es nahe, dass bei zunehmender Internationalisierung des Bankgeschäfts versucht worden ist, den Regulierungswettbe25 Der Fehler der Herstatt-Bank war, dass sie nach der Wechselkursfreigabe, zunächst 1971, dann endgültig im Jahre 1973, einem international ungeübten, forschen jungen Bankangestellten freie Hand für übermäßige Leerverkäufe am Devisenmarkt gegeben hatte, ähnlich wie zuletzt in Island die Bankenaufsicht durch die Zentralbank und die Finanzaufsichtsbehörde Misswirtschaft im Bankenwesen begünstigt und die Problematik der engen Verknüpfung von Depositen- und Spekulationsgeschäften verdeutlicht hat (siehe Kapitel V. 3. Das Trenn-Banken-System - Eine Brandmauer gegen das Übergreifen monetärer Feuersbrünste.). 26 Profitiert haben davon auch jene Landesbanken, die faule Großkredite und verfehlte Immobilienspekulationen zu beklagen hatten. Im Falle der HELABA gingen die Verluste durch ein massives Missmanagement über eine Milliarde DM hinaus. Aber da es sich um ein öffentlich-rechtliches Institut mit der Gewährsträgerhaftung des Steuerzahlers handelte, hatten die Einleger dieser Bankengruppe keinen Schaden. 27 Hierzu gehört vor allem die Schaffung des Einlagensicherungsfonds und der LiquiditätsKonsortialbank („Liko-Bank") als Teil dieser freiwilligen Einrichtung der Banken zur Einlagensicherung.. 28 Siehe FAZ, Nr. 54 vom 5. 3.2009, S. 22. 29 Hier liegt in abgemilderter Form eine Art von erzwungener Kreditaufnahme beim Staat vor (siehe Fußnote 6).

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werb zwischen den Staaten durch eine internationale Koordinierung oder Zentralisierung der Bankenregulierung zu ersetzen, wie es seit 1983 dem Gedanken des BaselAkkord entspricht. Im Jahre 2005 wurde geschätzt, dass das Bankenmanagement bis zu 30 % der Arbeitszeit für regulatorische Fragen benötigte. Es hatte sich eine Mentalität des hektischen „Alles-im-Griff-haben-Wollens" auszubreiten begonnen. Kritiker gaben zu bedenken, dass hierdurch wichtige Ziele einer Regulierung (Schutz der Einleger, Gläubiger, Anleger, unternehmerisches Handeln, die Sicherheit und vertrauenswürdige Stabilität des Banken- und Finanzsystems sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittelwahl) vernachlässigt werden könnten. Quantität und grenzüberschreitende Reichweite der Regulierungen sagen nichts über ihre Qualität aus. Ständig verfeinerte Ansprüche an eine vermeintlich „objektive" Risikomessung, verbunden mit einem einengenden Regulierungsdirigismus, werden dem inhärenten Wissensmangel nationaler und supranationaler Behörden nicht gerecht. Mit international harmonisierten Regulierungsmustern, apparativ-mechanisch und auf einheitlichem Niveau universell für anwendbar erklärt30, ist wahrscheinlich den Gläubigern der Banken eine Erwartungssicherheit vermittelt worden, die zur Arglosigkeit verleitet, sich jedenfalls als verhängnisvoll herausgestellt hat.31 Nicht nur kleine und traditionell als weniger gut informiert geltende Sparer, sondern auch größere professionell anlegende Kunden konnten zur Zeichnung von Wertpapieren und zu Kreditgewährungen veranlasst werden, die sich als hochgradig riskant herausgestellt haben. Massive Abschreibungen auf dubiose Hypotheken- und andere Risikoanlagen erwiesen sich als unausweichlich. Das Wertverhältnis zwischen Risikoanlage und Eigenkapital geriet damit immer mehr in einen Widerspruch zu den gängigen Regeln der Faire-value-Buchhaltung32 und von Basel II. Um dem Regelverstoß in den Augen der Buchprüfer zu entgehen, wurden die faulen Produkte mit verheerenden Auswirkungen in den Markt gedrückt. Wird die situationsabhängige, strengen Haftungsregeln unterworfene unternehmerische Risikoabschätzung durch einheitliche Detailregulierungen unterbunden, können aus ursprünglich beherrschbaren Abschreibungen auf Risikoanlagen leicht katastrophale Treibsandeffekte entstehen. Vermutlich lassen sich die Auswirkungen grober Fehler und Versäumnisse der staatlichen Geld-, Kredit- und Wirtschaftspolitik nicht durch eine isolierte Verschärfung und Fortentwicklung der Bankenregulierung auf der Linie des Basel-Akkord auffangen auch nicht durch großzügige staatliche Rettungsmaßnahmen für ausfallgefährdete Bankaktiva, durch aufgedrängte Staatsgarantien und durch eine gesetzliche oder faktische Verstaatlichung von Banken. Darin ist vielmehr eine Neigung zu administrativsozialistischen Stabilisierungsversuchen auf Kosten der Steuerzahler zu sehen, die - wie in Deutschland besonders die öffentlich-rechtlichen Landesbanken und andere Beispiele zeigen - diskriminierend wirken. Wenn es dabei bleibt, dass die bankenspezifischen Rettungsmaßnahmen, also die Finanzierung durch den Staat, Vorrang vor der ordnungs-

30 Es handelt sich um ein Beispiel für den Versuch, aus der Wirtschaftswissenschaft eine naturwissenschaftliche Disziplin zu machen. Zur grundlegenden Kritik an diesen und anderen Formen des Rationalismus siehe schon Oakeshott (1966, S. 9 ff.). 31 Bei der ordnungspolitischen Einordnung des Basel-Akkords weist Vollmer schon 2002 (S. 340 f.) auf Anreize für die Geschäftsbanken hin, die eigene Risikoposition zu optimistisch zu sehen. 32 Die Faire-value-Buchhaltung orientiert sich an hypothetischen Marktpreisen, nicht am Niederstwertprinzip, das vom Vorsichtsgedanken bestimmt ist.

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politischen Anpassungsaufgabe haben33, dürfte nicht viel für eine künftige Krisenprävention gewonnen sein.

2. Das Problem der privilegierten Banken Banken im alleinigen oder überwiegenden Eigentum des Bundes und der Länder arbeiten prinzipiell unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Auch greift inzwischen die Staatsgarantie bei den Landesbanken im Notfall nicht mehr automatisch. Gleichwohl können diese Banken weiterhin im Ernstfall auf den Rettungsring des staatlichen Eigentümers vertrauen. Deshalb tragen die Einleger diesen Banken bis heute nicht ernsthaft eine mangelhafte Geschäftspolitik nach. Auch in der jüngsten Bankenkrise sind die staatlich privilegierten Banken verdeckt oder offen durch Sonderregeln einer sofort wirksamen Wettbewerbskontrolle entzogen. In den USA gilt das z. B. für die staatlich privilegierten und geschützten Hypothekenfinanzierer Freddie Mac (Federal Home Loan Mortgage Corporation) und das Schwesterinstitut Fannie Mae (Federal National Mortgage Association). Diese Institute sind für die staatliche Lenkung des Hypothekenkreditmarktes34 geschaffen worden. Sie sind ursächlich an der weltweiten Finanzkrise beteiligt. Für den Steuerzahler sind sie ein Fass ohne Boden. In Deutschland sind es mehrere Landesbanken35, die den Bundesländern und den Sparkassen gehören, also im öffentlich-rechtlichen Eigentum stehen. Die Sparkassen und ihre Dachverbände entziehen sich als Großaktionäre wenn möglich weitgehend der Haftungspflicht - unter Berufung auf die Zuständigkeit des Bundes und des jeweiligen Bundeslandes. Letztlich müssen - ohne Einfluss nehmen zu können - die Steuerzahler haften, die auch hier ohne Wissen und Wollen in riskante Transaktionen hineingezogen und ohne Aussicht auf angemessene Kompensation geschädigt werden können. Dieser Schädigungsfreiheit, die ein privilegiertes Management ohne entsprechende Haftungspflicht zum eigenen Vorteil nutzen kann, liegt eine Rechtsverteilung zugrunde, deren Rechtmäßigkeit aus ordnungsökonomischer Sicht nicht begründbar ist. Die Verantwortlichen der bislang privaten Commerzbank, um nur dieses Beispiel zu nennen, haben sich an der riskanten Übernahme der Dresdner Bank „verschluckt" und ließen sich durch einen Akt der Teilverstaatlichung vom Bund aus ihrer Atemnot befreien. Dieser kann nun als größter Aktionär über die KfW-Gruppe Einfluss auf den Kurs dieser Bank nehmen. Diese und andere staatlichen Erhaltungsinterventionen auf Kosten stoßfester Konkurrenten und des Steuerzahlers vergrößern den Bereich, in dem die bankwirtschaftlichen Funktionen und Wettbewerbsverhältnisse politisch beeinflusst und gestaltet werden können. Ein Staat, der die Passivseite der Bilanz einer Bank garantiert, wird eigene Vorstellungen haben, wenn es um die Gestaltung der Aktivseite geht. Und darf keine Bank in Konkurs gehen, kommt der Staat nicht daran vorbei, sich zur Schonung der Steuerzahler in die Geschäftspolitik der gesamten Branche einzumischen - mit 33 Siehe V. 3. 34 Zum Beispiel das 2002 von der 5¡«/¡-Administration geschaffene Programm der Hypothekenfinanzierung, mit dessen Hilfe die Konjunktur stabilisiert werden sollte. 35 In diesem Zusammenhang muss auch die KfW erwähnt werden, die als Staatsbank schon seit Jahren auf dem Gebiet subventionierter Kredite konkurrenz- und risikolos expandieren kann. Auch darin spiegelt sich der verstärkte Übergang vom ordnungsökonomischen zum interventionistischen Handlungskonzept wider.

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vielfältigen interventionistischen Konsequenzen. Wieweit der Staat sich - auch hinsichtlich der Intensität und Dauer seines direkten Engagements - dieser Sachlogik entziehen kann oder will, hängt davon ab, von welcher der beiden konkurrierenden Ordnungsideen sein Handeln bestimmt ist - der interventionistischen oder der ordnungsökonomischen Lösung. 36

V. Stabilisierung als ordnungspolitische Aufgabe heute 1. „Je mehr Stabilisierung, umso weniger Stabilität" Die interventionistische amerikanische Geld-, Zins- und Wechselkurspolitik hat in Verbindung mit „innovativen" (Mehrfach-)Verbriefungen von Wertpapieren Haussespekulationen ausgelöst und insgesamt die Zyklizität des Wirtschaftsgeschehens künstlich verstärkt. Als die Übertreibungen erkannt wurden, kam es zu Preisabstürzen. Obwohl es sich um staatlich induzierte Destabilisierungen handelte, haben sie weitergehenden interventionistischen Ideen und Handlungskonzepten zum Aufschwung verholfen. Zum einen, weil Krisen fälschlicherweise vielfach als unabwendbare Begleiterscheinung marktwirtschaftlicher Ordnungen angesehen werden. 37 Zum anderen, weil ignoriert wird, dass Interventionismus und Krisen zwei Seiten einer Medaille sind. So erinnern der Entstehungsgrund der jüngsten Krise und viele Erscheinungsformen und Begleiterscheinungen der weltweiten Ausbreitung daran, was Röpke (1937/1994, S. 292) mit der paradoxen Feststellung meinte: „Je mehr (interventionistische A. S.) Stabilisierung, umso weniger Stabilität". Um dies zu veranschaulichen, vergleicht Röpke den Wirtschaftsapparat mit einem Fahrrad. Auf diesem lässt sich bekanntlich dann sicher und unter ständiger Ausgleichung jeder kleinen Gleichgewichtsstörung fahren, „wenn die Lenkstange beweglich ist, während wir stürzen, wenn sie .stabilisiert' wird. So ist es auch im Wirtschaftsleben, wo die Lenkstange der die Wirtschaft steuernde freie Markt ist". „Jede Preis- und Kostenerstarrung, jede Bewilligungspflicht, jeder ,Numerus clausus', jeder schematisierende Kollektivvertrag, jedes Monopol, jede Unbeweglichkeit der Produktivkräfte und jedes Kontingent ist eine neue Verstrebung, die wir an der Lenkstange unseres Wirtschaftsapparates anschrauben, bis er immer mehr ins Schwanken gerät und wir einen Sturz nach dem anderen erleben, wenn nicht der Staat uns immer mehr stützt".

Die krisenanfälligen Regel- und Anreizkonstellationen des Interventionismus38 zeigen, wie verwundbar die hierdurch entstandenen Wirtschaftsstrukturen sind. Politische Neigungen, die sich ausweitenden Instabilitäten nicht dem interventionistischen Weg,

36 Die Beobachtung, dass staatliche Banken als Ergebnis eines evolutorischen Prozesses in den letzten Jahrzehnten dem Untergang geweiht sind (Ferguson 2008, S. 352), trifft bisher auf Deutschland nicht zu. 37 Nach Knut Borchardt (1982, S. 11 ff.) war der marktwirtschaftliche Konjunkturzyklus z. B. in Deutschland vor 1914 ein Wachstumszyklus, dessen Ausschläge nicht die Vorstellung rechtfertigen, der staatlich unbeeinflusste Zyklus sei unvergleichlich heftiger verlaufen als der staatlich gesteuerte in späterer Zeit: „Unter bestimmten Aspekten erscheint eher die Entwicklung in der Nachkriegszeit unstetig gewesen zu sein - im großen und ganzen verlief sie nach 1950 weit deutlicher nach einem zyklischen Muster als vor 1914" (S. 46). 38 Siehe Kapitel III.

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sondern der marktwirtschaftlichen Ordnung schlechthin anzulasten, mögen zwar eine ordnungspolitische Kursänderung erschweren, doch ändert dies nichts an der Notwendigkeit, den Zusammenhang von Krise und Interventionismus zu durchbrechen.

2. Stärkung des mikroökonomischen Stabilisators - Abbau staatlicher Investitions- und Beschäftigungshindernisse Die ordnungsökonomische Lösung kann in Fällen eines extremen Kreislaufzusammenbruchs, rasch fortschreitender Arbeitslosigkeit und einer hochgradig pessimistischen Massenstimmung mit Röpkes Idee der „Initialzündung" vereinbar sein. So war Anfang der 30er Jahre die freiheitliche Gesamtordnung extrem gefährdet. Das deutsche Kreditsystem und die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft standen unter dem Einfluss einer rasch fortschreitenden Deflation. Angesichts der „totenähnlichen Erstarrung" empfahl Röpke (1931, S. 423 f f ) , der gelähmten Privatinitiative, zunehmenden Arbeitslosigkeit und der innenpolitischen Hysterie ein Zeichen der Hoffnung entgegenzusetzen mit einer „Art organisierter Gemeinschaftsinitiative". Diese bestand in dem damals völlig unorthodoxen Mittel eines öffentlichen Investitionsprogramms zum Ausbau wichtiger Infrastrukturbereiche. Röpke war frei von jener „etatistischen Romantik", die dem inflationstreibenden Fiskalsozialismus Keynesschtr Prägung innewohnt und bis heute einem makroökonomischen Denkschema eigen ist, mit dem die mikro- und ordnungsökonomische Grundlage der wirtschaftlichen Vorgänge nachrangig behandelt oder einfach ignoriert wird. Röpkes Therapie beruhte auf einer sorgfältigen Diagnose der Krisenursache. Diese sah er erstens in einem verhängnisvollen innen- und außenpolitischen Vertrauensschwund und einem rigorosen währungspolitischen Nationalismus; zweitens in einer „monopolistisch-interventionistischen Erstarrung" als Ausdruck einer hochgradigen der Vermachtung der Wirtschaft. Das entspricht dem ordnungsökonomischen Stabilisierungsansatz. Der Röpke-Fall liegt gegenwärtig nicht vor. Umso mehr müssten in Politik, Staat und Wirtschaft die Voraussetzungen geschaffen werden, um den Interventionismus zurückzudrängen. Das bedeutet zunächst einmal, die Interventionen39, die den mikroökonomischen Stabilisator des Marktsystems schwächen und rentable Investitionen und Arbeitsplätze massiv behindern, nicht länger als unabänderlich hinzunehmen. Für eine Reform seien hier nur wenige Ansatzpunkte genannt:40 — Investitionsstimulierende Steuersenkungen, z. B. durch Beseitigung des „Mittelstandsbauchs" im Einkommensteuertarif, Abbau der Schattenwirtschaft und Stärkung der Kaufkraft der Bürger durch Senkung der Mehrwertsteuer. Verzicht auf jegliche Form der Besteuerung der Vermögenssubstanz. 41 — Zulassung des internationalen Steuerwettbewerbs, um leistungsfähige Direktinvestoren und Steuerzahler anziehen zu können und zu verhindern, dass bei zunehmender 39 Staatliche Eingriffe in die marktwirtschaftliche Preisbildung auf den Güter-, Arbeits-, Wohnungs-, Kapital- und Devisenmärkten sowie preis- und einkommensverzerrende Subventionen. 40 Zur Vielfalt pervertierter Anreize und staatlich verschuldeter Wachstums- und Beschäftigungsstörungen siehe die Beispiele in: Hamm (2003, S. 123 ff.); Hamm (2004, S. 153 ff.). 41 Die Erbschaftssteuer bedroht wie ein Damoklesschwert die Zukunft vieler mittelständischer Unternehmen.

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Steuerharmonisierung perverse (Ersatz-)Formen des Wettbewerbs (Subventionswettlauf) auf Kosten des Steuerzahlers vordringen. — Vorkehrungen, die es erlauben, Entscheidung und Haftung, Gewinn- und Verlustbeteiligung des Managements von Unternehmen in ein Verhältnis der Gleichrichtung zu bringen. Daran mangelt es heute. Das zeigen neo-feudale Fusionsstrategien, die dazu dienen, den Wettbewerbsdruck zu mindern und den Status „to big to fail" zu erhalten (siehe Lenel 2000, S. 25) - ohne angemessene Haftung der Verantwortlichen für Fehlentscheidungen.42 Insgesamt sollten im Interesse einer größeren Stoßfestigkeit der Unternehmen und Arbeitsplätze Gehälter und Löhne, Prämien und Nebenkosten jeglicher Art stärker von der Entwicklung der Auftragslage des Unternehmens abhängig gemacht werden können. Die Dauer des Kündigungsschutzes ließ sich z. B. an die Bereitschaft binden, dass ein begrenzter Teil des Einkommens flexibel gestalten werden kann. — Beseitigimg künstlicher Angebotsüberschüsse auf den Arbeitsmärkten, indem auf gesetzliche und tarifliche Mindestlöhne verzichtet wird. Hierdurch werden beschäftigungswirksame Investitionen angeregt. Heute werden diese verhindert.43 — Umstellung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle auf eine private Versicherungslösung. — Der Abstand zwischen Sozialhilfe und Erwerbslohn sollte genügend hoch sein, damit ein Anreiz besteht, den Lebensunterhalt aus eigener Kraft auf dem legalen Arbeitsmarkt zu verdienen. — Ein investitionsfreundliches Mietrecht, das z. B. Mieterhöhungen nach Sanierungen erleichtert. Hierdurch eingesparte Nebenkosten der Mieter würden die Erhöhung in der Regel überkompensieren. Ein solcher Investitionsanreiz wäre nicht auf (öffentliche) Mittel der KfW angewiesen. — Einbeziehung der Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie des Energiesektors in die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung. Schon die glaubwürdige Ankündigung entsprechender Maßnahmen kann einen Stimmungsumschwung herbeiführen (siehe hierzu auch Kösters und Leschke 2006, S. 257 f.). Freilich gilt ein solches „Konjunkturprogramm", das ordnungspolitisch zum Teil den Charakter eines Transformationskonzepts haben müsste 44 , vielfach als nicht 42 Die Ursache liegt in der Entwicklung des deutschen Aktienrechts seit 1937. Sie hat dazu geführt, dass die Aktionäre als die eigentlichen Eigentümer der Unternehmen von den Managern weitgehend entmachtet und die vom Kapitalmarkt ausgehenden Kontrollen geschwächt worden sind. Die haftungsarme oder gar haftungsfreie Herrschaft der Manager als Teilhaber ohne Eigentümerstatus beruht auf einer Rechtsverteilung, die im Widerspruch zum ordnungsökonomischen Ansatz der Stabilisierung und damit zu einer Politik der Krisenprävention steht. Kernstück dieses Ansatzes ist die Wettbewerbsordnung. Hierfür wie auch für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen, ist die Haftung Voraussetzung (sieh Euchen, 1952/1990, S. 279 ff.). 43 Branchenspezifische Mindestlöhne diskriminieren die Menschen, die legal nicht zu den Arbeitskosten beschäftigt werden können, zu denen Arbeit verfügbar wäre. Für die Betroffenen und die Gesellschaft hat die Mindestlohnarbeitslosigkeit erhebliche Nachteile. Diese lassen sich kaum durch ein immer dichter geknüpftes Netz von kostspieligen Kursen, Beratungs- und Vermittlungseinrichtungen vermeiden oder vermindern. 44 Im deutschen Gesundheitssystem sind unter der Herrschaft von Verwaltungsfachleuten und Sozialpolitikern wohlfahrtsstaatliche Lenkungsprinzipien des Zwangs und der Organisation besonders weit vorgedrungen.

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durchsetzbar. Dies ändert nichts daran, dass es unverzichtbar ist, soll der verhängnisvolle Zusammenhang von Krise und mikroökonomischem Interventionismus durchbrochen werden.

3. Stärkung des makroökonomischen Stabilisators - Alternativen Die Frage der internationalen Krisenprävention Angesichts der weltweiten Verflechtung der Finanzmärkte werden immer wieder verlässliche internationale Vorkehrungen der Krisenprävention angemahnt. Welche Maßnahmen hierfür geeignet sind, wird allerdings unterschiedlich beurteilt, wie die beiden konkurrierenden Stabilisierungslösungen zeigen. Die USA, das bisher weltweit führende Land im internationalen Währungs-, Banken- und Finanzmarktgeschehen, hat mit seiner interventionistisch angelegten nationalen Geld- und Fiskalpolitik und deren Unterordnung unter beschäftigungs- und sozialpolitische Zwecke immer wieder prozyklische monetäre Wirkungen ausgelöst. Wer wird die USA künftig davon abhalten können? Werden Russland, China und andere autoritäre politische Systeme davon abgehalten werden können, je nach (handels- und industrie-)politischen Zielen den Kapitalverkehr zu beschränken, Wechselkurse und Zinssätze zu manipulieren? Wer wird in Deutschland und anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien, Großbritannien usw. die ordnende Kraft mobilisieren können, um jene Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik durchzusetzen, die erforderlich ist, um die Widerstandsund Reaktionskraft des Marktsystems zu stärken? Diese wird notwendig sein, um einer Stabilisierungskrise gewachsen zu sein, die zu erwarten ist, wenn über kurz oder lang die Politik des billigen Geldes von heute aufgegeben werden muss. Wer wird in der EU dauerhaft verhindern wollen und können, dass das Ziel der Geldwertsicherung nach Artikel 105 des Vertrages von Maastricht nach Bedarf eine weite Auslegung erfahrt und dem Wunsch der Regierungen geopfert wird, die Staatsdefizite mit einer inflatorischen Geldpolitik zu finanzieren? Wer wird bei der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, für die die Sanktionsmittel nicht in der Hand der EZB, sondern des Europäischen Rats liegen, dafür sorgen, dass Begriffe wie „Haushaltsdisziplin" und „übermäßige Defizite" nicht nach den jeweiligen politökonomischen Anreizkonstellationen ausgelegt werden und anschließend Gewohnheitscharakter annehmen können? Und wer wird in der EU durchsetzen wollen und können, dass durch das bestehende politische Wechselkursmandat nicht der geldpolitische Handlungsspielraum der EZB eingeengt werden kann? 45 Wird bei dieser fragwürdigen Interessenlage wichtiger Mitglieder des IWF erwartet werden können, dass dieser ein wünschenswertes stabilitätsgerechtes Beratungs-

45 Regierungen, die sich für bestimmte Beschäftigungsziele verantwortlich erklären, ja in Wahlkämpfen darauf bestehen, sich für die Verfehlung solcher Ziele haftbar machen zu lassen, werden Aufwertungen als störend empfinden, auf eine (beschäftigungs-)aktive Wechselkurspolitik drängen und damit zeigen wollen, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank in Frage gestellt werden kann.

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mandat erhalten und kraftvoll umsetzen wird, so wie es Köhler im Jahre 2001 (S. 12 ff.) vorgeschlagen hat?46 Ordnungsökonomisch wäre es dazu erforderlich, den Mitgliedsländern eine Geldund Währungspolitik nahezubringen, die im Widerspruch zu einer an kurzen Fristen orientierten diskretionären Geldpolitik steht, dafür aber den Vorteil hat, prozyklische Wirkungen und die davon ausgehenden Destabilisierungen des gesamten Wirtschaftsgeschehens zu vermeiden. Der Zusammenhang von makroökonomischer (währungspolitischer) Stabilisierung und Krisenprävention47 müsste deshalb im Mittelpunkt der von Köhler beschriebenen Aufgabe des IWF stehen. Wer sonst als die USA und die EU könnte hierfür durch beispielhaftes Vorangehen den Weg weisen und damit die Voraussetzung für eine krisenresistente internationale Währungsordnung schaffen? Das Issing-Committee (2009, S. 24 ff.) hat in seinen Empfehlungen für eine „Neue Finanzordnung" ein in diese Richtung gehendes Frühwarnkonzept entwickelt. Angenommen wird ein weltweiter Mangel an Transparenz über verschiedene monetäre Störfaktoren, die Informationsasymmetrien mit destabilisierenden Wirkungen auslösen können. Es wird vorgeschlagen, mit Hilfe eines globalen Informationsaustauschs einen Katalog von stabilitätsrelevanten Parametern zu erarbeiten, die möglichst überall nach den gleichen Kriterien zu ermitteln wären. Zentralbanken, Finanzmarktakteure und die Öffentlichkeit sollen sich so frühzeitig einen Überblick über die Entwicklung des Risikogehalts globaler monetärer Prozesse und neuer Finanzprodukte verschaffen können: Erstens mit Hilfe einer globalen Risikokarte, die frühzeitig über sich aufbauende problematische Risiko- und Schadenspotentiale - auch mit Blick auf neue Finanzierungsinstrumente - informiert48. Zweitens mit einem globalen Kredit- und Wertpapierregister, das auf bestehenden nationalen und regionalen Verzeichnissen aufbaut und mit der Risikokarte inhaltlich vielfach zu verknüpfen wäre. Diese und andere Überlegungen des Issing-Committee lassen sich als Projekt einer weltweit verbesserten Bedingungstransparenz monetärer Prozesse bezeichnen - gleichsam als Bringschuld internationaler Finanzinstitutionen (IWF, BIZ usw.). Angesichts der vielfältigen Interdependenzen zwischen Finanzsystem und dem gesamten Wirtschaftsgeschehen sind mit der Beachtung eines solchen Frühwarnsystems Krisen keineswegs ein für allemal ausgeschlossen. Diesen Anspruch erhebt auch das Issing-Committee nicht. Auch dürften im Wettbewerb der beiden Stabilisierungslösungen die stabilitätsrelevanten Parameter auf nationaler Ebene unterschiedlich gewichtet und beachtet werden, obwohl diese empirisch nach den gleichen Kriterien ermittelt worden sein mögen. Doch kann dieses Frühwarnkonzept für eine erfolgreiche Politik der Krisenprävention, die letztlich auf nationaler Ebene betrieben werden muss, eine wichtige Informationsquelle sein. Der Nutzen, der daraus weltweit gezogen werden kann, wird weiterhin besonders davon abhängen, ob die innere US-amerikanische Geld- und Wirtschaftspolitik sich der Bedeutung für das eigene und weltwirtschaftliche Wohl stärker als bisher bewusst wird. Die moralisch und ökonomisch ideale Grundlage hierfür würde in einer 46 „Krisenprävention als Kemaufgabe des IWF zu verstehen, bedeutet das Augenmerk der Institution verstärkt darauf zu richten, den Mitgliedsländern zu helfen Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, die ihre eigene Krisenanfalligkeit mindern". 47 Siehe Kapitel III. 48 Hierbei wäre darauf zu achten, dass mit Frühwarnungen keine panikartigen Reaktionen ausgelöst werden können.

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nationalen und internationalen Währungsordnung bestehen, die ein ähnliches Grundmuster an institutionellen Vorkehrungen und Verhaltensweisen der Zentralbankleiter aufweisen müsste wie die Goldwährung. Das Verhältnis von innerer Anpassungspolitik und äußerer Finanzierung wie auch die Entwicklung der Wechselkurse blieben stabilisierenden Marktkräften im Rahmen spontaner Marktprozesse überlassen.49 Die Zyklizität als allgemeines, keineswegs gleichförmiges Phänomen der wirtschaftlichen Entwicklung, wäre hinzunehmen. Jedenfalls würden sich nationale Versuche, dagegen massiv mit diskretionären geldpolitischen und protektionistischen Mitteln vorzugehen, regelmäßig nicht nur prozyklisch (siehe Kapitel III.) auswirken; sie würden auch die selbststabilisierende Kraft dieser internationalen Währungsordnung schwächen und dem unverzichtbaren internationalen Vertrauen, auf dem diese Ordnung beruht, schaden (siehe Lutz 1935/1962). Die an verlässliche Regeln gebundene nationale Ordnungspolitik wird deshalb hier als der entscheidende Ansatzpunkt für eine Stärkung des makroökonomischen Stabilisators betrachtet. Der ordnungsökonomische Weg der Stabilisierung ist für mehrere Lösungen offen: 50

Die Schlüsselrolle der nationalen Geld- und Kreditpolitik Wie jedes Monopol steht auch das Geldschöpfungsmonopol des Staates im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung. Wenn es aber Gründe gibt, das Geldschöpfungsmonopol des Staates als wünschenswert oder unvermeidlich anzusehen, dann erfordert ein solcher „systemfremder" Machtkörper angemessene Regeln, damit die Gesamtordnung nicht gefährdet werden kann (siehe Eucken 1952/1990, S. 255 ff. und 291 ff.). Hierbei wird angenommen: — Stabile Geldverhältnisse sind erforderlich, um destabilisierende allokative und distributive Fehlentwicklungen des Marktsystems zu vermeiden. Geldwertstabilität zu sichern, wird erfahrungsgemäß erleichtert, wenn die Zentralbankleiter institutionell und persönlich unabhängig von Weisungen, Anpassungs- und Finanzierungswünschen der Regierung sind. — Eine stabilitätskonforme Beherrschung der Geldmenge ist prinzipiell möglich. Störende in- und ausländische Geldeinflüsse lassen sich nicht vollständig, wohl aber in einem Ausmaß ausschließen, dass destabilisierende prozyklische Effekte vermieden werden können. — Eine verstetigte Geldpolitik kann aus sich heraus eine stabilisierende Kraft entfalten.51 Eine entsprechende Geldpolitik mit marktmäßigen Zinssätzen und Wechselkursen hat das Potential, den Wirtschaftsteilnehmern auch unter den Bedingungen moderner Papierwährungen ein geldwirtschaftliches Planen und Handeln zu ermögli-

49 Siehe im einzelnen Gröner und Schüller 1989, S. 445 ff. 50 Der Rückgriff auf ein Frühwarnkonzept nach den Empfehlungen des Issing-Committee kann für alle im Folgenden genannten Lösungen nützlich sein. 51 Damit soll die Öffentlichkeit verlässlich davon ausgehen können, dass die Politiker keinen durchschlagenden Erfolg bei Bestrebungen haben können, die Zentralbank aus wahltaktischen Gründen zu veranlassen, dem Vorrang des Ziels der Geldwertstabilität zuwiderzuhandeln.

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chen - frei von monetär verursachten Fehlentwicklungen, wie sie jüngst von den USA ausgegangen sind.52 — Der Anspruch des Staates, allein für die Ordnung der Zentralbank und der Banken zuständig zu sein, schließt die volle Verantwortung für stabilitätsgerechte monetäre Institutionen ein.

Bankenwettbewerb ohne Verzerrungen Die massive Verfälschung des Bankenwettbewerbs durch den Staat53, sollte es dabei bleiben, fordert künstlich die Unternehmenskonzentration in der gesamten Branche. Denn die staatlich garantierte Existenz fuhrt dazu, dass die Anpassungslasten, die in einer dynamischen Weltwirtschaft unausweichlich entstehen, hauptsächlich von den Privatbanken zu tragen sind. Diese werden ihrerseits um Größe bemüht sein müssen, um vor Insolvenz und Konkurs geschützt zu sein. Auf diesem Wege würden schließlich immer mehr Banken jene Qualität der politischen und ökonomischen Bestandssicherheit erlangen, wie sie für die staatssozialistische Planwirtschaft systembedingt ist. Es wird dann noch schwieriger als es heute ist, die verantwortlichen Geschäftsleiter und Verwaltungsräte strengen Haftungsregeln zu unterwerfen. Soll der Bankensektor politisch unabhängig nach unternehmerischen Gesichtspunkten arbeiten, wird ein wesentlicher Beitrag zur Krisenprävention in einem glaubwürdigen Entschluss bestehen, die staatlich privilegierten Banken zu privatisieren und den Regeln der Wettbewerbsordnung zu unterwerfen. Wenn Banken ausscheiden müssen, ist das per se nicht als Krisenerscheinung, sondern als mögliche Konsequenz des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und langfristig als Beitrag zur Krisenprävention zu verstehen. Sonst würden schließlich nur noch Staatsbanken oder Quasi-Staatsbanken im Wettbewerb überleben. Artikel 86 Abs. 2 des EG-Vertrags sieht vor, dass öffentliche und private Unternehmen uneingeschränkt gleichgestellt werden, etwa bei der Fusionskontrolle. Doch solange staatliche Banken nicht privatisiert sind, befinden sich Management und Kontrollorgane so stark im Magnetfeld der Politik, dass sie im Ernstfall mit der Bestandsicherung „ihrer" Institute rechnen können. Artikel 86 EG-Vertrag sieht auch nicht vor, öffentliche Unternehmen zu privatisieren und neue öffentliche Unternehmen zu untersagen. Für die Entwicklung und Durchsetzung einer Regel, nach der im Interesse eines verzerrungsfreien Wettbewerbs die Konkursoption nicht vor Banken halt machen darf, kann von der EU-Kommission wohl nicht das erwartet werden, was sie in anderen regulierten Branchen eingeleitet oder vorangetrieben hat. Die Aufgabe, die staatlich privilegierten Banken als Quelle der Instabilität auszuschalten und einen dis-

52 Lucas (1973, S. 326 ff.) hat den Gedanken der Verstetigung der Geldpolitik mit unzureichendem Wissen über die kurzfristigen Wirkungszusammenhänge zwischen den realen Handlungsbedingungen und monetären Prozessen in einer Marktwirtschaft begründet und empirisch überprüft. Er stellt fest: Eine diskretionäre Geldpolitik schafft zusätzliche Unsicherheiten, reduziert den Informationsgehalt der Marktpreise und beeinträchtigt damit deren Informations-, Anreiz-, Lenkungs- und Kontrollfiinktion. Die Marktteilnehmer sind bei Preisänderungen unsicher, ob diese im Gefolge einer aktionistischen Geldpolitik kurzfristiger Natur, oder ob sie auf dauerhafte Nachfrage- und Angebotsverschiebungen zurückzufuhren sind. Eine solche Geldpolitik erhöht also die Gefahr von Fehlanpassungen und kann für sich destabilisierend wirken. 53 Siehe Kapitel IV. 2.

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kriminierungsfreien Wettbewerb herzustellen, ist deshalb auch in der EU auf nationaler Ebene zu lösen. Spontane Ordnungen in der Geld- und Kreditwirtschaft und das Stabilitätsproblem Weiterentwicklungen des Geld- und Finanzsystems erfordern ein angemessenes staatliches Handeln, wenn die bestehende Rechtsverteilung destabilisierende externe Effekte verursacht. Nun entstehen aber solche Wirkungen (etwa im Falle neuer Wertverbriefungen) meist spontan. Aus Sicht des ordnungsökonomischen Ansatzes erscheint es umso wichtiger, dass (z. B. auf der Ebene des Bankenmanagements) die Haftungspflicht als unverzichtbare Regelvorgabe nach Maßstäben dessen verankert wird, was nach menschlichem Ermessen auf dem Spiel steht: Die Schädigung unbeteiligter Dritter und die Gefahrdung der Gesamtordnung. Damit ist zu rechnen, wenn sich die destabilisierenden Wirkungen unbemerkt in einer zunächst als schädigungsfrei erscheinenden Umgebung aufbauen und dann als solche - wie in der jüngsten Krise - zu spät erkannt werden können. Freilich ist immer mit Widerstand gegen notwendige Rechtsänderungen zu rechnen. Dies zeigen historische Beispiele: — Der Pee/schen Bankakte von 1844 ging eine Zeit von etwa 150 Jahre voraus, in der sich mit der Entstehung der Banknote spontan das Free-Banking-System entwickelte, das den Emittenten schließlich mehr und mehr die Möglichkeit bot, die Besitzer der Banknoten zu schädigen.54 Die neue Rechtsverteilung des Jahres 1844 zugunsten des staatlichen Geldschöpfungsmonopols war darauf gerichtet, dem diskreditierten Prinzip der konkurrenzwirtschaftlichen Geldordnung ein Ende zu machen. Dem ging eine lange, bis heute noch anhaltende geldtheoretische Diskussion (Currency-BankingKontroverse) voraus. Nach 1844 wurde in England und auf dem Kontinent mit Rücksicht auf fiskalische und wirtschaftliche Sonderinteressen vielfach gegen die Regeln von 1844 verstoßen (siehe Meyer und Schüller 1976, S. 28 ff.). — Mit dem Aufkommen des Giralgeldes55 haben die Banken Spielraum für eine eigene geldmengenwirksame Kreditgewährung erhalten - für das Geld- und Kreditsystem eine Quelle „inhärenter Instabilität" (Hayek 1977, S. 118), wie ebenfalls erst später erkannt worden ist. Das angemessene Gegenmittel gegen die multiple Geldschöpfung der Banken wurde schließlich in einer 100%igen Deckung der Sichteinlagen durch Zentralbankgeld gesehen (siehe Fisher 1935; Simon 1948; Gocht 1975). Mit der Orientierung an der „Goldenen Bankregel"56 hätte das Prinzip der Fristentrans-

54 Siehe Fußnote 12. 55 Seit dem 17. Jahrhundert hat das Buch- oder Giralgeld im Wirtschaftsverkehr immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dadurch ist das Zentralbankprivileg durch das Recht der Geschäftsbanken erweitert worden, ebenfalls Geld zu schaffen und dieses durch Kreditgewährung gewinnbringend in den Verkehr zu bringen, ohne für die damit verbundene volkswirtschaftliche Schädigungsgefahr haftbar gemacht werden zu können. 56 Danach soll die Kreditvermittlung und insgesamt das Aktivgeschäft der Banken in der Summe, der Qualität und der Befristung den Passivgeschäften entsprechen. Die darin liegende Chance der Risikobegrenzung kann auf jene Regeln der Gerechtigkeit zurückgeführt werden, für die Vertrauen in die Erfüllung gegenseitiger Versprechen zum Fundament einer freien Gesellschaft und Wirtschaft gehört (siehe Hayek 1971, S. 190).

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formation zugunsten der Fristenkongruenz zurückgedrängt werden können. Von der Fristentransformation ist bis heute immer wieder leichtsinnig Gebrauch gemacht worden. Und immer wieder ist hierbei das Zinsänderungsrisiko und das bankenspezifische Liquiditätsrisiko unterschätzt worden. Die Mindestreservepolitik ist im Vergleich zur 100%-Regel bis heute eher eine Randerscheinung geblieben. Das Versäumnis des Staates, den Geschäftsbanken für den Fall der Kombination von Kreditvermittlung, Kreditschöpfung und anderen Anlagegeschäften robuste Regeln vorzugeben, erklärt, warum schon bald nach 1844 der Stabilitätsanspruch der Peels Akte vielfach wirkungslos geblieben ist. Regierungen und Banken waren an einer diskretionären Geldpolitik interessiert, um die Zinssätze und Wechselkurse nach politischen Gesichtspunkten variieren und die kommerziellen Vorteile der multiplen Giralgeldschaffung nutzen zu können - mit der Konsequenz einer erschwerten Politik der Krisenprävention.

Das Trenn-Banken-System - Eine Brandmauer gegen das Übergreifen von monetären Feuersbrünsten Die heutigen Grundlagen bankwirtschaftlichen Handelns sind, wie Hayek bereits 1977 (S. 199) festgestellt hat, nicht „gut mit der Beherrschung großer InvestmentPortfolios oder sogar der Beherrschung großer Teile der Industrie" vereinbar, noch weniger mit nicht standardisierten, hoch riskanten Finanzprodukten, die haftungsfrei in Umlauf gebracht werden können. Es gilt folgenden volkswirtschaftlichen Konflikt zu vermeiden: Aus der Wahrnehmung gewinnträchtiger Interessen an hoch riskanten Finanztransaktionen können Verluste resultieren, die auf Kosten der Gewinne aus strukturell weniger riskanten Geschäftsbereichen derselben Bank, notfalls auch zu Lasten der Steuerzahler und des allgemeinen Wohls ausgeglichen und dann als Marktversagen gedeutet werden können. Angesichts dieser Quelle moralischen Fehlverhaltens wird im Folgenden von der Intention der Bankakte von Peel, der Goldenen Bankregel sowie der durchaus nicht neuen Idee ausgegangen, zwischen Depositenbanken und Spekulationsbanken, also z. B. zwischen Bank- und Investmentgeschäften eine Brandmauer mit geregelten Öffnungen zu errichten. Dieser Gedanke berücksichtigt die Erkenntnis, dass eine Zentralbank im Verständnis des ordnungsökonomischen Stabilisierungsansatzes57 eigentlich nur für monetäre Prozesse verantwortlich sein sollte, die sie ursächlich beeinflussen kann. Potentielle Anleger haben die Wahl zwischen verschiedenen Geschäftsmodellen mit unterschiedlichen Risikoprofilen: (1) Die Universalbanken von heute. Bankeinlagen können je nachdem, wie weitgehend auf die Goldene Bankregel verzichtet werden kann, erweiterte Geldschöpfungsund Finanzierungsmöglichkeiten bieten; zumal wenn auf dieser Grundlage ausgiebig vom Prinzip der Fristentransformation Gebrauch gemacht wird. Im Rahmen dieses Geschäftsmodells können Einleger, ohne es zu wissen und zu wollen und ohne angemessene Verlusthaftung der Banken in höchst riskante Finanztransaktionen hineingezogen werden. Es besteht eine asymmetrische Informations-, Risiko- und Erfolgsbeteiligung

57 Siehe Kapitel V.3. Die Schlüsselrolle der nationalen Geld- und Kreditpolitik.

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zum Nachteil vieler Einleger mit geringerer Risikobereitschaft und deijenigen Instanzen (Staat und Zentralbank), von denen - wie heute - eine Letzthaftung auch für riskante, wenn nicht leichtfertige Finanzengagements erwartet wird.58 Wie im Adam Smith-YsW59 sollte dies ein Anlass sein, die bestehende Rechtsverteilung und das damit verbundene Verhalten zu ändern - zum Schutz vor individuellen und kollektiven Schäden durch platzende Blasen, die dazu fuhren können, dass die Kreditmärkte zusammenbrechen und die marktwirtschaftliche Ordnung im Bewusstsein der Öffentlichkeit Schaden nehmen kann.60 (2) Depositenbanken im Trennbanken-System. Bankdepositen sind die Basis für Aktivgeschäfte. Diese sind stets mit Risiken behaftet - selbst bei weitgehender Orientierung an der Goldenen Bankregel. Das bankentypische Liquiditätsrisiko - Einlagen im Passivgeschäft stehen längerfristigen Forderungen im Aktivgeschäft gegenüber - kann freilich mit Annäherungen an die Goldene Bankregel vermindert werden. Die Zentralbank kann hierfür Regeln setzen und damit indirekt das Risikoprofil „ihrer" Depositenbanken beeinflussen. Das gilt auch für Art und Größe der zu regelnden Öffnungen in der Brandmauer gegenüber den Spekulationsbanken. Die Aktivgeschäfte der Depositenbanken könnten bei weitgehender Einhaltung der Fristenkongruenz in der Kreditvermittlung (Kerngeschäft), in der Beteiligung an Geldmarktgeschäften, am Wertpapierhandel, an der Vermögensverwaltung und an einer breiten Palette von anderen Finanzdienstleistungen bestehen. Papiere der Spekulationsbanken könnten gekauft werden, so weit dies entsprechend den geregelten Öffnungen der Brandmauer geschieht wenn es z. B. um standardisierte Wertpapiere geht, die nach anspruchsvollen Regeln der Börse gehandelt werden bzw. dem Börsenzwang unterliegen.61 Die Risiken im Aktivgeschäft ließen sich zusätzlich durch kollektive Vorkehrungen begrenzen. Risiken völlig ausschalten zu wollen, würde dem unternehmerischen Anspruch und dem Gewinnziel der Banken widersprechen. Die für die Krisenprävention zentrale Aufgabe, die Gläubiger zu schützen, Stabilität und Vertrauenswürdigkeit des Bankensystems zu sichern, würde erleichtert. Eine Zentralbank, die die Macht der multiplen Giralgeldschöpfung „ihrer" Banken eng begrenzen kann, hat damit die Möglichkeit, die inländische Geldmenge mit dem Ziel der Geldwertstabilität vergleichsweise verlässlich zu steuern. Nur

58 Weltweit übersteigt die Rendite von Finanzanlagen „seit Jahrzehnten die Eigenkapitalrendite von Industrie- und Handelsunternehmen" (Tabarelli 1999, S. 67). Dies könnte auch an der bestehenden Rechtsverteilung liegen. Industrie und Handel unterliegen immer schärferen Regeln der Produkthaftung - zum Teil sicher in überzogener Weise. Dagegen ist es den Geschäftsbanken erlaubt, im Spekulationsgeschäft auf das Einlagengeschäft, die damit verbundene weitgehende Möglichkeit der Giralgeld- oder Kreditschaffung und notfalls auf die Haftung der Steuerzahler zurückzugreifen. Dies kommt Neigungen zu selbstsüchtigem Handeln weit entgegen. 59 Siehe Kapitel III. 60 Aus betriebswirtschaftlicher Sicht bieten Universalbanken den Vorteil, dass sie einen internen Ertragsund Verlustausgleich ermöglichen. Doch kann diese Vorteilsbegründung für die ordnungsökonomische Beurteilung nicht als maßgebend angesehen werden. 61 Die Masse toxischer Wertpapiere der amerikanischen Investmentbanken entsprach nicht den vergleichsweise anspruchsvollen und transparenten Zulassungsregeln der Börse. Den Investmentbanken war es gelungen, den bestehenden Börsenzwang abzuschaffen, um die Börsengebühren einzusparen.

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im Rahmen einer entsprechenden Zentralbank- und Bankenverfassung könnte das Bagehot-?nazvp in Betracht kommen.62 (3) Spekulationsbanken im Trenn-Banken-System. Wer sich für eine Spekulationsbank entscheidet, kann gegenüber einer Depositenbank für seine Einlagen mit höheren Renditen rechnen, muss dafür aber auch höhere Verlustrisiken, ja größere Insolvenzund Konkursgefahren in Kauf nehmen. Die Einleger haben folgendes zu bedenken: — Vereinbarungen über einen wie auch immer verbrieften Kreditvertrag mit der Bank beruhen auf Vertragsfreiheit und Selbstverantwortung. — Die Motive und Merkmale von Kreditverbriefungen können sehr verschieden, auch von betrügerischen und irreführenden Absichten (Verschleierung von Risikopotentialen) bestimmt sein. — Je anonymer die zugrundeliegenden Schuldner-Gläubiger-Beziehungen in einer nicht-transparenten Welt sind, desto schwieriger wird die Einschätzung der Bonität der Kreditnehmer und der Verwendungsqualität der Kredite sowie der Nachweis, ob mit dem Verkauf verbriefter Werte eine (erlaubte) unbeabsichtigte Möglichkeit oder eine vorsätzliche (unerlaubte) Absicht der Schädigung verbunden ist. — Es gilt deshalb, sich im eigenen Interesse möglichst gründlich über die Qualität der Vermögenswerte zu informieren, die der jeweiligen Verbriefung zugrundeliegen etwa mit Blick auf folgende Merkmale und Fragen: Gewissheit der Schuld, Bonität des Schuldners, Grad der Reife (Standardisierung) der Wertverbriefung. Wer bürgt für die Echtheit der Verbriefiingsform? Wie steht es mit der Haftung der Emittenten und Händler? Wie groß ist die Gefahr der Blasenbildung durch Herdentriebverhalten? — Wie verlässlich sind - national und international - die Institutionen des liberalen Rechtsstaates und der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs, die - wie auch sonst im Wirtschaftsgeschehen - vor Gewalt, Betrug, Irreführung und Täuschung schützen, eine anreiz- und wettbewerbskonforme Gestaltung der Eigentumsrechte gewährleisten, eine Vertragsfreiheit sichern, die eine Pflicht zur Haftung als Voraussetzung einer Ordnung umfasst, in der sich Marktfreiheit und Verantwortlichkeit wechselseitig bedingen. — Dieser „formell und materiell schützende Rahmen moralisch-rechtlich-insitutioneller Art" {Röpke 1945/1979, S. 105 ff.) schließt sachlogisch die Konkursoption ein und damit das Bagehot-Vnnzvp wie auch eine staatliche Bail out-Garantie und andere staatliche Privilegien aus. Spekulationsbanken, die ohne Netz und doppelten Boden im Wettbewerb stehen, sind im eigenen Interesse darauf angewiesen, aus selbst organisierten Sicherheitsvorkehrungen und aus einer vertrauenswürdigen Informationsbereitschaft gegenüber der Öffentlichkeit eine Bringschuld zu machen.63 Mit diesem wettbewerblichen Aktionsparameter müssen sie den Erwartungen der Gläubiger entgegenkommen, vor allem auch 62 Nach dem sog. Bagehot-Pnraip (Bagehot 1873/2005) verpflichten sich die Zentralbanken, „ihren" Banken, soweit sie kurzfristig illiquide werden, als Kreditgeber der letzten Hand gegen Erhebimg eines hohen Strafzinses beizuspringen. 63 Bemerkenswert ist, dass die weithin ohne Regulierung arbeitenden Hedgefonds trotz höchst spekulativer Geschäfte aus der jüngsten Finanzkrise wahrscheinlich als Gewinner hervorgehen werden, jedenfalls nicht als Verursacher. Siehe Issing-Committee (2009, S. 19).

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den hohen Qualitätsansprüchen der am Wertpapiergeschäft interessierten Depositenbanken. Den verschiedenen Banken müsste es erlaubt sein, offen um Einlagen mit Informationen über die Gestaltung der Aktivgeschäfte, über die Risikokontrolle und Einlagensicherung zu werben. Es spricht manches dafür, dass sich im Rahmen der Regelkonstellation eines Trenn-Banken-Systems die Perspektiven für risikobewußtere Verhaltensweisen („flight into quality") wesentlich verbessern. Die unverzichtbaren Leistungen der Spekulationsbanken auf dem Gebiet der Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung von Unternehmen, der Unternehmensbeteiligungen, der Vermögensverwaltung, des Handels mit verbrieften Werten unterschiedlicher Art usw. wären nicht in Frage gestellt, wohl aber die heute bestehenden Möglichkeiten, leichtfertig Risiken auf Kosten Unbeteiligter und der Gesamtordnung einzugehen und sich daran zu bereichern.64 (4) Nun herrschen heute z. B. in Deutschland gesellschaftsrechtliche Möglichkeiten und Anreize zur Verschachtelung und Konzernbildung mit großen haftungsrechtlichen Freiräumen zugunsten des Managements vor - auch zugunsten der völlig haftungsfreien gewerkschaftlichen Mitbestimmungsträger. Diese Rechtsverteilung kann die Aufgabe erschweren, die Trennung zwischen Depositen- und Spekulationsbanken, die vom Gesetzgeber bzw. den Zentralbanken vorzunehmen wäre, in der Sache durchzuhalten und den Wettbewerb zu sichern. Die Einleger der Depositenbanken könnten nämlich über Beteiligungen, Fusionen und andere Expansionsstrategien indirekt wieder gegen ihr Wissen und Wollen ins Schleppseil von Spekulationsbanken genommen werden. Die „guten" Banken kämen in Gefahr, notfalls die „schlechten" subventionieren zu müssen. Für eine nachhaltige Politik der Krisenprävention ist deshalb eine Stärkung des personalen Charakters des Gesellschaftsrechts unverzichtbar - im Sinne des liberalen Gedankens von der personalen Einheit von Verfügung und Haftung.65 Dieses ordnungsökonomische Konzept für eine präventive Unternehmenskontrolle (siehe Schüller 1979, S. 325 ff.) bietet generell die (bis heute ungenutzte) Chance für eine Wettbewerbspolitik im Dienste einer nachhaltigen Krisenprävention. Darüber hinaus wäre auf den internationalen Finanzmärkten ein Ausweichen vor dem Wettbewerb zu verhindern - etwa durch eine extraterritoriale Anwendung der nationalen bzw. supranationalen Antikartellund Antikonzentrationspolitik auf ausländische Unternehmen, wie es z. B. das Wettbewerbsrecht der EU und das amerikanische Antitrust-Recht vorsieht.

Freie Konkurrenz der Währungen als Krisenprävention (1) Kann überhaupt einer Geldverfassung vertraut werden, die einer Zentralbank und den Geschäftsbanken eine so ungeheure Macht wie das Emissionsmonopol und das Recht der multiplen Geldschöpfung einräumt? Hayek (1977) verneint diese Frage radikal. Er empfiehlt, die Geldpolitik nicht länger als staatliche Aufgabe anzusehen, vielmehr Währungskonkurrenz als geldwirtschaftliches Ordnungsprinzip zuzulassen. 64 Die in der Regel stabilisierende Wirkung der Spekulation geht - zum Beispiel bei freien Wechselkursen am Devisenmarkt - in dem Maße verloren, wie die Zentralbank zu erkennen gibt, auch gegen die Marktkräfte einem bestimmen Kurs Bestandssicherheit zu verleihen. Analog kann davon ausgegangen werden, dass Zentralbank und Staat mit einer Bestandsgarantie für Spekulationsbanken einer Destabilisierung der Finanzmärkte Vorschub leisten. 65 Siehe hierzu Fehl und Oberender (1986, S. 137 ff.) sowie den Beitrag von Gerhard Schwarz in diesem Band.

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(2) Aus der Kombination von Selbstkontrolle aus Eigeninteresse und der Wettbewerbskontrolle der Emissionsbanken würden, so Hayek, leistungsfähige Währungsräume entstehen. In diese könnten sich die staatlichen Zentralbanken als Konkurrenten einreihen, allerdings ohne für ihr Geld die gesetzliche Zahlungsmitteleigenschaft beanspruchen zu können. In diesem Geld- und Kreditsystem würden die Triebkräfte des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs die monetären Voraussetzungen für die Vermeidung von makroökonomischen Extremlagen schaffen (Hayek 1978, S. 93 ff.). Die Geschäftsbanken könnten entweder eigenes Geld ausgeben oder wären - wie im Regelfall - darauf angewiesen, ihre Geschäfte in den Währungen renommierter Emissionsbanken abzuwickeln. Sie müssten somit „eine Art lOOprozentige Deckung praktizieren" (ebenda, S. 118 f.). Im freien Währungswettbewerb sieht Hayek einen Weg, „auf dem wir noch hoffen können, der anhaltenden Entwicklung aller Regierungen in Richtung auf den Totalitarismus Einhalt zu gebieten, der vielen scharfen Beobachtern als unvermeidbar erscheint. Ich wünschte, ich könnte den Rat geben, langsam vorzugehen. Aber die Zeit mag kurz sein" (1977, S. 130 f.). (3) Hayeks Währungskonzept erklärt sich aus einem eklatanten geldpolitischen Versagen des Staates im 20. Jahrhundert und den dadurch ausgelösten oder begünstigten Wirtschaftskrisen. Freilich wäre Hayeks Währungssystem auf einen stabilen staatlichen Verfassungsrahmen angewiesen, der den Regeln des liberalen Rechtsstaates entspricht und meines Erachtens einer wirksamen Antikartell- und Antikonzentrationspolitik bedarf. Von daher wäre Geldpolitik indirekt auch weiterhin eine staatliche Aufgabe. Vor allem aber erfordert das Konzept einen sicheren Schutzwall gegen staatliche Interventionen, also gegen die große Gefahr, die seinerzeit66 den Niedergang des Systems konkurrenzwirtschaftlicher Geldemission verursacht hat. Insgesamt setzen diese Bedingungen ein Maß an Einsicht in die Vorzüge einer nachhaltigen geldpolitischen Enthaltsamkeit von Regierungen 67 voraus, die dann auch ausreichen müsste, um eine dem ordnungsökonomischen Ansatz entsprechende Geld- und Bankenordnung zu etablieren und die Zentralbankleiter zu verpflichten, die umlaufende Geldmenge so zu ändern, dass davon keine destabilisierenden prozyklischen Wirkungen ausgehen können.

VI. Zusammenfassung (1) Brandherd der jüngsten Krise ist eine interventionistische Geld- und Kreditpolitik der USA. Brandursache ist der damit unternommene Versuch, die gesamtwirtschaftliche Binnennachfrage und die Einkommens- und Beschäftigungsentwicklung zu stabilisieren und sozialpolitische Ziele zu verfolgen. Aus ordnungsökonomischer Sicht wurde damit ein massiver Verstoß gegen die Anforderungen des makroökonomischen (währungspolitischen) Stabilisators und einer verantwortungsvollen Politik der Bankenordnung in Kauf genommen. Dies fordert zur Kritik heraus: Denn nicht erst neuerdings weiß man, dass ein Land wie die USA mit einem so großen Gewicht im weltweit verflochtenen Finanzmarkt- und Wirtschaftsgeschehen das Wohl des eigenen Landes und das der Welt aufs Spiel setzt, wenn die Verantwortlichen zu Hause in einer verhängnisvollen Weise 66 Siehe Fußnote 12. 67 Die Zentralbanken wären keine „normalen" Konkurrenten, solange sie im staatlichen Eigentum und damit der Insolvenz- und Konkursgefahr enthoben blieben.

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dem interventionistischen Stabilisierungskonzept verhaftet sind, ohne an die destabilisierenden Außenwirkungen zu denken. Solange die USA nicht bereit sind, auf dem Gebiet der währungspolitischen Stabilisierung eine ordnungspolitische Führungsrolle zu übernehmen, werden auch Vorschläge verhallen, die daraufhinzielen, die Krisenprävention als Kernaufgabe des IWF zu verstehen und den Fonds damit glaubwürdig zu beauftragen, den Mitgliedsländern zu helfen, ihrer eigenen Krisenanfälligkeit vorzubeugen. Ob die Europäische Währungsunion für die monetäre Stabilisierung der Weltwirtschaft eine an der Geldwertstabilität orientierte glaubwürdige geld- und ordnungspolitische Strategie entwickeln kann, wird davon abhängen, wie weit die Mitgliedsländer und die Kommission davon überzeugt sind, dass sie sich damit selbst und der Integrationspolitik einen großen Dienst erweisen. (2) In der Frage feuerentzündlicher Bankgeschäfte konzentriert sich die Diskussion überall darauf, Leitlinien für eine erweiterte und verschärfte Regulierung zu erarbeiten. Die Banken sind ein wichtiges Glied in der Kette der Maßnahmen zur Krisenprävention. Wird die Bankenregulierung aber als isolierte Aufgabe verstanden und dem Problem der privilegierten (Staats-)Banken, der missbräuchlichen Möglichkeit, das Prinzip der Fristentransformation und der Wertverbriefung ohne substantielle Haftung zu nutzen, nicht die notwendige Beachtung geschenkt, wird - wie bisher - für die Krisenprävention nicht viel gewonnen sein. Aussicht auf Erfolg besteht nur dann, wenn das Stabilisierungsproblem der Banken im Gesamtzusammenhang der Zentralbankverfassung und der Institutionen der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung betrachtet wird. (3) Beeinträchtigungen des monetären Stabilisators mögen zwar auf einem Handlungskonzept mit starker Beharrungskraft beruhen, doch dürfte dieses in der Regel leichter zu überwinden sein, als die produktivitäts- und wettbewerbswidrigen Wirkungen, die von massiven Einschränkungen des mikroökonomischen Stabilisators ausgehen. Viele Subventionen und andere Privilegien sowie wohlfahrtsstaatlich motivierte Prozessinterventionen haben in Deutschland im komplexen Machtgefüge der Gesellschaft den Charakter von wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften mit selbstverständlicher Anspruchsberechtigung angenommen. Diese und andere tief greifende Verstöße gegen den mikroökonomischen Stabilisator, die unter dem politischen Einfluss von Sonderinteressen die interventionistische Phantasie beflügeln, erschweren die binnenwirtschaftliche Anpassung. Es wächst die Gefahr, dass Krise und Interventionismus sich gegenseitig aufschaukeln und die Kosten der verschobenen Anpassungslast auf politisch weniger einflussreiche Teile der Gesellschaft (wie es die künftigen Steuerzahler sind) abgewälzt werden - mit den Folgen einer zunehmend kreditfinanzierten Beschäftigungspolitik und einer wachsenden Krisenanfalligkeit von Wirtschaft und Gesellschaft in der Zukunft. (4) Ordnungsökonomisch betrachtet liegt der Ausweg (neben dem Verzicht auf eine interventionistische Geld- und Kreditpolitik) in einem „Konjunkturprogramm", das zum Ziel hat, staatliche Investitions- und Beschäftigungshindernisse abzubauen, damit den mikroökonomischen Stabilisator zu stärken und den Zusammenhang von Krise und (mikroökonomischem) Interventionismus zu durchbrechen. Die ordnungsökonomische Stabilisierungslösung kann nicht ersetzt werden, wenn sie auch im politischen Geschehen schwierig durchzusetzen ist. Das dürfte daran liegen, dass der interventionistische Stabilisierungsansatz (bisher) über keine verlässlichen Bremsen verfügt, um zu verhindern, dass ordnungspolitische Anpassungsnotwendigkeiten durch staatliche Finanzie-

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rungsmöglichkeiten ersetzt werden können. Mit solchen Versuchen ist im politischen Wettbewerb umso häufiger zu rechnen, je leichter man sich ihren Folgen durch Staatsverschuldung und Diskriminierung kommender Steuerzahler entziehen kann. Der internationale Systemwettbewerb und die Prinzipien der Liberalisierung des GATT und der WTO sind keine vollwertigen Ersatzbremsen, solange die Regierungen zum Subventionswettbewerb greifen können. Die staatliche Verschuldung als Möglichkeit und Anreiz der Politiker, wählerwirksam Geld auszugeben, ohne auf Steuereinnahmen zurückzugreifen, kann nur begrenzt werden, wenn die Macht der Regierungen beschränkt wird. Hierzu ist es unverzichtbar, die „unbeschränkte Demokratie" (von Hayek) grundlegend gesetzgeberisch zu beschränken (siehe hierzu Tietzel 1997, S. 679 f f ) . Dazu bedarf es staatsmännischer Politiker. Als solche müssten sie davon überzeugt sein und die Wähler davon zu überzeugen wissen, dass eine Politik der Krisenprävention nur Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie sich an den beiden Stabilisatoren des ordnungsökonomischen Lösungsansatzes orientiert. Damit würde gezeigt, wie durch politisch weitsichtiges Handeln künftig die wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden einer jahrzehntelangen und jetzt auf Hochtouren laufenden interventionistischen Stabilisierungspolitik vermieden werden könnten, die geeignet sind, den ideellen und institutionellen Rahmen für eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung immer weiter einzuengen. (5) Solange der mikroökonomische Stabilisator und damit die Schockfestigkeit der Wirtschaft schwach sind, bleibt die Krisenanfalligkeit des Marktsystems ständig eine große Gefahr. Umso wichtiger wird es sein, eine Geld- und Kreditpolitik zu vermeiden, die mit prozyklischen Wirkungen Destabilisierungen des Wirtschaftsgeschehens auslösen kann. Der Beitrag, der hierzu von einer verbesserten internationalen Kooperation erwartet werden kann, scheint sich im Augenblick vor allem auf Möglichkeiten zu beschränken, die Bedingungstransparenz monetärer Prozesse weltweit zu verbessern. Nach der Auffassung, die in diesem Beitrag vertreten wird, kommt der Geld- und Kreditpolitik der USA und der Europäischen Währungsunion letztlich die Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, den monetären Stabilisator zu stärken und hierfür andere Länder zu gewinnen. In dieser Hinsicht ist vom interventionistischen Lösungsansatz nichts zu erwarten. Dagegen bietet der ordnungsökonomische Lösungsweg mehrere Ansätze: — Der seit der Peel' sehen Bankakte weithin vorherrschende staatliche Anspruch, allein für die Ordnung der Zentralbank und der Banken zuständig zu sein, ist ohne die volle Verantwortung für stabilitätsgerechte monetäre Institutionen als Bedingung für einen wirksamen Schutz der Gesamtordnung nicht legitimiert. Zu den Regeln, die hierfür angemessen sind, gehört ein Bankensektor, der im Rahmen unverzerrter Wettbewerbsbedingungen nach unternehmerischen Gesichtspunkten arbeitet. Hierfür zu sorgen, ist auch in der EU primär eine nationale Aufgabe. — Eine Zentralbank kann eigentlich nur für monetäre Prozesse verantwortlich gemacht werden, die ursächlich ihrem Einfluss unterliegen. Dieser Grundsatz legt es angesichts der Umstände der jüngsten Krise nahe, sich mit Bauplänen für eine Mauer zu befassen, die nach menschlichem Ermessen vor monetären Schädigungen unbeteiligter Dritter und der Gesamtordnung besser schützen kann, als es heute möglich ist. So geht es bei dem Gedanken des Trenn-Banken-Systems (unter Beibehaltung des staatlichen Geldschöpfungsmonopols) im Kern darum, etwas gegen destabilisierende Fehlanreize zu unternehmen: Heute können bei völlig unzureichender Verknüpfung von Entscheidung und Haftung geschäftliche Interessen an höchst riskanten Finanz-

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transaktionen wahrgenommen werden, in die Bankeinleger (ohne es zu wissen und zu wollen) sowie Zentralbank und Steuerzahler als Letzthaftende (ohne hinreichenden Schutz) hineingezogen werden können. Die Frage, ob das Gewinnstreben einzelner Banken oder gar des gesamten Bankensystems „schändlich" ist, kann hier nicht beantwortet werden. Dieser Beitrag soll vielmehr dazu anregen, intensiver über die bestehende Rechtsverteilung nachzudenken, die Banken ein Ausmaß an Schädigungsfreiheit zubilligt, das im Widerspruch zu den moralisch-rechtlich-institutionellen Grundlagen der ordnungsökonomischen Stabilisierungslösung steht.

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Zusammenfassung Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise gibt Anlass zu der Frage nach einer angemessenen Diagnose der Krisenursache und einer Therapie, die zugleich auf Krisenprävention bedacht ist. Es werden zwei konkurrierende Stabilisierungslösungen unterschieden: der ordnungsökonomische und der interventionistische Ansatz. Beide Ansätze beruhen auf unterschiedlichen Handlungskonzepten Diese werden in einer vergleichenden Betrachtung als grundlegend für eine systematische Klärung der Ausgangsfrage angesehen. Der Beitrag behandelt die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Krisenanfalligkeit des Wirtschaftsgeschehens, für die Ausbreitung von Krisen, für die aktuelle Krisenbekämpfung, vor allem aber für die Möglichkeit, künftigen Krisen vorzubeugen.

Summary: The role of institutional economics in crisis prevention The recent financial and economic crisis raises the questions of how to conduct an appropriate diagnosis of the causes for the crisis as well as how to develop remedies not only to deal with the current crisis but also to prevent the development of crises in the future. In order to facilitate a systematic analysis of the two key questions posed above, this article initially provides a comparison of the differences between the institutional economic and the interventionist approach. Subsequently, the article explores the consequences of the solutions proposed by the two different approaches for the likelihood of the development of new crises and the risk of international contagion, the effectiveness of means to combat the current crisis, and, in particular, the opportunity to prevent future crises.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Jürgen Volbert

Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung. Ihr Beitrag aus Sicht von Ordoliberalismus und Capability-Ansatz* Inhalt I. Armutsüberwindung als Ergebnis ordnungskonformer Wirtschaftspolitik.. 389 II. Armut und Soziale Fragen als Herausforderungen in Entwicklungs- und Schwellenländern 392 III. Über Einkommen und materiellen Lebensstandard hinaus: Armut als Mangel an Verwirklichungschancen („Capabilities") 393 IV. Bestimmungsfaktoren der Armut an Verwirklichungschancen („Capability Deprivation") 394 1. Individuelle Potenziale als Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen 394 2. Mehr instrumenteile Freiheiten durch Unternehmen: Beiträge zur Überwindung gesellschaftlicher Ausgrenzung 397 3. Politische Freiheiten, Transparenz und Euckens dritter Typus der sozialen Frage 402 V. Schlussfolgerungen 406 Literatur 409 Zusammenfassung 412 Summary: Corporate potentials to fight poverty and foster human development. Ordoliberalismus and Capability Approach perspectives 413

I. Armutsüberwindung als Ergebnis ordnungskonformer Wirtschaftspolitik Nach Ansicht der ordoliberalen Begründer der Sozialen Marktwirtschaft besitzen Unternehmen zunächst keine unmittelbaren Verantwortlichkeiten oder konkreten Aufgaben bei der Vermeidung und Überwindung von Armut. Vielmehr leisten Unternehmen ihren Hauptbeitrag innerhalb einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung durch ihre produktive Mehrung des Wohlstandes. Sie bildet die ent-

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Jürgen Volkert, Hochschule Pforzheim, Tiefenbronner Straße 65, 75175 Pforzheim, e-mail: [email protected]. Ich danke den Teilnehmern der Konferenz „Marktbasierte Armutsbekämpfung" an der Leucorea in Wittenberg sowie zwei anonymen Gutachtern für wertvolle Hinweise und Tanja Kirschler für ihre bewährte Unterstützung bei der Fertigstellung des Beitrags für den Druck.

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Jürgen Volkert

scheidende Voraussetzung für höheren Lebensstandard einerseits und als Basis von Umverteilungspotenzialen andererseits.1 Dem entsprechend gehen die Sozialpolitik und weite Teile der Armutsbekämpfung und -Vermeidung bereits bei Walter Eucken (1975, S. 313 ff.) vorwiegend in einer Politik zur Ordnung der Wirtschaft auf. Dies gilt umso mehr als Eucken gleich mehrere seiner regulierenden Prinzipien, die gemeinsam mit den konstituierenden Prinzipien das Fundament einer funktionierenden Wettbewerbsordnung begründen sollen, im Zusammenhang mit sozial- und armutspolitischen Fragen erarbeitet. Zu denken ist an die Einkommensumverteilung im Rahmen der Einkommenspolitik ebenso wie an die Verhinderung überlanger Arbeitszeiten oder unzureichender Arbeitssicherheit bis hin zur Vermeidung von anomalen Arbeitsangebotsreaktionen. 2 Gleichwohl erkennt bereits Eucken, dass eine Politik, die sich weitgehend auf die Herstellung eines Ordnungsrahmens beschränkt, den individuellen Fall nicht berücksichtigen kann. Hieraus schließt Eucken (1975, S. 318 f.) auf die Notwendigkeit einer über die Politik der Wettbewerbsordnimg hinausgehenden speziellen Sozialpolitik, die Lücken beseitigen und Härten mildern soll, von der aber gleichermaßen die Ausrichtung an der ordnungspolitischen Gesamtentscheidung zu verlangen sei. Im Rahmen der Arbeitsmarktverfassung einer solchen speziellen Sozialpolitik würdigt Eucken den Beitrag von Gewerkschaften zur Überwindung monopsonistischer Arbeitsmarktstrukturen, doch verlangt er zugleich von den Arbeitnehmerorganisationen eine klare Entscheidung zugunsten der Wettbewerbswirtschaft. Vermieden werden soll, die Löhne über das Wettbewerbsniveau hinaus anzuheben oder die Arbeitsmobilität zu verringern.3 Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte zu regeln, ist die Kernaufgabe einer Betriebsverfassung, die Eucken für notwendig erachtet, um die willkürliche Machtausübung einzelner über viele im Arbeitsleben zu beseitigen. Grundlage hierfür bildet die mittels einer marktkonformen Politik zur Ordnung der Wirtschaft gesicherte Freiheit.4 Zugleich soll betriebliche Mitbestimmung den Arbeitnehmern ermöglichen, bei der Entscheidung über all jene Fragen mitwirken zu können, die sie gemeinsam betreffen. Eine überbetriebliche Mitbestimmung lehnt Eucken dagegen ab, zumal eine Entkopplung von Entscheidungskompetenz und Verantwortung gegen sein konstituierendes Prinzip der Haftung verstoßen würde.5 Von der Haushaltsverfassung erhofft sich Eucken die Entfaltung individueller Fähigkeiten durch Bildung und Begabtenförderung. Kern der Haushaltsverfassung stellt die Absicherung vor individueller Not dar, die soweit wie möglich durch Selbsthilfe und Versicherung gewährleistet werden soll. Allerdings konstatiert Eucken (1975, S. 319): „Wenn Selbsthilfe und Versicherung nicht ausreichen, sind staatliche Wohlfahrtseinrichtungen notwendig."

1 Vgl. Müller-Armack (1948, S. 133) sowie Hochmuth, Klee und Volkert (1995, S. 27-28). 2 Vgl. Eucken (1975, S. 189 ff.) sowie Volkert (1991, S. 93). All diese Gegenstände der regulierenden Prinzipien einer Politik der Wettbewerbsordnung stehen inzwischen auch im Zentrum der Diskussion um Verantwortung und Aufgaben von Unternehmen als Agenten von Entwicklung und Armutsüberwindung. 3 Vgl. Eucken (1975, S. 322 f.). 4 Vgl. Eucken (1948, S.130). 5 Vgl. Eucken (1975, S. 320 f.) sowie Dürr (1954, S. 40 f.).

Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung

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Eine optimale Sozialpolitik ist oftmals identisch mit einer Politik zur Ordnung der Wirtschaft, die - über die grundlegenden konstituierenden und regulierenden Prinzipien hinaus - lediglich an wenigen Stellen durch weitere Elemente einer „Speziellen Sozialpolitik" ergänzt wird. Im Idealfall beschränkt sich die Verantwortung der Unternehmen auf die Ausrichtung an Gewinnzielen, die unter geeigneten ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einen optimalen Beitrag zu Wohlstandsmehrung und für eine Grundlegung der Umverteilung leisten.6 Euchens ordoliberale Konzeption soll eine Antwort geben auf einen „dritten Typus" der sozialen Frage, der gekennzeichnet ist durch die Hoffnung auf eine Befreiung von unproduktiver staatlicher Bevormundung, aber auch durch den Wunsch nach einer Entmachtung privater Gruppen, die den Staat manipulieren und damit die Freiheit des einzelnen gefährden. Die soziale Frage wird damit im Kern zur Freiheitsfrage und es ist nur konsequent, wenn Eucken verlangt, Armut durch Freiheit zu verhindern. Dieser dritte Typus unterscheidet sich vom ersten Typus der sozialen Frage, der durch schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen gekennzeichnet ist. Ein solcher dritter Typus entspricht auch nicht mehr dem Problem bestimmter gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, das nach Eucken den zweiten Typus der sozialen Frage charakterisiert. Vielmehr steht für Eucken jener besondere dritte Typus der sozialen Frage im Vordergrund, der gekennzeichnet ist durch ein Problem der gesamten Bevölkerung, die ihre Rechte und Freiheiten an eine totalitäre Politik verloren hat.7 Aus diesem Blickwinkel betrachtet, besteht das Kernproblem der Armut für Eucken in einem Mangel an Freiheiten. Mittels einer weitgehenden Beschränkung des Staates auf die Gewährleistung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen sollen die Freiheit der Bevölkerung wiederhergestellt und damit zugleich ein Beitrag zur Überwindung von Not und Totalitarismus geleistet werden. Eine solche Beschränkung auf die Gewährleistung von Rahmenbedingungen verlangt und ermöglicht einen starken Staat, der Grundsatzentscheidungen ordnungskonform und weitgehend unbeeinflusst von wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen vermag. Ein solch starker Staat ist nur dann von Dauer, wenn sich die Staatsordnung ebenfalls an bestimmten staatspolitischen Grundsätzen orientiert. Nach dem ersten der Euckenschen staatspolitischen Grundsätze soll staatliches Handeln die Bedeutung und Funktionen privater Machtgruppen begrenzen, um sich jene Stärke und Unabhängigkeit zu wahren, die für die Gewährleistung hinreichender Rahmenbedingungen unerlässlich ist. Eine Beschränkung des Staates auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen verlangt dementsprechend der zweite staatspolitische Grundsatz Euckens (1975, S. 331 ff.). Im Folgenden soll zunächst kurz skizziert werden, inwiefern sich der von Eucken betonte dritte Typus der sozialen Frage und die Armutsproblematik in Entwicklungs- und Schwellenländern gleichen, aber auch wo deren Unterschiede liegen. Sodann gilt es, unternehmerische Potenziale zur Überwindung von Armut in den verschiedensten Dimensionen menschlicher Entwicklung zu erörtern. Hieraus lassen sich Schlussfolgerungen auf die Reichweite möglicher Beiträge von Unternehmen ziehen, die derzeit als Agenten der Armutsüberwindimg im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion

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In einem solchen streng ordnungskonformen Kontext erschließt sich die Aussage Milton Friedmans (1970) „The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits" zumindest teilweise. Vgl. Eucken (1975, S. 119 und S. 125 f.) sowie Eucken (1948).

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stehen. Am Ende ist zu klären, inwieweit die Überlegungen des traditionellen Ordoliberalismus weitere Rückschlüsse auf die Chancen, Risiken und Grenzen zulassen, die für Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung in Entwicklungsländern absehbar sind.

II. Armut und Soziale Fragen als Herausforderungen in Entwicklungs- und Schwellenländern Vergleicht man die bei Eucken im Vordergrund stehende soziale Frage nach mehr Freiheiten und Rechten angesichts einer totalitären Politik, so ist diese Frage auch heute in vielen „Entwicklungsländern" von erheblicher Bedeutung. Sie sind nicht selten ebenfalls durch diktatorische, aber zugleich schwache Regierungen gekennzeichnet. Private Macht verbindet sich auch dort oftmals mit politischen Interessen und erschwert die Etablierung ordnungskonformer Rahmenbedingungen und einer funktionierenden Wettbewerbsordnung.8 Insofern besitzt der für Eucken relevante dritte Typus der sozialen Frage für die heutigen Entwicklungsländer durchaus einen hohen Stellenwert. Jedoch sind in ärmeren Ländern - anders als in Euckens Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft - die beiden anderen Typen der sozialen Frage nach wie vor akut. Für den ersten Typus der schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Kinderarbeit, Unsicherheit sowie niedriger Löhne und Einkommen gilt dies ebenso wie für den zweiten Typus der Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen.9 An diesen ersten beiden Typen der sozialen Frage nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen und Überwindung gesellschaftlicher Ausgrenzung setzt die derzeitige wissenschaftliche Diskussion um Unternehmen als Agenten der Entwicklung und Armutsüberwindung vorwiegend an. Dagegen spielt die soziale Frage nach Freiheiten, Rechten und der Einschränkung privater Macht teilweise eine geringere oder zumindest andere Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion über Armutsüberwindungsstrategien. Vielmehr erhofft man sich gerade angesichts der schwachen Staaten und Regierungen in vielen ärmeren Ländern von den herausragenden wirtschaftlichen Potenzialen multinationaler Unternehmen zielführende Beiträge zur Armutsüberwindung, die vorherrschendes Staatsversagen zumindest teilweise kompensieren sollen (Prahalad 2004). Inwieweit können Unternehmen zur Armutsüberwindung beitragen? Dieser Frage soll im Folgenden, ausgehend von einem modernen Armuts- und Entwicklungsverständnis, nachgegangen werden. Es gilt, das Gesamtspektrum der Einflussbereiche unternehmerischen Handelns bei der Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern zu skizzieren und damit zur Klärung der inhaltlichen Reichweite des Engagements multinationaler Unternehmen bei der Überwindung weltweiter Armut beizutragen. Hieran anschließend wird zu diskutieren sein, inwieweit die sozialen Fragen, die sich in den heu-

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Zur Bedeutung der Demokratisierung, aber auch weiterhin bestehenden Einschränkungen der politischen Freiheit in Entwicklungsländern siehe unter anderem UNDP (2002). So lebten nach Angaben der Weltbank im Jahr 2005 insgesamt 47 % der Weltbevölkerung von weniger als 2 US-Dollar am Tag und jeder Vierte galt mit einem Tageseinkommen von weniger als 1 USDollar pro Tag als extrem einkommensarm; Weltbank (2009, S. 47). Fortschritte und Herausforderungen der Ausgrenzung einzelner Gruppen in Entwicklungsländern werden unter zahlreichen anderen diskutiert in WV(2007).

Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung

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tigen Entwicklungsländern stellen, von Unternehmen zielffihrend beantwortet werden können. Dabei erschließt sich die Bedeutung aller drei Typen der Euckenschen sozialen Frage sowie potenzieller Antworten, die vom Unternehmenssektor hierauf erwartet werden können und wo dessen Grenzen liegen.

III. Über Einkommen und materiellen Lebensstandard hinaus: Armut als Mangel an Verwirklichungschancen („Capabilities") Worum geht es also aus moderner entwicklungsökonomischer Sicht, wenn Unternehmen dazu beitragen, Entwicklung zu fordern und Armut zu überwinden? Lange Zeit galten Wirtschaftswachstum und die damit verbundene Erhöhung verfügbarer ProKopf-Einkommen als nahezu alleinige Zielsetzungen und Kennzeichen der Entwicklung. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten ist diese frühere entwicklungsökonomische Perspektive jedoch durch ein umfassenderes Verständnis von menschlicher Entwicklung („Human Development") abgelöst worden. Nach dem Human Development Approach ist das Ziel von Entwicklungsprozessen nicht vorrangig die Erhöhung von Einkommen und Wirtschaftswachstum, sondern die Erweiterung menschlicher Verwirklichungschancen und Freiheiten. Verwirklichungschancen lassen sich definieren als: „Die umfassenden Fähigkeiten („Capabilities") von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt." (Sen 2000a, S. 29 und 2000c, S. 37). Verwirklichungschancen stellen die Freiheit eines Menschen dar, bestimmte Lebensentwürfe verwirklichen zu können (Sen 2000a, S. 95). Dazu zählen etwa die Möglichkeiten, frei von vermeidbaren Krankheiten zu sein, ausreichende Kompetenzen für wichtige Lebensbereiche zu besitzen, eigene Ziele im Erwerbsleben zu verfolgen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eine Religion auszuüben oder sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Menge an Verwirklichungschancen (Capability Set) eines Menschen beinhaltet daher ein Bündel an realisierbaren Lebensentwürfen {Arndt und Volkert 2006). Die Freiheit, eigenes Wohlergehen in diesem Sinne erreichen zu können, ist von zentraler Bedeutung im Capability-Ansatz. Armut entspricht dagegen einem Mangel an Verwirklichungschancen („Capability Deprivation") und Freiheiten. Insofern weist das Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung und Armut im Capability-Ansatz mit der Betonung der Freiheit als zentralem Ziel eine auffallende Parallele zu Euckens drittem Typus der sozialen Frage auf. Die nähere Betrachtung wird außerdem zeigen, dass das Gesamtspektrum wesentlicher Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen eine konzeptionelle Verknüpfung auch mit dem ersten und zweiten Typus der sozialen Frage bei Eucken (1948) erlaubt, also mit der Frage nach materiellem Wohlergehen und nach gesellschaftlicher Integration, die in vielen Entwicklungsländern nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert besitzen.

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IV. Bestimmungsfaktoren der Armut an Verwirklichungschancen („Capability Deprivation") Welchen Beitrag leisten Unternehmen zur Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen und Freiheiten? An welchen Stellen setzen diese unternehmerischen Beiträge an? Um dies zu klären, bedarf es eines Überblicks über wesentliche Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen. Hierzu werden - mit Blick auf denkbare unternehmerische Beiträge - zunächst die individuellen Potenziale, sodann gesellschaftliche Faktoren, die sogenannten „instrumenteilen Freiheiten", erörtert.

1. Individuelle Potenziale als Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen Ungeachtet des Plädoyers des Capability-Ansatzes für ein konzeptionell weites Armuts- und Entwicklungsverständnis sprechen gute Gründe dafür, eine Armutsanalyse mit Einkommensarmutsuntersuchungen zu beginnen. Zwar stellt Einkommen nur ein Mittel und keinen eigentlichen Zweck des Wohlergehens dar. Jedoch dient Einkommen als Mittel für eine Vielzahl von Zwecken. Nicht zuletzt kann mit dem Einkommen eine Annäherung an jene anderen, mittelbar einkommensabhängigen, Bestimmungsfaktoren des Wohlergehens gelingen, für die keine geeigneten Indikatoren verfugbar sind (Anand und Sen 2000; Sen 1992, S. 111). Allerdings verweisen Untersuchungen des Capability-Ansatzes zugleich darauf, dass sich aus einer gegebenen Einkommens- und Vermögens-/Verschuldungssituation noch nicht auf eine bestimmte individuelle Güterausstattung schließen lässt. Gründe hierfür sind unter anderem eine ungleichmäßige Verteilung des Haushaltseinkommens auf die Haushaltsmitglieder, öffentliche Sachleistungen, Unterstützung durch soziale Netze, ineffiziente Haushaltsführung oder unterschiedliche Präferenzen. Insofern stellt die Güterausstattung einen nicht auf Einkommensgrößen reduzierbaren Bestimmungsfaktor von Wohlstand und Entwicklung dar.10 Hieraus ergibt sich ein erstes Set von Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen, das die „finanziellen Potenziale" sowie die Güterausstattung beinhaltet; an ihm setzt die sogenannte „Bottom-of-the Pyramid (BoP)-Idee" unternehmerischer Armutsbekämpfung hauptsächlich an. Tab. 1:

Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen: die elementare BoP-Idee Finanzielle Potenziale — Einkommen — Vermögen/ Schulden Güterausstattung

10 Vgl. Sen (2000a), Robeyns (2005, S. 98).

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Nach der BoP-Idee können multinationale Unternehmen ihren Hauptbeitrag zur Armutsbekämpfung durch höhere Realeinkommen und ein verbessertes Güterangebot für Arme leisten. C. K. Prahalads (2004) Vision ist, die hohe Zahl von Einkommensarmen nicht in erster Linie als „Problem" zu identifizieren, sondern als Chance im Sinne eines unerschlossenen Marktpotenzials für multinationale Unternehmen. Zwar ist die Kaufkraft jedes einzelnen dieser potenziellen Kunden gering, gerade aber die große Zahl der Aimen verspricht nach der BoP-Idee eine erhebliche Kaufkraft eines solchen Gesamtmarktes. Eine wesentliche Herausforderung der BoP-Idee ist die Überwindung des Problems geringer individueller Kaufkraft und Zahlungsbereitschaft. Lösungen erhofft man sich insbesondere von niedrigeren Produktpreisen.11 Ein effizientes und daher billigeres Angebot multinationaler Unternehmen kann einen wesentlichen Vorteil speziell für die Armutsbevölkerung ausmachen. Schließlich lebt diese oftmals in einem relativ teuren ökonomischen Umfeld, das gekennzeichnet ist durch nicht institutionalisierte, ungeordnete Märkte, ineffiziente oder den Wettbewerb beschränkende Monopole und Oligopole auf der Angebotsseite, unzureichenden Marktzugang der Nachfrager und schlechte Produktqualität.12 Hieraus erklärt sich das Paradoxon, dass ausgerechnet die Armutsbevölkerung oft für dieselben Produkte höhere Preise zu bezahlen hat als wohlhabende Käufer in der gleichen Region.13 Die Erschließung des Marktes der weltweiten Armutsbevölkerung durch multinationale Unternehmen könnte daher den Wettbewerb auf diesen Märkten erhöhen und zu sinkenden Preisen und geringeren „Armutsaufschlägen" führen. Zudem verbessert funktionsfähiger Wettbewerb auf diesen neuen Märkten möglicherweise den Marktzugang, die Produktqualität und mittelbar auch den Lebensstandard der Armen. Ferner kann die hohe Anzahl der Kunden Massenproduktionsvorteile bei zunehmenden Skalenerträgen erschließen und Niedrigpreise ermöglichen, die - auch mittels Preisdifferenzierung der Kaufkraft der Armutsbevölkerung entsprechen (Stottinger 2001). Allerdings unterstreicht der Capability-Ansatz die Bedeutung jener „Umwandlungsfaktoren", die bestimmen, inwieweit finanzielle Mittel und verfügbare Güter in eigenes Wohlergehen und Verwirklichungschancen umgewandelt werden können. Zu nennen sind zunächst die „persönlichen Umwandlungsfaktoren", zu denen insbesondere auch Bildung, Gesundheit, Geschlecht und Alter gehören.14 Unter den persönlichen Umwandlungsfaktoren ist die Bildung von erheblicher Bedeutung dafür, welches Wohlergehen sich mit gegebenen finanziellen Potenzialen und Gütern erreichen lässt. Konsumentensouveränität als wesentliche Voraussetzung für die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnungen ist nur zu erwarten, wenn die Armutsbevölkerung hinreichend gebildet ist, um als mündige Konsumenten agieren zu können. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Kritiker, wie etwa Karnani (2007b, S. 5, 2007c) betonen, die Vermarktung komplexer Produkte, wie etwa billige Medikamente, an eine 11 Siehe hierzu Petrova und Volkert (2008). 12 Vgl. Dimri und Sharma (2006, S. 6). 13 Beispielsweise zahlen arme Familien in der peruanischen Hauptstadt Lima für dasselbe Güterbündel bis zu zwanzig mal mehr, im Elendsviertel von Dharavi (Indien) zahlen sie fünf bis 25mal mehr als reiche Familien. Nahrungsmittel sind für die Armen oft 20-30% teurer, Kreditzinssätze von 10002000 % p.a. sind keine Seltenheit (Prahalad und Hammond 2002, S. 5). 14 Vgl. Robeyns (2005).

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unzureichend gebildete und informierte Armutsbevölkerung bedeute eher eine Gefahr als einen Beitrag zur Armutsbekämpfimg. Dies gilt umso mehr, falls Informationsasymmetrien mit Hilfe niedriger Preise und bedenklicher Qualität ausgenutzt würden.15 Die Gesamtheit von finanziellen Potenzialen wie Einkommen, Vermögen bzw. Schulden, die Güterausstattung und persönlichen Umwandlungsfaktoren lassen sich als „individuelle Potenziale" subsummieren (Tabelle 2). Charakteristisch für diese individuellen Potenziale ist, dass sie unmittelbar mit dem Individuum in Verbindung stehen und - wie zum Beispiel Vermögen, Güter, Bildungsstand und Krankheiten - in jede Gesellschaft der Welt mitgenommen werden können oder müssen.16 Tab. 2:

Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen: Euckens erster Typus der sozialen Frage Individuelle Potenziale Finanzielle Potenziale — Einkommen — Vermögen/ Schulden Güterausstattung Persönliche Umwandlungsfaktoren — Individueller Bildungsstand — Kompetenzen — Behinderungen — Gesundheit — Alter — Geschlecht — etc.

Individuelle Potenziale lassen sich aus der Perspektive des Capability-Ansatzes als Indikatoren persönlichen Wohlstandes interpretieren, durch deren Mehrung der erste Typus der Euckenschen sozialen Frage beantwortet werden kann. Das Ausmaß, in dem multinationale Unternehmen zur Armutsbekämpfiing und Beantwortung dieses Typus der sozialen Frage beitragen können, hängt mithin nicht allein vom Ausmaß ab, in dem die Unternehmen zu mehr Einkommen und Wohlstand sowie zu besserer Verfügbarkeit von Gütern beitragen. Vielmehr stellen hinreichende persönliche Umwandlungsfaktoren wesentliche Vorbedingungen dar, die darüber entscheiden, inwieweit sich Armut als Mangel an Verwirklichungschancen überwinden lässt. Auch hierzu können multinationale Unternehmen eigene Beiträge leisten, die die individuellen Potenziale indirekt über die „Instrumentellen Freiheiten" - beeinflussen.

15 Vgl. Karnani (2007 a, b. c). 16 So kann man beispielsweise ein hohes Vermögen ebenso in jede Gesellschaft mitnehmen wie die eigenen Güter. Schlechte Gesundheit oder geringe Bildung als Mangel an Verwirklichungschancen müssen mitgenommen werden. Welches individuelle Wohlergehen sich mit diesen individuellen Potenzialen jeweils erreichen lässt, hängt dagegen auch von den im Folgenden zu diskutierenden gesellschaftlichen Bedingungen ab.

Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung

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2. Mehr instrumentelle Freiheiten durch Unternehmen: Beiträge zur Überwindung gesellschaftlicher Ausgrenzung Individuelle Potenziale umfassen nur einen Teil des Gesamtspektrums aller Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen. Wie stark Beeinträchtigungen der persönlichen Umwandlungsfaktoren, etwa eine schwere Krankheit wie Diabetes, Verwirklichungschancen und Wohlergehen eines Individuums beeinträchtigen, hängt davon ab, inwieweit ausreichender Zugang zu einem funktionsfähigen Gesundheitssystem besteht. Dieses Beispiel deutet bereits den Stellenwert gesellschaftlicher Voraussetzungen für Verwirklichungschancen und Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger an. Jene Faktoren werden im Capability-Ansatz als „instrumentelle Freiheiten" 17 (Synonym: „gesellschaftlich bedingte Chancen") bezeichnet. Sie bestehen aus den sozialen Umwandlungsfaktoren, wobei teilweise auch weiter gehende umweltbedingte Umwandlungsfaktoren unter diesem Oberbegriff subsumiert werden.18 Instrumentelle Freiheiten spiegeln positive und negative Beiträge wider, die gesellschaftliche Akteure wie Unternehmen, gesellschaftliche Gruppen und Staat zur Erweiterung der Verwirklichungschancen der Individuen leisten (oder nicht). Der Analyse instrumenteller Freiheiten kommt daher eine besondere Rolle zu, um den Beitrag der Unternehmen zur Armutsüberwindung zu klären. Mit ihrem Einfluss auf die instrumentellen Freiheiten können Unternehmen gesellschaftliche Ausgrenzung überwinden, die nach dem Capability-Ansatz gleichbedeutend mit einem Mangel an instrumentellen Freiheiten ist. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: So stellt ein niedriges Einkommen (im Sinne eines Mangels an individuellen Potenzialen) noch keine gesellschaftliche Ausgrenzung dar, insbesondere, wenn es Ergebnis eines freiwilligen Verzichts ist; wohl aber handelt es sich um gesellschaftliche Ausgrenzung, wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt, etwa aufgrund von ethnischer Diskriminierung verwehrt wird und dies der Grund des niedrigen Einkommens ist. Dementsprechend können Unternehmen einen Beitrag zur Überwindung eines einkommensbedingten Mangels an individuellen Potenzialen und von Ausgrenzung gleichermaßen leisten, indem sie den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit einen wesentlichen Teil der instrumentellen Freiheiten der Armutsbevölkerung verbessern. All dies deutet bereits an, dass mit der Erweiterung instrumenteller Freiheiten, Antworten auf den zweiten Euckenscheri Typus der sozialen Frage nach sozialer Integration gesellschaftlich ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen gegeben werden können. Welche Beiträge der Unternehmenssektor dabei leistet und leisten kann, ist im Folgenden zu klären. Ökonomische Chancen als wesentlicher Teil der instrumentellen Freiheiten umfassen die individuellen Möglichkeiten, eigene Mittel für den Konsum, die Produktion oder den Tausch zu verwenden. Dazu gehören z.B. die Fähigkeiten, mit Hilfe der eigenen Arbeitskraft am Produktionsprozess teilzunehmen, sich mit Kapital oder Land selbständig zu machen und dabei ein Einkommen zu erzielen, das einen hinreichenden Konsum ermöglicht. Wesentliche Fragen sind in diesem Zusammenhang die des Zugangs zur Erwerbstätigkeit. Bereits für Euchen (1948, 1975) war Massenarbeitslosigkeit, ein, 17 Siehe hierzu im Einzelnen Sen (2000a). 18 Soziale oder umweltbedingte Umwandlungsfaktoren bestimmen, inwieweit vergleichbare individuelle Potenziale je nach gesellschaftlichen oder umweltbedingten Rahmenbedingungen in eigenes Wohlergehen umgewandelt werden können (Robeyns 2005).

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wenn nicht der wesentliche Aspekt gesellschaftlicher Ausgrenzung. Bis heute gilt dies sowohl für europäische Verhältnisse als auch für die weltweite Armutsbevölkerung. So ist ungefähr 1/3 der Weltbevölkerung aufgrund von Arbeitslosigkeit oder extrem niedriger Löhne außer Stande die Existenz aus eigener Kraft zu sichern.19 Darüber hinaus finden sich in asiatischen und afrikanischen Ländern nach wie vor verschiedenste Formen der unfreien Arbeit bis hin zur Sklavenarbeit.20 Multinationale Unternehmen können hier einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung elementarer Menschenrechte in den Arbeitsverhältnissen und zur freien Wahl des Arbeitgebers schaffen, was zugleich der von Eucken hervorgehobenen Gefahr monopsonistischer Arbeitsmärkte vorbeugt. Einschränkungen durch Arbeitslosigkeit ergeben sich nicht allein aufgrund von Einkommenseinbußen; vielmehr finden im Capability-Ansatz auch nicht-monetäre Konsequenzen, insbesondere gesundheitliche Folgen, von (Langzeit-) Arbeitslosigkeit für die Betroffenen Beachtung (Sen 1997). Insofern beinhaltet der Arbeitsmarktzugang im Capability-Ansatz mehr als nur eine Möglichkeit, Einkommen als Mittel zur Erhöhung der Kaufkraft zu erzielen. Vielmehr bedeutet eine Integration in die Arbeitswelt für die Betroffenen ein oft weit wichtigeres Ziel im Sinne der Überwindung von gesellschaftlicher Ausgrenzung sowie der verbesserten Selbstachtung und Teilhabe am Leben der örtlichen Gemeinschaft. Eine Beurteilung der Wirksamkeit unternehmerischen Handelns muss daher mit den Arbeitsmarktwirkungen mehr als nur die Höhe der Arbeitseinkommen in den Blick nehmen. Zunächst ist auch der Nettobeschäftigungseffekt bedeutsam, um das maximale Potenzial unternehmerischer Beiträge zu den ökonomischen Chancen abstecken zu können. Wie aus der umfangreichen Direktinvestitions-Literatur bekannt ist, spielen Investitionsmotiv, Produktionstechnologie, Einbindung in die lokale Wirtschaft und eine Reihe weiterer Faktoren21 hier eine Rolle. Für eine sachgerechte Analyse des unternehmerischen Einflusses auf die (ökonomischen) Verwirklichungschancen sind darüber hinaus die Arbeitsbedingungen ebenso wesentlich wie vielfältige weitere Wirkungen auf das Gesamtspektrum der Verwirklichungschancen. Die Bewertung, inwieweit die von einem Unternehmen gebotenen ökonomischen Chancen gesellschaftliche Ausgrenzung zu überwinden vermögen, können letztlich nur die Betroffenen selbst vornehmen. Entsprechend sind für eine präzise Ermittlung armuts- und entwicklungsrelevanter Wirkungen unternehmerischen Handelns die Einschätzungen von Stakeholdern, insbesondere auch die der Mitarbeiter, einzubeziehen. Ökonomische Chancen werden ferner durch den Zugang zu Kapital und (Mikro-) Kreditmöglichkeiten bestimmt. Mittels eines verbesserten Zugangs zu Mikrokrediten kann die Armutsbevölkerung Human- oder Realkapitalinvestitionen tätigen, die ihre Verwirklichungschancen langfristig steigern. Allerdings verweisen neuere Studien darauf, dass ein größerer Teil der Armutsbevölkerung von Mikrokrediten erreicht werden kann, wenn eine engere Zusammenarbeit mit Geschäftsbanken stattfindet, die auf diese Weise eigene Beiträge zur Armutsüberwindung leisten können. 22 Letzteres ist für 19 Vgl. ILO (2001). 20 Vgl. Sen (2000a, S. 141 ff.). 21 Eine Übersicht über wesentliche Faktoren und Quellen findet sich unter zahlreichen anderen in Schuster (2008), Kapitel 3. 22 Siehe hierzu Hailu (2008).

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Kleingewerbetreibende in ländlichen Gebieten bedeutsam, die häufig besonders von Armut betroffen sind.23 Oftmals verlangen substanzielle Verbesserungen auch einen zumindest hinreichenden Zugang zu Land, der ein weiteres Element der ökonomischen Chancen darstellt. Eine weitere wesentliche Gruppe der instrumenteilen Freiheiten und zugleich einen Ansatzpunkt für unternehmerische Beiträge zur Überwindung von sozialer Ausgrenzung stellen die sozialen Chancen dar. Soziale Chancen umfassen die von gesellschaftlichen Akeuren, wie Unternehmen, Gruppen und Staat bereitgestellten sozialen Einrichtungen und Institutionen, die die Verwirklichungschancen eines Menschen erhöhen und dazu beitragen ein, besseres Leben fuhren zu können (Sen 2000a). Neben dem bereits angesprochenen Zugang zum Gesundheitssystem gehören dazu u.a. der Zugang zum Bildungssystem, zu angemessenem Wohnraum sowie der Zugang zu sozialen Netzen, etwa zu Nachbarschaftshilfe. Einkommens- und güterzentrierte Entwicklungs- und Armutskonzeptionen unterstellen häufig hinreichende soziale Chancen, zumindest jedoch wird der Mangel an sozialen Chancen in seinen Konsequenzen nicht genauer betrachtet. Dies, obwohl ein Mangel an sozialen Chancen, die Aussichten, Armut durch bessere Einkommen und Güterausstattung zu überwinden, maßgeblich beeinträchtigen kann. So betont etwa der BoP-Ansatz, einzelne Konsumenten könnten sich eine Reihe von Gütern nicht leisten, die daher von der Dorfgemeinschaft finanziert und bereit gestellt werden sollen. Voraussetzung dafür, dass jede(r) Einzelne im Wege eines solchen „Shared Access Models" 24 tatsächlich Zugang zu diesen Gütern bekommt, ist aber deren gesellschaftliche Integration und Teilhabe innerhalb von örtlicher Gemeinschaft und Sozialsystem. Hier zeigt sich erneut, dass die Problematik der gesellschaftlichen Ausgrenzung im Sinne eines Mangels an instrumentellen Freiheiten für einkommens- und güterzentrierte Ansätze ein unüberwindbares Problem darstellen kann. Ohnehin kann eine Person über ausreichende oder sogar hohe Einkommen oder Güterausstattung verfugen, zugleich aber sozial ausgegrenzt sein. Gerade in Entwicklungsländern ist Reichtum bis heute oftmals kein Ausweg aus gesellschaftlicher Ausgrenzung und Ächtung, sondern deren Ursache. Finanzielle Armut kann „zwar zu Verachtung und Ausgrenzung fuhren, finanzieller Erfolg und Aufstieg unter Umständen jedoch ebenso."25 Zudem ist eine Kopie westlicher Wertevorstellungen bei der Armutsüberwindung meist nicht zielführend für den Beitrag multinationaler Unternehmen zur Armutsüberwindung. Internationale Erfahrungen und Einblicke vor Ort bilden vielmehr wesentliche Voraussetzungen für einen Erfolg. 26 Dementsprechend empfehlen sich lokale Lösungen und Innovationen in der Zusammenarbeit von multinationalen Unternehmen und Gemeinden vor Ort, die die kulturelle Freiheit und Identität ebenso wie die gesamten sozialen Chancen stärken können. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass hinreichende soziale Chancen und die Überwindung von Ausgrenzung Vorbedingungen für erfolgreiche Beiträge von Un-

23 24 25 26

Vgl. Todaro und Smith (2006). Siehe hierzu beispielsweise Budirtich (2005, S. 6). Durth, Körner und Michaelowa (2002, S. 28). Vgl. Simonis et al. (2004, S. 4).

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ternehmen zur Armutsüberwindung darstellen. In dieser Hinsicht fungieren multinationale Unternehmen lediglich als Katalysatoren gesellschaftlicher Entwicklung, die zugleich die Mitwirkung von lokalen Regierungen, NGOs, Entwicklungsorganisationen und der Armutsbevölkerung selbst erfordert. 27 Die Ausweitung der Perspektive von der Einkommensarmut auf die Armut an sozialen Chancen ist also einerseits wesentlich, da soziale Chancen eine Grundbedingung für den Erfolg unternehmerischer Beiträge zur Armutsüberwindung darstellen. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch andererseits das Potenzial von Unternehmen, ihrerseits soziale Chancen zu verbessern, etwa durch partizipative Projekte vor Ort, Schaffung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitswesen sowie angemessenen Wohnraum. Zum Teil sind diese Bereiche bereits ein Element unterschiedlichster Unternehmens- und CSRStrategien, für die die Verbesserung sozialer Chancen oftmals zu den Hauptzielsetzungen gehört.28 Andernorts finden diese Zusammenhänge dagegen noch weit weniger Beachtung. Sozialer Schutz beinhaltet die Gewährleistung eines Mindestbestands an Verwirklichungschancen, wenn Einzelne durch materielle Not und/oder ein kriminelles Umfeld besonders gefährdet sind.29 Manche Unternehmen leisten einen Beitrag zur Überwindung des Mangels an sozialem Schutz, etwa in Form einer betrieblichen sozialen Sicherung bei Krankheit. Solche Aktivitäten werden in der Literatur oft vernachlässigt, möglicherweise auch, da Unternehmen meist keine hinreichenden Anreize besitzen, um ein System der sozialen Sicherung einzuführen, das etwa die Arbeitslosenversicherung umfasst. Hierzu bedarf es in der Regel eines funktionsfähigen Staates, der sich auf gesicherte Mindesteinnahmen verlassen kann. In dieser Hinsicht ist entscheidend, inwieweit multinationale Unternehmen zur Schließung von staatlichen Finanzierungs- und Steuerlücken in Entwicklungsländern beitragen. Solche unternehmerischen Beiträge werden in der ökonomischen Literatur inzwischen als besondere Vorteile von Direktinvestitionen betont. Umgekehrt ist kritisch zu prüfen, welche Rolle Steuerprivilegien und Subventionen spielen, die Unternehmen - oder ihre Verbände - mit der Regierung aushandeln oder durch Verrechnungspreise erzielen konnten. Ungeachtet ihrer Bedeutung für den unternehmerischen Beitrag zur Armutsüberwindung kommt der Entwicklungsrelevanz von Besteuerungsfragen in der unternehmerischen Praxis erst eine geringe Aufmerksamkeit zu. Laut einer 0£CZ)-Studie fand sich unter 246 Codes of Conduct multinationaler Unternehmen lediglich einer, der Besteuerungsfragen zumindest thematisierte (,Jenkins 2005). Bereits bei der Erörterung von individuellen Potenzialen ist der in der Armutsbevölkerung verbreitete Mangel an persönlicher Umwandlungsfaktoren wie Bildung, Kompetenzen, aber auch der Gesundheit sowie weiterer persönlicher Umwandlungsfaktoren als 27 Prahalad und Hart (2002, S. 6). 28 Unter CSR-Strategien werden hier lediglich langfristig gewinnmaximierende unternehmerische Beiträge zur gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklung verstanden, die einen Business Case darstellen und daher (ökonomisch) nachhaltig sind. Sie werden auch als „strategische CSR" bezeichnet, im Gegensatz zu „ethische CSR", deren philanthropische Beiträge hier außer acht bleiben. Dementsprechend liegen die Grenzen der hier erwähnten unternehmerischen CSR-Aktivitäten dort, wo keine ausreichenden unternehmerischen Anreize zur Gewährleistung gesellschaftlich erwünschter Ergebnisse bestehen, etwa bei der Schaffimg hinreichender ordnungspolitischer Rahmenbedingungen, wie in Abschnitt 4.3 näher diskutiert wird. 29 Vgl. Sen (2000a, S. 54).

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Herausforderung für den Erfolg unternehmerischer Beiträge zur Armutsbekämpfung zur Sprache gekommen. Umso schwerer wiegen diese Faktoren angesichts des in den betreffenden Ländern häufig unzureichenden staatlichen Verbraucherschutzes.30 Freiwillige Produkt- und Gesundheitsstandards und Verbraucherschutzvorkehrungen der Unternehmen können daher einen Beitrag leisten, um bei vorherrschendem Staatsversagen zumindest einen Teil der Vorbedingungen für den Erfolg unternehmerischer Beiträge zur Armutsbekämpfimg zu schaffen. Ökologischer Schutz als weiterer Bestimmungsfaktor der Verwirklichungschancen stellt insoweit einen Teil der instrumentellen Freiheiten dar, als er von Unternehmen, Staat und gesellschaftlichen Gruppen beeinflusst werden kann. Er umfasst die Gesamtheit von Institutionen und Maßnahmen zur Gewährleistung ökologischer Funktionen.31 Seine armutspolitische Bedeutung ergibt sich daraus, dass die arme Bevölkerung teilweise weniger in der Lage ist, sich vor den Folgen von Umweltschäden- und Zerstörung zu schützen. Multinationale Unternehmen haben in den vergangenen Jahren ökologische Belange verstärkt in ihre Unternehmens- und CSR-Strategien integriert und dies in CSR- oder Nachhaltigkeitsberichten dokumentiert, wenngleich längst nicht alle diese Aktivitäten zu ökologisch substanziellen Beiträgen führen. Der Überblick über die Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen in Tabelle 3 veranschaulicht, dass die Unternehmensaktivitäten mit der Veränderung instrumenteller Freiheiten in ihrer Entwicklungswirksamkeit weit über die Verbesserung von Einkommen und Güterausstattung hinausgehen. Darüber hinaus zeigen sich zwei grundsätzliche Arten von Beiträgen zur Armutsüberwindung und Beantwortung sozialer Fragen durch die Unternehmen: — Erstens können sie eigenständige Beiträge leisten, um gesellschaftliche Ausgrenzung als Mangel an instrumenteilen Freiheiten abzubauen. Sie tragen damit zur Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen und zur Beantwortung des zweiten Typus von Euchens sozialer Frage bei. — Zweitens bilden instrumenteile Freiheiten oftmals wesentliche Vorbedingungen für einen Erfolg unternehmerischer Maßnahmen zur Stärkung der individuellen Potenziale in der Armutsbevölkerung. Beispielsweise verlangen (Güter-) Marktleistungen Voraussetzungen, die Unternehmen bereitstellen und gewährleisten können und die in einer erweiterten Capability-Perspektive als instrumentelle Freiheiten sichtbar werden. Weiter gehende instrumentelle Freiheiten umfassen Kategorien, die über die ersten und zweiten Typus der sozialen Frage hinaus zentral sind für eine Beantwortung des dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage nach Freiheit und der Begrenzung privater Macht. Sie stehen im Folgenden im Mittelpunkt der Diskussion.

30 Vgl. Jaiswal (2007, S. 12). 31 Die Beiträge des Ökosystems zum Wohlergehen lassen sich in die Bereiche Versorgung (Nahrung, Wasser, Rohstoffe etc.), Regulatoren (Schadstoffabbau, UV-Schutz, Biodiversität etc.) und kulturelle Funktionen (religiös-spirituell, ästhetisch etc.) unterscheiden. Siehe hierzu ausführlich UNEP und iisd (2004).

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Tab. 3:

Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen: Der (erste und) zweite Typus der Euckenschen sozialen Frage

Individuelle Potenziale Finanzielle Potenziale: — Einkommen — Vermögen/ Schulden Güterausstattung Persönliche Umwandlungsfaktoren: — — — — —

Individueller Bildungsstand Kompetenzen Behinderungen Gesundheit etc.

Instrumentelle Freiheiten Soziale Umwandlungsfaktoren: Ökonomische Chancen: — Arbeitsmarktzugang — Arbeitsbedingungen — Zugang zu Kapital — Zugang zu Land — etc. Soziale Chancen: Zugang — zum Gesundheitssystem — zum Bildungssystem — zu sozialen Netzen — zu kultureller Identität — etc. Sozialer Schutz: — Schutz vor Kriminalität — Soziale Sicherung Umweltbezogene Umwandlungsfaktoren:

Ökologischer Schutz Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Volkert (2005).

3. Politische Freiheiten, Transparenz und Euckens dritter Typus der sozialen Frage Nicht nur in Walter Euckens drittem Typus der sozialen Frage steht Armut in einer engen Verbindung zur politischen Freiheit. In zahlreichen Studien hat auch Amartya Sen (2000a) die Bedeutung der politischen Freiheit und Partizipation für die Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen aufgezeigt. Politische Freiheiten und politische Partizipation umfassen im Human Development und Capability-Ansatz die Möglichkeiten, darüber mitzuentscheiden, wer nach welchen Prinzipien regiert, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren, freie politische Meinungsäußerung und Wahlmöglichkeiten, offene politische Diskurse etc. Die besondere Bedeutung politischer Freiheiten und Partizipation ergibt sich im Capability-Ansatz daraus, dass sich Politik nur dann an den Belangen - etwa des ärmeren Teils - der Bevölkerung orientieren kann, wenn diese möglichst umfassende politische Freiheiten genießt und aktiv an der Gestaltung politischer Rahmenbedingungen und Prozesse mitwirkt. Schließlich ist politische

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Mitwirkung einerseits wichtig, um der Regierung überhaupt erst jene Informationen zu liefern, die sie braucht um die Verwirklichungschancen in optimaler Weise erweitern und einer Armut an Verwirklichungschancen entgegenwirken zu können. Umgekehrt werden diese erweiterten Chancen die Aktivitäten der Regierung beeinflussen und durch politische Mitwirkung Werte und Werteunterschiede klären helfen. Vor allem lassen sich durch politische Beteiligung die Bedürfnisse der Armutsbevölkerung sowie jene Bereiche aufzeigen, in denen Handlungsbedarf besteht. Werden die Wertvorstellungen, Bedürfnisse und Handlungsnotwendigkeiten dagegen nicht aus Sicht der Armutsbevölkerung identifiziert, besteht die Gefahr ihrer Vernachlässigung und der Verzerrung politischer Entscheidungsprozesse durch politisch einflussreiche Akteure. Will man den Einfluss von Unternehmen auf Armut und Entwicklung untersuchen, ist es daher von zentraler Bedeutung, zu klären, wie sich unternehmenszentrierte Lösungen auf politische Governance, Rechte und Partizipation der (Armuts-) Bevölkerung auswirken. So ist es - bei unzureichenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen - Teil unternehmerischer Entscheidungen, ob politischer Einfluss auch durch Korruption ausgeübt werden soll. Mit der Antwort hierauf bestimmen Unternehmen aber zugleich mit, inwieweit sich politische Freiheiten tatsächlich erweitern lassen. Denn zunächst gewährleisten die vorstehend genannten instrumentellen Freiheiten lediglich formale Freiheiten, deren Verfügbarkeit durch extreme Intransparenz, Bürokratisierung und Korruption massiv beeinträchtigt werden kann. Transparenzgarantien, etwa die Integrität und Korruptionsfreiheit unternehmerischen Handelns stellen daher wesentliche Beiträge von Unternehmen zur Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen und zur Schaffung nicht nur formaler, sondern realer Freiheiten dar. Umso wesentlicher ist dies als die Armutsbevölkerung durch Korruption oftmals stärker belastet wird als wohlhabendere Bevölkerungsteile.32 Prahalad und Hart (2001, S. 1) haben dem entsprechend Korruption als ein wesentliches Hindernis für den Erfolg multinationaler Unternehmen identifiziert. Sie hoffen darauf, dass große Unternehmen Transparenzgarantien und neuem Wettbewerb zum Durchbruch verhelfen können. Allerdings ist auch diese Vorbedingung des Erfolgs der BoP-Idee nicht ohne weiteres vorauszusetzen. Vielmehr haben Unternehmen Spielräume, sich für integeres Verhalten oder die Nutzung von Vorteilen aus einer Beteiligung in korrupten Netzwerken zu entscheiden, weshalb ihr Beitrag auch hier sowohl positiv als auch negativ ausfallen kann. Zumindest scheint die Bedeutung dieser Fragen noch nicht in allen Unternehmen präsent zu sein. So ergab die bereits erwähnte OECD-Studie, dass sich von 246 Codes of Conduct multinationaler Unternehmen nur knapp ein Viertel mit dem Thema der Korruption auseinandersetzten (Jenkins 2005, S. 530 und 539). Politische Rechte, Freiheiten und Transparenz werden ferner durch (legale) politische Interessenvertretung, etwa Lobbying verändert, das in engem, teilweise substitutivem, Zusammenhang zur Korruption steht. Politische Interessenvertretung und Lobbying durch Unternehmen sind konstitutive Elemente einer Strategie, die bei unzureichenden ordnungspolitischen Voraussetzungen bis hin zu Bad Governance auf Initiativen von Unternehmen und anderen Stakeholdern zur Kompensation fehlender Rahmenbedingungen sowie zur Armutsbekämpfung setzt. Wenn ordnungspolitische Grund32 Vgl. Sen (2000a, S. 54).

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anliegen von den Menschenrechten bis hin zu Sozial- und Umweltstandards nicht verbindlich geregelt sind, kommen Unternehmen nicht umhin, ein Mindestmaß an Erwartungssicherheit in Stakeholder-Verhandlungen, auch mit der Regierung, zu erzielen. Damit stellen sich Fragen nach der Effizienz einerseits und der Eignung einer solchen Verhandlungslösung zur Überwindung des dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage andererseits. Mit Bezug auf die Effizienz der Wirkungen unternehmerischen Lobbyings auf mehr oder minder hinreichende staatliche Rahmenbedingungen wird oft auf Beeinträchtigungen politischer Governance als Folge der Durchsetzung unternehmenspolitischer Eigeninteressen verwiesen. So zum Beispiel, wenn Unternehmen eine ökonomisch effiziente Umweltgesetzgebung politisch verhindern (Ftynas 2005). Hinsichtlich der traditionellen Vorbehalte gegenüber den problematischen Wirkungen von Lobbying auf die politischen Regeln selbst, werden in jüngerer Zeit allerdings auch denkbare und in ersten Ansätzen beobachtbare positive Einflüsse unternehmerischen Lobbyings hervorgehoben. In der Tat gibt es zumindest für manche Firmen - etwa in der Umweltbranche einen Business Case, der eine anreizkompatible politische Unterstützung von Good Governance durch Unternehmen in Emerging Markets anregt. Erste Konzerne versuchen dies bereits zu kommunizieren: so berichten von den einhundert, im Standard & Poors 100 gelisteten Unternehmen etwa die Hälfte über ihre politische Einflussnahme. Ein, allerdings kleiner, Teil dieser Unternehmen macht hierzu auch substanzielle Angaben („Third Generation of CSR and Lobbying" 33 ). Zudem beschränken sich Initiativen zugunsten verlässlicher Rahmenbedingungen nicht nur auf multinationale Konzerne, sie erstrecken sich auch auf einheimische Unternehmen, die einen oft noch größeren Einfluss auf die Armutssituation in den Schwellenländern besitzen. So plädierten 85 % der vom WWF befragten chinesischen Unternehmen für mehr Transparenz und striktere Überprüfung von Umweltstandards, etwa jedes sechste von diesen setzte sich nach eigenem Bekunden im politischen Wettbewerb aktiv hierfür ein (Lei, Long und Pamlin 2005). Hinreichende ordnungspolitische Rahmenbedingungen erzeugen könnten politische Initiativen von Unternehmen jedoch nur dann, wenn sich die produktiven Unternehmensbeiträge gegen destruktive Einflussnahme durchsetzen. Für die Gesamtheit der Unternehmen stellt die Gewährleistung ordnungskonformer politischer Rahmenbedingungen aber ein Kollektivgut dar, das die Gefahr von Trittbrettfahrerverhalten erzeugt. Als „optimiertes" Trittbrettfahrerverhalten lassen sich in dieser Hinsicht Unternehmensinitiativen interpretieren, die nur den konstruktiven Teil ihrer politischen Einflussnahme kommunizieren, andere, teilweise bedeutendere, politische Maßnahmen gegen eine Stärkung von Good Governance dagegen verbergen. 34 Hierdurch droht ein Glaubwürdigkeitsverlust für alle Unternehmen als Gestalter einer politischen GovernanceArchitektur, der auch das Vertrauen in substanzielle Initiativen untergraben kann. Insofern wird eine dauerhafte Gewährleistung von Good Governance als Ergebnis freiwilliger privater Initiativen Basis bereits im Vorfeld in Frage gestellt. Über die Trittbrettfahrerproblematik hinaus verdienen die Anreize jener Unternehmen mindestens ebenso Beachtung, die sich aus ökonomischen Gründen für Good 33 Vgl. Blueprint, SustainAbility und WWF (2007), SustainAbility und WWF (2005). 34 Siehe hierzu ebenso wie zu Unternehmensbeispielen SustainAbility und WWF (2005).

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Governance einsetzen. Wesentliche Motive, die gesellschaftliche Unternehmensverantwortung - auch im Sinne einer Unterstützung von Good Governance - zu einem ökonomisch nachhaltigen Business Case machen sind die Stärkung von Risikomanagement (Verminderung von Kosten aufgrund von Konflikten mit Regierung, internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Kommunen am Standort etc.) sowie der Reputation auf Güter,- Arbeits- sowie Kapital- und Finanzmärkten, durch die der langfristige Unternehmenswert erhöht werden soll {Heal 2005). Es handelt sich also neben den Betroffenen in den Gastländern um weitere internationale Stakeholder wie Nichtregierungsorganisationen sowie Zielkunden aus reichen Ländern, weltweite Kapitalmarktanbieter etc., die Einfluss auf das Verhalten von Unternehmen als politischen Akteuren besitzen. Angesichts der in der Public Choice-Literatur dokumentierten besseren politischen Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit von in- und ausländischen Produzenten {Schneider und Volkert 2004), entsteht damit eine Gefahr, dass politische Governance-Strukturen des betroffenen Landes in engen Kreisen von globalen Unternehmensvertretern sowie einzelnen sehr gut organisierten internationalen Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aus reichen Ländern vereinbart werden (Newell 2005, S. 557). Es entfiele dann der direkte Bezug und erst recht die Interessenkongruenz zur (Armuts-) Bevölkerung des Gastlandes. Hieraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Erstens leidet erneut die Effizienz, wenn Kompetenzen und Haftung für Entscheidungen in ordnungsinkonformer Weise voneinander getrennt werden, etwa wenn europäische Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter über Löhne in Schwellenländern (mit-) entscheiden. Zweitens, und konzeptionell eher noch wichtiger, würde selbst eine effiziente Gestaltung von Good Governance durch internationale Stakeholder in den Gastländern die politischen Rechte, Freiheiten und Mitwirkungschancen der einheimischen Bürgerinnen und Bürger faktisch einschränken. Sie würden selbst im „effizienten Idealfall" zu passiven Nutznießern einer durch einflussreiche (inter-) nationale Stakeholder strukturierten politischen Governance. Genau dies ist bei Euchens drittem Typus der sozialen Frage aber nicht die Lösung, sondern der Kern des Problems, das darin besteht, das die Bevölkerung wesentliche Rechte und Freiheiten verloren hat. Die skizzierte Gefahr dieser neuen Form der politischen Governance als Ergebnis von Stakeholder-Vereinbarungen kann daher als Spielart des dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage interpretiert werden. Hatte bei Euchen die Bevölkerung ihre Rechte und Freiheiten an eine Zentralverwaltung verloren, wären es hier Netzwerke einflussreicher Stakeholder, die die Entscheidungen dominieren. Weder die eine noch die andere Spielart ist jedoch mit einem Konzept vereinbar, dass Armut als Mangel an individueller Freiheit interpretiert und durch mehr (auch und gerade politische) Freiheit überwinden will. Schließlich wirft all dies nicht allein die Euckensche soziale Frage in neuer Gestalt auf. Verhindert wird zugleich eine intensive politische Mitsprache der gesamten, insbesondere auch der armen Bevölkerung, um - im Einklang mit dem Capability-Ansatz - deren Werte, Interessen und Belange zur Geltung zu bringen. Dies ist umso gravierender als die Märkte der Armutsbevölkerung in Entwicklungsländern oft ungeordnet und nicht hinreichend institutionalisiert sind, weshalb effiziente Institutionen - unter enger Einbeziehung der Werte und Belange der Armutsbevölkerung - erst geschaffen werden müssen (Dimri und Sharma 2006, S. 6).

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Begreift man Entwicklung wie Sen als Erweiterung von Freiheiten, so läge die Gefahr einer weitgehenden Stakeholder-Verhandlungslösung darin, dass vielleicht der materielle Lebensstandard, nicht aber (politische) Freiheit und Verwirklichungschancen zunähmen. Unternehmen wären dann Agenten der Mehrung materiellen Lebensstandards, nicht aber Entwicklungsagenten in einem umfassenden Sinne. An der individuellen Freiheit orientierte Armutskonzepte verlangen statt dessen nicht weniger, sondern mehr politische Freiheiten, Beteiligung und Transparenz, die zu intensiverem politischen Wettbewerb, aber auch zu einer Stärkung politischer Institutionen und der Effizienz ihrer Entscheidungen gerade in jenen Ländern beitragen können, in denen privilegierte einheimische Wirtschaftseliten ihre politische Macht nach wie vor für ökonomisch ineffiziente Rent-Seeking-Strategien einsetzen.35 Insofern bedeuten mehr instrumentelle Freiheiten durch Stärkung politischer Rechte und Partizipation mehr als nur einen Beitrag zur Überwindung von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Beantwortung des zweiten Typus der Euckenschen sozialen Frage. Politische Rechte, Partizipation und Transparenz erweisen sich letztlich als Kernfragen der politischen Freiheit, die für Eucken den dritten Typus der sozialen Frage ausmacht. Diese Kernfragen lassen sich, wie die vorstehende Diskussion andeutet, vermutlich besser mit Euckens Konzeption eines schlanken, starken Staates beantworten. Schließlich gelingt es auf diese Weise, die Abhängigkeit der Bevölkerung von privaten Machtgruppen zu vermindern, die in Stakeholder-Verhandlungen eine weitaus prominentere Rolle spielen können.

V. Schlussfolgerungen Die drei von Walter Eucken identifizierten Typen der sozialen Frage sind allesamt bedeutsam für die Überwindung der Armut in den Entwicklungsländern der Gegenwart, die bis heute nicht selten geprägt ist durch schlechte Lebensbedingungen, gesellschaftliche Ausgrenzung einzelner Gruppen, aber auch durch einen Mangel an politischer Freiheit, der einer Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen entgegensteht. Die vorstehende Erörterung hat gezeigt, dass Amartya Sens Capability-Ansatz eine konzeptionelle Einbindung der drei Euckenschen Typen der sozialen Frage in eine Gesamtfrage nach der Überwindung von Armut an Verwirklichungschancen ermöglicht. Hieraus ließen sich auch Schlussfolgerungen für die Identifikation möglicher Beiträge zur Beantwortung solcher sozialer Fragen von Seiten der Unternehmen als Entwicklungsagenten ziehen. Der Gesamtüberblick in Tabelle 4 zeit nochmals, dass Unternehmen auf das gesamte Spektrum der Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen positiven - oder auch negativen - Einfluss besitzen können. Sowohl Einkommen und individuelle Lebensbedingungen als Determinanten der individuellen Potenziale ebenso wie gesellschaftliche Ausgrenzung und politische Unfreiheit als Ergebnis mangelnder instrumenteller Freiheiten können von Unternehmen in positiver, teilweise aber auch in negativer Weise beeinflusst werden.

35 Vgl. Sen (2000a, S. 150-153).

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Tab. 4: Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen: Gesamtüberblick Individuelle Potenziale Finanzielle Potenziale — Einkommen — Vermögen/ Schulden Güterausstattung Persönliche Umwandlungsfaktoren — Individueller stand — Kompetenzen — Behinderungen — Gesundheit — etc.

Bildungs-

Instrumentelle Freiheiten Soziale Umwandlungsfaktoren Ökonomische Chancen: Transparenzgarantien

— Arbeitsmarktzugang — Arbeitsbedingungen — Zugang zu Kapital — Zugang zu Land — etc. Soziale Chancen: Zugang — zum Gesundheitssystem — zum Bildungssystem — zu sozialen Netzen — zu kultureller Identität — etc. Sozialer Schutz — Schutz vor Kriminalität — Soziale Sicherung Politische Freiheiten und Beteiligung — Politische Rechte — Politische Mitwirkung — etc. Umweltbezogene Umwandlungsfaktoren Ökologischer Schutz

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Volkert (2005b). Grundsätzlich stellt der Einfluss auf alle wesentlichen Bestimmungsgründe der Verwirklichungschancen für die Unternehmen ein Chancen- und Risikoportfolio dar, das von ihnen im Rahmen langfristig gewinnmaximierender Unternehmensstrategien (oder von strategisch auf Business Cases beschränkter CSR) in seiner Gesamtheit Berücksichtigung finden muss. Vereinfacht gesagt, zeigt eine umfassende Capability-Perspektive Win-Win-Potenziale für Unternehmen und Bevölkerung jenseits der Konsumgütermärkte und unmittelbaren Einkommensentstehung auf, die zur Überwindung des ersten und zweiten Typus der Euckenschen sozialen Frage beitragen können. Beispielsweise, weil die Voraussetzungen marktorientierter Strategien durch hinreichende instrumentelle Freiheiten in Ländern mit massivem Staatsversagen oftmals erst geschaffen werden

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müssen. Mit der Erweiterung instrumenteller Freiheiten, etwa durch die Schaffung unternehmenseigener Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, leisten Unternehmen außerdem - im eigenen Interesse - einen Beitrag zur Überwindung gesellschaftlicher Ausgrenzung. Sie werden sich dabei allerdings auf jene instrumentellen Freiheiten konzentrieren, die für ihre eigenen ökonomischen Ziele von Bedeutung sind. Die ordnungskonforme Beschränkung des Unternehmenssektors auf unternehmensstrategisch wesentliche Potenziale und Risiken im Bereich der instrumenteilen Freiheiten bringt es mit sich, dass jene Prinzipien einer funktionierenden Wettbewerbsordnung, die Eucken von einem ordnungskonform begrenzten, starken Staat erwartet, von den Unternehmen nicht ausnahmslos gewährleistet werden können. Dies gilt, wie angedeutet, in besonderem Maße für die Gewährleistung ordnungskonformer politischer Rahmenbedingungen und Governance-Strukturen. Selbst wenn internationale StakeholderNetzwerke effiziente Governance-Strukturen gewährleisten könnten, bedeutet dies dennoch eine faktische Einschränkung politischer Rechte und Freiheiten der einheimischen Bevölkerung. Sie verschärft den dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage und konterkariert die nach Sen zur Bekämpfung von Armut und Förderung von Entwicklung notwendige Erweiterung individueller, insbesondere auch politischer, Freiheiten. Teilweise wird vor diesem Hintergrund die Stärkung und Einbeziehung der Zivilgesellschaft gegenüber anderen Stakeholdern angemahnt. Sie kann zum Teil durchaus sinnvoll sein. Armutspolitisch ist allerdings meist eine grundsätzlich geringere politische Organisations- und Durchsetzungsfahigkeit der Armutsbevölkerung festzustellen. Insofern bieten selbst Stakeholder-Netzwerke, mit gestärkter Zivilgesellschaft vergleichsweise geringe Chancen die Belange der Armutsbevölkerung auch nur annähernd „auf Augenhöhe" in politische Entscheidungen einzubeziehen. Viel versprechender zur Armutsbekämpfung erscheint hier erneut, ein den Euckenschen staatspolitischen Grundsätzen entsprechender schlanker, starker Staat, der über die Rahmenbedingungen hinaus dort zur Armutsüberwindung beiträgt, wo dies in anderer Weise subsidiär nicht möglich ist. Ein solcher Staat beließe dem Lobbying privater Machtgruppen weniger Raum und entbände die Armutsbevölkerung von der in Stakeholder-Netzwerken ebenso notwendigen wie für die Armen in der Regel unerfüllbaren Aufgabe, eigene Belange gegen anderweitige private Macht politisch durchzusetzen. Damit bleibt die Notwendigkeit einer Überwindung von Staatsversagen durch den Staat und seine Bürger, gegebenenfalls unterstützt durch internationale Organisationen. Dem dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage, wie auch der zentralen Forderung Sens nach politischen Rechten und Mitsprache der Armen bei Staatsversagen ersatzweise durch private Akteure Rechnung tragen zu wollen, kann allein schon logischkonzeptionell nicht gelingen. Der dritte Typus von Euckens sozialer Frage ist eine vorrangige staatspolitische, sehr viel weniger eine private Angelegenheit. Private Unternehmen können dies am besten unterstützen, indem sie auf destruktive Aktivitäten verzichten und Transparenz über ihre politischen Aktivitäten herstellen, die im übrigen auch von den Regierungen einzufordern ist. Ist es gelungen, Good Governance im Sinne eines so weit wie möglich schlanken, starken Staates zu etablieren, so bleibt der gezeigte große Spielraum für private Unternehmen, um - in wohl verstandenen ökonomischem Eigeninteresse -. die Beantwortung des ersten und zweiten Typus der sozialen Frage in Entwicklungsländern mit zu über-

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nehmen. Dass ihr Chancen-und Risikoportfolio dabei weit über die Frage von Einkommen und Arbeitsplätzen hinausgeht und sich auf alle Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen erstreckt, sollte hier deutlich geworden sein. Es gilt, die Bedeutung des dritten Typus der Euckenschen sozialen Frage für die entwicklungspolitische Diskussion zu erschließen. Dieser Typus wie auch die entwicklungspolitische Debatte sind oftmals im Kern Fragen nach der Interdependenz von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung, die Eucken eingehend analysiert hat und die die Grundlage für die Formulierung seiner beiden staatspolitischen Grundsätze bildet. Aus dieser ordnungspolitischen Perspektive lassen sich die Potenziale der Unternehmen zur Armutsüberwindung nur dann optimal nutzen, wenn diese der Etablierung eines begrenzten aber starken Staates nicht entgegensteht. Wollte man dagegen Armut als Folge des Staatsversagens in allen Bereichen der instrumentellen Freiheiten durch unternehmerische Aktivitäten weitgehend ersetzen, entstünde notwendigerweise ein höchst umfassender gesellschaftlicher Einfluss privater Unternehmen, mit der Gefahr des Machtmissbrauchs privater Gruppen und einer Verschärfung des dritten Typus von Euckens sozialer Frage. Insofern bedürfen der moderne entwicklungsökonomische Good GovernanceDiskurs ebenso wie die Diskussion der Potenziale von Unternehmen zur Armutsüberwindung in Entwicklungsländern einer Bereicherung aus ordnungspolitischer Perspektive, die den Interdependenzen der politischen Ordnung mit der Wirtschaftsordnung stärker Rechnung trägt. Eine solche Perspektive führt, wie Eucken gezeigt, weg von einer Fokussierung auf detaillierte Aufgaben und Verhaltensweisen und hin zu wenigen einfachen Grundsätzen, die - zumindest - die Begrenzung staatlichen Handelns einerseits mit dem Ziel einer Unabhängigkeit für die Überwindung und Vermeidung von Versagen bei grundlegenden Staatsaufgaben andererseits beinhalten. Insofern verdienen die bereits „klassischen" ordoliberalen Analysen der Zusammenhänge von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung ebenso wie die daraus folgenden staatspolitischen Grundsätze mehr Beachtung in den entwicklungsökonomischen Diskussionen der Gegenwart.

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Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung

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onell verorten und auf welche Weise der Beitrag von Unternehmen zur Armutsüberwindung weit über einkommens- und gütermarktzentrierte Effekte hinausgeht, steht anschließend zur Diskussion. Schließlich zeigt sich, dass ordoliberale Analysen der Interdependenz von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung in der modernen Entwicklungsökonomik stärkere Beachtung finden müssen, um zu einer ordnungskonformen, freiheitsorientierten Konzeption unternehmerischer Potenziale in der Armutsbekämpfung zu gelangen. Summary: Corporate potentials to fight poverty and foster human development. Ordoliberalismus and Capability Approach perspectives. Economists have devoted increasing attention to potentials of corporations as agents for fighting poverty in the developing world. This paper shows commonalities, differences, and complementarities of Walter Eucken's "Ordoliberalismus" and the Capability Approach in order to conceptually identify the scope of these corporate potentials. First, Eucken's perception of an optimal social policy and the underlying social questions are sketched out. All three major social questions classified by Eucken are highly relevant in the developing world. Then, these challenges are positioned within a Capability framework, followed by a discussion why corporate contributions against poverty will go well beyond income and commodity impacts. It is argued that modern development economics should devote more attention to traditional German "Ordoliberalismus" analyses of the interdependencies of economic and social order. This is necessary to establish a freedom-oriented concept of corporate potentials in the fight against poverty.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Ortrud Leßmann

Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung Inhalt I. Einleitung II. Armut als eingeschränkte Handlungsfreiheit im Capability und im Lebenslage-Ansatz 1. Armut an Verwirklichungschancen (Capabilities) 2. Armut und Lebenslage III. Armutsbekämpfung als Stärkung der Handlungsfreiheit 1. Armutsbekämpfung im Capability-Ansatz 2. Sozialarbeit auf Grundlage des Lebenslage-Ansatzes 3. Zwischenfazit: Sozialstruktur und Prozesse IV. Wahlfreiheit und Armutsbekämpfung - Schlussfolgerungen

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The Role of Freedom of Choice in Poverty Alleviation

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I. Einleitung Bei der Messung von Armut wird die indirekte von der direkten Methode unterschieden. Beide Methoden beginnen mit der Festlegung eines Warenkorbes. Während bei der direkten Methode geprüft wird, ob eine Person tatsächlich über den Warenkorb verfugt, wird der Warenkorb bei der indirekten Messung zunächst mit Preisen bewertet und dann festgestellt, wessen Einkommen nicht ausreicht, um den Warenkorb zu erwerben. Bei der direkten Messung werden also diejenigen als arm angesehen, die nicht über den Warenkorb verfugen, während die indirekte Messung alle als arm ansieht, deren Einkommen zu niedrig ist, um den Warenkorb zu erwerben. Als Vorteil der direkten Messung wird angeführt, dass der Lebensstandard nicht überall ausschließlich über das Geldeinkommen und den Markt gesichert wird. Ferner ermöglicht der direkte Ansatz, sich die Lebensverhältnisse genauer anzuschauen und die verschiedenen Dimensionen der Armut zu berücksichtigen. Als Vorteil der indirekten Messung wird die Berücksichtigung der Wahlfreiheit und der Präferenzen einer Person angeführt. Anstatt den Menschen einen bestimmten Warenkorb „vorzuschreiben", stattet die Zuweisung eines Mindesteinkommens die Person mit den zum Erwerb des Warenkorbs benötigten Mitteln aus. Wie diese Mittel verwendet werden, wird den Personen selbst überlassen.

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Ortrud Leßmann

Der vorliegende Beitrag stellt zwei Ansätze in den Mittelpunkt, die den Vorteil der indirekten Messung, den Menschen Wahlfreiheit einzuräumen, mit den Vorteilen der direkten Messung, nämlich dem Blick auf die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen, zu verbinden trachten. Dabei gehen der Capability-Ansatz von Amartya Sen und der Lebenslage-Ansatz von Kurt Greiling und Gerhard Weisser insofern über die direkte Messung der Armut anhand eines Warenkorbs hinaus, als dass sie nicht nur Waren betrachten, sondern allgemein multidimensional angelegt sind. Ihr Grundgedanke ist es, dass das Leben erst dann eines Menschen würdig ist, wenn er die Möglichkeit hat, sein Leben aktiv zu gestalten. Beide Ansätze plädieren also erstens für eine multidimensionale Erfassung von Armut und definieren Armut zweitens als eingeschränkte Handlungsfreiheit. Die These dieses Aufsatzes ist, dass es Folgen für die Methoden der Armutsbekämpfung haben muss, wenn Armut in dieser Weise unter anderem auf die mangelnde Wahlfreiheit einer Person zurückgeführt wird. In der Tat weisen die hier vorgestellten Ansätze ein paar Ideen auf, welche Konsequenzen die Betonung der Wahlfreiheit für die Armutsbekämpfung hat. Insbesondere halten sie Überlegungen bereit, wie die Handlungsfreiheit der Armen gestärkt werden kann. Im Folgenden werden die beiden Ansätze zunächst kurz vorgestellt und ihr Konzept von Armut als eingeschränkter Handlungsfreiheit erläutert. Dann werden die Ideen vorgestellt, die in beiden Ansätzen entwickelt wurden, wie die Handlungsfreiheit der Armen gestärkt werden kann, um ihnen einen Weg aus der Armut zu eröffnen. Der Schluss fasst die Überlegungen zusammen und fragt, welche Konsequenzen aus den Überlegungen für die politische Rahmensetzung zu ziehen sind. Bei alledem werden die hier vorgestellten Ansätze nicht als konkurrierende Ansätze aufgefasst. Stattdessen wird ihre Ähnlichkeit hervorgehoben.1 Beide Ansätze haben die gleiche Stoßrichtung, sind aber in unterschiedlichen Kontexten entstanden und haben daher ihre Stärken und Schwächen, auch in Bezug auf die Ideen zur Stärkung der Handlungsfreiheit der Armen. Darum werden die Ansätze zunächst jeder für sich dargestellt. Die augenfälligen Ähnlichkeiten der Ansätze lassen den Schluss zu, dass die Überlegungen zur Armutsbekämpfung als Stärkung der Handlungsfreiheit vom einen auf den anderen Ansatz übertragbar sind.

II. Armut als eingeschränkte Handlungsfreiheit im Capability und im Lebenslage-Ansatz Zwei Dinge kennzeichnen sowohl den Capability- wie auch den Lebenslage-Ansatz: Beide Ansätze schauen auf die jeweilige Lebenssituation der Menschen und bilden sie multidimensional ab. Nach beiden Ansätzen hängt das Wohlergehen einer Person aber nur zum Teil von der verwirklichten Lebenssituation ab. Neben der Frage, was für ein Leben die Person führt, ist es entscheidend, dass die Person eine Wahl hat, dass sie sich zwischen verschiedenen Lebenssituationen entscheiden kann.

1

Ein detaillierter Vergleich der Ansätze ist in Leßmann (2007) zu finden. Die wichtigsten Ergebnisse fasst Leßmann (2006) zusammen.

Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung

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1. Armut an Verwirklichungschancen (Capabilities) Der Capability-Ansatz geht auf Amartya Sen zurück. Sen (1985a, b, 1987, 1992, 1999a) sieht die Lebenssituation eines Menschen als Bündel von Tätigkeiten, Fähigkeiten und Zuständen („functionings" oder zu deutsch Funktionen) an. Beispiele für Funktionen sind: essen und trinken, gesund sein, frei von Malaria sein, sich ohne Scham öffentlich zeigen, lesen können, sich selbst achten, Arbeit haben und mobil sein. Das Erreichen einer Funktion setzt zum einen eine ausreichende Ausstattung mit Ressourcen voraus; beispielsweise die Verfügbarkeit eines Fahrrads, um mobil zu sein. Zum anderen muss die Person aber auch die Fähigkeit haben, die Ressourcen so zu nutzen, dass sie die Funktion erreicht, in unserem Beispiel also auch Rad fahren können. Sen hebt damit auf die persönlichen Eigenschaften der Personen ab und betont, dass nicht allein die Ausstattung mit Ressourcen entscheidend ist, weil es Personen gibt, die auf Grund einer Behinderung oder schlicht wegen Unkenntnis mit einem Fahrrad nicht fahren können. Eine Lebenssituation lässt sich dann durch eine Kombination oder ein Bündel von Funktionen beschreiben. Jedes Bündel an Funktionen setzt sowohl eine gewisse Ressourcenausstattung als auch gewisse persönliche Eigenschaften voraus. Die verschiedenen Funktionen sind dabei Dimensionen eines multidimensionalen Raums. Eine Lebenssituation ist dann als Punkt (Vektor) in diesem multidimensionalen Raum darstellbar. Der Capability-Ansatz verbindet also die Vorstellung einer Lebenssituation mit einem formalen (mathematischen) Modell. Die Idee von Entscheidungsfreiheit wird in Form einer Auswahlmenge modelliert, der „Menge an Verwirklichungschancen" („capability set"), in welcher alle Lebenssituationen enthalten sind, die für die jeweilige Person auf Grund ihrer Ressourcenausstattung und ihrer persönlichen Eigenschaften erreichbar sind. Im formalen Modell fasst die Menge an Verwirklichungschancen alle erreichbaren Punkte (Lebenssituationen) zusammen. Das Ausmaß an Entscheidungsfreiheit, das die Person genießt, hängt offensichtlich davon ab, wie viele verschiedene Lebenssituationen für sie erreichbar sind; wobei es einerseits um die schiere Anzahl an Optionen geht, die der Person offen stehen, und andererseits um die Qualität dieser Optionen: „A set of three alternatives we see as 'bad', 'awful' and 'dismal' cannot, we think, give us as much real freedom as a set of three others we prefer a great deal more and see as 'great', 'terrific' and 'wonderful'. The idea of effective freedom cannot be dissociated from our preferences. Freedom is not just a matter of having a larger number of alternatives, it depends on what kind of alternatives they are." (Sen 1990, p. 470)

Im Allgemeinen ist es schwierig, die Qualität der Optionen in diesem Sinne zu messen, denn das setzt die Kenntnis der individuellen Präferenzen voraus. Die allgemeine Zielvorstellung des Capability-Ansatzes, dass jedermann ein Leben wählen und fuhren kann, das er auch wertschätzt, lässt sich, wenn es um Armut geht, so verstehen, dass für jedermann ein Mindestmaß an Verwirklichung der jeweiligen Funktionen möglich sein soll. Somit lässt sich das Modell mit Armutsgrenzen für alle Dimensionen verbinden. Optionen, die unterhalb zumindest einer Armutsgrenze liegen, sind dann als schlechter einzuschätzen als jene, die oberhalb aller Armutsgrenzen liegen. In Abbildung 1 sind diese Fälle für zwei Dimensionen yi und y>2 (z. B. Mobilität und Bildung) gezeigt: Be-

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reich A und C liegt jeweils nur unter einer Armutsgrenze (z; oder z2), Bereich B liegt unter beiden Armutsgrenzen (z/ und zi) und im Bereich D liegen jene Optionen, die oberhalb aller Armutsgrenzen sind. Arm an Verwirklichungschancen ist also jemand, dessen Menge an Verwirklichungschancen keine Elemente oberhalb der Armutsgrenzen z, und z2 enthält (Leßmann 2007, S. 169 ff.). Abb. 1: Armutsbereiche im zweidimensionalen Fall

Quelle: in Anlehnung an Bourguignon und Chakravarty (2003)

2. Armut und Lebenslage Der Begriff der „Lebenslage" wurde von Otto Neurath (1917) eingeführt, um damit die Lebenssituation zu beschreiben, in der eine Person sich befindet. Neurath (1931, S. 125) zählt zu den Elementen der Lebenslage „Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung". Kurt Greiling (1921) nahm den Begriff auf, erweiterte und differenzierte ihn, indem er die „Lebenshaltung" von der „Lebenslage" unterschied: „Die Gesamtheit der von einem Menschen in einer bestimmten Periode seines Lebens faktisch befriedigten Interessen, wobei jedes einzelne mit dem Grade zu versehen ist, bis zu welchem es befriedigt wird, will ich die Lebenshaltung dieses Menschen während dieser Periode seines Lebens nennen. Die Gesamtheit der möglichen Lebenshaltungen, zwischen denen er am Anfange der Periode (etwa bei der Aufstellung des Haushaltsplanes) wählen kann, nenne ich seine Lebenslage"2. Die konkrete und verwirklichte Lebenssituation eines Menschen nennt Greiling also nicht wie Neurath „Lebenslage", sondern seine „Lebenshaltung". Dagegen beinhaltet die Lebenslage auch jene Lebenshaltungen, die der Person neben der verwirklichten Lebenshaltung offen gestanden hätten. Nach Greiling bezeichnet Lebenslage also eine Auswahlmenge. Gerhard Weisser (1921, 1952, 1972) übernimmt den

2

Hervorhebungen stammen, falls nicht anders angemerkt, aus dem Original.

Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfimg

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Begriff der Lebenslage von Greiling und macht ihn zum zentralen Konzept seiner Sozialpolitik. Erkennbar übernimmt Weisser von Greiling die Vorstellung einer Auswahlmenge, definiert er doch die Lebenslage als den „Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbestimmung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden" (Weisser 1972, S. 275, Fußnote 1). Allerdings erörtert Weisser das Verhältnis zwischen den durch die Lebenslage bezeichneten Möglichkeiten und der von Greiling als Lebenshaltung bezeichneten konkreten Lebenssituation nicht näher. Das ist insbesondere bei seinem Zugang zu Armut ein Problem. Weisser spricht nicht von Armut, sondern von „sozial schwachen Schichten": „'Sozial schwachen Schichten' gehören Gesellschaftsmitglieder an, deren Lebenslage von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen wird" (Weisser 1957, S. 3). Während Lebenslage in der Regel bei Weisser an die persönlichen Grundanliegen oder Interessen gebunden ist und den Spielraum zur Erfüllung dieser Interessen bezeichnet, nutzt er den Begriff der Lebenslage im Zusammenhang mit Armut eher zur Bezeichnung dessen, was gesellschaftlich akzeptiert ist (Nahnsen 1992, S. 104 und 113), und in Bezug auf die konkrete Lebenssituation (Leßmann 2007, S. 98). Später macht er soziale Schwäche daran fest, dass die Personen sich nicht selbst aus ihrer Lage befreien können: Zu den sozial Schwachen zählt er Gesellschaftsmitglieder, „deren materielle und/oder immaterielle Lebenslage zu ungünstig ist, als dass sich ihre Besserung allein aus der eigenen Initiative der in dieser Lebenslage Befindlichen ergeben könnte, wobei beachtet werden muss, dass auch das Maß, in dem eigene Initiative tatsächlich aufgebracht wird, in topologisch bestimmbarem Umfang von der Lebenslage abhängt" (Weisser 1972, S. 278). Leider folgen keine Ausführungen, was das konkret bedeutet und wie sich dieses Konzept operationalisieren ließe. Doch ist diese Bemerkung gerade in unserem Zusammenhang interessant, verweist sie doch auf die Voraussetzungen von Entscheidungsfreiheit. Im weiteren Text führt Weisser den Fall eines über mehrere Generationen reichenden Fortbestehens einer solch schwachen Lebenslage an. Insofern lässt sich vermuten, dass Weisser nicht nur die Effekte langandauernder physischer Deprivation im Auge hat, sondern auch die psychische Disposition.

III. Armutsbekämpfung als Stärkung der Handlungsfreiheit Was nun bedeutet die Auffassung von Armut als eingeschränkter Handlungsfreiheit für die Armutsbekämpfung? Wie lässt sich die Handlungsfreiheit stärken? Im Folgenden werden die Überlegungen dazu aus beiden Ansätzen vorgestellt und darauf aufbauend herausgestellt, dass der Prozesscharakter der Wahlfreiheit bislang nur ungenügende Beachtung gefunden hat.

1. Armutsbekämpfung im Capability-Ansatz Es ist ein Grundzug des Capability-Ansatzes von Sen, den Menschen immer als Handelnden zu begreifen, selbst wenn er Empfänger von Wohltätigkeiten ist. Nach Sen

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(1999a, S. 137) ist es falsch, Menschen als - passive - „Patienten" zu sehen. Insbesondere bei der Frage, wie sich Ziele mit geringen finanziellen Mitteln erreichen lassen, ist es wichtig, die Handlungen jener Menschen zu berücksichtigen, auf die die Politik abzielt; in unserem Falle also die Handlungen der Armen. Dafür gibt es zwei Gründe: zum einen den normativen Aspekt, die Menschenwürde der Armen zu bewahren und ihre Werte und Präferenzen zu achten; zum anderen den positiven Grund, dass jede Politik teils auch nicht erwünschte Reaktionen hervorruft. So kommt es zu strategischem Verhalten von Seiten der Empfänger, wenn Gelder verteilt werden, aber auch zu Stigmatisierungen. Beides kann z. B. dazu fuhren, dass die Armen entweder keinen Anreiz haben oder sich nicht trauen, Arbeit aufzunehmen. 3 Grundsätzlich mahnt Sen also bei der Suche nach einer geeigneten Armutsbekämpfungspolitik, die Anreizwirkungen zu beachten und mögliche Reaktionen der Leistungsempfänger zu berücksichtigen. In gewissem Sinne setzt er also ein Mindestmaß an Handlungskompetenz auch bei den Armen als gegeben voraus und weist darauf hin, dass auch ihnen verschiedene Möglichkeiten offen stehen, wenn auch die Menge an Möglichkeiten begrenzter ist als bei Nicht-Armen. Um Armut im Sinne einer eingeschränkten Handlungsfreiheit zu bekämpfen, gilt es daher erstens, die Menge an Verwirklichungschancen (das Capability-Set) auszuweiten, und zweitens, die Handlungsoder Entscheidungskompetenz der Armen zu stärken.

Markt und Handlungsfreiheit „Markt" wird gerne in einem Atemzug mit Freiheit genannt: „freier Markt", „freie Marktwirtschaft". Zunächst ist damit die Freiheit von Eingriffen anderer, insbesondere des Staates, gemeint. Der Markt, wenn der freie Tausch von Waren garantiert und er frei von Eingriffen des Staates sei, führe ganz von selbst zu einem effizienten Ergebnis und sei deshalb anderen Wirtschaftsformen überlegen. (Formal ist diese Aussage im ersten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie festgehalten, s. u.) Freiheit in diesem Sinne - die Freiheit von etwas - nennt Isaiah Berlin (1958, S. 122) negative Freiheit: „I am normally said to be free to the degree to which no man or body of men interferes with my activity". Die negative Freiheit ist nach dieser Argumentation eine notwendige Bedingung, aber kein Ergebnis des Marktes (Dasgupta 1986, Helm 1986). Die Freiheit, die uns hier interessiert - Wahlfreiheit - geht über negative Freiheit hinaus. Nach Sen (s. o.) sind verschiedene Aspekte wichtig bei der Wahlfreiheit: das Vorhandensein verschiedener Optionen, der Wert dieser Optionen und die unbehinderte Wahl. Der letzte Aspekt ist der Aspekt negativer Freiheit. Die ersten beiden Aspekte kennzeichnen das, was Berlin (1958, S. 131) positive Freiheit nennt, nämlich die Freiheit „... to be somebody, not nobody; a doer - deciding, not being decided for, selfdirected and not acted upon by external nature or by other men as if I were a thing, or an animal, or a slave, incapable of playing a human role, that is of conceiving goals and policies of my own and realizing them".

3

Siehe hierzu Sen (1995) oder Sen (1999a, S. 131 ff.).

Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung

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Der Markt bietet Wahlfreiheit in Form der Budgetmenge: "The 'budget set' represents the extent of the person's freedom in this space, i.e. the freedom to achieve the consumption of various alternative commodity bundles." (Sen 1992, S. 36) Allerdings setzt das voraus, dass eben jene negative Freiheit gegeben ist, also die Marktteilnehmer nicht am Warentausch gehindert werden und nur das Budget zählt. Grundsätzlich ist der Markt durchaus vereinbar mit einem gewissen Grad an Unfreiheit, z. B. in Form von Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder der Auferlegung zusätzlicher Bedingungen für das Zustandekommen eines Kaufs wie das Überschreiten einer Altersgrenze. Negative Freiheit vorausgesetzt, ist die Budgetmenge das Modell für Sens Menge an Verwirklichungschancen (Capability set): Analog dazu und unter Einbeziehung der individuellen Fähigkeiten (in Form der Menge an persönlichen Technologien zum Gebrauch verschiedener Güter) enthält sie all jene Verwirklichungschancen, die der jeweiligen Person offen stehen: „Just as the so-called ,budget set' in the commodity space represents a person's freedom to buy commodity bundles, the ,capability set' in the functionings space reflects the person's freedom to choose from possible livings." (Sen 1992, S. 40) Diese Analogie treibt Sen so weit, dass er analog zum ersten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie nachweist, dass das Marktgleichgewicht auch effizient bei der Verteilung von Verwirklichungschancen ist. Während sich der erste Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie auf die Verteilung der Güter(-bündel) bezieht, Nutzenmaximierung unterstellt und die Abwesenheit von Externalitäten voraussetzt, bezieht sich Sen auf die Verteilung von Verwirklichungschancen, unterstellt die Präferenzbefriedigung als Ziel und setzt ebenfalls die Abwesenheit von Externalitäten voraus. Der erste Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie besagt, dass das Marktgleichgewicht Pareto-effizient ist: Eine Nutzenerhöhung für eine Person ist nur dann möglich, wenn der Nutzen für eine andere Person gemindert wird. Sen (1993, S. 533-535) überträgt die Argumentation von der Nutzenmaximierung auf die Präferenzbefriedigung, erweitert die Geltung von reiner Präferenzbefriedigung auf die Wahlfreiheit und geht vom Güterraum zum Raum der Funktionen und Verwirklichungschancen über. So kommt er zu der Aussage, dass das Marktgleichgewicht effizient ist in dem Sinne, dass kein anderer Zustand erreicht werden kann, der für eine Person mehr Verwirklichungschancen bereithält, ohne dass die Menge an Verwirklichungschancen für eine andere Person schlechter wird. Insofern bietet der Markt Handlungsfreiheit und spielt eine positive Rolle dabei, Armut in Form von eingeschränkten Verwirklichungschancen zu bekämpfen. Allerdings weist Sen selbst darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen er die Effizienz gezeigt hat, zu beachten sind. Insbesondere die Abwesenheit von Externalitäten ist keine triviale Annahme. Oft hat die Transaktion zweier Marktteilnehmer Einfluss auf die Wohlfahrt und auch auf die Verwirklichungschancen - einer dritten Person. Bei der Übertragung der Argumentation sind zwei Veränderungen hervorzuheben: Zum einen kehrt Sen sich ab vom Nutzenmaximierungskalkül. Daran kritisiert er vieles: die Gleichsetzung von Nutzen und Wohlergehen (Sen 1985b, 1987b); die Konzentration auf Ergebnisse ohne Betrachtung des Prozesses, der die Ergebnisse zu Tage bringt (Sen 1987b, S. 39); damit einhergehend die Vernachlässigung des Problems adaptiver Präferenzen, welche Arme veranlassen, sich an kleinen Dingen zu erfreuen (Sen 1985a, S. 21); die Beschränkung auf das eigene Wohlergehen unter Ausschluss der Sorge für andere Belange (Sen 1987b). Mit dem Übergang auf Präferenzerfüllung lässt sich das

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Wohlergehen in Abhängigkeit von den Präferenzen sehen, und es lassen sich neben dem Eigennutz auch andere Motive betrachten. Allerdings liegt die Konzentration nach wie vor auf den Ergebnissen und nicht auf den Prozessen, die die Ergebnisse hervorbringen. Zum anderen überträgt Sen die Argumentation vom Güterraum auf den Raum der Funktionen und Verwirklichungschancen. Dabei ist die Überlegung entscheidend, dass eine Vergrößerung der Budgetmenge einer Person auch eine Vergrößerung der Menge an Verwirklichungschancen dieser Person mit sich bringt (Sen 1993, S. 535). Das Budget bzw. das Einkommen spielt also auch hier eine große Rolle. Doch obwohl sich argumentieren lässt, dass eine Anhebung des Einkommens zumindest keine Verkleinerung der Menge an Verwirklichungschancen mit sich bringt, ist der Zusammenhang zu lose, um von einer Erhöhung des Einkommens direkt auf den daraus resultierenden Lebensstandard zu schließen. Dies ist bei der Interpretation von Sens Ergebnis von Bedeutung, denn sein Ergebnis - wie auch der erste Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie - sagt nur etwas über die Effizienz aus, jedoch nichts über das herrschende Ausmaß an Gleichheit. Die Verteilung der Verwirklichungschancen ist effizient in dem Sinne, dass die Situation nicht für eine Person verbessert werden kann, ohne sie für eine andere Person zu verschlechtern. Diese Effizienz ist vereinbar mit sehr ungleichen Verteilungen. Insbesondere ist auch eine gleiche Verteilung von Einkommen mit einer ungleichen Verteilung von Verwirklichungschancen vereinbar, weil sich die Verwendungsmöglichkeiten von Person zu Person unterscheiden. Mit derselben Menge Nahrung ist die eine Person gut genährt, die andere leidet Mangel, weil sie einer anderen Arbeit nachgeht, in einem anderen Klima lebt, größer ist oder einfach einen anderen Stoffwechsel hat. Mit einem Fahrrad legt die eine Person eine weite Strecke zurück, die nächste nur kürzere und die Dritte kann gar nicht fahren usw. Zudem weist Sen darauf hin, dass oftmals ein und dieselbe Person sowohl bei der Einkommenserzielung als auch bei der Einkommensverwendung benachteiligt ist (Sen 1993; 1999, S. 88-89). Behinderte haben es bspw. schwerer, eine Arbeit zu finden, und sind gleichzeitig auf technische Hilfsmittel angewiesen, um das gleiche Maß an Mobilität, Kommunikation o. ä. wie gesunde Menschen zu erreichen.

Bedingungen der Partizipation und Demokratie Einer der Grundgedanken in Sens Capability-Ansatz ist die Anerkennung menschlicher Vielfalt: Jeder Mensch ist anders und unterscheidet sich von seinen Mitmenschen insbesondere in den Möglichkeiten, Ressourcen in Funktionen umzuwandeln. Menschen haben auch unterschiedliche Vorstellungen davon, was gut und was schlecht ist und was ein gutes Leben ausmacht. Auch die Meinungsvielfalt respektiert Sen und scheut sich aus diesem Grunde, eine Liste mit allen für den Lebensstandard relevanten Dimensionen vorzulegen (im Gegensatz zur zweiten wichtigen Vertreterin des Ansatzes, Martha Nussbaum). In diesem Zusammenhang weist Sen auf die Bedeutung einer öffentlichen Debatte über die relevanten Dimensionen hin: „To have (...) a fixed list, emanating entirely from pure theory, is to deny the possibility of fruitful public participation on what should be included and why" (Sen 2004a, S. 77). Partizipation bei der Armutsbekämpfung beginnt also nicht bei der Frage, wie die konstatierte Armut zu bekämpfen ist, sondern bereits mit der Frage, was Armut sei.

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So sehr Sen die Notwendigkeit öffentlicher Debatten betont, so vage bleibt er bei der Beschreibung, welche Bedingungen eine Debatte erfüllen muss, um als faire, offene und öffentliche Debatte zu gelten. Es ist jedoch klar ersichtlich, dass Sen nicht an rein formale Bedingungen für die Mitbestimmung denkt: „Democracy has complex demands, which certainly include voting and respect for election results, but it also requires the protection of liberties and freedoms, respect for legal entitlements, and the guaranteeing of free discussion and uncensored distribution of news and fair comment. Even elections can be deeply defective if they occur without the different sides getting an adequate opportunity to present their respective cases, or without the electorate enjoying the freedom to obtain news and to consider the views of the competing protagonists. Democracy is a demanding system, and not just a mechanical condition (like majority rule) taken in isolation." (Sen 1999b, S. 9-10)

Zu den Bedingungen, die in einer Demokratie herrschen müssen, damit sie diesen Namen auch verdient, zählen Dreze und Sen (2002, S. 24) den Schutz der Menschenrechte und politischen Freiheiten, die Achtung legaler Besitzansprüche, die Garantie freier Diskussionen, die unzensierte Weitergabe und Verteilung von Nachrichten und Meinungen und die Partizipation auch der Ärmsten. Anders als bspw. Rawls, der eine gerechte Verteilung der Primärgüter zur Vorbedingung wahrer Demokratie macht, ist sich Sen zwar bewusst, dass die ökonomischen Bedingungen großen Einfluss auf die Machtverhältnisse in einer Demokratie haben, aber er sieht die ökonomische Gleichheit - oder auch den ökonomischen Erfolg - nicht als Vorbedingung für das Funktionieren einer Demokratie an: „A country does not have to be deemed fit for democracy; rather, it has to become fit through democracy" (Sen 1999b, S. 4).4 Crocker (2006, S. 180) führt das weiter aus: „In spite of political and economic injustices, with the help of... [measures] such as training in public speaking and reason giving, people in and through the deliberative process itself may reduce their differences and promote justice as they together forge answers to practical problems." Gleichheit im ökonomischen und politischen Sinne ist nach Sen also keine Vorbedingung für Demokratie, sondern einer der Gründe, die Demokratie so wertvoll machen. Demokratie hat einen direkten oder intrinsischen Wert, weil in ihr die Menschen ihre eigenen Interessen vertreten können und für sich handeln können (Agency). Demokratie bietet die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten und somit Freiheit nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Sinne zu genießen. Sie unterstützt Gleichheit, indem sie davon ausgeht, dass die mündigen Bürger gleich sind (Deneulin und Crocker 2006, S. 2). Daneben gibt es noch zwei weitere Gründe, Demokratie wertzuschätzen (Sen 1999a, b): Zum einen hat sie einen instrumenteilen Wert, d. h. sie ist wertvoll als Mittel, um andere Ziele zu erreichen. Sen (1999a, S. 152) hat ermittelt, dass bis heute niemals in einer Demokratie eine Hungersnot ausgebrochen ist. Zum anderen spielt die Demokratie auch eine konstruktive Rolle dabei, gemeinsam ein Verständnis von Werten und Prioritäten in einer Gesellschaft zu entwickeln. Die Vorstellung darüber, welche Benachteiligungen vermeidbar sind, hängt davon ab, was als notwendig erachtet wird bzw. als Bedürfnis definiert wird. Liegt in einer Gesellschaft eine gemeinsame Vorstellung von

4 Die Diskussion über die Vorbedingungen für eine wahre Demokratie ist in der Literatur zum Zusammenhang von Capability-Ansatz und der Theorie der deliberativen Demokratie gefuhrt worden; siehe Bohman (1997), Peter (2004), Crocker (2006) und Srinivasan (2007).

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Bedürfnissen und Notwendigkeiten vor, so kann sie auch Lösungswege entwickeln (Sen 1999a, S. 154). Probleme der Partizipation im Capability-Ansatz Die Überlegungen zur Demokratie sind eher grundsätzlicher Natur. Sie sind stark von der Achtung des Individuums geprägt und geben damit Leitlinien für die Gestaltung des Gemeinwesens im großen Rahmen - auf der Makro-Ebene - vor. Wie Frediani (2007) zeigt, begründen diese Überlegungen jedoch auch eine große Nähe des Capability-Ansatzes zu partizipativen Methoden. Auf der Mikro-Ebene stellt sich wesentlich konkreter die Frage, was unter Armut verstanden werden soll und welche Aspekte der Armut zuerst bekämpft werden sollen. Hier muss sich der Capability-Ansatz bewähren. Insbesondere fragt sich, ob die Betonung der Wahlfreiheit im Capability-Ansatz ihren Widerhall in den Äußerungen der Betroffenen findet. Dieser ethischen Grundfrage jeglicher Entwicklungspolitik muss sich der Capability-Ansatz stellen, und es zeigt sich, dass Partizipation nicht unbedingt die angemessene Antwort darstellt. Einige Beispiele von Projekten, die den Ansatz zu ihrer Grundlage gemacht haben, mögen dies illustrieren: Pinar Uyan Semerci (2004; 2007) untersucht die Lebenssituation von Frauen in den Vororten Istanbuls. Die Frauen sind mit ihrer Familie - entweder mit ihrem Vater oder mit ihrem Mann - vom Land dorthin gezogen. Uyan Semerci wendet qualitative Methoden an und legt den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf die Frage, was diese Frauen selber wollen und was sie sagen. Sie stellt fest, dass die Frauen sich vor allem als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen, als Teil der Familie, Teil ihrer größeren Verwandtschaft und der Gemeinschaft ihres Ursprungsdorfes, jedoch nicht als Individuum, das eigene Ziele und Pläne hat und entwickelt. Obwohl sich die Ziele und Pläne auf die Familie und die Kinder beziehen, ziehen die Frauen Kraft und Selbstbewusstsein aus ihrer Fähigkeit, Dinge zu verändern. Uyan Semerci (2007) fordert deshalb, Verwirklichungschancen so zu definieren, dass sie auch die Beziehungen untereinander umfassen. Die Frage, ob die Betroffenen, die an einem Projekt teilnehmen und es aktiv gestalten können und sollen, wirklich aussprechen, was sie wollen, und nicht den Geldgebern oder den in ihrer Gemeinschaft Angesehensten nach dem Mund reden, taucht auch in anderen Studien auf. So zeigen Sony Pellissery und Sylvia Bergh (2007), dass partizipative Methoden teilweise die Machtstrukturen nachzeichnen und verstärken, anstatt sie aufzubrechen und Gleichheit unter den Teilnehmern herzustellen. Sie schlagen deshalb vor, den Capability-Ansatz nicht nur mit partizipativen Methoden zu kombinieren, sondern zusätzlich Methoden zu nutzen, um die Machtstrukturen zu analysieren. Sie unterscheiden sichtbare, versteckte und unsichtbare Macht in Bezug auf Entscheidungsfindung. Während die sichtbare Macht in den formalen Entscheidungsprozessen nachvollziehbar ist, geht es bei der versteckten Macht um bestimmte Formen der Manipulation wie den Einfluss auf die Auswahl der Mitglieder und der Tagesordnung eines Entscheidungsgremiums. Unsichtbare Macht beschreibt einen wesentlich subtileren Einfluss auf die Entscheidungen, nämlich die Beeinflussung der Selbstwahrnehmung der Beteiligten, den Sen (1992, S. 149) mit „social conditioning" bezeichnet. In

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drei Fallstudien zeigen Pellissery und Bergh, wie unsichtbare und versteckte Macht das hehre Ziel der Partizipation untergraben kann. In ihren Fallstudien zu partizipativen Projekten in Indien untersucht Sabina Alkire (2002), inwiefern diese Projekte die Verwirklichungschancen der Teilnehmer ausgeweitet haben, also sowohl die Wahlfreiheit vergrößert als auch das erreichbare Niveau in den einzelnen Dimensionen gesteigert haben. Dazu überprüft sie zunächst, wie sich die Funktionen verändert haben, also die Auswirkungen auf die konkrete Lebenssituation der Teilnehmer. Im nächsten Schritt geht es um die Bewertung dieser Veränderungen durch die Teilnehmer und insbesondere darum, ob dies zu einer Zunahme an Freiheit geführt hat. Dann bezieht sie die Frage ein, ob diese Veränderungen auf effiziente Weise erreicht wurden, und untersucht, ob das Projekt auch einen negativen Einfluss auf die Verwirklichungschancen (in einem anderen Bereich) hatte, sich also die Menge an Verwirklichungschancen eventuell verkleinert hat. Alkire (2002, S. 294—296) diskutiert, ob die Ausweitung der Wahlfreiheit von den Teilnehmern der Projekte gewünscht ist am Beispiel eines Projektes, in dem Frauen lesen und schreiben lernen. Diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, denn erstens ist bei einem solchen Projekt nicht vorherzusehen, welche Auswirkungen auf die Verwirklichungschancen das Projekt hat. Zweitens lässt sich vor der Teilnahme an dem Projekt nur schwer mit den Frauen über die Ziele des Projektes reden (wie auch Uyan Semerci 2004 festgestellt hat). Wie sollten die Frauen, wenn sie (noch) nicht lesen und schreiben können, sich vorstellen, welche Veränderungen diese Fähigkeiten mit sich bringen? Schließlich ist auch der Einfluss anderer Autoritätspersonen zu fürchten, wenn es darum geht, im Vorfeld eines solchen Projektes die Zustimmung der potentiellen Teilnehmerinnen zu gewinnen. Die Machtstrukturen sind bei solchen Entscheidungen unbedingt zu beachten (siehe Pellissery und Bergh 2007). Solava Ibrahim (2007) befasst sich mit Selbsthilfe-Projekten von Armen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Armen sie selbst ins Leben rufen und auf diese Weise versuchen, ihre Armut zu überwinden. In gewissem Sinne geht dies über eine einfache Partizipation am Projekt hinaus, weil diese Projekt durch die Armen selbst ins Leben gerufen werden. Zwar hält Ibrahim den Capability-Ansatz aufgrund seiner Betonung von Interessenvertretung (Agency) und Freiheit für gut geeignet, um SelbsthilfeProjekte zu analysieren, aber sie hält eine Ergänzung des Ansatzes um das Konzept von kollektiven Verwirklichungschancen, die erst auf Basis von kollektiven Anstrengungen zu Stande kommen, für notwendig. Zusammenfassend lassen sich zwei Probleme bei der Umsetzung des CapabilityAnsatzes in partizipativen Projekten (zur Armutsbekämpfung) festhalten: Erstens ist es schwierig sicherzustellen, dass die Äußerungen der Beteiligten ihren eigenen Wünschen entsprechen. Sowohl strategisches oder angepasstes Verhalten stehen dem im Wege (Pellissery und Bergh 2007) als auch die Möglichkeit, dass die Armen „eine andere Sprache sprechen", wie es die „voices of the poor"-Literatur vermutet (Uyan Semerci 2004). Zweitens fehlt dem Capability-Ansatz ein Konzept kollektiver Verwirklichungschancen (Uyan Semerci 2007) und kollektiver Wahlfreiheit (Ibrahim 2007). Die individualistische Ausrichtung des Ansatzes ist zwar ethisch gerechtfertigt, weil jeder Mensch nur ein Leben hat und sein Leben separat betrachtet werden muss (Nussbaum 2000: „the principle of each person as an end; the principle of each person's capability"), aber zu-

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gleich muss die soziale Einbettung des Einzelnen nicht nur anerkannt, sondern auch konzipiert werden. Neben der konzeptionellen Einbettung über kollektive Verwirklichungschancen wird im Capabiltiy-Ansatz auch darüber nachgedacht, inwiefern die Möglichkeiten des Einzelnen, Ressourcen in Funktionen umzuwandeln, sozial vermittelt sind (Kuklys und Robeyns 2004, Volkert 2005, Robeyns 2005). Allerdings stecken auch diese Überlegungen noch in ihren Kinderschuhen {Robeyns 2005).

2. Sozialarbeit auf Grundlage des Lebenslage-Ansatzes Der Lebenslage-Ansatz stellt anders als der Capability-Ansatz das Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft von vorneherein in den Mittelpunkt. Auf die Bedeutung dieses Zusammenspiels weist bereits Neurath (1931) hin, der die Vorstellung entwickelt, dass die Lebenslage (eines Individuums oder auch einer Gruppe) von heute davon abhängt, inwieweit die (kollektiv) gewählte wirtschaftliche, politische und soziale Ordnung (Neurath spricht von „Lebensordnung") es vermag, mittels der vorhandenen Ressourcen und aus der vorhandenen Lebenslage heraus (Neurath spricht vom „Lebensboden", der auch die Lebenslage von gestern beinhaltet,) eine günstige Lebenslage herzustellen. Damit ist eine Verbindung zu soziologischen Theorien angelegt, die so weit reicht, dass Neurath (1931) den Begriff der Lebenslage im Kapitel über die Gesellschaftsstruktur einführt, Weisser (1952) eine „Schicht" über den Lebenslage-Typus definiert und Otto Schwenk (1999, S. 61-63) in der Lebenslage eine „neuere Konzeption" von sozialer Lage sieht, welche ältere Konzeptionen von Klassen- und Schichtungsbegriffen ablösen wolle. Anton Amann (1983) und Wolf Rainer Wendt (1984, 1988) knüpfen an diese Überlegungen zum Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft an, wenn sie den Ansatz als konzeptionelle Grundlage für die Sozialarbeit verwenden. Amann (1983, S. 138) hält fest: „Die zweiseitige Orientierung des Lebenslagenkonzeptes: auf die strukturellen Bedingungen und auf individuelles Erleben, macht es gleichzeitig möglich, nach der Determination des Individuums zu fragen und danach, was es aus den Bedingungen gemacht hat." Dementsprechend definiert Amann (1983, S. 147) Lebenslage folgendermaßen: Lebenslagen sind die je historisch konkreten Konstellationen von äußeren Lebensbedingungen, die Menschen im Ablauf ihres Lebens vorfinden, sowie die mit diesen äußeren Bedingungen in wechselseitiger Abhängigkeit sich entwickelnden kognitiven und emotionalen Deutungs- und Verarbeitungsmuster, die diese Menschen hervorbringen." Die Lebenslage beschreibt daher nach Amann (1983, S. 147-148) immer einerseits die Beschränkungen, die ein Individuum durch die Verteilung von Einkommen, aber auch von sozialen und politischen Freiheiten vorfindet, andererseits aber auch den Spielraum, den es zur Gestaltung einer Existenz hat. Während Amann (1983, S. 20) eher allgemein davon spricht, den Lebenslage-Ansatz „für eine integrierende Zusammenschau von sozialwissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Maßnahmenplanung" nutzen zu wollen, gibt Wendt ein paar konkretere Hinweise, wie dies aussehen kann. Dazu führt er zunächst das Konzept der „Lebensweise" ein, „das sowohl auf Individuen wie auf soziale Gruppen anwendbar ist, nämlich auf

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die Weisen (Muster), wie sie individuell und kollektiv strukturelle Lebensbedingungen unter Nutzung eigener Potentiale und sozialökologischer und soziokultureller Ressourcen bewältigen. Eine Lebensweise wäre somit die aktive Gestaltung dessen, was die gegebene individuelle Lebenslage ermöglicht" (Wendt 1984, S. 108). Aufgabe des Sozialarbeiters ist es nun, einerseits aufzuzeigen, wie die Lebenslage von heute entstanden ist, sowohl wegen der gesellschaftlichen Bedingungen (Makro-Ebene) als auch durch die eigene Lebensweise (Mikro-Ebene), und andererseits dabei den Spielraum für Änderungen der Lebensweise zu verdeutlichen. Wie Wolfgang Voges (2002, S. 271 f.) es nennt, ist die Lebenslage sowohl ein Explanandum - ein zu erklärender Sachverhalt als auch ein Explanans - ein erklärender Sachverhalt. Dies stellt er in Anlehnung an das Modell soziologischer Erklärung von Coleman (1992) bzw. Esser (1995) in Abbildung 2 dar. Abb. 1:

Lebenslage als Folge und Ursache einer spezifischen Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand

Situation 1:

Situation 2:

Situation 3:

Sozioökonomische Bedingungen

soziale Verhältnisse als Ausdruck von Lebenslagen

Sozioökonomische Bedingungen

Individuelle Eigenschaften

Entstehung einer Lebenslage

veränderte Eigenschaften

Verfestigung/ Veränderung der Lebenslage

Quelle: in Anlehnung an Voges (2002, S. 272) Die individuelle Lebenslage ist geprägt vom gesellschaftlichen Umfeld und persönlichen Eigenschaften. Sie wird vom Individuum gestaltet und wirkt in Verbindung mit der (gestalteten) Lebenslage der anderen Gesellschaftsmitglieder auf die kollektive Lebenslage ein. Unter den nun veränderten Bedingungen gestaltet das Individuum seine Lebenslage neu. Diesem Modell folgt Wendt, wenn er die Rolle des Sozialarbeiters darin sieht, die Not eines Klienten sowohl durch dessen Lebensgeschichte, als auch durch die strukturellen Benachteiligungen, die er erfährt, zu erklären. Der Klient ist somit weder reines Opfer noch reiner Täter, sondern wird aufgefordert, Ursachen in beiden Bereichen zu sehen bzw. „das Allgemeine und das Besondere einer Situation wahrzunehmen" (Wendt 1988, S. 83). In der Beratung wird der Sozialarbeiter dem Klienten verschiedene Deutungsmuster der Situation anbieten, also verschiedene Weisen, wie die Situation zu verstehen ist, und verschiedene Lösungen für seine Probleme vorschlagen, also verschiedene Handlungsmuster, wie der Situation begegnet werden kann. Dabei legt Wendt Wert darauf, die Freiheitsgrade zu beachten, die eine Situation bietet. Allerdings steht bei Wendt (1988, S. 83) am Schluss die bange Frage, wo die dafür befähigten hinreichend vielseitig und sicher orientierten Sozialarbeiter seien, denn es

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geht um eine individuelle Beratung, welche die „Re-Interpretation der Lebensgeschichte bei Eröffnung von (Entwicklungs-)Chancen, Orientierung im superstrukturellen Horizont und Unterstützung auf der infrastrukturellen Ebene" beinhaltet. Das Rezept des Lebenslage-Ansatzes um die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Armen zu stärken lautet also vor allem, ihnen ihre eigene Lage bewusst zu machen. Indem der Sozialarbeiter seinem Klienten die Grenzen des eigenen Einflusses deutlich macht, befreit er ihn nebenbei von dem Vorwurf, seine Situation sei selbstverschuldet. Zugleich mahnt der Sozialarbeiter beim Klienten die eigene Verantwortung für seine Lebensweise an, indem er auf seine Gestaltungsmöglichkeiten hinweist. Bestimmte Verbesserungen der Lebensbedingungen sind nach Wendts (1984, S. 109) Auffassung Aufgabe der Sozialpolitik. Aufgabe jedes Einzelnen ist es, die Bedingungen zu nutzen gegebenenfalls mit Hilfe der Unterstützung eines Sozialarbeiters.

3. Zwischenfazit: Sozialstruktur und Prozesse In den Überlegungen beider Ansätze zur Armutsbekämpfung als Stärkung der Handlungsfreiheit der Individuen findet sich der Hinweis darauf, dass das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft bzw. zu seinem sozialen Umfeld geklärt werden muss. Vertreter des Capability-Ansatzes haben verschiedene Vorschläge dazu gemacht, wie das geschehen kann. Meist schlagen sie die Einführung eines Konzeptes von Verwirklichungschancen auf der Ebene des Kollektivs bzw. der Gruppe vor.5 Der LebenslageAnsatz weist hingegen von vorneherein eine Verbindung zu soziologischen Theorien zur Sozialstruktur auf. Eine derartige Verbindung zwischen Modellen der Sozialstrukturanalyse und dem Capability-Ansatz stellt bislang offenbar nur Jose Manuel Roche (2006) her. Die Darstellung der Lebenslage als Ursache und Wirkung (s. o.) leistet aber nicht nur eine Verbindung zwischen Lebenslage-Ansatz und einer groß angelegten soziologischen Theorie, sondern weist auch explizit auf den Prozesscharakter des Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft hin. Das Zusammenwirken ist vermittelt durch die Zeit. So gelingt es, sowohl das Individuum mit seinen persönlichen Merkmalen und Handlungen - seiner Wahlfreiheit - zu sehen als auch das Handeln auf kollektiver Ebene zu erklären. Wie Sen (1999a, S. 17) bemerkt, hat (Wahl-)Freiheit grundsätzlich beide Aspekte: (1) den Prozessaspekt und (2) den Aspekt der Optionen, die zur Wahl stehen. Während Sen den zweiten Aspekt in Form der Auswahlmenge modelliert, stellt er den Prozessaspekt nicht wirklich dar. (Dies gibt er auch zu, siehe Sen 2004b, S. 336.) Sein Modell verharrt in der Tradition mikroökonomischer (komparativ-)statischer Modelle. Es analysiert nicht, was geschieht, nachdem ein Individuum seine Wahl getroffen hat, und sieht keine Veränderung der Menge an Verwirklichungschancen vor. Ebenso wenig gibt das Modell in seiner jetzigen Form der Veränderung von Präferenzen Raum. Somit steht es im Widerspruch zum Grundgedanken deliberativer Demokratie, dass Menschen sich

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Vgl. hierzu Deneulin und Stewart (2001), Evans (2002), Stewart (2005), Ibrahim (2007), Ballet et al. (2007) und die Diskussion bei Robeyns (2005).

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überzeugen lassen können und im Zuge dessen ihre Präferenzen und die Bewertung ihrer Verwirklichungschancen ändern. Das aus dem Lebenslage-Ansatz gewachsene Modell von Voges ist sicher nicht das einzig denkbare Modell, aber es enthält sowohl eine Vorstellung vom Verhältnis des Einzelnen zu seinem gesellschaftlichen Umfeld als auch eine Vorstellung davon, wie das Wohlergehen eines Menschen zeitlich vermittelt ist. Damit stellt es die Handlungsfreiheit des Einzelnen umfassender dar als der Capability-Ansatz. Insbesondere die explizite Modellierung als Prozess ist für die Frage, wie sich Armut im Sinne eines Mangels an Handlungsfreiheit bekämpfen lässt, besser geeignet als komparativ statische Modelle, denn Armutsbekämpfung selbst ist ein Prozess.

IV. Wahlfreiheit und Armutsbekämpfung - Schlussfolgerungen Der vorliegende Aufsatz stellt mit dem Capability- und dem Lebenslage-Ansatz zwei Ansätze vor, die sowohl von Multidimensionalität gekennzeichnet sind als auch die Vorstellung entwickeln, dass Wahlfreiheit ein wichtiges Element für das individuelle Wohlergehen ist. Dementsprechend wird Armut in beiden Ansätzen sowohl durch objektiv schlechte Lebensbedingungen definiert als auch durch die Unmöglichkeit, ein anderes, höher geschätztes Leben zu führen. Letzteres wird modelliert als Auswahlmenge, die nur wenige schlechte Optionen beinhaltet. Der Aufsatz fragt, inwiefern die hervorgehobene Rolle der Wahlfreiheit in Vorschläge zur Armutsbekämpfung mündet, die von den Ansätzen hervorgebracht wurden. Besonderes Augenmerk legt der Aufsatz auf Methoden der Armutsbekämpfung in Form einer Stärkung der Handlungsfreiheit. Der Capability-Ansatz hält diesbezüglich zunächst zwei generelle Aussagen bereit: Erstens ist der Markt auch für Arme ein geeigneter Ort, um Handlungsfreiheit einzuüben. Zweitens fordert eine demokratische Konstitution die Handlungsfreiheit. Beide Aussagen werden qualifiziert. Bei der Marktwirtschaft muss beachtet werden, ob tatsächlich die Bedingungen für ihr Funktionieren gegeben sind. Negative Freiheit, d. h. Freiheit von Einmischung durch andere, ist eine Voraussetzung und keine Folge der Marktwirtschaft. Sie wird also nicht vom Markt sichergestellt, sondern muss von anderer Seite sichergestellt werden. Ist sie gegeben, genießen die Marktteilnehmer Handlungsfreiheit innerhalb ihres Budgets. Die Möglichkeit von externen Effekten einer Markttransaktion auf dritte sowie die Vereinbarkeit der Markteffizienz mit ungleichen Verteilungen zeigt femer, dass weitere Bedingungen im konkreten Kontext zu prüfen sind, um die allgemein positive Bewertung des Marktes auf den konkreten Spezialfall zu übertragen. Die positive Bewertung der Demokratie als Rahmenbedingung, um Handlungsfreiheit einzuüben, ist hingegen in anderer Weise qualifiziert. Hier lautet das Argument, dass die Handlungskompetenz der Bürger keine Voraussetzung von Demokratie ist, sondern mit ihr einhergeht und in der demokratischen Praxis wächst. Demokratische Praxis beinhaltet insbesondere die freie Rede und öffentliche Debatte neben freien Wahlen, der Wahrnehmung von Rechten und der unbeschränkten Verbreitung von Informationen.

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Die Schilderung der demokratischen Praxis ist sehr allgemein gehalten. In partizipativen Projekten zeigt sich, dass zweierlei in der Theorie noch nicht genügend Berücksichtigung gefunden hat: zum einen das Verhältnis von individuellen Verwirklichungschancen zum sozialen Umfeld; und zum anderen die Aussagekraft bzw. Bedeutung von Äußerungen der Armen vor dem Hintergrund sozialer Konditionierung und Machtstrukturen einerseits und einer anderen Kultur des Sich-Äußerns andererseits. Obwohl also Partizipation im Allgemeinen dazu angetan ist, die Handlungsfreiheit der Betroffenen zu stärken, ist im Einzelfall zu prüfen, inwiefern Machtstrukturen und Kommunikationsschwierigkeiten der Ausweitung der Handlungsfreiheit zuwider laufen. Der Lebenslage-Ansatz hat ein Denkmodell entwickelt, wie die individuelle Lebenslage durch das Zusammenwirken von individuellen Eigenschaften und sozialem Umfeld entsteht und sich verändern kann. Dieses Denkmodell dient als Grundlage für die Arbeit von Sozialarbeitern mit ihren Klienten. Diese Art von Sozialarbeit besteht im Kern in Aufklärung über das Zustandekommen einer Lebenssituation und über die Chancen, die jede Lebenssituation bereithält. Dies ist die verallgemeinerbare Aussage dieses Denkmodells der Lebenslage als Ursache und Wirkung: Die Gesellschaft muss sicherstellen, dass alle ihre Mitglieder nicht nur Möglichkeiten haben, sondern sie auch kennen. Die Gesellschaft sollte ferner ihre Mitglieder ermutigen, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen. Dies muss nicht unbedingt in Form von Sozialarbeit geschehen. Die mit dem Hartz IV Programm in Deutschland eingeführte Beratung Arbeitssuchender durch Arbeitsvermittler der Arbeitsagenturen kann als eine Anwendung des Wendf sehen Modells verstanden werden - und auch als eine Bestätigung seiner Befürchtung, es mangele an entsprechend ausgebildeten Sozialarbeitern. In erster Linie betont sein Modell jedoch, wie wichtig Bildung ist und welche Ziele Bildung verfolgen sollte. In diesem Punkt stimmt die Stoßrichtung der Sozialarbeit auf Grundlage des Lebenslage-Ansatzes mit den von Sen genannten Bestandteilen demokratischer Praxis überein, nämlich der unbeschränkten Verbreitung von Informationen, der freien Rede und öffentlichen Debatte. Bildung, die auf eine entsprechende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abzielt, erschöpft sich nicht in Wissensvermittlung, sondern übt von vorneherein in der Handlungsfreiheit (wie bspw. John Dewey es schildert, vgl. Leßmann 2009). In der Forschung weist der Beitrag auf einigen Bedarf hin: Wie kann erstens der Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Verwirklichungschancen des einzelnen angemessen modelliert werden? Reicht es, diesen Einfluss in den Umwandlungsfaktoren zu berücksichtigen, die bestimmen, welche Bündel von Funktionen für eine Person mit Hilfe der gegebenen Ressourcen erreichbar sind? Sind sie gar im Sinne von Pierre Bourdieus Sozialkapital als Ressource aufzufassen? Oder benötigt man ein Konzept kollektiver Verwirklichungschancen? Wie lassen sich zweitens die Anforderungen deliberativer Demokratie und öffentlicher Diskussion bei partizipativen Projekten umsetzen? Zwischen dem Konzept deliberativer Demokratie und seiner Umsetzung in partizipativen Projekten klafft eine große Lücke. Wie lässt sich drittens und schließlich der Prozessaspekt von Veränderungen, wie sie ja das Ziel der Armutsbekämpfung sind, im Capability-Ansatz angemessen darstellen?

Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung

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Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfimg

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Zusammenfassung Mit dem Capability-Ansatz von Amartya Sen und dem Lebenslage-Ansatz stellt der Aufsatz zwei Ansätze vor, die erstens fur eine multidimensionale Erfassung von Armut plädieren und zweitens Armut als eingeschränkte Handlungsfreiheit definieren. Die Handlungsfreiheit wird in beiden Ansätzen als Möglichkeit modelliert, eine Lebensweise aus einer Menge auszuwählen. Die These dieses Aufsatzes ist, dass es Folgen für die Methoden der Armutsbekämpfung haben muss, wenn Armut in dieser Weise unter anderem auf die mangelnde Wahlfreiheit einer Person zurückgeführt wird. Der Aufsatz konzentriert sich auf Überlegungen, wie sich Menschen in der Ausübung ihrer Wahlfreiheit bestärken lassen und so aus der Armut geführt werden können. Drei allgemeine Folgerungen lassen sich aus dem Beitrag ziehen: Erstens ist der Markt eine Art Übungsfeld für Handlungsfreiheit - aber nur, wenn die Voraussetzungen für sein Funktionieren gewährleistet sind; zweitens lädt Demokratie ein, Handlungskompetenz zu erwerben, aber dies sollte drittens von einem geeigneten Bildungskonzept begleitet werden. Der Forschung obliegt es, die Lücke zwischen den allgemeinen Aussagen und konkreten Anwendungen zu schließen.

Summary: The Role of Freedom of Choice in Poverty Alleviation The Capability Approach as well as the Conditions-of-Life-Approach view poverty as a multidimensional phenomenon that is not only characterised by lows levels of achievement in the various dimensions but also by a restricted opportunity to choose among from a set of different ways of life. The approaches thus put a lot of emphasis on (limited) freedom of choice as a crucial aspect of poverty. If poverty is seen in this way there are two ways to improve the situation of the poor: by broadening the set of opportunities open to them or by strengthening their ability to choose. The paper concentrates on the latter. The paper arrives at three general conclusions: first, the market is an institution that trains the ability to choose if certain preconditions are met which are necessary in order to ensure the functioning of the market (namely freedom from interference and absence of externalities). Secondly, democracy is a political institution that demands people's ability to choose and, thus, strengthens this ability, too. Thirdly, education can and should play an important role in encouraging and training the ability to choose. These general findings are rather abstract and quite a lot has still to be done in order to fill the gap between theoretical findings and their actual application in the process of poverty alleviation.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Stefan Hielscher und Markus Beckmann

Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik: Zur Rolle gesellschaftlicher Change Agents am Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms Inhalt I. Einleitung 435 II. Die ordnungspolitische Dimension von Social Entrepreneurship: Reflexion der Rolle von Unternehmen als Agenten im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung 437 III. Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm: Eine historische Skizze IV. Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm: Eine sozialstrukturelle Rekonstruktion V. Private Akteure als Regelunternehmer: Eine sozialstrukturelle Systematik VI. Schlussfolgerungen für Social Entrepreneurship und die Ordnungspolitik. VII. Fazit und Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: Social Entrepreneurship and Ordnungspolitik

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I. Einleitung

„The reasonable man adapts himself to the world; the unreasonable one persists in trying to adapt the world to himself. Therefore all progress depends on the unreasonable man." Shaw (1903; 1947, S. 221)

Social Entrepreneurship ist ein junges und dynamisches Forschungsfeld. Im Kern dieser Forschung steht die Reflexion sozialer Veränderungs- und Gestaltungsprozesse aus einer akteurszentrierten Perspektive: Es geht um die gesellschaftliche Rolle von Social Entrepreneurs, die als „Change Agents" im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung die Lösung sozialer und ökologischer Probleme in Angriff nehmen, die bis dato weder durch den Markt noch durch den Staat zufriedenstellend gelöst werden konnten. Im Mittelpunkt dieser Literatur steht die Analyse von Führungspersönlichkeiten, Visionen, innovativen Geschäftsmodellen und „best practices". Der Fokus liegt

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daher primär auf der Analyse alternativer Strategien und von Management-Ansätzen, kurz: auf der Handlungsebene individueller Akteure. Mit einer vermeintlich ganz anderen Fragestellung beschäftigt sich die Ordnungspolitik. Sie fokussiert auf das Problem einer geeigneten gesellschaftlichen Ordnung. Ihr geht es um die Frage, wie die Politik durch geeignete Regelsetzungen die Wettbewerbsordnung der Wirtschaft zur Beförderung gesellschaftlicher Anliegen in Kraft setzen und institutionell absichern kann - und um die damit verbundene Frage, wie denn die staatliche Ordnung ihrerseits verfasst sein muss, um diese „Ordnungsaufgaben"1 wirksam erfüllen zu können. Der Fokus liegt somit primär auf der Analyse alternativer institutioneller Arrangements, kurz: auf der Ordnungsebene der Regeln. Trotz der zunehmenden Aufmerksamkeit, die Social Entrepreneurship in einer interdisziplinär ausgerichteten Diskussion zuteil wird, erfahrt dieses Thema in der ordnungspolitischen Diskussion bisher keine nennenswerte Beachtung. Und auch umgekehrt spielt die ordnungspolitische Tradition in der entstehenden Social-EntrepreneurshipLiteratur bislang keine wichtige Rolle. Ziel dieses Beitrags ist es, aus einer sog. „ordonomischen" Perspektive2 die scheinbar disparaten Fragestellungen von Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik zusammenzufuhren. Das Argument lautet: Social Entrepreneurs, d.h private Akteure, können als i?ege/unternehmer wichtige Governance-Beiträge leisten. Gelingt es ihnen, - für sich und andere - neuartige und wechselseitig vorteilhafte Bindungsarrangements zu organisieren, können sie als echte Change Agents zur Weiterentwicklung der Rahmenordnung beitragen und damit genuine Ordnungsaufgaben erfüllen. Diese These soll im Folgenden in der Auseinandersetzung mit dem historischen Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms ausführlicher entwickelt werden. Die Argumentation erfolgt in vier Schritten. Der erste Schritt (II.) diskutiert die wesentlichen Grundzüge der Social-Entrepreneurship-Diskussion. Der zweite Schritt (III.) zeichnet das Wohlfahrtsprogramm von Alfred Krupp in wichtigen Grundzügen nach. Der dritte Schritt (IV.) unternimmt eine sozialstrukturelle Rekonstruktion der hier ausgewählten Elemente des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms. Aus dieser sozialstrukturellen Analyse entwickelt der vierte Schritt (V.) eine allgemeine Systematik der sozialstrukturellen Möglichkeiten, wie private Akteure als Regelunternehmer eigene Ordnungsbeiträge leisten können. Der fünfte Schritt (VI.) zieht aus dieser sozialstrukturellen Analyse Schlussfolgerungen für das Verständnis von Social Entrepreneurship, aber auch für das (Selbst-)Verständnis der Ordnungspolitik. Der Beitrag schließt mit einem Fazit. 1 So der Begriff bei Walter Eucken (1952; 1990, S. 331). 2 Der ordonomische Ansatz versteht sich als eine rational-choice-basierte Analyse von (Interdependenzen zwischen) Sozialstruktur und Semantik. Der Ordonomik geht es insbesondere um die Frage, inwieweit die Semantiken - die Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Denkkategorien, die perspektivischen „Brillen" und „mental models" - , mit denen gesellschaftliche Probleme wahrgenommen, beschrieben, rekonstruiert und bewertet werden, auch tatsächlich geeignet sind, um die jeweils relevante Sozialstruktur - die Funktionszusammenhänge und entscheidenden Situationsbedingungen dieser Probleme konstruktiv in den Blick zu nehmen. Vgl. hierzu grundlegend Pies (2007), Pies (2008) sowie Pies, Beckmann und Hielscher (2007). Die Ordonomik versteht sich damit als gesellschaftstheoretische Weiterentwicklung des primär wirtschaftsethisch ausgerichteten Ansatzes der „Ökonomischen Theorie der Moral". Vgl. Homann und Pies (1994b), Homann und Pies (1994a), Pies (2000b) und ferner Pies und Sardison (2006) sowie Suchanek (2001,2007).

Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik

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II. Die ordnungspolitische Dimension von Social Entrepreneurship: Reflexion der Rolle von Unternehmen als Agenten im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung ((1)) Social Entrepreneurship beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie Unternehmen als gesellschaftliche „Change Agents" die Lösung sozialer und ökologischer Probleme in Angriff nehmen können. Social Entrepreneurs werden dabei als Agenten verstanden, die im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung dazu beitragen, die Bedingungen für die (bessere) Inkraftsetzung von (neuen) Märkten zu schaffen.3 Bei Elkington und Hartigan (2008, S. 2) findet man hierzu folgende Einschätzung: „Think it this way: whatever they may intend, these [social, H.d.V.] entrepreneurs are doing early market research on some of the biggest opportunities of the coming decades. In attempting to bridge the great divides between privileged populations and the poor, they address the critical challenges where traditional markets fail. ... Our reading of the evidence suggests that the work of these innovators and entrepreneurs heralds a new phase in the evolution of business, markets, and capitalism itself. The main stream players who heed the lessons from these innovators' experience will find new opportunities to fulfill unmet needs in the vast underserved markets of the twenty-first century."

Die Forschung zu Social Entrepreneurship zielt also darauf ab, diese sich vor allem dezentral entfaltenden Lernprozesse gesellschaftlicher Reform der modernen Marktwirtschaft produktiv anzuleiten und zu unterstützen.4 Damit entfaltet die Literatur eine strategische Stoßrichtung mit durchaus ordnungspolitisch relevanten Dimensionen. ((2)) Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Lernprozess erhofft sich die Literatur aus der Analyse der Person des Social Entrepreneurs. Die Person als Untersuchungsgegenstand impliziert eine bestimmte Analyseperspektive der Literatur. Zwei Aspekte sind hierbei von besonderer Bedeutung: (a) Zum einen liegt der Fokus auf den charakterlichen (Führungs-)Eigenschaften der Person sowie auf den durch diese Führungspersönlichkeiten ins Werk gesetzten erfolgreichen Geschäftsmodellen und best practices. In der für die Social-EntrepreneurshipLiteratur grundlegenden Arbeit von Gregory Dees findet sich die wohl stärkste Betonung der Persönlichkeitsmerkmale des Social Entrepreneurs. Bei Dees (1998, 2001, S. 4) liest man über das „role model" eines idealen Social Entrepreneurs: „Social entrepreneurs play the role of change agents in the social sector, by [a]dopting a mission to create and sustain social value (not just private value); [r]ecognizing and relentlessly pursuing new opportunities to serve that mission; [e]ngaging in a process of continuous innovation, adaptation, and learning, [ajcting boldly without being limited by resources currently in hand, and [e]xhibiting heightened accountability to the constituencies served and for the outcomes created."

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Einem anonymen Gutachter verdanken wir den Hinweis, dass die Literatur zu Social Entrepreneurship thematisch starke Überschneidungen mit der Literatur zu Unternehmen als Social Change Agents oder zu Corporate Citizenship aufweist. Diese Literaturen rücken das Unternehmen als einen privaten Akteur in den Vordergrund, der eine aktive Rolle in gesellschaftlichen Regelfindungsdiskursen und Regelsetzungsprozessen spielt. Vgl. hierzu etwa die Arbeiten zur politischen Theorie von Corporate Citizenship von Matten und Crane (2005), Moon, Crane und Matten (2005), Scherer, Palazzo und Baumann (2006) und Scherer und Palazzo (2007), den Beitrag zur Rolle von Unternehmen als sog. „Normunternehmer" von Wolf (2005) oder aus ordonomischer Perspektive die Arbeit von Pies, Hielscher und Beckmann (2009a). 4 Vgl. hierzu stellvertretend Dees (1998, 2001), Martin (2004), Austin, Stevenson und Wei-Skillern (2006), Peredo und McLean (2006) sowie Martin und Osberg (2007).

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(b) Zum anderen führen die weit verbreiteten Bemühungen um eine möglichst exakte defmitorische Bestimmung des idealen Social Entrepreneurs dazu, dass der Fokus der Literatur auf der Motivation der handelnden Akteure liegt. Aus dieser Perspektive zeichnet sich ein Social Entrepreneur vor allem durch seine besondere „soziale" Gesinnung aus. Ganz im Gegensatz dazu verortet die Literatur die Motivation eines „normalen" Unternehmers in der Erzielung persönlichen Reichtums oder in der Erhöhung des Shareholder Value. Stellvertretend für diese weit verbreitete Position kann die Einschätzung von Austin, Stevenson und Wei-Skillern (2006, S. 2) gelten: „Common across all définitions of social entrepreneurship is the fact that the underlying drive for social entrepreneurship is to create social value, rather than personal and shareholder wealth." Diese Analyseperspektive hat weitreichende und durchaus auch kritische Konsequenzen: (a) Der Fokus auf Personeneigenschaften ermöglicht interessante Einblicke in die Persönlichkeits- und Charakterstruktur erfolgreicher Pioniere. Diese Perspektive verstellt jedoch tendenziell den Blick dafür, dass die Ideen von Pionieren - Ideen zur Entwicklung und Inkraftsetzung von Märkten - ihrerseits einem intensiven Wettbewerb um philanthropische, private oder auch öffentliche Förderung ausgesetzt sind.5 In derartigen Wettbewerbsprozessen stellen sich die Ergebnisse als nicht-intendierte Folgen intentionalen Handelns ein. Aus diesem Grund ist nicht primär von Interesse, welche Intentionen die Akteure zu ihren jeweiligen Handlungen motivieren. Entscheidend ist vielmehr, wie das Handeln der Akteure so kanalisiert werden kann, dass gesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse resultieren. Es geht um eine ordnungspolitische Perspektive auf die Ordnung des Wettbewerbs. Übertragen auf das Lernen aus Best practices bedeutet das: Nicht die Motivation eines idealen Social Entrepreneur bei der Lösung eines konkreten Problems ist in aller erster Linie informativ. Aus ordnungspolitischer Perspektive sind vielmehr jene strukturellen Beiträge von besonderem Interesse, die ein Social Entrepreneur aus seinem eigenen wohlverstandenen Interesse heraus zur Verbesserung der institutionellen Rahmenordnung der Marktwirtschaft zu leisten imstande ist.6 (b) Der Fokus auf die soziale Gesinnung des Social Entrepreneurs rückt all jene Beispiele verstärkt ins Blickfeld, in denen die soziale Mission Vorrang vor anderen möglichen Motiven erhält. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass sich vor allem die frühe Forschung auf Not-for-Profit-Aktivitäten und auf Non-Profit-Organisationen als Träger von Social Entrepreneurship konzentriert.7 Diese Perspektive verstellt aller-

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Vgl. hierzu beispielhaft die gemeinnützige Organisation Ashoka, die einer der größten Förderer von Social-Entrepreneurship-Initiativen weltweit ist. Ihr Gründer, der ehemalige McKinsey Partner William Drayton, prägte den Begriff Social Entrepreneurship und unterstützt seit den 1980er Jahren weit über 1600 Social Entrepreneurs weltweit, die sich in einem harten wettbewerblich strukturierten Auswahlprozess durchgesetzt haben. Vgl. hierzu Drayton (2002) und Drayton (2003), Davis (2002) sowie http://www.ashoka.org. Vgl. hierzu weiterführend Hielscher, Pies und Beckmann (2009). Die Autoren entwickeln Ideen, wie der Global Compact der Vereinten Nationen seinem eigenen Anspruch als Lern- und Dialogplattform für Corporate Citizenship (noch) besser gerecht werden kann. Der Beitrag argumentiert, dass Unternehmen besonders gut voneinander lernen können, wenn sie sich über die strukturellen Bedingungen erfolgreicher Projekte offen austauschen können. Der starke Fokus auf Not-for-Profit-Aktivitäten ist in der Literatur nach wie vor weit verbreitet. Vgl. hierzu u.a. Dees (1998, 2001), Dees, Emerson und Economy (2001) und Dees, Emerson und Economy (2002) sowie Bornstein (2004, 2007).

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dings auch den Blick auf all jene Fälle, in denen das soziale Engagement eines Unternehmers aus dem langfristigen Wertschöpfungs- und Gewinninteresse heraus motiviert ist. Auf diese Weise schöpft die Literatur zu Social Entrepreneurship ihr Lernpotential nicht voll aus, weil sie eine wichtige Lernquellen gänzlich unbeachtet lässt: das soziale Engagement gewinnorientierter Unternehmen. ((3)) Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Social-Entrepreneurship-Diskussion und das ordnungspolitische Forschungsprogramm fruchtbar miteinander ins Gespräch zu bringen. Zu diesem Zweck rekonstruieren die folgenden Schritte insbesondere die strukturelle Dimension der Innovationsleistungen von Alfred Krupps Wohlfahrtsprogramm. Auf diese Weise werden die persönlichen Charaktereigenschaften des Unternehmers Krupp zwar bewusst ausgeblendet.8 Zugleich wird jedoch die These vorbereitet, dass (Social) Entrepreneurs - komplementär zur staatlichen Regelsetzungen - wichtige Governance-Beiträge zur Ordnungspolitik in einer Marktwirtschaft erbringen können.

III. Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm: Eine historische Skizze Mit dem Namen Alfred Krupp verbindet sich die facettenreiche Geschichte eines Unternehmers, der eine ganze Epoche in vielfaltiger Weise mitgeprägt hat. Fünf Elemente seines umfangreichen Werkes sollen kurz hervorgehoben werden: ((1)) Krupps Produktinnovation und die Einfuhrung einer weit reichenden Qualitätsgarantie, ((2)) die Kruppsche Lohnpolitik und die Bereitstellung umfassender Zusatzleistungen, ((3)) das Kruppsche System der Gesundheitsvorsorge, ((4)) Krupps Initiativen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie ((5)) Krupps „Generalregulativ". ((1)) Als Friedrich Krupp im Jahre 1826 stirbt, wird sein damals erst 14-jähriger Sohn Alfred treuhänderischer Geschäftsführer der Gussstahlfabrik. Neben der noch mit Wasserkraft betriebenen kleinen Fabrik in einer ehemaligen Walkmühle außerhalb Essens und vier Arbeitern übernimmt der Sohn vom Vater wenig mehr als die gewaltigen Schulden und ein überaus wertvolles Gut: das Wissen um die Herstellung von hochwertigem Gussstahl. Die Produktion des so genannten „Tiegelstahls" war zu diesem Zeitpunkt erst wenigen englischen Fabriken gelungen.9 In den nächsten 20 Jahren arbeitet Krupp fieberhaft an der Erschließung neuer Märkte: Krupp sucht nach neuen Anwendungsmöglichkeiten für seinen Stahl, der in Punkto Festigkeit und Zähigkeit gegenüber allen bis dato bekannten Alternativen zwar weit überlegen, aber wenig bekannt ist. Mit Aufhebung der ersten Zollschranken 1834 begibt sich Krupp erst in Deutschland und später auch in Europa auf Geschäftsreise, um sein innovatives Verfahren vorzustellen und Ideen für neue Produkte zu generieren. Zunächst produziert die Gussstahlfabrik einfache Gerberwerkzeuge, Walzenrohlinge und Besteck; dann kommen Stempel für die 8 Über die persönlichen Eigenschaften der Krupps und ihren familiären Kontext gibt es eine breite Literatur. Vgl. hierzu beispielhaft Galt (2000). 9 Bereits 1811 gründet Friedrich Krupp mit zwei Teilhabern eine Fabrik „zur Herstellung von Gussstahl nach englischem Qualitätsmaßstab und den daraus angefertigten Produkten", allerdings noch ohne die Rezeptur zu kennen. Vgl. hierzu die ersten Kapitel in Berdrow (1937). Einen informativen und lesenswerten Kurzüberblick über die Anfangsjahre der Kruppschen Gussstahlfabrik gibt der Beitrag in Meyers Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1877. Vgl. o.A. (1877, S. 398-399).

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staatlichen Münzpressen hinzu. Später stellt Krupp zunehmend auf Fertigprodukte um: Er produziert schweißnahtfreie Radreifen für Eisenbahnräder, Eisenbahn- und Schiffsachsen sowie Gussstahlkanonen jeglicher Art. Kurz: Krupp legt eine beeindruckende Innovationsleistung an den Tag, die nicht nur zu neuartigen Produkten fuhrt, sondern vor allem zu Produkten, die bisher unerreichte Qualitätseigenschaften aufweisen. Allerdings sind die vorteilhaften Eigenschaften seines Gussstahls einem eher zögerlichen Markt nur mit großer Beharrlichkeit zu vermitteln. Schon ab 1833 - also noch in ganz frühen Jahren - geht Krupp daher dazu über, für die Vorteilhaftigkeit seiner Produkte persönlich zu bürgen: Er gibt allen Kunden eine weitreichende Qualitätsgarantie.10 ((2)) Noch bekannter als Krupps Produkt- und Vermarktungsinnovationen sind aus heutiger Sicht seine umfassenden Sozialleistungen. Schon früh verpflichtet sich Krupp dazu, an seine Arbeiter höhere Löhne zu zahlen, als dies seine Wettbewerber tun. In einem Brief formuliert Krupp bereits 1844: „Die Arbeiter sollen das Maximum bei uns verdienen, was eine Industrie bieten kann, oder wir geben eine solche Industrie auf, bei der die Leute hungern müssen."11 Doch Krupp belässt es nicht bei einer Erhöhung der Nominallöhne im Sinne einer rein monetären Entgeltung. Vielmehr flankiert er die Zahlung der monetären Löhne durch eine ganze Reihe zusätzlicher Leistungen, die zu einer beträchtlichen Erhöhung des Äea/einkommens seiner Arbeiter führen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Wohnsituation seiner Arbeiter und ihre Güterversorgung. Zunächst zur Wohnsituation: In den 1860er und 1870er Jahren regt der breite Wirtschaftsaufschwung einen massenhaften Zuzug von Arbeitern in die Industriestandorte (sog. „Landflucht") an. Die Folge: Der Wohnraum wird knapp. Die Preise steigen ins Unermessliche, so dass auch überdurchschnittliche Löhne durch gestiegene Lebenshaltungskosten aufgezehrt zu werden drohen. In dieser Situation geht Krupp das Versprechen ein, nach Möglichkeit seinen Arbeitern eine erschwingliche Mietwohnung zur Verfügung zu stellen. Mit dem Bau der Arbeiterkolonie „Westend" beginnt er 1863 ein dauerhaft angelegtes Wohnungsbauprogramm, so dass in den 1870er Jahren schließlich 3277 Wohnungen für ca. 15000 Menschen zur Verfügung stehen.12 Nun zur Güterversorgung: Die Ausweitung der Massenproduktion sowie der damit einhergehende massenhafte Zuzug von Arbeitern löst nicht nur Preissteigerungen bei Mieten, sondern auch bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs aus. Die gestiegenen Preise zehren die Einkommen der Stadtbewohner beträchtlich auf. Um dieses Problem zu lösen, gründet sich in den 1850er Jahren der „Essener Konsumverein". Dieser genossenschaftliche Zusammenschluss ehrenamtlich tätiger Essener Verbraucher versucht, durch die Bündelung der Nachfrage geringere Einkaufspreise bei Konsumartikeln zu erzielen. Doch trotz hohen Engagements der Freiwilligen scheitert der Konsumverein. Im Jahr 1868 übernimmt Krupp die insolvente Genossenschaft und organisiert sie neu als ,JCruppsche Konsumanstalt". Sechs Jahre später, 1874, umfasst die Konsumanstalt bereits eine Bäckerei, eine Selterwasserfabrik, eine Schneiderwerk-

10 Vgl. Berdrow (1937, S. 33 f.). 11 Zitiert nach Berdrow (1937, S. 76). 12 Zu Beginn der 1870er Jahre folgen die Kolonien „Nordhof' und „Dreilinden" sowie „Cronenberg" und „Schedenhof. Vgl. Baedeker (1912, S. 104).

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statt, eine Speiseanstalt13 und mehrere, auf die einzelnen Arbeiterkolonien verteilte Verkaufstellen. Die Produktpalette umfasst Kolonialwaren, Schuh- und Eisenwaren, Manufakturwaren, Möbel und Betten und Nähmaschinen zu günstigen Einkaufspreisen.14 ((3)) Die schwierigen Wohnverhältnisse der in den 1850er Jahren sprunghaft ansteigenden Belegschaft verstärken auch die Gefahr von Seuchen und Krankheiten. Vor allem die , Aftermieterpraxis" sorgt für äußerst beengte und elende Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien. Aufgrund hoher Mietpreise bringen die Arbeiter neben ihren Familien auch allein stehende Arbeiter in ihrer eigenen Wohnung unter, um sich zusätzliche Einkommen zu erwirtschaften. Gleichzeitig fehlen in den schnell wachsenden Ballungszentren sanitäre Infrastruktur, Abwässerkanäle und eine zumindest rudimentäre medizinische Grundversorgung. Die großen Cholera-Epidemien der Jahre 1831, 1854, 1866 und 1874 raffen viele Menschen dahin und verdeutlichen sowohl die gravierenden hygienischen Probleme wie auch die unterentwickelte medizinische Infrastruktur in der Stadt Essen.15 Auch mit Blick auf dieses Problem der Gesundheitsversorgung wird Krupp schon äußerst früh aktiv. Bereits Alfred Krupps Vater Friedrich hatte die ersten Arztrechnungen seiner Mitarbeiter bezahlt. 16 Der junge Krupp setzt diese Praxis fort und richtet wenige Jahre nach seiner Übernahme des Unternehmens, 1834, eine freiwillige Krankenversicherung ein. Gut zwanzig Jahre später, die Zahl der Mitarbeiter ist inzwischen drastisch gestiegen, wandelt Krupp diese freiwillige Versicherung im Jahr 1855 in eine Zwangsversicherung um („Hilfskasse in Fällen von Krankheit und Tod"). 17 Die Organisation erfolgt auf Basis einer Ko-Finanzierung: Jeder Arbeiter und Angestellte (damals: „Beamte") zahlt einen Pflichtbeitrag, den Krupp mit der gleichen Summe je Mitarbeiter bezuschusst. Die Leistungen umfassen die ärztliche Versorgung im Krankheitsfall sowie die Unterstützung mit Medikamenten, ein Krankengeld ab dem dritten Tag der krankheitsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz sowie einen Zuschuss zu den Beerdigungskosten für Familienangehörige im Fall des Ablebens eines Werksangehörigen. Ein Jahr später, im Jahr 1856, wird die Krankenversicherung reorganisiert und eine Pensionskasse angegliedert.18

13 Krupp investiert bereits früh in das soziale Umfeld seiner (Wander-)Arbeiter. Als eine der ersten Einrichtungen errichtet Krupp 1856 eine so genannte „Menage" als Unterkunft und für eine preiswerte Verpflegung für 200 unverheiratete Männer, die ihre Familien in der Heimat zurück gelassen haben. Vgl. Berdrow (1937, S. 36). 14 Ein offizielles Kommunique der Prokura zu den Wohlfahrtseinrichtungen verweist auf den regen Zuspruch, den die Konsumanstalt in den 1870er genießt. Hier heißt es: „Wenn (...) bei der strengen Durchfuhrung der Bestimmung, dass nur gegen Barzahlung verkauft werden dürfe, der Umsatz sich mit dem Jahre vergrößert habe und Nichtangehörige des Werks trotz der überall angebrachten Warnungen täglich zurückgewiesen werden müssten, so dürfe dies als Beweis genommen werden, dass die Absicht des Inhabers der Firma, seinen Arbeitern die möglichsten Vorteile bei Beschaffung der Lebensbedürfnisse zuteil werden zu lassen, erreicht sei." Zitiert nach Baedeker (1912, S. 126). 15 Für einen Überblick über die Ausbreitung der Cholera-Epidemien in Deutschland im 19. Jahrhundert vgl. insbesondere Briese (2003, Band 1). 16 Vgl. Stercken und Lahr (1992, S. 33) sowie Vossiek(mi, S. 13). 17 Vgl. Vossiek (1937, S. 19-28). 18 Vgl. Baedeker (1912, S. 28).

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Mit Hilfe des Krankenversicherungs-Fonds versetzt sich Krupp in die Lage, weitere Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge in seinen Betrieben ins Werk zu setzen. Im Zuge der großen Cholera-Epidemie von 1866 baut Krupp das erste Betriebskrankenhaus, 1871 Jahren folgt ein Epidemienhaus. Zudem setzt Krupp 1874 zur Seuchenprävention eine Sanitätskommission ein, bestehend aus Mitgliedern der Prokura, der Wohnungs(bau)verwaltung und des Krankenkassenvorstands. Diese Kommission erstellt und administriert im Wesentlichen eine Sterblichkeitsstatistik, deren Aufgabe darin besteht, die Daten aller endemischen und epidemischen Krankheiten im gesamten Werk zu sammeln. Dadurch entsteht eine Statistik zur Überwachung der öffentlichen Gesundheit, die ein präventives Eingreifen zur Verhinderung und Eindämmung von Seuchen erlaubt.19 ((4)) Aber nicht nur die medizinische Infrastruktur kann mit den Anforderungen an eine schnell wachsende Industriemetropole nicht Schritt halten. Auch in der städtischen Bildung und im kommunalen Brandschutz klaffen große Lücken, um die damit verbundenden Probleme besser in den Griff zu bekommen, versucht Krupp bereits früh sowohl auf kommunaler Ebene als auch auf Reichsebene Anstöße und erste Unterstützung für die Organisation kollektiven Handelns zu geben. Auf kommunaler Ebene unterstützt Krupp die städtischen Bemühungen zur Verbesserung der sanitären Infrastruktur und des Brandschutzes durch finanzielle Zuweisungen und die Kooperation und Bereitstellung von Rnow-How. Zudem fordert er die ersten Ansätze im städtischen Bildungswesen etwa durch großzügige Spenden und Zuweisungen für den Bau von Grundschulen und sonstiger Einrichtungen der Früherziehung. Niedrige Standards im Bereich der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Bildung und des kommunalen Brandschutzes wirken sich negativ auf Krupps Produktionsprozess aus: Probleme in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge bringen die Gesundheit seiner Belegschaft ernsthaft in Gefahr; eine unzureichende Früherziehung erweist sich als Nachteil für die Rekrutierung geeigneten Personals; Schwächen bei der Brandbekämpfung stellen ein hohes Sicherheitsrisiko für seine Fabriken dar. Krupp ist sich darüber im Klaren, dass gemeinnütziges individuelles Handeln - etwa durch freiwillige Spenden und Zuwendungen privater Personen - bei der Lösung dieser Probleme an seine Grenzen stößt. Als im Zuge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 die Versorgung von Soldaten und von Kriegsinvaliden sowie ihrer Angehörigen die Stadt Essen vor große Herausforderungen etwa bei der Gesundheitsvorsorge stellt, zögert Krupp nicht, die kommunalen Kassen durch weitere Spenden und Hilfsleistungen zu entlasten. Gleichwohl hält Krupp die karitativen Maßnahmen für unzureichend, die er und andere Unternehmer zur Linderung der Kriegsfolgen in Essen durchführen. Aus diesem Grund wendet sich Krupp im Jahr 1871 an die preußische Generalität, um die Lösung der Kriegs-

19 Zu diesem Zweck meldet jeder Fabrikarzt am Ende des Monats alle beobachteten ansteckenden Krankheiten inkl. Wohnort des Patienten an eine Zentralstelle im Krankenhaus. Vgl. hierzu Baedeker (1912, S. 127 f.) oder auch Brüggemeier (1990). Krupps Bemühungen im Gesundheits- und Pensionswesen um das Epidemien- und Krankenhaus, fiir die Kranken-, Sterbe- und Pensionskasse sowie für Arbeiterwohnungen, Menage und den Lebensversicherungsverein erfahren schließlich 1876 in Brüssel auf der „Internationalen Ausstellung für Gesundheitspflege und Rettungswesen" eine besondere zeitgenössische Würdigung in Form einer goldenen Ehrenmedaille. Vgl. Baedeker (1912, S. 130).

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opferproblematik durch eine geeignete Steuer auf nationaler Ebene voranzutreiben. In einem Brief schreibt er: „A tax can do this; it can be as high as possible; and the taxpayers will still be better off than those the tax is meant to benefit. It is an injustice that these people should be referred to charity."20 ((5)) Die Gewährung und Durchsetzung von Rechten an geistigem Eigentum stecken im 19. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen.21 Zudem ist Krupp einem forciertem Wettbewerb in der boomenden deutschen und europäischen Stahlindustrie ausgesetzt. Krupp befürchtet, durch Industriespionage wichtige Erfindungen und Produktinnovationen an die Konkurrenz zu verlieren. Bereits 1857 schreibt Krupp-. „Our secrets are our capital, and the capital is squandered as soon as they are known elsewhere."22 Aus der Sorge heraus, durch Spionage wichtige First-Mover-Vorteile im Wettbewerb einzubüßen, verlangt Krupp von seinen Mitarbeitern (fast) bedingungslose Loyalität. Diese umfasst insbesondere die Sicherung und Geheimhaltung seines wichtigsten Betriebskapitals: das Wissen um innovative Fertigungsprozesse für Stahl. Um die Treue seiner Mitarbeiter sicherzustellen, setzt Krupp - als Substitut für die bis dato noch unzuverlässige staatliche Rechtsdurchsetzung - auf ein duales System bestehend aus strenger Überwachung und harten Sanktionen bei Untreue einerseits sowie großzügiger Belohnung für Loyalität andererseits. Zur Überwachung unterhielt die Firma ein umfangreiches Korps an Wachpersonal, das nicht nur für die Sicherheit der Werkstore zuständig war, sondern das auch für die Geheimhaltung neuer Produktionsprozesse sorgte. Zudem setzte Krupp in einigen Bereichen auch deshalb auf forcierte Arbeitsteilung, damit die wichtigsten Fertigungsschritte nur von wenigen (Vor-)Arbeitern vollständig überblickt und verstanden werden konnten. Wurde ein Mitarbeiter der Missachtung seiner strengen Treuepflichten überführt, wurde er fristlos entlassen und verlor sämtliche Rechte an allen Versicherungen, ungeachtet seiner bisherigen Einzahlungen. Krupp setzt seine Wohlfahrtsinstitutionen also auch als strategisches Mittel der betrieblichen Geheimhaltung ein. Dabei verwendet er sie nicht nur als Instrument negativer Sanktionierung, sondern setzt sie auch zur Belohnung von Treue ein. So veranlasst Krupp 1871 die Einführung neuer Richtlinien für die Vergabe von Abfindungen und sonstiger freiwilliger Zuwendungen an seine Mitarbeiter. In einem Brief an die Prokura heißt es: „1. faithful service rendered and long duration thereof; 2. great ability and the desire to fetter; 3. unavoidable initiation into secrets and disadvantage [to the firm] of departure through disclosure of knowledge gained which is by this means to be avoided.

Auch andere Vorkehrungen des Wohlfahrtsprogramms - die Kranken- und Rentenversicherung, die Konsumanstalt, der betriebliche Wohnungsbau sowie das Engagement im Bildungswesen - können als Belohnung für die Loyalität seiner Arbeiter verstanden

20 Zitiert nach der englischen Übersetzung von McCreary (1968, S. 40 f.). 21 Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht sich Krupp verzweifelt um die Anerkennung von Patenten für seine Innovationen. Vgl. hierzu Berdrow (1937, Kapitel 2). 22 Brief an C. Meyer, Familien-Archiv Hügel II, B 199, zitiert nach der englischen Übersetzung von McCreary (1968, S. 43). 23 Brief an die Prokura, Werks-Archiv IV, 314, zitiert nach der englischen Übersetzung von McCreary (1968, S. 42).

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werden.24 Schließlich schreibt Krupp diese Rechte am Wohlfahrtsprogramm und die Treuepflichten, die mit der Betriebszugehörigkeit zu seiner Firma verbunden sind, 1872 im „Generalregulativ" formal fest.25

IV. Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm: Eine sozialstrukturelle Rekonstruktion Krupp gilt als einer der erfolgreichsten Unternehmer und wegbereitenden Pioniere im Bereich der betrieblichen Sozialpolitik. Sein Erfolg, so die These dieses Abschnitts, ist maßgeblich auch darauf zurückzuführen, dass Krupp als innovativer Äege/unternehmer neue Formen sozialer Bindungen organisiert, die für ihn und für andere höchst produktiv sind. Krupp leistet wechselseitig vorteilhafte Governance-Innovationen. Diese These soll in drei Schritten illustriert werden. Der erste Schritt ((1)) argumentiert, dass Krupp sich sowohl auf dem Absatzmarkt als auch dem Arbeitsmarkt mit einseitigen Dilemmastrukturen konfrontiert sieht. Krupp löst beide Dilemmata sowohl durch eine individuelle Selbstbindung seines Unternehmens als auch durch einen Bindungsservice für seine Arbeiter. Krupp potenziert die Wirkung dieser Bindungen, so die Pointe, indem er sie simultan miteinander verknüpft. Der zweite Schritt ((2)) legt dar, dass Krupp im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der öffentlichen Daseinsvorsorge jeweils einem Problem gegenübersteht, das auf einem mehrseitigen sozialen Dilemma beruht. Krupps Gesundheitspolitik lässt sich als der gelungene Versuch rekonstruieren, die Überwindung dieses Dilemmas advokatorisch für seine Mitarbeiter zu organisieren. Krupps Engagement im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge hingegen lässt sich als Initiative zur Organisation kollektiven Handelns auf kommunaler bzw. auf nationaler Ebene interpretieren. Der dritte Schritt ((3)) diskutiert Krupps Bedeutung als gesellschaftlicher Change Agent. Seine Bedeutung, so die These, resultiert aus der Tatsache, dass Krupp nicht nur individuelle Spielzüge optimiert, sondern - höchst erfolgreich mit wechselseitig vorteilhaften Spielregeln experimentiert und dadurch gesellschaftlichen Reformen den Weg bereitet. ((1)) Das einseitige Gefangenendilemma bezeichnet eine asymmetrische - drohende - Ausbeutungssituation, bei der es auf die Reihenfolge der Spielzüge ankommt.26 Zwei Interaktionspartner stehen vor der Möglichkeit zu kooperieren, wobei allerdings ein Spieler zuerst seine Vorleistung zur Kooperation erbringen müsste. Hat nun dieser Spieler keine Gewissheit, dass auch der andere Spieler in der Folge seinen Kooperationsbeitrag leisten wird, muss er fürchten, dass seine Vorleistung ausgebeutet wird - und entscheidet sich am Ende, gar nicht erst in die Kooperation einzuwilligen. Die - an sich wechselseitige vorteilhafte - Kooperation kommt nicht zustande, mit der Folge, dass beide Seiten unter ihren Möglichkeiten bleiben. Alfred Krupp, so die sozialstrukturelle Rekonstruktion, sieht sich gleich in dreifacher Hinsicht mit einseitigen Dilemmastrukturen konfrontiert: zum einen mit Blick auf seinen Absatzmarkt (a) und zum anderen mit Blick auf seinen Arbeitsm&ikX ((b) und (c)). 24 Vgl. McCreary (1968, S. 46). 25 Vgl. Schröder (1956). 26 Für eine formale Darstellung einer einseitigen Ausbeutungsstruktur vgl. Kreps (1990, S. 65-67).

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(a) Auf dem Absatzmarkt steht Krupp vor folgendem Problem. Obwohl er dank seiner Gussstahl-Technologie qualitativ überlegene Waren produzieren kann, begegnet er in den Anfangsjahren Absatzschwierigkeiten, die insbesondere auf die schwankende Qualität des Gussstahls zurückzufuhren waren. Krupps Vater Friedrich hatte viele Aufträge verloren, weil er zur Senkung der Herstellungskosten auch auf minderwertige Vorprodukte zurückgegriffen hatte. Aus der daher nicht ganz unbegründeten Furcht, die Qualität der Muster werde in den tatsächlichen Folgelieferungen nicht aufrechterhalten, scheuten folglich viele Kunden die Investition in die vergleichsweise teuren Werkzeuge aus Kruppstahl. Zugrunde lagen Informationsasymmetrien. Bei Krupps Produkten handelte es sich um langlebige Investitionsgüter, deren langfristigen Materialeigenschaften die Kunden zum Zeitpunkt des Kaufes nicht feststellen konnten. Der Kauf der Produkte wurde daher zum Risiko. Die drohende Gefahr, ein - teures - Produkt zu erwerben, das sich ex post im Zeitverlauf als minderwertig erweist, führte dazu, dass die Kunden ex ante gar nicht erst ihre Investition tätigten. Aufgrund dieses Glaubwürdigkeitsproblems stellten sich letzten Endes beide Seiten schlechter. Krupp gelang es, diese kollektive Selbstschädigung durch eine Doppelstrategie zu überwinden. Zum einen nutzte er aufwendige Geschäftsreisen, um potentielle Kunden über die Vorzüge seiner Technologie zu informieren und dadurch Informationsasymmetrien abzubauen. Zum zweiten band er sich durch eine Garantieerklärung an die hohe Qualität. Dadurch machte er sich als Kooperationspartner glaubwürdig - und erzeugte einen substantiellen Nachfrageschub. (b) Mit Hilfe der Qualitätsgarantie kann Krupp jedoch ein für die Qualität der Produkte ebenfalls entscheidendes Problem nicht lösen. Aufgrund begrenzter chemischer Analyseverfahren ist die Stahlerzeugung bis in die 1860er Jahre ein riskanter und sehr fehleranfälliger Fertigungsprozess.27 Um sein Qualitätsversprechen einhalten zu können, benötigt Krupp für die Gussstahlfabrik daher qualifizierte Schmiede und Schmelzer sowie Vorarbeiter, die den gesamten Produktionsprozess für die in der Herstellung zunehmend anspruchsvolleren Fertigprodukte überwachen und optimieren können. Konnte die Fabrik in den Anfangsjahren noch auf Handwerker der Essener Zünfte zurückgreifen, muss sich Krupp ab den 1830er Jahren nicht nur neue Absatzmärkte,, sondern vor allem auch neue Arbeitsroä&te erschließen. Allerdings sind zu Beginn der Industrialisierung qualifizierte Arbeitskräfte knapp. Der Grund: Das Gros des Arbeitskräftepotentials besteht aus nomadisierenden Wanderarbeitern, die in Erwartung steigender Löhne beständig von einer Fabrik zur anderen Fabrik wechseln. Für Krupps Geschäftsmodell stellen diese gering qualifizierten Wanderarbeiter eine besondere Herausforderung dar.28 Erst vor diesem Hintergrund wird Krupps Lohn- und betriebliche Sozialpoli-

27 Erst die Einführung zweier bahnbrechender technologischer Innovationen - des Bessemer- und des Siemens-Martin-Verfahrens - ermöglicht es Krupp, in den 1860er Jahren auf Massenproduktion umzustellen. Beide Verfahren erlauben es, die Herstellung von Stahl aus Roheisen von 24 Stunden auf weniger als eine halbe Stunde zu verkürzen und die Ausschussquote stark zu reduzieren. 28 Bei Boelcke (1970, S. 69) liest man folgende Einschätzung: „Ein sich unaufhörlich ausweitender Großbetrieb mit zudem sich komplizierender Technologie konnte sich jedoch auf die Dauer weder eine ständig fluktuierende Belegschaft, noch permanent unzufriedene Arbeiter leisten, störrisch, desinteressiert und unzulänglich ausgebildet. Fortschreitende Technologie und Spezialisierung erforderten eine dem Betrieb verbundene Stammarbeiterschaft mit jahrelanger Arbeitserfahrung und hohen Fertigkeiten. ... Auch darum war er bereit, höhere Löhne zu zahlen, billige Werkswohnungen zu verge-

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tik verständlich. Krupp bindet sich an das Versprechen höherer Löhne, um dadurch seine Arbeiter zu einer Bindung an das Unternehmen zu ermutigen. So findet man bei Alfred Krupp folgende Selbstauskunft: „9 Sgr ist hier der eigentliche Lohn, wir geben aber allen Leuten 1 Sgr mehr, um sie sicher zu behalten. ... Die Frage aber ist: Was muss ein Mann ... verdienen, um gut leben zu können, um der Fabrik, die ihm seinen Unterhal^ibt, treu zu bleiben und nicht bei irgendeiner Veranlassung zu Mehrgewinn gleich davon zu laufen."

Wenn aber eine Lohnerhöhung ausreichen würde, um die Arbeiter an zu sich binden, warum betreibt Krupp dann einen so großen zusätzlichen Aufwand, nicht nur den Nominallohn, sondern vor allem das Realeinkommen zu erhöhen? Auch hier lässt sich ein einseitiges Dilemma als Ursache identifizieren. Für die Arbeiter wäre eine dauerhafte Bindung an das Unternehmen mit spezifischen Investitionen verbunden: angefangen von Humankapitalinvestitionen in der Fabrik über die Bindungen an Wohnungen bis hin zum Aufbau sozialer Netze, die zu lösen mit Nachteilen verbunden wäre. Mit anderen Worten: Durch die eigene Bindung würde sich ein Arbeiter von Krupp abhängig machen - und damit in der Zukunft ausbeutbar. Solange die Arbeiter eine solche Ausbeutung fürchten müssen, unterbleiben wichtige - und produktive - Bindungsinvestitionen von ihrer Seite. In einer solchen Situation käme es zu einer kollektiven Selbstschädigung: Sowohl Krupp als auch seine Arbeiter blieben unter ihren Möglichkeiten. Aus diesem Grund hat Krupp ein Interesse daran, sein Versprechen, höhere Löhne zu zahlen, nicht nur durch die kurzfristig geltenden Nominallöhne, sondern auch durch die langfristiger angelegten Zusatzleistungen wie Konsumanstalt und den Wohnungsbau glaubwürdig zu machen.30 Er bindet sich langfristig an eine kooperative Strategie. In diesem Sinne schreibt Alfred Krupp am 5. Februar 1872 über den Zusammenhang von Wohnungsbau, Lohn und weiteren Sozialleistungen: „Mit solcher Fürsorge (Wohnungen, Menagen) neben angemessener Unterstützung von Pensions-, Kranken- und dgl. Kassen kann man orde^licher Weise nicht verfehlen, den guten alten Stamm treuer Kräfte zufriedenzustellen und zu fesseln".

(c) Auf dem Arbeitsmarkt steht Krupp vor einem weiteren Problem. Krupp steht ex ante vor der Wahl, qualifizierte und produktive Mitarbeiter einzustellen und anzulernen. Allerdings können diese Mitarbeiter ihre Produktivität erst dann voll entfalten, wenn er sie auch mit hochsensiblem Wissen über seine Produktionsprozesse vertraut macht. Ex post bestehen für seine Mitarbeiter jedoch starke Anreize, dieses Geheimwissen an Krupps Konkurrenz - sei es durch Abwanderung, sei es durch Spionage - zu großen Vorteilen zu veräußern. Antizipiert Krupp diese Ausbeutungsgefahr, wird es für ihn rational, seine Mitarbeiter nicht (oder nur partiell) in Betriebsgeheimnisse einzuweihen, um wichtige First-Mover-Vorteile im Wettbewerb aufrecht erhalten zu können. Das

ben und den Versicherungskassen bedeutende Beträge beizusteuern. ... Handfeste unternehmerische Interessen und Besorgnis waren im Spiel, nur fanden sie eine weitsichtige Lösung, weil sie, die Zukunft vorwegnehmend, gravierende soziale Belange anerkannten." 29 Zitiert nach Stercken und Lahr (1992, S. 168). 30 Zur Bedeutung des Wohnungsbaus für die Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen liest man in aller Deutlichkeit in einem Kommunique der Prokura 1872: „Mit Recht sind diese Arbeiterquartiere „Kolonien" genannt worden; denn bei ihrer Gründung handelte es sich darum, eine unstete Arbeitermasse in eine sesshafte Bevölkerung zu verwandeln". Zitiert nach Baedeker (1912, S. 104). Vgl. hierzu auch die informative Analyse in Boelcke (1970, S. 69). 31 Zitiert nach Stercken und Lahr (1992, S. 149).

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volle Potential einer wechselseitig vorteilhaften Kooperation zwischen Krupp und seinen Mitarbeitern kann auf diese Weise nicht zur Entfaltung kommen. Aufgrund dieses Opportunismusproblems kommt es zu einer kollektiven Selbstschädigung. Aus diesem Grund wäre es für beide Seiten vorteilhaft, wenn sich die Mitarbeiter glaubhaft daran binden könnten, auf ihre Ausbeutungsoption ex post zu verzichten - etwa durch die Hinterlegung eines Pfandes. Das Problem: Ein mittelloser Arbeiter hat kaum Möglichkeiten eine solche Bindung einzugehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die enge Koppelung der Wohlfahrtsleistungen an die Betriebszugehörigkeit im Generalregulativ als ein Pfand verstehen, der seine Mitarbeiter in eine Situation versetzt, in der den Vorteilen des Geheimnisverrats so gravierende Nachteile gegenüberstehen, dass hierfür keine Anreize (mehr) bestehen. Aus sozialstruktureller Perspektive kann das „Generalregulativ" als ein Bindungsarrangement verstanden werden, dass dazu beiträgt, eine einseitige Dilemmastruktur zwischen Krupp und seinen Arbeitern konstruktiv aufzulösen. Spieltheoretisch betrachtet, bindet sich Krupp also nicht selbst, sondern bietet seinen Mitarbeitern einen Bindungsservice, indem er sie mit einem Pfand ausstattet, dessen sie im Falle eines Wissensverrates verlustig gehen würden. Auf diese Weise stabilisiert er eine prekäre Kooperationssituation und macht eine wissensintensive - und daher: höchst produktive - Zusammenarbeit allererst möglich. In diesem Sinne kann das Kruppsche Generalregulativ als frühe Form eines modernen Verhaltenskodex interpretiert werden.32 (d) Nota bene: Ähnlich wie bei der Stahlherstellung experimentiert Krupp auch beim Management von Dilemmastrukturen. Seine Innovation im sozialen Beziehungsmanagement besteht in einer strategischen Kopplung des Absatz-, des Qualifikationsund des Spionage- und Opportunismusproblems. Zum einen erlaubt die Verknüpfung des Absatz- und Qualifikationsproblems, die je individuelle Selbstbindung gegenüber seinen Kunden und gegenüber seinen Arbeitern noch glaubhafter zu machen: Die Qualitätsgarantie wird fruchtbar eingesetzt, um die Lohnerhöhung gegenüber den Arbeitern glaubhaft abzusichern. Im Gegenzug gewinnt Krupp an Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Kunden, wenn er durch die Ausbildung seiner Mitarbeiter in Vorleistung geht. Zum anderen erlaubt die Verknüpfung des Qualifikations- und Spionageproblems, die individuelle Selbstbindung von Krupp gegenüber seinen Arbeitern und - spiegelbildlich - die Selbstbindung der Arbeiter gegenüber Krupp noch glaubhafter zu machen: Krupp gewinnt an Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Arbeitern, indem er die Lohn- und Sozialpolitik im Generalregulativ formal festschreibt. Im Gegenzug gewinnen die Arbeiter durch das Generalregulativ an Glaubwürdigkeit, Krupps Vorleistung in das Wohlfahrtsprogramm nicht auszubeuten. Kurz: Krupps Lohn- und Sozialpolitik steigert die Funktionalität seiner individuellen Selbstbindungen noch zusätzlich, indem er sie geschickt miteinander verknüpft. ((2)) Nun zu Krupps Umgang mit mehrseitigen Dilemmastrukturen. Das mehrseitige Gefangenendilemma bezeichnet das wechselseitige Ausbeutungsproblem, das prinzipi32 Das Generalregulativ illustriert nicht nur Krupps virtuosen Umgang mit Dilemmastrukturen. Es verdeutlicht auch den - aus heutiger Sicht als ambivalent einzuschätzenden - patriarchalischen Grundzug seiner Wohlfahrtsbemühungen sowie die - aus heutiger Sicht ebenfalls als kritisch einzustufende starke Einschränkung der persönlichen Freiheit seiner Arbeiter. Vgl. hierzu auch die Kritik bei McCreary (1968, S. 48).

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eil jeder symmetrischen Interaktion zugrunde liegt, in der die Akteure ein gemeinsames Interesse realisieren könn(t)en: Vor die Wahl gestellt, zur Realisierung des gemeinsamen Interesses beizutragen, bestehen für alle Akteure individuelle Anreize, die Vorleistung der anderen auszunutzen, ohne selbst den eigenen Beitrag zur Kooperation zu leisten. Das mehrseitige Gefangenendilemma bezeichnet somit die Situationslogik jener Probleme, die auch als die „Tragik der Allmende"33, die „Logik kollektiven Handelns"34 oder als das „Trittbrettfahrerproblem"35 bei der Bereitstellung öffentlicher Güter bekannt sind. Alfred Krupp ist in zweifacher Hinsicht mit mehrseitigen Dilemmastrukturen konfrontiert: zum einen mit Blick auf das Problem der öffentlichen Gesundheit im speziellen (a) und zum anderen mit Blick auf das Problem der öffentlichen Daseinsvorsorge im allgemeinen (b). (a) Das Problem der fehlenden Gesundheitsfürsorge lässt sich als mehrseitiges Gefangenendilemma rekonstruieren. Die Ausbreitung der Cholera-Epidemien und anderer ansteckender Krankheiten ließe sich durch entsprechende medizinische Maßnahmen weitgehend vermeiden. Die Arbeiter hätten daher ein vitales Interesse daran, durch einen gemeinsamen Fonds jene erforderlichen Maßnahmen zu finanzieren, mit der sich ihre Gesundheitsfürsorge verbessern ließe. Allerdings treten Trittbrettfahrerprobleme auf: Jeder einzelne Arbeiter hat einen Anreiz, statt eigene Beiträge zu leisten auf die Vorleistung der anderen zu vertrauen. Weder ein gemeinsamer Fonds noch eine wechselseitige Versicherung kommen spontan zustande. Auch hier liegt eine kollektive Selbstschädigung vor: Obwohl dies für alle Arbeiter besser wäre, werden die benötigten Kranken- und Sozialleistungen nicht bereitgestellt.36 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kruppsche Sozialpolitik als das Angebot eines äußerst erfolgreichen Bindungsservices interpretieren. Anders als im einseitigen Gefangenendilemma, bedarf es zur Überwindung eines mehrseitigen Dilemmas einer kollektiven Selbstbindung. Es kommt darauf an, alle Akteure gleichermaßen dazu zu verpflichten, ihren Kooperationsbeitrag zu leisten. In dieser Situation erfindet Krupp neue Regelmechanismen, durch die er advokatorisch kollektives Handeln für seine Mitarbeiter organisiert. Genau hier setzen die Kruppschen Versicherungsarrangements an. Jeder Mitarbeiter wird durch eine sanktionierte Bindung dazu verpflichtet, einen eigenen Beitrag zu den öffentlichen Gütern Gesundheitsvorsorge und Seuchenprävention zu leisten. Diese Form der Bindung ist gerade auch für die Arbeiter in höchstem Maße vorteilhaft: Ihnen wird es möglich, das soziale Dilemma dauerhafter medizinischer Unterversorgung zu überwinden.37 Und auch Krupp profitiert von diesem Arrangement, da er auf

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So der deutsche Titel des mittlerweile klassischen Beitrags von Hardin (1968). Vgl. grundlegend den Klassiker von Olson (1965). Vgl. hierzu grundlegend Samuelson (1954). Das Problem der fehlenden Gesundheitsfürsorge stellt in der Tat zunächst einmal ein Problem der Arbeiter dar. Sicherlich ist zwar auch Krupp vom Problem der Seuchen betroffen, da es aufgrund hoher Krankheits- und Sterbezahlen zu Produktionsausfallen kommt. Doch während Krupp lediglich Gewinneinbußen hinnehmen muss, verlieren die Arbeiter in Hunderten von vermeidbaren Fällen ihr Leben. In erster Linie liegt hier also ein Dilemma der Arbeiter vor - auch wenn Krupp von diesem ungelösten Dilemma indirekt betroffen ist. 37 Wohlgemerkt: Die hier entwickelte Darstellung rekonstruiert die Systematik der kruppschen Sozialversicherung als ein prinzipiell zustimmungsfähiges Bindungsarrangements. Zur Zeit ihrer Einführung

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diese Weise - teure! - krankheitsbedingte Produktionsausfälle reduzieren kann. Im Fall seiner betrieblichen Sozialpolitik betätigt sich Krupp folglich als Regel-Unternehmer, der gesellschaftlichen Mehrwert schafft, indem er zuvor nicht genutzte Potentiale wechselseitiger Besserstellung aktiviert. (b) Auch das oben beschriebene Problem der öffentlichen Daseinsvorsorge im Bereich der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Bildung, des kommunalen Brandschutzes und der Invalidenversorgung lässt sich als mehrseitiges Gefangenendilemma rekonstruieren. Hier geht es jeweils um die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes. Aus sozialstruktureller Perspektive erfordert dessen Bereitstellung eine geeignete Lösung des Trittbrettfahrerproblems. Krupps karitatives Engagement (und das vieler anderer Unternehmer) kann dieses Problem allein nicht lösen. Krupps Schlussfolgerung lautet daher: Er betätigt sich als politischer Unternehmer und schlägt daher - wie im Fall der Invalidenversorgung - eine Steuerlösung vor, um die Bereitstellung des öffentlichen Gutes auch öffentlich zu finanzieren. Nota bene: Von einer solchen Steuer wäre Krupp zwar selbst betroffen. Zugleich würde sie aber auch alle anderen mit ins Boot holen. Kurz: Krupp engagiert sich - aus eigenem Interesse - für eine kollektive Selbstbindung. ((3)) Krupp gilt als Pionier der betrieblichen Sozialpolitik. Die Wirkung des Kruppschen Wohlfahrtprogramms reicht freilich weit über die Grenzen seines Unternehmens hinaus. Krupp übernimmt gleichsam proto-staatliche Aufgaben wie die Gesundheitsvorsorge, lange bevor auf Ebene des Nationalstaats oder der Länder diese öffentlichen Güter effizient organisiert werden.38 Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass die privaten Ordnungsleistungen, die Krupp und andere damalige Unternehmerpersönlichkeiten erstmals organisierten, Pate standen für die Bismarcks che Sozialgesetzgebung39, die wiederum ihrerseits zum Vorbild der modernen - nationalstaatlich organisierten - Sozialversicherung wurde. Auch in anderen Bereichen stellt Krupp als innovativer Regelunternehmer Bindungs- und Regelservices für die Organisation kollektiven Handelns zur Verfügung. So überträgt er die Win-Win-Logik kollektiver Selbstbindungen etwa auch auf den Bereich Bildung und Erziehung:

begegneten sie hingegen zum Teil scharfer Kritik, und zwar vereinzelt auch von Seiten der - gebundenen - Arbeiter. Ein prominentes Beispiel bietet die Klage Kruppscher Fabrikarbeiter gegen die zwangsweise Einbehaltung der Beträge zur Pensionskasse. In den Jahren von 1907 bis 1911 ging diese Streitsache durch alle Berufungsinstanzen bis zum Reichsgericht, welches entschied, dass die Zwangsmitgliedschaft in der Pensionskasse rechtlich zulässig sei. Interessant ist Krupps Argumentation, die darauf abhebt, dass die Pensionskasse nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn ausnahmslos alle Fabrikarbeiter in die Mitgliedschaft eingebunden sind. Vgl. hierzu Stercken und Lahr (1992, S. 79f) 38 Vgl. hierzu auch die Einschätzung von McCreary (1968, S. 26): „Contrary to the historian's myth of Prussian statism, these [social] problems did not engage the primary attention of the state, but, rather, were of greatest concern to municipal government and private citizens." 39 So war beispielsweise Krupps Prokurist Sophus Goose 1880 Mitglied in der Kommission zur Beratung eines Gesetzesvorschlags über die Reichs-Unfall-Versicherung. Gut fünf Jahre später, in einem Brief vom 13. April 1885, bedankte sich Bismarck persönlich für die Übersendung der Kruppschen Statuten mit den Worten: „Ich verspreche mir eine Förderung der im Gang befindlichen legislativen Vorarbeiten, wenn dabei Einrichtungen, welche, wie die Ihrigen, bereits praktisch erprobt sind, zur Berücksichtigung herangezogen werden." Zitiert nach Stercken und Lahr (1992, S. 64).

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— Krupp organisiert in Essen den Bau und den Betrieb sowohl von Grundschulen als auch von weiterführenden und beruflichen Schulen, lange bevor auf staatlicher Ebene der Schulbetrieb organisiert wird. — Zudem baut und betreibt Krupp eigene Betriebskindergärten, lange bevor die Gemeinden durch eine adäquate Finanzstruktur in die Lage versetzt werden, den Betrieb dieser Anlagen in Eigenregie zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich nicht übertrieben, Unternehmerpersönlichkeiten wie Krupp als echte Change Agents - als Agenten gesellschaftlichen Wandels zu bezeichnen. Sie nehmen Problemlösungen vorweg, die später auf breiter Front gesellschaftlich verankert werden.

V. Private Akteure als Regelunternehmer: Eine sozialstrukturelle Systematik ((1)) Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm ist auch heute noch für die Analyse von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen interessant, weil es ein anschauliches Beispiel dafür bietet, wie private Akteure durch eigene Governance-Innovationen zur Überwindung unproduktiver sozialer Dilemmata beitragen können. Die besondere Betonung von Dilemmastrukturen ist dabei kein Zufall, denn das konstitutive Kennzeichen sozialer Dilemma liegt darin, dass eine an sich mögliche Win-Win-Lösung - die Realisierung eines gemeinsamen Interesses - an einem unbewältigten potentiellen Interessenkonflikt scheitert. Aus diesem Grund lässt sich prinzipiell jede pareto-superiore Regelreform als Uberwindung eines unerwünschten sozialen Dilemmas rekonstruieren. Genau in dieser Eigenschaft liegt die Gemeinsamkeit aller Ansätze, mit denen private Akteure durch eigene Ordnungsbeiträge Win-Win-Lösungen ermöglichen können. Gleichzeitig bestehen aber auch Unterschiede: zum einen hinsichtlich der Struktur des sozialen Dilemmas und zum anderen hinsichtlich der Art ihrer Überwindung. Diese Unterscheidung erlaubt es nun, eine umfassende Systematik jener sozialstrukturellen Möglichkeiten zu formulieren, wie Regelunternehmer zur Lösung gesellschaftlicher Interaktionsprobleme beitragen können. ((2)) Abbildung 1 illustriert, wie die allgemeine Erklärungsgrammatik sozialer Dilemmata differenziert werden kann zu einer Systematik alternativer Bindungsarrangements. Die vertikale Dimension unterscheidet die Art der Dilemmastruktur. Jedes Dilemma lässt sich entweder auf eine symmetrische oder aber auf eine asymmetrische Ausbeutungssituation zurückführen. In diesem Sinne betrachtet die obere Zeile mehrseitige Dilemmastrukturen, deren Überwindimg einer kollektiven (Selbst-)Bindung bedarf. Die untere Zeile nimmt hingegen Fälle einseitiger Dilemmastrukturen in den Blick, die durch eine individuelle (Selbst-)Bindung überwunden werden können. In der horizontalen Dimension wird die Bindungstechnologie unterschieden. Hier lautet die Frage: Wer bindet wen? Auch hier sind zwei Fälle möglich. Die erste Spalte betrachtet Fälle, in denen sich ein Akteur - sei es im Alleingang oder gemeinsam mit anderen - unmittelbar selbst an eine Regel bindet. Mit Blick auf das Krupp-Beispiel wird dieser Akteur hier als „Unternehmen" bezeichnet. Die rechte Spalte bezieht sich spiegelbildlich auf Anwendungen, bei denen der handelnde Akteur - hier: das Unternehmen - einen Bin-

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dungsservice für andere Parteien - hier als Stakeholder bezeichnet - bereitstellt, die zwar ein Interesse daran haben, sich binden zu wollen, es aber (bisher) nicht erfolgreich können. Folgt man dieser Systematik, so lassen sich vier Fälle unterscheiden: Abb. 1: Strategie-Matrix für Social Entrepreneurship40 Bindungstechnologie Unternehmen (IV) u M .äu

e

DilemmaStruktur

Stakeholder y

Kollektive Selbstbindung

Service für kollektive Selbstbindung

{Krupp: Initiative für staatliche Standards)

(Krupp: Gesundheitsfürsorge durch Krankenversicherung)

Öii) Individuelle Selbstbindung

Service (H) fiir individuelle Selbstbindung

{Krupp: Qualitätsgarantie, Lohnversprechen und Zusatzleistungen)

(Krupp: Generalxegulativ als Verhaltenskodex)

Alle vier Quadranten umfassen Arten von Bindungsarrangements, wie sie bereits anhand des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms diskutiert wurden. Quadrant I beschreibt den Fall, dass ein Akteur anderen Akteuren hilft, sich zu binden, indem er für sie die Organisation kollektiven Handelns übernimmt. Krupp etabliert einen solchen Bindungsmechanismus zur Lösung mehrseitiger Dilemmata, wie er sie durch die Organisation einer betrieblichen Kranken- und Rentenversicherung sowie die Bereitstellung von Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten adressiert. Da Krupp durch diese Maßnahme kollektive Bindungsprobleme löst, von denen er selbst negativ betroffen ist, kann er als Regelentrepreneur für sein Unternehmen substantielle Produktivitätssteigerungen auslösen. Quadrant II beschreibt Fälle, in denen ein Akteur anderen Akteuren hilft, eine individuelle Selbstbindung einzugehen, zu der sie ohne diese Hilfestellung nicht in der Lage wären. Mit Hilfe eines derartigen Bindungsservices wird es möglich, eine einseitige Dilemmastruktur konstruktiv aufzulösen. Indem Krupp die Wohlfahrtsleistungen im Generalregulativ an strenge Treuepflichten koppelt, stattet er seine Mitarbeiter mit einem solchen Bindungsservice aus, das dazu beiträgt, die höchst produktive Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern allererst möglich zu machen und das Problem von Spionage und Opportunismus einzuschränken. Quadrant III beschreibt Fälle, in denen eine einseitige Dilemmastruktur durch eine individuelle Selbstbindung überwunden wird. Dieser Quadrant umfasst sowohl Krupps Selbstbindung in Form einer Qualitätsgarantie an seine Kunden als auch Krupps Bindung an attraktive Löhne, die Krupp durch weitere Investitionen wie etwa in den Wohnungsbau glaubhaft macht. In beiden Fällen löst seine Selbstbindung produktive Reaktionen aus, von denen sowohl Krupp selbst als auch seine Stakeholder profitieren. In Quadrant IV sind jene Fälle anzusiedeln, in denen ein 40 Diese Kategorisierung findet sich bei Hielscher, Pies und Beckmann (2009) sowie bei Pies, Hielscher und Beckmann (2009a) als Schema zur Einordnung von Aktivitäten im Bereich Corporate Citizenship (CC).

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Akteur gemeinsam mit anderen Akteuren eine kollektive Selbstbindung eingeht. Für Unternehmen - und allgemein: Akteure im Wettbewerb - bieten solche Selbstbindungen die Möglichkeit, auch die Konkurrenten gleichsam „mit ins Boot zu holen". Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass eigene Vorleistungen im Wettbewerb ausgebeutet werden. Krupps Umgang mit den Problemen kollektiven Handelns auf kommunaler und nationaler Ebene illustriert hierfür eine Möglichkeit: Um Gefahren für seine Firma im Bereich von Gesundheit, Bildung und Brandschutz abzuwenden, versucht Krupp, durch politisches Engagement die zuständigen kommunalen und nationalen Entscheidungsträger von der Notwendigkeit der Organisation kollektiven Handelns zu überzeugen, um das diesen Problemen zugrunde liegende Trittbrettfahrerproblem zu lösen. ((3)) Die hier entwickelte Systematik verdeutlicht, dass auch eigeninteressierte individuelle Akteure Bindungsmechanismen in Kraft setzen können, die - einer Win-WinLogik folgend - bisher unausgeschöpfte Potentiale wechselseitiger Besserstellung zu aktivieren vermögen. Diese funktionalen Bindungen fungieren als echte Ordnungselemente: Sie verändern den Charakter des gemeinsamen Spiels. Der letzte Abschnitt skizziert, welche Folgerungen sich aus dieser Analyse für das Verständnis von Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik ergeben.

VI. Schlussfolgerungen für Social Entrepreneurship und die Ordnungspolitik Für die Analyse von Sozialstrukturen kommt der hier entwickelten Unterscheidung zwischen Selbstbindungen und Bindungsdienstleistungen sowie zwischen einseitigen und mehrseitigen Dilemmastrukturen eine wichtige Bedeutung zu. Denn folgt man der These, dass jede wechselseitige Besserstellung als die Überwindung eines unproduktiven Dilemmas rekonstruiert werden kann, so muss sich letztlich jede pareto-superiore Regeländerung einem der hier entwickelten vier Quadranten zuordnen lassen. Diese Analyse hat Rückwirkungen auf das Verständnis von Social Entrepreneurship ((1)) und auf die Sichtweise der Ordnungspolitik ((2)). ((1)) Vor allem in ihrer Anfangsphase war die Literatur zu Social Entrepreneurship dadurch gekennzeichnet, dass sie in erster Linie auf Not-for-profit-Aktivitäten fokussiert war. Im Vordergrund dieser Sichtweise standen soziale Unternehmer, die tendenziell außerhalb vom Markt gemeinnützige Aktivitäten auf innovative und professionelle Weise entfalten. Die hier entwickelte Perspektive illustriert, dass gerade auch gewinnorientierte Unternehmer innerhalb wettbewerblich strukturierter Märkte als echte Change Agents im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung agieren können. Diese Rolle privatwirtschaftlicher Social Entrepreneurs wird zunehmend auch in der Social-Entrepreneurship- und betriebswirtschaftlichen Literatur diskutiert, beispielsweise unter dem Schlagwort „Märkte für Arme". 41

41 Ein prominentes Beispiel stellen die betriebswirtschaftlichen Ansätze zu „Base-of-the-Pyramid" dar. Hier geht es im Kern um die Entwicklung von „Märkten für Arme" vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern. Vgl. hierzu u.a. Prahalad und Hart (2002) sowie Prahalad (2004). Die hier hervortretende Win-Win-Perspektive findet sich jüngst auch in der populärwissenschaftlichen Literatur zu Sozialunternehmertum in Deutschland. Vgl. hierzu z.B. Koch (2007).

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Vor diesem Hintergrund illustriert das Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms, worin genau die sozialstrukturelle Bedeutung von Social Entrepreneurship liegen kann - und worin nicht. So hat Krupp wichtige Innovationen angeregt, die beispielsweise zu immer besseren Verfahren der Stahlerzeugung und -Verarbeitung führten. Diese Innovationen waren vor allem für die technische Entwicklung von großer Bedeutung. Sozialstrukturell rücken freilich jene Ordnungsleistungen in den Vordergrund, mit denen Krupp den Rahmen für soziale Interaktionen - zwischen Arbeitern, Management und Kunden - verändert hat. Aus dieser Überlegung ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung: Social Entrepreneurs entfalten ihre Funktion als innovative Change Agents im Auftrag gesellschaftlicher Wertschöpfung insbesondere dann, wenn sie nicht (nur) ihre individuellen Spielzüge zu optimieren wissen, sondern vor allem GovernanceInnovationen leisten, die zur Weiterentwicklung neuer - und wechselseitig vorteilhafter - Spiel regeln beitragen.42 Anders formuliert: Die raison d'être von Social Entrepreneurship liegt darin, sich der Lösung bisher nicht überwundener Bindungsprobleme anzunehmen43 - und zwar sowohl innerhalb marktlicher Zusammenhänge als auch im Not-for-profit-Bereich, in dem es darum geht, öffentliche Güter durch zivilgesellschaftliche Organisationsformen bereitzustellen. Ein äußerst erfolgreiches Beispiel dafür, wie auch zivilgesellschaftliche Organisationen zur Lösung von Bindungsproblemen beitragen können, bietet Transparency International (TT). Dem Kampf gegen Korruption verpflichtet, entwickelte TI das Bindungsinstrument der „Integrity Pacts", mit dem sich privatwirtschaftliche Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an Anti-Korruptionsstandards binden können.44 Hier liegt ein typisches Beispiel für Bindungsformen aus Quadrant I vor: TI bietet einen Bindungsservice zur Überwindung jenes mehrseitigen Dilemmas, durch das sich Unternehmen zuvor in einen Korruptionswettlauf gezwungen sahen. In diesem Sinne kann auch Transparancy International als ein erfolgreiches Beispiel von Social Entrepreneurship interpretiert werden. Kurz: Die hier entwickelte Systematik sozialer Bindungsarrangements formuliert eine Strategie-Matrix für Social Entrepreneurship. Die ihr zugrunde liegende sozialstrukturelle Analyse trägt dazu bei, auf zweierlei Weise einer semantischen Engführung von Social Entrepreneurship entgegenzuwirken: (1) Im Kern geht es Social Entrepreneurship nicht um eine reine Verteilung von Ressourcen, sondern um Investitionen in Strukturen - Investitionen, die sowohl von privatwirtschaftlichen als auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren getätigt werden können. (2) Für diesen Prozess sind insbeson42 Einem anonymen Gutachter verdanken wir den Hinweis, dass die Governance-Dimension inzwischen auch bei der Stiftung Ashoka eine wichtige Rolle spielt. So ist der Einfluss, den Social Entrepreneurs auf die Govemance nehmen, ein wichtiges Erfolgsmaß von Ashoka. Zu diesem Zweck befragt die Stiftung die von ihr geforderten Social Entrepreneurs - die sog. Fellows - , welchen Einfluss ihre Tätigkeit auf die staatliche Regelsetzung ausgeübt hat. Vgl. hierzu http://www.ashoka.org/impact/metho dology. 43 Wir danken einem anonymen Gutachter für den Hinweis, dass eine derartige Definition keine trennscharfe begriffliche Abgrenzung zwischen Social Entrepreneurship und klassischem Unternehmertum ermöglicht. Dem ist zuzustimmen. In der Tat wird auch außerhalb der Social-EntrepreneurshipLiteratur die Überwindung von Bindungsproblemen thematisiert, man denke nur an den klassischen Beitrag von Akerlof ( 1970). An dieser Stelle geht es uns jedoch gerade darum, eine wichtige Gemeinsamkeit von Social Entrepreneurship und dem klassischen Entrepreneurship zu betonen. Perspektivisch lautet in beiden Fällen der Fluchtpunkt: Win-Win. 44 Vgl. hierzu ausführlich http://www.transparency.org/tools/contracting.

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dere Kompetenzen im differenzierten Umgang mit Bindungen und Bindungsservices erforderlich. Diese Kompetenzen kann man erlernen. Aus diesem Grund plädiert dieser Beitrag dafür, den Schwerpunkt der Social-Entrepreneurship-Diskussion weniger auf die - tendenziell schwerer „erlernbaren" - Charaktereigenschaften zu legen, sondern vielmehr auf Managementkompetenzen für einen produktiven Umgang mit sozialen Dilemmata.45 ((2)) Für das Verständnis der Ordnungspolitik ergeben sich aus der hier entwickelten Konzeption gleich in zweifacher Hinsicht wichtige Konsequenzen. Zum einen (a) ermöglicht die hier entwickelte Systematik, auch die Ordnungsaufgaben des Staates als differenzierte Bindungsleistungen zu reformulieren. Zum zweiten (b) wird deutlich, dass die traditionelle ökonomische Ordnungstheorie in ihrer Fixierung auf den Staat einen blinden Fleck aufweist. (a) In der ökonomischen (Ordnungs-)Theorie kommt die Aufgabe der Regelsetzung exklusiv dem Staat zu.46 Auch diese staatliche Regelsetzung lässt sich lohnend mit Hilfe der hier entwickelten Unterscheidungen analysieren. So ist die für die ordnungspolitische Tradition so wichtige Aufgabe der staatlichen Etablierung und Sicherung einer marktlichen Wettbewerbsordnung klar Quadrant I zuzuordnen: Im Wettbewerb haben alle Akteure einer Marktseite ein gemeinsames Interesse daran, ein Kartell zu bilden. Kartellbildung auf beiden Marktseiten fuhrt jedoch im Ergebnis zu einer kollektiven Selbstschädigung aller Marktteilnehmer.47 Die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs bedarf daher einer kollektiven (Selbst-)Bindung der Konkurrenten, die die Wettbewerbsakteure selbst freilich nur schwer organisieren können. In dieser Situation fungiert der Staat als Bindungsdienstleister zur Sicherung des Konkurrenzprinzips - mit der Pointe, dass das unerwünschte Kollusionsdilemma überwunden wird, um wiederum ein erwünschtes soziales Dilemma - nämlich Leistungswettbewerb - in Kraft zu setzen. Auch für Quadrant II gibt es eine Fülle von Beispielen staatlich unterstützter Bindungsformen. Zu denken ist etwa an das - durch staatliche Gerichte und Sanktionsinstitutionen - gestützte (Privat-)Recht. Hier liegt ein Bindungsservice für individuelle Selbstbindungen vor, die höchst produktiv sind. Dieser Gedanke findet sich in aller Klarheit auch bei Thomas Schelling, der schreibt: „The «right to be sued» for breach of contract sounds paradoxical, but if one cannot be sued for breach of contract one cannot find anybody to enter the contract."48 Quadrant III wiederum beschreibt Fälle, in denen sich staatliche Institutionen individuell selbst binden. Auch dieser Fall ist in der Ordnungspolitik und der Verfassungsökonomik hinreichend bekannt, beispielsweise mit Blick auf die konstitutionelle Bindung an die Unabhängigkeit der Zentralbank. Zuguterletzt beschreibt Quadrant IV jene Fälle, in denen Staaten mehrseitige Dilemmata 45 Vgl. hierzu Pies, Hielscher und Beckmann (2009b). 46 Selbst Ökonomen wie Milton Friedman, die ffir ein möglichst ungehindertes freies Spiel der Marktkräfte plädieren, betonen immer wieder die Rolle des Staates als „Forum der Regelsetzung". So schreibt Friedman (1962, 2002, S. 15): „The existence of a free market does not of course eliminate the need for government. On the contrary, government is essential both as a forum for determining the „rules of the game" and as an umpire to interpret and enforce the rules decided on." - In der Freiburger Tradition der Ordnungspolitik wird das Verhältnis von privater und staatlicher Regelsetzung in Grundzügen bereits früh diskutiert. Vgl. Großmann-Doerth (1933; 2008). 47 Vgl. hierzu grundlegend Pies (2000a, S. 52-62). 48 Schelling (1978,1984, S. 152).

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untereinander überwinden, indem sie kollektive Selbstbindungen organisieren, angefangen von Verträgen zur Rüstungskontrolle über Umweltschutzabkommen bis hin zu suprastaatlichen Institutionen wie der Europäischen Union. Die Unterscheidung alternativer Bindungsarrangements erweist sich als leistungsfähiges Beobachtungsschema. Es geht also nicht um Ontologie, sondern um Methodologie. In diesem Sinne lassen sich hier die unterschiedenen Bindungsformen auch problemabhängig miteinander verknüpfen und ineinander verschachteln. So ist es durchaus denkbar, den Staat selbst als das Ergebnis einer kollektiven Selbstbindung zu verstehen (Quadrant IV), der dann als korporativer Agent Bindungsaufgaben für die Bürger ausübt (Quadrant I). Die ordonomische Perspektive bietet folglich ein Angebot, viele ordnungstheoretische Fragen mit Blick auf die Rolle sozialer Dilemmata und ihrer Überwindung zu reformulieren. (b) Die Überwindung unerwünschter sozialer Dilemmastrukturen ist aus Sicht der Ordnungsökonomik die originäre Aufgabe staatlicher Regelsetzung. Der Staat setzt die Spielregeln; die Wirtschaft optimiert dann ihre Spielzüge. Dieser strikten Trennung (und exklusiven Arbeitsteilung) zwischen Politik und Staat liegen Überlegungen zugrunde, die Walter Eucken mit dem Begriff der „Interdependenz der Ordnungen"49 zusammenfasst: Interventionistische Eingriffe des Staates in die Wirtschaft würden den Markt außer Kraft setzen; umgekehrt wird in der Einflussnahme privater Akteure auf Regelsetzungen die Gefahr des „rent-seeking" gesehen und insbesondere das Problem wettbewerbsgefährdender Kartellbildungen, das nicht nur den Markt, sondern letztlich auch die Institutionen der Demokratie bedroht.50 Aus diesem Grund fordert Walter Eucken einen „starken Staat", dessen Institutionen stark genug sein sollen, um fern jeder Beeinflussung durch wirtschaftliche, politische oder sonstige Interessengruppen die allgemein geltenden Spielregeln zu etablieren.51 Eucken will jede Form der Vermachtung innerhalb der Wirtschaft vermeiden und sieht daher Ordnungsaufgaben als genuine Staatsaufgaben. Die in diesem Aufsatz skizzierten sozialstrukturellen Überlegungen legen nahe, dass das traditionelle ordnungspolitische Paradigma einen blinden Fleck aufweist. Die traditionelle Perspektive sensibilisiert ausgesprochen gut für den Umstand, dass - in der Wirtschaft, im Sport, in der Kunst oder in der Wissenschaft - Funktionszusammenhänge bestehen, in denen der Wettbewerb ein gesellschaftlich erwünschter - weil produktiver - Systemimperativ ist. Aus diesem Grund gilt es, das Konkurrenzprinzip beharrlich vor wettbewerbsbeschränkenden Handlungen der Akteure zu schützen. Gleichzeitig versperrt die undifferenzierte Skepsis gegenüber privaten Regelunternehmern jedoch den Blick darauf, dass beispielsweise nicht jede kollektive Selbstbindung von 49 Vgl. Eucken (1952; 1990). 50 Diese tief verankerte Skepsis gegenüber kooperierenden Konkurrenten findet sich bereits bei Adam Smith (1776; 1976, S. 145), der schreibt: „People of the same trade seldom meet together (...) but the conversation ends in a conspiracy against the publick, or in some contrivance to raise prices." Aus diesem Grund lehnt Smith (1776, 1976, S. 493) einen (politischen) Einfluss von Unternehmen auf Regelsetzungsprozesse strikt ab und begründet dies mit dem - nicht sehr untemehmerfreundlichen Verweis auf „the mean rapacity, the monopolizing spirit of merchants and manufacturers who neither are, nor ought to be the rulers of mankind". 51 So spricht Eucken (1952; 1990, S. 331) von der „Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen".

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Unternehmen darauf abzielt, den Wettbewerb außer Kraft zu setzen.52 Im Gegenteil: Die hier diskutierten Beispiele verdeutlichen, dass privat initiierte Ordnungselemente nicht der Außerkraftsetzung, sondern der gezielten Inkraft-Sztmng von Märkten dienen können. Mit Blick auf neue Formen kollektiven Handelns von Unternehmen lautet das Stichwort: Co-opetition.53 Aus ordnungstheoretischer Perspektive gibt es daher gute Gründe, Ordnungsaufgaben nicht mehr (nur) exklusiv dem (National-)Staat zuzuweisen. Zahlreiche aktuelle Governance-Probleme - angefangen vom Klimawandel über Korruption und die Instabilität internationaler Finanzmärkte bis hin zur Ausbreitung ansteckender Krankheiten - überschreiten die Grenzen des National-Staats und (national-)staatlicher Regelsetzungskapazitäten. In vielen New-Governance-Prozessen ist die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure und ihrer Kenntnisse und Informationen daher unverzichtbar für adäquate Problemlösungen. Ebenso kommt Verfahren der kooperativen Selbst-Regulierung eine wachsende Bedeutung zu. Hier übernimmt der Staat eine aktive Rolle als Moderator. Die hier vorgestellte Konzeption sozialer Bindungsarrangements bietet eine Möglichkeit, diese verschiedenen Ordnungsansätze systematisch miteinander zu vergleichen.

VII. Fazit und Ausblick Die Literatur zu Social Entrepreneurship und die ordnungspolitische Diskussion haben bisher kaum gemeinsame Berührungspunkte. Beide Forschungsfelder beschäftigen sich auf den ersten Blick mit ganz unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen: hier die akteurszentrierte Social Entrepreneurship-Literatur mit ihrem Fokus auf die innovativen Spielzüge herausragender Unternehmerpersönlichkeiten; dort die auf Institutionen ausgerichtete Ordnungstheorie mit ihrem Fokus auf alternative Spielregeln. Aus der hier entwickelten Perspektive wird deutlich, dass beide Forschungsfelder tatsächlich jedoch in einem engen systematischen Zusammenhang stehen. Diese Argumentation wurde in der Auseinandersetzung mit dem Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms entwickelt. Freilich war das Anliegen dieses Artikels nicht das eines unternehmensgeschichtlichen Beitrags, der bestrebt ist, eine historisch möglichst detailgetreue Darstellung zu skizzieren. Vielmehr ging es darum, in der Rekonstruktion jene Mechanismen herauszuarbeiten, die sozialstrukturell auch für heutige Analysefragen von Interesse sind.54 Krupp experimentiert mit neuartigen Formen sozialer Bindungen. 52 Allerdings äußert bereits Franz Böhm (1971, 2008, S. 312) die Hoffnung, Unternehmer mögen sich konstruktiv am politischen Prozess der Inkraftsetzung von Märkten beteiligen: „Man kann nur wünschen, dass sich die Nichteigentümer der Vervollkommnung des Marktmechanismus annehmen und dass sie dabei von den Unternehmern politisch nach Kräften unterstützt werden." 53 Vgl. hierzu ausführlich Nalebuff und Brandenburger (1996). 54 Diese Art der - sehr selektiven - Rekonstruktion führt freilich dazu, dass der Eindruck entstehen könnte, dieser Artikel nehme ein sehr einseitiges und vor allem unkritisches Verhältnis zu Alfred Krupp ein. Hier sind Missverständnisse zu vermeiden. In der Tat erscheinen viele Elemente der Kruppschen Sozialpolitik aus heutiger Sicht als moralisch ambivalent. Zu nennen ist sowohl Krupps ausgeprägter Patemalismus, der massiv in die Privatsphäre seiner Arbeiter eingriff, als auch seine Bemühungen, Gewerkschaftsbildungen innerhalb seines Unternehmens zu verhindern. Vgl. hierzu ausfuhrlich Manchester (1968), Boelcke (1956, 1970) und Engelmann (1969). Diese - aus heutiger

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Auf diese Weise gelingt es ihm, Koordinationsprobleme zu überwinden, die im Zuge der Industrialisierung an Bedeutung gewinnen. Das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm verdeutlicht zudem, dass Social Entrepreneurs sowohl durch die eigene Selbstbindung als auch durch Initiativen, die es anderen Akteuren ermöglichen, sich selbst zu binden, zur Überwindung unproduktiver sozialer Dilemmata beitragen können. In diesem Sinne erfüllen sie genuine Ordnungsaufgaben. Die sozialstrukturelle Analyse des Ärwpp-Beispiels lässt sich zu einer allgemeinen Logik sozialer Bindungen verallgemeinern. Aus individueller Akteurssicht sind systematisch vier - und nur folgende vier - Formen von Bindungsarrangements zu unterscheiden, durch die ein Akteur als Regeluntemehmer Ordnungsleistungen erbringen kann: Bindungsdienstleistungen fur die kollektive (Selbst-)Bindung einer Gruppe anderer Akteure (Quadrant I), Bindungsdienstleistungen für die individuellen (Selbst-)Bindungen einzelner anderer Akteure (Quadrant II), die eigene individuelle Selbstbindung im Alleingang (Quadrant III) sowie die kollektive Selbstbindung gemeinsam mit anderen (Quadrant IV). Aus dieser sozialstrukturellen Analyse ergeben sich wichtige Folgen für das Verständnis von Social Entrepreneurship: Ihre Funktion als Change Agents gesellschaftlicher Wertschöpfung erfüllen Social Entrepreneurs vor allem dann, wenn sie dazu beitragen, bisher ungelöste Bindungsprobleme zu überwinden. Entscheidend ist dann nicht die Frage, ob es sich bei einer Unternehmung um eine Not-for-profit- oder eine gewinnorientierte Organisation handelt, sondern ob es gelingt, bisher unausgeschöpfte Potentiale wechselseitiger Besserstellung auszuschöpfen. Für die Ordnungstheorie folgt analog, dass es gute Gründe gibt, nicht nur dem Staat, sondern auch privaten (Regel-)Entrepreneuren, d.h. zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch Unternehmen, eine konstruktive Rolle in Governance-Prozessen zuweisen zu können. Diese - konstruktive Rolle kann sie zusätzlich unterstützen durch eine „Ordnungspolitik zweiter Ordnung"55: Es geht darum, Anreize zur Anreizsetzung zu setzen, indem die Politik ihrerseits Hilfestellung dazu gibt, sich beispielsweise in Form von Co-Regulierung, Branchenstandards oder Gütesiegeln selbst zu binden. Die hier entwickelte Logik sozialer Bindungen stellt die systematische Verbindung her zwischen der Akteursebene der Social-Entrepreneur-Literatur und der Regelebene der Ordnungstheorie. Sie zeigt auf, dass eigeninteressierte individuelle Akteure zu institutionellem Wandel beitragen können. Damit erhellt sie einen oftmals im Dunkeln liegenden Verbindungsbereich zwischen der akteurszentrierten (Social Entrepreneurship) Literatur und der (ordnungspolitischen) Institutionentheorie. Zugleich werden Ansatzpunkte sichtbar, wie Social Entrepreneurs als Governance-Innovatoren das Eigenreformpotential der modernen Gesellschaft aktivieren können.

Sicht: berechtigten - Kritikpunkte ändern jedoch nichts an dem Umstand, dass die rückblickende Rekonstruktion des Kruppschen Wohlfahrtsprogramm wichtige Governance-Innovationen identifizieren kann, durch die Krupp sich und seine Stakeholder dauerhaft besser gestellt hat. 55 Vgl. hierzu Pies und Sass (2006).

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Summary: Social Entrepreneurship and Ordnungspolitik Using the rational-choice-approach of "ordonomics" this paper seeks to establish a conceptual link between two strands of literature that seem to focus on two distinct and apparently incommensurable research questions: on the one hand, the literature on Social Entrepreneurship literature that focuses on personal management issues; and on the other hand, the ordoliberal tradition of institutional economics ("Ordnungspolitik"). The key argument claims that social (rule) entrepreneurs can contribute positively to improving the institutional and political framework of society if they succeed in organizing new and mutually beneficial commitment arrangements for themselves and other stakeholders. From that perspective, social entrepreneurs engage as real societal change agents and can assume - complementary to traditional state functions - genuine 'regula-

Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik

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tory' tasks. The article advances this argument by discussing the historical example of Krupp's welfare program.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Klaus Beckmann und Carsten Gerrits*

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen? Inhalt I. II. 1. 2. III. 1. 2. 3. 4. IV. 1.

Einleitung 463 Korruption und Armut 466 Mittelbarer Zusammenhang 466 Unmittelbarer Zusammenhang und Kausalität 467 Theorie: Ein Regelinteresse der Unternehmen? 469 Definition, Arten und Modellierung von Korruption 470 „Grease" oder „Sand"? - Ein erster Blick auf die Kosten der Korruption... 475 Korruption vs. Lobbying 477 Produktiver Nepotismus? 484 Therapie 486 Folgerungen aus einem ordnungsökonomisch-wirtschaftsethischen Vorschlag (Pies 2008, Pies und Sass 2008) 487 2. Kritik und Alternative 488 3. Zusammenfassung: Indirekte Bekämpfung von Armut durch Reduktion von Korruption mit Unternehmen 490

Literatur

491

Zusammenfassung

494

Summary: Fighting poverty by fighting corruption: A task for private enterprise?

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I. Einleitung Im Folgenden wird eine Hypothese betrachtet, die zunächst ganz einfach klingt: Erstens verschärfe Korruption die Armut - zum einen, weil sie das Wirtschaftswachstum in armen Ländern bremst, zum anderen, weil sie die Einkommensverteilung negativ beein-

*

Institut für Finanzwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität (UniBw) Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg, http://beckmann.hsu-hh.de/. Wir danken den Teilnehmern der Konferenz „Marktbasierte Armutsbekämpfung" an der Leucorea in Wittenberg sowie zwei anonymen Gutachtern für wertvolle Hinweise. Svjetlana Pejic-Pulkowski hat das fertige Manuskript in bewährter Weise lektoriert.

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Klaus Beckmann und Carsten Gerrits

flusst.1 Korruption zu bekämpfen, heiße damit auch, Armut zu bekämpfen. Zweitens argumentieren Theoretiker der New Governance für eine verstärkte Einbindung nicht staatlicher Akteure, also der Zivilgesellschaft bei der Realisierung sozialer Ziele.2 Zu den Akteuren, die man üblicherweise im Rahmen von „Global Compacts" zur Wahrnehmung sozialer Verantwortung aufruft, zählen auch die Unternehmen. Warum also sollen Unternehmen nicht durch Maßnahmen gegen Korruption indirekt zur Armutsbekämpfung beitragen? Zu erreichen wäre dies durch eine Umgestaltung von Institutionen, welche es den Unternehmen gestattet, ein gemeinsames Regelinteresse an weniger Korruption zu verwirklichen (Pies und Sass 2006, S. 13-19; Pies 2007), dem ohne institutionelle Reform ein anders gerichtetes Handlungsinteresse entgegenstünde (siehe etwa Pies 2003). Diese wohlklingende Hypothese ohne Weiteres zu akzeptieren, erscheint uns freilich verfrüht, denn ein gesicherter Schluss auf bestimmte „Best practices" und „Yardsticks" für Unternehmen und nationale Institutionen bedarf nach unserer Ansicht derzeit noch weiterer Arbeiten, sowohl grundsätzlicher als institutionell-angewandter Natur. Denn es ist — bezüglich der Ökonomik der Korruption ein entschiedenes Theoriedefizit (bei gleichzeitigem Reichtum an empirischen Schätzungen und angewandten Empfehlungen) festzustellen,3 — zudem in jüngeren empirischen Arbeiten die längst abgeschriebene Möglichkeit (Aidt 2003) von Korruption als einer drittbesten Lösung (bei gegebenen ineffizienten Institutionen) wieder ins Gespräch gekommen und — die kulturelle Bedingtheit von Empfehlungen, vor allem die Rolle informaler Institutionen in der Ökonomik nicht genügend betrachtet worden. Vor diesem Hintergrund wollen wir einen dezidiert ökonomischen, theoretischen Beitrag leisten mit dem Ziel, institutionelle Handlungsempfehlungen zu geben, welche die Anreize für Unternehmen mit dem Ziel der Armutsbekämpfung verändern. Um die beschriebene Hypothese logisch folgerichtig und empirisch gesichert vorbringen zu können, gilt es drei Dinge zu zeigen: — Es muss in der Tat ein kausaler Zusammenhang zwischen vermehrter Korruption und verschärfter Armut in einem Land bestehen, entweder indirekt über den Einfluss der Korruption auf Niveau und Wachstum der wirtschaftlichen Aktivität oder direkt über den Einfluss der Korruption auf die Einkommensverteilung. — Es muss ein Regelinteresse der Unternehmen an einer Überwindung von Korruption geben, das diese allerdings im Status quo aufgrund institutioneller Mängel nicht realisieren können (Dilemmastruktur). Darüber hinaus darf der Verwirklichung dieses 1 Man findet dieses Standardargument bei Mitra (2005, S. 2): „Note that corruption not only has adverse implications for economic growth,[...] but also leads to a worsening of the distribution of income because the rieh are better able to pay bribes." Es sei schon jetzt daraufhingewiesen, dass dies zumindest im Fall der Belastungskormption (mehr dazu in Abschnitt 2) auch anders sein kann. 2 Wo auch immer diese herkommen - wir selbst halten unverändert dafür, dass Personenmehrheiten keine eigenen Ziele haben und es sich hier allenfalls um die Ergebnisse eines politischen Willensbildungsprozesses handeln kann. Für theoretische Überlegungen sind wir auch geneigt, „die Maximierung der sozialen Wohlfahrt" oder eine Form des Regelparetianismus zu akzeptieren. 3 Für Surveys der ökonomischen Literatur zur Korruption vgl. Bardhan (1997) und Aidt (2003).

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Regelinteresses - wie es etwa beim Regelinteresse der Unternehmen an der Bildung eines Kollektivmonopols der Fall wäre - nicht das Regelinteresse Dritter entgegenstehen.4 — Schließlich muss man eine institutionelle Lösung entwickeln können, welche den Unternehmen die Verwirklichung ihres Regelinteresses ermöglicht und zugleich mit vertretbaren Kosten verbunden ist. Diese drei Fragenkomplexe werden wir in drei Abschnitten (II-IV) bearbeiten. Der Schwerpunkt liegt bei der zweiten Frage, zu der wir die bestehende theoretische Literatur zur Korruption kritisieren und punktuell erweitern. Am Ende des dritten Abschnitts soll dann ein ungewöhnlicher Vorschlag für die Lösung unseres Problems stehen. Zu Beginn seien allerdings noch einige Hinweise zu einem geeigneten Korruptionsbegriff erlaubt. Üblich ist es, Korruption einfach als „Missbrauch staatlicher Macht für private Zwecke des Amtsinhabers" (Pies 2003, S. 3) oder äquivalent als „misuse of public office for private benefit" (Meon und Weill 2008, S. 1) zu definieren. 5 Nun wollen wir nicht vorwiegend begriffliche Fragen erörtern wie die, ob auch ein bestimmter Gebrauch privater Entscheidungsgewalt (etwa die Bestechung des Angestellten der Firma X, damit er den Zuschlag für einen ausgelobten Vertrag mit seinem Arbeitgeber der Firma Y erteile) oder ein Bereich informal gebräuchlicher Gaben (wie ein Abschiedsgeschenk an den Chef) dazu zählt. Für den Ökonomen als entscheidungsorientierten Sozialwissenschaftler kommt es dagegen auf die Rahmenbedingungen einer individuellen Entscheidung an. Ausgangspunkt sei daher eine herkömmliche Beziehung zwischen einem Prinzipal und einem Agenten, 6 wobei jener eine Tätigkeit an diesen delegiert. Daneben existiere ein Klient, der an dem Ergebnis der Tätigkeit interessiert ist. Von Korruption wollen wir dann sprechen, wenn es in einer solchen Situation zu einem Transfer ökonomischer Ressourcen vom Klienten an den Agenten kommt und der Agent mit einer Wahrscheinlichkeit größer als Null erwartet, wegen dieses Transfers strafrechtlich belangt zu werden. Mit dieser Definition lehnen wir uns an die Definition von Steuerhinterziehung nach Cowell (1990) an, die zu Recht auf die Entscheidungssituation der Täter rekurriert (denn diese ist in einem positiv-analytischen ökonomischen Ansatz zu modellieren).7 Danach wären

4 Wir verzichten hier bewusst auf das Adjektiv „überwiegend". Denn im Rahmen des üblichen Regelparetianismus soll gezeigt werden, dass die konstitutionelle Reform alle Mitglieder der Gesellschaft - zumindest im Erwartungswert - besserstellt. Wir sehen denn auch keinen zulässigen Grund, die Empfanger der Schmiergelder (die korrupten Beamten) dabei nicht zu berücksichtigen. Zumindest hinter einem Schleier des Nichtwissens müssten auch diese zustimmen können. Klar sollte sein, dass eine Leviathan-Lösung, in der die Bürokraten ihre Rente maximieren, gegeben die Institutionen effizient ist (Beckmann und Lackner 2002). 5 Zur Kritik daran siehe auch Kaufmann und Vicente (2005). 6 Für eine deutschsprachige Lehrbuchdarstellung vgl. Erlei, Leschke und Sauerland (2007), das u.E. beste Lehrbuch überhaupt ist Campbell (2006). 7 In der Literatur werden Korruption und Lobbying häufig anhand des Vorliegens illegaler Zahlungen abgegrenzt (Jain 2001). Dabei soll Lobbying sich der Korruption durch das Vorhandensein allgemeiner und bekannter Spielregeln sowie durch geringere Geheimhaltung auszeichnen. Diese Definition erscheint uns weniger zweckmäßig, weil sie eine erhebliche Grauzone belässt und weniger als unsere Definition auf die Entscheidungssituation der Spieler abstellt. Siehe erneut Cowell (1990) für eine analoge Begründung des Vorgehens bei der Abgrenzung von Steuerhinterziehung und Steuerauswei-

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Bestechungszahlungen, die mit Sicherheit nicht geahndet werden und folglich offen entgegengenommen werden (könnten), kein Fall von Korruption, Vorteilsannahme in einer rechtlichen Grauzone dagegen sehr wohl. Wir wollen „Rent-seeking" als einen Oberbegriff für die Situationen verwenden, in denen ein Klient durch einen Transfer von Ressourcen - einschließlich (selektierter) Informationen - an den Agenten dessen Handeln für den Prinzipal zu beeinflussen trachtet.8 Neben Korruption, bei welcher der Agent wie oben definiert mit der Möglichkeit einer Bestrafung rechnet, tritt dann eine Form von Rent-seeking, bei der mit Sicherheit keine Bestrafung erfolgt. Wir wollen dies als „Lobbying" bezeichnen. Damit sind wir nun in der Lage, uns der ersten unserer drei Fragen zuzuwenden: der nach dem Zusammenhang zwischen Korruption und Armut.

II. Korruption und Armut Der erste Schritt besteht darin, einen kausalen (!) Zusammenhang zwischen Korruption und Armut herzustellen, sodass Maßnahmen von Unternehmen gegen aktive und passive Korruption im eigenen Hause auch Armut lindern können. Dabei wollen wir unter „Armut" im Folgenden das Unterschreiten eines absoluten Wohlstandsniveaus verstehen. Relative Maße wie etwa der Prozentsatz der Bevölkerung, die weniger als einen bestimmten Prozentsatz des durchschnittlich verfügbaren Einkommens erhalten, und auch die Verteilung außerhalb des „Armutsbereichs" sollen uns nicht interessieren.9 Grundsätzlich sind zwei Mechanismen denkbar: — Eventuell wirkt sich Korruption über das Wirtschaftswachstum auf die Armut aus oder — es besteht eine direkte und unmittelbare Kausalität zwischen der Korruption und Armut. Zusätzlich gilt es zu beachten, dass die Kausalität zwischen den beiden Phänomenen sich nicht eindeutig in eine Richtung bestimmen lässt, sondern sie sich vielmehr gegenseitig bedingen (Gupta et al. 1998).

1. Mittelbarer Zusammenhang Den klassischen Beitrag zum Zusammenhang zwischen Korruption und Wirtschaftswachstum liefert Mauro (1995).10 In der Literatur besteht weitgehend Einigkeit, dass Korruption und Wirtschaftswachstum negativ korreliert sind (für einen kurzen Überblick siehe Meon und Sekkat 2005). Ob die Beeinflussung über verminderte private oder öffentliche Investitionen verläuft, wird zwar diskutiert, kann aber hier im Ergebnis dahinstehen. Als andere Mechanismen werden etwa durch Korruption beeinflusste chung. Man beachte, dass die gewählte Definition nicht legalistisch ist: Auf den Wortlaut der Gesetze kommt es nämlich nicht unbedingt an. 8 Zu Rent-seeking, Korruption und Lobbying siehe Lambsdorff (2002), der allerdings alle Formen von Rent-Seeking formal gleich modelliert. 9 Damit scheidet aus, was Nozick (1977) als „patterned principles of justice" bezeichnet. 10 Einen jüngeren Überblick über die empirische Literatur liefert Lambsdorff (2007).

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Steuersysteme oder die ineffiziente Durchführung von gemeinnützigen Maßnahmen diskutiert (Gupta et al. 1998). Was den zweiten Teil des mittelbaren Transmissionsmechanismus anbelangt, wird gelegentlich der negative Zusammenhang von Verteilungskämpfen und Wachstum hervorgehoben {Persson und Tabellini 1994; Alesina und Rodrik 1994): Länder, in denen Redistribution eine größere Rolle spielt, weisen höhere Steuern, eine größere Regulierungsdichte und generell unsichere Eigentumsrechte auf. Damit verschlechtern sich in solchen Ländern aber die Voraussetzungen für wachstumsfördernde Investitionen. Auf der anderen Seite steht die dämpfende Wirkung von Gleichheit und Umverteilung auf die Anreize und der bekannte ÄT«znete-Zusammenhang, demzufolge größere Ungleichheit in armen Ländern das Wachstum behindert, während sie in reicheren Ländern mit größerem Wachstum einhergeht. Zudem erklären diese Ansätze nur einen recht kleinen Teil der Varianz (Barro 1999). Ferner sei bemerkt, dass bei den theoretischen Modellen die Kausalität meist umgekehrt, also von der Ungleichheit - etwa via Redistribution zu höherem oder niedrigerem Wachstum führt. Vor diesem Hintergrund kann man fragen, wie es um den Zusammenhang zwischen Wachstum und Armut steht. Ein minimaler Konsens scheint uns dahingehend zu bestehen, dass es zumindest keinen positiven Zusammenhang zwischen Wachstum und Armut gibt. Dollar und Kraay (2002) argumentieren, aufgrund ihrer ökonometrischen Analyse von 137 Ländern über einen Zeitraum von 40 Jahren, dass die Armen mindestens genauso viel vom Wachstum profitieren, wie die Reichen in einer Gesellschaft. Insgesamt bejahen sie eine leicht negative Korrelation von Wachstum und Armut.

2. Unmittelbarer Zusammenhang und Kausalität Eine direkte Verbindung zwischen Korruption und Armut lässt sich auf zweierlei Weise begründen: — Über den regressiven Charakter von Korruption. „Reichere" Individuen sind besser in der Lage, Bestechungszahlungen zu leisten (Mitra 2005). Ärmere Haushalte müssen einen höheren Anteil ihres Einkommens für Bestechungsgelder aufwenden, als dies bei Haushalten mit höheren Einkommen der Fall ist. Eine Folge kann sein, dass arme Familien weniger oder gar keinen Zugang zu öffentlichen Leistungen haben {Kaufmann 2005). Gupta et al. (2002) finden in ihrer Querschnittstudie einen negativen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß von Korruption und den staatlichen Sozialleistungen - einschließlich Bildung und Ausbildung - , wenn für eine Vielzahl anderer Variablen einschließlich des Pro-Kopf-Sozialprodukts kontrolliert wird. Daneben dient Korruption namentlich in den Failing states oft der Aneignung von Ressourcen und der Vermögensakkumulation {Khan 2006, S. 232-236), sodass durch Korruption auch die Primärverteilung von Vermögen und Einkommen ungleicher werden kann. — Über die Verminderung der Effektivität und/oder der Effizienz von Entwicklungshilfe. Insoweit Korruption die Verteilung von Hilfsgütern, die Selektion von Entwicklungshilfeprojekten - etwa zugunsten großer, industrieller Projekte und zulasten

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ländlicher Gegenden und des landwirtschaftlichen Sektors11 - oder ähnliche Politikparameter beeinflusst, kann sie die Wirksamkeit der Hilfe für die Ärmsten beeinträchtigen. Unklar ist, wie und ob die Kausalität zwischen Korruption und Armut eindeutig ermittelt werden kann. So ist denkbar, dass Korruption als Auslöser zu Armut fuhrt. Der umgekehrte Weg ist ebenso denkbar: Armut fuhrt dazu, dass Menschen versuchen, zusätzliche Einnahmen zu erschließen und entdecken daher die Korruption als alternative Versorgungsquelle. Studien weisen auf eine Rückkopplung von Korruption und korrelierten Phänomenen hin {Lambsdorff 2006, S. 23). Speziell zur Korrelation von Korruption und Armut finden Gupta et al. (2002) mit Hilfe einer IV-Schätzung Hinweise darauf, dass die Kausalität von Korruption ausgeht und die Armut verstärkt. Gleichwohl sind selbst auf der empirischen Seite derzeit noch einige wichtige Fragen offen, von denen wir hier zwei aufzeigen: — Abhängigkeit von einer Hintergrundvariablen. Möglicherweise besteht kein starker kausaler Zusammenhang zwischen Korruption, Wachstum und Armut, sondern alle drei hängen wesentlich von einer anderen Variable ab. Infrage kommt insbesondere die Qualität der (formalen) Institutionen. Deren Zusammenhang mit dem Korruptionsniveau ist gut dokumentiert (siehe die Beiträge in Rose-Ackerman 2006, S. 52188), und ebenso wird oft ein großer Teil von Wachstum und Wohlstand durch die Qualität der Institutionen „erklärt".12 — Nichtlineare Zusammenhänge. Unklar bleibt ebenfalls noch, ob die Zusammenhänge zwischen den Variablen über alle Entwicklungsniveaus hinweg gleich sind oder ob es möglicherweise einen „u-förmigen" Verlauf gibt. In der sogenannten „Grease versus Sand"-Debatte wurde darauf hingewiesen, dass Korruption bei guten Institutionen zwar Wachstum und Entwicklung bremst („Sand"), vor dem Hintergrund schlechter Institutionen dagegen als Schmiermittel („Grease") wirken und eine Verbesserung gegenüber dem Status quo herbeifuhren kann, die mit Impulsen für Investitionen und Wachstum verbunden ist (siehe den Überblick bei Meon und Sekkat 2005).13 Die Grease-Hypothese konnte als weitgehend diskreditiert gelten, doch finden einige jüngere Arbeiten {Meon und Weill 2008)14 Anzeichen dafür, dass Korruption vor dem Hintergrund dysfunktionaler Institutionen wohlstandssteigernd sein kann: In Ländern mit funktionierenden Institutionen schadet Korruption immer, doch

11 Siehe Preuss (2008) zu den Biases in der Entwicklungspolitik vor dem Hintergrund der aktuellen Ernährungskrise. 12 Vgl. Eicher et al. (2008), die gut 40 % der Varianz der Wachstumsraten in den OECD-Ländern mit institutionellen Variablen „erklären". Eine intensive Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Ansätzen zur Erklärung von Wachstum und Agglomeration - einschließlich der Kliometrie - würde an dieser Stelle zu weit führen. 13 Zu der Theorie hinter dieser Debatte vgl. Unterabschnitt III.2 in dieser Arbeit. 14 Interessant ist, dass Arbeiten eines Autorenteams zu entgegengesetzten Schlüssen geraten: Meon und Sekkat (2005) verwerfen die „Grease"-Hypothese, während diese von Meon und Weill (2008) bestätigt wird. Beide Arbeiten eint, dass sie einen Interaktionsterm zwischen der Korruptionsvariable und dem Maß für institutionelle Qualität berücksichtigen (wobei unterschiedliche Maße alternativ genutzt werden). Während die ältere Studie aber auf Investitionen und das Sozialprodukt als abhängige Variable abstellt, fokussieren Meon und Weill (2008) auf Produktivität und messen Effizienz als Ausschöpfung der Produktionsmöglichkeiten in einer Volkswirtschaft.

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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kann Korruption in Ländern mit schlechten Institutionen die Effizienz der Wirtschaft (genauer: die Produktionseffizienz) erhöhen. Für dieses Papier sind wir in der komfortablen Lage, das Ergebnis im Grundsatz dahinstehen lassen zu können: Egal ob Korruption Armut bedingt oder die beiden sich in einer „Feedback-Schleife" befinden, so können wir doch erwarten, dass allgemein in beiden Fällen eine Reduzierung der Korruption zu einem (wenn auch unterschiedlich starken) Rückgang der Armut führen dürfte. Dennoch sind die erheblichen empirischen Unsicherheiten und offenen Fragen von Bedeutung, denn wir stimmen dem Urteil Khans (2006, S. 128) zu, der angesichts seiner Beobachtung, dass innerhalb der Gruppe „armer" Länder die schneller wachsenden Länder keine signifikant geringeren Korruptionsniveaus aufweisen als die langsamer wachsenden Länder, bemerkt: Given the obviously damaging effects of corruption in many contexts, we read this Observation not as saying that corruption has no effect on economic Performance, but rather that corruption is likely to have very different effects in different contexts.

Unser kritischer Blick in die empirische Literatur führt also nicht zur Aporie, sondern vor allem zu einer Zurückhaltung bei der Entwicklung von „one size fits all"Konzepten. Die empirische Evidenz zeigt trotz fortbestehender Unklarheiten insgesamt die Plausibilität eines kausalen Zusammenhangs zwischen Korruption und Armut.

III. Theorie: Ein Regelinteresse der Unternehmen? Der Schlüssel zu dem Argument, Unternehmen durch die Gestaltung geeigneter Institutionen zu einem Verbündeten bei der Armutsbekämpfung zu machen, liegt in dem Nachweis, dass - die Unternehmen im Vergleich zum Status quo bessergestellt werden können (Regelinteresse), obgleich sie in diesem Status quo keinen Anreiz haben, zur Armutsbekämpfung beizutragen (Handlungsinteresse), und zugleich — die Durchsetzung des Regelinteresses auch im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse liegt, also die Überwindung der Dilemmastruktur, in welcher die Unternehmen stecken, nicht mit überwiegenden negativen Externalitäten verbunden ist. Für den Kampf gegen Armut durch eine Verringerung von Korruption scheint ein solcher Nachweis auf der Hand zu liegen: Unternehmen zahlen Bestechungsgelder, um das Verhalten anderer Akteure zu beeinflussen („Rent-seeking"). Entfielen die Zahlungen, so käme es zu einem unveränderten Ergebnis, und insofern besteht ein Regelinteresse an der Einsparung von Korruptionszahlungen. Weil jedoch die Bestechung eine dominante Strategie ist - halten sich die Übrigen an das Korruptionsverbot, kann man sich durch Bestechung einen Vorteil sichern, tun sie dies nicht, käme man ohne Bestechung niemals zum Zuge - fehlt es am Handlungsinteresse.

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Verwirklichen die Unternehmen ihr Regelinteresse, so verliert offensichtlich der bestechliche Agent, doch dessen Wohlfahrt wird oft vernachlässigt,15 und so stehen der institutionellen Reform auch keine Interessen Dritter entgegen. So sehr dieses Argument auch der moralischen Intuition vieler Betrachter entsprechen und Drittmittel eintragen mag, so sehr bleibt es ein Schnellschuss - auch dann, wenn sich der Grundgedanke am Ende als richtig erweisen sollte. In der Korruptionsforschung dominieren noch die empirischen und angewandten Arbeiten bei einem vergleichsweisen Mangel an theoretischen Ansätzen, und in der Folge erscheinen uns wesentliche Fragen noch nicht genügend untersucht. Dazu zählen — die Abgrenzung verschiedener Formen der Korruption, die jeweils verschiedene Spielsituationen entstehen lassen, — das Verhältnis von Korruption und anderen Möglichkeiten des Rent-seeking (insbesondere legalem Lobbying), — ein näherer Blick auf die allokativen Ineffizienzen durch Korruption. Diese Lücken beabsichtigen wir in diesem Abschnitt ein Stück weit zu schließen. Am Ende steht dann hoffentlich eine fundiertere Antwort auf die Frage, ob und ggf. wann Unternehmen ein konstitutionell relevantes Regelinteresse an der Korruptionsbekämpfung haben, und ob diese Voraussetzung gerade dort erfüllt ist, wo man hoffen kann, durch Korruptionsbekämpfung Armut zu lindern.

1. Definition, Arten und Modellierung von Korruption Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt die Unterscheidung zwischen den drei wesentlichen Typen von Korruption (in den Zeilen) und den vier wesentlichen Gegenständen von Korruption (in den Spalten), wobei die Zellen zur Illustration Hinweise auf einschlägige Erscheinungsformen in der Praxis geben.16

15 Ähnlich geht man mit den Nutzen der Politiker in vielen Public-Choice-Modellen um (Besley 2006). Berücksichtigt man diese, wird sich die Leviathan-Lösung freilich im Allgemeinen als effizient erweisen (Beckmann und Lackner 2002). 16 Es besteht eine Vielzahl alternativer Definitionsversuche. Siehe dazu etwa Jain (2001) oder Andvig und Fjelstad (2000). Unseren zeichnet aus, dass wir in besonderer Weise auf die formale (spieltheoretische) Modellierung (Zeilen) und die wohlfahrtstheoretischen Konsequenzen (Spalten) abstellen.

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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Tab 1: Arten von Korruption Selektion

Qualität

Zeit

Straftat

Anfütterung

Geschenke zum Aufbau persönlicher Beziehungen

Entlastung

Vergabe eines Genehmigung Auftrags gegen einer Anlage trotz Zahlung von Be- Mängeln gegen stechungsgeld Zahlung

Belastung

Drohung mit Drohung mit Verweigerung dei Stilliegung einer Genehmigung Anlage wegen rechtmäßiger nicht existierenImporte der Mängel

„Speed money" Beamte arbeiten langsamer als nach Vorschrift, um Zahlungsbereitschaft der Bürger zu stimulieren

Schweigegeld

Androhung der Einstufung legaler Steuervermeidung als Steuerhinterziehung, wenn nicht gezahlt wird

Typen von Korruption Mit „Anfütterungskorruption" meinen wir das Geschenkemachen - oft in einer Grauzone von Illegalität, legitimen Public relations und Sponsoring bis hin zu den schlichten Geboten des guten Tons - mit dem Zweck, beim Empfänger Goodwill zu erzeugen. In Deutschland werden viele dieser Aktivitäten vom § 331 StGB (Vorteilsannahme) erfasst, der ja anders als der § 332 (Bestechlichkeit) gerade nicht auf eine bestimmte Gegenleistung des Amtsträgers abstellt.17 Kennzeichnend für diese Art von Korruption oder korruptionsnahen Transfers ist einerseits, dass unabhängig von einem konkreten Erfolg geleistet wird und damit auch der Verlierer im Wettbewerb um die ziahlt. Andererseits lässt sich dieses Phänomen ökonomisch wohl am besten als eine Investition in „Sozialkapital", in einen Zugang zu bestimmten Kreisen modellieren.18 Was das Verhältnis von Korruption und anderen Arten des Rent-seeking anbetrifft (Campos und Giovannoni 2007), dürfte hier Komplementarität vorliegen - man gewährt Vorteile, um Zugang zu Kreisen zu gewinnen, in denen man später LobbyingAktivitäten oder Ähnliches entfalten kann. Die Unterscheidung zwischen Entlastungs- und Belastungskorruption geht auf Pies (2003) zurück.19 Ausschlaggebend ist hier, ob sich der Leistende durch den Korrupti-

17 Man bekämpft das „Geben in der Grauzone" durch zunehmende Verfemung und Verfolgung im öffentlichen Dienst. Die erkennbaren Bemühungen, auch schon den Anschein von Korruption zu vermeiden, sind in dieser Hinsicht symptomatisch für einen in den letzten Jahren eingetretenen Wandel in den formellen und wohl teils auch den ungeschriebenen Regeln in Deutschland. 18 Daraufhaben uns Frans van Winden und Tim Barmby unabhängig voneinander bei Gesprächen auf Tagungen hingewiesen. 19 Vgl. dazu auch Andvig und Fjelstad (2000, S. 17).

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onsakt besserstellt, als er es in einer Referenzsituation mit regelentsprechendem Verhalten der Gegenseite täte - ist dies der Fall, liegt Entlastungskorruption vor, ansonsten handelt es sich um Belastungskorruption. Anders als im Falle der Anfütterungskorruption steht jetzt jedoch ein konkreter „Tausch" von Leistungen bzw. Handlungen im Mittelpunkt. Dabei verkörpert die Entlastungskorruption wohl die landläufige Vorstellung von Korruption: Unternehmer A zahlt dem Beamten B ein Bakschisch, um eine Genehmigung zu erhalten. Im Extremfall stellt die Zahlung - anders als beispielsweise die Aufwendungen für Lobbying - einen reinen Transfer von A an B dar, und weil der Unternehmer mit den höchsten Profiten auch die größte Bestechungssumme zahlen kann, wird bei mehreren As die Genehmigung im Zweifel effizient zugeteilt. Hiermit stehen wir vor der Gretchenfrage bei der Modellierung von Korruption (in Abgrenzung von Lobbying): Erhält der bestechende Klient die Gegenleistung des Agenten? Oder anders gewendet: Bei welchen Formen von Korruption müssen auch die Verlierer zahlen, ebenso wie dies bei Lobbying der Fall ist? Autoren, welche eine formale Analogie zwischen Lobbying und Korruption wünschen (Lambsdorff 2002), müssen auf einer Zahlung auch der Verlierer bestehen, während eine formal unterschiedliche Modellierung (Besley 2006, diese Arbeit) voraussetzt, dass der Bestechende sein quid pro quo erhält.20 Dazu bleibt zunächst zu sagen, dass korrupte Tauschverhältnisse aufgrund ihrer Illegalität und Intransparenz notorisch durch Selbstbindungsprobleme geprägt sind (Beckmann und Gerrits 2007). Und in der Tat enthält Lambsdorffs (2007) Monographie etliche Beispiele, in denen der Klient zwar zahlt, aber der Agent nicht leistet. Ebenso weist schon unsere Gliederung in der Tabelle 1 Formen der Korruption auf, bei denen auf jeden Fall alle beteiligten Klienten zahlen, nämlich die Anfütterung. Eine Aussage, dass Bestechungszahlungen in jedem Fall mit konkreten Gegenleistungen verbunden sind, erwiese sich in der Tat als unrichtig. Nach unseren Kriterien wäre freilich der betrügerische Fall, in dem der Agent eine versprochene Leistung an den Klienten unterlässt,21 als Belastungskorruption einzustufen: Hier stellt sich der Klient schlechter als in der Referenzsituation, und ob ihn der Agent von Anfang an nötigt oder zuerst lockt, der Klient wird immer darauf aus sein, den Agenten zu sanktionieren. Entlastungskorruption unserem Sinne setzt also deflatorisch voraus, dass die Verlierer nicht zahlen. Verbleibt die Frage, wie bedeutsam eine so definierte Entlastungskorruption denn materiell ist. Jedenfalls ist ein Betrug des Klienten durch den Agenten nicht gleichgewichtig, es sei denn, er werde mit einem Element der Erpressung verknüpft. Und wo Selbstbindungsprobleme bestehen, bestehen auch Anreize für die Beteiligten, kreative Lösungen zu implementieren.22 Die chinesischen Guanxi-Netzwerke bieten dafür ein gutes Beispiel (Luo 2002; Schramm und Taube 2001). Schließlich erscheinen uns Listen 20 Daneben bestehen noch weitere wichtige Unterschiede. Beispielsweise werden die Empfänger ceteris paribus eine Geldzahlung einem Sachtransfer, einen Transfer an sich selbst einer Begünstigung verbundener Dritter regelmäßig vorziehen. Reine Transfers (Bestechungszahlungen) weisen nur einen Einkommenseffekt auf und fuhren auf der Empfängerseite nicht zu einer Substitution von Aktivitäten - wird dagegen bei Lobbying ein Anwalt beschäftigt, so geht der Gesellschaft verloren, was dieser alternativ produzierte (siehe auch Fußnote 55). Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Erhalt der Gegenleistung zentral für die formale Modellierung unseres Problems. 21 Notabene: Dies stellt keinen Fall der Anfütterung dar, da die Bestechung auf ein quid pro quo abzielt. 22 Beispiele bieten etwa Schelling (2007) oder - auf Lehrbuchniveau - Dixit und Nalebuff (2008).

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von Beispielen mit enttäuschten Klienten wie die bei Lambsdorff (2007) aufgrund eines Selektionsproblems wenig verlässlich: Wegen der beschriebenen Anreize des Klienten bei Belastungskorruption und der fehlenden Gleichgewichtseigenschaften einer „Betrugslösung" dürfte die Entdeckungswahrscheinlichkeit höher sein als bei Entlastungskorruption. Damit landen solche Fälle dann eher auf dem Schreibtisch des Fallbeispiele suchenden Sozialwissenschaftlers, während man von den erfolgreichen, Klienten wie Agenten befriedigenden Korruptionsakten tendenziell weniger hört. Zusammenfassend ist Entlastungskorruption nach unserer Abgrenzung durch vier Merkmale geprägt: — Verlierer zahlen nicht (anders als beispielsweise beim Lobbying), und deshalb — neutralisieren sich Bestechungsangebote konkurrierender Bieter nicht gegenseitig (anders als bei Modellen des Rent-seeking, die auf einer contest success function aufsetzen, siehe allgemein Hirshleifer 2001 und für eine Anwendung Lambsdorff2002). — Der Bestochene erhält Ressourcen, die er frei verwenden kann23 und daher im Allgemeinen zweckgebundenen Transfers von Mitteln (etwa Wahlkampfbeiträgen) vorzieht. — Bestechenden und Bestochenen eint ein gemeinsames Interesse an der erfolgreichen Durchführung der Tat. Das vierte Merkmal grenzt die Entlastungs- von der Belastungskorruption ab, bei welcher der Täter eine regelgerechte Lösung vorzöge. Der klassische Fall ist hier der korrupte Steuerbeamte, welcher einem Steuerpflichtigen droht, seinen Fall bei Ausbleiben eines Schweigegeldes (unrichtig, aber eine Grauzone ausnutzend) als Steuerhinterziehung zu ahnden (Hindriks et al. 1999). Das Opfer einer solchen Erpressung wird dadurch zum natürlichen Verbündeten der Fahnder, weshalb erfolgreiche Belastungskorruption spieltheoretisch die Kollusion des Bestochenen mit seinen Vorgesetzten voraussetzt (Mishra 2006). Die ersten drei Merkmale dagegen unterscheiden Entlastungskorruption von legalem Lobbying und legen nahe, dass die geläufige Praxis, Korruption wie Rent-seeking zu modellieren {Lambsdorff 2002), zumindest als fragwürdig gelten muss. Wir werden im nächsten Unterabschnitt unser eigenes alternatives Modell umreißen, doch sollen zuvor die Spalten der Tabelle 1 diskutiert werden.

Gegenstände von Korruption Korruption kann grundsätzlich auf jedes Verhalten eines Agenten gerichtet sein, das dessen Vertrag mit einem Prinzipal zuwiderläuft, umfasst also eine Vielzahl verschiedener Tatbestände. Gleichwohl glauben wir, dieses Terrain mit den vier Hauptkategorien aus den Spalten der Tabelle 1 arrondieren zu können. „Selektion" meint die Zuweisung von Rechten bzw. Vergabe des Zugangs zu Renten, eine Kategorie, die von der Einstellung eines Arbeitnehmers - zu einem Lohn über dem Reservationspreis des Arbeitsanbieters - über die Vergabe von Lizenzen bis hin zur Gewährung eines Monopolrechts reicht. Die meisten Fälle, die man landläufig mit Kor23 Grenzen erwachsen aus der Notwendigkeit, eine Entdeckung zu vermeiden und daher u.a. auf allzu auffälligen Konsum zu verzichten - einer Art Transaktionskosten.

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ruption verbindet, dürften dieser Kategorie zuzurechnen sein, und sie ist es auch, bei der man Lobbying und Korruption als alternative Instrumente des Rent-seeking betrachten muss. Die primären Wohlfahrtsverluste einer solchen Selektionskorruption bestehen aus dem typischen „Harberger-Dreieck" eines Monopols, können also, wenn es um die Vergabe eines Lumpsum-Vorteils geht, auch Null werden. Möglicherweise ist die Vergabe solcher Lizenzen jedoch mit mengenabhängigen externen Kosten verbunden - ein klassisches Beispiel scheint uns die Betonierung der Costa Brava durch immer mehr Ferienhäuser zu sein. In diesem Fall kann Korruption, indem sie die gleichgewichtige Menge der fraglichen Aktivität reduziert, gegenüber einer Situation ohne Berücksichtigung der Externalitäten sogar wohlfahrtsüberlegen sein! Im Hintergrund steht die alte Idee, dass ein Angebotsmonopol unter bestimmten Bedingungen auch „gut für die Umwelt" sein kann. „Qualitätskorruption" oder besser Qualitätssenkungskorruption liegt vor, wenn ein Anbieter einen Agenten besticht, um eine Regulierung zu umgehen. Im Gegensatz zu dem Costa-Brava-Problem, bei dem negative Externalitäten von der Anzahl der vergebenen Genehmigungen abhingen, entstehen hier negative Wirkungen, möglicherweise Internalitäten, welche von der Qualität des Gutes abhängen - ein gutes Beispiel bildet das massenweise Einstürzen von Häusern infolge eines Erdbebens in der Türkei, die von Bauunternehmern unter Verzicht auf teure Sicherungsmaßnahmen gebaut und von korrupten Beamten als erdbebensicher abgenommen worden waren.24 Wie noch zu begründen sein wird, wirft diese Kategorie von Korruption erheblich größere analytische Probleme auf als die Selektionskorruption, weil in diesem Fall die Nachfrage nach Genehmigungen (der Anzahl) variabel ist. Das ist wieder anders beim sogenannten „Speed money", also der Bestechung, welche nicht eine Änderung der materiellen Entscheidung des Agenten, sondern eine Beschleunigung des Entscheidungsprozesses bezweckt. Arbeitete der Agent ohne Bestechung entsprechend der im Vertrag mit seinem Prinzipal vereinbarten Normleistung und beruhte die Beschleunigung ausschließlich auf einer Erhöhung der Anstrengung über das vorgeschriebene Niveau hinaus und auf Überstunden, so wäre gegen „Speed money" als Leistungsentgelt kaum etwas zu sagen. Je mehr die Beschleunigung durch Verdrängung der Dienstleistungen für Nichtzahler zustande kommt, desto näher liegt „Speed money" freilich an der Selektionskorruption. Und schließlich können die Agenten dazu neigen, ihr Anstrengungsniveau ex ante zu reduzieren, um so die Zahlungsbereitschaft für eine Beschleunigung des Verfahrens zu erhöhen. Dieses Verhalten wäre nach unserem Schema als eine Form der Belastungskorruption zu klassifizieren. Schließlich tritt Korruption noch in Verbindung mit anderen Straftaten auf, sei es, dass der Bestechende sich Hilfe bei der Verdeckung der Straftat erkaufen will, sei es, dass ein Agent einem Täter eine Strafverfolgung bzw. eine härtere Strafe androht, wenn nicht gezahlt wird.

24 Wir verdanken dieses Beispiel einem Vortrag von Ingo Pies, der dies allerdings zur Illustration der negativen Wirkungen von Korruption allgemein verwendet.

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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2. „Grease" oder „Sand"? - Ein erster Blick auf die Kosten der Korruption Nach den begrifflichen Klärungen sind wir nun in der Lage, die sozialen Kosten der Korruption genauer zu fassen. Wir beginnen dazu mit dem einfachen Costa-Brava-Fall eines rein mengenabhängigen Schadens bei Selektionskorruption des Agenten, wie ihn die nachfolgende Abbildung 1 darstellt.25 Darin ist auf der Abszisse die Zahl genehmigter Lizenzen L, auf der Ordinate der entsprechende marginale Ertrag und die marginalen Kosten abgetragen. Die Zahlungsbereitschaft der Unternehmer (WTP) für Lizenzen nimmt an der Grenze aus naheliegenden Gründen ab, während wir andererseits unterstellen, dass die Vergabe von Lizenzen mit keinerlei Kosten verbunden sei. Ein profitmaximierender Beamter wird dann - sofern er keine Möglichkeit zur Preisdifferenzierung hat - die klassische Monopollösung L realisieren und ein Bakschisch b pro Lizenz fordern. Bliebe es dabei, so entstünde durch Korruption im Vergleich mit der First-BestLösung ein Wohlfahrtsverlust in Höhe des Dreiecks unter der WTP-Kurve rechts von L („Harberger-Dreieck"), verglichen mit einer ordnungsrechtlichen Prohibition - zu der Politiker ja immer gerne greifen - wäre freilich ein Wohlfahrtsgewinn in Höhe der Konsumentenrente bis L zuzüglich der Bestechungsgelder b L zu verzeichnen. Entstehen dagegen mengenabhängige marginale externe Kosten einer Erteilung von Lizenzen, so fallen die Kosten der Korruption relativ zur Laissez-faire-Lösung, und sofern das soziale Optimum Lopt links von L liegt (was bei entsprechender Höhe der marginalen externen Schäden - exogen bedingt! - geschehen kann), ist die Korruptionslösung aus einfacher Wohlfahrtssicht besser als diese. Abb. 1: Wohlfahrtsverlust durch Selektionskorruption € *

Externe Grenzkosten

\

:

L* \

\

Lopt

Marg. WTP

Lizenzen

\ Grenzertrag

25 Ahnliche grafische Darstellungen finden sich bei Rose-Ackerman (1998).

(1978) oder Shleifer und Vishny

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Klaus Beckmann und Carsten Gerrits

Aus diesem Argument folgern wir dreierlei: — In der Tat besteht die theoretische Möglichkeit, dass bestimmte Formen von Korruption unter bestimmten Bedingungen nur einen geringen Schaden verursachen bzw. sich gar als förderlich für die soziale Wohlfahrt erweisen. Dies ist das bekannte Argument, Korruption könne das Rad der Bürokratie schmieren und damit vorteilhaft für Investitionen und Wachstum sein. — Ganz klar aber handelt es sich dabei nicht um eine erstbeste Lösung, denn L0pt wird immer mindestens so gut sein wie L*. Ferner kann in L* auch kein zweitbestes Optimum vorliegen: An dieser Stelle ist nämlich das Verhältnis von marginalem externem Schaden zu marginalem Ertrag (der aus den Bedingungen erster Ordnung für das Kalkül des Bürokraten an dieser Stelle Null wird) unendlich. Derlei Lösungen widersprechen offenkundig der Grundidee, dass in einem zweitbesten Optimum der marginale Schaden bei einer Variation jedes beliebigen Instruments gleich sein muss. — Infrage kommt Korruption damit allenfalls als drittbeste Lösung. Unsere Diskussion illustriert auch, welche Bedingungen dafür vorliegen müssen: Eine Verbesserung verspricht Korruption besonders im Vergleich zu einer Prohibitionslösung (dem Ursprung in der Abbildung 1) oder einer Abstinenzlösung (komplettes Laissez faire). Es käme also darauf an, dass die gesellschaftlichen Institutionen, der Ordnungsrahmen, fehlerhaft sind. Genau hier knüpft die empirische Literatur zur Frage des „Grease" versus „Sand" an, die in jüngster Zeit eine gewisse empirische Relevanz für die Grease-Theorie für Länder mit völlig unzureichenden Institutionen und alles in allem einen möglichen invers-uförmigen Zusammenhang zwischen der Intensität von Korruption und dem Wirtschaftswachstum findet (siehe Abschnitt II. und vgl. Meon und Weill 2008). Auch wenn selbst in entwickelten Ländern viele Politiker lieber zum Ordnungsrecht als zu marktlichen Steuerungsmechanismen greifen,26 liegt in den OECD-Staaten vermutlich kein Grund vor, auf Korruption zur „Schmierung" bürokratischer Prozesse zu setzen. Bei unserem Thema aber geht es um die Bekämpfung von Armut, und damit rücken Entwicklungsländer in den Mittelpunkt, denen man nicht ohne Weiteres unterstellen kann, dass bei ihnen die Bedingungen für eine Vorteilhaftigkeit von Korruption fehlen. Das Regelinteresse der Unternehmen richtete sich hier auf eine Ordnungsreform in Verbindung mit Korruptionsbekämpfung. Ist ersteres (politökonomisch) nicht zu haben, kann es sich auch aus konstitutioneller Sicht für Unternehmen (wie für die Gesellschaft insgesamt) empfehlen, auf letzteres zu verzichten. Was die Abbildung 1 allerdings nicht darstellt, ist der Fall der Qualitätskorruption. Denn in der partialanalytischen Abbildung 1 müsste eine Verbilligung der Nutzung von Lizenzen, bedingt durch eine Verringerung der internen Produktionskosten, eine Rechtsverschiebung der Nachfragekurve bewirken. Für sich genommen (bei gleichen marginalen Schäden in Abhängigkeit von der Zahl der Lizenzen) führt die Einführung von Qualitätskorruption damit sowohl zu einer Erhöhung von L als auch zu einer Steigerung von Lopt, wobei die Veränderung der Lücke zwischen beiden auch von der Elastizität der externen Grenzkostenkurve abhängt und nicht eindeutig bestimmt werden 26 Wobei den Politikern altsässige Unternehmen, die ihre Renten am Markt gegenüber Markteintritten oder einer Substitutionskonkurrenz sichern wollen, recht gerne sekundieren.

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kann. In jedem Fall wird sich das „Harberger-Dreick" ebenso vergrößern wie Summe aus Rente der Unternehmer und Bestechungssumme. Eine Konstanz der Grenzschadenskurve anzunehmen, erscheint freilich bei Qualitätskorruption abwegig. Vielmehr wird sie sich gemeinsam mit der Nachfragekurve wenn auch höchstens zufallig in gleichem Ausmaß - nach oben verlagern.27 Durch diese Bewegung steigen offensichtlich unter sonst gleichen Umständen die sozialen Schäden der Korruption. Auch wenn der Gesamteffekt nicht allgemein bestimmt werden kann und die Ermittlung des Vorzeichens eine formale Analyse mit konkreten Funktionsverläufen voraussetzte, verdeutlicht diese Diskussion doch, dass der in der Literatur meist diskutierte Fall der Selektionskorruption nicht sämtliche Aspekte des Problems erfasst. Schließlich liegt ein Mangel der bestehenden Modelle darin, dass es sich um reine Partialanalysen handelt (diese Kritik auch bei Kaufmann und Wei 1999). Ein mathematisch-formales Totalmodell müsste zumindest auch Wechselwirkungen mit anderen Märkten erfassen - etwa solchen, auf denen keine Lizensierung erforderlich ist und daher wettbewerbliche Bedingungen herrschen, oder aber unter Verwendung eines Modells monopolistischer Konkurrenz. Eine solche Totalanalyse unter Abbildung verschiedener in der Tabelle 1 dargestellten Typen und Gegenständen von Korruption liegt unseres Wissens noch nicht vor. Sie sei aus Platzgründen einem nachfolgenden Beitrag überlassen. Formal analysiert werden soll hier indes eine andere Frage: das Verhältnis von Korruption zu legalen Formen des Rent-seeking, dem wir uns nun zuwenden.

3. Korruption vs. Lobbying Schon eingangs dieser Arbeit haben wir hervorgehoben, dass Korruption nur eine Form von Rent-seeking darstellt - als Alternative kommt insbesondere Lobbying infrage, also die Einflussnahme durch legale Transfers von Ressourcen oder Bereitstellung (selektiver) Informationen, geschehe dies individuell oder kollektiv durch Beteiligung an einer Interessengruppe. Die Existenz solcher anderer Möglichkeiten der Einflussnahme wirft hauptsächlich zwei Fragen auf: — Handelt es sich um Substitute oder Komplemente? Wird, mit anderen Worten, eine Verteuerung korrupter Aktivitäten zu einer Vermehrung von Lobbying fuhren oder nicht? — Wie hoch sind die marginalen sozialen Kosten von Lobbying im Vergleich zu den oben angesprochenen Kosten der Korruption? Denn überwiegen die Erstgenannten, wäre ein Kampf gegen Korruption nicht wohlfahrtssteigernd - und selbst bei einer geringfügigen Differenz zugunsten des Lobbying hätte man noch die marginalen Durchsetzungskosten zu berücksichtigen.

27 Will man dies modellieren, so muss sorgfaltig geklärt werden, wodurch genau die externen Schäden entstehen. Greifen wir das Beispiel mit den vermeintlich erdbebensicheren Häusern in der Türkei auf, so sind es ja zunächst die Kunden der Bauunternehmer (Interne), welche den Schaden erleiden. Damit solche Schäden zu externen Effekten mutieren, bedarf es zumindest eines Problems asymmetrischer Information verbunden mit Schwierigkeiten im Haftungsrecht, also auch wieder unvollkommener Institutionen.

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Substitute oder Komplemente? Aus theoretischer Warte lassen sich leicht Argumente in beide Richtungen finden. Auf den ersten Blick erscheint es natürlich, von einer substitutiven Beziehung auszugehen, wie sie auch den meisten formalen Modellen von Korruption und Lobbying zugrunde liegt. Danach entscheidet sich ein Klient unter Berücksichtigung der erwarteten Nutzen und Erträge, ob (und inwieweit) er über einen der beiden Kanäle Einfluss auf den Agenten nehmen will. In einem anderen Ansatz gehen Harstad und Svesson (2006) davon aus, dass sich Lobbying primär auf die Regelebene (das Schaffen günstiger Gesetze), Korruption dagegen auf die Handlungsebene (das Nichtdurchsetzen von Gesetzen durch die Bürokratie) richtet. Auch hier erwiesen sich die beiden Kanäle als Substitute. Andererseits wird argumentiert, Lobbying könne im politischen Prozess dazu dienen, günstigere Voraussetzungen für Korruption - etwa durch eine Verringerung der Strafmaße oder eine geringere Mittelausstattung der Strafverfolgungsbehörden - zu schaffen (Damania et al. 2004). Und auch die Vorstellung von der „Anfütterungskorruption" als einer Investition in den Zugang zu Bürokratie und classe politique führt zu Komplementarität zwischen legalem und illegalem Rent-seeking. Damit verbleibt eine empirische Frage, zu der bislang wenige Arbeiten mit gemischten Ergebnissen vorliegen. Kaufmanns und Weis (1999) Resultat, dass Führungskräfte solcher Unternehmen, die höhere Bestechungszahlungen leisten, auch mehr Zeit in Verhandlungen mit Bürokraten zubringen, ist wegen der fehlenden Isolierung von Skaleneffekten für diese Frage nicht aussagekräftig. Jüngst haben Campos und Giovannoni (2007) eine Arbeit vorgelegt, in der sie auf der Grundlage eines neuen Datensatzes mit Befragungen auf der Firmenebene in 25 südost- und osteuropäischen Ländern Substitutionalität zwischen Lobbying (definiert als Mitgliedschaft in Unternehmensverbänden) und Korruption finden. Allerdings fuhrt die Auswahl der Länder in dieser Studie womöglich zu Problemen. Zur Illustration unserer Bedenken plotten wir in der nachfolgenden Abbildung 2 das Pro-Kopf-Sozialprodukt (in Kaufkraftparitäten, 2004er OECD-Zahlen) an der Abszisse gegen den Corruption Perception Index von Transparency International (Werte für 2006) an der Ordinate und den Anteil der Bevölkerung, die Mitglied in einer professionellen Organisation sind (eigene Durchschnittsbildung auf dem World Values Survey mit Daten von 2000 bis 2002) als Fläche der Datenpunkte. Gelbe Datenpunkte sind afrikanische Länder, blaue OECD-Staaten. Der Abbildung 2 lässt sich die bekannte negative Korrelation von Korruption und Sozialprodukt entnehmen.28 Was unseren Indikator für Lobbying-Tätigkeit anbelangt,29 erscheinen die Dinge nicht so eindeutig: Zwar scheint Lobbying ab einer bestimmten Schwelle (knapp 10.000 US-$ PPP) tatsächlich mit dem Wohlstand zu wachsen (und

28 Für Leser, die mit der Literatur nicht vertraut sind, sei der Hinweis erlaubt, dass höhere Werte des Korruptionsindex mit einem niedrigeren wahrgenommenen Niveau an Korruption einhergehen. Der Idealwert ist 10. 29 Man kann diesen mit Fug und Recht kritisieren, doch entspricht er dem Grundansatz von Campos und Giovannoni (2007), Lobbying über die Mitgliedschaft in Interessengruppen zu erfassen, nur dass er in unserem Fall auf einer Befragung von Einzelpersonen und nicht von Unternehmen beruht.

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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uno actu negativ mit dem Ausmaß wahrgenommener Korruption korreliert zu sein), doch zeichnen sich gerade die ärmsten Länder wieder durch einen höheren Wert des Lobbying-Indikators aus. Die der Datenlage geschuldete Konzentration auf die Länder in Südosteuropa, Osteuropa und in der ehemaligen Sowjetunion bei Campos und Giovannoni (2007) blendet damit vielleicht eine notwendige Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen von Ländern aus. Womöglich ist bei den ärmsten Ländern etwa in Afrika - Lobbying tendenziell eher ein Komplement für Korruption als anders-

Abb 2:

TI-Korruptionsindex versus Sozialprodukt pro Kopf und Mitgliedschaft in professionellen Organisationen

10.00" 9,00e.oo-

®

•0s®

7.008,005,00-

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Quelle: eigene Darstellung mit Daten der OECD, 77 und des WVS Dies zu untersuchen setzte zunächst die Entwicklung eines Datensatzes für alle Länder voraus und würde zudem eine Verbesserung des Indikators für LobbyingAktivitäten verlangen. Selbst dann bliebe die Analyse von Querschnittsdaten nur ein erster Schritt - immerhin geht es uns in den Worten Mitras (2005, 3) darum zu erfahren, „what happens to corruption when a poor Bangladesh becomes a rich Bangladesh, and not when Bangladesh becomes U.S.A.". Da unser gegenwärtiges Interesse vorwiegend der Systematik und theoretischen Lücken gilt, lassen wir diese Frage offen und wenden uns nun der Modellierung von Korruption und Lobbying zu.

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Klaus Beckmann und Carsten Gerrits

Zu einem theoretischen Modell von Korruption und Lobbyismus Korruption und Lobbying gemeinsam zu untersuchen ist nicht neu. Ebenso wenig neu ist der Hinweis, dass (bestimmte Formen von) Korruption einen reinen Transfer darstellen (Besley 2006), während legales Rent-seeking mit sozialen Kosten verbunden ist (Beckmann und Gerrits 2007).30 Beiträge wie die von Lambsdorff (2002) oder Wintrobe (1998) setzen sich kritisch mit der These auseinander, Korruption könne ein sozial weniger kostspieliges Instrument zur Verfolgung von Individualinteressen darstellen als Lobbying, und finden eine Reihe von beachtlichen Argumenten gegen diese These. Doch dabei werden Korruption und Lobbying meist formal als Analoga modelliert, oder wie Campos und Giovannonis (2007) formulieren: In many models, e.g. Grossman and Helpman (2001), lobbying is modeled as monetary transfers from lobbyists to politicians and these transfers could equally be interpreted as campaign contributions or bribes.

Lambsdorff (2002) verwendet ein klassisches Rent-seeking-Modell mit einer Contest success function, bei der die Wahrscheinlichkeit sich durchzusetzen dem Verhältnis der eigenen Aufwendungen für Rent-seeking - ggf. zur Abbildung von Skalenerträgen potenziert mit einer Konstanten - zur Summe solcher Aufwendungen in der Gesellschaft entspricht.31 Eine implizite Annahme solcher Modelle ist, dass auch die Unterlegenen zahlen. Hauptkonkurrent dieses Ansatzes ist eine Modellierung von Rent-seeking als Auktion, wobei meist eine sogenannte All-pay-Auktion zum Einsatz kommt.32 Wie der Name schon sagt, zahlen die Unterlegenen auch hier. In seiner Einführung in die einschlägige Theorie weist Steiglitz (2007, S. 203-204) wie folgt auf Korruption und Lobbying hin: To see why one might want to consider alternative auction forms, here is an example of an auction that is quite different from the four standard one, but nevertheless of some practical interest. Candidates running for political office must decide how much to spend on their campaigns. We can consider this an auction, the single item being the political office, and with one winner. However, the winner [sic!] does not get a refund after the election; everyone who bids must pay. This kind of auction is called an all-pay auction. The same kind of auction models lobbying activity (Krishna 2002), and also bribery, for that matter [unsere Hervorhebung],

Dieser Mangel an Differenzierung erscheint uns bedauerlich, zumal die Kategorisierung von Formen und Gegenständen der Korruption im Unterabschnitt 1 suggeriert, noch nicht einmal alle Korruptionsphänomene einheitlich zu modellieren. Zwei Aspekte scheinen uns bedenkenswert: — Definitorisch wird für Lobbying Legalität verlangt. In allen uns bekannten Rechtssystemen schließt dies den direkten Tausch von Gegenleistung des Klienten und Maßnahme des Agenten aus. Die möglichen indirekten Instrumente sind jedoch da-

30 Die klassische Sicht der (negativen) Wirkung von Rent-seeking allgemein auf den Wohlstand der Nationen ist auf Olson (1982) und Tullock (2005) zurückzuführen. Zimmermann und Horgos (2007) nutzen Längsschnittdaten über das Niveau der Lobbying-Aktivitäten beim deutschen Bundestag, um die retardierende Wirkung von Lobbying auf das Wirtschaftswachstum ökonometrisch zu bestätigen. 31 Als einziger uns bekannter Beitrag stellt Fang (2002) Lobbying-Modelle auf der Grundlage einer Contest success function (er nennt dies das „Lotteriemodell") und einer All-pay-Auktion (AP) vergleichend gegenüber. 32 Ein Beispiel ist Lien (1990), für einen Überblick zu den möglichen Ansätzen siehe Epstein und Nitzan (2007).

Armutsbekämpfiing durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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mit verbunden, dass auch der Unterlegene zahlt („loser pays")33 und sich die Anstrengungen der verschiedenen Bewerber zumindest zum Teil neutralisieren. Während dies auch für Bestechungsversuche gelten kann, bleibt der Tausch, bei dem nur der Gewinner zahlt, auf Korruption beschränkt. — Der Agent wird direkte Zahlungen ceteris paribus mindestens ebenso schätzen wie indirekten Ressourcenaufwand des Klienten, und in den allermeisten Fällen wird er sie strikt präferieren. Selbstverständlich gilt es danach u.a. zu berücksichtigen, dass Täter bei Korruption Ressourcen aufwenden müssen, um die Geheimhaltung zu gewährleisten, während die Beteiligten an Lobbying-Anstrengungen darauf verzichten können (zumindest, was die Abwendung von Strafverfolgung anbelangt - der neugierigen Presse mag man manches vielleicht doch nicht zugänglich machen wollen).34 Gleichwohl halten wir es für wertvoll, zunächst die beiden genannten fundamentalen Unterschiede abzubilden. Dabei leistet ein Auktionsmodell gute Dienste. Wir führen hier ein neues Auktionsmodell ein, in welchem wir Korruption als eine Sealed-Bid-First-Price-Auktion (SBFP) abbilden und dies mit einer All-pay-Auktion (AP) zur Modellierung von Lobbying in einem Spiel verbinden. Dazu betrachten wir den Fall der Selektionskorruption und des alternativen Lobbying mit n Klienten, welche an einer einzelnen und unteilbaren Lizenz interessiert sind. Die Zahlungsbereitschaft jedes Klienten werde gemäß der Verteilung flv) zufällig bestimmt - die kumulative Dichtefunktion sei F(v) - , wobei flv) selbst jedermann bekannt, das konkrete v* jedoch privates Wissen des Individuums k sei.35 Die Lizenzen seien unter der Kontrolle eines monopolistischen öffentlichen Sektors, dessen Entscheidung sowohl durch die Zahlung eines Bestechungsgeldes b (Korruption) als auch durch die Aufwendung von Ressourcen für Lobbying r beeinflusst werden könne. Diese Einflussnahme bilden wir als Kombination zweier Auktionen ab, nämlich einer „herkömmlichen" SBFP und einer AP. Konkret analysieren wir ein Spiel mit folgenden Regeln: — Alle n Klienten (Bieter) legen simultan ein Gebot für die SBFP, ein Bestechungsgeld b(v) in Abhängigkeit von ihrer Valuierung v der Lizenz, und LobbyingAufwendungen in der AP r(v) fest. — Dabei nehmen sie die Strategien (Bietfunktionen) der übrigen Spieler, die wir mit den entsprechenden griechischen Buchstaben als ß(v) bzw. p(v) bezeichnen, als gegeben. In einem jVos/¡-Gleichgewicht wird folglich b(') = /?(•) und r(») = p(') gelten.36 — Nach Abgabe der Gebote fliegt die Bestechung mit der exogenen Wahrscheinlichkeit p auf. Ist dies der Fall, so erhält der Meistbietende die Lizenz nicht und muss ein Vielfaches s seiner gebotenen Bestechungssumme b als Strafe zahlen. Ansonsten 33 Das klassische Beispiel stellen Beiträge zum Wahlkampf oder - in Deutschland - Parteispenden dar. Doch auch bei typischen anderen Lobbying-Aktivitäten wie Antichambrieren in den Korridoren des Leviathan, PR und Informationspolitik kann die eigene Aufwendung verloren gehen. 34 Diese Faktoren könnte man etwa über eine Koiruptionskostenfunktion analog zur Modellierung von Steuerhinterziehung berücksichtigen. Siehe dazu Beckmann (2003, Kapitel 4). 35 Bei sicheren und allseits bekannten Payoffs weisen solche Auktionen im Allgemeinen kein Gleichgewicht in reinen Strategien auf. 36 Zu der Technik der Ableitung gleichgewichtiger Bietfunktionen in Auktionen siehe die Übersicht bei Steiglitz (2007, Appendix A).

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fallt ihm die Lizenz zu, und das Bakschisch b wird fallig. Unterlegene Bieter zahlen lediglich ihr Gebot in der AP r. — Wird die Korruption aufgedeckt, so wird die Lizenz durch Lobbying (die AP) vergeben, wobei der enttarnte Täter sich nicht mehr beteiligen kann. Vielmehr erhält der Höchstbietende unter den verbliebenen Klienten den Zuschlag. — Alle Spieler sind risikoneutral und es herrscht common knowledge of rationality.

Lösung unseres Auktionsmodells Zur Lösung dieses Modells nutzen wir ein Standardresultat der Auktionstheorie, nämlich dass die Bietfunktionen strikt monoton in den Wertschätzungen sind (Steiglitz 2007). Damit wird der Klient, welcher das höchste Gebot in der SBFP macht, auch in der AP das höchste Gebot abgeben und bei Entdeckung ausscheiden. Wird Korruption entdeckt, erhält den Zuschlag folglich der Zweitbietende. Damit können wir den Erwartungsnutzen eines Bieters schreiben als:37 E u

=

+

F ( ß -

p (

n

1

( b ( v ) r ( ( l X v - b ( v ) ) - p s b ( v ) )

~~ 1 ) ( f ( p ~ ' ( r ( v ) ) ) ° ~

l

2

~~ f ( p ~ ' ( r ( v ) ) ) " ~ 1 ) v -

r

_I

Dabei ist F(ß" (b(v))^ die Wahrscheinlichkeit, mit der Bietfunktion b(v) das Höchstgebot abzugeben, wenn die anderen Spieler sich entsprechend /?(•) verhalten, und F(ß-'(b(v))r2-F(p-'(r(v)r die Wahrscheinlichkeit für die Abgabe des zweithöchsten Gebots.38 Leiten wir den Ausdruck (1) nach den skalar interpretierten b und v ab, setzen diese Ableitung gleich Null und berücksichtigen dabei, dass F'(') =ß') und im Gleichgewicht 1

fa-iVV

}

M

T

W

]

1

b'

ist (analog für p), so erhalten wir als Bedingungen erster Ordnung für ein optimales Bietverhalten: ((l-pXv-b)-psbXn-l)f(.)F(.r2 1 j

(i-P+Ps)F(.r r' =

v p ( n -

l)((n -

2 ) f ( . ) " -

3

f ( . ) - (n -

W

f

(•))

(3)

Diese beschreiben je eine gemischtpartielle Differentialfunktion ersten Grades, die wir durch Integration lösen können. Zur Veranschaulichung der Ergebnisse bietet es sich allerdings an,_/(v) zu spezifizieren, und an dieser Stelle genügt die einfachste Variante, nämlich eine Gleichverteilung über das Einheitsintervall [0,1], sodass , . fl wenn 0 < v < 1 f(v) = 0 sonst 37 Wir unterdrücken Indices für Individuen, da in diesem Kontext keine Gefahr einer Mehrdeutigkeit besteht. 38 Ein Exponent (-1) repräsentiert dabei die Umkehrfunktion.

Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption: eine Rolle für Unternehmen?

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und F(v) = v. Damit kommen wir zu den nachfolgenden Ergebnissen für unterschiedliche Anzahlen von konkurrierenden Klienten. (a) n = 2: „Abwarten und Bestechen " Als Ausgangspunkt kann der Fall mit nur zwei Klienten dienen, der sich auch ohne Rückgriff auf eine Lösung der Gleichungen (2) und (3) klären lässt. Denn bei nur zwei Klienten wird der überlebende Bieter sich auf jeden Fall durchsetzen, weshalb es sich für den Zweitplatzierten nie lohnen würde, ein p > 0 zu bieten. Auch für den Fall, dass man selbst die höchste Zahlungsbereitschaft aufweist, sind positive LobbyingAnstrengungen nicht sinnvoll: Entweder die Bestechung hat Erfolg und Lobbying bleibt ohne irgendeine Wirkung, oder man selbst scheidet aus dem Rennen aus. Daher kommt es zu einer Randlösung, in der sich keiner der beiden Klienten am Lobbying beteiligt und beide ein Bestechungsgeld analog zu einer normalen SBFP offerieren, also b(v) = 1/4 v (Steiglitz 2007). (b) n> 2: Substitutionalität von Korruption und Lobbying Für eine Gleichverteilung lassen sich die Gleichungen (2) und (3) recht leicht lösen. Setzen wir die Integrationskonstanten jeweils gleich Null, so erhalten wir: M v ) > + n(l-p)-l)v (4) n(l + p ( s - l j ) r(v) = p

n-2 V

V

,2 N (l - n )

V"

(5)

Ableiten von (4) nach p, s und n ergibt eindeutige und wenig überraschende Ergebnisse: Eine Erhöhung der Strafe führt ebenso zu einer Senkung des Bestechungsgeldes wie eine größere Entdeckungswahrscheinlichkeit. Beteiligen sich mehr Akteure an der Auktion (steigendes n), so erhöht sich die Wettbewerbsintensität und Teilnehmer werden veranlasst, mehr zu bieten - ein Standardergebnis der Auktionsliteratur. Was Gleichung (5) anbelangt, so ist das Vorzeichen des Ausdrucks in den großen Klammern nicht eindeutig. Sofern aber eine positive Lobbying-Anstrengung optimal ist (es folglich zu keiner Randlösung kommt), nimmt r ceteris paribus mit der Entdeckungswahrscheinlichkeit p zu, während eine Erhöhung der Strafe keinen Einfluss hat. Die Intuition hinter diesem Resultat ist klar: Wächst p, so verringert sich der erwartete Ertrag der Bestechung, doch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, als Zweitbietender in der AP zum Zuge zu kommen. Eine Verschärfung der Strafe s dagegen senkt den erwarteten Ertrag von Korruption, ohne sich auf den Ertrag der Alternative auszuwirken.

Diskussion Unser kleines Modell bildet die Substitutionalität von Korruption und Lobbying in einer kombinierten Auktion ab und stellt nach unserer Kenntnis das erste derartige Auktionsmodell des Rent-seeking dar. Ein interessantes Merkmal dieses Modells ist die Asymmetrie von Korruptionsaufklärung und -bestrafung: Während jene insoweit mit Kosten verbunden ist, als Bestechung durch (andere) DUP-Aktivitäten substituiert wird, vermag diese, Korruption ohne Nebenwirkungen zu senken. Bedenkt man zudem, dass

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Fahndungsanstrengungen Ressourcen verbrauchen, während zumindest Geldstrafen weitgehend ohne soziale Kosten verhängt werden können,39 drängt sich eine Politikimplikation auf: Fahndungsanstrengungen sind unter Verschärfung der Strafen zu reduzie40 ren. Eine mögliche Frage an dieser Stelle geht dahin, ob wir nicht das Phänomen der Erlösäquivalenz übersehen. Darunter ist zu verstehen, dass unter recht allgemeinen Bedingungen verschiedene Spielregeln für Auktionen mit gleichen erwarteten Erlösen des Auktionators verbunden sind;41 insbesondere trifft dies auch auf eine SBFP und eine AP zu. Wenn die Agenten in beiden Auktionen die gleichen Zahlungen erwarten können, wieso macht es dann einen Unterschied, ob Lobbying oder Korruption vorliegt? Dazu ist Folgendes zu sagen: Zunächst interessiert uns das Individualverhalten durchaus, wenn eine der fraglichen Aktivitäten legal und die andere illegal ist, und zudem hängt die Verteilung der individuellen Payoffs der Bieter ganz erheblich von den Institutionen der Auktion ab. Vor allem jedoch übersieht die Frage, dass der (passive) .Auktionator" in unserem Modell nicht indifferent zwischen Schmiergeldern b und Aufwendungen für Lobbying r ist, sondern bei gleichen Aufwendungen regelmäßig eine direkte Transferzahlung präferiert. Erlösäquivalenz ist in unserem Falle folglich irrelevant.42

4. Produktiver Nepotismus? Moses I. Finley (1979, S. 102 f.) hebt die Rolle der Gastfreundschaft im homerischen Griechenland hervor und zitiert zur Bestätigung die Geschichte vom Zusammentreffen des Trojaners Glaukos und des Griechen Diomedes im Gefecht vor den Mauern von 39 Sie sind bekanntlich Transfers, ganz wie wir das auch von den Schmiergeldern behaupten (Besley 2006). 40 Für eine Diskussion dieses Arguments im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung siehe Beckmann (2003). Grenzen fur solche Veränderungen erwachsen (a) der erforderlichen Progressivität des Strafsystems, (b) der Notwendigkeit von Gefängnisstrafen, wenn optimale Geldstrafen das Vermögen der Täter übersteigen und (c) Erwägungen einer horizontalen Gerechtigkeit ex post. 41 Der wegweisende Beitrag dazu ist Myerson (1981). 42 Dieser Punkt steht in engem Zusammenhang mit einer Frage, die gelegentlich auftaucht: Wenn Bestechungszahlungen reine Transfers sind, warum stellen dann nicht auch die Aufwendungen für Lobbying einen Transfer dar? Beispielsweise muss eine Interessengruppe einen Vertreter beschäftigen und diesem Ressourcen für seine Tätigkeit zur Verfügung stellen. Ist das kein Transfer? Wäre dem so, so wäre der gesamten Vorstellung von Rent-seeking als einer sozialen Verschwendung (Tullock 2005) Abbruch getan. Die korrekte (bejahende) Antwort auf die Frage zählt allerdings zu den Urgesteinen der Nationalökonomik, geht sie doch auf Frédéric Bastiat und sein Fenstergleichnis (1850) zurück: Die Einstellung eines Lobbyisten führt bei Vollbeschäftigung dazu, dass die Produktion ausfällt, die der Lobbyist in seiner nächstbesten, alternativen Tätigkeit geleistet hätte. (Für den marginalen Lobbyisten wird dies bei Konkurrenz gleich dem Wert des zusätzlichen Lobbyings für die Auftraggeber sein.) Dieses Produkt wird durch das Gut „Einflussnahme" ersetzt. Weil „Ernflussnahme" im Grundmodell lediglich die Verteilung ändert, nicht jedoch zu einer Schaffung von Werten führt, handelt es sich beim Ausfall der alternativen Produktion durch den Lobbyisten (oder Anwalt) um soziale Kosten. Hinzu kommt, dass sich Aufwendungen fur Rent-seeking in einer AP-Situation gegenseitig kompensieren, sodass sich im Endeffekt die gleiche Entscheidung einstellt, zu der es ohne alle (mit minimalen) Anstrengungen gekommen wäre. Im Ergebnis ist Korruption mit sozialen Kosten verbunden, wenn sie zu „schlechteren" Entscheidungen (im Sinne des Unterabschnitts 2) führt, oder wenn Aufwendungen zur Geheimhaltung getätigt werden. Lobbying dagegen ist mit sozialen Kosten verbunden, auch wenn es die Entscheidung unverändert lässt.

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Troja. Im Begriff, einander in einen Schwertkampf auf Leben und Tod zu verwickeln, frug Diomedes den Glaukos, wer er denn sei, denn er habe ihn noch nie gesehen. Daraufhin stellt der Trojaner in der Ilias umfassend seine Herkunft dar, und sein potenzieller griechischer Gegner freut sich: Wahrhaftig, du bist mir ein alter Gastfreund von den Vätern her, denn der erhabene Oineus beherbergte einstmals den untadeligen Bellerophon in seiner Halle, [...] und sie gaben sich gegenseitig schöne Geschenke der Gastfreundschaft [...]. So lass uns beiderseits unsere Speere vermeiden. Lass uns gegenseitig die Rüstungen tauschen, damit auch die anderen wissen, dass wir uns rühmen, von den Vätern Gastfreunde zu sein.

Ein moderner militärischer Vorgesetzter hätte jeden der beiden zumindest wegen eines groben Dienstvergehens bestraft, und ein moderner Wirtschaftsethiker schüttelt sich ob solcher Erscheinungsformen des - gelinde gesagt - Nepotismus. Die alten Hellenen scheinen uns fern, und es sieht so aus, als sei dies auch gut so. In der jüngeren Geschichte kann man tatsächlich beobachten, dass nicht nur die Sensitivität westlicher Gesellschaften für Korruption zunimmt, sondern auch das Persönliche in der Geschäftswelt zurückgedrängt wird {Karsten und von Thiessen 2006). „Professionalismus" ist zunehmend synonym mit „Unabhängigkeit von persönlichen Rücksichten" - eine Entwicklung, die in zahlreichen institutionellen Veränderungen reflektiert wird, im Hochschulbereich etwa in einem Ersatz der Habilitation durch andere Formen der Qualifikation {Beckmann und Naujokat 2007), in einer wachsenden Bedeutung externer Evaluationen {Frey und Osterloh 2006) und Peer reviews sowie in zunehmender Kritik am „MeisterSchüler-Verhältnis" bei der herkömmlichen deutschen Promotion. Verbunden mit diesen Phänomenen ist ein weiterer theoretischer Punkt, den es zum Abschluss dieses Abschnitts kurz zu behandeln gilt. Eine wesentliche Form von Einflussnahme ist Networking, welches oft in Verbindung mit Korruption gesehen wird und nach unserer Sprachregelung teils dieser (bei möglicher Bestrafung), teils dem Lobbying zuzurechnen ist. Der Aufbau persönlicher Beziehungen bildet wohl auch nach landläufiger Meinung ein wesentliches Merkmal des Rent-seeking. Wir sind keine Psychologen und daher nicht qualifiziert, über mögliche psychische Kosten einer Entpersönlichung der Berufswelt (oder deren Gegenteil) zu räsonieren. Hingewiesen sei allerdings auf eine Reihe möglicher anderer Kosten, die in institutionenökonomischen Arbeiten nur unzureichend berücksichtigt werden:43 — Im Verlauf persönlicher Beziehungen wird eine Reihe von Informationen aufgedeckt, welche die Beteiligten weitgehend kostenfrei im Zuge ihrer Routineaktivitäten erhalten. Infolgedessen kann ein Trade-off zwischen Schäden durch Nepotismus und den zusätzlichen Informationskosten bestehen, die mit einem Zurückdrängen des Persönlichen verbunden sind. — Das Vorhandensein persönlicher Beziehungen dürfte die Anreizkompatibilitätsbedingungen in einem Prinzipal-Agent-Verhältnis lockern können. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Behauptung liegt in der Erkenntnis, dass die Beziehung zum Mentor - der Person, welche dem Prinzipal die Beschäftigung des Agenten empfohlen hat - für den Agenten einen Wert besitzt und/oder der Mentor über zusätzliche

43 Nach unserer Kenntnis wurde bislang kein Versuch unternommen, das nachfolgende Argument in einem formalen Prinzipal-Agent-Modell abzubilden. Aus Platzgründen müssen wir darauf an dieser Stelle ebenfalls verzichten.

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Sanktionsmöglichkeiten verfügt. Dies erhöht unter sonst gleichen Bedingungen die Nutzendifferenz des Agenten zwischen Verhalten im Sinne des Prinzipals und Shirking - zumal der Mentor, s.o., Informationsvorteile gegenüber dem Prinzipal haben kann - und erlaubt dem Prinzipal, ein höheres Nutzenniveau zu realisieren. — Einen anderen Fall der Erleichterung von Anreizkompatibilität durch persönliche Beziehungen stellt der Einsatz von Verwandten oder Freunden als Agenten dar, deren Interessen im Durchschnitt weniger stark von denen des Prinzipal divergieren dürften als die eines zufallig herausgegriffenen Fremden. (Andererseits kann diese Verbindung auch Kosten in einem übergeordneten Prinzipal-Agent-Verhältnis hervorrufen.) — Das Netzwerk bildet möglicherweise die Referenzgruppe des Agenten. Hat dieser Präferenzen nicht nur für absolutes, sondern auch für relatives Einkommen bzw. relativen Erfolg, so kann die Beschäftigung von Netzwerkmitgliedern zu einem Rattenrennen zwischen diesen mit positiven externen Effekten für den Prinzipal kommen. 44 Eine Beschäftigung unverbundener Personen, die sich nicht miteinander vergleichen (und weniger voneinander wissen), wäre nicht mit diesem Effekt verbunden, und die Verdrängung des Persönlichen im Beruf könnte womöglich erschweren, dass sich aus den Kollegen eine Referenzgruppe bildet (weil die Vergleichsmaßstäbe tendenziell im privaten Bereich gesucht werden). — Eine „Professionalisierung" beruflicher Beziehungen könnte damit verbunden sein, dass zunehmend auf extrinsische Anreize rekurriert wird. Eine umfangreiche Literatur45 dokumentiert, dass solche externen Kontrollen und Anreize intrinsische Motivation verdrängen sowie Frustrationskosten verursachen können (Falk und Kosfeld 2006). Diese Argumente bedürfen sicherlich noch einer formalen Modellierung - etwa im Rahmen eines Prinzipal-Agent-Ansatzes - und einer intensiven empirischen Überprüfung. Gleichwohl geben sie, zumal sie teilweise auf etablierten Ansätzen beruhen, Anlass zu ersten Bedenken gegenüber einer allzu formalistischen Behandlung der Frage, ob und wie Unternehmen einen Beitrag zur Bekämpfung von Korruption durch eine Professionalisierung, durch stärkere interne Kontrollen, Verhaltenskodices, „Whistle blowing" oder ähnliche Instrumente zu vertretbaren Kosten leisten können. Insgesamt führt die Analyse gleichwohl nicht zu dem Schluss, dass ein Regelinteresse der Unternehmen an Korruptionsbekämpfung ausgeschlossen werden kann.

IV. Therapie Der letzte Teil des Beitrags sei nun dem Versuch gewidmet, dem Unternehmen eine aktive Rolle bei der Korruptionsbekämpfung zuzuweisen und daraus eine marktbasierte, indirekte Form der Armutsbekämpfung zu entwickeln.

44 Dazu insgesamt Beckmann und Gattke (2007) sowie die dort angegebene Literatur. 45 Für eine frühe Arbeit siehe Frey (1997).

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1. Folgerungen aus einem ordnungsökonomisch-wirtschaftsethischen Vorschlag (Pies 2008, Pies und Sass 2008) Ausgangspunkt ist ein Vorschlag von Pies (2008) bzw. Pies und Sass (2008), den wir zuerst diskutieren und anschließend erweitern wollen. Grundlage für die genannten Autoren ist eine sogenannte Ordnungspolitik zweiter Ordnung, also eine Regelsetzung für Regelsetzer, welche über eine indirekte Verhaltenssteuerung Anreize zur Anreizsetzung in und durch Unternehmen generieren will. Die regelparetianische Rechtfertigung für solche Regeln ergibt sich dabei aus dem in der Einleitung skizzierten Regelinteresse, dem bislang unsere vordringliche Aufmerksamkeit galt. Nun kommen wir zur institutionell-praktischen Umsetzung. Im Zuge dieser soll das Unternehmen, welches den korrumpierenden Klienten beschäftigt, als Helfer in die Bekämpfung der Korruption eingebunden werden. Denn der Prinzipal (Staat, anderes Unternehmen) ist in der Überwachung seines korrupten Agenten durch eine Informationsbarriere behindert (ein „Schweigekartell"), während der Prinzipal des Klienten über vergleichsweise bessere Möglichkeiten verfügt, die korrupte Beziehung zwischen Klienten und Agenten zu enttarnen. Hier liegt der archimedische Punkt, an dem Pies (2008) bzw. Pies und Sass (2008) die Korruption aushebeln wollen. Konkrete Implikationen für die Unternehmensethik unterteilt Pies in fünf Möglichkeiten der Korruptionsprävention: — Verhaltenskodizes sollen in den Unternehmen ein Bewusstsein für das Problem schaffen. Mit einem Kodex lassen sich die Anforderungen an die Mitarbeiter festschreiben. Zusätzlich sollen Partizipationsmöglichkeiten vorgesehen sein, sodass der Kodex den tatsächlichen Gegebenheiten kontinuierlich angepasst werden kann. Besonders wichtig ist, dass der Kodex Konsequenzen bei einem Verstoß vorsieht. Als finales Mittel sollte hier laut Pies die Auflösung des Arbeitsvertrags sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter festgeschrieben sein. — Um den Kodex gewissermaßen zu institutionalisieren, empfiehlt Pies die Einrichtung eines Büros für Integritätsmanagement. Dessen Mitarbeiter haben einen Karriereanreiz, den schwierigen Fragestellungen nicht auszuweichen, sondern Lösungen zu produzieren. Gleichzeitig hat eine solche Stelle die Möglichkeit, sich zu spezialisieren und sich der Korruptionsprävention professionell zu stellen. — Sogenannte „Kronzeugenregelungen" können helfen Korruption zu verhindern, da sie nur durch das „Schweigekartell" von Agent und Klient geheim und so ungestraft bleibt. — In eine ähnliche Richtung geht Pies in seinem nächsten Punkt: „Whistle blowing" soll Mitwisser aktivieren, die sonst z.B. aus falsch verstandener Loyalität oder der Angst vor Vorgesetzten, die korrupten Delikte dulden. Das „Whistle blowing" wird durch ein anonymes Hinweissystem umgesetzt, welches dann eine gezielte Ermittlung ermöglicht und zudem eine Abschreckungswirkung für Tatgeneigte besitzt. — Pies' letzter Schritt weitet die vorgenannten Instrumente der Korruptionsbekämpfung im Unternehmen auf das Umfeld aus (bspw. Branchenvereinbarungen). Wie Pies (2008) selbst feststellt, werden diese Instrumente zu wenig genutzt und sollten daher von der schon erwähnten Ordnungspolitik zweiter Ordnung ergänzt wer-

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den. Beispiele für eine solche Politik sind Schwarze Listen und Best practices als Standard für „Good governance". Weiterhin sollten Kapitalmärkte dazu animiert werden, Korruptionsprävention als einen Beitrag zum Risikomanagement zu begreifen. Zuletzt fordert er eine weniger einzelfallbezogene Berichterstattung der Medien, die seiner Meinung nach mehr zu einer Überprüfung der fünf Elemente der Korruptionsprävention gehen sollte. Zugespitzt will Pies' (2008) Ordnungspolitik zweiter Ordnung die Kosten für eine Verweigerung der Korruptionsprävention durch die Ordnungspolitik so erhöhen, dass die Unternehmen an ihrer Umsetzung auch ein genuines Handlungsinteresse haben.46

2. Kritik und Alternative Letztlich schält sich so ein klassischer ordnungsökonomischer Reformvorschlag heraus, welcher comme il faut auf der Diagnose einer Dilemmastruktur und dem Vorschlag einer institutionellen Remedur beruht. Unsere Analyse im Abschnitt II und III war im Wesentlichen drei Fragen gewidmet, nämlich ob dieses Dilemma in der Tat existiert (Regelinteresse), ob nicht die Interessen Dritter seiner Überwindung entgegenstehen (Universalisierbarkeit) und was das Ganze mit Armutsbekämpfung zu tun hat. Dabei ergaben sich keine unüberwindbaren Bedenken. Nun haben wir mit der konkreten Implementierung einer institutionenökonomischen Lösung zu tun. Dabei kommen wir auf die Hinweise im Abschnitt III.4 zurück und formulieren vier Einwände: - Die Einführung von „Schwarzen Listen" und von Yardsticks soll der Öffentlichkeit ermöglichen, Vertrauen in die Unternehmen zu haben. Fraglich ist, ob die Umsetzung dieser Maßnahmen nicht das Vertrauen in den Unternehmen gefährdet. Dass die Mitarbeiter einer Organisation einander und der Organisation insgesamt vertrauen, ist als ein wesentlicher Faktor für das Funktionieren der Organisation anerkannt und gewinnt in Zeiten wachsender externer Unsicherheit noch an Bedeutung (Zanini 2007; Heckscher und Adler 2007).47 Lahno (2000) betrachtet es als wesentliches Element von Vertrauen, dass sich der Vertrauende durch eigenes Handeln der Gefahr aussetzt, von der entscheidenden Vertrauensperson durch deren Handeln verletzt zu werden (ebenda, S. 81),48 und engt diese weiter ein auf Situationen, in denen „der Vertrauende eine teilnehmende Haltung gegenüber der Vertrauensperson einnimmt" (ebenda, S. 91). Dieses Argument ist zweischneidig: Es weist einerseits daraufhin, dass die Einführung unpersönlicher Verfahren und Beurteilungskriterien, insbesondere anonymisierter Meldungen wie beim „Whistle blowing" Vertrauen in Unternehmen gefährden und damit die Funktionsfahigkeit der Organisation beeinträchtigen kann. Andererseits stellt Vertrauen nicht nur ein Nehmen, sondern auch ein Geben dar: Der Vertrauende muss die Vertrauensperson als Person ernst nehmen und

46 Notabene: Das Regelinteresse der Unternehmen muss schon vorher, also ohne die „Ordnungspolitik zweiter Ordnung", bestehen. Gebräche es daran, fehlte dieser Ordnungspolitik nämlich die regelparetianische (konstitutionenökonomische) Rechtfertigung. 47 Zu Interpretationen von Vertrauen und seiner Bedeutung innerhalb der Institutionenökonomik siehe Williamson (1993). 48 Er rekurriert dabei auf die Definition von Baier (1986): „Trust [...] is accepted vulnerability to another's possible but not expected ill will (or lack of good will) toward one."

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darf sie nicht nur als Mittel gebrauchen. Das schließt nach unserer Ansicht das Vertrauen auf Geheimhaltung einer Aktivität, welche die Vertrauensperson nicht billigen kann, aus.49 — Es bestehen offensichtliche Missbrauchsprobleme bei anonymen Meldewesen - zumindest ein Trade-off zwischen Leichtigkeit der Beteiligung und Abschreckung von Missbrauch (bzw. Restitiution ex post). Dazu tritt ein schädlicher Effekt, wenn im Zuge einer Entpersonalisierung des Berufslebens Förderung Bekannter (Nepotismus) behindert, Schädigung Bekannter (Denunziation, grundlos oder nicht) jedoch durch Anonymisierung begünstigt wird. — Einige Vorschläge aus dem Kanon von Pies (2008) laufen auf die Betonung externer Standards (Verhaltenskodizes, verbunden mit Sanktionen), auf zusätzliche Kontrollen und auf die Teilung von Verantwortung hinaus („Vier-Augen-Prinzip"). Damit ist eine Verstärkung extrinsischer Anreize verbunden, die ihrerseits mit einer Verdrängung intrinsischer Motivation einhergehen kann, wenn dies bei der Ausgestaltung der Institutionen in der Firma nicht berücksichtig wird (Frey und Osterloh 2001). Namentlich bei der Reduktion individueller Entscheidungsspielräume - sei es durch die Verpflichtung zur Mitzeichnung durch Kollegen, sei es durch Funktionsrotation (Dietz 2000) oder durch andere Methoden, unerwünschtes Verhalten unmöglich zu machen - scheint man uns oft die damit verbunden Frustrationskosten und Motivationseinbußen zu übersehen. Intrinsische Motivation dürfte mit dem Gefühl der Verantwortung verbunden sein, und Verantwortung setzt ihrerseits die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung voraus. Wer durch eine GPS-gesteuerte Drosselklappe zur Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gezwungen wird, wird auf freier Strecke frustriert, zugleich aber in der Umgebung einer Schule geringere Befriedigung empfinden, der Vernunft gehorcht zu haben. Die langfristigen Wirkungen auf die Einstellung zur sozialen Ordnung und die Identifikation mit den zugrunde liegenden Normen überlassen wir der Spekulation. — Ein weiterer möglicher Einwand zielt auf die kulturelle Bedingtheit institutioneller Empfehlungen und auf die Notwendigkeit zur Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles ab. Beispiele für ein Versagen institutioneller Empfehlungen „von der Stange" reichen vom Washington Consensus bis hin zur Geschichte der UMTS-Auktionen (dazu der berechtigte Stolz in Binmore 2006 und die Hinweise in Steiglitz 2007). Die Komplexität des Phänomens der Korruption - bis hin zu dem Punkt, an dem Ökonomen der Verwendung des einen Modells abschwören - wurde durch unseren kursorischen Überblick über die empirische Literatur angedeutet und durch unsere theoretische Diskussion klar dargestellt. Seine kulturelle Vielschichtigkeit illustriert der Sammelband von Karsten und von Thiessen (2006, insbesondere S. 10 f f ) . Seit der wegweisenden Arbeit von Ellickson (1991) ist außerdem klar, dass nicht nur formale (geschriebene) Institutionen, sondern auch informale Normen und Konventionen Bestandteile einer „Ordnung" darstellen, und dass tatsächliches, den obwaltenden Normen entsprechendes Verhalten den formalen Vorschriften konträr sein kann. Wir können darum mit gutem Grund bezweifeln, ob es überhaupt eine allgemeine, für alle Länder und alle Unternehmen gültige Empfehlung geben kann -

49 Siehe zu diesen Argumenten insgesamt auch Uslaner (2005).

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außer vielleicht dem Gemeinplatz: „Verwirkliche Dein Regelinteresse und spare Bestechungsgelder bei gleicher Leistungsfähigkeit Deiner Organisation". Doch was für eine Alternative haben wir gegenüber dem kritisierten Konzept von Pies (2008) bzw. Pies und Sass (2008) vorzuweisen? Die einfache Antwort lautet schlicht: keine. Denn die Formulierung einer solchen Alternative hieße wiederum eine konkrete Lösung vorzuschlagen und uns selbst zu widersprechen. Drei Hinweise seien freilich erlaubt: — Wir plädieren mit Nachdruck für eine Kultur der Verantwortung in Organisationen. Motivation von Mitarbeitern setzt Handlungsspielräume voraus, und solche Spielräume erlauben auch, dezentrales Wissen besser zu nutzen. Dies erfordert den Verzicht auf Automatismen und Automatismusäquivalenzen (Kontrollen) bis hin zu einem vorsichtigen Umgang mit dem „Vier-Augen-Prinzip". Die Kehrseite ist ein Einfordern und ein Durchsetzen von Verantwortung - die klassische Internalisierung externer Effekte, aber verbunden mit einer persönlichen Dimension. Nichts davon ist vereinbar mit einer Form des „Whistle blowing", bei dem die Denunzianten in jedem Fall anonym bleiben. — Wahrnehmung individueller Verantwortung bei einem verbleibenden Handlungsspielraum bedarf offensichtlich der Koordination. Für den Ökonomen ist der nächstliegende Ort solcher Koordination der Markt, doch hat er in der Theorie der Firma und der Institutionenökonomik die Hierarchie als Alternative kennengelernt. Wir neigen dazu, diesen beiden Beispielen die Vorstellung dezentraler Entscheider an die Seite zu stellen, welche eine gemeinsame Erziehung (mit Blick auf Ziele) und eine gemeinsame Ausbildung (hinsichtlich der Daumenregeln für Entscheidungen) verbindet. Im militärischen Bereich wäre in diesem Zusammenhang auf die Idee der Auftragstaktik50 zu verweisen, doch käme auch das mittelalterliche Kloster als Beispiel in Betracht (Rost und Osterloh 2008). — Wir neigen dazu, im Gegensatz zu der allgemeinen Tendenz in der „Professionalisierung" des Berufslebens in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung, keine Entpersönlichung, sondern vielmehr eine Verstärkung des Persönlichen und informaler Regeln in Organisationen zu empfehlen. Im Sinne eines „Verfassungspatriotismus" sollte sich allerdings das Augenmerk des Wirtschaftsethikers auf die Vermittlung gemeinsamer Ziele (und die individuelle Verantwortung dafür) richten.

3. Zusammenfassung: Indirekte Bekämpfung von Armut durch Reduktion von Korruption mit Unternehmen Unsere kritische Untersuchung der möglichen Rolle von Unternehmen für eine Armutsreduktion durch Korruptionsbekämpfung vollzog sich in vier Schritten: — Zunächst galt es, einen kausalen Zusammenhang zwischen Korruption und Armut zu zeigen.

50 Für deren effizienzsteigernde Wirkung auch auf der Seite einer materiell benachteiligten Kriegspartei siehe Frieser (2005).

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— Dann musste ein Regelinteresse der Unternehmen an institutionellen Maßnahmen gegen Korruption nachgewiesen werden, dem andererseits — keine überwiegenden Wohlfahrtsverluste an anderer Stelle entgegenstehen durften. — Schließlich setzt eine solche Rolle der Unternehmen voraus, dass die Umsetzung der Regeln durch Veränderung der Unternehmens internen Spielregeln effektiv möglich ist und keine dadurch keine prohibitiven Kosten entstehen. Diese vier Schritte wurden unseres Wissens bislang nicht geschlossen vollzogen, und an jeder Stelle verblieben Fragen, die einerseits einem Theoriedefizit in der Ökonomik der Korruption, andererseits nicht eindeutigen ökonometrischen Resultaten entspringen. Bei dem Versuch, das Theoriedefizit durch ein kombiniertes Auktionsmodell zu schließen, zeigte sich insbesondere, dass Korruptionsbekämpfung eine Steigerung anderen Rent-seekings mit potenziell wohlfahrtsschädigenden Wirkungen nach sich ziehen kann. Bei der Umsetzung im Unternehmen scheinen uns gängige Ansätze die Kostenseite, insbesondere Kosten durch verminderte intrinsische Motivation, Vertrauensverluste und die reduzierte Nutzung von „Networking" zu übersehen. Zudem dürfte ein gewisser kultureller Relativismus angesichts der Bedeutung und Unterschiede informeller Regeln angemessen sein. Anwendungsorientierte Arbeiten - etwa zum „Whistle blowing" - wirken daher bisweilen wie die „Axt im Walde". Zusammenfassend ergeben sich dennoch am Ende unserer Untersuchung überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass man durch eine Reduktion von Korruption Armut zumindest mittelbar bekämpfen kann, und dass dabei den Unternehmen eine wichtige Rolle zukommen kann. Zunächst kann man diese Rolle ganz im Sinne der herkömmlichen Konstitutionenökonomik so verstehen, dass durch kollektive Regelsetzung geeignete Anreize geschaffen werden, um die Unternehmen mit ihren überlegenden Informationen als Verbündete in der Korruptionsbekämpfung zu gewinnen. Darüber hinaus aber ist diese Überlegung völlig mit Vorstellungen kompatibel, die den Unternehmen etwa im Rahmen von Strategien der Corporate social responsibility oder als zivilgesellschaftlichen Akteuren eine „Ordnungsverantwortlichkeit" {Pies und Beckmann 2007) zuweisen. So verstanden können Unternehmen die Initiative ergreifen und zur Verwirklichung ihres langfristigen wohlverstandenen Regelinteresses auf eine Änderung des Ordnungsrahmens hinwirken. Als praktikabler Ansatz schwebt uns ganz im Sinne der aristotelischen „guten Mitte" eine Lösung vor, bei der auch die zunächst wenig greifbaren Kosten durch Beeinträchtigung intrinsischer Motivation und Vertrauen sowie durch die Auftrennung persönlicher Netzwerke Berücksichtigung finden. Leitidee für eine angemessene Reform unternehmensinterner Ordnungen könnte der Gedanke der Verantwortungskultur einerseits und eines „Verfassungspatriotismus" andererseits sein

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Schelling, Thomas C. (2007), Stategies of Commitment, Cambridge. Schramm, Matthias und Markus Taube (2001), Institutionenökonomische Anmerkungen zur Einbettung von Korruption in das Ordnungssystem chinesischer Guanxi-Netzwerke, Duisburg Working Papers on East Asian Economic Studies, Nr. 60, Universität Duisburg-Essen. Shleifer, Andrei und Robert W. Vishny (1998), The Grabbing Hand. Government Pathologies and their Cures, Cambridge. Steiglitz, Ken (2007), Snipers, Shills, und Sharks. eBay and Human Behavior, Princeton. Tullock, Gordon (2005), The Rent-Seeking Society. Selected Works of Gordon Tullock Vol. V. Uslaner, E. M. (2005), Trust and corruption, in: Lambsdorff, Johann Graf von, M. Taube und M. Schramm (Hg.), The New Institutional Economics of Corruption, London. Williamson, Oliver E. (1993), Calculativeness, trust, and economic organization, Journal of Law and Economics, Bd. 36, S. 453-486. Wintrobe, Ronald (1998), Some lessons on the efficiency of democracy from a study of dictatorship, in S. Börner and M. Paldam (Hg.), The Political Dimension of Economic Growth, London, New York, S. 20-37. Zanini, Marco Tulio (2007), Trust Within Organizations of the New Economy, Wiesbaden. Zimmermann, Klaus W. und Daniel Horgos (2007), Interessengruppen und Economic Performance, HSU Department of Economics Working Paper 59. Zusammenfassung Es wird ein Argument betrachtet, dass es indirekt hilfreich sein könnte, bei der Armutsbekämpfiing in Entwicklungsländern private Unternehmen als „corporate Citizens" für die Reduktion von Korruption zu gewinnen. Es stellt sich heraus, dass dieses Argument auf einer Reihe von Prämissen beruht, wie (a) dem kollektiven Interesse der Unternehmen an der Reduktion von Bestechungszahlungen, (b) der Abewesenheit positiver externer Effekte auf die Gesellschaft im Ganzen und (c) die Kosten-Effektivität formaler Institutionen zur Korruptionsbekämpfung. In allen drei Beziehungen erklären wir eine Anzahl von sowohl theoretischen als auch empirischen Einwänden. Daran schließen sich einige institutionelle Politikempfehlungen an.

Summary: Fighting poverty by fighting corruption: A task for private enterprise? We consider an argument that it might be helpful to combat poverty in developing countries indirectly by enlisting firms' help (as „corporate citizens") in reducing corruption. It turns out that this argument crucially depends on a fair number of premises, including (a) a common interest of firms in reducing bribes, (b) the absence of positive effects of corruption on society at large and (c) the cost-effectiveness of formal institutions designed to combat corruption. In all three regards, we explain a number of reservations, both theoretical and empirical. Some tentative institutional policy recommendations ensue.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Thomas C. Schelling

Ökonomische Vernunft und politische Ethik* Inhalt I. II. III. IV. V. VI.

Politische Ethik Die Ethik der Preissetzung Der Konflikt zwischen Gleichheit und Anreizen Zur Bewertung des Preislosen Der Ansatz marginaler Besserstellung Wie man dem Trade-Off zwischen Effizienz und Gleichheit entgehen kann VII. Die Ethik des Marktes

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Economic Reasoning and the Ethics of Policy

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Politische Beurteilungen fallen uns umso leichter, je weiter wir von unseren Zielen entfernt sind. Wenn es nur zwei Richtungen gibt, wenn wir zudem wissen, welche davon vorwärts führt, und wenn wir uns unserem Ziel nur mit begrenzter Geschwindigkeit nähern können, dann benötigen wir keine feinziselierten Differenzierungen. Wenn den Armen viel zu wenig geholfen wird, wenn auf Autobahnen viel zu schnell gefahren wird, wenn Bauvorschriften viel zu lax sind, wenn Lehrer viel zu wenig verdienen oder wenn die Rechte von Angeklagten vor Gericht viel zu wenig respektiert werden, dann wissen wir alles, was wir wissen müssen, um die richtige Richtung einzuschlagen. Wir können uns immer noch darum sorgen, wie viel genug ist, wenn wir unserem Ziel erst näher gekommen sind - sollte das jemals geschehen. In der Zwischenzeit können wir weiter auf unser Ziel hinarbeiten. Genauso leicht ist es, das Richtige zu tun, wenn unsere Möglichkeiten sich vermehren, wenn also unsere Ziele von gestern morgen bereits übertroffen sein werden. Wie eine Familie mit wachsendem Einkommen, brauchen wir nur wenig auf Übertreibungen zu achten: Wenn wir heute ein etwas zu großes Haus kaufen, können wir es uns ja morgen leicht leisten. Ich bin oft froh darüber gewesen, nicht an entscheidender Stelle Verantwortung zu tragen. Man kann ziemlich leicht feststellen, dass es zu viel Ungleichheit (oder An-

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Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christof Wockenfuß und Ingo Pies. Der Text wurde erstmals unter dem Titel „Economic Reasoning and the Ethics of Policy" veröffentlicht (Schelling 1981). Er wurde erneut abgedruckt in Schelling (1984).

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alphabetismus oder Krankheit oder Ungerechtigkeit) gibt, und dabei helfen, diese Missstände zu bekämpfen, in dem Wissen, dass trotz aller Anstrengungen noch zu viel davon übrigbleiben wird. Wenn es aber an mir wäre, zu entscheiden, wo die Grenze liegt: wie viel Ungleichheit zu viel ist, oder wie viel Ungerechtigkeit, oder wie viele Zumutungen für ältere Menschen oder für die kommenden Generationen, dann bräuchte ich ganz sicher mehr als nur eine ungefähre Vorstellung davon, in welche Richtung sich die Dinge bewegen sollten. Ein ganz ähnliches Unbehagen entsteht, wenn ein fernes und stetig fliehendes Ziel, dem wir entschlossen nachjagen, plötzlich stehen bleibt und wir deshalb Gefahr laufen, über dieses Ziel hinauszuschießen. Wie es aussieht, wird die Auffassung vertreten, dass wir uns in manchen Bereichen solche Übertreibungen haben zu Schulden kommen lassen. Schlimmer noch, im Rückblick wird die Stimmung entzaubert, die unsere Anstrengungen ursprünglich motiviert hatte und die uns dazu brachte, die Ziele überhaupt erst zu verfolgen - damals in den 1960er Jahren. Es kommt Ärger auf darüber, dass wir zu enthusiastisch waren und unsere Möglichkeiten überschätzt haben. Es entsteht Widerwille gegenüber denjenigen, die unerfüllbare Forderungen erheben und deren Dankbarkeit sich in so engen Grenzen hält. Wie auch immer, die Politik kommt auf den Prüfstand, und insbesondere solche Politik, die soziale Verantwortlichkeiten festlegt. Es liegt Enthaltsamkeit in der Luft und in den Wahlurnen, und wir hinterfragen, was wir uns selbst noch leisten können und was wir anderen schuldig sind. Hier geht es nicht nur um enttäuschte Utopien. Unsere Vorstellung vom Möglichen ist geschrumpft. Unsere Wirtschaft läuft nicht. Es schwindet die Erwartung, dass die Lasten, die wir tragen müssen, durch Einkommenszuwächse in ein oder zwei Jahrzehnten leicht erträglich werden. Wir wissen nicht, was unsere Produktivität verringert hat, und wir können angesichts der ungewissen Ursachen nicht sicher sein, dass das Problem schon bald verschwinden wird. Die Inflation hat ihren eigenen Willen. Die demographische Entwicklung ist gegen uns, und gleichzeitig erlauben es die Spielregeln unendlich vielen Menschen aus aller Herren Länder, unsere Grenzen zu überschreiten und sich bei uns in Sicherheit zu bringen. Es ist also nicht erstaunlich, dass alte Verpflichtungen neu bewertet, „Trade-Offs" diskutiert, Kosten gegen Nutzen abgewogen und sogar Verfassungsreformen vorgeschlagen werden, um eine Politik durchzusetzen, die das Rad wieder zurückdreht. Techniken der Policy-Analyse, die unlängst noch als gemein und als kaltherzig kritisiert wurden von Menschen, die Politik lieber auf Visionen und Großzügigkeit gründen möchten, werden ersetzt durch die Forderung nach politischen Fußfesseln und Zwangsjacken. Dies sind keine „harten Zeiten", wie es sie früher einmal gab. In diesem Land ist der Lebensstandard immer noch hoch, und für die meisten Menschen erhöht er sich weiter. Doch fällt die Entwicklung hinter unsere Erwartungen zurück. Wir sprechen deshalb vielleicht besser von „schwierigen" Zeiten: Es ist nicht die Zeit, die hart ist, es sind die Probleme. Und unter den harten Problemen befinden sich einige ethische. Sie sind vielleicht nicht die härtesten oder die wichtigsten, aber sie sind wichtig, und sie sind auch hart.

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Ich wurde gefragt, welchen Beitrag ökonomische Vernunft leisten kann - oder ob sie eher in die Irre führt - , wenn es darum geht, die ethische Dimension von Politik wahrzunehmen und hier Probleme zu lösen oder Probleme zu vermeiden. Repräsentiert ökonomische Vernunft eine Art Ethik? Oder, wenn nicht die ökonomische Vernunft selbst, vielleicht die Gruppe der Menschen, die sie anwenden?

I. Politische Ethik Was ich mit politischer Ethik meine ist diejenige Ethik, die wir betreiben, wenn wir ohne Rücksicht auf unsere persönliche Betroffenheit über Mietpreisbindungen, Mindestlöhne, Gesundheitsvorsorge, Lebensmittelgutscheine, Tabaksteuern oder über die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme nachzudenken versuchen. Bauern haben ein Interesse an Stützmaßnahmen für hohe Lebensmittelpreise, Angestellte von Wäschereien haben ein Interesse an gesetzlichen Mindestlöhnen, Ärzte haben ein Interesse an einer üppigen Finanzausstattung des Gesundheitssystems, und die Betreiber von Elektrizitätswerken haben ein Interesse an Gesetzen gegen die Luftverschmutzung; und bis mein jüngstes Kind endlich volljährig ist, werde ich ein persönliches Interesse an der Wehrpflicht haben. Wenn Menschen sich für oder gegen einen Gesetzentwurf aussprechen, erwarten wir von ihnen im Allgemeinen nicht, dass sie darüber diskutieren wie über das Space Shuttle. Deshalb sehe ich das Kennzeichen politischer Ethik in dem, was wir vorzubringen versuchen, wenn wir über Themen diskutieren, bei denen wir selbst nicht unmittelbar betroffen sind. Es ist schwierig, Themen zu finden, die in keiner Weise von Eigeninteresse kontaminiert wären. Bei Themen wie Abtreibung oder Todesstrafe ist unsere persönliche Ethik gewöhnlich dominant. Lebensmittelgutscheine betreffen uns, ob wir bezugsberechtigt sind oder nicht, denn sie kosten Geld. Und jemand, der ausgesprochen auf seine persönliche Wohlfahrt bedacht ist, könnte immerhin noch ein winziges Eigeninteresse an einem LW-Programm zur Reform des Alphabets finden. Trotzdem möchten die meisten von uns über viele Themen so nachdenken und sprechen, als wären wir selbst unbeteiligte Dritte. Wir wollen über den Sozialstaat und über die Landesverteidigung und über den Bau von Schulen und über Arbeitslosenunterstützung und über die Kilometerpauschale diskutieren, als wären wir selbst nicht davon betroffen. Hier gibt es ein unleugbares Element sozialer Verantwortung; niemand kann Einkommensteuer- oder Sozialhilfesätze diskutieren, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass die Erfolglosen oder die Benachteiligten oder die aus anderen Gründen Bedürftigen legitimer Weise Forderungen gegen uns andere erheben, denn wir sind in der Lage, ihnen zu helfen. Dennoch: Obwohl nur wenige Themen nicht irgendwelche finanziellen Auswirkungen auf uns haben und obwohl bei den meisten wichtigen Themen große Summen auf dem Spiel stehen, können wir doch oft unsere persönlichen Interessen auf eine aggregierte, unspezifische soziale Verantwortung reduzieren. Unsere eigene Position auf der Einkommensskala hat Auswirkungen auf unser Bewusstsein und auf unser Denken. Aber davon abgesehen können wir versuchen, neutral, distanziert, unparteiisch und wohlüberlegt zu argumentieren.

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Übrigens sage ich dies alles nur, weil ich erwarte, dass dieser Text von einer bestimmten Gruppe von Menschen gelesen wird. Die meisten Menschen widmen vermutlich den größten Teil ihrer politischen Aufmerksamkeit solchen Themen, die sie selbst betreffen, und das tun sie ganz bewusst. Sie verstricken sich nicht in ethische Abstraktionen. Sie mögen über dezidierte ethische Positionen in Bezug auf eine begrenzte Anzahl politischer Themen verfugen, die sich nicht auf ihre unmittelbare Betroffenheit gründen. Aber sobald ihre eigenen Interessen wesentlich betroffen sind, akzeptieren sie eine Ethik, der zufolge es in der Politik fair ist, seine eigenen Interessen zu vertreten, erwarten sie doch zu Recht, dass andere gleichfalls ihre Interessen durchzusetzen versuchen. Im Unterschied dazu versuchen Menschen, die Texte wie diesen hier schreiben, im Allgemeinen, Verteilungsfragen zwar ernst, aber eben nicht persönlich zu nehmen. Studierende beispielsweise, die gegen höhere Studiengebühren demonstrieren, sind sehr zögerlich bei dem Eingeständnis, dass es ihnen um ihren eigenen Geldbeutel geht; sie schließen sich dem Protest im Namen eines noch Ärmeren an. Und von Professoren, die primär ihre eigenen Gehälter verteidigen, nimmt man an, sie hätten die Regeln der Ethik verletzt. Von Tabakfarmern hingegen, die sich ausschließlich um das Wohl ihrer eigenen Familie sorgen, kann derlei akademisches Desinteresse nicht erwartet werden.

II. Die Ethik der Preissetzung Meine Studierenden sind regelmäßig große Fans der Idee, die Kraftstoffmenge den Autofahrern staatlich zuzuteilen. Sie glauben daran auf der Grundlage ethischer Prinzipien. (Zumindest sagen sie das, und sie klingen dabei so, als meinten sie es ernst.) Natürlich liegen diese Prinzipien auf einer fundamentaleren Ebene als die Frage einer Rationierung von Benzin. Die Studierenden müssen irgendeine Vermutung darüber haben, mit welchen Wirkungen zu rechnen ist, wenn eine Rationierung über Gutscheine oder ein alternatives Rationierungsarrangement eingeführt wird, und sie müssen eine Vorstellung davon haben, welche Ergebnisse sie vorziehen würden. Studierende wissen, dass es Gewinner und Verlierer gibt, und ihre Ethik scheint im Zusammenhang damit zu stehen, wer gewinnt, wer verliert, und wie viel. Es gelingt mir, den meisten von ihnen die Idee mit den Gutscheinen auszureden. Es dauert länger als fünfzig Minuten, und ich versuche es gar nicht erst, wenn ich nur eine Vorlesungsstunde zur Verfügung habe. Vielleicht misstrauen sie meinen ethischen Prinzipien. Oder sie denken, ich würde mich nicht um das gleiche sorgen wie sie oder ich würde mich weniger sorgen. Sehr wahrscheinlich vermuten sie, meine Ethik sei „prozessorientiert" und die Idee freier Märkte habe mich verhext, während sie ihre Ethik für „ergebnisorientiert" halten und ihnen die Ergebnisse des freien Marktes nun einmal nicht zusagen. Wenn die Zeit es erlaubt, erreiche ich ihren Meinungsumschwung in zwei Schritten. Zunächst warne ich sie vor und kündige an, ihnen zu zeigen, dass, wenn sie schon Gutscheine befürworten, sie etwas anderes noch mehr befürworten sollten. Ich pflichte ihnen bei, dass der freie Markt allein die Probleme nicht lösen kann, schlage ihnen dann aber etwas vor, was manchmal die „Rationierung über den Geldbeutel" genannt wird. Ich schlage vor, dass wir den Preis für Kraftstoff solange ansteigen lassen, bis es keine Unterversorgung mehr gibt, und dass wir dann den Verbrauch besteuern. Weil das den

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Annen gegenüber unbarmherzig aussieht, gefällt es meinen Studierenden gewöhnlich nicht. Der erste Schritt, um ihr ethisches Urteil umzudrehen, besteht in dem Vorschlag, dass in jedem Rationierungsregime, das sie sich ausdenken könnten - und ich lasse mir etwas Zeit, um zu zeigen, dass es nicht einfach ist, sich auf eine „gerechte" Rationierung zu einigen - , es den Menschen erlaubt sein sollte, die Kraftstoffgutscheine zu kaufen und zu verkaufen. Dieser Vorschlag wirkt zunächst wenig attraktiv. Die Reichen werden offensichtlich mehr als den ihnen zugewiesenen Anteil an Kraftstoff verbrennen, während die Armen unter dem Zwang der Armut ihre Coupons in Geld, das sie so dringend brauchen, eintauschen müssen. Aber mit der Zeit erkennen meine Studierenden, dass die Armen, gerade weil sie arm sind, gern den Vorteil genießen würden, ihre Coupons in Bargeld verwandeln zu können. Während man nämlich mit personalisierten Kraftstoffgutscheinen nur verbilligten Kraftstoff kaufen kann, kann man mit handelbaren Kraftstoffgutscheinen auch verbilligte Milch kaufen, wenn man das will. Das bedeutet: Wenn es ungerecht ist, dass die Armen nicht so viel Autofahren können wie die Reichen, dann ist es die Armut, die ungerecht ist, nicht das System der Benzinpreise. Nachdem wir dieses Prinzip geklärt haben, stellen wir fest, dass Gutscheine bares Geld wert sind, ob sie nun gekauft, verkauft oder einfach an der nächsten Tankstelle gegen Benzin eingetauscht werden. Wenn Kraftstoff an der Zapfsäule $1,25 kostet und der Marktpreis eines Gutscheins 75 Cent beträgt, dann ist der Nettopreis für Kraftstoff $2,00. Jeder, der Gutscheine über zehn Gallonen vom Verkehrsministerium erhält, bekommt damit ein etwas unhandliches Äquivalent von $7,50 in bar. Die Tankstelle, die zehn Gallonen verkauft, bekommt $12,50 in bar und $7,50 in Gutscheinen, die gegen Bargeld hätten eingetauscht werden können. Hier haben wir nichts anderes als eine Benzinsteuer in Höhe von 75 Cent pro Gallone, zahlbar an der Zapfsäule in einer speziellen Währung, in Verbindung mit einer Erstattung dieser Steuer an die Autofahrer, ebenfalls in dieser speziellen Währung. Wir hätten das ganze also genau so gut auch ohne die Gutscheine abwickeln können. In dem Problem steckt mehr als das, aber dieses „Mehr" hat gewöhnlich nur wenig mit Ethik zu tun. Es ist ja nicht so, dass wir hier ein ethisches Problem gelöst hätten. Vielmehr haben wir den Schleier des Geldes gelüftet und festgestellt, dass die ethische Dimension, die wir im Problem der Kraftstoffrationierung vermutet hatten, gar nicht existiert. Oder, anders ausgedrückt, der ethische Gehalt, den wir assoziiert hatten, hat mit dem Problem der Rationierung allenfalls als Randerscheinung zu tun. Wie immer das kompensatorische Ziel auch beschaffen sein mag, das Studierende ob ihres Gerechtigkeitssinns so anziehend finden, es gibt viele Mechanismen, die diesem Ziel dienen können, einige besser, andere schlechter, und Benzingutscheine weder am besten noch am schlechtesten. Und wenn das ganze Problem erst einmal in Geldeinheiten übersetzt worden ist, erkennen wir leichter, welche weiteren Alternativen es noch geben könnte, und ob diese aus ethischen Gründen zu bevorzugen wären. Oberflächlich betrachtet, könnte es falsch erscheinen, Leuten, die gar nicht Auto fahren, Benzingutscheine zuzuteilen. Aber wenn stattdessen Benzin besteuert wird und die Einnahmen aus der Steuer an die Öffentlichkeit ausgezahlt werden, dann können wir viele alternative Auszahlungsmodi der Einnahmen ethisch beurteilen, und nicht nur solche, die den Besitz eines Führerscheins und einer Kfz-Zulassung voraussetzen.

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Etwas mehr Überzeugungsarbeit ist zu leisten, wenn es um gesetzliche Mietpreisobergrenzen geht, unter anderem deshalb, weil Studierende gewöhnlich nicht besonders gut auf ihre Vermieter zu sprechen sind. Wir versuchen also herauszufinden, ob es etwas Besseres geben könnte, zumindest im Prinzip; ob gesetzliche Mietpreisobergrenzen solchen Menschen, die auf der Suche nach einer Wohnung sind, schaden könnten. Wir fragen uns, ob Mieter, die gesetzlich vor Kündigung und Mieterhöhungen geschützt sind, dieses Privileg nicht gern gegen Bargeld eintauschen würden, daran aber gehindert werden, da sich ihre Ansprüche nur auf eine ganz bestimmte Wohnung beziehen. Erfahrungsgemäß geschieht nun Folgendes: Nachdem wir alle relevanten Parteien und ihr vermutliches Eigeninteresse identifiziert haben, und nachdem wir einige Alternativen berücksichtigt haben, mit denen sich all die Dinge erreichen ließen, die gesetzlicher Kündigungsschutz und Mietpreisobergrenzen wohl erreichen sollen, stellen wir fest, dass die Diskussion durchaus nicht an Lebendigkeit verliert - doch dass sich die moralische Aufladung des Themas weitgehend in Luft aufgelöst hat. Es ist nicht meine Absicht, mich der intellektuellen „Siege" über meine Studierenden zu rühmen, um meine Leser damit zu beeindrucken und auf diese Weise darzustellen, wie ökonomische Vernunft zur Klärung ethisch relevanter Probleme beitragen kann. Denn der Anspruch der ökonomischen Vernunft ist durchaus bescheiden: Sie kann helfen, Fehlwahrnehmungen zu korrigieren, wenn Probleme fälschlicher Weise als ethische Probleme wahrgenommen werden. Ökonomische Vernunft leistet dies allein dadurch, dass sie verdeutlicht, was konkret geschieht. Die Ökonomik erklärt nicht die ethische Seite des Problems. Sie zeigt nur auf, wie weit die ökonomische Seite des Problems tatsächlich reicht. Ich will ein paar weitere Beispiele anführen. Gesetzliche Mindestlöhne werden so wahrgenommen, als ginge es um ein ethisches Problem. Aber wenn die wesentliche Wirkung - und möglicherweise sogar die zugrundeliegende Absicht - gesetzlicher Mindestlöhne faktisch darin besteht, dass sie Jugendliche, ältere Menschen und generell wenig produktive Arbeitnehmer in Arbeitslosigkeit stürzen, dann könnte die ethische Dimension des Problems eine ganz andere sein, als die Befürworter von Mindestlöhnen vermuten. Kohlekraftwerksbetreiber die vollen Kosten der Luftverschmutzung bezahlen zu lassen, mag vordergründig ausgesprochen gerecht erscheinen, solange nur nicht die Kosten der Maßnahme über den Strompreis von den Konsumenten getragen werden, während von der weniger verschmutzten Luft nur diejenigen profitieren, die zufällig in der Windrichtung des Kraftwerkes wohnen. In diesem Fall wollen wir vielleicht wissen, wer dort wohnt und wer wie viel Strom verbraucht, was den Kraftwerksbetreiber nicht sonderlich interessieren dürfte. (Sogar dann, wenn die Elektrizität hauptsächlich von Unternehmen bezogen wird, wissen wir noch immer nicht, wer die Steuer wirklich bezahlt, solange wir nicht wissen, wer die dort hergestellten Produkte kauft, oder wer sich mit sinkenden Reallöhnen zufrieden geben muss, weil die Güterpreise steigen.) Sogar unsere Einstellung gegenüber Menschen, die der Einkommensteuer ausweichen, indem sie Trinkgelder, Einnahmen aus dem Verkauf selbstgezogenen Gemüses oder aus Schreibdiensten nicht versteuern, wird primär davon abhängen, ob die Umgehung des Steuersystems hauptsächlich die Löhne und folglich die Preise in Bars und Restaurants sinken lässt, ob sie Salat billiger macht, oder ob sie dazu fuhrt, dass für eine fehlerfrei getippte Abschlussarbeit weniger Geld bezahlt werden muss.

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III. Der Konflikt zwischen Gleichheit und Anreizen Bei politischen Themen geht es oft darum, den Erfolglosen und den Benachteiligten auf eine ausgleichende Art zu helfen. Wir haben Sozialleistungen fiir diejenigen, die nicht arbeiten können, Arbeitslosenhilfe für die, die gerade keine Arbeit haben, besondere Hilfen für Behinderte, medizinische Versorgung für Verletzte und Kranke, Katastrophenhilfe fiir die Opfer von Überschwemmungen, Einkommensteuerbefreiungen für diejenigen, die das Pech hatten, einen plötzlichen Verlust zu erleiden, und Rettungsdienste für Menschen, die sich in Gefahr befinden. Unser Rentensystem basiert auf der Annahme, dass Menschen ansonsten aus dem Arbeitsleben ausscheiden würden, ohne zuvor genügend Ersparnisse für ihren Lebensabend gebildet zu haben. Man kann diesen Sachverhalt auch auf weniger schöne Weise zum Ausdruck bringen: Offensichtlich besteht Regierungshandeln hauptsächlich darin, Menschen dafür zu belohnen, dass sie in Schwierigkeiten geraten. Menschen werden recht üppig dafür bezahlt, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Wenn ich mein Auto zu Schrott fahre, wird die Versicherung einen Teil der Kosten des Neuwagens übernehmen. Und wenn meine Verletzung einen Krankenhausaufenthalt notwendig macht, dann darf ich mich so lange in einem klimatisierten Raum aufhalten, wie der Arzt bestätigt, dass ich mich dort schneller erhole, als wenn ich nach Hause ginge. Fehlt der „Mann im Haus", so wird dies als besondere Härte für Frauen mit Kindern aufgefasst, mit der Folge, dass Familien materiell dafür belohnt werden, dass der Vater das Haus verlässt. Hier gibt es kein Entrinnen: So gut wie jedes Hilfsprogramm, das an einen Missstand geknüpft ist, auf den die Menschen irgendeinen Einfluss haben, und sei es auch über Umwege und vielleicht nur sehr indirekt, verringert den Anreiz, diesem Missstand auszuweichen. Und es verringert den Druck, diesen Missstand wieder hinter sich zu lassen. Weil Sozialleistungen das Verhalten der Menschen beeinflussen, gibt es nur sehr selten welche, die sich nicht in irgendeiner Weise auf die Wahrscheinlichkeit, auf die Dauer oder auf das Ausmaß der Umstände auswirken, die sie eigentlich verbessern sollten. Und meistens - nicht immer, aber meistens - sind diese Auswirkungen unerwünscht und laufen in die falsche Richtung. Um diesen Sachverhalt richtig einzuordnen: Wir beobachten, dass auch private Versicherungen (sogar die informellen, die uns erlauben, um Hilfe zu bitten, wenn uns das Benzin plötzlich ausgeht) die gleichen adversen Effekte haben können. Menschen sind um so eher bereit, auf rutschigen Straßen zu fahren, je umfassender ihr Unfallversicherungsschutz ist. Hintertüren bleiben unverschlossen, wenn die Versicherung den Hausbesitzer großzügig für jeden Einbruch entschädigt. Ich achte weniger auf ein Kratzen im Hals, wenn mein Arbeitgeber mir eine reichliche Anzahl bezahlter Krankheitstage gewährt. Es ist aussichtslos, das leugnen zu wollen, um den Sozialstaat zu verteidigen. Wie so oft in wichtigen Fragen prallen hier Prinzipien aufeinander. Einerseits wollen wir Arbeitslosigkeit als öffentliche Angelegenheit behandeln und Familien aus öffentlichen Mitteln unterstützen, wenn ein Familienmitglied seinen Arbeitsplatz verliert. Andererseits wollen wir keine Anreize setzen, die einige Menschen dazu verleiten würden, sich freiwillig in Arbeitslosigkeit zu begeben oder nicht mit aller Anstrengung einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Was dem einen Ziel dient, schadet dem anderen. 90 Prozent des

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letzten Gehaltes zu zahlen kann Arbeitslosigkeit für einige Menschen unwiderstehlich machen und sogar einen Nettogewinn für diejenigen bedeuten, die schwarz oder im eigenen Haushalt arbeiten können. Nur 40 Prozent zu zahlen könnte das Leben für einige Menschen dauerhaft härter machen, als wir es wollen. Uns bleibt nur, einen Kompromiss zu finden. Allerdings einen Kompromiss, der Arbeitslosigkeit für einige Menschen zu einer großen Härte, für andere zu einer willkommenen Erholung werden lässt. Wir können also noch nicht einmal mit dem Kompromiss zufrieden sein. Ein angemessenes Sozialsystem umfasst in Hochlohnländern notwendig höhere Leistungen als in Niedriglohnländern. Das schafft einen Anreiz zur Einwanderung. Selbst wenn wir Einwanderung befürworten, hatte der Staat, der mehr und mehr Einwanderern Sozialleistungen gewährt, wohl kaum die Absicht, die Armut in anderen Ländern zu verringern, indem er all jenen hilft, die sich aufmachen und die Landesgrenze überschreiten können. Aber eine Absenkung der Sozialleistungen auf ein für potentielle Einwanderer weniger attraktives Niveau würde diejenigen, die von den Leistungen eigentlich profitieren sollten, zu einem unerwünscht niedrigen Lebensstandard verurteilen. Wieder prallen zwei Prinzipien aufeinander. Es gibt Ausnahmen von dieser Tendenz, Anreize zu unerwünschtem Verhalten zu setzen. In den 1930er Jahren wurde in den USA eine staatliche Einlagensicherung eingeführt, um Sparer im Falle des Verlusts ihrer Einlagen zu entschädigen. Die Versicherung schaffte Vertrauen und reduzierte dadurch genau das Verhalten, welches das Problem eines möglichen Bankenruns heraufbeschwor. Und eine Sozialleistung wie eine Rente, wenn sie streng an das Lebensalter gebunden ist, verringert vielleicht den Anreiz zum Sparen, aber sie kann immerhin die Menschen nicht dazu veranlassen, schneller zu altern. Doch ist die Tendenz zu Fehlanreizen praktisch allgegenwärtig. Sie ist beispielsweise auch verantwortlich für einen Großteil des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen. Ich bin mir nicht sicher, ob eines der beiden Prinzipien - den Benachteiligten zu helfen - als ethisch eingestuft werden sollte und das andere - Missbrauch zu vermeiden als unethisch. Einerseits wird ein Großteil der Diskussion über soziale Rechte im Modus der Ethik geführt, etwa im Hinblick auf einen einkommensunabhängigen Zugang zu Gesundheitsleistungen oder im Hinblick darauf, dass es unstatthaft sei, ein „Arbeitsethos" aufzurichten, indem man den Arbeitslosen damit droht, ihre Familien verhungern zu lassen. Andererseits werden, wenn auch in geringerem Ausmaß, ethische Erwägungen angestellt, wenn man den Blick darauf richtet, inwiefern Faulheit ermuntert wird oder inwiefern diejenigen belohnt werden, die das System austricksen oder inwiefern eine Abhängigkeit vom Staat gefordert wird. Sobald man aber erkannt hat, dass zwei Prinzipien in Konflikt zueinander geraten, dass zwei Werte in gegensätzliche Richtungen weisen und dass keiner von beiden so unwiderstehlich ist, dass der andere ganz ignoriert werden könnte; sobald man also erkannt hat, dass beide Ziele ihre Meriten haben und dass es hier keinen idealen Kompromiss geben kann, weil jeweils unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich betroffen sind; sobald man dies also erkannt hat, scheint der ethische Gehalt der Prinzipien an den Rand zu rücken, wenn es darum geht, das unausweichliche Problem zu lösen, einen allgemein akzeptablen Kompromiss zu finden.

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Dies ist ein universelles Problem. Es wird nicht verschwinden. Es kann nicht verdrängt werden. Es beschränkt sich nicht einmal auf den Bereich öffentlicher Politik. Das Wort „Compromise" hat im Englischen zwei unterschiedliche Bedeutungen: Compromising a principle - ein Prinzip kompromittieren - klingt falsch. Compromising between principles - zwischen Prinzipien einen Kompromiss finden - klingt hingegen ganz in Ordnung.

IV. Zur Bewertung des Preislosen Politik hat es mit drängenden Problemen zu tun. Zu den drängendsten Problemen gehören solche, von denen man - implizit oder explizit - annimmt, es müssten endliche Kosten gegen unendliche Werte aufgewogen werden. Wie viel soll es wert sein, ein Menschenleben zu retten? Wie viel soll für faire Gerichtsverfahren ausgegeben werden, um Unschuldige vor einer Verurteilung zu schützen? Welche Grenzen sollen für lebensverlängernde Maßnahmen gelten, die manchmal hohe monetäre Kosten und manchmal viel Leid verursachen, wenn es um Menschen geht, die ohnehin bald sterben werden oder deren Leben, nach Ansicht irgend eines Außenstehenden, nicht mehr lebenswert ist? Probleme dieser Art sind allgegenwärtig. Sie stellen sich bei der Ausgestaltung eines Gesundheitssystems. Sie treten unvermittelt auf bei Entscheidungen über Verkehrsampeln, über die Sicherheit an Flughäfen, über medizinische Forschung, über die Feuerwehr, die Küstenwache und über die Sicherheit von Angestellten im Öffentlichen Dienst. Sie werden indirekt berührt bei Vorschriften zum Arbeitsschutz oder bei Bestimmungen für sauberes Trinkwasser, bei Bauvorschriften und Geschwindigkeitsbegrenzungen, ja sogar bei der Helmpflicht für Motorradfahrer - weil irgendjemand die Kosten tragen muss. Es ist charakteristisch für Politiker, besonders auf nationaler Ebene, dass sie sich selbst so wahrnehmen, als träfen sie Entscheidungen für andere, nicht für sich selbst. Hurrikan- und Tornadowarnungen sind für die, die dort leben, wo Hurrikans und Tornados auftreten. Die Sicherheitsbestimmungen im Bergbau, die das Leben von Menschen betreffen, die unter Tage arbeiten, fallen in die Verantwortung von Gesetzgebern und Beamten, die selbst über Tage arbeiten. Gesetze, die Altersschwache, Komatöse, geistig Behinderte oder Todkranke betreffen, werden von Leuten beschlossen, die selbst gesund sind. Gelegentlich halten die Abgeordneten in einer Debatte um eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen vielleicht inne und fragen sich, ob der Gewinn an Sicherheit für ihre eigene Familie ihnen die zusätzliche Fahrtzeit wert ist, aber wenn er oder sie umsichtig ist, werden solche Erwägungen wohl im Stillen vollzogen. Die Situation ändert sich, wenn eine kleine Gemeinde überlegt, ob eine mobile HerzKreislauf-Maschine oder ein neues Feuerwehrfahrzeug angeschafft werden soll. Die Frage ist dann nicht, was wir ausgeben sollten, um das Leben eines anderen zu retten, sondern was wir aufbringen können, um unser eigenes Leben sicherer zu machen. In Bezug auf das Leben eines anderen freigiebig oder knauserig zu sein, impliziert moralische Erwägungen. Entscheidungen über die eigenen Ausgaben zum eigenen Nutzen, allein oder mit Nachbarn für die Sicherheit der örtlichen Schule, sind weniger ein mora-

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lisches Urteil als vielmehr eine Konsumentenentscheidung, eine Abwägung der Risikoreduktion gegen all die anderen Dinge, die von dem Geld hätten gekauft werden können. Das Beispiel fuhrt mich zu einem Vorschlag: Vielleicht können wir den unbeherrschbaren moralischen Gehalt paternalistischer Entscheidungen auf nationaler Ebene reduzieren, indem wir die Entscheidungen stärker vikarisch ausrichten und stellvertretend für die Betroffenen denken. Anstatt zu fragen, welche Pflichten die Gesellschaft ihnen gegenüber hat, könnten wir fragen, wie sie wollen würden, dass wir ihr Geld ausgeben. Wenn wir vikarisch entscheiden, wie viele Ausgaben für ihre eigenen Sicherheitsgurte, Rauchmelder, Feuerlöscher und Blitzableiter den Menschen zuzumuten sind, ist es einfacher, ihren Interessen gerecht zu werden, und es ist legitim, zur besseren Orientierung darüber nachzudenken, wie viel wir bereit wären, für unsere eigene Sicherheit auszugeben. Die Frage mag noch immer nicht leicht zu beantworten sein, aber sie ist moralisch weniger einschüchternd. Lebten wir alle unter den gleichen wirtschaftlichen Bedingungen und wären wir den gleichen Risiken ausgesetzt, dann wäre dies gewiss die angemessene Perspektive, und zwar unabhängig davon, ob es um die lokale Freilichtbühne oder um die Anschaffung eines neuen Krankenwagens geht. Auf nationaler Ebene sind die jeweiligen Unterschiede groß, aber nichtsdestotrotz sollten wir von unseren Gesetzgebern erwarten, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, unser Geld für unsere Zwecke auszugeben. Wir wollen weder, dass die Entscheidungsträger geizen, wo es wirklich darauf ankommt, noch wollen wir, dass sie übertreiben und für viel Geld - unser Geld - teure Vorsorge für jedes noch so kleine Risiko treffen. Wir wollen nicht, dass die Entscheidungsträger fragen, was die Regierung ihren Bürgern an Sicherheit schuldet. Wir wollen, dass sie fragen, wie viel von unserem eigenen Geld wir Steuerzahler für unsere eigene Sicherheit ausgegeben sehen möchten. Es ist bemerkenswert, wie schnell das Problem aus dieser Perspektive kollektiver Selbstversorgung den ethischen Gehalt verliert, der lediglich ein Produkt der ursprünglich eingenommenen Fremdversorgungs-Perspektive war. Wir können zwar immer noch ethische Probleme finden, doch sind es jetzt deutlich andere als die, die zuvor von so überaus großer Bedeutung zu sein schienen. Man kann dies den kontraktualistischen Ansatz sozialer Verantwortung nennen. Blendet man eine solche Vertragsgrundlage aus, dann könnte es zunächst so aussehen, als sei ich verpflichtet, Ihnen unendlich viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl, Annehmlichkeiten, Unterhalt, Kost und Logis und die bestmögliche medizinische Versorgung bis ans Ende unserer Tage zu gewähren, und ich könnte mich schuldig fühlen, wenn ich innehielte und mich fragte, ob Sie all die Lasten wohl wert sind, die Sie mir auferlegen. Wenn aber nun umgekehrt ich an der Reihe bin, dann, natürlich, werde ich von Ihnen das gleiche erwarten (oder von der Person, der die korrespondierenden Pflichten mir gegenüber zukommen, die ich Ihnen gegenüber hatte). Auch hier würde ich mich vielleicht ein wenig schuldig fühlen, doch nicht schuldig genug, um auf meine Ansprüche zu verzichten. Wenn wir uns aber in jungen Jahren und bei guter Gesundheit zusammensetzen könnten, um einen Vertrag aufzusetzen, der die Rechte und Pflichten, die wir gegeneinander zu haben wünschen, verbindlich festschreibt, ausgehend von gleichen Lebensrisiken, dann könnten wir uns entscheiden, exorbitant hohe Ansprüche gegenei-

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nander auszuschließen. Und es käme uns wohl kaum in den Sinn, darin ein ethisches Problem zu sehen. Der kontraktualistische Ansatz kann hilfreich sein, wenn wir es mit so traumatischen Entscheidungssituationen zu tun haben wie beispielsweise der, welches Flugzeug wir abstürzen lassen sollen, das große mit den vielen oder das kleine mit den wenigen Passagieren, wenn beide in Gefahr sind und höchstens eines gerettet werden kann. Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich im Kontrollturm sitze und nicht umhin kann, eine Entscheidung zu treffen? Eine solche Art von Gottesurteil über Leben und Tod anderer Menschen ist ein ethisches Dilemma, für das es nach Ansicht vieler kluger Menschen keine einfache Lösung gibt. Wenn ich jedoch nicht für andere, sondern für mich selbst entscheide, etwa als Fluggast, der in einer Umfrage der Federal Aviation Agency eine Regel benennen soll, nach der sich der Tower in Zukunft in einem solchen Notfall zu richten hat, dann ist meine Entscheidung weder ein ethisches Problem noch ein Dilemma. Ich habe etwas geschummelt, indem ich unterstellt habe, dass wir alle den gleichen Risiken ausgesetzt seien und dass wir über die gleichen Mittel verfügen, uns dagegen abzusichern. Normalerweise ist das nicht so. Dennoch bleibt die konzeptionelle Vorgehensweise fruchtbar, nämlich zu fragen, was die Sicherheit denjenigen wert ist, denen sie zugute kommt. Wenn jemand größeren Risiken ausgesetzt ist als ich - nehmen wir an, er allein trägt alle Risiken und ich gar keine - , und die Regel lautet, dass wir die Kosten des Risikos teilen, und wir sind rein eigeninteressierte Akteure, dann würde ich diese Regel völlig wertlos finden, und er würde sie doppelt so attraktiv finden, als wenn er das Risiko allein hätte tragen müssen. Wenn er Hobbypilot ist und ich nicht, und die neue Runwaybeleuchtung des örtlichen Flughafens kostet jeden von uns $1.000, dann könnte sie ihm das wert sein und mir nicht. Wenn die neue Beleuchtung ihm mehr als $2.000 wert ist, dann sollte sie angeschafft werden, wenigstens dann, wenn er dafür zahlt. (Die Frage, ob ich die Hälfte davon bezahlen sollte, kann getrennt gestellt werden.) Aber nehmen wir an, ihm wäre der geringe Zuwachs an Sicherheit nicht mehr als $1.500 wert. Ich schlage vor, dass die Lichter dann nicht angeschafft werden sollten. Obwohl wir also unterschiedlicher Ansicht darüber sind, ob die neue Beleuchtung angeschafft werden sollte, wenn wir jeder einzeln $1.000 zahlen müssen, würde der Ökonom in mir das Problem eher so stellen: Wenn, weil seine persönliche Sicherheit auf dem Spiel steht, er allein befugt ist, auch über die Verwendung meines Beitrags von $1.000 zu entscheiden, und wenn ich seinen Anspruch anerkenne und das Geld zu seiner Verfügung hinterlege, würde er dann meine $1.000 für die Lichter ausgeben oder sie lieber selbst behalten? Mir kann das egal sein. Ich mag mich darüber ärgern, dass ich mein Geld hergeben musste, obwohl er die neue Beleuchtung eigentlich gar nicht wollte, aber ich könnte mich noch mehr darüber ärgern, wenn meine $1.000 für etwas ausgegeben werden, was seiner Ansicht nach gar keine $1.000 wert ist. Allerdings könnten wir uns beide besserstellen, wenn ich ihm einfach $750 gebe und wir die Sache mit den Lichtern vergessen. Für einige von uns mag das Problem dadurch noch nicht gelöst sein. Aber ich möchte behaupten, dass es sich dennoch um eine nützliche Perspektive handelt, um eine Denkweise von großer Relevanz, und obwohl andere Überlegungen auch relevant sind, sind sie vielleicht keine ethischen Überlegungen, oder sie sind nicht gleichbedeutend mit der

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ethischen Frage, ob unsere kleine Zwei-Personen-Gesellschaft den Wert des Lebens einer Person zu gering veranschlagt hat, indem sie entschieden hat, die Beleuchtung nicht zu kaufen. (Vielleicht hat diese Person den Wert ihres eigenen Lebens zu gering veranschlagt, aber ich sehe nicht, weshalb ich mich deshalb schuldig fühlen sollte. Vielleicht ist es ja zudem so, dass eine bessere Straßenbeleuchtung für sie wichtiger wäre als eine bessere Runwaybeleuchtung). Komplizierter ist die folgende Frage: Stellen wir uns vor, jemand ist arm und ich bin reich. Er benutzt einen billigen kleinen Flughafen. Ich benutze einen gut ausgestatteten Flughafen. Nehmen wir nun an, dass eine leistungsfähigere Runwaybeleuchtung auf den Markt kommt, und falls sie angeschafft wird, muss sie aus einem gemeinsamen Etat für die Sicherheit an Flughäfen bezahlt werden. Wenn die Beleuchtung die Sicherheit an meinem Flughafen genauso stark anheben würde wie die Sicherheit an seinem, und wenn entschieden werden muss, ob wir seinen billigen kleinen Flughafen mit den gleichen teuren Sicherheitsmaßnahmen ausstatten sollten wie meinen luxuriösen, dann stellt sich eigentlich die Frage: Ist sein Leben genauso viel wert wie meins? (Vernachlässigen wir für den Moment die Möglichkeit, dass es an einem der Flughäfen mehr Verkehr geben könnte als an dem anderen.) Gehen wir die Frage an. Wenn er arm ist und ich reich bin, ist mein Leben dann mehr wert als seins? „Wert" bezieht sich hier darauf, wie viel angemessenerweise ausgegeben werden sollte, um uns vor einem bestimmten Risiko zu schützen. („Wert" ist also ein arithmetisches Konstrukt. Wenn wir eine Zahlungsbereitschaft von genau $2.000 pro Person haben, um jedermann vor einer tödlichen Gefahr zu schützen, die eine von 500 Personen trifft, dann sollten wir für jedes gerettete Leben $1.000.000 ausgeben. In dieser und nur in dieser Hinsicht haben wir ein menschliches Leben mit $1.000.000 „bewertet"). Und wenn wir uns fragen, wie viel sein Leben wert ist und wie viel meins, und ob sein Leben weniger Wert ist als meins, dann ist es ungemein hilfreich, sich darüber Klarheit zu verschaffen, was es bedeutet zu fragen: wie wertvoll für wen? Und wer soll dafür zahlen? Wenn er ärmer ist als ich, dann ist es wahrscheinlich, dass sein Leben ihm weniger von seinem Geld wert ist als mein Leben mir von meinem. Er kann es sich nicht leisten, so viel Geld wie ich für alles Mögliche auszugeben, einschließlich seiner persönlichen Sicherheit, eben weil er arm ist. Wir erwarten, dass der Arme weniger für seine Wohnung und für die Sicherheit seines Autos ausgibt als der Wohlsituierte, weil der Kauf größerer Mengen dieser Güter den Verzicht auf andere, dringender gewünschte Güter bedeuten würde. Eine arme Stadt wird weniger für den Brandschutz ausgeben als eine reiche, weil die arme Stadt es sich nicht leisten kann, genauso viele Steuern einzutreiben wie die reiche, trotzdem aber Schulen und Straßen ebenso benötigt wie Feuerwehrautos. Aber folgt daraus, dass eine Regierungsbehörde für Luftsicherheit berechtigt wäre, einem ärmeren Menschen die neue Runwaybeleuchtung vorzuenthalten und meine zu bauen, zudem auf Staatskosten? Der Ökonom in mir ist versucht, ,ja" zu sagen. Der Politikberater in mir würde nur so weit gehen, mit „vielleicht" oder „das kommt darauf an" zu antworten. Es kommt darauf an, wer letztlich die Kosten trägt und darauf, was die relevanten Alternativen sind, wenn der, der ärmer ist als ich, keine neue Runwaybeleuchtung bekommt.

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Die zugrundeliegende Argumentation ist aufschlussreich. Sie besteht aus drei Schritten. Erstens: Wenn die Nutzer beider Rollbahnen für alle von ihnen genutzten Einrichtungen selbst zahlen müssten, einschließlich der Sicherheitsvorkehrungen, dann könnte es sein, dass den Menschen mit geringem Einkommen der Zuwachs an Sicherheit das Geld nicht wert ist, während die wohlhabenden Nutzer meines Flughafens die Anschaffung der neuen Lichter für ein gutes Geschäft halten. Wir mögen die gleiche Einstellung zu Leben und Tod haben wir sie. Aber die Kosten der Anschaffung neuer Lichter können wir leichter verkraften, weil wir nicht so arm sind, wie sie es sind. Also sollte man nicht überrascht sein, wenn unser Flughafen die neue Beleuchtung bekommt und ihrer nicht. Zweitens: Wenn nun eine staatliche Sicherheitsbehörde beide Flughäfen verpflichten würde, die neuen Lichter jeweils auf eigene Kosten anzuschaffen, dann müsste diese Behörde wohl davon ausgehen, dass die ärmeren Menschen ursprünglich einen Fehler gemacht haben. Angenommen, sie kennen den Preis der Lichter, dann müsste die Behörde ihnen entweder unterstellen, dass sie die Verringerung des Risikos bei Start und Landung falsch einschätzen, oder aber dass sie nicht in der Lage sind, ihre eigene Sicherheit gegen ihr eigenes Geld abzuwägen. Sie müsste ihnen also unterstellen, dass sie sich aus ihrer eigenen Perspektive verkalkuliert haben. Wenn diese Behörde aber herausfindet, dass sie sehr wohl wussten, wie groß der Gewinn an Sicherheit sein würde, den die neuen Lichter mit sich bringen, dann müsste sie annehmen, dass die Menschen ihr eigenes Leben unterbewerten oder die anderen Güter überbewerten, die sie sich statt der Lichter von ihrem Einkommen kaufen wollten. Vielleicht haben sie ja wirklich einen Fehler gemacht. Möglicherweise ist es aber stattdessen so, dass diese Menschen nicht recht einsehen wollen, weshalb die Beamten einer staatlichen Luftsicherheitsbehörde eine genauere Kenntnis davon haben sollten als sie selbst, was ihnen ihr Geld wert ist. Sie könnten Gründe dafür haben, gegen eine Vorschrift zu protestieren, die vorsieht, dass sie ihren eigenen Flughafen auf eigene Kosten mit diesen teuren Lichtern ausstatten müssen. Drittens: Nun lassen wir die Behörde über eigene Mittel verfügen, mit denen sie Sicherheitsausstattungen an Flughäfen erwerben kann, einschließlich dieser neuen Lichter. Sie bietet dem kleinen billigen Flughafen die Lichter an, finanziert aus öffentlichen Mitteln. Die Nutzer des Flughafens könnten das ablehnen. Aber die Lichter wären ja umsonst, und obwohl sie ihnen vielleicht nicht das wert sind, was sie kosten, sind sie besser als die alten Lichter. Besteht das für die Nutzer des billigen Flughafens beste Ergebnis also darin, die Lichter aus öffentlichen Mitteln finanziert zu bekommen? Ich versuche, meinen Studierenden beizubringen, auf eine solche Frage mit einer Gegenfrage zu antworten: Was ist die Alternative? Wenn die Alternative eine Senkung der Steuern ist - ihrer Steuern - , dann finanzieren sie die Lichter eigentlich selbst, weil sie die Steuern zahlen und dann die Lichter (vermeintlich) „umsonst" bekommen. Sie könnten sich also für niedrigere Steuern, für ein niedrigeres Budget der Luftsicherheitsbehörde und für die alten Lichter entscheiden. Aber vielleicht zahlen sie, arm wie sie sind, viel weniger Steuern als wir, die wir täglich auf dem anderen Flugplatz starten und landen. Wenn sie auf die Lichter verzichten, ersparen sie uns den Großteil der Kosten. Ihr Anteil an den Kosten, in Form ihrer poten-

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tiellen Steuerersparnis, könnte geringer sein als ihre Wertschätzung für die Lichter. Müssten sie sich dann nicht vernünftiger Weise für die Lichter entscheiden? Es gibt eine letzte Alternative. Wenn die Luftsicherheitsbehörde ihnen das Geld für die Lichter auszahlt, ohne sie zu verpflichten, diese auch tatsächlich zu kaufen - oder wenn die Behörde die Lichter liefert und sie diese dann weiterverkaufen und das Geld behalten können - , dann wählen sie wahrscheinlich das Geld. Und mir ist das egal. Ich hätte das Geld lieber behalten, also niedrigere Steuern bevorzugt, aber wenn sie ein Recht auf das Geld haben und ihnen Geld lieber ist als Leuchten, dann würde es mich auch nicht glücklicher machen, wenn man sie zum Kauf der Leuchten zwingen würde. Vielleicht können wir uns sogar darauf einigen, dass sie etwas weniger Geld ausgezahlt bekommen, als die neue Beleuchtung gekostet hätte, damit ich eine kleine Steuerersparnis habe. Ich glaube, dies ist ein starkes Argument für die These, dass Regierungen weniger Geld für die Rettung des Lebens armer Menschen ausgeben sollten als für die Rettung des Lebens reicher Menschen. Allerdings ist dies kein voraussetzungsloses Argument. Es ist lediglich ein Argument dafür, dass es bessere Wege gibt, Geld auszugeben - besser aus Sicht der Armen! Das Argument ist stark, aber nicht immer durchschlagend. Es mag Kontexte geben, in denen es nicht dazu beiträgt, das eigentliche Problem zu lösen. Wenn das Geld nur für diese Beleuchtung zur Verfügung steht und die Nutzer des kleinen Flughafens das Geld nicht so ausgeben können, wie sie es für richtig halten, wenn das Geld nur für die Flugsicherheit zur Verfügung steht und nicht für den Schutz vor Fluglärm oder für Schulen, wenn wir, die wir die Steuern zahlen, auf ihre Forderung nach den gleichen Sicherheitsstandards an ihrem Flughafen eingehen, aber nicht bereit sind, ihnen andere Güter oder ein Äquivalent in Form einer Senkung ihrer Steuern zuzugestehen, dann ist ihre Alternative zu mehr Flugsicherheit nur weniger Flugsicherheit. Das oben dargestellte Argument wird ihnen nicht dabei helfen, etwas Besseres als eine neue Runwaybeleuchtung zu bekommen. Dennoch spiegeln diese Einschränkungen, so wichtig und ausschlaggebend sie oft sein mögen, eher politische Restriktionen bei der Ausgestaltung von Sicherheitsprogrammen wider, jedoch weniger den Kern des ethischen Problems, das sich ursprünglich in Gestalt der Frage zu stellen schien, ob das Leben der Armen durch politische Maßnahmen weniger geschützt werden sollte als das Leben der Reichen. Noch immer könnten wir, nachdem auf dem Flughafen mit den veralteten Lichtern ein Flugzeug abgestürzt ist, es als hart empfinden, unseren Kindern zu erklären, weshalb die Luftsicherheitsbehörde diesem kleinen Flughafen auf der anderen Seite der Bahngleise offenbar weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als unserem eigenen. Auch die Beamten könnten Schwierigkeiten haben, das ihren Kindern zu erklären. Es bleiben ethische Probleme, wenn auch nicht ganz die gleichen, die wir zunächst wahrgenommen hatten.

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V. Der Ansatz marginaler Besserstellung Dem Leser wird sowohl beim Beispiel der Kraftstoffrationierung als auch beim Beispiel der Luftsicherheit eine Technik aufgefallen sein, die die Ökonomik üblicherweise einsetzt, um festzustellen, ob man bestimmte Umstände, eine bestimmte Politik oder ein Programm als „gut" qualifizieren kann. Diese Technik besteht darin, herauszufinden, ob es alternative Umstände, eine alternative Politik oder ein alternatives Programm gibt, das in Bezug auf seine Ergebnisse oder Konsequenzen „besser" wäre. Und „besser" ist in ganz bestimmter Weise definiert, nämlich als vorzugswürdig aus Sicht aller Betroffenen oder, etwas weniger anspruchsvoll, aus Sicht aller identifizierbaren Interessen. In Bezug auf die Kraftstoffrationierung fragen wir uns, ob es etwas Besseres gibt, etwas, das genau die Ziele erreicht, die man mit der Rationierung erreichen wollte, und zusätzlich noch marginale Besserstellungen ermöglicht: Wir fragen, ob eine Alternative denkbar ist, die einige der mit der Rationierung verfolgten Ziele umfassender zu verwirklichen vermag oder die die gleichen Ergebnisse erreicht, aber zu geringeren Kosten für wenigstens eine der betroffenen Parteien. Dass es etwas Besseres gibt, heißt nicht unbedingt, dass die Rationierung von Benzin eine schlechte Maßnahme wäre, sondern lediglich, dass es eine identifizierbare Alternative gibt, die der Rationierung überlegen ist. Nicht immer, aber doch manchmal ist es möglich, einen oberen oder unteren Grenzwert für das Ausmaß dieser Überlegenheit abzuschätzen. Und wenn der Fall eintritt, dass eine Alternative nur für einige Parteien marginale Besserstellungen verspricht, für andere Parteien jedoch mit Nachteilen verbunden ist, dann ist es manchmal möglich, das Ausmaß abzuschätzen oder einen Höchstwert anzugeben, der nicht überschritten wird. Das Beispiel der Flughafenbeleuchtung zeigt, was diese Art der Analyse leisten kann, und es verdeutlicht zugleich einige ihrer Grenzen. Die Analyse beschäftigt sich allein mit Ergebnissen, nicht mit Prozessen. Was aber am wichtigsten ist: Die Analyse demonstriert nicht, dass eine überlegene Maßnahme oder ein überlegenes Programm tatsächlich realisiert werden kann. Eine überlegene Alternative mag Institutionen voraussetzen, die gar nicht existieren, oder eine Politik, die nicht mehrheitsfähig ist, oder Verwaltungsentscheidungen, die nicht durchgesetzt werden können. Ich habe meine Zweifel, ob der Leser mehr als ich selbst von der Weisheit einer Politik überzeugt ist, die niedrigere Sicherheitsstandards an Flughäfen vorsieht, sofern diese von einkommensschwachen Passagieren benutzt werden, und zwar auch dann, wenn es prinzipiell möglich wäre, eine marginale Besserstellung zu organisieren, also den Betroffenen eine Gegenleistung (etwa in Form von Geld) zukommen zu lassen, die nach ihrem eigenen Urteil mehr wert ist als eine unverhältnismäßig geringe Verbesserung ihrer Sicherheit. Das Beispiel lässt sich noch weiter ausführen. Wenn die Sicherheit an Flughäfen nicht in nationaler, sondern in kommunaler Verantwortung läge, so vermute ich, dass wir nicht davon ausgehen würden, dass Gemeinden, deren Flughafen von einkommensschwachen Passagieren benutzt wird, die gleichen Investitionen in lebensrettende Sicherheitsmaßnahmen vornehmen wie solche Gemeinden, deren Flughafen von Geschäftsreisenden und wohlhabenden Touristen frequentiert wird. Vielleicht würden wir uns dann nicht verpflichtet fühlen, Flugreisende zu besteuern, um die Einnahmen an die Nutzer von Flughäfen in armen Regionen zu transferieren. Vielleicht würden wir sogar erwarten, dass Menschen auf der Suche nach billigen Flügen gezielt Flughäfen mit ge-

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ringeren Sicherheitsstandards wählen, um von den niedrigeren Gebühren zu profitieren, die sich als Folge geringerer Investitionen in Sicherheitsvorkehrungen ergeben. Und wenn dann die Forderung erhoben würde, die Sicherheit an den Flughäfen in armen Gemeinden aus öffentlichen Mitteln zu subventionieren, könnte man sich vorstellen, dass konkurrierende Forderungen erhoben werden, das Geld lieber für die Nahrungsmittelsicherheit, für die Seuchenprävention, für die Entsorgung von Giftmüll oder für die Polizei und für die Gesundheitsvorsorge in den Innenstädten zu verwenden und nicht für die Sicherheitsbeleuchtung da draußen auf dem Rollfeld. Ich möchte diesen Teil der Diskussion abschließen, indem ich zwei Punkte wiederhole und besonders hervorhebe: Erstens versucht die von mir vorgestellte Art des Denkens, wenn sie redlich durchgeführt wird, Einschätzungen zu verändern, indem sie Programme modifiziert und Alternativen vergleicht, ohne die Bewertungsskalen anzutasten, nach denen die jeweiligen Konsequenzen für unterschiedliche Menschen oder Interessen ursprünglich beurteilt wurden. Diese Art der Analyse untersucht alternative Ergebnisse und bewertet sie aus der Sicht aller relevanter Parteien, um festzustellen, ob es etwas „Besseres" geben könnte, wie immer der ursprüngliche Vorschlag oder die Ausganssituation auch beschaffen gewesen sein mögen. Die vorgestellte Analyse ist deshalb von zwar begrenzter, aber genuiner Nützlichkeit. Mein zweites Argument lautet, dass der Ansatz ohne Zauberei auskommt: Hier gibt es keine undurchdringlichen Geheimnisse, nichts, was ein verantwortungsbewusster politischer Entscheidungsträger nicht begreifen könnte, wenn er nur Willens ist, einige Mühe auf sich zu nehmen, um herauszufinden, ob es vielleicht eine überlegene Alternative gibt, die marginale Besserstellungen ermöglicht. Leider verwenden Ökonomen den Begriff der „Effizienz", um diesen Analyseprozess zu beschreiben, und häufig unterscheiden sie zwischen Gesichtspunkten der „Effizienz" und solchen der „Gleichheit". Das Wort „Effizienz" klingt mehr nach Ingenieurshandwerk als nach der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Und wenn ich jemandem sage, dass es „ineffizient" ist, die beste verfügbare Beleuchtung am Flughafen der Armen zu installieren, dann ist es wahrscheinlich, dass er glaubt, genau zu wissen, was ich meine. Er wird es wahrscheinlich nicht leiden mögen, und wahrscheinlich wird der Leser es auch nicht leiden mögen. Wenn ich dann erkläre, dass „ineffizient" nur meint, dass ich mir etwas Besseres vorstellen kann, etwas, das aus Sicht aller Beteiligten besser wäre, dann hätte man immerhin einen Anlass, sich zu wundern, weshalb ich das Wort „Effizienz" auf so unübliche Weise gebrauche. Der einzige Grund, der mir dafür einfällt, ist, dass Ökonomen sich hauptsächlich mit ihresgleichen unterhalten.

VI. Wie man dem Trade-Off zwischen Effizienz und Gleichheit entgehen kann Zu den am heftigsten umstrittenen Fragen, mit denen es die Politik zu tun hat, zählt die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Bei Steuern und Zöllen, bei Einkommenstransfers und Lebensmittelmarken, bei der Festsetzung von Preisobergrenzen für Wohnungsmieten, bei Subventionen für die Landwirtschaft, bei Heizkostenzuschüssen, gesetzlichen Mindestlöhnen, sozialem Wohnungsbau, den sozialen Sicherungssystemen

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und ihrer Finanzierung, bei der Strompreisregulierung, bei Bestimmungen zum Arbeitsrecht und zu kollektiven Lohnverhandlungen der Tarifpartner geht es wesentlich um die Umverteilung von Einkommen. Die Auseinandersetzung um diese Fragen ist immer auch ein Streit um die Kosten und Nutzen für die Bauern, die Verbraucher, die Arbeitslosen, die Vermieter, für die chronisch Kranken und die Gesunden, für die Armen und Reichen. Freiheit ist ein Thema, aber sie wird oft als die Freiheit verteidigt, seinen persönlichen Gewinn oder Vorteil anzustreben. Rechte sind ein Thema, aber sie begegnen uns oft in Gestalt eines Rechts auf Sozialleistungen, auf Arbeit, auf lebenserhaltende medizinische Versorgung, eines Rechts auf die Fortführung einer bedrohten Berufstätigkeit wie Fischfang oder Landwirtschaft, oder in Gestalt des Rechts, mit anderen um Märkte und Arbeitsplätze konkurrieren zu dürfen. Todesstrafe, Abtreibung oder die Sicherheitsverwahrung potentieller Straftäter sind kontroverse Themen, bei denen es nicht in erster Linie um die Einkommensumverteilung geht. Aber selbst diese Themen berühren Verteilungsaspekte. Es war die Frage, ob Abtreibungen vom öffentlichen Gesundheitssystem bezahlt werden sollten, an der sich die Kontroverse über das Recht auf Abtreibung neu entzündet hat. Die Todesstrafe und die Rechte von Angeklagten vor Gericht werden deshalb so kontrovers diskutiert, weil sie sich auf arme und reiche Menschen ganz unterschiedlich auswirken. Von ethischen Fragen einmal abgesehen, erwarten wir, dass sich kontroverse Debatten entlang der Frontlinien ökonomischer Interessen entzünden. Die Automobilindustrie würde gern vor ausländischen Autos geschützt werden, die Stahlindustrie vor ausländischem Stahl und die Fleischindustrie vor ausländischem Rindfleisch. Wir erwarten von den organisierten Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dass sie ihre Partikularinteressen argumentativ in die überzeugendsten moralischen Begriffe kleiden, die ihnen einfallen; schließlich tun ihre politischen Gegner das Gleiche. Folglich stehen diejenigen von uns, die nach einem unparteiischen Standpunkt suchen und die - etwa im Hinblick auf ethische Konsequenzen oder auf Verteilungswirkungen - kontroverse Vorschläge aus Sicht des öffentlichen Interesses als richtig oder falsch beurteilen wollen, vor der Frage, wie ihnen die ökonomische Vernunft dabei helfen kann. Ökonomische Vernunft ist keine große Hilfe, wenn es darum geht, alternative Einkommensverteilungen zu bewerten oder festzulegen, wie viel Geld ein Armer erhalten muss, damit es gerechtfertigt erscheint, einem Reichen Geld wegzunehmen. Angesichts der in gewisser Weise entmoralisierenden Funktion, die ich der ökonomischen Vernunft zugewiesen habe, ist diese eher dazu geeignet, zwischen verschiedenen Mitteln zu wählen, um ein gegebenes Verteilungsziel zu erreichen, als dazu, das Ziel selbst zu wählen. Ökonomische Vernunft kann helfen, die Kosten zu senken, die den Reichen entstehen, wenn sie den Armen helfen. Und falls man das für uninteressant halten sollte, kann ökonomische Vernunft einem vor Augen führen, von wie großem Interesse eine solche Einsicht in Wirklichkeit ist: Bei gegebenen Kosten für die Reichen gibt es mehr an die Armen zu verteilen, wenn man hierbei Verschwendung vermeidet. Und oft erreicht die Ökonomik das einfach dadurch, dass sie zwei Dinge gleichzeitig ins Blickfeld rückt. Die Ökonomik ist häufig so etwas wie ein Makler oder Schlichter in einem Verhandlungsprozess, der dazu beiträgt, integrative Tauschakte zu fordern. Damit ist gemeint, die Suche nach überlegenen Lösungen anzuleiten. Es geht darum, Verhandlungen auf solche Sachverhalte zu lenken, bei denen ein Zugeständnis der einen Seite größere Vor-

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teile verschafft, als sie der anderen Seite an Nachteilen zumutet. Wenn mich die Kaffeepause eines Mitarbeiters genauso viel kostet wie eine bessere Krankenversicherung, die ihm wichtiger wäre, dann könnten wir Kaffee gegen Medizin tauschen und uns beide besser stellen. Aber das erfordert, dass in der Verhandlung beide Themen gleichzeitig auf den Tisch gelegt werden. Ich möchte dies anhand eines weiteren provokanten Vorschlags illustrieren, den ich oft meinen Studierenden unterbreite, den sie regelmäßig ablehnen und den ich ihnen dann schmackhaft mache, indem ich ihn in zwei Dimensionen analysiere anstatt in einer. Das Steuerrecht erlaubt es jedem von uns, vom eigenen Bruttoeinkommen $1.000 pro Kind abzuziehen, woraus sich das zu versteuernde Einkommen ergibt. Das Gesetz erlaubt dies unabhängig davon, ob das Kind ein Kleinkind oder ein Teenager ist, ob man ein Kind oder sechs Kinder hat, und - darauf will ich hinaus - auch unabhängig davon, ob man $20.000 oder $120.000 im Jahr verdient. Meine Frage lautet nun: Wenn man bei $20.000 im Jahr $1.000 steuerlich absetzen darf, soll man bei $120.000 im Jahr immer noch $1.000 absetzen dürfen? Ich möchte hier vorschlagen, wie ich das auch meinen Studierenden gegenüber tue, dass die Zahl bei hohen Einkommen höher als $1.000 pro Kind sein sollte. Ein mögliches Argument hierfür lautet, dass Familien mit hohen Einkommen mehr für ihre Kinder ausgeben, so dass die Kosten der Kinder für sie viel höher sind. Es gibt Gegenargumente. Eines davon lautet, dass die Kinder der Reichen ohnehin schon privilegiert sind, so dass sie armen Kindern gegenüber nicht auch noch zusätzlicher Steuervorteile bedürfen; demzufolge sollte sich die Politik nicht damit abfinden, dass reichen Kindern mehrere tausend Dollar Familieneinkommen zur Verfügung stehen, während arme Kinder mit $1.000 auskommen müssen. Ein anderes Gegenargument lautet wie folgt: Obwohl reiche Kinder höhere Kosten verursachen als arme und es keinen Grund gibt, ihnen ihr besseres Leben und Umfeld zu missgönnen, gibt es ebensowenig einen Grund, weshalb reiche Familien mit vielen Kindern auch noch aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden sollten; es gibt andere wichtige Anliegen, die Steuererleichterungen eher rechtfertigen würden. Alternativ kann man auch argumentieren, dass einige reiche Paare schöne Autos und teure Häuser mögen, andere mögen Haustiere, und wieder andere Kinder; und ob wir es begrüßen oder nicht, dass einige sich entscheiden, ihr Geld für Kinder auszugeben, so gibt es doch keinen Grund, weshalb wir uns an ihren Kosten beteiligen sollten, besonders dann nicht, wenn wir selbst nicht so reich sind wie sie. Angesichts dieser argumentativen Ausgangslage ist es nicht leicht für mich, die Diskussion zu gewinnen. Um die Situation zu meinen Gunsten zu wenden, beginne ich mit folgendem Hinweis: Die vom Kongress beschlossene Steuertabelle besteht aus zwei Teilen. Erstens gibt es die Tabelle für verheiratete Paare ohne Kinder. Zweitens gibt es die Formel, mit deren Hilfe die Familiengröße berücksichtigt wird. Es ist diese Familiengrößenformel, aus der die einheitlichen $1.000 pro Kind hervorgehen. Wenn dieser Freibetrag für einkommensstarke Familien erhöht würde, so würde das die Steuerlast reicher Familien mit Kindern verringern und ebenso die Steuerzahlungen der Reichen insgesamt. Nun hätte der Kongress statt einer Steuertabelle für kinderlose Paare genauso gut eine Tabelle für die „typische" Familie verabschieden können, beispielsweise für ein Paar mit 2 oder 3 Kindern. Anschließend wäre diese Tabelle anzupassen, denn Paare ohne Kinder können leicht höhere Steuern verkraften als Paare mit Kindern. Man könn-

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te also einen „Zuschlag für Kinderlose" einführen. Dies ließe sich bewerkstelligen, indem man andere Abzüge und Ausnahmen streicht, beispielsweise in Höhe von $1.000 für das Paar mit einem Kind und in Höhe von $2.000 für das Paar ohne Kinder, oder indem man „virtuelles Einkommen" zum Einkommen dieser Familien addiert, um vom Bruttoeinkommen zum zu versteuernden Einkommen zu gelangen. Frage: Wenn wir das zu versteuernde Einkommen kinderloser Paare im Vergleich zur Standardfamilie mit 2 oder 3 Kindern erhöhen, addieren wir dann bei der Familie mit nur $20.000 Einkommen den gleichen Betrag zum zu versteuernden Einkommen wie bei der Familie mit $120.000? Natürlich kann eine Familie mit $20.000 Einkommen höhere Steuern verkraften, wenn sie nicht zwei oder drei Kinder hat, sondern gar keine Kinder. Aber sie kann nicht sehr viel höhere Steuern verkraften. Das ist offensichtlich anders bei kinderlosen Paaren mit einem Einkommen von $60.000 oder gar $120.000. Sie könnten deutlich höhere Steuern verkraften. Allein ein Kind zur Universität zu schicken, kann $10.000 im Jahr kosten. Wenn das Ziel darin besteht, so viele Steuern wie möglich von wohlhabenden Familien einzutreiben, nachdem wir die Steuern für Familien mit drei Kindern bereits so weit wie möglich erhöht haben, dann könnten wir immer noch mehr aus diesem kinderlosen Paar herausquetschen, das von $60.000 oder $120.000 lebt. Es sieht so aus, dass die Anpassung für kinderlose Familien, die über drei- oder sechsmal $20.000 verfügen, sehr viel höher ausfallen sollte. Aber das ist lediglich die mathematische Widerlegung des Prinzips, das wir kurz zuvor herausgearbeitet hatten. Ursprünglich hatten wir Schwierigkeiten, Argumente dafür zu finden, dass die Differenz aus Bruttoeinkommen und zu versteuerndem Einkommen für die reiche Familie größer sein sollte als für die arme; jetzt finden wir, dass die Differenz für die reiche Familie doch größer sein sollte als für die arme. Da die gleiche Einkommensteuer einerseits als Basistabelle für Kinderlose mit einer Anpassung für jedes Kind formuliert werden kann, andererseits aber auch als Basistabelle für Familien mit Kindern mit einer Anpassung für Kinderlose, dürfte es eigentlich keine Rolle spielen, ob wir die Steuer auf die eine oder andere Weise berechnen. Aber nach einer simplen Umformulierung der gleichen Einkommensteuer scheinen wir daraus ganz andere Schlüsse zu ziehen. Die Studierenden kommen von selbst auf die Lösung, wenn ich ihnen etwas Zeit gebe, aber mein pädagogisches Interesse liegt nicht in der steuerlichen Behandlung von Kindern in unterschiedlichen Familien, sondern in der These, dass zwei Dimensionen uns mehr Freiheit geben als eine. Also löse ich das Problem für sie. Wir haben eine zweidimensionale Steuertabelle. Eine Dimension ist das Einkommen, die zweite die Familiengröße. Wir können beide Dimensionen unabhängig voneinander behandeln. Gewiss, bei jeder gegebenen Steuertabelle verringert ein höherer Freibetrag für Kinder in einkommensstarken Familien die Steuerzahlungen der Reichen. Wenn Ihre Vertreter im zuständigen Unterausschuss des Parlaments zuerst die Basistabelle für Kinderlose beschließen, während meine Vertreter anschließend nur noch die Höhe des Kinderfreibetrages festlegen können, dann habe ich keine Möglichkeit mehr, die Freibeträge für Kinder in einkommensstarken Familien zu erhöhen, ohne den Reichen Steuergeschenke zu machen. Aber wenn mein Unterausschuss zuerst an der Reihe ist, und wir beschließen höhere Freibeträge für höhere Einkommen, dann können Sie anschließend

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den Steuersatz so progressiv gestalten, wie Sie nur wollen, und dadurch sicherstellen, dass die Reichen genau so viele Steuern zahlen, wie sie das getan hätten, wenn mein Unterausschuss in der Frage der Freibeträge anders entschieden hätte. Gemeinsam können wir die Freibeträge bei hohen Einkommensniveaus so hoch ansetzen wie wir wollen, ohne den Reichen im Durchschnitt irgendwelche Steuervorteile zu gewähren. Wir müssen die Basistabelle nur so ausgestalten, dass die kinderlosen Reichen mehr zahlen, als sie es getan hätten, wenn ihre Freibeträge niedriger gewesen wären. In zwei Dimensionen können wir beides haben. Wir wählen die Freibeträge so, dass sie mit unseren Vorstellungen darüber übereinstimmen, welchen Einfluss Kinder bei verschiedenen Einkommensniveaus auf die Steuerschuld haben sollten. Und wir gestalten die Basistabelle so, dass die Reichen im Vergleich zu den Armen so viele Steuern zahlen wie wir nur wollen. Die Einkommens-Dimension und die Kinder-Dimension erlauben es uns, beide Ziele zu verwirklichen. Der Erfolgstest für mein Argument besteht nicht darin, ob meine Studierenden ihre Meinung geändert haben, ob sie beim Mittagessen in der Mensa nun vorschlagen, dass für Reiche höhere Kinderfreibeträge gelten sollten als für Arme, und auch nicht darin, ob sie ihre ungläubigen Gesprächspartner davon überzeugen können. Der Erfolgstest besteht vielmehr darin, ob sie beim nächsten aufkommenden Thema, beispielsweise im Hinblick auf Energiepreise, das Prinzip gut genug verstanden haben, um selbst zu erkennen, wie es darauf angewendet werden kann. Und wie geht das? Nun, hier geht es darum, dass steigende Energiepreise in einer Zeit steigender Heizkosten und allgemein zunehmender Knappheiten zwei Dinge tun. Sie liefern einen Anreiz, auf die steigenden Energiepreise „effizient" (sie!) zu reagieren. Und sie fuhren zu Einkommensverlusten der Verbraucher, zu Verlusten, die sich sehr ungleichmäßig verteilen können und vielleicht besonders die Armen treffen, oder wenigstens diejenigen Armen, die in kalten Klimazonen leben oder auf energieintensive Verkehrsmittel angewiesen sind. Mit einer „effizienten" Reaktion meine ich, dass (a) die Menschen weniger Energie verbrauchen werden, weil Energie teurer wird, gemessen an den anderen Dingen, die man mit Geld kaufen kann; dass (b) diejenigen, die Energie dringender benötigen als andere, mehr für Kraftstoff bezahlen und ihn verbrennen werden, während diejenigen, die Energie weniger dringend brauchen, ihr Geld sparen und es für andere Dinge ausgeben; und dass (c) das Angebot durch die Erschließung neuer Quellen verbessert werden wird, deren Erschließung bei niedrigeren Preisen unwirtschaftlich war, oder durch neue Technologien, deren Einsatz sich jetzt rechnet, weil eingesparte Energie mehr wert ist. (Der etwas komplizierten Frage, ob dies die gleiche oder eine andere Bedeutung des Wortes „effizient" ist, muss hier nicht weiter nachgegangen werden). Wenn wir entscheiden müssen, ob wir den Benzinpreis ansteigen lassen oder ob wir stattdessen Preiskontrollen oder Importsubventionen einführen oder die Nachfrage verringern, indem wir bestimmte Verwendungen von Benzin verbieten, dann haben wir es mit einem Konflikt zu tun, mit einem Trade-Off. Wir können den Armen schaden (und vielen anderen, die in irgendeiner Weise besonders von Kraftstoff abhängig sind), indem wir sie mehr für Benzin zahlen lassen, so dass ihnen weniger bleibt für andere notwendige Ausgaben, oder wir können ihnen diese Härte ersparen, indem wir den Benzinpreis in einer Weise regulieren, die zu Verschwendung ermuntert und keinen Anreiz

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zum Benzinsparen oder zur Erschließung neuer Ölquellen bietet. Hier wägen wir erneut „Effizienz" gegen „Gleichheit" ab. Ein unausweichliches Dilemma? Bleibt uns wirklich nichts anderes übrig, als einen Kompromiss zwischen Effizienz und Gleichheit zu wählen, mit diametral entgegengesetzten Interessen zwischen der energieeffizienten Lösung und dem Ziel, die Härten für die Benachteiligten zu minimieren? Zu unserer Rettung bemühen wir den zweidimensionalen Ansatz. Es geht um zwei Probleme. Wir können sie das Energieproblem und das Armutsproblem nennen. Man könnte sie auffassen als ein Effizienzproblem und als ein Gleichheitsproblem, aber unsere Absicht ist es, genau das zu vermeiden. Wie ein Verfassungsgericht, das sich bemüht, Streitigkeiten nicht unter Rückgriff auf allgemeine Verfassungsprinzipien zu entscheiden, wenn einfache Gesetze bereits eine eindeutige Entscheidung ermöglichen, versuchen wir, die konkurrierenden Forderungen nach Energieversorgung und Armutsbekämpfung aufzulösen, ohne im Konflikt zwischen Effizienz und Gleichheit Partei zu ergreifen. Um dies zu bewerkstelligen, wählen wir folgenden Ansatz: Einerseits haben wir es mit zwei Zielen zu tun, mit zwei Wertgesichtspunkten oder zwei konkurrierenden Forderungen. Andererseits stehen uns zwei Instrumente zur Verfugung. Wir haben ein Energieproblem und ein Armutsproblem. Wir haben ein Energieprogramm und ein Armutsbekämpfiingsprogramm. Ausgestattet mit zwei Zielen und mit zwei Programmen zur Zielerreichung, können wir das Dilemma vielleicht überwinden. Technisch gesprochen, müssen wir nur die Armen identifizieren (und die aus anderen Gründen Bedürftigen), die ernstlich unter höheren Energiepreisen leiden würden, und sodann feststellen, wie viel sie unter den höheren Energiepreisen zu leiden haben, um ihnen auf dieser Basis eine Einkommenssubvention zukommen zu lassen. Das ist nicht leicht, aber auch nicht unglaublich schwierig. Kein Programm ist perfekt, wenn es darum geht, allen Bedürftigen zu helfen und zugleich nur und ausschließlich denjenigen, die die Hilfe brauchen. Aber verglichen mit einer staatlichen Kontrolle des Benzinpreises (die all diejenigen Verbraucher diskriminieren würde, die Benzin zum niedrigeren Preis kaufen wollen, dann aber keins bekommen; die zudem den Anreiz zur Erschließung neuer Ölquellen verringern würde; und die schließlich den Reichen und Armen gleichermaßen Benzin zuteilen würde, wovon die Reichen überproportional profitieren, weil sie sich ohnehin mehr Güter, einschließlich Benzin, leisten können) könnte eine Politik freier Benzinpreise, kombiniert mit Transfers für die Nicht-so-Reichen, oder für die Armen, oder für die sehr Armen, ohne Weiteres als Problemlösung überlegen sein. Gleichwohl würde diese überlegene Problemlösung natürlich von denjenigen bekämpft werden, die zwar von verbilligtem Benzin profitieren würden, aber nicht in der Lage sind, politische Unterstützung für kompensierende Einkommenstransfers zu generieren. Die überlegene Problemlösung würde zudem auch von den Armen (oder von ihren politischen Vertretern) zurückgewiesen werden, sofern diese aus Erfahrung davon ausgehen müssen, dass es beliebte Praxis ist, das erste Teilproblem von der Anforderung zu befreien, dass auf die Interessen der Armen besondere Rücksicht genommen werden muss, und sodann das zweite Teilproblem, bei dem die Rücksichtnahme erfolgen soll, einfach der Vergessenheit anheimzugeben. (Wenn für die Frage der Energiepreise ein anderer Parlamentsausschuss zuständig ist als für Fragen der Einkommensbeihilfen, dann kann in der Tat auf den ersten Blick der Eindruck entstehen, als würde sich nie-

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mand um die besonderen Belange der Armen kümmern, wenn der Energieausschuss das nicht selbst in die Hand nimmt). Wie es aussieht, haben wir hier erneut ein ethisches Problem in ein politisches Problem überfuhrt. Vielleicht sind wir aber nur auf ein anders ethisches Problem gestoßen, das bei der ursprünglichen Formulierung noch nicht sichtbar war: Wenn wir über Geld verfügen, um die Armen zu kompensieren, weshalb sollten wir dann nur diejenigen Armen kompensieren, denen es aufgrund steigender Benzinpreise schlechter geht? Nehmen wir konkret an, wie erheben eine 50-Cent-Steuer auf Benzin und verwenden einen Teil der Einnahmen, um die ärmsten 25% der Familien für steigende Lebenshaltungskosten zu kompensieren. Eine solche Politik kann klug kalkuliert sein, etwa wenn sie versucht, den Armen die Zustimmung zur Steuererhöhung abzukaufen, indem die steuerfinanzierten Transfers auf ausschließlich solche Haushalte konzentriert werden, deren Armut durch die zusätzliche Steuer sonst zunehmen würde. Aber stellen wir uns nun vor, dass die Steuer da ist und wir somit über eine Einnahmequelle verfugen, um den Armen zu helfen, und zwar nach dem Kriterium, wie sehr sie von Benzin abhängig sind. Dann wird möglicherweise das Argument aufgeworfen, dass es Menschen gibt, die bereits zuvor, vor Einführung der Steuer, noch ärmer waren als viele Menschen mit niedrigen Einkommen nach der Einführung der neuen Steuer und der Einkommenstransfers. Die Familie mit $8.000, die 8 Gallonen Benzin pro Woche verbrennt, verliert durch die 50Cent-Steuer pro Jahr $200 und kommt dann auf $7.800, während das ältere Ehepaar, das von $6.000 lebt und ohne Auto auskommt, keinen Anspruch auf einen kompensierenden Einkommenstransfer hätte. In ähnlicher Weise könnte eine arme Familie, die ihr bescheidenes Haus neu streicht und feststellen muss, dass ihre Kosten für Farbe um $200 gestiegen sind, eher dafür sein, dass die Einnahmen aus der Benzinsteuer allen Armen zugute kommen, nicht nur denen, die Benzin verbrauchen. Dies sieht wie ein ethisches Problem aus, wenn auch nicht wie das, mit dem wir ursprünglich begonnen haben. Es ergibt sich aus unserem politischen System. Unser System erkennt an, dass Armen sowie auf andere Weise Benachteiligten und Bedürftigen geholfen werden sollte. Aber anstatt ihre Bedürfnisse auf eine einheitliche Weise zu behandeln und zu entscheiden, wie viel wir ihnen helfen wollen, tendieren wir eher dazu, den Armen mit all den vielen verschiedenen unkoordinierten Maßnahmen, die wir einleiten, ein bisschen zu helfen. Wir helfen mit Lebensmittelmarken und medizinischer Versorgung und sozialem Wohnungsbau, und wir verweisen auf soziale Härten, wenn wir beschließen, die Preise für Bauernhöfe hoch und die Mieten niedrig zu halten. Dieser Patchwork-Ansatz ist nicht unbedingt wirkungslos, aber er gebiert ständig aufs Neue die ethischen Konflikte, die wir bei den Ausgleichszahlungen für Benzin und Heizöl kennengelernt haben. Wenn eine Familie ihre preisregulierte billige Wohnung verliert, weil die staatliche Mietkontrolle abgeschafft oder das Haus abgerissen wird, und wenn die Steuern auf alle Mietwohnungen erhöht werden und einige der Einnahmen dafür verwendet werden, den Benachteiligten zu helfen, helfen wir dann nur denjenigen, die durch den Verlust ihrer billigen Wohnung benachteiligt werden? Oder helfen wir jenen, die der Hilfe am meisten bedürfen?

Ökonomische Vernunft und politische Ethik

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VII. Die Ethik des Marktes Durch nichts unterscheiden sich Ökonomen so sehr von anderen Menschen wie durch ihren Glauben an die Marktwirtschaft, oder an das, was manche den freien Markt nennen. Eines der ständig wiederkehrenden Probleme, wenn man sich mit Ökonomik und Politik beschäftigt, besteht darin, dass die Nicht-Ökonomen (aber auch einige Ökonomen) nicht in der Lage sind, zu sagen, wie viel von dem Vertrauen des Ökonomen in den Markt einfach auf Glauben beruht und wie viel auf Analyse und Beobachtung. Wie viel Vertrauen gründet darauf, dass Ökonomen die Funktionsweise von Märkten studiert haben und die sich tatsächlich einstellenden Ergebnisse beurteilen? Und wie viel Vertrauen gründet auf der Annahme, dass der marktliche Prozess korrekt und gerecht abläuft? (Oder alternativ: dass er korrekt und nur gelegentlich ungerecht abläuft; oder dass er korrekt abläuft und man über die Gerechtigkeit hier kein Urteil fallen kann?) Das Problem wird dadurch verschärft, dass einige Ökonomen den Markt mit Wahlfreiheit gleichsetzen oder Märkte als Prozesse verstehen, die zu Ergebnissen fuhren, die jedem das zukommen lassen, was er verdient. Die Analyse perfekter Wettbewerbsmärkte fuhrt zu der Schlussfolgerung, dass Arbeitnehmer genau entsprechend ihres marginalen Beitrags zur Gesamtproduktion bezahlt werden, entsprechend der Differenz, die entstehen würde, wenn eine Person die Arbeit einstellt, während der Rest des Systems weiterläuft. Es ist eine ethische Frage, ob die eigene Grenzproduktivität eine angemessene Grundlage für die Entlohnung ist. Kritiker der Theorie konzentrieren sich allerdings typischerweise auf die Empirie und betonen, dass echte Märkte anders funktionierten. Dennoch gibt es Ökonomen, die sich eingehend mit dem Problem beschäftigt haben und zu dem Ergebnis kommen, dass ein System, welches die Früchte wirtschaftlicher Aktivität entsprechend ihres marginalen Beitrags verteilt, ob es sich nun um Beiträge in Form körperlicher Arbeit, in Form von Ideen oder von Eigentum handelt, ethisch attraktiv ist. Andere, die sich ebenso eingehend damit beschäftigt haben, kommen zu dem Schluss, dass der Markt zwar von großem praktischem Nutzen ist, aber deshalb noch nicht als ethisch gerechtfertigt gelten kann. Die meisten der letzteren glauben, es sei notwendig, die Ergebnisse des Marktes durch Politik zu korrigieren. Es gibt sogar eine bedeutende sozialistische Schule der Marktwirtschaft, die in den 1930er Jahren von Abba Lerner und Oskar Lange gegründet wurde. Sie argumentiert, dass die Preissetzung in einer sozialistischen Volkswirtschaft die Preisbildung auf einem perfekten freien Marktes imitieren sollte, dass in einer solchen Volkswirtschaft weniger Ressourcen verschwendet würden, und dass alle unerwünschten Ergebnisse durch nicht-marktliche Einkommenstransfers ausgeglichen werden sollten. Und es gibt unter Ökonomen die Lehre, vielleicht unter älteren Vertretern des Faches einflussreicher als unter jüngeren, dass Märkte, wenn man sie sich selbst überlässt, ziemlich ineffizient werden, jedoch lange nicht so ineffizient, als wenn daran herummanipuliert wird, speziell, wenn es sich um besonders grobe Eingriffe handelt, oder um besonders geschickte Eingriffe, sofern diese darauf zugeschnitten sind, die damit Verbundenen Vor- und Nachteile zu verschleiern, die mit einer als „harmlos" ausgegebenen Gewährung von Privilegien verbunden sind. Unabhängig davon, ob ein Ökonom sich die Ethik oder die Ideologie zu Eigen macht - bzw. nicht zu Eigen macht - , dass ein funktionierendes Marktsystem als Selbstzweck

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einen genuinen Eigenwert aufweist (und dass der Markt nicht nur in seiner Verbindung mit persönlicher Freiheit gesehen wird, sondern geradezu als Verkörperung von persönlicher Freiheit aufgefasst wird), so akzeptieren doch die meisten professionellen Ökonomen Prinzipien, die nach Ansicht anderer Menschen, wenn nicht der Ökonomen selbst, einen ethischen Gehalt aufweisen. Ein Beispiel sind Anreize. Ökonomen sehen Anreize überall am Werk. Sie finden nichts Anstößiges daran, dass Menschen auf verschiedene Opportunitäten oder Sanktionen reagieren. Ökonomen haben kein Interesse daran, Anreize wie einen Feind überwinden oder bekämpfen oder besiegen zu wollen. Und es bereitet ihnen Vergnügen, Anreize zu verschieben und zu vergrößern und zu verkleinern und umzustrukturieren und sogar neue Anreize zu erfinden, um Menschen dazu zu bringen, sich in kollektiv nützlicher oder weniger schädlicher Weise zu verhalten. Normalerweise kann man Ökonomen leicht von Nicht-Ökonomen unterscheiden, indem man die Frage stellt, ob in der Hochsaison auf Campingplätzen in Nationalparks spürbare Nutzungsgebühren erhoben werden sollten oder nicht. Ein damit zusammenhängendes Erkennungsmerkmal von Marktökonomik ist die Vorstellung, dass die Menschen ihr eigenes Geld selbst besser ausgeben, als es andere für sie tun könnten. Manchmal wird diese Vorstellung unvermittelt zu einem ethischen Prinzip erhoben: das Recht des Konsumenten, Fehler zu machen. Aber normalerweise bedeutet diese Vorstellung Folgendes: Wenn man im Supermarkt einen Einkaufswagen mit Waren füllt und diese dann einer armen Familie schenkt, so könnte man mehr Gutes tun, indem man der Familie stattdessen einfach den entsprechenden Geldbetrag und den Wagen gibt und sie ihre Einkäufe selbst erledigen lässt. Der Grundgedanke ist, dass mein Geld ihnen mehr nützt, wenn sie es selbst ausgeben dürfen. Eine gegebene Menge Geld wird aus der Sicht der Familie mehr Gutes für sie bewirken, wenn es so ausgegeben wird, wie die Familie es wünscht. Ökonomen verfugen über eine lange Liste mit Ausnahmen von diesem Prinzip, unter Berücksichtigung der Wohlfahrt der Familie oder anderer Ziele. Aber im Allgemeinen ist der Ökonom der Ansicht, dass die Beweislast bei denen liegt, die den Armen und Alten Lebensmittelmarken oder U-Bahn-Tickets oder Brillen geben wollen anstatt Geld. Solche Ausnahmen können unter Umständen gut begründet werden. Aber die Beweislast sollte, nach Ansicht der meisten Ökonomen, bei denen liegen, die der Effizienz des Geldes misstrauen. Das klingt oft wie ein ethisches Prinzip. Vielleicht ist es eins. Es wurde kürzlich vorgeschlagen, arme Familien mit Bargeld in genau der Höhe zu unterstützen, in der ihre Heizkostenrechnung nach Marktpreisen den Betrag übersteigt, den sie bei regulierten Preisen gezahlt hätten. Es kam die Frage auf, warum sie nicht lieber einen anhand der entsprechenden Formel im Voraus abgeschätzten Betrag zu ihrer freien Verfügung ausgezahlt bekommen sollten. Die Antwort lautete, man könne ihnen, arm wie sie sind, nicht trauen, dass sie das Geld auch tatsächlich für Heizöl verwenden. Vielleicht würden sie es für etwas anderes ausgeben! Dies ist der Punkt, an dem die meisten Ökonomen nur noch langsam ihren Kopf schütteln können.

Ökonomische Vernunft und politische Ethik

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Literatur Schelling, Thomas C. (1981), Economic Reasoning and the Ethics of Policy, The Public Interest 63 (Spring), S. 37-61. Schelling, Thomas C. (1984), Choice and Consequence, Cambridge und London, S. 1-26. Zusammenfassung Effizienz und Gleichheit, ökonomische Vernunft und politische Ethik werden oft so konzeptualisiert, als stünden sie in einem natürlichen, unüberwindbaren Gegensatz zueinander. Dies erschwert die Lösung politischer Probleme in der Praxis. Dieser Artikel geht der Frage nach, welchen Beitrag ökonomische Vernunft leisten kann - und welchen sie nicht leisten kann - , um zur Klärung ethisch relevanter Probleme beizutragen. Hierzu wird ein kontraktualistischer Ansatz sozialer Verantwortung vorgestellt, der geeignet ist, solche vermeintlichen Gegensätze aufzulösen und dadurch Potentiale wechselseitiger Besserstellung zu realisieren. Der Ansatz wird anhand zahlreicher Beispiele illustriert. Dazu zählen Benzingutscheine, Mietpreisobergrenzen, gesetzliche Mindestlöhne, die Krankenversicherung, die Kilometerpauschale, das Kindergeld und die Sicherheit im zivilen Luftverkehr. Summary: Economic Reasoning and the Ethics of Policy Efficiency and equality, economic reasoning and the ethics of policy are often conceptualized as if they were in natural, unavoidable conflict with each other. This makes political problem solving difficult in practice. This article discusses how economic reasoning can - and how it cannot - help clarifying ethical problems. To this end, a contractual approach to social obligation is developed that could contribute to overcome such presupposed incommensurability between economics and ethics and thereby help identifying mutually beneficial solutions. The approach is illustrated by a number of examples. Among them are gasoline rationing, public rent control, minimum-wage laws, health insurance, the standard mileage method, family benefits, and airport safety.

Buchbesprechungen

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Inhalt Hanno Beck Ein rüstiger Jubilar zwischen Markt und Plan

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Hanno Beck Gelebte Ordnung

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Klaus Beckmann Missing Link? Ein Kommentar zu Timothy Besleys (2006) „Principled Agents?"

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Hardy Bouillon Wirtschaftsethische Perspektiven VII Besprechung des von Volker Arnold herausgegebenen gleichnamigen Bandes

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Markus Breuer Zum Andenken an den unbekannten Dritten der Freiburger Schule: Bemerkungen zur Gedenkschrift für Hans Großmann-Doerth

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Arndt Christiansen Der Einfluss des Neoliberalismus auf das Europäische Wettbewerbsrecht 1946-1965 Zu dem gleichnamigen Buch von Milene Wegmann 539 Peter Engelhard Globalisierung und europäisches Sozialmodell Anmerkungen zum gleichnamigen, von Linzbach u.a. herausgegebenen Sammelband

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Justus Haucap Scientific Competition, Zu dem gleichnamigen Band herausgegeben von Stefan Voigt, Max Albert, und Dieter Schmidtchen

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Catherine Herfeld Verbindlichkeit - Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft, Besprechung des gleichnamigen Buches von Heinrich Stieglitz 554 Carsten Herrmann-Pillath Der Treibhausgas-Emissionshandel in evolutionsökonomischer Perspektive

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Manfred Hilzenbecher Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft, Anmerkungen zu einem von Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski herausgegebenen Tagungsband

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Buchbesprechungen - Inhalt

Helmut Leipold Ordnungsökonomik - ein überholtes Forschungsprogramm? Anmerkungen zu dem Buch von Manfred Streit „Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung"

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Thomas Pfahler Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie Anmerkungen zum gleichnamigen Buch, herausgegeben von Lothar Funk

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Benedikt Römmelt Internetökonomie - Ein interdisziplinärer Beitrag zur Erklärung und Gestaltung hybrider Systeme, Besprechung des von Heinz Lothar Grob und Jan vom Brocke herausgegebenen gleichnamigen Bandes 577 Andreas Schmid Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Doris Weissberger

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André Schmidt Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Besprechung des gleichnamigen Buches von Adrian Künzler

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Cord Siemon Visionäre Wege aus der Subprime-Krise Anmerkungen zu einem Buch von Robert J. Shiller

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Manfred E. Streit Studien zur evolutorischen Ökonomik IX, Zu dem gleichnamigen Band des Vereins für Socialpolitik, herausgegeben von Wolfgang Kerber

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Petra Stykow und Joachim Zweynert Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History, Zu dem gleichnamigen Buch von Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast 595 Adolf Wagner Eine anekdotische Volkswirtschaftslehre für jedermann Zu einem Taschenbuch von Heiner Flassbeck

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Kurzbesprechungen

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Hanno Beck

Ein rüstiger Jubilar zwischen Markt und Plan* Bei diesem Alter würde man vermutlich von einem „rüstigen Jubilar" sprechen: 60 Jahre ist die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 geworden, und mit der Währungsreform im Jahr 1948 wurde auch der Grundstein zur Sozialen Marktwirtschaft gelegt - ein Grund zum Feiern? Vielleicht, aber auf alle Fälle ein Anlass zur Rückbesinnung - wie erfolgreich war die Soziale Marktwirtschaft, wie sozial war sie, wie marktwirtschaftlich? Kritiker - oder sollte man sagen Zyniker? - sehen in der Sozialen Marktwirtschaft mehr oder weniger einen Werbe-Trick, dessen Ziel es gewesen sei, der Bevölkerung, den Kapitalismus schmackhaft zu machen, dem weite Teile der Bevölkerung damals skeptisch gegenüberstanden (Zweynert 2008). Um diese Frage wenn nicht abschließend zu beantworten, so doch zu beleuchten, ist es hilfreich zu fragen, inwieweit marktwirtschaftliche oder zentralistische Elemente die wirtschaftspolitische Realität der Bundesrepublik in den vergangenen 60 Jahren geprägt haben. Bei der Beantwortung dieser Frage bietet sich das Buch von Knut Wolfgang Nörr an, der im zweiten Teil seiner „Republik der Wirtschaft" die Zeit von der sozial-liberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung unter dem Blickpunkt der wirtschaftlichen Ordnungs- und Verfassungszusammenhänge untersucht - mit einem gemischten Befund. Die reine Lehre hat es in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik wohl nie gegeben, könnte man als Fazit wagen, es war vielmehr ein beständiger Kampf zwischen zwei Rationalitäten, der Rationalität des Marktes und die Rationalität des absichtsvoll agierenden Intellekts, die Rationalität der organisierten Wirtschaftsweise. Zwischen diesen beiden Polen, Markt und Plan, bewegen sich die Ideen, Theorien und wirtschaftspolitischen Maßnahmen dieser Zeit. Nörr beginnt den zweiten Teil seiner Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik mit dem Schicksal der Begriffe „Soziale Marktwirtschaft", Wirtschaftsverfassving" und „Wirtschaftsrecht", der Diskussion und der sich wandelnden Sicht auf diese Konstituierenden eines Wirtschaftssystems, bevor er sich ausgewählten Politikbereichen zuwendet, in denen sich das Ringen von Politik, Theorie und Gesellschaft um eine adäquate Wirtschaftsordnung wiederspiegelt. So untersucht er in den weiteren Kapiteln den Prozess der europäischen Einigung, die Auseinandersetzungen um die Sozialstaatskonzeption und um die Idee der wirtschaftlichen Macht. Anschließend erörtert er die Debatte um die Machbarkeit der Wirtschaft, also die Schlacht um die Idee der antizyklischen Stabilisierungspolitik, bevor er sich der Gewerkschaftspolitik und der Mitbestimmung zuwendet. Es folgen die Kartellgesetznovellen und die Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen; dem Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht widmet er im Anschluss daran ein ausführliches Kapitel. Den Abschluss bildet eine „Zusammenfassung in Auswahl". In jedem Kapitel, ja fast auf jeder Seite spiegelt sich der ideologische Konflikt zwischen freiheitlichem Denken und interventionistischen Bestrebungen, zwischen dem Glauben an die Machbarkeit der Wirtschaft und der Furcht vor Anmaßung von Wissen, zwischen Markt und Plan. Dieser Konflikt zeigt sich bereits in den Ausführungen um den Begriff „Soziale Marktwirtschaft": Habe in der Anfangszeit noch das Programm die Wirklichkeit gestaltet, so hätten Subjekt und Objekt in der zweiten Phase der Republik die Plätze getauscht und die Wirklichkeit das Programm gedrängt, sich ihr anzupassen, schreibt Nörr (S. 3 f.). Mit einfachen Worten gesagt hat die Idee der Sozialen Marktwirtschaft in den Anfangen der Republik diese geprägt, * Knut Wolfgang Nörr; Die Republik der Wirtschaft, Teil II: Von der sozial-liberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung, Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (53), Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007.

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doch später hat die (politische) Realität daran gewirkt, das Programm der Realität anzupassen. Neben den allseits bekannten ökonomischen Folgen sieht Nörr auch Folgen für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: Sie sei aufgrund dieser Entwicklung in eine konzeptionelle Instabilität geraten, aus der sie nie mehr so recht herausgefunden habe (S. 4). Wirtschaftsdemokratie, Kooperation, Neokorporatismus, Dritter Weg, Globalsteuerung - es sind vor allem diese Grautöne der wirtschaftspolitischen Ideen, die sich zwischen die reine Lehre des Marktes und des Plans drängeln und gegen die sich die Idee der Sozialen Marktwirtschaft abgrenzen muss. Im schlimmsten Fall entwickeln sich solche Ideen zu Wiesel-Ideologien, die sich scheinbar harmlos in eine funktionierende Marktwirtschaft einnisten und diese von Innen her aushöhlen. Nach dieser Lesart sind es nicht der Sozialismus oder der Kommunismus, gegen den man sich erschöpfend abgrenzen muss, den es abzuwehren gilt, sondern diese Wiesel-Ideologien, derer sich eine Marktwirtschaft erwehren muss. Auch in der Europa-Politik zeigt sich der Kampf von Markt und Plan, genauer gesagt zwischen Marktwirtschaft und Planification, denn letztlich waren es deutsche Ideen vom Markt und französische Ansichten über zentrale Planung, die in den Verträgen der europäischen Nationen aufeinanderprallen. Exemplarisch dafür beispielsweise der Artikel 85 EWG-Vertrag, der zuerst ein grundsätzliches Kartellverbot konstatierte, um dann kleinlaut Befreiungsmöglichkeiten davon vorzusehen. Wettbewerb ja, aber bitte nicht ohne eine Hintertür. Dieses Beispiel zeigt auch, wie diese Konflikte gelöst wurden, nämlich nach politischer Ratio: Jeder bekommt, was er will, der Dissens wird mit freundlichen Worten und unpräzisen Formulierungen zugekleistert. Der Gegensatz wurde mittels geschickter Formulierung der Texte nicht unmittelbar ausgetragen, sondern der Interpretation der Behörden, Gerichte und der Wissenschaft überlassen, schreibt Nörr (S. 28). Schon der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergebe ein Bild der Zwiespältigkeit, wenn nicht sogar des Doppeldeutigen (S. 30). Zwischen all den Scharmützeln um Plan und Markt im europäischen Kontext gab es auch Punktsiege für die marktwirtschaftliche Perspektive, getragen wie zumeist von der Realität: So wurden die Fünfjahresprogramme für die mittelfristige Wirtschaftspolitik, die durch die Planification inspiriert waren, 1985 beerdigt, begleitet von der Einsicht der Kommission, dass die Erfahrungen ,.nicht zufriedenstellend" gewesen waren (S. 44). Diese Einsicht hätte man schneller und vermutlich günstiger haben können, mag der Ordnungspolitiker da rufen. Als weiteres pittoreskes Beispiel für den Wunsch der Politiker, sich den Pelz zu waschen, ohne dabei nass zu werden, liefert Nörr die Einheitliche Europäische Akte von 1986, der ein Stück Dialektik innewohne, insofern man hier versuche, eine Einheit zu konstatieren, die weder existiere noch als Ziel festgelegt sei - und zu deren Fehlen sich die Akteure im gleichen Atemzug bekennen (S. 44). Eine weitere manifeste Inkarnation des Konfliktes zwischen marktwirtschaftlichem Denken und interventionistischen Ideen liefert die Debatte um die Stabilitätspolitik. Die Geburt des Keynesianismus in der Bundesrepublik - datiert auf die Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes - ist für Nörr nach dem Übergang von der Zwangs- zur Marktwirtschaft der zweite Fall in der Geschichte Westdeutschlands, in dem eine wirtschaftspolitische Neuorientierung in Gesetzesform gegossen wurde (S. 95). Die konzeptionsinhärenten Mängel dieser Idee ebenso wie ihre offenen Flanken (die außenwirtschaftliche Absicherung, die Gewerkschaften und der Föderalismus) sowie die tagespolitischen Probleme des Keynesianismus provozierten in der Folge neue Rezepte und marktwirtschaftliche Antworten auf ein eher dirigistischinterventionistisches Konzept. Regelbindungen, Monetarismus und Angebotspolitik waren die theoretische und politische Gegenbewegung zum Keynesainismus, mit denen Nörr allerdings hart ins Gericht geht. In der Angebotspolitik sieht er eher eine eklektizistische Veranstaltung, ein „eher diffuses Arrangement" (S. 110), nicht untypisch für Realpolitik. Angebotspolitik sei zwar Ausfluss ordnungsökonomischen Denkens, stelle aber keine Renaissance ordnungspolitischer Positionen dar (S. 110). Folgerichtig weigert sich Nörr, der Regierung Kohl eine geistigmoralischen Wende zu attestieren - aus ordnungspolitischer Sicht sei es keine Wende gewesen. Was das Verhalten des Staates angehe, so habe die Regierung Kohl den Pragmatismus ihrer

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Vorgänger mehr oder weniger fortgesetzt. Nicht überall, wo Ordnungspolitik drauf steht, muss also auch Ordnungspolitik drin sein. Der Widerspruch zwischen Markt und Plan zeigt sich auch bei Nörrs Analyse der Gewerkschaftspolitik der siebziger und achtziger Jahre, indem er auf die Zweideutigkeit im Verhältnis der Gewerkschaften zum politisch-ökonomisch-gesellschaftlichen Ordnungszusammenhang verweist: Sehen sie sich als Teil der herrschenden Ordnung oder stehen sie außerhalb? Die Liste der Begrifflichkeiten, die sich in den gewerkschaftlichen Publikationen finden, macht diese Zerrissenheit deutlich: Da steht Sozialpartnerschaft gegen Klassenkampf, Mitgestalten gegen Umgestalten, Kooperation gegen Konflikt, Einbindung gegen Desintegration. Was die realhistorische Entwicklung der Gewerkschaften angeht, so spricht Nörr von einer zunehmenden Adaption an die Ordnung, welche die Realität der Bundesrepublik gestalte, und eine Abneigung dagegen, die herrschenden Verhältnisse aus den Angeln zu heben (S. 120). „Wirtschaftsdemokratie" lautete die Zauberformel, wobei man das frühere Verständnis von Wirtschaftsdemokratie als Zwischenstation zum Sozialismus wenn nicht beerdigt, so doch zumindest auf Eis gelegt habe - einen „lauen Frieden" habe man mit der Sozialen Marktwirtschaft geschlossen (S. 122), warum diese nun nicht im Sinne der Gewerkschaften ausweiten und vervollkommnen? Deutlich werden diese Bestrebungen an der Debatte um die Mitbestimmung am Arbeitsplatz, auf Ebene des Betriebs und des Unternehmens sowie auf überbetrieblicher Ebene. Weitere Begleitmusik zu dieser Debatte um mehr Wirtschaftsdemokratie und letztlich um mehr Plan und weniger Markt lieferten Themen wie der Ausbau öffentlicher und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen, Strukturpolitik, Investitionslenkung und Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Selbst dort, wo der Wettbewerb die Hauptrolle spielt, findet sich in Einsprengseln die Idee von der zentralen Machbarkeit der Wirtschaft, nämlich in der Wettbewerbspolitik. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bezeichnet Nörr als „...janusköpfige Gestalt einer Marktsowohl als auch organisierten Wirtschaft..." (S. 276) und macht diese Einschätzung an der schleichenden Instrumentalisierung des Gesetzes für strukturpolitische Zwecke fest. Über Regelungen zu Ausnahmekartellen oder Kooperationen im Interesse kleiner und mittlerer Unternehmen habe sich mittelstandsfreundliche Strukturpolitik in das Gesetz eingeschlichen. Hier zeigt sich auch die verführerische Kraft politischer Wortwahl: Natürlich kann ein Wettbewerbspolitiker nicht für Kartelle plädieren, aber mittelstandsfreundliche Kooperationen klingen unverdächtig und erstrebenswerter - auch wenn man sich auf einen äußerst glitschigen semantischen und analytischen Boden begeben muss, um gute Kooperationen von bösen Kartellen zu trennen. Auch in der ökonomischen Theorie, welche die Wettbewerbspolitik der Bundesrepublik begleitet hat, sieht Nörr das charakteristische organisierte Wirtschaftsdenken am Werk: Mit Hilfe von Morphologismen versuche man, den dynamischen Wettbewerb zu finden, eine Balance von günstigster Unternehmenszahl und -große herbeizuführen (S. 188). Das klingt nach zentraler Planung des Wettbewerbs - der dieser Idee innewohnende Widerspruch ist selbsterklärend. Die Idee, mit Blick auf die Größe der Unternehmen Strukturpolitik zu machen, findet sich auch in der Kapitalmarktpolitik wider, dort wollte man über entsprechende Regelungen kleinen und mittleren Unternehmen die Finanzierung erleichtern - ein weiteres Stück mittelstandsbezogener Strukturpolitik. Überall, im Kleinen wie im Großen, zeigt Nörr das Ringen um eine Wirtschaftsordnung zwischen Plan und Markt, auch im ganz Großen: Im Leitsätzegesetz von 1948, dem trotz seines transitorischen Charakters die Wirkung einer protokonstitutionellen Charta zukam, sei der Grundstein für das Gebäude der Sozialen Marktwirtschaft gelegt worden; hier habe der Staat seine Stellung zur Wirtschaft als einem Ganzen auf grundsätzliche Weise offenbart. Im Grundgesetz hingegen habe man von diesem Bekenntnis keine Notiz genommen; das Bild der organisierten Wirtschaft sei lebendig geblieben, ohne dass daraus ein Ordnungsprogramm hervorgegangen wäre. Man musste nur das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft großzügig genug interpretieren, so dass dort die alten und neuen organisierten Wirtschaftsformen der Bundesrepublik subsummiert werden konnten. Den Wiesel-Ideologien schreitet das Wiesel-Wort voran, und am Ende steht eine Wirtschaft, die einer systematischen Ordnung entbehrt, die nach politischem

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Opportunismus, Zufälligkeiten, Ideologien und Partikularinteressen gestaltet wird - mit entsprechenden Ergebnissen für Effizienz, Wachstum, Wohlstand und Fairness. Wer dem rüstigen Jubilar Bundesrepublik weitere 60 erfolgreiche Jahre wünscht, muss sich dieser Zusammenhänge bewusst sein - dazu schadet es nicht, das Buch von Nörr aufmerksam zu lesen.

Literatur Zweynert, Joachim (2008), Die Soziale Marktwirtschaft als politische Integrationsformel, Wirtschaftsdienst 88 (5), S. 334-337.

Hanno Beck

Gelebte Ordnung* Was macht einen guten Wissenschaftler aus? Neben Kreativität und Scharfsinn ist es auch die Fähigkeit, die Ergebnisse seiner Forschung in praktische Ratschläge umzusetzen - Wissenschaft ohne Anwendungsbezug bleibt im Elfenbeinturm stecken und hat ein Rechtfertigungsproblem. Den Vorwurf der Realitätsferne und fehlenden Anwendungsbezogenheit seiner Forschung kann man Peter Oberender sicherlich nicht machen, er hat es als Hochschullehrer, Forscher, Berater und Unternehmer stets verstanden, seine Ideen und Forschungsergebnisse in praktische Ratschläge und nützliche Handlungsanweisungen umzusetzen. Seinem 65.Geburtstag ist der vorliegende Sammelband gewidmet, der in seiner thematischen Breite einen Eindruck vom Forschen und Wirken Oberenders gibt, der folgerichtig auch von „ordnungsökonomischen Wirken" spricht. Der Sammelband ist in zwei Hälften unterteilt: In der ersten Hälfte geht es um die verschiedenen Facetten von Ordnung und Wettbewerb - ein Feld, auf dem Oberender viel publiziert hat (beispielhaft genannt sei hier Oberender 1989) - , der zweite Teil widmet sich dem großen Forschungsgebiet Oberenders, der Gesundheitsökonomik (vgl. bspw. Oberender, Zerth und Schmid 2006). Die ersten Beiträge des ersten Abschnittes widmen sich der Frage der Politikberatung und damit einer Thematik, die Oberender aus seinen zahlreichen Tätigkeiten in der Politikberatung bestens vertraut ist. Sicherlich kennt er die beiden Pole, zwischen denen sich der Ökonom als Politikerberater bewegt, nämlich Wissensmangel und Opportunismus, wie Manfred E. Streit schreibt. Es liege in der Natur der Sache, dass Ökonomen sich nicht auf kurze, scheinplausible Kausalketten einlassen, welche die Politiktreibenden aber von ihnen einfordern. Positiv gewendet könne der Ökonom der Politik kaum mehr als eine Beschränkung auf systemkonforme Maßnahmen empfehlen - ein karges Brot für den interventionswilligen und handlungsfreudigen Politiker, weswegen nahe liege, dass der ökonomische Rat im politischen Prozess übergangen werde und allenfalls als Alibi genutzt werde, um eine bereits getroffene Entscheidung wissenschaftlich zu untermauern. Hier trifft der systembedingte Wissensmangel auf den politischen Opportunismus: Der wissenschaftliche Berater wird zum Vollzugsorgan einer politischen Intelligenz. Noch schlimmer wird es, wenn der Ökonom sich einbeziehen lässt in konsensuale Politik - runde Tische, Bündnisse, konzertierte Aktionen oder Pakte - der Ratschlag des Wissenschaftlers wird zwischen den Mühlsteinen der Partikularinteressen zerrieben. Was dem Ökonomen als Politikberater bleibt, ist Streit zufolge kritischer Rat abseits vom prestigeträchtigen

* Frank Daumann, Stefan Okruch, Chrysostomos Mantzavinos (Hg.), Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeptionen und Felder ordnungsökonomischen Wirkens, Festschrift für Peter Oberender zu seinem 65. Geburtstag, Andrassy Schriftenreihe, Band 4, Budapest 2006.

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Auftritt in der Näher politischer Akteure, weit entfernt von der Anmaßung jeglichen Wissens (S. 5). Noch schlimmer wird die Aufgabe der Politikberatung für den liberalen Ökonom dadurch, dass liberale Ordnungsmodelle möglicherweise durch ihre systematische Abstraktheit Vermittlungsprobleme eigener Art erzeugen, wie Gerhard Wegner schreibt: Offensichtlich besitzen Menschen in demokratischen Gesellschaften keine natürliche Präferenz für liberale Wirtschaftspolitik (S. 16). Der Ausweg, den Wegner anbietet, ist pragmatisch: Liberale Positionen der Sache nach vermitteln, aber ihre liberale Essenz zu kaschieren. Stattdessen solle man sich sogenannter „Brückenideologien" bedienen, so seien beispielsweise Konzepte wie „Nachhaltigkeit" oder „Generationengerechtigkeit" de facto liberale Wirtschaftspolitik, würden aber nicht als solche verkauft - „pragmatischer Semi-Liberalismus" nennt Wegner das (S. 24). Inhalt ist in der Politik nichts, Verpackung alles, könnte man es überspitzt formulieren. Nun muss man es nicht ganz so pessimistisch sehen, doch dass Weltanschauungen einen massiven Einfluss auf unser Denken und unsere Umwelt haben, dürfte unbestreitbar sein, und Alfred Schüller liefert in seinem Beitrag einen Beleg dafür - er zeigt den Einfluss interessenpluralistischer Konzepte auf das Verhalten von Unternehmen und Arbeitnehmern und deren Folgen für die Beschäftigung in Deutschland. Schüller sieht im Aufkommen einer pseudointeressenpluralistischen Wirtschaftspolitik - dokumentiert beispielsweise durch eine zum angemaßten Eigentum mutierte, haftungsfreie Mitbestimmung und durch die Idee der Globalsteuerung - die Ursache für das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Unter dem Deckmantel pseudo-pluralistischer Ansprüche von Wirtschaftsverbänden hat sich die Marktwirtschaft verwandelt von einer echten Marktwirtschaft mit einem Pluralismus der Problemlösungen auf individueller und betrieblicher Ebene hin zu einer Marktwirtschaft, in der sich Kollektive wie beispielsweise Verbände immer mehr Personenrechte aneignen und das Volk nach Gruppen- und Klasseninteressen organisiert zum Druckmittel in der Hand von Funktionären machen - mit dem Resultat verfestigter Unterbeschäftigung. Die restlichen Beiträge des ersten Teils des Sammelbandes widmen sich konkreten Anwendungen ordnungspolitischen Denkens. So untersuchen Egon Görgens und Martin Babl die Rolle der Ordnungspolitik im Transformationsprozess der mittel- und osteuropäischen Staaten; beispielhaft wählen sie dazu die Entwicklung der Finanzmärkte in diesen Staaten als pars pro toto für die Gesamtwirtschaft. Natürlich kann man Befunde aus diesem Sektor nicht linear auf die Gesamtwirtschaft übertragen, aber der Befund von Görgens und Babl ist aufschlussreich: Es ist die Ordnung der Wirtschaft, die den Unterschied macht - der Finanzsektor eines Landes liefert nur dann einen positiven Wachstumsbeitrag, wenn ein Mindestmaß an institutionellen Regeln vorhanden ist. Dabei warnen Görgens und Babl vor einem allzu hohen Evolutionsoptimismus: Eine rein evolutorische Strategie, bei der man auf das Entwickeln einer spontanen Ordnung vertraut, laufe Gefahr, in ineffiziente Entwicklungspfade zu münden (S. 76) - man könnte auch von einer evolutionären Sackgasse sprechen. Doch Ordnungspolitik bleibt eine akademische Denksportübung, wenn sie nicht in die Realität übersetzt wird - in diesem Sinne ist wohl auch der Beitrag von C. Mantzavinos zu verstehen, der davor warnt, zu viele intellektuelle Kapazitäten darauf zu verwenden, Definitionen zu diskutieren - nicht was etwas ist, ist die Aufgabe der Wissenschaft, sondern die Frage danach, warum etwas ist. Dementsprechend wenden sich die restlichen Beiträge des ersten Teils praktischen Anwendungen der Ordnungspolitik zu. Innovationspolitik ist ein Teil der Ordnungspolitik, schreibt Ulrich Fehl: Innovationsprozesse sind evolutorische trial-and-error-Prozesse, die im Kontext von Unternehmertum und Wettbewerb bewertet werden müssen. Deshalb müsse sich der Staat auf die Grundlagenforschung beschränken und die anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung dem Markt überlassen. Gisela Aigner und Wolfgang Kerber widmen sich einem speziellen Teilgebiet der Innovationspolitik, den Forschungs- und Entwicklungskooperationen und ihrer wettbewerbspolitischen Ambivalenz. Vor allem aus evolutorischer Perspektive, so Aigner und Kerber, müsse man sich fragen, ob unter solchen Kooperationen nicht die Diversität der Forschungsanstrengungen leide (S. 137) - dann würde die Forschungs- und Ent-

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Wicklungspolitik in der evolutorischen Sackgasse landen, die auch Görgens und Babl in ihrem Beitrag beleuchtet haben. Will heißen: Auch Innovationspolitik benötigt Wettbewerb und den dazugehörigen Rahmen. Wettbewerb - das ist eines der zentralen, bindenden Elemente der Beiträge dieses Sammelbandes. So beschäftigt sich auch Günter Knieps sich mit dem Wettbewerb, speziell dem Wettbewerb in leitungsgebundenen Industrien und der Frage nach dem notwendigen Regulierungsbedarf - wieviel muss man in diesen Industrien regulieren? Knieps ist der Ansicht, dass sich diese Frage nicht mit der Idee der angreifbaren Märkte beantworten lasse - sie formuliere zwar hinreichende Bedingungen für die Abwesenheit netzspezifischer Marktmacht, charakterisiere jedoch keineswegs umfassend die Voraussetzungen für das Vorliegen netzspezifischer Marktmacht und dem darauf aufbauenden sektorspezifischen Regulierungsbedarf (S. 142). Er plädiert dafür, netzspezifischen Regulierungsbedarf auch mit Hilfe der Theorie der monopolistischen Bottlenecks zu identifizieren; nur in den Teilbereichen, in denen sich netzspezifische Marktmacht feststellen lässt, sei eine Regulierung auch angebracht, in allen anderen Netzbereichen wäre eine Regulierung nicht nur überflüssig und wohlfahrtsschädlich. Der erste Teil des Bandes schließt mit einem Beitrag von Stefan Okruch über die EUWettbewerbspolitik aus ordnungsökonomischer Sicht; er plädiert für mehr Vielfalt, betont aber auch die Bedeutung von Koordination und Lernprozessen im europäischen Systemwettbewerb. Der Zweite Teil des Bandes wendet sich dem zweiten großen Wirkungsbereich Oberenders zu, der Gesundheitsökonomik - auch hier, wenn nicht erst recht hier ist ordnungspolitisches Denken nötig. Viele Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen hätten vermieden werden können, wenn man Fragen der öffentlichen Gesundheitsversorgung so wie von Oberender gefordert mit dem Instrumentarium der Ordnungspolitik behandelt hätte, schreibt Hartmut Kliemt in seinem Beitrag. Er zeigt, dass das Bemühen, die alte soziale Frage der Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung zu lösen zu einer neuen sozialen Frage der zunehmenden Bürokratisierung und Reglementierung des Gesundheitswesen führt - im Namen der Gleichheit werden Politiker zu Verbots- und Regulierungsstrategien greifen, ohne dass sie dadurch auch die alte soziale Frage lösen. Wer alle Menschen vor dem Arzt gleich macht, wird niemandem gerecht. Dass Gleichmacherei und mit ihr Hand in Hand die dazu notwendige Regulierungswut im Gesundheitswesen zu einer Kostenexplosion und unbefriedigenden Ergebnissen führt, gilt unter Ordnungsökonomen als ausgemacht, nicht zuletzt kann man dies auch in Oberenders Schriften nachlesen. Der Rest des Sammelbandes ist konsequent der Frage nach ordnungspolitisch adäquaten Lösungsvorschlägen zur Reform des Gesundheitswesens gewidmet. J. Matthias Graf von der Schulenburg sucht nach den Leuchttürmen für eine Gesundheitspolitik der ökonomischen Vernunft und legt Eckpunkte einer Reform des Krankenversicherungssystems dar, von der er glaubt, dass sie mehr als die Hälfte der Paragraphen des Sozialgesetzbuches überflüssig macht und die restlichen auf ein viertel des bisherigen Textes zusammenstreicht (S. 196). Eberhard Wille untersucht Modelle und Vorschläge zur Reform der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung und vergleicht diese miteinander. Das öffentlichkeitswirksam diskutierte Modell der Bürgerversicherung kann seiner Ansicht nach nur einen kleinen Beitrag zur Lösung der akuten Probleme des Gesundheitswesens leisten; er rät zu einem Übergang zu den ebenfalls breit diskutierten Gesundheitsprämienmodellen und einem Einstieg in mehr Kapitaldeckung. Doch so einfach das klingt, so schwer wird das im Detail und in der Praxis - es gibt keinen bequemen Lösungsweg für die langfristige Finanzierung der sozialen Sicherung, schreibt Volker Ulrich, der sich mit ebenfalls der Frage beschäftigt, wie Gesundheitsleistungen finanziert werden sollten. Er verweist dabei auch auf die intergenerative Umverteilung, die den derzeitigen System der Gesundheitsversorgung immanent ist - die Kosten, die dem Gesundheitssystem aus der steigenden Lebenserwartung und dem technischen Fortschritt im Gesundheitswesen erwachsen, dürfe man nicht einfach über ein Umlageverfahren den gegenwärtigen Erwerbstätigen anlasten respektive den zukünftigen Generationen als Schulden hinterlassen (S. 256). Eine interessante Reformoption sind die sogenannten Medical Savings Accounts, die Krankenversicherung

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und individuelle Rücklagenbildung institutionell miteinander verknüpfen: Der Versicherte spart auf einem individuell geführten Gesundheitskonto einen Kapitalstock an und nimmt diesen in Anspruch, um vorher festgelegte Gesundheitsleistungen zu finanzieren. Übersteigen die Kosten der Gesundheitsleistungen diesen Kapitalstock, so wird der verbleibende Betrag aus einer Krankenversicherung abgedeckt. Stefan Bornemann und Frank Daumann beschäftigen sich mit diesem Konzept und sind der Ansicht, dass es problemlos in das bestehende Gesundheitssystem integriert werden kann, wenngleich sie betonen, dass sich die positiven Allokationswirkungen dieses Konzeptes nur realisieren lassen, wenn man die verschiedenen Gesundheitsleistungen sauber trennen kann in Leistungen, welche aus dem Gesundheitskonto zu zahlen sind und Leistungen, die völlig eigenverantwortlich abzudecken sind. Neben der Finanzierungsseite kann auch die Leistungsseite im Gesundheitswesen von den Ideen der Ordnungspolitik profitieren - Dieter Cassel und Torsten Sundmacher stellen sich dieser Frage und untersuchen, inwieweit das Allzweckmittel Wettbewerb auch im Gesundheitswesen Abhilfe schaffen kann. Sie untersuchen Möglichkeiten und Grenzen des Vertragssystemwettbewerbs, bei dem Patienten wählen können zwischen der kollektiv ausgehandelten Regelversorgung und einer einzelvertraglich ausgestalteten integrierten Versorgung. So sehr Ordnungspolitiker Wettbewerb - in diesem Fall den Wettbewerb zwischen zwei Vertragstypen - befürworten, Cassel und Sundmacher verschließen nicht die Augen vor den Problemen einer solchen Lösung: Der Vertragssystemwettbewerb, so ihr Fazit, ist kein Königsweg zur Transformation der Gesetzlichen Krankenversicherung, weise aber deutlich in die richtige Richtung, was ein Transformationsprogramm für diese angehe. Günter Neubauer und Klaus-Dirk Henke widmen sich jeweils zwei speziellen Problemen der Gesundheitsökonomik: Neubauer plädiert für eine ordnungspolitische Neubesinnung in der Krankenhausplanung - überholt und in einer Sackgasse, benötige sie einen ordnungspolitischen Neuanfang. Hier plädiert Neubauer für Preis-Leistungs-Transparenz und freie Krankenhauswahl, mehr Gestaltungsfreiraum für die Krankenkassen und Vertragsfreiheit für Krankenhäuser. Der Staat solle als Akteur in diesem System darauf achten, dass die Akteure die Spielregeln einhalten, die eine solche wettbewerbliche Nachfragesteuerung verlange. Doch mit Blick auf die politischen Reformzyklen erwartet er einen Durchbruch zu einer wettbewerblichen Nachfragesteuerung, wie er sie aufzeigt, erst für das Jahr 2012, dann werde auch der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung grundlegend in Richtung eines Grundleistungskatalogs geändert (S. 318). Klaus-Dirk Henke befasst sich mit den Kosten und Nutzen der Prävention eine Querschnittsaufgabe zwischen kollektiver Fürsorgepflicht und individueller Verantwortung, die Koordinierung vieler Akteure bedarf (S. 329 f.). Dabei sieht er die Krankenkassen und mit ihnen den Wettbewerb in der Aufgabe, Verhaltensprävention zu erbringen, also das Verhalten der Versicherten zu ändern; die Verhältnisprävention, also die Veränderung der Lebensstile der Versicherten, die in großem Umfang zu Erkrankungen beitragen, sei hingegen eher eine Staatsaufgabe im engeren Sinne. Frank-Ulrich Fricke beschließt den Band mit Überlegungen über die Auswirkungen der Gesundheitsökonomie auf Industrie und Politik. Gesundheitsökonomie, so seine Diagnose, werde in der deutschen Gesundheitspolitik und Gesundheitssystemgestaltung nicht systematisch eingesetzt, auch wenn man erkannt habe, dass die Beschäftigung mit Gesundheitsökonomie sinnvoll sei - hier schließt sich der Kreis dieses Sammelbandes, man kann mehr oder weniger direkt auf die Beiträge der ersten Hälfte des Bandes verweisen, die diesen praktisch-empirischen Befund theoretisch untermauern. Frickes Ausblick ist allerdings optimistisch: Er erwartet, dass die Beschäftigung mit der Gesundheitsökonomik in der deutschen Gesundheitsökonomie zunehmen werde; eine Professionalisierung in der Anwendung gesundheitsökonomischer Analysen und der Gestaltung des Versorgungsalltags sei zu erwarten. Doch dazu müsse auch die Disziplin selbst einen Beitrag leisten: Noch sei die Lücke zwischen der gesundheitsökonomischen Theorie und der Praxis zumindest in Deutschland noch zu hoch. An Peter Oberender kann diese Lücke zwischen Theorie und Praxis nicht liegen - sein Werdegang und sein Engagement, sowohl in der Politikberatung als auch in der praktischen An-

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wendung seiner Forschung in der Industrie - zeugen davon, dass er stets willens und in der Lage war, aus theoretischen Ideen praktische Ratschläge und nützliche Werkzeuge zu machen. Und das ist es letztlich, was einen guten Wissenschaftler ausmacht: Er macht aus seinen theoretischen Ideen praktische Anwendungen und er lebt das, was er forscht. Insofern ist auch dieser Sammelband ein Stück gelebte Ordnung, dem man viel Aufmerksamkeit und Folgen für die Praxis wünscht.

Literatur Oberender, Peter (1989), Der Einfluß ordnungstheoretischer Prinzipien Walter Euckens auf die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine ordnungspolitische Analyse, in: ORDO Bd. 40, S. 321 ff. Oberender, Peter, Jürgen Zerth und Andreas Schmid (2006), Liberalisierung des Pharmamarktes, Berlin.

Klaus Beckmann

Missing Link? Ein Kommentar zu Timothy Besleys (2006) „Principled Agents?"* Häufig wird ein Bedeutungsverlust der Ordnungstheorie in der deutschsprachigen Ökonomik beklagt. Gelegentlich verbindet man diese Klage mit einem Hinweis auf den Bedeutungsverlust der Ökonomik insgesamt (zu diesem Frey 2000) und deutet die Lage als die Konsequenz eines Regelversagens in der Ökonomik (Pies 2008). Jedoch erschienen in jüngerer Zeit Arbeiten, die wieder verstärkt dokumentieren, dass nicht notwendig Sprachlosigkeit zwischen Ordnungspolitik und theoretisch-formaler Ökonomik oder auch der Ökonometrie herrschen muss. Dabei handelt es sich meist um Monographien von gereiften Autoren, die sich zuvor ihre Sporen in der rauen Welt der Journals verdient haben. Sieht man von ökonometrisch dominierten Ansätzen (etwa Persson und Tabellini 2003) einmal ab, so stechen insbesondere Werke hervor, die auf der Agency-Theorie aufbauen, etwa Laffont (2001) und eben Besley (2006). Während sich Laffont (2001) ab ovo der Analyse von Verfassungen verschreibt, scheinen bei Besley (2006) auf den ersten Blick mehr Themen aus dem Bereich des Public Choice zu dominieren - von Bürger-Kandidaten-Modellen ist die Rede, und ein zentraler Beitrag der Monographie betrifft den Trade-off von Repräsentanz und Verantwortung, also ein Topos aus der Politikwissenschaft (Kapitel 3). Doch dieser erste Eindruck täuscht: Besley (2006) liefert nach einem lesenswerten quantitativen Überblick über die Qualität von Governance weltweit (Kapitel 1) zunächst einmal eine simplifizierende, aber gerade in dieser Simplizität bestechende Diskussion dessen, was denn „Staatsversagen" überhaupt sei (Kapitel 2). Durch die analytisch klare Gegenüberstellung welfaristischer, auf die Maximierung der Tauschvorteile angelegter und auf dem einvernehmlichen Wandel beruhender Konzepte gelingt es dem Verfasser, auch den mit der Primärliteratur gut vertrauten Leser neu zu stimulieren; wo man gelegentlich vermeint, der Autor habe eine Facette übersehen, belehrt ein zweiter Blick auf die bei aller äußeren Einfachheit doch sehr dichte Argumentation alsbald eines Besseren. Es schließt sich das schon beschriebene dritte Kapitel an, das von Besleys früheren Publikationen in hochrangigen Journals zehrt und den Kern der theoretischen Erkenntnisse daraus in vereinfachter analytischer Form neu aufbereitet. Brillant ist der Einstieg in dieses Kapitel 3, der auf gerade 20 Seiten eine zugängliche, aber zugleich hinreichend tiefe Version des Agency-Modells in seiner Anwendung auf Wahlen bietet. * Timothy Besley, Principled Agents? Oxford University Press, Oxford 2006.

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Mit dem vierten Kapitel schließlich (in Koautorschaft mit Michael Smart entstanden) wird die moderne Konstitutionenökonomik zu ihren Wurzeln zurückgeführt, wie sie in Buchanans (1967) Lehrbuch wohl ihren besten Ausdruck fanden. Wiederum sind es finanzwissenschaftliche, aber ordnungspolitisch gedachte Fragestellungen, die hier bearbeitet werden, freilich nun mit einem modernen formal-analytischen Instrumentarium. Für den Finanzwissenschaftler ist Besley (2006) wegen des zweiten und vierten Kapitels sehr lesenswert. Bietet dieses Buch aber mehr als eine gelungene Verbindung zwischen formalem Mainstream und Ordnungsdenken (wobei Besley auch immer ökonometrische Evidenz für seine Thesen integriert)? Natürlich enthält es - der Publikationskultur in unserem Fach geschuldet - keine originäre Präsentation von Forschungsergebnissen mehr; vielmehr kondensiert der Verfasser darin eine Vielzahl eigener Beiträge zum Public Choice, was durch die Aufbereitung und Verdichtung durchaus eine neue Qualität gewinnt. Was diese Monographie gegenüber vergleichbaren Arbeiten auszeichnet, das ist die Verbindung dreier Aspekte: Erstens wird auf die Problematik der Auswahl von Politikern in Ergänzung zur sonst üblichen Disziplinierung (der Anreizproblematik) abgestellt, zweitens treten dynamische Ratchet-Effekte neben die üblichen eher statischen Probleme eines optimalen Mechanism design, und drittens wird die Analyse konsequent auf Wahlen unter Vernachlässigung der üblichen räumlichen Abbildung von Wählerpräferenzen ausgerichtet. Die hier vorgelegte Agency-Theorie kommt daher auch mit der Figur eines repräsentativen Wählers (Prinzipals) aus. Andererseits wird die Figur des Politikers recht differenziert beschrieben, mit einer ausführlichen - wenn auch leider noch nicht genügenden - Darstellung der verschiedenen denkbaren Motive. Es fehlt allerdings die explizite Modellierung der ideologischen Rente, also des intrinsischen Nutzens aus der Verwirklichung des nach eigener Ansicht Guten, auch wenn das Modell im dritten Kapitel eine entsprechende Interpretation erlaubt. Besley gelingt es vortrefflich, in den Gang der Handlung zahlreiche kleine, aus dem Gesagten logisch folgende Argumente zu integrieren, die zu Nachdenken oder Widerspruch anregen mein Lieblingsbeispiel ist hier die klare Interpretation der Korruption als eines Transfers versus des Lobbying als eines Wohlfahrtsverlustes im zweiten Kapitel (wenngleich Abweichungen von diesem Grundmuster, etwa durch Aufwendungen zum Verbergen illegaler Aktivitäten zugestanden werden). Für mich ist der verwandte Hinweis (in einer Fußnote!), dass eine LeviathanLösung bei Berücksichtigung des Nutzens „der Politiker" trivial pareto-effizient ist, ebenso wichtig. Solche Argumente mögen keine fundamentale Revision unserer Ansichten zu praktischen Problemen verlangen, aber sie machen doch auf Schwächen der üblichen Argumentationsmuster aufmerksam und mahnen zu einer sorgfältigeren Begründung geläufiger ordnungspolitischer Forderungen. Für jeden Leser dieses Buches wird es auch Dinge geben, über die er sich schlicht ärgert. Der Rezensent hadert zum einen mit der - laut Besley bei Wicksell anzusiedelnden (!) - Vorstellung eines Status quo, dessen Veränderung jedes Individuum durch Veto blockieren kann, ohne den gleichzeitig - namentlich in der Buchananschen Tradition - mit gedachten konstitutionellen Verzicht auf dieses Veto im Austausch gegen andere Zugeständnisse zu modellieren. Anders gewendet: eine wirkliche Trennung von Handlungsebene und Regelebene findet bei Besley (2006) eben nicht statt. Aus ordnungstheoretischer Sicht stellt dies ein mehr als nur erhebliches Manko dar. Zudem besteht eine klare Lücke zwischen dem sehr grundsätzlichen - und darin wichtigen zweiten Kapitel und dem eher auf ein durchkomponiertes Agency-Modell gerichteten dritten Kapitel. Was dabei alles übersprungen wird, spricht Besley zwar zu Beginn des dritten Kapitels kurz an, doch bleibt dieser Hinweis mehr als nur unvollständig. Hier rächt sich letzten Endes, dass dieses Buch aus einer Vorlesungsreihe statt aus einem Forschungsprojekt heraus entwickelt wurde. Gleichwohl bleibt in der Gesamtschau vor allem ein Eindruck: ein lesenswertes Buch. Das gilt besonders für den Finanzwissenschaftler, der besonders leicht einen Anschluss zu diesem Versuch finden wird, Denken über Ordnungen mit formaler Ökonomik zu verbinden. Und für

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jüngere Ökonomen mit ordnungspolitischen Neigungen liegt hier ein Buch vor, das exemplarisch zeigen kann, wie sich trotz solcher Neigungen noch wettbewerbsfähige Papers schreiben lassen. Auch das erscheint mir heute nicht unwichtig.

Literatur Buchanan, James M. (1967), Public Finance in Democratic. Process, Chapel Hill. Frey, Bruno S. (2000), Was bewirkt die Volkswirtschaftslehre?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 1(1), S. 5-33. Laffont, Jean-Jacques (2001), Incentives and Political Economy, Oxford. Persson, Torsten und Guido Tabellini (2003), The Economic Effects of Constitution, Cambridge. Pies, Ingo (2008): Mathematik und Ordnungspolitik sind kein Widerspruch, Diskussionspapier 2008-7 des LehrstuhlsfiirWirtschaftsethik an der Universität Halle-Wittenberg.

Hardy Bouillon

Wirtschaftsethische Perspektiven VII Besprechung des von Volker Arnold herausgegebenen gleichnamigen Bandes* Band VII der in die Schriften des Vereins für Socialpolitik aufgenommenen Reihe „Wirtschaftsethische Perspektiven" erweist sich als ein würdiger Repräsentant seiner Reihe. Wie auch die Vorgängerbände präsentiert er einen Reigen von Beiträgen zu unterschiedlichen Fragen der Wirtschaftsethik, die eines gemeinsam haben, nämlich ihren Ursprung als Tagungsvorträge zweier Sitzungen des Ausschusses „Wirtschaftswissenschaften und Ethik" im Verein für Socialpolitik, die zwischen 2002 und 2003 stattgefunden haben. Unter den insgesamt elf Beiträgen finden sich Aufsätze zu methodischen Grundsatzfragen, Mess- und Verteilungsfragen ebenso wie theoretisch oder empirisch ausgerichtete Untersuchungen, u.a. zur Unternehmens- und Medizinethik. Hermann Sautter fragt nach Berechtigungen für die Kritik am Zynismus mancher Ökonomen. Diese werde gelegentlich zu recht geäußert, wie er mit einem Kommentar des früheren Chefokonomen der Weltbank, Lawrence Sumners, zur These, Giftmüll dort zu lagern, wo Lebensstandard und -erwartung am niedrigsten seien, belegt: „Ich war schon immer der Meinung, daß (...) Länder in Afrika deutlich unterverschmutzt sind." (S. 14) Ungerechtfertigt hält Sautter die Kritik, wenn sie die Auswahl der Themen angreift, für berechtigt jedoch, wenn Zynismus der Verdrängung moralischer Bewertungen dient oder auf eine ökonomische Begründung ethischer Normen zielt. Karl Homann gibt Antwort auf die Frage, in welcher Weise die Idee der „moralischen Motivation" für die Wirtschaftsethik fruchtbar gemacht werden könne. Gemäß seiner - wie er selbst schreibt - holzschnittartigen Überlegungen (S. 48) sollte eine Strategie, die auf den Dualismus von „moralischer Motivation" und Eigeninteresse setzt, vermieden werden. Auf dem Weg zu einer modernen eudämonistischen Ethik müsse die Forschungsstrategie „auf die Differenzierung der Situationen, auf die Restriktionen des Handelns, gehen und nicht auf ein „Menschenbild", das ohne Methodik einfach angereichert wird." (S. 56) Ingo Pies kontrastiert seine Vorstellungen zu einem Weltgesellschaftsvertrag - den er nicht als einen Verfassungstext, sondern als „eine Heuristik für jene Prinzipien des Zusammenlebens, die auf allgemeine Zustimmung treffen können" (S. 63) versteht, mit denen der ffiingschen Idee * Volker Arnold (Hg.), Wirtschaftsethische Perspektiven VII, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 228/VII, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2004,267 Seiten.

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eines „Weltethos", „gedacht als Schnittmengenkonsens zwischen ethischen Orientierungen." (S. 71) Pies hält es für aussichtsreicher, vom Wollensparadigma aus nach Regeln zu suchen, statt, am Sollensparadigma ausgerichtet, globale Tugenden generieren zu wollen. Andreas Suchanek skizziert eine Unternehmensethik, die sich am Kritischen Rationalismus als Grundlage der Wahl metatheoretischer Heuristiken orientiert, die Vertragstheorie als Basis normativer Theoriebildungsentscheidungen voraussetzt und die Ökonomik als Analysemethode wählt. (S. 80). Unter Hinzunahme dreier Prinzipien (1. nachhaltige gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, 2. anreizkompatible Verantwortung, 3. institutionalisierter Wettbewerb) ist s. E. der zentrale Imperativ der ökonomischen (Unternehmens-)Ethik (S. 86) herzuleiten: Investiere in die (Bedingungen der) gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! Hermann-Josef Tebrokes Interesse gilt der Performancebeurteilung sogenannter „Ethischer Investments" (Geldanlagen, die u.a. im Hinblick „auf ihre Übereinstimmung mit moralischen Wertvorstellungen" (S. 104) gewählt werden). Unterschiede in den empirischen Untersuchungen sind laut Tebroke auf Messprobleme zurückzufuhren, zeigten aber in aller Regel „einen leichten Nachteil ethischer Anlagen bzgl. der finanziellen Performance". (S. 126) Die weitere Entwicklung des Marktes für ethische Investments sieht er u.a. in Abhängigkeit von der künftigen Professionalisierung im Finanzmanagement der Geldanlagen. Bruno Staffelbach und Ingrid Pohl-Eckerstorfer richten ihr Augenmerk auf die Genanalyse in der betrieblichen Personalwirtschaft, insbesondere auf die Frage, warum befragte Personalleiter trotz offensichtlicher EfFizienzvorteile „den Einsatz der Genanalyse in der Personalwirtschaft kategorisch ablehnen" (S. 135), und auf die ökonomischen Antworten auf diese Frage. Letztere zeigen, dass die befragten Personalleiter die Folgekosten des Mehrwissens durch Genanalyse (u.a. Kosten aus der Diskriminierung nach Risikogruppen) höher einschätzen als den Folgenutzen. Ulrich Steinvorth beginnt mit der - m.E. überraschenden - These, es sei „in der Embryologie und allgemeiner in den bioethischen Diskussionen nicht umstritten" (S. 153), dass Embryonen erst mit der Gastrulation begönnen, Individuen zu sein, und meint, die vorgastrulatorische Tötung stehe somit unter anderen Vorbehalten als die Tötung von Individuen. Letztere könne aus Notwehr, zur Strafe und dann erlaubt sein, „wenn das Opfer durch Umstände, die es nicht zu verantworten hat, für uns zu einer unzumutbaren Belastung geworden ist." (S. 166) Bernhard Neumärkter vergleicht Fairnesskonzepte (vor allem Fairness als Neidfreiheit und aktuarische Fairness) und deren Auswirkungen für gentechnisch basierte Versicherungen und kommt dabei zum Schluss, dass vor allem „Ex ante-Fairness als Sozialvertragsansatz (...) aus ethischer Sicht als ein sinnvolles normatives Konzept, um heutige und zukünftige Fragen gerechter Versicherungsgestaltung beantworten zu können," erscheine (S. 201), lässt dabei aber offen, was dabei unter „ethischer Sicht" zu verstehen ist. Christian Aumann und Wulf Gärtner betrachten alternative Lösungen des Organ-Dilemmas (wobei unklar ist, was sie mit Organ-Dilemma meinen: die unzureichende Anzahl an Spenderorganen oder die dadurch aufgeworfene Frage, den Handel mit Organen, die dem Prinzip „Organ gegen Geld" folgen, zuzulassen). Für Aumann und Gärtner überwiegen die Argumente für einen überwachten Markt für Organhandel. Er böte, so die Autoren, eine angemessene Alternative „zu dem moralisch völlig unakzeptablen Schwarzmarkt". (S. 215) Udo Ebert sucht in seinem Beitrag nach einem alternativen Ansatz zur Messung ökonomischer Ungleichheit. Dieser Ansatz stellt sich jedoch eher als komplementärer Ansatz heraus, der eine zusätzliche Familie von (neuen) Ungleichheitsmaßen einbezogen haben will. Ebert schließt sich also der Temkins-ldee der Beschwerde (eines Individuums, das sich gegenüber anderen Gruppenmitgliedern zurückgesetzt fühlt und Grund zur Klage hat (S. 227)) an und versteht sich als Beitrag zu Temkins Anliegen, „die Ungleichheit zu verstehen." (S. 238) Richard Sturm schließt den Band mit Überlegungen zur Brauchbarkeit distributionsregulierender Normen in Marktwirtschaften ab, wobei es ihm vornehmlich um Argumente für eine

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negative Auslese „"unbrauchbarer" verteilungspolitischer Maximen" (S. 266) geht. Seine Überlegungen fuhren ihn zu dem Schluss, dass Bedürfiiiskonzepte, die mehr als „robust konsensfähige Grundbedürfhisse" (S. 265) einbinden wollen, keine brauchbare stabilitätsdienliche Wirkung entfalten.

Markus

Breuer

Zum Andenken an den unbekannten Dritten der Freiburger Schule: Bemerkungen zur Gedenkschrift für Hans Großmann-Doerth* In Zeiten, in denen die Freiburger Schule mehr und mehr an Bedeutung in den Lehrplänen der deutschen Universitäten verliert, darf es nicht verwundern, dass neben den herausragenden Persönlichkeiten - Walter Eucken und Franz Böhm seien exemplarisch genannt - Hans Großmann-Doerth als einer der „Gründungsväter" (Blümle 2007), der diese Richtung in ihrer Entstehungszeit nachhaltig beeinflusste und zu ihrem „Kern" gehörte (Ptak 2004), kaum mehr in Erscheinung tritt. Diesem Umstand tragen Uwe Blaurock, Nils Goldschmidt und Alexander Hollerbach mit dem bereits 2005 herausgegebenen Buch „Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft" Rechnung und wollen, wie bereits im Vorwort ausgeführt wird, nicht nur an seinen Lebensweg erinnern, sondern seine Bedeutung für die Freiburger Schule wie für die Rechtswissenschaft würdigen. Für all jene, denen sein Name nicht in der gebührenden Form gegenwärtig ist, sei es erlaubt, die wichtigsten Stationen seines Lebens in aller Kürze zu zitieren. Hans Gustav GroßmannDoerth wurde 1894 als Sohn des Leiters der Hamburger Seewarte, Dr. Louis Großmann, und seiner Frau Cornelia Doerth geboren. Sein Studium der Rechtswissenschaften in München (ab 1913) wurde durch das Ausbrechen des ersten Weltkrieges gestört, in dessen Folge er sich bereits im August des Jahres 1914 freiwillig zum Kriegsdienst meldete und nach einem Einsatz an der Westfront von 1917 bis 1920 in französischer Gefangenschaft zubrachte. Nach Wiederaufnahme und Beendigung des Studiums folgte 1923 die Promotion zum Doktor der Rechte an der Universität Hamburg. Nach erfolgter Habilitation mit einer Arbeit zum Thema des Überseekaufs 1928 wurde er ein Jahr später als Professor für Bürgerliches Recht und Handelsrecht an die deutsche Universität Prag berufen. 1933 wechselte er schließlich an die Universität Freiburg, wo er bis zu seinem Tod, unterbrochen von Einberufungen in die Wehrmacht, blieb. Im Sommersemester 1934 kam es zur ersten Ausrichtung des Gemeinschaftsseminars von Eucken, Böhm und Großmann-Doerth, zwei Jahre später traten sie gemeinsam als Herausgeber der Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft" in Erscheinung. Großmann-Doerth selbst wurde bereits im Juli 1939 als Leutnant der Reserve eingezogen und blieb, von einer kurzzeitigen Entlassung 1940-1941 abgesehen, bis zu seinem Tod am 05.03.1944 im Dienst der Wehmacht. Die Gedenkschrift enthält neben einer Einführung (Nils Goldschmidt) einen Beitrag Alexander Hollerbachs, der Großmann-Doerth im Kontext der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät analysiert. Weiterhin finden sich ausführliche Lebensdaten des Geehrten (auf denen auch die obige Vita basiert), zusammengestellt von Marc H. Speck sowie der Beitrag Uwe Blaurocks unter dem Titel „Wirtschaft und Rechtsordnung". Die Herausgeberschaft endet mit einem Abdruck der Antrittsvorlesung, die der Geehrte am 11.05.1933 in Freiburg hielt, sowie eine Sammlung persönlicher Briefe, eine Übersicht über die gehaltenen Seminare und die Bibliographie Großmann-Doerths.

* Uwe Blaurock, Nils Goldschmidt und Alexander Hollerbach (Hg.), Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft. Zum Gedanken an Hans Großmann-Doerth (1894-1944), Tübingen 2005.

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Bereits in seiner Einführung charakterisiert Goldschmidt den „unbekannten Dritten" (S. 9) als einen praktisch ausgerichteten Juristen, unter dessen Zielen sich auch der Anstoß zur interdisziplinären Zusammenarbeit findet (S. 16). Sein zentrales Anliegen stellt der Schutz des Menschen vor der Ausbeutung von Machtverhältnissen dar. Das zentrale Problem, das GroßmannDoerth daraus abgeleitet hat, ist die Frage nach der privaten Macht in einer freien Wirtschaft (S. 16). Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass diese Aspekte sich auch im Gedankengebäude des Ordoliberalismus wieder finden: Die Idee einer eigenständigen Ordnungspolitik, die auf die Gestaltung eines bestimmten Ordnungsrahmens zielt (S. 15) und die private Macht begrenzt. Im zweiten Aufsatz des Buches geht Hollerbach u.a. auf die politische Einstellung Großmann-Doerths ein, die, wie oftmals in dieser Generation, als ambivalent bezeichnet werden muss. Auch wenn er nie in die NSDAP eingetreten ist und keinerlei politisches Engagement bekannt ist, so kann ihm ein anfanglicher Glauben an das NS-Regime kaum abgesprochen werden. Die spätere Einstellung Ende der 1930er Jahre bis zu seinem Tod ist auf Basis des verfügbaren Kenntnisstandes schwer zu bewerten: In das Bild einer Distanzierung passt sich neben der Verteidigung Franz Böhms in zwei Prozessen wegen regimekritischer Äußerungen auch die Ablehnung des Führerprinzips an Hochschulen sowie die Promotion eines „Vierteiljuden" ein, dem zuvor das Ablegen des Examens verweigert worden war (S. 32). Demgegenüber kam es 1940 zur Publikation antisemitischer Beiträge, deren Umstände (Zensur, möglicherweise Bedrängung) bis heute nicht geklärt sind. Die wissenschaftliche Kooperation von Böhm, Eucken und Großmann-Doerth endete jedenfalls Anfang der 1940er Jahre, als Eucken die Fortführung nach Großmann-Doerths „Richtungswechsel" verweigerte (sie!) (Oswalt 2005). Bezüglich seiner Aktivitäten in der Wehrmacht kommt Hollerbach zu dem Schluss, dass Großmann-Doerth Soldat aus Patriotismus und Verantwortungsbewusstsein der Jugend gegenüber war (S. 40). Dieser Blick ist freilich nicht der einzige, lässt sich doch Walter Eucken mit dem Satz zitieren, Großmann-Doerth sei an die Front „geflohen" (Oswalt 2005). Bezüglich seiner Person schließt Hollerbach, dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sei, als Mitglied des Widerstandes könne man Großmann-Doerth jedoch nicht bezeichnen. Unabhängig von der Frage, was genau eine solche Bezeichnung rechtfertigt, zeigt sich hier der Unterscheid zu anderen Freiburgern Wissenschaftlern wie Dietze, Lampe und dem Historiker Ritter, die im Nachgang des gescheiterten Attentats vom 20.07.1944 verhaftet wurden (Blümle und Goldschmidt 2003). Hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit fällt ein Urteil leichter. So kann als gesichert gelten, dass die Anregung zur Durchführung interdisziplinärer Seminare von Juristen und Ökonomen von ihm ausging. Er sah den Eigennutz als Triebfeder allen menschlichen Handelns an, wobei dem Staat die Aufgabe zukomme, diesen zu steuern und für die Gesamtwirtschaft dienstbar zu machen (S. 33). Der Beitrag Blaurocks setzt auf der Antrittsvorlesung Großmann-Doerths sowie seiner Habilitationsschrift an. Erst an dieser Stelle wird dem uninformierten Leser deutlich, dass es sich bei dem „selbstgeschaffenen Recht der Wirtschaft" um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, durch die Wirtschaftssubjekte staatliche Regelungen modifizieren oder gar ersetzen (S. 57). Ziel müsse es sein, die Gegensätze zwischen diesem selbstgeschaffenen Recht und der staatlichen Rechtsordnung zu überwinden, was faktisch durch das Setzen eines staatlichen Rahmens erfolgen könne (S. 62 f.). Andernfalls könne es zum Entstehen einer privaten Rechtsordnung kommen, zur Benachteiligung eines Geschäftspartners und zum Ausnutzen von Machtpositionen. Aufgabe allgemeiner Geschäftsbedingungen sei es, zu rationalisieren, nicht jedoch Risiken auf einen einzelnen Partner abzuwälzen. In der Beziehung zwischen Kaufleuten untereinander haben dabei freilich andere Maßstäbe zu gelten, als zwischen Privatleuten und Kaufleuten. So befasste sich Großmann-Doerth bereits früh mit dem Überseekauf (s. o.) und den dort üblichen Handelsklauseln (bspw. den Incoterms). Die abschließend erfasste Antrittsvorlesung Großmann-Doerths sowie eine Auswahl privater Korrespondenz ermöglicht weitere Einblicke in die Persönlichkeit des Mannes, dessen Wirken die Freiburger Schule in den 1930er Jahren so nachhaltig geprägt hat. So stellt sich sein zeitgenössischer Patriotismus u. a. in der Betonung der Prager Studenten dar, denen er sich auch nach

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seinem Wechsel nach Freiburg weiterhin verbunden fühlt (S. 77). Seine Vorstellung von einer staatlichen Ordnung zeigen sich auch in den Äußerungen über die „weisen Entscheidungen des obersten Gerichtshofs" (S. 86), die durch die Juristen im Sinne der Kaufleute und Gesellschaften zunehmend aus dem Weg geräumt werden. Jedoch könne keine Wirtschaft dauerhaft ohne die Achtung vor den Normen des staatlichen Rechts leben (S. 87). Auch wenn das staatliche Recht nicht in jedem Fall das bessere und weisere sei, dürfe der Staat nicht zulassen, wie die Wirtschaft Regeln willkürlich außer Kraft setzt und „zum toten Buchstaben erniedrigt" (S. 89). Seine konkreten Vorschläge sehen neben der Kontrolle der AGB vor, Willkürrecht nicht weiter zu dulden; staatliches Recht müsse das rechtspolitisch Mustergültige darstellen. Und so von der „Verwilderung des Rechtsgefühls" (S. 86) gesprochen wird, so klingt dies auch 76 Jahre später noch sonderbar aktuell. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der finale Aufruf zu werten, in dem sich der neu berufene Professor für die Ausbildung guter Juristen einsetzt. Die abschließend abgedruckten Auszüge aus der persönlichen Korrespondenz GroßmannDoerths wurden offensichtlich bewusst so ausgewählt, dass einerseits Facetten des Menschen wie auch Ansichten des Wissenschaftlers und Hochschullehrers offenbar werden. So verurteilt er den Genozid an der jüdischen Bevölkerung als Verbrechen (S. 106), wie um seine Person gegen Anfeindungen zu schützen, fordert andererseits entschieden und mit allem Patriotismus, dass der Krieg gewonnen werden müsse, wenn er auch Angst vor einer möglichen Zeit nach dem Sieg äußert (S. 107). Überhaupt fällt gerade in den Briefen auf, wie sehr sich GroßmannDoerth bemüht, bipolare Weltbilder zu vermeiden. In der Person des Hochschullehrers betont er die Bedeutung einer lebendigen Beziehung zu Praktikern, bedauert aber gleichzeitig die Verschlechterung der wissenschaftlichen Ausbildung. Auch dies mag im Jahr 2009 seltsam bekannt anmuten, wenn der Hintergrund 1934 auch ein anderer war. Im letzen Brief an den Staatssekretär Dr. Rothenburger fordert er gar, die Ausbildung solle klüger machen und ein bestimmtes Denken-können vermitteln, weniger durch Eintrichtern des Stoffes, als vielmehr durch Arbeit am Stoff (S. 110). Hinsichtlich dieser Ansicht vermag er auch heute noch als Vordenker zu gelten. Angesichts der Bedeutung Großmann-Doerths für die Freiburger Schule und damit implizit auch für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik der Nachkriegszeit stellt die geringe Popularität eine Besonderheit dar, die möglicherweise nicht nur durch das frühe Ableben zu erklären ist, sondern auch auf seiner militärisch geprägten Laufbahn und seiner komplexen Persönlichkeit beruht. Das vorliegende Werk stellt somit einen wichtigen Schritt der Aufarbeitung dar und zeigt explizit die Lücken in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Großmann-Doerth auf. Aus der Sicht des Lesers, der sich zuvor nicht mit dem „unbekannten Dritten" befasst hatte, wäre es eine Option gewesen, mehr Originalquellen als nur die Antrittsvorlesung in den Band aufzunehmen, um somit ein differenzierteres Bild zu ermöglichen. Möglicherweise sprengt dies jedoch auch den Rahmen. Darüber hinaus hätte der Bericht eines ehemaligen Studenten über seinen akademischen Lehrer zusätzliche Erkenntnisse über den Dozenten Großmann-Doerth erbringen können. Hans Otto Lenel, der im ORDO Jahrbuch 2006 eine Kurzbesprechung zum Buch beisteuerte, sei als eine Möglichkeit genannt. All denjenigen, die sich, sei es aus wissenschaftlichem Interesse oder auch aus persönlicher Neugierde, mit der Frühzeit der Freiburger Schule auseinandersetzen, kann das vorliegende Buch nur empfohlen werden, stellt es doch eine einzigartige wie auch übersichtliche Darstellung dar. Aus dieser Perspektive ist es umso unerfreulicher, dass es derzeit im einschlägigen Buchhandel nicht verfugbar ist und sich der interessierte Leser an Bibliotheken bzw. den antiquarischen Markt wenden muss.

Literatur Blümle, Gerold (2007), Freiheit und Norm bei Walter Eucken, in: Nils Goldschmidt und Dorothea Schmidt-Klau (Hg.), Wirtschaftsgeschichte und ökonomisches Denken. Ausgewählte Aufsätze, Mar-

burg, S. 283-302.

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Blümle, Gerold und Nils Goldschmidt (2003), Walter Eucken - Vordenker einer freiheitlichen Ordnung, WISU 06/03, S. 749-750. Oswalt, Walter (2005), Liberale Opposition gegen den NS-Staat. Zur Entwicklung von Walter Euckens Sozialtheorie, in: Nils Goldschmidt (Hg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftlicher und der Widerstand, Tübingen, S. 315-354. Ptak, Ralf (2004), Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Leverkusen.

Arndt

Christiansen

Der Einfluss des Neoliberalismus auf das Europäische Wettbewerbsrecht 1946-1965 Zu dem gleichnamigen Buch von Mitène Wegmann* Mitène Wegmann macht es sich in dem zu besprechenden Band zur Aufgabe, den Einfluss der Neo- und Ordoliberalen auf die Gestaltung, Ausfüllung und Fortentwicklung der europäischen Wettbewerbsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg herauszuarbeiten (S. 13). Sie untersucht dazu deren Beteiligung in den diesbezüglichen, vornehmlich politischen Auseinandersetzungen anhand von drei Fallbeispielen. Dies sind die Entstehung des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957, die Ausgestaltung der Wettbewerbsregeln im Vertrag über die Europäische

Gemeinschaft

für Kohle

und Stahl (EGKS)

von 1952 und die

Auseinandersetzung um das Wettbewerbsrecht im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957. Die Autorin hat damit ein ebenso interessantes wie wichtiges Thema gewählt. Die Geschichte von Wettbewerbspolitik stellt nicht nur grundsätzlich ein lohnendes Gebiet für wissenschaftliche Forschung dar, anhand dessen sich etwa das Verhältnis von Rechts- und Wirtschaftswissenschaft oder die Möglichkeiten der praktischen Anwendung ökonomischer Theorien studieren lassen. Gerade in diesen Zeiten ist die Beschäftigung damit auch aus anderen Gründen sehr wichtig. Sie kann nämlich dazu beitragen, das allgemeine Verständnis für den Schutz des Wettbewerbs zu fordern und die dafür notwendige gesellschaftliche Unterstützung zu gewinnen bzw. zu erhalten. Dies ist gerade gegenwärtig besonders angezeigt, weil die Wettbewerbspolitik - wie die Ordnungspolitik im Allgemeinen - im Zeichen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise allerorten in den Hintergrund gedrängt zu werden droht (Kroes 2009; Varney 2009). Diesem allgemeinen Bedeutungsverlust entgegenzuwirken wäre auch ganz im Sinne der von Wegmann behandelten Neo- und Ordoliberalen. So stellte etwa Franz Böhm wiederholt die Notwendigkeit einer breiten Unterstützung in (allen Teilen) der Bevölkerung für die dauerhafte Effektivität von Wettbewerbspolitik als Teil einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung heraus (z.B. Böhm 1947, S. 505, 1950, S. XXXV-XXXVII, 1953, S. 178 und 191).' Was den Aufbau dieses Besprechungsaufsatzes angeht, so wird im Folgenden zunächst dargestellt, was die Autorin genau unter dem Neo- bzw. Ordoliberalismus versteht. Im Anschluss daran werden der Gang der Untersuchung und deren Hauptergebnisse schrittweise dargestellt und selektiv kommentiert. Einige darüber hinausgehende Anmerkungen bilden den Schluss *

Mitène Wegmann, Der Einfluss des Neoliberalismus auf das Europäische Wettbewerbsrecht 19461965. Von den Wirtschaftswissenschaften zur Politik, Baden-Baden 2008, 124 Seiten. 1 So schreibt etwa Böhm (1953, S. 178): „Überhaupt muss man sich darüber klar sein, dass eine freie Wirtschaft nicht etwas ist, was von selbst zustande kommt. Eine freie Wirtschaft muss man wollen. Das Volk muss mitspielen. Es muss in allen Kreisen ein Verständnis für die Grundlinie dieser Politik vorhanden sein, und diese Grundlinie muss von der Mehrzahl der Angehörigen aller Berufe gebilligt werden."

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dieser Besprechung. Zunächst also zur Begriffsklärung. Unter Neoliberalismus versteht Milène Wegmann eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzeption und zugleich die sie tragende, international vernetzte Gruppe von Ökonomen, Juristen, Politikern und Philosophen. Konkret umfasse sie diejenigen Wissenschaftler, die Ende August 1938 zu einem internationalen Kolloquium in Paris - dem so genannten Colloque Walter Lippmann - zusammenkamen und sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der von Hayek initiierten Mont Pèlerin Society organisierten (S. 15 f.). Als wichtige Mitglieder nennt sie u.a. Lionel Robbins, Jacques Rueff, Louis Baudin, Maurice Allais, Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Gottfried von Haberler, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Als (wichtige) Teilgruppe davon betrachtet sie die deutschen Ordoliberalen um Walter Eucken und Franz Böhm, zu denen sich auch der erste bundesdeutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard sowie Alfred Müller-Armack zählten (S. 13 f.). Die grundlegende konzeptionelle Gemeinsamkeit aller Genannten sieht Wegmann im Eintreten für eine freiheitliche Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft mit einem klaren Regelrahmen und einem starken Staat als „Schiedsrichter". Wettbewerb galt dabei als ein zentrales Element - Wegmann zitiert hier wiederholt die Bezeichnung als „Achse" von Röpke - und demzufolge als besonders schützenswert. Im Anschluss an diese einleitende Begriffsbestimmung geht die Autorin in vier Schritten vor, die den Kapiteln 2 bis 5 des Buches entsprechen. Im zweiten Kapitel gibt sie zunächst einen Überblick über die Entwicklung von Konzentration und Kartellierung in Europa bis zum Zweiten Weltkrieg, um dann die spezifische Position der Neoliberalen im Kontrast etwa zu sozialistischen und konservativen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg herauszustellen (S. 20 ff). Als zentral kennzeichnet sie hierbei das Eintreten für die größtmögliche Öffnung der Märkte für Wettbewerb und die Bekämpfung privater ebenso wie staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen. Zuvor hatte Wegmann bereits betont, dass dies nicht einer Minimalstaatskonzeption („Nachtwächterstaat") entspreche, sondern einen „starken Staat" erfordere (S. 17). Hier fallt bereits auf, dass Wegmann die Position der Neo- und Ordoliberalen in Bezug auf staatliche Wettbewerbsregeln sehr stark zusammenfasst und in einer ganz bestimmten Weise interpretiert, während sie die durchaus vorhandenen Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren im Grunde nicht thematisiert. Ihre Sichtweise wird dabei ganz offenkundig von der spezifisch ordoliberalen Vorstellung dominiert, die sich in erster Linie mit dem Werk von Franz Böhm und Walter Eucken verbindet. Auf diesen Punkt wird am Ende der Rezension nochmals zurückgekommen. Das dritte Kapitel behandelt den Beitrag der Ordoliberalen - d.h. der Freiburger Gruppe um Walter Eucken und Franz Böhm - zur Durchsetzung des ersten wirkungsvollen Wettbewerbsgesetzes in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 36 ff.). Geschildert wird ihre persönliche Mitwirkung an den verschiedenen Entwürfen und Vorbereitungen noch unter alliierter Besatzung ebenso wie an den zahlreichen vorgelegten Entwürfen der ersten Bundesregierungen, die der Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) am 27. Juli 1957 durch den Deutschen Bundestag vorausgingen. Im Ergebnis konstatiert Wegmann (S. 50): „Insofern als das deutsche Wettbewerbsgesetz das Ergebnis eines demokratischen Kompromisses war, darf der Einfluss der Neo- und Ordoliberalen auf wichtige Einzelregelungen des Gesetzes von 1957, seine Materialien und vor allem die Begründung zum Regierungsentwurf als prägend beurteilt werden." Wie bereits angedeutet begründet sie das vor allem mit der Mitarbeit von Ordoliberalen - neben Eucken und Böhm etwa auch Bernhard Pfister und Leonhard Miksch - in den verschiedenen Sachverständigenausschüssen, die seit 1947 mit der Erarbeitung eines Kartellgesetzes betraut waren. Besondere Bedeutung misst Wegmann dabei der Expertengruppe unter Paul Josten zu, auf die der so genannte Josten-Entwurf zu einem „Gesetz zur Sicherung des Leistungswettbewerbs" und zum „Gesetz über das Monopolamt" zurückgeht, der als besonders streng gilt und auch nach 1949 immer wieder als Grundlage für Gesetzesvorlagen herangezogen wurde. Als wichtigste Einzelperson erscheint in ihren Schilderungen der Jurist Franz

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Böhm, den sie in zahlreichen Zusammenhängen nennt. 2 So hatte er seit den 1920er Jahren zur Frage einer wirksamen Kartellgesetzgebung geforscht. Auch war er Mitglied des bereits erwähnten Sachverständigenausschusses unter der Leitung von Paul Josten. Weiterhin fungierte er als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung fiir Wirtschaft, als dieser 1949 ein wegweisendes Gutachten zur Kartellgesetzgebung verfasste. Schließlich verhalf er als (CDU-)Bundestagsabgeordneter dem GWB zum parlamentarischen Durchbruch. Die Ausführungen Wegmanns entsprechen hier weitgehend dem Stand der einschlägigen Forschung, 3 auch wenn auf die umfangreiche Literatur nur sehr selektiv eingegangen wird. 4 Im vierten Kapitel widmet sich Wegmann den wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen im Vertrag über die - im Buch vorwiegend als Montanunion bezeichnete - Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (S. 51 ff.). Sie beginnt mit der Schilderung der wirtschaftlichen und politischen Hintergründe der EGKS in Deutschland und v.a. in Frankreich als der treibenden Kraft (sog. Schumannplan). Deren Kern war die gemeinsame Verwaltung der Grundstoffindustrien nach zwischenstaatlich vereinbarten Prinzipien und durch eine neu zu schaffende Hohe Behörde der EGKS. Vorgesehen waren auch von französischer Seite von Anfang an Vorschriften gegen Kartelle, die sich allerdings vornehmlich gegen die kollektiven Vertriebsorganisationen der deutschen Kohleindustrie richteten. Tatsächlich enthielt der im März 1951 nach Interventionen auch der US-Regierung angenommene Vertragstext Artikel über ein Kartellverbot, eine Kontrolle marktbeherrschender Unternehmen und eine Fusionskontrolle, die allerdings nicht rein wettbewerblich orientiert war und auch nur sehr zögerlich angewendet wurde. 5 Zu der praktischen Wirkung der £0/^?-Artikel konstatiert daher auch Wegmann (S. 72): „ D a s Kartellverbot der Montanunion ist dennoch zu keiner Zeit mit der von US-Regierung und Neo- und Ordoliberalen geforderten Konsequenz und Rigidität durchgesetzt worden, zumindest aber mag es die formelle Kartellisierung behindert und eingeschränkt haben." Für Wegmann liegt daher zu Recht die Bedeutung der EGKS für die Entwicklung der europäischen Wettbewerbsordnung zuallererst darin, dass damit das erste supranationale Wettbewerbsrecht überhaupt geschaffen und deren Durchsetzung an die Hohe Behörde übertragen wurden (S. 64 f.). Auch im Fall der EGKS macht Wegmann auf die persönliche Beteiligung von Neoliberalen aufmerksam. Dies betrifft zunächst die Beratungstätigkeit Wilhelm Röpkes für Bundeskanzler Adenauer zu Fragen der europäischen Integration (S. 55 f.). Der Ordoliberale Walter Bauer wurde Mitglied der deutschen Delegation (S. 56). Großen Anteil an den Verhandlungen hatte auch Walter Hallstein, damals noch Professor für internationales Wirtschaftsrecht in Frankfurt und später erster Präsident der noch zu behandelnden Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In einer späteren Phase war auch Alfred Müller-Armack im Auftrag der Hohen Behörde der EGKS tätig (S. 72). Aus diesen Episoden persönlicher Beteiligung leitet Wegmann jedoch sehr zu Recht keinen übermäßigen Einfluss des Neo- oder Ordoliberalismus auf das Wettbewerbsrecht des EGKS-Vertrags ab. Dafür bietet sie eine interessante inhaltliche Interpretation, indem sie das Eintreten des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhards für eine Preisregulierung bei Kohle und Stahl als Ausfluss der ordoliberalen Vorstellung des „Als-obWettbewerbs" für Bereiche versteht, in denen die Voraussetzungen für vollständigen Wettbewerb nicht gegeben sind. (S. 63 und 70 f.). Tatsächlich formuliert etwa Walter Euchen im Rahmen der Monopolkontrolle ein „Prinzip der Wettbewerbsanalogie", demzufolge marktmächtige

2 Vgl. zum Wirken von Franz Böhm auch Erhard (1975), Wiethölter (1989) und Vanberg (2008). 3 Zur Forschung aus rechtsgeschichtlicher und aus volkswirtschaftlicher Sicht vgl. u.a. Robert (1976), Kartte und Holtschneider (1981), Nörr (1994, S. 139-222), Gerber (1998, S. 232-296) und MurachBrand (2004). 4 Verwunderlich ist insbesondere die gänzlich fehlende Bezugnahme auf die sehr gelungene Dissertation von Murach-Brand (2004), die eine nahezu identische Fragestellung mit ähnlichen Methoden behandelt und überdies zu weitgehend mit Wegmann übereinstimmenden Ergebnissen kommt. 5 Vgl. zum EGKS-Vertrag auch Baums (1985), Mestmäcker (1988 und 1993) sowie Goyder (2003, S. 18-21).

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Unternehmen zu einem Verhalten veranlasst werden sollten, „als ob vollständige Konkurrenz bestünde" (Eucken 1990, S. 295). Allerdings ist gerade dieser Teil seines Konzepts wenig ausgearbeitet und aus heutiger Sicht auch durchaus kritisch zu sehen. Diese Interpretation Wegmanns erscheint jedenfalls zu weitgehend. Das fünfte Kapitel ist den Auseinandersetzungen um das Wettbewerbsrecht im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 gewidmet (S. 74 ff.). Hier konstatiert Wegmann einen ungleich stärkeren Einfluss des Neoliberalismus als im Falle des EGKSVertrags, und zwar sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der persönlichen Ebene. Inhaltlich hebt sie die Verankerung des Kartell- und des Missbrauchsverbots in den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrags, die Vorschriften über die Kontrolle staatlicher Beihilfen ebenfalls im EWGVertrag sowie die später sekundärrechtlich verankerte ausschließliche Kompetenz der Kommission der EWG zur Erteilung von Freistellungen vom Kartellverbot hervor (S. 89 und 93 f.). Selbst die Einführung von Fusionskontrollregeln auf EU-Ebene im Jahr 1990 deutet sie als „Erfüllung einer frühen neoliberalen Forderung" (S. 96). Schließlich stehe die Einführung von nationalen Fusionskontrollen in den EU-Mitgliedsstaaten und die zunehmende Unabhängigkeit der Wettbewerbsbehörden in den 1990er Jahren im Einklang mit den neoliberalen Vorstellungen. Gerade für die letzten beiden Interpretationen fehlen allerdings Belege. Hinzu kommt auf der persönlichen Ebene die „nachweisbare und grundlegende Mitarbeit führender Neoliberaler an der Ausgestaltung der Wettbewerbsregeln im EWG-Vertrag" (S. 81). Hierfür nennt Wegmann eine ganze Reihe von Beispielen. Insbesondere vertrat Müller-Armack die Bundesrepublik in wichtigen vorbereitenden Gremien, während Erhard die deutsche Delegation auf das Eintreten für wirksame Wettbewerbsregeln verpflichtete. Wichtig ist auch das Wirken von Hans von der Groeben als erstem Wettbewerbskommissar von 1958 bis 1967, auch wenn dieser nicht durchweg ordoliberale Positionen vertrat (S. 90). Ihm stand ab 1962 zudem Ernst-Joachim Mestmäcker als Sonderberater der EfFG-Kommission für Wettbewerbspolitik zur Seite. Aus den genannten Punkten schließt Wegmann auf einen großen neooder ordoliberalen Einfluss zumindest „im Allgemeinen" (S. 101), womit sie vermutlich in erster Linie die Formulierungen der Vertragsartikel meint. Sie konzediert allerdings auch, dass die konkrete Rechtsanwendung durch die Kommission deutlich dahinter zurückblieb. In der abschließenden Zusammenfassung wird abermals deutlich, dass Wegmann vor allem die Verabschiedung des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die Formulierungen des EWG-Vertrags als die herausragenden Beispiele für den Einfluss der neo- und ordoliberalen Positionen ansieht (S. 99 ff.). Großen Wert legt sie zudem auf die Eigenständigkeit der europäischen Entwicklung gegenüber den USA. Sie konstatiert einen allmählichen ,,Paradigmawechsel" in Europa, der zu „der Einsicht in den friedens- und wohlfahrtsstiftenden Charakter einer Wettbewerbsordnung" (jew. S. 101) geführt habe. Damit sind die Argumentationslinien und die Hauptergebnisse des vorliegenden Bandes dargestellt. Insgesamt ist der Gang der Untersuchung schlüssig und nachvollziehbar. Die mehrfach wiederholte Kernthese besteht im großen Einfluss der Neo- und Ordoliberalen - im eingangs definierten Sinne - auf die Entwicklung des Wettbewerbsrechts in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autorin versucht dies, wie oben dargelegt, auf der inhaltlichen und noch stärker auf der personellen Ebene nachzuweisen. Sie beweist dabei sehr fundierte Kenntnisse der neo- und ordoliberalen Forschergemeinde. Diesbezüglich kann sie auf die umfangreichen Vorarbeiten aus ihrer Dissertation zurückgreifen, in der sie sich allgemeiner mit den neoliberalen Vorstellungen zur europäischen Integration auseinandergesetzt hatte (Wegmann 2002).6 Auch im vorliegenden Band nimmt sie regelmäßig auf zeitgenössische Dokumente etwa aus den Akten des Bundeswirtschaftsministeriums oder des Auswärtigen Amts sowie aus dem Historischen Archiv der Europäischen Gemeinschaften in Florenz Bezug. Diese historiographische Quellenarbeit ermöglicht an verschiedenen Stellen des Buchs interessante Einsichten v.a. in die politischen Ent-

6 Diese wurde seinerzeit von Alfred Schüller besprochen (ORDO Bd. 55,2004, S. 353-358).

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Scheidungsprozesse. Gleichzeitig weist das Buch aus der Sicht des Rezensenten jedoch eine wesentliche konzeptionelle Schwäche auf, indem auf eine differenzierte Behandlung der Neound Ordoliberalen zugunsten einer sehr pauschalen und zusammenfassenden Interpretation verzichtet wird. Auf diesen Punkt wird unten noch kurz eingegangen. Damit hängt der zweite zentrale Kritikpunkt eng zusammen, nämlich dass einzelne Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus den Kapiteln nicht immer ausreichend begründet sind. Beispielsweise fällt es schwer, der Interpretation der Autorin im vierten Kapitel zu folgen, das Eintreten von Bundeswirtschaftsminister Erhard für eine Preisregulierung bei Kohle und Stahl im Rahmen der EGKS sei Ausfluss der ordoliberalen Vorstellung eines „als ob-Wettbewerbs". Dasselbe gilt für die uneingeschränkte Interpretation der Einführung von Fusionskontrollen - auf der europäischen ebenso wie auf der nationalen Ebene - als Erfüllung einer ordoliberalen Forderung, die sie im fünften Kapitel zumindest nahelegt. Beide genannten Punkte werden eher behauptet als wirklich nachgewiesen. Dies mag allerdings auch in dem überschaubaren Umfang des Buches von gut 100 Seiten begründet sein, der detaillierte Ausführungen ausschließen dürfte. Das lässt jedoch den grundlegenden konzeptionellen Einwand unberührt, dass die Positionen der Neo- und Ordoliberalen in Bezug auf staatlich gesetzte Wettbewerbsregeln nicht in der gebotenen Differenziertheit rezipiert werden. Vielmehr übergeht Wegmann die Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern und scheint in erster Linie die ordoliberalen Vorstellungen im Auge zu haben, die besonders Walter Eucken mit dem wirtschaftspolitischen Leitbild der „Wettbewerbsordnung" zum Ausdruck gebracht hat.7 Bei Eucken und noch stärker bei Franz Böhm zählt ein aktives Vorgehen gegen Kartelle und den Missbrauch von Marktmacht tatsächlich zu den zentralen Staatsaufgaben, um die Ausübung privater Macht zu begrenzen und damit die Freiheit des Wettbewerbs sicherzustellen (auch Möschel 1989). Dafür ließen sich zahlreiche Belege aus den Schriften der genannten Forscher anführen, von denen hier nur einzelne erwähnt werden sollen. Besonders prägnant ist etwa die Formulierung Euckens in einem FAZ-Artikel von Ende 1949: „Zur Realisierung dieser Wirtschaftsverfassung ist das Monopolgesetz [...] von wesentlicher Bedeutung. Das Monopolgesetz ist zwar ein Spezialgesetz. Aber es sollte zugleich mehr sein. Nämlich der Ausdruck einer Gesamtentscheidung für eine freie Wirtschaftsverfassung" (Eucken 1949b). Mit ähnlicher Deutlichkeit sprach Böhm von einer „Schicksalsfrage" für Nachkriegsdeutschland (Böhm 1947). Andernfalls sah er durch wirtschaftliche Machtstellungen bzw. das darauf gerichtete Streben letztlich die demokratische Ordnung und die politische Freiheit in Gefahr {Böhm 1961, v.a. S. 14-21).8 In diesem Sinne sind seine oft zitierten Formulierungen zu verstehen, der Wettbewerb sei „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte" und ein „Streikbrecher ökonomischer Machtbildung" (Böhm 1961, S. 22). Insoweit stehen die allgemeinen Äußerungen von Eucken und Böhm zu einer staatlichen Wettbewerbspolitik im Einklang mit der Rezeption von Wegmann. Dies gilt bereits nur noch eingeschränkt für den speziellen Bereich der Fusionskontrolle. Diesbezüglich ließe sich zeigen, dass die Ordoliberalen weitaus zurückhaltender waren, als es Wegmann nahelegt. Dieser Besprechungsaufsatz stellt nicht den geeigneten Ort dar, um dies weiter auszuführen. So sei lediglich angemerkt, dass sich Eucken an einer Stelle zumindest implizit 9 und Böhm sogar wiederholt und

7 Vgl. dazu Eucken (1949a und 1990) sowie Lenel (1975) und Gerken und Renner (2000). 8 So wörtlich Böhm (1961, S. 17 f.): „Die eigentliche Gefahr, die von dem Besitz ökonomischer Macht für unsere Freiheiten, für unsere gesellschaftliche und politische Ordnung ausgeht, hängt vielmehr damit zusammen, dass Monopolmacht nicht nur ausgebaut, sondern mit rücksichtsloser Vehemenz begehrt, erkämpft, verteidigt und ausgedehnt wird. [...] Nicht der Monopolbesitz, sondern der Krieg ums Monopol bringt unsere bürgerliche Ordnung aus den Fugen und droht unser demokratisches Verfassungsleben zu korrumpieren." 9 So wörtlich Eucken (1949a, S. 63 bzw. 1990, S. 290): „Es würde schwierig sein, die Größe von Unternehmungen durch unmittelbare Eingriffe, z. B. durch Festlegung des Höchstkapitales oder einer Höchstarbeitermenge, zu begrenzen oder auch die Konzernbildung überhaupt zu verbieten."

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explizit 10 gegen eine einzelfallbezogene Fusionskontrolle aussprechen, wie sie in Deutschland und auf der europäischen Ebene letztlich eingeführt wurden. Die oben wiedergegebene Interpretation von deren Einführung als Erfüllung einer ordoliberalen Forderung ist damit schwer zu vereinbaren. Noch deutlichere Abweichungen zu der von Wegmann verfolgten Interpretation ergeben sich, wenn andere von ihr zu den Neoliberalen gezählte Forscher betrachtet werden. Als Beispiel sei hier nur F.A. v. Hayek genannt. Aus seinen sehr knappen Aussagen zu einer staatlichen „Monopolbekämpfungspolitik" bzw. „Antimonopolgesetzgebung" geht hervor, dass für ihn das Wissensproblem und die Gefahr übermäßiger Interventionen überwogen (Hayek 1971, S. 165 und S. 336-338 und 2003, S. 383-394; dazu Möschel 1979).11 Er betrachtet zum Schutz des Wettbewerbs wenige allgemeine Regeln als ausreichend, nämlich die rechtliche Nichtigkeit bestimmter wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen wie Preisabsprachen, die Androhung von mehrfachem Schadensersatz für Versuche, anderen Marktteilnehmern ein bestimmtes Verhalten aufzuzwingen, sowie ein Diskriminierungsverbot speziell für Monopolisten. Diese Regeln könnten zudem über die allgemeine (Zivil-)Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden, so dass die Einrichtung spezialisierter Behörden oder Gerichte verzichtbar sind. Diese Vorstellungen sind selbst aus ordoliberaler Sicht als zu minimal(istisch) kritisiert worden. 12 Alleine daran zeigen sich die Differenzen sehr deutlich. An diesen exemplarisch herausgegriffenen Punkten sollte weiterhin deutlich geworden sein, dass die von Wegmann durchweg beibehaltene pauschale Bezugnahme auf die Neo- und Ordoliberalen nicht angemessen ist. Sie verstellt den Blick auf die erheblichen Diskrepanzen zwischen den einzelnen Forschern. Darunter sowie unter dem stellenweise fehlenden Beleg von Schlussfolgerungen leidet der positive Gesamteindruck, den das Buch aufgrund der spannenden und wichtigen Fragestellung sowie der kenntnisreichen Darstellungen hinterlässt.

Literatur Baums, Theodor (1985), Das Kartellverbot in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seine Anwendung, in: Hans Pohl (Hg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung (Nassauer Gespräche Bd. 1), Stuttgart, S. 303 ff. Böhm, Franz (1947), Kartellauflösung und Konzernentflechtung. Spezialistenaufgabe oder Schicksalsfrage?, Süddeutsche Juristen-Zeitung, Jg. 2, S. 495-505. Böhm, Franz (1953), Der vollständige Wettbewerb und die Antimonopolgesetzgebung, Wirtschaft und Wettbewerb, Jg. 3, S. 178-192. Böhm, Franz (1961), Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Hg.): Kartelle und Monopole im modernen Recht. Beiträge zum übernationalen und nationalen europäischen und amerikanischen Recht, erstattet fiir die internationale Kartellrechts-Konferenz in Frankfurt am Main Juni 1960, Karlsruhe, S. 1-24. Böhm, Franz (1976), Die Kapitalgesellschaft als Instrument der Unternehmenszusammenfassung, in: Helmut Gutzier, Wolfgang Herion und Joseph H. Kaiser (Hg.): Wettbewerb im Wandel. Eberhard Günther zum 65. Geburtstag, Baden-Baden, S. 149-166.

10 Vgl. Böhm (1961, S. 20 f., 1976, 1980). Besonders deutlich Böhm (1980, S. 216): „Es ist die Furcht vor dem direkten richterlichen oder behördlichen Eingriff in die unternehmerische Tätigkeit, die den Gesetzgeber davor zurückschaudern lässt, den Wettbewerb auch gegen die Verdrängung durch Konzerne und Großbetriebe zu schützen." 11 So typisch Hayek (2003, S. 391): „Das Wissen, das hier erforderlich ist, um erfolgreich eine Strafverfolgung zu betreiben, ist nicht die Art von Wissen, von dem man erwarten kann, dass eine Behörde es besitzt." 12 So Möschel (1979, S. 296): „Gerade von den Wertvorstellungen von Hayeks her [...] sollte dieser Konflikt nicht im Sinne einer tendenziellen Abstinenz des Staates gelöst werden."

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Peter

Engelhard

Globalisierung und Europäisches Sozialmodell Anmerkungen zum gleichnamigen, von Linzbach u.a. herausgegebenen Sammelband Christoph Linzbach und seine Mitherausgeber legten einen umfassenden Sammelband vor, der sich mit dem Verhältnis von europäischer Sozialstaatlichkeit und der Globalisierung auseinandersetzt. Sie gehen auf drei Themen ein. Zuerst fragen sie, in wie weit die Globalisierung bewirkt, dass sich ein einheitliches sogenanntes europäisches Sozialmodell herausbildet. Zweitens wird erörtert, welchen Veränderungen dieses Sozialmodell im Fortgang durch eben diesen Prozess der Globalisierung ausgesetzt ist. Drittens geht es darum, ob anhand international verbindlicher Sozialstandards ein weltweites Sozialmodell aufgerichtet werden kann. Um diesen Fragenkatalog zu bearbeiten, wurden Beiträge von 21 Verfassern gesammelt, die ganz unterschiedliche Fachdisziplinen wie die Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften oder die Soziologie vertreten. Eingangs legen die Herausgeber das sozialpolitische Leitziel und die Grundthese ihres Bandes dar: Die Europäische Union habe ein grundlegendes Interesse an weltweit verbindlichen Sozialstandards. Denn damit ließen sich Standortvorteile außereuropäischer Länder nivellieren und die Konkurrenz der Standorte einschränken. Folglich würden Arbeitnehmer in der Europäischen Union vor Lohnkostendruck geschützt. Gleichzeitig, so die Herausgeber, wären die Entwicklungs- und Schwellenländer nicht mehr gezwungen, im Welthandel Faktorkostendifferentiale auszunutzen. Vielmehr könnten sie sich darauf konzentrieren, in sich vergleichsweise unabhängigere Binnenmärkte zu entwickeln. Die Europäische Union könne sich aber nur dann wirksam für weltweite Sozialstandards einsetzen, wenn sie selbst einen einheitlichen, in sich geschlossenen Ansatz der Wirtschafts- und Sozialpolitik vorweise, der als Vorbild dienen könne. In dieser Hinsicht wird das Nebeneinander verschiedener Sozialstaatstypen innerhalb der Union als hinderlich aufgefasst. Aus ordnungsökonomischer Sicht muss dieser Zielanspruch des Bandes eingehender kommentiert werden. Zuvor ist es aber sinnvoll, sich kurz über den Inhalt der Einzelbeiträge des Sammelbandes zu orientieren. Der erste Themenblock des Bandes widmet sich der „Globalisierung als Herausforderung". Berthold und Neumann heben hervor, dass eine funktionierende soziale Sicherung jedem Land im grenzüberschreitenden Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte zum Vorteil gereiche. Gleichzeitig müsse die Höhe der Transferleistungen beweglich bleiben, um die effiziente Anpassung an veränderliche demografische Umstände zu erlauben. Der Beitrag von Young schließt mit der Feststellung, die Globalisierung verschlechtere systematisch die soziale Lage der Frauen, da ihre Entwicklungslogik vom (männlichen) Gewinnstreben bestimmt sei. Schräder wiederum zeigt sich skeptisch, ob die Globalisierung in eine weltweit koordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden werden könne. Vielmehr sei Anpassung seitens einzelner Länder (Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, größere Bildungsanstrengungen) die Strategie der Wahl, um an den Wohlfahrtsgewinnen des Welthandels teilzuhaben. Im nächsten Schritt befasst sich der Sammelband mit den Wirkungen der Globalisierung auf die Europäische Union. Janning meint, dass die fortschreitende weltwirtschaftliche Integration einen produktiven Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Sozialstaatstypen innerhalb der * Christoph Linzbach; Uwe Lübking; Stephanie Scholz; Bernd Schulte (Hg.), Globalisierung und Europäisches Sozialmodell, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007.

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Union fordere. Schulte setzt sich weiterhin mit deren Fähigkeit auseinander, auf die Anforderungen der Globalisierung zu antworten. Besonders mit Blick auf die west- und südeuropäischen Länder hält er für notwendig, die Sozialordnung entsprechend anzupassen. Unter dem Eindruck des europäischen Binnenmarktes und dessen weltweiter Einbindung verlagert sich für Becker die soziale Sicherung zunehmend auf die Ebene der Europäischen Union. Hieraus entstehe ein eigenständiges und mehr oder minder einheitliches europäisches „Sozialmodell". Einen anderen Standpunkt vertritt Göler, der darauf hinweist, dass die kennzeichnenden Eigenheiten eines jeden Sozialstaats auf bestimmten politischen und kulturellen Werthaltungen beruhen. Die Europäische Union verfüge nicht über die notwendigen Institutionen, um solche Grundsätze selbst bilden zu können. In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag von Übelmesser, wonach die Sozialpolitik dem Grundsatz der Subsidiarität unterliegen und gleichzeitig in einen produktiven Systemwettbewerb eingebunden sein soll. In diesem Zusammenhang erleichtere es die Methode einer losen „offenen Koordination", die die Europäische Union hier praktiziert, den Mitgliedsstaaten, Kenntnisse über sozialpolitische Praxis auszutauschen. Der Themenblock wird durch einen Aufsatz von Schlüter und Scholz abgeschlossen, der die verschiedenen europäischen Sozialstaaten typisiert und die europäischen sozialpolitischen Institutionen darstellt. Eine spontane, nicht-staatliche Form der länderübergreifenden Sozialpolitik wird am Beispiel des Verbundes kirchlicher Wohlfahrtsträger Eurodiaconia dargestellt. Ein drittes Hauptkapitel des Sammelbandes vertieft die Auswirkungen der Globalisierung auf die Sozialsysteme in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Thränhardt setzt sich mit Problemen der Eingliederung von Zuwanderern auseinander. Koch nimmt kritisch zu den bildungspolitischen Leitlinien Stellung, die die Europäische Union als Reaktion auf die Herausforderungen des Welthandels ersonnen hat. Sie bemängelt deren technokratische Ausrichtung, während Persönlichkeitsbildung und gesellschaftliche Erziehung als klassische Bildungsinhalte vernachlässigt werden. Ostner befasst sich mit der Gleichstellungspolitik in Europa im Spannungsfeld von „Familisierung" (Kinderbetreuung in der Familie) und „Entfamilisierung" (Kinderbetreuung außerhalb der Familie und Berufstätigkeit beider Eltern). In Europa beobachtet sie einen letzten Endes als fortschrittlich gedeuteten Zug zur „Entfamilisierung". Stegemann-Kuhn stellt Methoden zur statistischen Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung vor. Er greift weiterhin die Frage auf, in wie weit Transferzahlungen Armut eher fördern als beheben. Als institutionelle Innovation, die solche Nebenwirkungen vermeiden soll, wird vorgeschlagen, eine materielle Grundsicherung als Vorschuss auf zu gewährende Steuerfreibeträge zu leisten. Der letzte Themenblock des Bandes greift schließlich die Intemationalisierung sozialer Rechte als Antwort auf die Globalisierung auf. Nußberger stellt die Entwicklung internationaler „Sozialstandards" und ihre heutige Verankerung in verschiedenen, länderübergreifenden Organisation dar. Sie schlägt die Vereinheitlichung entsprechender Entscheidungsprozesse im Rahmen der Vereinten Nationen vor. Heisig hält es für notwendig, Nichtregierungsorganisationen an der Festlegung internationaler Arbeitsstandards zu beteiligen, obgleich sie weder notwendig dem Gemeinwohlverpflichtet noch demokratisch legitimiert sind. Reichert stellt fest, dass aufgrund der Globalisierung ein „regulatorisches Defizit" auf zwischenstaatlicher Ebene entstanden sei, das die Internationale Arbeitsorganisation aufgreift. Dem Beitrag von Schweickert und Wiebelt lässt sich ergänzend entnehmen, dass sich auch andere wirtschaftliche Weltorganisationen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds stückweise sozialen Fragen geöffnet haben. Stetten und Schroeder sehen den Wirtschafts- und Sozialrat sowie die Sozialentwicklungskommission der Vereinten Nationen als Möglichkeit, um die europäischen sozialstaatlichen Vorstellungen weltweit als Vorbild zu verbreiten, wenngleich beide Organisationen für wenig effektiv gehalten werden. Schulz-Nieswandt und Maier-Rigaud werfen die Frage auf, in wie weit die OECD ein guter sozialpolitischer Ideengeber sei. Dies wird aufgrund des neoklassisch geprägten Denkstils der Organisation verneint. Vielmehr erhöhten die Empfehlungen der OECD allein den Druck auf die Menschen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Bitterlich schließt diesen Themenblock mit Überlegungen, wie die Grundsätze der „Corporate Social Responsibility" im Handeln von Unternehmen verankert werden können.

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Eine Betrachtung Keupps ergänzt den Sammelband. Er sieht die normative Ausrichtung des Sozialstaats von morgen weniger in Versorgungsansprüchen gegen staatliche Großorganisationen, sondern in der Entfaltung gesellschaftlicher Selbsthilfe. Letzteres wird mit dem Begriff der „radikalen Subsidiarität" belegt. Wenn man sich die Einzelbeträge in Summe vor Augen führt, findet man Beiträge, die mit einem „globalisierungskritischen" Unterton eher die Zentralisierung von Sozialpolitik und die Vereinheitlichung sozialpolitischen Handelns im Rahmen der Europäischen Union den Vorzug geben. Andere Sichtweisen geben hingegen der sozialpolitischen Subsidiarität den Vorzug und halten flexible Anpassung seitens der einzelnen Länder für effizient. Da die Herausgeber beide Standpunkte nicht einander gegenüberstellen, sondern eher verstreut arrangieren, verlangt es dem Leser eine gewisse Transferleistung ab, ein schlüssiges Gesamtbild zu gewinnen. Insgesamt entsteht bis hierhin aber der Eindruck, dass es so etwas wie ein einheitliches „europäisches Sozialmodell" nicht gibt beziehungsweise dass es bestenfalls in seinen Anfängen steht. Im Sinne der Subsidiarität erkennt die Europäische Union die unterschiedlichen sozialpolitischen Organisationsformen in den Mitgliedsländern durchaus an. Sie beschränkt sich auf die „offene Koordinierung" der einzelstaatlichen Sozialpolitik, deren greifbarste Ergebnisse eine einheitliche Sozialstatistik und die Vermittlung weiterer Informationen sind. Aus ordnungsökonomischer Sicht ist dies ein erfreuliches Ergebnis, denn Subsidiarität impliziert eine gewisse Verschiedenartigkeit der jeweiligen einzelstaatlichen Sozialpolitik und ihrer Organisation. Verschiedenartigkeit ist wiederum die Voraussetzung für Systemwettbewerb, der wohlfahrtsfördernde institutionelle und organisatorische Innovationen bewirkt. Dies lässt sich durchaus in Analogie zu den Gütermärkten sehen, auf denen Verschiedenartigkeit der Anbieter und der Nachfrager ein wettbewerbliches Verhalten der Akteure, das Entwicklungs- und Neuerungsprozesse voranbringt, überhaupt erst ermöglicht (Heuss 1965, S. 145 ff.; Fehl 1986, S. 56 ff.). Denn wenn alle Akteure gleichgestaltig sind, strebt der Marktprozess früher oder später einem gleichsam entropischen Gleichgewichtszustand zu (Fehl 1983, S. 65 ff.). Helmstädter hat nun darauf hingewiesen, dass es auch beim Wettbewerb der Systeme um eine Rangfolgekonkurrenz geht. Gemeinwesen, die sich in einer Rangfolge der Systeme besonders gut darstellen, werden vergleichsweise umfangreiche Wanderungsgewinne und Zuflüsse von Investitionen verzeichnen (Helmstädter 2006, S. 118 ff.). Ohne Verschiedenartigkeit der Akteure, in diesem Fall also der einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die ein bestimmtes System der sozialen Sicherung stiften, ergibt die Vorstellung von einer produktiven Rangfolgenkonkurrenz aber keinen Sinn. Sehr klar tritt in diesem Zusammenhang auch Gröners Unterscheidung zwischen den integrationsfördernden und den integrationshemmenden Formelementen der europäischen Wirtschaftsordnung hervor (Gröner 1993). Die ersteren umfassen die vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes, nämlich die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, die Niederlassungsfreiheit, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie den freien Kapitalverkehr. Es liegt auf der Hand, dass die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes auch die Voraussetzung für einen Wettbewerb der ländertypischen Sozialordnungen sind, wenn man deren relativen Erfolg an Hand von Wanderungsgewinnen und Investitionszuflüssen misst. Integrationshemmend sind hingegen Bestrebungen zur sektoralen Integration auf europäischer Ebene, also die länderübergreifende Vereinheitlichung von Elementen der Wirtschaftsordnung mit dem erklärten oder impliziten Ziel, die Binnenmarktkonkurrenz zwischen ihnen aufzuheben. Gröner hatte hier vor allem das Beispiel der Technologie- und Industriepolitik der Europäischen Union im Auge, sein Argument lässt sich aber ohne weiteres auch auf die Sozialpolitik erweitern. Aus ordnungsökonomischer Sicht ist ein einheitliches europäisches „Sozialmodell" also kaum erstrebenswert, da es den Systemwettbewerb innerhalb der Europäischen Union beeinträchtigen würde. Offen ist an dieser Stelle dennoch eine kritische Auseinandersetzung mit der These der Herausgeber, eine verbindliche Übertragung europäischer Sozialstandards auf die übrigen Länder der Welt sei anzustreben. Das Ziel der Übung soll sein, komparative Kostenvorund Nachteile im Welthandel mit Gütern und Dienstleistungen, die sich aus einem unterschied-

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liehen Maß an Sozialaufwand ergeben, gleichsam einzuebnen. Die Industrieländer wären dann vom Konkurrenzdruck der Entwicklungs- und Schwellenländer mit geringeren Faktorkosten zumindest teilweise befreit, die Entwicklungs- und Schwellenländer hingegen müssten ihre Faktorkostenvorteile nicht mehr im Welthandel zu Markte tragen. Gegen diese Vorstellung lässt sich freilich einwenden, dass eine Übertragung westlicher beziehungsweise europäischer Sozialstandards die materiellen Grundlagen des Sozialstaats in den Industrieländern wie auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern untergrüben. Selbst wenn man zugibt, dass die gegenwärtig vorfindbare Ausformung der „Globalisierung" auch ihre Schattenseiten und Fehlentwicklungen hat, lässt es sich nicht ernsthaft bestreiten, dass die weltumspannende Integration der Märkte den materieller Wohlstand in nahezu allen Regionen fördert und nicht vermindert (Stiglitz 2002; Bhagwati 2008). Ein gewisses Mindestmaß an materiellem Wohlstand ist wiederum die Voraussetzung für jeden Sozialaufwand und alle modernen Formen der Sozialstaatlichkeit (Mackenroth 1952, S. 41; Achinger 1958, S. 43 ff.). „Globalisierung" und Sozialstaatlichkeit sind insofern kein Widerspruch, sondern bedingen einander im Prinzip. Dies gilt jenseits aller Anpassungen, die die „Globalisierung" den Systemen sozialer Sicherung in vielen entwickelten Industrieländern abverlangen mag. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass sich in einem zusammenwachsenden Weltmarkt für Güter und Dienstleistungen nicht auch die Frage nach gemeinsamen Regeln einer Weltwirtschafts- und Sozialordnung stellt. Röpke hatte erkannt, dass eine wirklich funktionierende und wohlstandsfördernde internationale Marktgemeinschaft wesentlich von der Existenz einer internationalen Rechtsordnung sowie von allgemein geteilten Normen, Prinzipien und Verhaltensregeln abhängt (Röpke 1979, S. 105 f.). Die verschiedenen Welthandelsabkommen sind Ausdruck der Suche nach einer solchen weltumspannenden Rechtsordnung und dem Streben nach einer umfassenden Ordnungspolitik. Interdependent mit und komplementär zur Wirtschaftsordnung ist freilich stets die sozialpolitische Ordnung (Eucken 1990, S. 313). Wie aber soll die konkrete Gestalt einer Weltsozialordnung beschaffen sein? „Die Ordnung ist zu suchen, welche der Sache, der historischen Situation und dem Menschen entspricht" (Eucken 1947, S. 80). Eine Weltsozialordnung sollte daher nicht nur die unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen für soziale Sicherung in den verschiedenen Ländern und Regionen der Welt berücksichtigen. Sie muss auch westliche sozialstaatliche Vorstellungen, die auf einem personalen Verständnis politischer und sozialer Grundrechten beruhen, ebenso einbinden können wie nichtpersonale, außerwestliche Denktraditionen (Kühnhardt 1991, S. 133 ff.). Es verbietet sich also, von zentraler Stelle ein bestimmtes „Sozialmodell" oder bestimmte „Sozialstandards" für weltweit verbindlich erklären zu wollen. Dieses Vorgehen wäre mit Recht dem Vorwurf eines lebensfernen Konstruktivismus im Sinne von Hayeks (1975) ausgesetzt. Kriterien für eine nichtkonstruktivistische Ordnungspolitik, die auch bei der Suche nach einer Weltsozialordnung anwendbar sind, hat hingegen Geue vorgeschlagen (Geue 1998, S. 154 ff.). Sie muss erstens auf abstrakten Regeln beruhen, die allgemeingültig und in der Formulierung negativ sind. Damit sind weltweit verbindliche sozialpolitische Regeln auf allgemeine Verbote bestimmter, nach dem Konsens der Völker sozial unerwünschter Tatbestände beschränkt. Konkrete materielle Ansprüche können hingegen kein Bestandteil der Weltsozialordnung sein. Zweitens muss das Subsidiaritätskriterium angewandt werden, das heißt die konkrete Ausformung von Sozialpolitik ist keine Aufgabe zentraler internationaler Organisationen oder Verhandlungen. Drittens soll die Kohärenzproblematik institutioneller Reformen beachtet werden. Die Regeln einer Weltsozialordnung müssen also bestehende kulturelle Spielarten des gesellschaftlichen Zusammenlebens respektieren. Viertens ist es vernünftig, einen produktiven Wettbewerb zwischen konkreten sozialpolitischen Regelsystemen zuzulassen, der deren innovative Fortentwicklung fördert. Der vorliegende Sammelband enthält eine Fülle von Informationen, welche Initiativen in welchen Gremien der Vereinten Nationen, der Weltarbeitsorganisation und anderer Körperschaften auf der Suche nach einer Weltsozialordnung verfolgt werden. Dabei stehen allerdings vielfach Verfahrens- und Finanzierungsprobleme im Vordergrund. Von einer ordnungsökonomischen Grundsatzdiskussion, wie sie hier bestenfalls in groben Umrissen skizziert werden

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kann, w u r d e hingegen Abstand g e n o m m e n . Ein entsprechender Beitrag hätte d e m Leser allerdings die Einordnung der Materie u n d die gedankliche Auseinandersetzung mit ihr erleichtert. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die ordnungsökonomisch keinesfalls unproblematische Leitthese der Herausgeber. Der Tatsache, dass der B a n d „Globalisierung und Europäisches Sozialmodell" davon abgesehen einen breiten und überwiegend gut lesbaren Überblick z u m Stand des T h e m a s gibt, tut dies allerdings keinen Abbruch. Kritisch anzumerken bleibt zuletzt, dass einzelne Beiträge durchaus einen normativ eindeutig geprägten Standpunkt beziehen. Dies kann das sozialpolitische Streitgespräch beleben, der möglichen Gegenposition sollte dann aber ebenfalls R a u m gegeben werden. Z u m Beispiel hängt Ostners Beurteilung einer „entfamilisierenden", d.h. auf die Mobilisierung des erwerbswirtschaftlichen Potentials von Müttern zielenden Sozialpolitik als vorbildhaft der Sache nach sicherlich stark von weltanschaulichen und ethischen Standpunkt des Betrachters ab. Mit diesem Einwand lässt sich auch die von Young vertretene „feministische MakroÖkonomik" konfrontieren, die auf die Beeinflussung der „Genf e r - V e r h ä l t n i s s e " im Wirtschaftsleben abzielt. Freilich bewegen sich „Sozialreformen" vielfach im Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen der wirtschaftlichen Effizienz und besonderer kultureller Traditionen oder Wertvorstellungen (Plutta 1999; Leipold 2005). Insofern ist Vorsicht gegenüber vorschneller und subjektiver Beurteilung bestimmter Reformanstrengungen als sozial fortschrittlich oder rückschrittlich geboten.

Literatur Achinger, Hans (1958), Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Hamburg. Bhagwati, Jagdish (2008), Verteidigung der Globalisierung, München. Eucken, Walter (1947), Nationalökonomie wozu?, 2. Auflage, Godesberg. Eucken, Walter (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen Fehl, Ulrich (1983), Die Theorie dissipativer Strukturen als Ansatzpunkt für die Analyse von Innovationsproblemen in alternativen Wirtschaftsordnungen, in: Alfred Schüller, Helmut Leipold und Hannelore Hamel (Hg.), Innovationsprobleme in Ost und West, Stuttgart und New York, S. 65-89. Fehl, Ulrich (1986), Spontaneous Order and the Subjectivity of Expectations: A Contribution to the Lachmann-O'Driscoll Problem, in: Israel M. Kirzner (Hg.), Subjectivism, Intelligibility and Economic Understanding, New York, S. 72-86. Geue, Heiko (1998), Sind ordnungspolitische Reformanstrengungen mit Hayeks Evolutionismus vereinbar?, in: ORDO Bd. 49, S. 141-163. Gröner, Helmut (1993), Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden: Die ordnungspolitische Konzeption der EG im Wandel, in: Helmut Gröner und Alfred Schüller (Hg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, Stuttgart u.a., S. 3-19. von Hayek, Friedrich A. (1975), Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlage legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde, Tübingen. Helmstädter, Ernst (2006), Wettbewerb als Rangordnungsverfahren, in: ORDO Bd. 57, S. 99-129. Heuss, Ernst (1965), Allgemeine Markttheorie, Tübingen und Zürich. Kühnhardt, Ludger (1991), Die Universalität der Menschenrechte, Bonn. Leipold, Helmut (2005), Der Vergleich und der Wettbewerb der Wirtschaftssysteme vor globalen Herausforderungen, in: Helmut Leipold und Dirk Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Stuttgart, S. 3-30. Mackenroth, Gerhard (1952), Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 4, Berlin. Plutta, Thorsten (1999), Kulturelle Varianten von Marktwirtschaft, in: Peter Engelhard und Heiko Geue (Hg.), Theorie der Ordnungen, Stuttgart, S. 237-260. Röpke, Wilhelm (1979), Internationale Ordnung - heute, 3. Auflage, Bern und Stuttgart. Stiglitz, Joseph (2002), Die Schatten der Globalisierung, Berlin.

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Justus Haucap

Scientific Competition Zu dem gleichnamigen Band herausgegeben von Stefan Voigt, Max Albert, und Dieter Schmidtchen Wie Wettbewerb in der Wissenschaft funktioniert oder auch nicht funktioniert, war im Jahr 2005 das Thema der Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Politische Ökonomie in Saarbrücken. Die elf Beiträge zu dieser Tagimg sind von Max Albert, Dieter Schmidtchen und Stefan Voigt 2008 zusammen mit den jeweiligen Kommentaren in einem Sammelband mit dem Titel „Scientific Competition" publiziert worden. Wie oft bei Sammelbänden zeichnen sich die Beiträge durch eine gewisse Heterogenität aus. Zugleich wird eine sehr breite Spannbreite an Themen aus dem Bereich „wissenschaftlicher Wettbewerb" oder „Wettbewerb in der Wissenschaft" abgedeckt. Das Thema des Bandes ist zwar nicht neu, gerade aufgrund jüngerer Entwicklungen in der Wissenschaftslandschaft aber nach wie vor hochaktuell und relevant. Ein Wermutstropfen ist da sicherlich für manche Leser, dass der Gegenstand der meisten Beiträge nicht die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Wissenschaftslandschaft sind und auf diese relativ wenig Bezug genommen wird. Die Bologna-Reform, die Reform der Hochschullehrerbesoldung in Deutschland, die zunehmende Autonomie von Hochschulen, die Einführung von Studienbeiträgen, die faktische Abschaffung der Habilitation als Berufungsvoraussetzung und die Einführung der Juniorprofessur, die diskutierte Einführung von Lehrprofessuren, die Fokussierung auf internationale Journal-Publikationen in der Ökonomik, damit verbunden die Zunahme von kumulativen Habilitations- und Dissertationsschriften, die zunehmende Verbreitung und Bedeutung der Evaluation von Forschung und auch Lehre einzelner Wissenschaftler, ganzer Fakultäten und Hochschulen (Exzellenzinitiative!) und damit verbunden die Entwicklung diverser, teilweise konkurrierender Rankings, die Internationalisierung der Märkte für Wissenschaftler (die Frage des Brain Drains) und für Fachzeitschriften (mit Umstellung auf Englisch als Publikationssprache), die Vermachtung und Angebotskonzentration des Marktes für wissenschaftliche Journale, die Digitalisierung von Inhalten und die veränderte Rolle von Zeitschriften (die nun primär eine Rolle als Qualitätssignal haben und aufgrund zahlreicher Working Paper-Archiven immer weniger zur Verbreitung der Information dienen), die Chancen und Risiken sog. „Open Access" Publikationen, die Veränderungen des Publikationsverhaltens und -prozesses und nicht zuletzt der jüngste „Methodenstreit" unter deutschsprachigen Ökonomen und die dort erörterten Punkte - dies alles sind spannende und diskussionswürdige Themen, die der Leser in dem vorliegenden Band weitgehend vergeblich suchen wird. Diese Themen werden nur in einzelnen Beiträgen und dann auch eher am Rande thematisiert. Trotz dieser Kritik enthält der vorliegende Band interessante und neue Gedanken und Resultate. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Bedeutung von Rankings ist sicher der Beitrag von Michael Rauber und Heinrich Ursprung über die Produktivität von Forschern im Laufe ihres Lebens von Interesse. In dem Beitrag, dessen wesentlich Ergebnisse 2008 auch in der German Economic Review publiziert wurden, argumentieren die Autoren, dass bei der bibliometrischen Messung von Forschungsleistungen Jahrgang und Berufsjahre als Forscher Berücksichtigung finden sollten, damit Forscher mit der „richtigen" Kohorte verglichen werden. Wie die Autoren belegen, verändert sich die Forschungsproduktivität im Laufe des Lebens eines * Max Albert, Dieter Schmidtchen und Stefan Voigt (Hg.), Scientific Competition, in: Conferences on New Political Economy 25, Mohr Siebeck, Tübingen 2008.

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Forschers, wobei zudem die jüngeren Forscheljahrgänge allgemein eine höhere Produktivität aufweisen als die älteren Kohorten. Die Autoren zeigen zudem, dass das Forschungsranking von VWL-Fakultäten in Deutschland auch von der Altersstruktur der Fakultätsmitglieder abhängt und schlagen vor, dies in Fakultätsrankings zu berücksichtigen. Dies mag sicher für manche Zwecke angemessen sein, generell kann die Idee jedoch nicht überzeugen. So ist es sicher sinnvoll, auf der individuellen Ebene Besoldung und Anreizschemen an die jeweilige Lebensphase anzupassen. Warum Fakultäten dementsprechend gerankt werden sollen, bleibt unklar. Für Studierende dürfte wenig interessant sein, wo die aktivsten Forscher einmal waren, sondern wo sie heute sind. Ebenso ist für die Verteilung von Forschungsgeldern vor allem interessant, wo die heute und in Zukunft aktivsten Forscher sind. Auch im Spitzensport ist unbestritten, dass die Leistung eines 60jährigen nicht mit der eines 25-jährigen verglichen werden kann, aber ebenso unbestritten ist, dass die Leistung des aktuellen Profikaders des FC St. Pauli eine ganz andere (und bessere) ist als die der Alten Herren-Mannschaft, selbst wenn die Alten HerrenMannschaft in ihrer Bezugsgruppe relativ gesehen eventuell sogar noch besser ist als der Profikader in seiner Bezugsgruppe. Wie im Sport geht es in der Wissenschaft jedoch nicht um Gerechtigkeit, sondern um Effizienz und Spitzenleistungen. Interessant dürfte für viele Leser auch der Beitrag von Christian Seidl, Ulrich Schmidt und Peter Grösch sein, die über ihre groß angelegte Internet-Umfrage unter akademischen Ökonomen aus dem Jahr 2001 zur Zufriedenheit mit dem Gutachtenprozess bei wissenschaftlichen Journalen berichten. Wie die Autoren ermittelt haben, unterscheidet sich die Bewertung des Gutachter-Prozesses durch die Umfrageteilnehmer für Top-Journale nicht hinsichtlich der Qualität der Gutachten, jedoch ist die allgemeine Zufriedenheit mit dem Gutachtenprozess bei TopJournalen geringer als bei weniger renommierten Zeitschriften. Wie Max Albert und Jürgen Meckl in ihrem Kommentar richtig ausführen, sind ggf. die Erwartungen an den Gutachtenprozess von Top-Journalen auch anders als bei weniger renommierten Zeitschriften, sodass ein subjektiver Vergleich der Gutachten mit den Erwartungen der Autoren nicht unbedingt etwas über die tatsächliche Qualität des Gutachterprozesses aussagen kann. Neue Erkenntnisse bringt auch der Beitrag von Günther Schulze, der die Externalitäten analysiert, welche das dezentrale Angebot nahezu entgeltfreier Hochschulbildung (durch die Bundesländer) produziert. Der Beitrag zeigt modelltheoretisch, dass eine ineffizient hohe Bereitstellung universitärer Ausbildungskapazitäten denkbar ist, wenn Bundesländer im Wettbewerb um Studierende stehen, etwa weil diese später als hochqualitative Arbeitskräfte regionale Externalitäten produzieren. Empirisch belegt der Beitrag zwar, dass (1) zwischen 1996 und 2004 die Anzahl der Universitätsprofessoren pro Abiturient um etwa 20% gesunken ist und (2) diese Kennziffer erheblich zwischen den Bundesländern variiert (von über 20 Universitätsprofessoren auf 100 Abiturienten in Hamburg bis hin zu unter 5 in Brandenburg). Die theoretischen Überlegungen müssen jedoch zunächst unbestätigt bleiben, da sich unter Anderem zeigt, dass die Größe eines Landes nicht mit der Zahl der Universitätsprofessoren pro Abiturient korreliert. Weitere Beiträge des Bandes behandeln die Veränderungen der Arbeitsbedingungen bei Mathematikern, Natur-und Lebenswissenschaftlern in den USA, Italien und in Deutschland. Hier weist Paula Stephan drauf hin, dass sich die Aussichten auf eine Professur für Nachwuchswissenschaftler in den drei Staaten stark verschlechtert haben sollen. Wie Bernd Fitzenberger in seinem Kommentar zurecht klar stellt, scheint dieser Befund jedoch zumindest für Deutschland zweifelhaft, da (a) aufgrund der momentanen Welle von Pensionierungen zahlreiche Lehrstühle für eine Wiederbesetzung frei werden und (b) durch die Umstellung auf die W-Besoldung die Konkurrenz zwischen Privatdozenten und Professoren abnimmt, sofern diese eine C4-Professur inne haben, sodass die Berufungschancen für Privatdozenten steigen sollten. Gustavo Crespi und Aldo Geuna analysieren die Produktivität britischer Universitäten, wobei der Output durch Publikationen, Zitationen, Master-und Doktortitel gemessen wird. Und Martin Kolmar beschäftigt sich theoretisch mit der Frage, wie Patente auf der einen Seite und Forschungsstipendien oder -preise auf der anderen Seite die Forschungsanreize beeinflussen. Mit den Wettbewerbswirkungen des Patentsystems befasst sich Christine Godt aus rechtswissenschaftlicher Sicht,

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und Nicolas Carayol analysiert den sog. Matthäus-Effekt, also das empirisch beobachtete Phänomen, dass bekannte Autoren häufiger zitiert werden als unbekannte und die bekannten Autoren dadurch noch bekannter werden. So können frühe Publikationserfolge zu einer Berufung an eine gute Universität fuhren, wodurch sich aufgrund der dort guten Forschungsmöglichkeiten wiederum Forschungserfolge einstellen. Carayol untersucht in diesem Kontext in einem formaltheoretischen Modell auch die Auswirkungen duopolistischen Wettbewerbs zwischen Hochschulen um gute Wissenschaftler. Eine sehr interessante Idee des Papiers ist die Forderung nach einer intelligenten Emeritus-Politik. Durch Zugang zu Computer-, Bibliotheks-und Sekretariatskapazitäten könnten Universitäten Hochschullehrer auch in den letzten Jahren ihrer Karriere vor der Pensionierung/Emeritierung noch mit Leistungsanreizen versehen. Dorothea Jansen berichtet sodann aus einem soziologischen Forschungsprojekt über die Rolle von Forschernetzwerken in den Disziplinen Astrophysik, Nanotechnologie und MikroÖkonomie in Deutschland, und Jesus Zamora Bonilla sowie Christian List schließlich präsentieren wissenschaftstheoretische Arbeiten zum Thema Wissensentstehung und -Verbreitung. Wie vielleicht bereits aus diesem Kurzüberblick über die Beiträge deutlich wird, leidet auch dieser Tagungsband unter einem Problem, das vielen Sammelbänden zu eigen ist: Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Beiträgen ist relativ dünn, da zahlreiche unterschiedliche Aspekte vor dem Hintergrund unterschiedlicher institutioneller Rahmenbedingungen empirisch oder theoretisch analysiert werden. Somit kann kein klares Bild entstehen. Anders ausgedrückt werden zu viele Faktoren variiert, um Vergleiche oder Anknüpfungen zu ermöglichen. Der spezifische Mehrwert der Publikation der einzelnen Beiträge als Sammelband ist daher nicht klar. Ebenso gut oder vielleicht sogar besser noch hätten die Beiträge einzeln in diversen Journalen publiziert werden können. So entsteht der Eindruck, dass die Beiträge mehr oder minder zufällig ohne wirklich erkennbare Systematik zusammengestellt worden sind. Alles in allem enthält der vorliegende Sammelband nichtsdestotrotz zahlreiche anregende Beiträge und neue Ideen. Während der interdisziplinäre Ansatz für die Konferenz, auf welcher der vorliegende Tagungsband beruht, sehr fruchtbar gewesen sein mag, ergibt sich für den Leser, der die Diskussionen während und am Rande der Tagung nicht miterleben konnte, ein eher heterogenes Bild. Der Mehrwert einer Sammelbandpublikation dieser recht heterogenen Aufsätze anstelle getrennter Aufsatzpublikationen ist nicht ersichtlich, zumal da die Spanne an Themen in dem vorliegenden Band sehr breit ist und somit nicht dezidiert ein eng abgestecktes Thema aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert wird. Stattdessen werden elf verschiedene Themen aus vielen verschiedenen Blickwinkeln (Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Bibliometrie, Wissenschaftstheorie) empirisch und theoretisch analysiert. Aufgrund der Vielfalt der Themen wird jedoch für viele Leser der ein oder andere interessante und spannende Beitrag dabei sein. Für Bibliotheken dürfte sich die Anschaffung daher in jedem Fall lohnen, für Privatleute dürfte die Heterogenität der Beiträge jedoch zu groß sein, um eine Anschaffung des Bandes interessant zu machen oder um alle Beiträge zu studieren.

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Catherine Herfeld

Verbindlichkeit - Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft Besprechung des gleichnamigen Buches von Heinrich Stieglitz* In seinem mehr als 500-seitigem magnum opus stellt Heinrich Stieglitz die grundsätzliche Frage nach dem Wesen und nach der Möglichkeit der Erkenntnis der Gesellschaft durch die herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Hintergrund der Untersuchung ist eine vom Autor beschriebene Diskrepanz zwischen dem Grund des Erkennens der Philosophie der Gesellschaft im Gegensatz zu dem der allgemeinen Soziologie. Obwohl beide Ausrichtungen die Kerndisziplinen der „gesellschaftstheoretischen Erkenntnis" darstellen (S. 430 ff.), nähern sich die beiden Teildisziplinen ihrem gemeinsamen Untersuchungsobjekt, der Gesellschaft, sowohl gegenständlich als auch methodisch von unterschiedlichen Richtungen. So schreibt Stieglitz: „die Philosophie der Gesellschaft und die Soziologie unterscheiden sich (...) zum ersten hinsichtlich der Tiefe ihres Gegenstandes und zum zweiten hinsichtlich der abgezielten Gründe bzw. Begründungen mit den auf sie gerichteten Methoden" (S. 432). Dadurch, so Stieglitz, entstünde eine Diskrepanz zwischen den Ergebnissen bezüglich der Erkenntnis durch beide Teildisziplinen. Diese Diskrepanz werde, so Stieglitz, gegenwärtig nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt (S. 432). Sie führe jedoch dazu, dass die herrschenden Gesellschaftswissenschaften zu keiner einheitlichen, „wirklichen" Erkenntnis über die Gesellschaft kommen. Daher gilt es diese Diskrepanz zu analysieren und aufzulösen. Um seine Kritik an den Gesellschaftswissenschaften zu verdeutlichen beschreibt Stieglitz ausführlich die erkenntnistheoretischen Unterschiede zwischen der Gesellschaftsphilosophie und der allgemeinen Soziologie. Die Philosophie der Gesellschaft verstehe sich vor allem als Lehre vom gesellschaftlichen Sollen, wohingegen die Soziologie sich als Lehre vom gesellschaftlichen Sein versteht. Stieglitz argumentiert, dass das gesellschaftsphilosophische Erkennen immer auf den Bestand der Gesellschaft abzielt. Als universalwissenschaftliches Erkennen ist es auf die Gesellschaft im Allgemeinen ausgerichtet. Die Gesellschaftsphilosophie, so beschreibt Stieglitz, bemühe sich, „die Gesellschaft von ihren ersten Ursprungsgründen her zu bestimmen" (S. 19). Sie gehe daher den Aufbau der Gesellschaft betreffend, d.h. grundsatzbestimmt vor, um abzuleiten, wie der Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft sein soll. Darin unterscheidet es sich von der spezialwissenschaftlichen Soziologie. Diese zielt auf die Erkenntnis nicht der Gesellschaft allgemein, sondern vielmehr speziell einer Gesellschaft ab. Sie versuche die Gesellschaft als speziellen Gegenstand in ihrer Besonderheit zu verstehen, so wie sie ist; bzw. versucht sie, „eine Gesellschaft" als einen begrenzten Gegenstand aus ihren nächsten Gründen heraus zu erklären (S. 19). Demnach gehe die allgemeine Soziologie die bereits aufgebaute Gesellschaft betreffend, d.h. lehrsatzbestimmt vor. In Konsequenz zerfällt sie hierbei gegenwärtig zumeist in mikrosoziologische und in makrosoziologische Erkenntnisweisen, die sich widersprechen. Als Konsequenz sieht Stieglitz ein Auseinanderklaffen dessen, was beide Richtungen jeweils als Seinserkenntnis und als das Wesen der Gesellschaft ansehen. Stieglitz argumentiert daher dafür, die Unterscheidung zwischen Gesellschaftsphilosophie und der Soziologie grundsätzlich zu hinterfragen, um eine Vereinheitlichung der Konzepte zwischen den beiden Fachausrichtungen zu erreichen. Die dargestellte Diskrepanz sieht er außerdem als Anlass dafür, einen eigenen Vorschlag zur Auflösung derselben zu machen. * Heinrich Stieglitz, Verbindlichkeit - Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft, Berlin 2008.

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Vor diesem Hintergrund ist das vom Autor erklärte Ziel seines Projektes, das Verhältnis der gesellschaftsphilosophischen und der soziologischen Seinserkenntnis aus dem einheitlichen Grund der Gesellschaft zu bestimmen. Dieser einheitliche Grund, so wird argumentiert, besteht als Sozialität, d.h. als Verbindlichkeit unter Menschen. Dabei gilt das „Verbundensein" als das Gestaltungsziel für eine ideale Gesellschaft. Dieses Ideal kann in der Praxis jedoch nicht immer erreicht werden. Vielmehr kann die Verwirklichung einer Gesellschaft sozial, asozial, unsozial oder sogar antisozial sein (S. 562). Diese Bestände können sodann schwanken zwischen den Polen einer Gesellschaft als etwas Besonderem oder etwas Allgemeinem, als einer Innen- oder einer Außenwelt sowie als einem Sinngehalt oder einer bloßen Tatsächlichkeit. Daher erweist es sich als die Aufgabe einer „kritisch-realistischen Erkenntnis der Gesellschaft" die genannten Gestaltungsvollzüge aufzuzeigen. Was der Autor damit zu sagen scheint ist das folgende: Laut Stieglitz besteht das gesellschaftliche Erkennen nicht nur in einer Besinnung auf das eigentliche Wesen der Gesellschaft, nämlich auf die Sozialität. Das gesellschaftliche Erkennen besteht auch in einer „Kritik der Erscheinung einer Gesellschaft", eine Kritik die er als „Kritik des sozialen Bewusstseins" bezeichnet (S. 563 ff.). Um einer, sich in der Realität möglicherweise auf unterschiedlicher Art verwirklichende Gesellschaft, bzw. einer einseitigen Verwirklichung des sozialen Bewusstseins entgegenzuwirken, ist es daher eine wichtige Aufgabe einer realistischen Erkenntnis einer Gesellschaft, mögliche Schwankungen oder Abweichungen vom Ideal dieses Bestandes zu identifizieren. Es ist möglich, die einseitige Ausbildung der vielfältigen Ausbreitungsmöglichkeiten des sozialen Bewusstseins durch eine kritische Zuständigkeit einer gesellschaftstheoretischen Erkenntnis zu vermeiden, um einer „speziellen, subjektiven und theoretischen Bestimmung" entgegenzuwirken (S. 563). Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil legt der Autor den Grundstein für seine Kritik. Unter dem Titel „Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht" bespricht der Autor das gegenwärtige Verständnis von der Gesellschaft und das gegenwärtige Bemühen um ihre Erkenntnis bzw. die Erkenntnis ihres Wesens und ihres Ursprungs durch die Gesellschaftsphilosophie sowie durch die Soziologie. Stieglitz begreift sich als ein Verfechter der kritisch-realistischen Erkenntnistradition, bei der vor allem auch nach dem „So-sein der Gesellschaft" gefragt wird, d.h. „die Form des Mit-Anderen-Eins-Sein" (S. 38). „Nach der kritisch-realistischen Überzeugung von der Beschaffenheit der Realität ... [wird] das, was besteht [d.h. die Gesellschaft als solche], zuletzt durch sein Wesen bestimmt" (S. 27). Die herrschende Gesellschaftswissenschaft beschäftige sich aber eben gerade nicht mit der Frage nach dem „wozu", wenn es um den Ursprung und das Wesen der Gesellschaft gehe, sondern nur mit „den Fragen des Wie-seins" (S. 38). In diesem Zusammenhang geht der Autor auf die Bestimmung des Menschen „als eines im Ganzen gesellschaftlichen Wesens durch die herrschenden Gesellschaftswissenschaften" ein (S. 24 ff.). Stieglitz erläutert das Verständnis des Individuums als soziales Wesen innerhalb der Gesellschaftswissenschaften und kritisiert die Verengung des Verständnisses der „gesellschaftlich geformten .menschlichen' Geistigkeit" als subjektiven Geist (S. 28). Dies ist im Grunde eine weitergreifende Kritik des grundsätzlichen Gerüstes der verhaltenstheoretischen Annahmen und am, den herrschenden Gesellschaftswissenschaften zugrundeliegenden Menschenbild, wie beispielsweise die Annahme des methodologischen Individualismus. Diese in den Gesellschaftswissenschaften meist angewandte Methode beschreibt und erklärt soziale Vorgänge auf Makroebene vom Handeln der beteiligten Individuen auf der Mikroebene. Argumentiert man auf derselben Ebene wie Stieglitz, vermag man demnach mit dieser Methode das Wesen der Gesellschaft als Ganzes für sich genommen nicht zu erfassen und sollte diese daher verwerfen. Das Wesen der Gesellschaft, so Stieglitz, müsse auf eine ganz andere Weise bestimmt werden (S. 38). Es bleibt jedoch unklar, welchen Anspruch Stieglitz an eine Erklärungsmethode bzw. an eine wissenschaftliche Erklärung stellt bzw. was er unter einer solchen überhaupt versteht. Den Begriff der Struktur als Ursprungsgrund bzw. als Wesen oder als Substanz der Gesellschaft befindet Stieglitz zwar aufgrund ihrer Flexibilität bezüglich aller möglichen Inhalte als nützlich, lehnt diesen jedoch am Ende als „Leerformel" ab (S. 47). Er stellt fest, dass die Er-

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kenntnis des Verhältnisses zwischen dem Mensch und der Gesellschaft eine ungeklärte wissenschaftliche Aufgabe sei, die eine wichtige Herausforderung für die Wissenschaftstheorie darstelle. Außerdem bestünde eine wesentliche Aufgabe auch darin das „Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen sogenannten Individuum und seiner Gesellschaft zu unterscheiden von dem ihm zugrundeliegenden Verhältnis zwischen dem menschlichen sogenannten Individuum, also dem menschlichen Menschen, und der Gesellschaft als dieser" (S. 55). Stieglitz sieht wie bereits erwähnt in der Idee der Verbundenheit eine mögliche Auflösung der Diskrepanz, da er in der Verbindlichkeit die Wesenheit einer Gesellschaft ansieht (S. 559). Im Anschluss an eine Diskussion des „Solidarismus" als potentieller Kandidat für eine Lehre vom Menschen und der Gesellschaft und für die Ablösung der defizitären Erklärungen (S. 60 ff.), zeigt Stieglitz anhand einer Definition von Nell-Breuning (1996, S. 141) von dem Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft die bestehenden Defizite des Verständnisses der Verbundenheit auf: „Gesellschaft ist jene dauernde, wirksame Verbundenheit von Menschen in der Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles oder Wertes' (S. 66)". So schreibt Stieglitz: „was der Definition ermangelt, ist erstens die Bestimmung dessen, was der vernünftige Gattungsbegriff der Verbundenheit besagt sowie zweitens die Angabe desjenigen Unterschieds in der Verbundenheit von Etwas, der die Wesensart der humanen Verbundenheit benennt. Darin aber besteht die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Gesellschaft sowie die Bestimmung des sich aus diesem ableitenden Verhältnisses zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und seiner Gesellschaft" (S. 67). Der zweite Teil des Buches trägt den Titel „Die Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft (Grundzüge der Entwicklungsgeschichte des Gesellschaftsdenkens und der Kritik ihrer Entwicklung)" (S. 68), in welchem der Autor eine Zusammenfassung der historischen Entwicklung des theoretischen Gesellschaftsdenkens aus der praktischen Erkenntnis der Gesellschaft als ihrem Ursprung darstellt. Die Grundzüge dieser Entwicklungsgeschichte verdeutlicht er anhand der Auffassungen über das Sein und das Sollen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Antike, über den Hellenismus bis ins Mittelalter, sowie anhand der damaligen Auffassungen über das gesellschaftliche Zusammenleben in der Ethik der griechischen Philosophie. Im Anschluss zeigt er die sich aus der ursprünglich praktischen Erkenntnis zunehmend herausbildenden Folgen für das theoretische Gesellschaftsdenken auf. Im dritten Teil des Buches gibt der Autor in drei Kapiteln eine ausführliche Darstellung der Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft sowie der allgemeinen Soziologie, wobei er insbesondere auf „die universalwissenschaftlichen und die spezialwissenschaftlichen Grundfragen nach dem logos der societas eingeht (S. 419 ff.). Außerdem beschäftigt er sich mit der Unterteilung der Soziologie in eine allgemeine und eine besondere Soziologie. Stieglitz selber macht am Ende des Kapitels einen eigenen Versuch einer Einteilung der besonderen Soziologie, welche vor allen Dingen Struktur in die Vielfältigkeit der bestehenden „speziellen Soziologien" zu bringen, die sich jeweils auf die Erkenntnis der unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft beziehen (S. 546). Im vierten Teil mit dem Titel „Das Wirksamsein der Gesellschaft" argumentiert Stieglitz schließlich für die Sichtweise einer Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit (S. 551 ff.) und betont die kritische Aufgaben der theoretischen Erkenntnis einer Gesellschaft die Sozialität einer Gesellschaft zu wahren. Er plädiert aber auch dafür, die Lebendigkeit des sozialen Bewusstseins einer Gesellschaft aufrecht zu erhalten, um das oben erwähnte Auseinanderklaffen zwischen Ideal und Realität aufzufangen und gegebenenfalls die notwendigen Korrekturen vorzunehmen um einer einseitigen Entwicklung eines sozialen Bewusstseins entgegenzuwirken (S. 559 ff.). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Buch gibt einen guten Einblick in die Grundzüge und die historische Entwicklung der modernen Soziologie seit Georg Simmel und Max Weber, sowie einen Überblick über die wichtigsten Strömungen sowohl der Ethik (oder Moralphilosophie), als auch der Philosophie der Gesellschaftswissenschaften (oder Sozialphilosophie) seit der Antike. Den Grundzügen der Philosophie der Gesellschaft werden alleine fast 100 Sei-

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ten gewidmet, in welchen der Autor im Einzelnen auf die Ausprägungen des Realismus, des Empirismus und des Rationalismus eingeht und sowohl deren Methodik als auch deren Vorzüge bzw. Unzulänglichkeiten im Hinblick auf ihre Erkenntnisse über Gesellschaft diskutiert (S. 432 ff.). Neben ausführlichen etymologischen Analysen der wesentlichen Begrifflichkeiten (wie beispielsweise „Gesetz" oder „Prinzip des Ursprungs") und dem Aufzeigen ihrer historischen Entwicklungen, werden Empirismus und Rationalismus mit dem von Stieglitz selber favorisierten (kritischen) Realismus verglichen. In diesem Zusammenhang stellt Stieglitz fest, dass hinter den Bezeichnungen „Philosophie der Gesellschaft" und „Soziologie" neben dem Unterschied zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Fragestellung beide in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis auch zwei verschiedene „Erkenntnisgestalten" bezeichnen, die er empirische und rationale Erkenntnisgestalt nennt (S. 475). Daher ließe sich der Konflikt über die Beschaffenheit der „wahren theoretischen Erkenntnis" laut Stieglitz nur dann belegen, wenn die verschiedenen Erkenntnisgestalten und die Wissenschaftssystematik des theoretischen Erfassens der Gesellschaft „erkannt" sind (ebd.). Alleine in der Wiedergabe dieses Aspektes der Kritik von Stieglitz wird deutlich, dass der Autor von der herkömmlichen Terminologie abweicht und seine eigenen Begrifflichkeiten für die Bezeichnung wissenschaftstheoretischer Sachverhalte einführt. Wer den Ideen und Argumenten von Stieglitz folgen möchte, muss sich daher mit den wesentlichen Grundbegriffen seiner Terminologie vertraut machen. Dies wird u.a. durch die von ihm verwendeten Quellen erschwert. Neuere Texte zur Thematik, insbesondere im Bereich der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, werden so gut wie nicht verwendet; dies sowohl bezogen auf den Bereich der Epistemologie selbst, als auch bezogen auf das Verständnis der verwendeten und diskutierten Konzepten. Vielmehr beruft sich Stieglitz bei seiner Argumentation auf Lexikoneinträge und historisch zweifellos bedeutsame Texte wie Karl Marx (1955), Weber (1922), Simmel (1908). Neuere Strömungen, wie beispielsweise zu kollektiver Intentionalität oder zu Erklärungen von sozialen Phänomenen z.B. von Gilbert (2006), Tuomela (2002), Hollis (2002), Pettit (1993), Schelling (1978) sowie zur Diskussion des methodologischen Individualismus, z.B. Jon Elster (1989), etc., werden hingegen außen vor gelassen. Diese wären aber für die Frage nach dem Wesen der Gesellschaft durchaus interessant und deren Diskussion unabdingbar für eine Anknüpfung an den aktuellen Stand der Forschung im Bereich der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. In diesem Zusammenhang kommt folgende Schwierigkeit hinzu: Trotz des hohen Informationsgehaltes kommt bei der Lektüre daher unweigerlich die Frage auf, ob die vom Autor eingebrachten Wortschöpfungen nicht vom Sprachgebrauch und dem Forschungsstand der gegenwärtigen Soziologie einerseits und auch der Gesellschaftsphilosophie bzw. der Philosophie der Sozialwissenschaften andererseits entfernen, und er sich damit lediglich für eine kleine Leserschaft interessant macht. Auch wird durch die Bildung einer Parallelsprache der Inhalt des Werkes an einigen Stellen schwerverständlich. Argumente und Thesen werden teilweise durch die Verwendung von literarischen Quellenuntermauert, was teilweise den möglichen Grad der Verallgemeinerung in Frage stellen kann. Diese werden u.a. anhand von Anekdoten und literarischen Beispielen begründet und können daher nicht ganz ohne Schwierigkeit auf eine abstrakte Ebene gehoben werden. Mit diesem umfassenden Werk hat Heinrich Stieglitz einen grundsätzlichen Beitrag zur Diskussion über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der herrschenden Gesellschaftswissenschaften geleistet. Er hat deren Möglichkeiten und Grenzen bezüglich der Wesensbestimmung der Gesellschaft aufgezeigt und diskutiert. Er hat desweiteren die Potentiale der Erkenntnistheorie in diesem Bereich analysiert und um einen eigenen Vorschlag ergänzt. Stieglitz zeigt eine Reihe wichtiger Aspekte in den beiden Teildisziplinen auf, der Sozialphilosophie und der Soziologie, welche die Unzulänglichkeiten ihrer Erkenntnisfahigkeiten deutlich machen. Der Leser bekommt daher viele Anregungen bezüglich der Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten auf der methodischen und auf der konzeptionellen Ebene. Dennoch ist festzuhalten, dass das hier besprochene Werk schon fast zu umfassend ist, um als Leser tatsächlich einen Überblick über die Fragestellung und den Bereich zu bekommen und zu behalten, den der Autor tatsächlich

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bearbeite wollte. Stieglitz selber verliert sich schlussendlich doch zu oft in Exkursen und umfangreichen Ausschweifungen, welche interessant sein können, vom eigentlichen Argumentationsstrang jedoch abweichen. Er schafft es daher oftmals nicht den Leser zu informieren und „mitzunehmen", sondern vielmehr ist dieser am Ende doch eher verwirrt und das, was ursprünglich argumentiert werden sollte, verschwindet in den Hintergrund.

Literatur Brugger, Walter und Harald Schöndorf (Hg.) (1996), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg u.a. Elster, Jon (1989), The Cement of Society, Cambridge. Gilbert, Margaret (2006), Rationality in Collective Action, Philosophy of the Social Sciences, Bd. 36(1), S. 3-17. Hollis, Martin (2002), Philosophy of Social Science, Cambridge. Marx, Karl (1955), Das Kapital, Band 1, Berlin. Nell-Breuning, Oswald von (1996), Art. Gesellschaftsphilosophie, in: Brugger, Walter und Harald Schöndorf (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Freiburg u.a. Pettit, Philip (1993), The Common Mind An Essay on Psychology, Society and Politics, New York. Rosenberg, Alexander (1995), Philosophy of Social Science, Boulder. Schelling, Thomas (1978), Micromotives and Macrobehavior, New York. Simmel, Georg (1908), Soziologie, Frankfurt. Tuomela, Raimo (2002), Philosophy of Social Practices: A Collective Acceptance View, Cambridge. Weber, Max (1922), Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Halbbände, Tübingen

Carsten

Herrmann-Pillath

Der Treibhausgas-Emissionshandel in evolutionsökonomischer Perspektive* Der Klimawandel gehört sicherlich zu den größten Herausforderungen der Umweltpolitik im 21. Jahrhundert. Es steht inzwischen außer Zweifel, dass er - ungeachtet aller möglichen anderen ökologischen und klima-dynamischen Einflüsse - in erheblichem Maße anthropogen bedingt ist. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik. Diese ist freilich mit einem öffentlichen Gut denkbar größter Reichweite konfrontiert: Erfolgreiche Klimapolitik ist nur als globales Handeln möglichst aller Staaten wirkungsfähig. Auf der anderen Seite aber reicht dieses Handeln nicht aus: Denn Treibhausgase werden durch ökonomische Prozesse verursacht, und die eigentlichen Akteure sind hier zum weitaus größten Teil private Konsumenten und Produzenten. Entsprechend ist die Lösung des Problems letztendlich nur wirtschaftlichtechnologisch vorstellbar, im Sinne der Generierung und Nutzung klimafreundlicher Technologien. Hieraus entsteht eine grundsätzliche Spannung in der Klimapolitik: Die Erzeugung dieses öffentlichen Gutes erfordert koordiniertes Handeln auf der Ebene von Staaten, aber dieses ist nicht hinreichend zur Problemlösung. Vielmehr muss staatliches Handeln Anreize für die privaten Akteure wecken diese wirtschaftlich-technischen Lösungen zu entdecken und anzuwenden. Die Umweltökonomik hat schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen, den Öffentlichkeitsgrad auch solcher Güter mit extrem hohen Öffentlichkeitsgrad zu reduzieren, indem der Staat Eigentumsrechte schafft: Zertifikate, die das Recht zur Nutzung der Umwelt etwa durch schädliche Emissionen verbriefen. Solche Zertifikate können dann zwischen privaten Akteuren gehandelt werden, so dass eine Marktlösung des Problems möglich wird. Dieser Vorschlag ist auch langsam von der Politik angenommen worden und wird schrittweise auf nationaler und internationa* Joachim Schwerd, Der Treibhausgas-Emissionshandel in evolutionsökonomischer Perspektive, Marburg 2008.

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ler Ebene implementiert. Das Buch von Joachim Schwerd befasst sich mit dieser Entwicklung aus systematischer, weniger aus historisch-institutioneller, Sicht, obgleich auch eine wahre Fülle von Detailinformationen zu rechtlichen Fragen und historischen Entwicklungen zu finden ist. Das Buch ist ein Fundus für jeden, der sich aus ökonomischer Sicht über diesen Bereich der Klimapolitik informieren will. Ein zentrales Ziel der Arbeit besteht darin zu zeigen, dass ein solcher systematischer Zugang nur im Rahmen der Evolutionsökonomik möglich ist. In der Tat ist dies keine selbstverständliche Position, denn die Zertifikatelösung war zunächst einmal ein direktes Ergebnis der Anwendung einer im weitesten Sinne neoklassischen Institutionenökonomik. Der Verfasser macht die Differenz vor allem an einem Kriterium fest: Dass nur die Evolutionsökonomik sich dem Grundtatbestand der Ergebnisoffenheit der Märkte stelle, und dass es unmöglich sei, künftige wirtschaftlich-technische Neuerungen gleich welcher Art zu antizipieren (sogenannte „echte" Neuerungen, S. 168 ff.). Das ist der archimedische Punkt der Arbeit: Hieraus ergibt sich die zentrale These, nämlich dass für eine erfolgreiche Klimapolitik die Zertifikatelösung die gleichermaßen notwendige wie auch hinreichende sei, d.h. neben der Schaffung eines Marktes für Emissionszertifikate seien keine weiteren umweltpolitischen Maßnahmen erforderlich (S. 79 und 220 ff.). Das Buch entwickelt ein langes, zuweilen auch langwieriges Argument, das zunächst auf der noch kurzen Bestandsaufnahme der Klima-Diagnostik beruht (Einleitung). Diese Diagnostik ist deswegen wichtig, weil Schwerd die Auffassung vertritt, dass klimapolitische Ziele nur naturwissenschaftlich begründbar seien (S. 50 und 67). Dies ist entscheidend: Die fundamentale Unsicherheit über die Zukunft berührt nämlich nicht nur die Unfähigkeit, künftige Innovationen zu antizipieren, sondern impliziert auch die Unmöglichkeit den Status quo von Schädigungen des Klimas verbindlich zu diagnostizieren, weil die Auswirkungen ebenfalls in der Zukunft liegen und selbst in grundlegender Weise komplex sind, d.h. aufgrund etwa von Nicht-Linearitäten nicht prognostizierbar. Das bedeutet aber, dass die Opportunitätskosten heutiger Entscheidungen nicht bekannt sind (etwa auch in zeitlicher Hinsicht, d.h. es ist auch nicht klar, wann überhaupt die Auswirkungen auftreten), und somit eine ökonomische Begründung bestimmter Ziele unmöglich ist. Ein besonderes Anliegen der Arbeit ist eine Synthese von Institutionen- und Evolutionsökonomik zu erreichen, der sich drei Kapitel widmen, also der bedeutendste Teil des Buchs, das insgesamt sechs Kapitel aufweist. Jeweils für die Institutionen- und Evolutionsökonomik separat, und dann für deren Synthese, werden die Implikationen für die Analyse und Gestaltung des Emissionshandels geprüft. Das fünfte Kapitel setzt sich dann mit dem empirischen Befund auseinander, d.h. vor allem mit dem Kyoto Protokoll und den Maßnahmen in der EU. Das sechste Kapitel resümiert. Der relativ große Stellenwert theoretischer Überlegungen liegt sicherlich auch darin begründet, dass der Emissionshandel selbst noch eine sehr junge, fragmentarische und unausgereifte Institution ist. Insbesondere im Kontext des Kyoto-Prozesses überwiegt noch die politische Dynamik, die jüngst vor allem durch den Ausgang der amerikanischen Präsidentschafts-Wahlen eine neuerliche Wendung erfahren hat. Das hat natürlich eine gewisse Schwäche der Argumentation des Autors zur Folge, welche ihm nicht unmittelbar anzukreiden ist: Der empirische Befund wird wohl erst in einigen Jahrzehnten hinreichend umfangreich sein, um genauere Aussagen treffen zu können. Das gilt insbesondere für einen empirischen Test der oben genannten zentralen Hypothese des Verfassers. Denn Kyoto impliziert ja nicht die Gleichschaltung der nationalen Klimapolitiken, die weiterhin eine Fülle unterschiedlicher Instrumente zusätzlich zum Protokoll nutzen können. Diese institutionelle Vielfalt dürfte interessante Muster der Diffusion des technischen Fortschritts im Bereich des Klimaschutzes generieren (wie ja auch schon in der Vergangenheit bezüglich der unterschiedlichen Verbreitung etwa von Emissionsstandards bei Automobilen), die dann in empirischen Tests der Hypothese genutzt werden können. Doch das ist Zukunftsmusik. Insofern hat es der Rezensent schwer: Das Thema der Buchs ist der Klimaschutz und eigentlich nicht primär die Theorie, die dann doch stark im Vordergrund steht. Bei letzterer weist

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Schwerd zu Recht darauf hin, dass die Evolutionsökonomik keine standardisierte, allgemeinverbindliche Version besitzt, auf die er rekurrieren könnte (S. 107). Insofern steht es auch in seinem Belieben, sich für eine bestimmte Position zu entscheiden und diese dann konsequent im Buch durchzuhalten. Genau das ist auch der wichtigste Beitrag des Buchs für die laufende Diskussion: Schwerd legt seine theoretischen Kriterien detailliert offen und dekliniert sie in gleichem Detail am Fall des Emissionshandels durch. Er hebt zu Recht hervor, dass damit gezeigt werden kann, ob und wie die evolutionsökonomische Perspektive geeignet ist, konkrete Aussagen zur Wirtschaftspolitik abzuleiten. Das ist erfreulich, weil manche Evolutionsökonomen einem wirtschaftspolitischen Defätismus verfallen, der aus der prinzipiellen Negierung der Prognosefähigkeit im Detail resultiert. Der Rezensent verlegt sich daher auf eine andere Strategie. Im Folgenden soll diskutiert werden, ob und wie weit die von Schwerd vorgegebene Version der Evolutionsökonomik wirklich die bestgeeignete ist, um dem empirischen Phänomen der Klimapolitik gerecht zu werden. Diese Strategie könnte unfair sein, denn Schwerd scheint vornehmlich normativ zu argumentieren. Dennoch muss auch an eine normative Argumentation die Frage gerichtet werden, ob sie auf einem angemessenen Bild der Realität beruht. Diese Frage hängt ihrerseits mit bestimmten Grundannahmen der Evolutionsökonomik zusammen. Hinzu kommt, dass Schwerd eine stark reduzierte Sicht auf normative Fragen einnimmt, d.h. vor allem, Verteilungsfragen weitestgehend ausklammert, die gerade mit Blick auf die Schwellenländer sehr wichtig sind (S. 369). Das ergibt sich aus seiner Definition der Evolutionsökonomik, ist aber sicherlich kritisch zu sehen, weil Verteilungskonflikte etwa bei der Erstzuweisung von Verfügungsrechten einen erheblichen Einfluss auf den tatsächlichen Verlauf des institutionellen Wandels nehmen (zum Beispiel durch eine indirekte Überproduktion dieser Rechte, S. 388). Bevor jedoch diese Diskussion geführt werden soll, ist eine Bemerkung zur Argumentationsstruktur im Buch selbst angebracht. Der Text weist eine ungemein große Zahl von zum Teil sehr langen Fußnoten auf, mit dem Höhepunkt einer Seite ohne jeden Haupttext (S. 505 - und das im Resümee!). Abgesehen davon, dass dies die Lesbarkeit erschwert, entdeckt der aufmerksame Leser dieser Fußnoten immer wieder wichtige Überlegungen und Einschränkungen, die bei weiterem Nachdenken eigentlich in den Text gehört hätten. Fast scheint es, dem Autor sei die allzu starke Einengung seines Argumentes bewusst, und daher erfolgt die Verdrängung wichtiger Aspekte in die Fußnoten. Zum anderen finden sich auch wichtige empirische Beobachtungen oder Diskussionspunkte zur Literatur in Fußnoten, die oft geeignet gewesen wären, das ansonsten recht abstrakte Argument im Haupttext zu stärken (ein Beispiel ist die sehr aufschlussreiche Kritik am Vorschlag, ein transparentes Transaktionsregister einzurichten, S. 446). Schließlich ist gerade angesichts der extremen Zahl und Länge der Fußnoten zu bedauern, dass ein Buch dieses Umfanges kein Register hat, welches dem Leser (und auch dem Rezensenten) die Orientierung etwas erleichtern würde. Schwerd begreift Evolutionsökonomik explizit als eine Theorie des Marktprozesses (Überblick auf S. 134 ff.). Für diesen gelten bestimmte Eigenschaften, die eine neoklassische Analyse in Schranken weisen, wie die Unmöglichkeit, die Zukunft selbst probabilistisch zu beschreiben, die Heterogenität der Akteure, der Ungleichgewichtsgedanke etc. Aus diesen Annahmen folgt direkt, dass unmittelbare Interventionen des Staates immer dem Dilemma der Wissensanmaßung verfallen. Das ist im Grunde die Argumentationslinie. So richtig diese ist, so ermüdend wirkt sie doch im Laufe der langen Detailanalysen, die immer wieder zur Betonung dieses Punktes zurückkehren. Richtig ist der Punkt: Doch ist er tragfähig für eine umfassende, vor allem auch empirisch orientierte Analyse des Themas? Schwerd klammert einige Fragen ausdrücklich aus seiner Analyse aus, die der Rezensent gerade aus evolutionsökonomischer Sicht für wichtig hält; das sind vor allem: — die Frage der Genese von Institutionen, — in diesem Zusammenhang auch die konkretere Frage nach der evolutionsökonomischen Analyse des staatlichen Handelns bei der Setzung von Institutionen,

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die Frage der Gerichtetheit der Evolution des technologischen Wissens unter bestimmten Marktstrukturen und institutionellen Rahmenbedingungen,

— oder, wie schon erwähnt, die Verteilungsproblematik. Der Verfasser argumentiert regelmäßig, dass diese Fragen seinen Rahmen sprengen, oder er verweist auf bekannte Einsichten aus anderen Disziplinen, wie Public Choice, die dann ebenfalls ausgeklammert werden (etwa S. 92 und 272, wie gehabt, in Fußnoten). Damit bleiben aber und das ist wohl entscheidend, die wichtigsten Probleme des empirischen Befundes ausgeblendet, der doch gerade zeigt, dass nicht so sehr die diagnostische Einsicht in die Notwendigkeit den aktuellen Verlauf der institutionellen Evolution bestimmt, sondern gerade die politische Ökonomie der Internalisierung externer Effekte. In diesem Zusammenhang gibt es meines Erachtens zwei Themenkomplexe, die aus evolutorischer Sicht wichtig sind. Der erste betrifft die soziale Kognition, die in der Literatur aus verschiedener Sicht beleuchtet wurden {North 2005; Aoki 2001). Institutionen bauen immer auch auf kognitiven Modellen der Akteure auf. Diese selbst fallen aber nicht von Himmel, sondern werden in einem komplexen Kommunikationsprozess erst konstruiert. Dazu wurden auch ausdrücklich mit evolutorischer Perspektive wichtige Theoriebeiträge geliefert, die Schwerd nicht aufnimmt (übrigens auch in eben jener Reihe, in der sein Band erscheint, nämlich KubonGilke 1997 und Männel 2002). Dabei zeigt gerade seine empirische Analyse, dass die Konvergenz der sozial verteilten Kognition ganz entscheidend dafür ist, ob die weiterhin nationalen Wirtschaftspolitiken zu einem gemeinsamen institutionellen Rahmen des Klimaschutzes konvergieren oder nicht (es findet sich nur die eher saloppe Bemerkung, dass es bei einem „grünen" Medianwähler eben auch einen positiven Klimaschutz gäbe, S. 105 f. - nur eben das verdient durchaus theoretische Aufmerksamkeit, denn es geht um die Evolution von Präferenzen). Bei genauer Betrachtung gilt dies sogar für die Wissenschaft selbst. Auch diese wird nicht zum Gegenstand der evolutorischen Theorie ä la Schwerd: Doch gibt es ja längst die economics of science, die ohne Zweifel in der klimapolitischen Diskussion in jeder Hinsicht sehr schön beobachtbar ist. Und das schließt auch die Wirtschaftswissenschaft selbst ein, wie auch wieder in manchen der vielen Fußnoten deutlich wird (siehe etwa S. 317 ff.). Insofern wäre ein genuin evolutorischer Ansatz auch ein reflexiver: Wie weit ist die Wirtschaftswissenschaft selbst ein endogener Bestandteil des Prozesses der Institutionengenese, und wie weit kann dieser Prozess wiederum evolutionsökonomisch erklärt werden (auch hierzu findet sich ein Beitrag in der Buchreihe, in der Schwerds Buch erscheint, nämlich des Rezensenten selbst, Herrmann-Pillath 2001)? Nun mag man argumentieren, dass es unvermeidbar ist, irgendwo eine Grenze zu ziehen, um das Argument noch handhabbar bleiben zu lassen. Hinsichtlich der kognitiven Fundierung von Institutionen scheint mir das aber nicht zu greifen: Denn auch die Durchsetzungskosten von Institutionen hängen vom Grad der Selbstbindung der Akteure ab. Hier entpuppt sich Schwerd überraschend eigentlich als reinrassiger Neoklassiker: Denn er konstatiert das Problem öffentlicher Güter einzig aus dem Blickwinkel der traditionellen Theorie der Rationalwahl. Tatsächlich aber ist es sehr entscheidend, inwieweit bestimmte Normen, aber vor allem auch Einsichten kognitiv internalisiert sind, wenn es um die Durchsetzung und Stabilität von Institutionen geht. Solche geteilten kognitiven Modelle mögen sich auch aus der Dynamik des demokratischen Wettbewerbs ergeben, und damit eher eine öffentliche Meinung abbilden, doch sind sie so oder so relevant. Auch hierzu bietet die Evolutionsökonomik vielversprechende Ansätze, wie etwa Wohlgemuths (2002) Analyse der „issues" in der Politik. Kognitive Modelle spielen aber auch für die Analyse der Innovationsdynamik eine wichtige Rolle. Die strenge Charakteristik der Evolutionsökonomik durch Schwerd hat auch hier Folgen, bleibt doch das ganze Thema nationaler Innovationssysteme außen vor, welches sicherlich als ein Kernthema der Evolutionsökonomik anzusehen ist (Edquist 1997). Schwerd vermeidet grundsätzlich eine inhaltliche Charakteristik des Innovationsprozesses. Das wird erneut durch das Allzweckargument gerechtfertigt, dass die Evolutionsökonomik keine inhaltliche Bestim-

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mung des künftigen Verlaufs von Innovationen erlaube. Das ist aber erneut nur normativ richtig. Mit dem Konzept der Innovationssysteme wird gerade versucht, beobachtete technologische Trajektorien ex post zu beschreiben und zu erklären, die sich aus dem Zusammenspiel von Institutionen, Organisationsformen in Unternehmen, der institutionellen Verfassung der Wissenschaft etc. einstellen. Das bezieht dann auch die vielleicht unbestimmteste Größe ein, nämlich den Konsumenten, also die Nachfrageseite, der uns soeben schon als Wähler begegnet ist. Gerade das Beispiel der Automobilindustrie zeigt, wie nachhaltig solche Strukturen Pfade industrieller Innovation determinieren, die dann wiederum über die politische Ökonomie von Interessengruppen auf die Klimapolitik einwirken. Wird der Prozess aus diesem Blickwinkel betrachtet, kommen Zweifel auf, ob Schwerds zentrale Hypothese wirklich haltbar ist. Denn er diskutiert nicht wirklich im Detail, welche unterschiedlichen Formen staatlicher Intervention oder neutraler Begleitung des Innovationsprozesses überhaupt möglich und welche dann eventuell wettbewerbskonform auch im Sinne seiner zentralen Hypothese sind. Ein klassisches Beispiel ist die Wissenschaft selbst, die Schwerd als Datum behandelt: Denn es ist in der Regel der Staat, der auf die Allokation von Mitteln in der Wissenschaft ganz erheblich Einfluss nimmt. Wie dies geschieht, hängt wiederum von der Evolution kognitiver Modelle in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ab. Kurz gesagt, die Frage stellt sich, inwieweit ungeachtet der Geltung der zentralen Hypothese eine bestimmte Gestalt der nationalen Innovationssysteme erforderlich ist, um das für den Klimaschutz erforderliche Wissen in der gebotenen Schnelligkeit zu generieren und auch entsprechend die politisch-ökonomischen Barrieren gegen den von Schwerd eingeforderten institutionellen Wandel abzubauen. Das verweist auch auf das mögliche Erfordernis einer wettbewerbskonformen politischen Gestaltung dieser Systeme. Wenn dem so wäre, ist zu fragen, wie weit die Evolutionsökonomik dazu Aussagen treffen kann. Wir treffen auf eine paradoxe epistemische Situation, denn Schwerds Analyse ist sicherlich durchschlagend, dass wir gerade solche Aussagen nicht treffen können. Wie gelangen wir aus diesem Dilemma heraus? Die Antwort lautet eigentlich: Institutionenwettbewerb. Die Evolutionsökonomik konstatiert, dass unser konstitutionelles Unwissen über die Gestalt der optimalen Institutionen dadurch behoben werden kann, indem wir uns darauf beschränken, Institutionen zweiter Ordnung zu gestalten, die den Wettbewerb von Institutionen regulieren (vgl. Kerber 1998). Wenn die Evolutionsökonomik zurückhaltend gegenüber normativen Aussagen ist, wie Schwerd ja für die technischen Innovationen auch ausführt, dann deshalb, weil es keine Möglichkeit gibt, das Optimum ex ante inhaltlich zu bestimmen. Genau diesen Anspruch erhebt Schwerd aber für die Ebene der Institutionen: Er identifiziert eine optimale Institution, nämlich den Emissionshandel. Das ist dann doch die Position eines neoklassischen Institutionalismus. Warum sollte das Argument zur Unbestimmtheit des technischen Fortschritts nicht auch hier gelten? Genau in diesem Zusammenhang fällt nun auf, dass Schwerd eine zentrale Problematik ebenfalls recht stiefmütterlich behandelt: Warum sollen Staaten die Einheiten der primären Schaffung von Verfügungsrechten im Rahmen eines internationalen Verhandlungsprozesses sein? Schwerd verweist auf die gravierenden Defizite eines rein zwischenstaatlichen Handels mit Verfügungsrechten, wenn man Maßstäbe eines kompetitiven Marktes anlegte, wie etwa die geringe Zahl von Marktakteuren. Dem ist sicher zuzustimmen: Emissionshandel ist letztlich nur als Handel zwischen privaten Akteuren vorstellbar im Sinne der Erreichung von Effizienzzielen. Aber es bleibt noch die ganz andere Perspektive des Institutionenwettbewerbs. Schwerd geht auf diesen Punkt nur sehr eingeschränkt ein: Er versteht nämlich unter Institutionenwettbewerb nur eine Konkurrenz innerstaatlicher Verfahren zur Definition und Zuteilung von Zertifikaten, was sicherlich problematisch ist, weil sich dann viele Möglichkeiten eröffnen durch geeignete Manipulation der nationalen Verfugungsrechte internationale Wettbewerbsvorteile zu erlangen (etwa im Zusammenhang der europäischen Lösung, S. 432 ff.). Dabei stellt Schwerd selbst fest (S. 395, freilich wieder in einer Fußnote), dass Institutionenwettbewerb möglich ist, wenn es um alternative Arrangements zur Erfüllung der nationalen Verpflichtungen zur Reduktion von

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Emissionen geht. Anders und pointiert gesagt: Eine weiter radikalisierte evolutionsökonomische Position würde das Argument des konstitutionellen Unwissens auch für die Institutionen selbst gelten lassen, dementsprechend also darauf verzichten, eine bestimmte Institution - wie den Emissionshandel - als optimale zu identifizieren, und die Entdeckung dieser Institution dem Institutionenwettbewerb überlassen. In der Tat könnte ein Argument für die zwischenstaatliche Verhandlung von Emissionsrechten dasjenige sein, einen institutionellen Wettbewerb zur Auffindung der bestmöglichen Arrangements auf staatlicher Ebene zu veranstalten. Das heißt, die Theorie würde sich einer Meinung darüber enthalten, ob Steuern, Ordnungsmaßnahmen oder Zertifikate die beste Lösung sind, sondern es dem Wettbewerb zwischen unterschiedlichen institutionellen Regimes überlassen, welche Lösung sich durchsetzt. Es wird einzig verlangt, dass die nationalen Emissionen einen bestimmten Grenzwert nicht überschreiten dürfen, und bezüglich dieses Wertes findet ein internationaler Verhandlungsprozess statt. Das ist natürlich eine radikale Sicht, und der internationale Verhandlungsprozess selbst ist ja nicht mehr gleichbedeutend mit Zertifikatehandel. Dieser ist zunächst nur eine nationale Veranstaltung, und die Institution wird in Abhängigkeit von der politischen Ökonomie der nationalen und internationalen Prozesse weltweit diffundieren oder nicht. Nun gibt es ein Vorbild für dieses Modell: Das ist der GATT und FPTO-Prozess. Schwerd diskutiert die internationale politische Ökonomie nur ansatzweise. Dabei geht es im GATT/WTO Prozess auch um die Schaffung und Bewahrung eines globalen öffentlichen Gutes, den möglichst freien Handel, unter der auch für die Klimapolitik gravierenden Restriktion, dass es keine Weltregierung gibt, die internationale Vereinbarungen durchsetzen könnte bzw. direkt Durchgriff zu den privaten Akteuren hätte. Der GATT Prozess ist das Musterbeispiel für die evolutorische Emergenz von globalen Institutionen und basiert ebenfalls auf dem Austausch von Verfügungsrechten, in diesem Fall des Marktzutritts (Herrmann-Pillath 2008). Vieles ließe sich übertragen: Vor allem, dass die internationalen Vereinbarungen wichtig sind, um nationale Regierungen gegen den Einfluss nationaler Interessengruppen zu immunisieren und an die Beteiligung zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes zu binden, und gleichzeitig Externalitäten nationaler Politik zu internalisieren (Bagwell und Staiger 2002). Für eine solche Sichtweise spricht der empirische Befund Schwerds, dass der Kyoto-Prozess offensichtlich nicht geeignet ist, um einen globalen Zertifikate-Handel zu installieren, der den normativen Vorgaben der Evolutionsökonomik entspräche, schon eher aber der europäische (S. 484 f.). Dem Vorbild des GATT folgend, wäre Kyoto also nur als evolutorischer Prozess denkbar, in dem Staaten über den Tausch von Reduktionsverpflichtungen verhandeln, aber nur schrittweise einen Entdeckungsprozess vollziehen, welche nationalen Institutionen effizient sind, im Sinne der optimalen Erreichung der Reduktionsziele ebenso wie der Minimierung von grenzüberschreitenden Externalitäten der Institutionen (nicht der Emissionen selbst, die per se grenzüberschreitend wirken, wohlgemerkt). Der Bezug auf die WTO ist schließlich auch deshalb zielführend, weil es noch die Möglichkeit der Kopplung zwischen unterschiedlichen Politikbereichen gibt, um das Problem der Durchsetzung zu lösen. Auch diesen Punkt streift Schwerd nur (S. 404 f.), um ihm zwar „theoretische Eleganz" zuzugestehen (und wieder: eine Fußnote...), aber ihn ansonsten als praktisch wenig relevant abzutun. Das scheint voreilig, hat die WTO doch mit den intellektuellen Eigentumsrechten ebenfalls einen Bereich integriert, der nach Ansicht vieler Ökonomen nicht eigentlich systematisch in die Handelspolitik gehört. Tatsächlich gäbe es hier eine hochinteressante Option: Denn im Zusammenhang der Verteilungsfrage haben intellektuelle Eigentumsrechte und Treibhausgase eines gemeinsam - es geht um einen Bestand an einem öffentlichen Gut bzw. Ungut, dessen Verwendung durch die staatliche Schaffung von Verfügungsrechten reguliert werden muss. In beiden Fällen sind die Entwicklungsländer durch Verteilungseffekte negativ betroffen: Die intellektuellen Eigentumsrechte verteuern ihren Zugang zu bereits akkumuliertem Wissen, die Emissionszertifikate verteuern ihre Industrialisierung. Das Potenzial für eine Verknüpfung beider Bereiche scheint groß.

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Leider lässt sich diese Diskussion hier nicht weiter vertiefen. Das Buch von Schwerd ist ein wesentlicher Beitrag zum Thema, weil es eine solche Diskussion anstößt. Es setzt einen Standard für die Anwendung der Evolutionsökonomik auf die Wirtschaftspolitik, und es zeigt, dass ungeachtet der systematischen Anerkennung des Wissensproblems in der Wirtschaftspolitik normative Aussagen möglich sind. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen einer zu engen Einschränkung der Evolutionsökonomik auf wettbewerbliche Marktprozesse deutlich.

Literatur Aoki, Masahiko (2001), Toward a Comparative Institutional Analysis, Stanford. Bagwell, Kyle und Robert W. Staiger (2002), The Economics of the World Trading System, Cambridge und London. Edquist, Charles (Hg.) (1997), Systems of Innovation. Technologies, Institutions and Organizations. London und Washington. Herrmann-Pillath, Carsten (2001), Kritik der reinen Theorie des internationalen Handels, Band I: Transaktionstheoretische Grundlagen, Marburg. Herrmann-Pillath, Carsten (2008), International Market Access Rights and the Evolution of the International Trade System, Journal of Theoretical and Institutional Economics 164 (2), S. 302-326. Kerber, Wolfgang (1998), Zum Problem einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, Jahrbuch fir Neue Politische Ökonomie 1998, S. 199-230. Kubon-Gilke, Gisela (1997), Verhaltensbindung und die Evolution ökonomischer Institutionen, Marburg. Männel, Beate (2002), Sprache und Ökonomie. Über die Bedeutung sprachlicher Phänomene fir ökonomische Prozesse, Marburg. North, Douglass C. (2005), Understanding the Process of Economic Change, Princeton and Oxford. Wohlgemuth, Michael (2002), Evolutionary Approaches to Politics, Kyklos 55, S. 223-246.

Manfred

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Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft Anmerkungen zu einem von Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski herausgegebenen Tagungsband „Auf dem Wettbewerb beruht der Wohlstand der westlichen Marktwirtschaften. Der Wettbewerb prämiert Innovationen, und er zwingt diejenigen Akteure, die nicht selbst innovativ sind, sich unverzüglich an die Innovatoren und ihre Marktleistungen anzupassen. Wettbewerb fordert die Disziplin" und zerstört „interimistisch entstehende Machtpositionen". Auf diese „moralische Qualität des Wettbewerbs" wird in dem vorliegenden Band, der die Vorträge einer disziplinenübergreifenden Tagung vom Dezember 2005 in der Akademie Franz Hitze Haus in Münster präsentiert, leider nur in einem Korreferat von Christoph Lütge (S. 122) hingewiesen. In der Regel schimmern in fast allen Beiträgen erhebliche Vorbehalte gegenüber einer stärkeren Verankerung von „Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft" durch. Solche Vorbehalte sind in weiten Teilen des Pflege- und Gesundheitsbereichs ganz offensichtlicht „en vogue". So hat etwa der III. Deutsche Ärztetag im November 2008 in seinem „Ulmer Papier" betont, „Wettbewerb und Marktwirtschaft (sind) keine Heilmittel zur Lösung der Probleme des Gesundheitswesens", „gute Medizin ist kein Industrieprodukt, sondern eine individuelle Dienstleistung", und zu konstatieren seien „ökonomische Fehlanreize des

* Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (Hg.), Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor, Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 551, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2007,290 Seiten.

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Wettbewerbs im Gesundheitswesen" (Deutscher Ärztetag 2008, S. 4 ff.). Dass eine ökonomische Betrachtung von Gesundheit und Gesundheitsdienstleistungen allerdings sehr wohl angezeigt ist, ergibt sich schon allein aus dem Tatbestand, dass es neben der Gesundheit noch weitere Bedürfnisse gibt. Auch für die Versorgung von Pflege und Gesundheit steht immer, ,nur eine begrenzte Anzahl von Ressourcen zur Verfügung. Wenn dem aber so ist, dann ist es sinnvoller, mit diesen Ressourcen so zu haushalten, dass der Nutzen, den die Menschen daraus ziehen, möglichst groß wird - das heißt aber, dass ökonomische Methoden und Denkansätze im Gesundheitswesen eingesetzt werden sollten" (so exemplarisch Oberender und Fleischmann 2002, S. 93 f.). Diese Erkenntnis findet jedoch in dem von Aufderheide und Dabrowski herausgegebenen Tagungsband nur geringen Anklang. Dabei reizt schon der Begriff „Sozialwirtschaft" im Buchtitel zum Widerspruch, impliziert er doch stillschweigend „eine moralische Abwertung aller marktwirtschaftlichen Bereiche, die nicht zur .Sozialwirtschaft' gehören, als (tendenziell) unsozial" (S. 14). Deshalb ist das Bemühen von Michael Schramm um terminologische Klarstellungen in seinem einleitenden Kapitel „Der Sozialmarkt im normativen Konflikt" sehr verdienstvoll. Nach Schramm handelt es sich bei dem Markt der Sozialwirtschaft um den ,.Bereich der ,Produktion' sozialer Dienstleistungen, der vor allem Produzenten und Kostenträger von Dienstleistungen im Gesundheitssystem und der Wohlfahrtspflege umfasst" (S. 11). Gleichwohl kommt dem geneigten Leser in diesem Zusammenhang die Schelte von Friedrich A. von Hayek (1996, S. 277) in den Sinn, der das Wort „sozial" als „Wiesel-Wort" bezeichnet hat: „So wie das kleine Raubtier, das wir auch Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind Wiesel-Wörter jene, die wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort,sozial'. Was es eigentlich heißt, weiß niemand." Für von Hayek bezeichnet das Soziale „kein definierbares Ideal, sondern dient heute nur mehr dazu, die Regeln der freien Gesellschaft, der wir unseren Wohlstand verdanken, ihres Inhalts zu berauben." Nach der Lektüre des vorliegenden Tagungsbandes hätte sich der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1974 vermutlich sehr bestätigt gefühlt. Auch Nils Goldschmidt erkennt im zweiten Hauptreferat des Bandes an, dass die Begriffe Sozialwirtschaft und Sozialpolitik „kaum eindeutig definiert sind". Er geht deshalb dem „generellen Zusammenspiel von sozialer und ökonomischer Sphäre" (S. 53) nach und überschreibt seinen Beitrag mit der Frage „Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ,sozialethischer' und ökonomischer' Perspektive?". Nach einem Streifzug durch die Geschichte der in Deutschland im 20. Jahrhundert sehr ausgiebig geführten Diskussion über das Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik beantwortet er den ersten Teil seiner Ausgangsfrage mit einem „klaren Nein". Für ihn ist die „soziale Leistungsfähigkeit der Gesellschaft ... an die Effizienz des ökonomischen Systems" gebunden (S. 73). Dagegen beantwortet er den zweiten Fragenteil mit einem „klaren Ja", da das Zusammentreffen von „Wirtschaft und Moral ... nicht mehr mit Notwendigkeit gegeben" sei. So könnten „die Bedingungen des ökonomischen Systems (namentlich Rechtsgleichheit und Privilegienfreiheit) nur durch eine dauerhaft qualitative Sozialpolitik und die Inklusion des Einzelnen in das ökonomische System" im Sinne einer „Sozialpolitik mit dem Markt" sichergestellt werden (S. 74). Anne van Aaken weist in ihrem Korreferat auf diverse offene Fragen in der Argumentation von Goldschmidt hin. Insbesondere sei unklar, „was genau qualitative Sozialpolitik bedeutet" (S. 89). Sie empfiehlt daher, die Auslegungen des Verfassungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht zu Rate zu ziehen, das zahlreiche Ansatzpunkte für konkrete Maßnahmen einer qualitativen Sozialpolitik gegeben habe. Frank Nullmeier gibt seinem Beitrag den vielsagenden Titel „Vermarktlichung des Sozialstaates?" und verwirrt den Leser sodann mit einer Reihe schillernder, letztlich aber inhaltsleerer Begriffe wie „Wohlfahrtsmärkte" (S. 98), „Vollvermarktlichung" (S. 99), „Taylorisierung der Pflegearbeit" (S. 100) u. a. m. (weitere Beispiele finden sich im schon erwähnten vorzüglichen Korreferat von Christoph Lütge). Dies hindert ihn aber nicht in dem Ansinnen,, Anforderungen

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an eine wettbewerblichere Sozialpolitik zu entwickeln, die gewährleisten, dass Sozialpolitik als soziale Politik weiterhin denkbar ist" (S. 101). Dazu stellt Nullmeier einer „neoliberalen" eine „sozialliberale" Vermarktlichungsstrategie gegenüber, um schließlich für eine „sozialregulative" Strategie zu plädieren, die mit Hilfe eines „sozialpolitischen Regulationsregimes ... Effizienz-, und Effektivitätsvorteile marktlicher Allokation mit den Vorteilen einer bedarfsorientierten sozialpolitischen Gestaltungspolitik" verbindet (S. 104). Wie sich dieses Kunstwerk in der Realität darstellen soll, bleibt allerdings der Phantasie des Lesers überlassen. Joachim Wiemeyer beschäftigt sich mit der Frage „Besonderheiten der Sozialwirtschaft Grenzen des Wettbewerbs?" und unterscheidet dabei den Bereich der Sozialwirtschaft von „anderen personenbezogenen Dienstleistungen (z. B. Friseure, Kosmetikerinnen) ... dadurch, dass seine Angebote nicht allein bzw. vorwiegend durch Nachfrage mit privater Kaufkraft bestimmt werden, sondern gesellschaftlich definierte Ansprüche im Sinne des Sozialrechts sind" (S. 125). Allerdings zeichneten sich eigentlich alle realen Märkte durch irgendwelche Besonderheiten aus, weshalb Wiemeyer sich zu einem Rundumschlag auf die ökonomische Zunft berechtigt sieht: „Während die allgemeine Volkswirtschaftslehre die Vorzüge der Modellwelt von Marktund Wettbewerb aufzeigt, wird an den Lehrstühlen für spezielle Volkswirtschaftslehre dargelegt, weshalb bei ihnen diese Bedingungen nicht gelten" (S. 127). Sodann stellt er ein „Zielsystem der Sozialwirtschaft" auf, das insbesondere die folgenden Punkte umfasst: Ihre Leistungen sollen im Bedarfsfall allen Bürgern in allen Regionen des Landes mit einer bestimmten Mindestqualität zur Verfügung stehen. Die in der Sozialwirtschaft tätigen Personen sollen ein so hohes Gehalt bekommen, „dass in ausreichender Zahl Personen motiviert sind, diese Berufe zu ergreifen". Ferner wird ein effizienter Einsatz von Ressourcen gefordert, die Anbieter sozialwirtschaftlicher Leistungen sollen aber „keine Überrenditen erzielen können". Nach Wiemeyer lassen sich diese Ziele „auch aus der Sozialgesetzgebung rekonstruieren", was ihn dazu ermutigt, auf eine „genaue Reflexion der Begründung dieser Ziele" zu verzichten, denn dies „würde den vorliegenden Rahmen sprengen" (S. 132). Vermutlich dürfte ein solcher Rahmen allerdings so einfach nicht zu setzen sein. Dieser Auffassung ist offenkundig auch Stefan Voigt, der in seinem Korreferat zu Recht die Vorgehensweise Wiemeyers kritisiert, eine normative Perspektive für die Sozialwirtschaft mit dem Hinweis auf die Gesetzgebung zu beantworten. Dies komme einer „Kapitulation" gleich, denn dann „könnten wir alle nach Hause gehen und uns in der Kunst des Nichtstuns üben". Zudem seien einige der von Wiemeyer aufgereihten Ziele keineswegs konsensfähig. Die Ablehnung von „Überrenditen" etwa „unterstellt Wissen, über das wir nicht verfügen. Wer weiß, wie hoch Renditen maximal sein dürfen, weiß vermutlich auch, wie hoch der gerechte Preis ist. Diese Vorstellung aber verbinden wir auch mit einem Zeitalter, das häufig als finster bezeichnet wird" (S. 164 f.). Dirk Sauerland stellt in seiner Untersuchung über „Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor" heraus, dass in Deutschland „aufgrund der großen Anbieterzahl im ambulanten und stationären Bereich der Pflege die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb im Pflegesektor gegeben" sind (S. 182). Dieser Wettbewerb, bei dem die Finanzierungsträger anstelle der eigentlichen Leistungsempfänger die Kontrolle über die Qualitätssicherung der erbrachten Leistungen wahrnehmen, funktioniere „im Hinblick auf die bereitgestellten Mengen gut". Nach Sauerland bestehen allerdings durchaus Möglichkeiten, „stärker auf einen Qualitätswettbewerb der Leistungserbringer zu setzen und damit die Souveränität der Pflegebedürftigen im Hinblick auf die Wahl der Leistungserbringer zu stärken" (S. 190). Sein Korreferent Tobias Jakobi kann dagegen grundsätzlich „nicht all zu viele Chancen eines Wettbewerbs der Leistungsanbieter in der Pflege erkennen", und ihm ist „unklar, was der so genannte Qualitätswettbewerb ... überhaupt bedeuten soll" (S. 201). Seinen Bericht über „ A m b u l a n t e pflege zwischen Staat, Markt und Familie" leitet Karl Gabriel mit dem Hinweis auf ein „Forschungsprojekt" ein, in dem 20 ambulante Pflegeeinrichtungen in unterschiedlicher Trägerschaft befragt wurden, wie sie „mit dem neuen Ökonomisierungsdruck umgehen" (S. 215). Über die Ergebnisse dieser Studie erfährt der Leser leider nichts. Stattdessen liefert Gabriel zunächst einige theoretische Erläuterungen zu „Steuerungs-

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elementen". Das „Steuerungsmedium" im Markt sei der Preis, im Staat die Bürokratie und in der Familie die Solidarität. Dabei beklagt er die mit der Einführung der Pflegeversicherung verbundene „Abkehr von einem ganzheitlichen Pflegeverständnis" und den Versuch, „die industriell-kapitalistische Produktionsweise auf die Pflege zu übertragen" (S. 227). Letztlich habe die „Vermarktlichung personenbezogener Dienste ... erschwerte Bedingungen für das solidarische Element in der Steuerung sozialer Dienste" geschaffen (S. 230). Dem hält Alexander Spermann in seinem prägnanten Korreferat zu Recht entgegen, dass der Steuerungsmechanismus des Marktes „grundsätzlich auch im Bereich der Dienstleistung Pflege möglich" ist. Ferner sei es „eine offene Frage, ob der solidarische Steuerungsmechanismus in der Familie stets überlegen ist". Vor allem aber sei der Pflegebereich derzeit „so stark reguliert, dass Marktkräfte nicht wirken können" (S. 246 f.). Im letzten Kapitel befasst sich Georg Cremer mit dem Thema „Ausschreibung sozialer Dienstleistungen - Wie lassen sich Transparenz, Wirtschaftlichkeit und das Wahlrecht der Hilfeberechtigten sichern?". Dabei beschreibt er zunächst das „sozialrechtliche Dreiecksverhältnis" zwischen Kostenträgern, Leistungserbringern und Hilfeberechtigten, das sich mit einer wachsenden Tendenz zur Ausschreibung sozialer Dienstleistungen unter vergaberechtlichen Regelungen konfrontiert sehe (S. 250ff.). Für Cremer ist eine Ausschreibimg nach Vergaberecht „im Pflegesektor ordnungspolitisch nicht zu begründen, da es mit dem Konzessionierungsverfahren ein weniger dirigistisches Verfahren gibt" (S. 257). Dieser Auffassung widerspricht Rüdiger Wilhelmi in seinem Korreferat und weist daraufhin, die Funktion des Vergaberechts liege „nicht in der Beschränkung des Wettbewerbs, sondern in der Gewährleistung von Wettbewerb dort, wo dieser durch die Beteiligung der öffentlichen Hand beschränkt wird" (S. 280). In ihrer Gesamtheit decken die in dem Buch von Aufderheide und Dabrowski zusammengestellten Sichtweisen von Vertretern unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz zu einem hochaktuellen Thema bei der Mehrzahl der Autoren bedenkliche Defizite im Umgang mit ökonomischem Basiswissen auf. Dies freilich ist eine Erfahrung, die keineswegs neu ist. Schon der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, erkannte 1946: „Wer das sozialpolitische Schrifttum auch nur einigermaßen übersieht, weiß, wie viel dort gegen den Wettbewerb gesagt und polemisiert wird, ohne dass kaum je die Betrachtung sich zu volkswirtschaftlicher Einsicht in die Zusammenhänge erhebt" (Müller-Armack 1946/1976, S. 129). Wenn sich in Folge der hier rezensierten Tagung die ein oder andere Meinungsumkehr hin zu den positiven Wirkungen von „Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft" eingestellt haben sollte, hätte sich die Veranstaltung ohne Zweifel dennoch gelohnt. Ob dies allerdings unbedingt einer Buchveröffentlichung bedurft hätte, sei dahin gestellt.

Literatur Deutscher Arztetag (2008), Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft - Ulmer Papier - Beschluss des III. Deutschen Ärztetages 2008, http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/UlmerPapier DAETlll.pdf von Hayek, Friedrich A. (1996), Wissenschaft und Sozialismus, in: Wolfgang Kerber (Hg.), Die Anmaßung von Wissen, Neue Freiburger Studien, Tübingen, S. 267-277. Müller-Armack, Alired (1946/1976), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, wiederabgedruckt in: d Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Bern und Stuttgart, S. 19-170. Oberender, Peter und Jochen Fleischmann (2002), Gesundheitspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart.

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Ordnungsökonomik - ein überholtes Forschungsprogramm? Anmerkungen zu dem Buch von Manfred Streit „Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung" Die Ordnungsökonomik ist in jüngster Zeit ins Gerede gekommen. Auslöser dafür war das Vorhaben, etablierte Lehrstühle für Wirtschafts- und insbesondere Ordnungspolitik nicht neu zu besetzen, sondern zugunsten der makroökonomischen Forschung und Lehre umzuwidmen. Als Begründung dafür seien beispielhaft zwei Stellungnahmen angeführt. Clemens Fuest (2006) führt drei Argumente gegen die Ordnungsökonomik an: die Vermengung von Sach- und Wertaussagen, die mangelnde mathematische Fundierung und die unzureichende empirische Begründung und Überprüfung der ordnungsökonomischen Aussagen und Ergebnisse. Noch deftiger fällt das Verdikt des Wirtschaftshistorikers Albrecht Ritsehl (2009) aus. Die Ordnungsökonomik sei wegen ihrer mangelnden mathematischen Fundierung in Verbindung mit der mangelnden Rezeption moderner mikroökonomischer Ansätze und nicht zuletzt wegen des mäßigen Erfolgs bei der wirtschaftspolitischen Institutionengestaltung ein überholtes Forschungsprogramm. Deshalb sei es an der Zeit sich von diesem ideengeschichtlich deutschen Sonderweg endgültig in Forschung und Lehre zu verabschieden. Auf Einzelheiten der nachfolgenden, in zwei überregionalen Zeitungen geführten Methodendiskussion sei hier nicht näher eingegangen. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion erhalten die in dem Buch von Manfred Streit vorgestellten Aufsätze aus den letzten zwei Jahrzehnten eine besondere Aktualität. Sie erwächst aus seiner Bekehrung vom neoklassisch versierten Saulus zum ordnungsökonomisch inspirierten Paulus. Seine allmählich gewachsene Skepsis gegenüber dem neoklassischen Mainstream und seine Rezeption des ordnungsökonomischen Denkens und dessen eigenständige Weiterentwicklung werden in den einleitenden Vorbemerkungen erläutert. Die in drei Kapiteln unter die WKategorien (Wissen, Wettbewerb, Wirtschaftsordnung) untergliederten zehn Aufsätze sind methodisch und inhaltlich eng verbunden. Sie sollen deshalb nicht einzeln, sondern summarisch und insbesondere unter methodischen Aspekten besprochen werden. Ungeachtet der methodischen Einheit spiegeln sie zugleich die wissenschaftlichen Schwerpunkte der verschiedenen akademischen Stationen in der Karriere von M. Streit wider. Am Anfang steht die Entdeckung des Wissensproblems während seines 1971 übernommenen Ordinariats an der Universität Mannheim. Auslöser war die Beschäftigung mit Terminkontraktmärkten als Mittel zur Absicherung der Exporterlöse der Produzenten in Entwicklungsländern. Dabei galt es zu klären, wie die Markteilnehmer das dafür erforderliche Wissen erwerben und für ihre Zwecke nutzen können. Seine 1983 veröffentlichte und in diesem Band in Kap. A (S. 39-50) abgedruckte Analyse zeigt noch seinen engen Bezug zur neoklassischen Markt- und Informationstheorie. Die hier unterstellten optimistischen und eher unrealistischen Annahmen über den Informationsstand der Marktakteure weckten seine Skepsis über den Erklärungsgehalt der neoklassischen Marktmodelle und leiteten die Wende von der statischen Gleichgewichtshin zur dynamischen Marktprozessanalyse ein. Die Inspiration dafür lieferte die Lektüre des mittlerweile als Klassiker geltenden Beitrags „Wirtschaftstheorie und Wissen" von F.A. von Hayek aus dem Jahre 1937.

* Manfred Streit, Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung, NOMOS Verlagsgesellschaft, BadenBaden 2008, 192 Seiten.

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Bei F.A. von Hayek erwuchs die Beschäftigung mit dem Wissensproblem aus seiner Herkunft aus der individualistischen österreichischen Schule und dem Einfluss seines akademischen Lehrers L. von Mises sowie aus seinen frühen kognitiv-psychologischen Studien über das menschliche Verhalten. Die hier gewonnenen Einsichten und Überzeugungen bestimmten seine konjunkturtheoretischen Arbeiten und dann sein Engagement in der Lenkungsdiskussion der 1930er Jahre. Hier modifizierte F.A. von Hayek das rigide Unmöglichkeitstheorem von L. von Mises durch die These der praktischen Unmöglichkeit einer zentralen Planung der Wirtschaftsprozesse bzw. der Preise mit dem Argument der Nichtzentralisierbarkeit des subjektiven und verstreuten Wissens der besonderen Umstände von Ort und Zeit. Seine kritischen Einwände gegen die planerische „Anmaßung von Wissen" nutzte F.A. von Hayek dann gegen die zu seiner Zeit propagierten Programme einer keynesianisch inspirierten Globalsteuerung, einer marktergebnisorientierten Wettbewerbspolitik und eines wohlfahrtsökonomisch begründeten Sozialstaats. Das hier nur skizzierte hayekianische Forschungsprogramm ist von M. Streit uneingeschränkt übernommen und erweitert worden. Er wechselte 1990 von Mannheim nach Freiburg, wo er die Nachfolge des //aye£-Lehrstuhls übernahm. Erst hier erkannte er, wie viel ihm Hayek sowohl methodisch, theoretisch als auch normativ zu geben hatte. Hinzu kam der Einfluss der Freiburger Schule von W. Eucken und F. Böhm, Die Gründung des Max-Planck-Instituts in Jena im Jahre 1993 markiert die dritte akademische Station von M. Streit. Hier bildeten die aktuellen Fragen des Wettbewerbs der Systeme bzw. der Standorte und der Transformation der ehemals sozialistischen Wirtschaftsordnungen die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit. Die in Kap. B und C abgedruckten Aufsätze der Jenenser Periode zeichnen sich durch die eigenständige Verbindung des hayekianischen sowohl mit dem deutschen ordnungspolitischen als auch mit dem modernen institutionenökonomischen Ansatz aus. Die Institutionenökonomik wird mit Ausnahme des zusammen mit D. Kiwit verfassten Aufsatzes „Zur Theorie des Systemswettbewerbs" (S. 71-110) jedoch eher nur beiläufig rezipiert. Insbesondere die spieltheoretisch fundierte Institutionenökonomie (Gefangenendilemma, Prinzipal- Agent-Theorie) liefert Evidenz dafür, dass die Lösung des Wissensproblems noch keine Lösung des umfassenderen Hobbesseben Ordnungsproblems garantiert. Bei M. Streit bleibt die hayekianische Prägung dominant. Sie erklärt sich aus der hohen Wertschätzung der Kognitions- und Verhaltenstheorie, wie sie F.A. von Hayek in seiner frühen Schrift „Sensory Order" präsentiert und später ausgebaut hat. Die Einzelheiten können und sollen nur angedeutet werden. Thesenhaft formuliert, wird unterstellt, dass der Mensch ein regelorientiertes Wesen sei. Seine Wahrnehmung der Außenwelt orientiere sich an individuell und kulturell gewachsenen Wahrnehmungs- bzw. Regelmustern, mit denen die sensorisch in Form von Impulsen oder Reizen erfassbaren Informationen gefiltert und auf ihre Übereinstimmung mit den gewachsenen Mustern selektiert, geordnet und überprüft werden. Weil die Wahrnehmung der Welt muster- und d.h. erfahrungsabhängig sei, seien auch der Wissenserwerb und die Wissensverarbeitung so subjektiv wie das individuelle Gehirn. Demnach bleibt außerhalb der subjektiven Wahrnehmungsgeschichte kein Platz für eine objektive oder übergeordnete Beobachterposition. Die methodischen und inhaltlichen Implikationen dieser Kognitions- und Wissenstheorie sind offensichtlich. Weil das Wissen subjektiver Natur ist und in komplexen Systemen auf eine Vielzahl von Individuen verstreut ist, entzieht sich der Prozess des Erwerbs und der Nutzung von Wissen einer objektiven ökonomischen Erklärung, wie sie in der neoklassischen Markt- und Informationsökonomie angeboten wird. Die geläufige Optimierungsregel, die Informationsbeschaffung gemäß der Regel Grenzkosten = Grenzertrag auszurichten, versagt, weil der Ertrag einer zusätzlichen Information den Individuen nicht bekannt ist, bevor sie die Information erworben haben. In dem Maße, in dem die Informationen erworben werden und nutzbar sind, werden sie aber wert- bzw. kostenlos. Dann wird eine Optimierung der Such- oder Transaktionskosten jedoch unmöglich. Dadurch ergeben sich wichtige Folgerungen für die Erklärung der Marktprozesse. Weil hier das relevante Wissen ständig neu geschaffen und verbreitet wird, las-

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sen sich reale Marktprozesse weder in Form eindeutiger und noch weniger linearer Kausalitäten erfassen und erklären. Sie lassen sich demnach auch nicht ziel- oder ergebnisbezogen steuern oder beliebig durch staatliche Interventionen substituieren. Dadurch gerät das übliche wohlfahrtsökonomische Effizienzkalkül, bei dem reale Prozesse an ideal konstruierten Ergebnissen oder Gleichgewichtslösungen gemessen werden, in ein anderes Licht. Als realistischer Ausweg aus der Hybris der Allwissenheit liegt methodisch der Vergleich der alternativen Prozesse des Erwerbs und der Nutzung des Wissens und der Koordinierung des Handelns nahe, die tendenziell zu einem Gleichgewicht und damit zu einer Lösung des Ordnungsproblems führen können. Dessen Kern besteht in der Frage, welcher Art die kognitiven und institutionellen Regelmäßigkeiten sein müssen, damit die Reaktionen der Individuen auf die nur ihnen bekannten Umstände ihres Handelns zu einer produktiven und freien Ordnung des Ganzen führen. Antworten auf diese Frage sucht M. Streit vor allem im Wege des Vergleichs verschiedener methodischer Erklärungsansätze und deren normativen Implikationen zu erschließen. Im Zentrum der meisten abgedruckten Arbeiten stehen der Vergleich und die kritische Bewertung der verschiedenen dem neoklassischen und statisch konzipierten Erklärungsmuster verpflichteten Theorien der Markt-, Informations-, Wohlfahrts- und Makroökonomie mit dem von ihm präferierten dynamischen prozesstheoretischen Erklärungsansatz.. Die kritischen Einwände gegenüber den diversen neoklassischen Ansätzen sind bereits angeführt worden. Ihr durchgängiges Defizit bestehe darin, dass sie keine Erklärung dafür liefern, wie Marktakteure dazu angeregt werden, Wissen zu beschaffen, wie das subjektive Wissen verbreitet, wechselseitig genutzt und kontrolliert wird und wie unbeabsichtigten negativen Effekten zu Lasten des gesamten Ordnungssystems entgegengewirkt werden kann. Antworten auf diese Fragen suche man vergebens, weil sie durch rigide und eher unrealistische Annahmen ausgeblendet werden. Für die dynamisch konzipierte Markt- und Wettbewerbstheorie sind dies jedoch die elementaren Fragen. Sie sieht im Wettbewerb über die Verwendung und Verteilung knapper Ressourcen das überlegene Verfahren, Wissen über alternative Verwendungsmöglichkeiten zu entdecken und über das wettbewerblich geordnete Preissystem allen Beteiligten zugänglich zu machen sowie deren Machtbestrebungen durch die freie Wahl der Markt- und Tauschpartner zu kontrollieren. Der Wettbewerb wird also in Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen als das vergleichsweise effektivste Entdeckungs-, Entmachtungs- und Kontrollverfahren im menschlichen Zusammenleben angesehen. Wenn diese Botschaft auch Kennern der wirtschaftstheoretischen Dogmengeschichte vertraut sein dürfte, so überzeugt doch die konsequente kognitions- und wissenstheoretische Begründung von M. Streit. Das gilt auch für seine Vorbehalte gegenüber der Makroökonomie keynesianischer Prägung und dem damit verbundenen Anspruch einer Steuerbarkeit der Marktprozesse in Richtung gesamtwirtschaftlicher Ziele und Ergebnisse (S. 127-156). Hervorzuheben ist das vor allem in der Jenaer Periode betriebene Forschungsprogramm, für die Theorie des Systemwettbewerbs einschließlich der herkömmlichen ökonomischen Theorie der Politik eine marktprozesstheoretische Fundierung zu liefern. Seine Argumente dafür leitet er aus der kritischen Bewertung der nach neoklassischem Muster aufgebauten marktanalogen Modellierung des politischen Wettbewerbs der Parteien in der Demokratie im allgemeinen und des Wettbewerbs der Systeme und der Standorte im besonderen ab. Der prozesstheoretisch fundierte Vergleich zwischen dem Wettbewerb auf Produktmärkten und dem Wettbewerb der Parteien und Systeme ergibt wichtige Unterschiede. Denn beim Systemwettbewerb können die politischen Akteure die institutionellen Bedingungen für eine wirksame Kontrolle ihrer Machtbefugnisse erstens selbst bestimmen und damit manipulieren. Zweitens bestehen anders als für die Nachfrager nach Individualgütern für die Wähler als den Nachfragern nach kollektiven SteuerLeistungsangeboten der Politik nur schwache Anreize zur Information und zur Kontrolle der Politikprogramme per einzelner Wahlstimme. Dadurch ergeben sich für organisierte Interessengruppen Anreize und Gelegenheiten zur Beeinflussung der Politik zugunsten partikularer Privilegien. Schließlich stehen bei der Wahl alternativer Standortangebote nicht einzelne spezifizierbare Produkte, sondern Pakete von Institutionen und sonstigen Standortfaktoren zur Disposition.

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Ungeachtet dieser Unterschiede, wird dem Wettbewerb der Jurisdiktionen um mobile Faktoren eine wichtige Entdeckungs- und Kotrollfunktion konzediert. Er bedarf jedoch wie der Marktwettbewerb eines angemessenen Ordnungsrahmens, dessen Durchsetzungschancen eher prekär sind. Deshalb sollten Ökonomen ihre Aufmerksamkeit gerade auf die Lösung dieses Ordnungsproblems richten. M. Streit hat sowohl für die Ordnung des System- als auch des Marktwettbewerbs konkrete normative Empfehlungen gegeben. Sie sind sämtlich dem hayekianischen Ideal nach abstrakten, allgemeinen, universalisierbaren und wettbewerblich offenen Regeln verpflichtet, weil sie eine unverzichtbare Vorbedingung für eine freiheitliche, leistungsgerechte und produktive Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft sind. Freilich ist er sich aufgrund seiner profunden Analyse der Politikprozesse bewusst, dass die Durchsetzung und Sicherung einer freiheitlichen Ordnung in modernen Parteiendemokratien steten Gefährdungen ausgesetzt sind und immer nur unvollkommen gelingen können. Diese Einsicht sollte jedoch nicht das stete Streben nach einer freiheitlichen Ordnung von Politik und Wirtschaft beeinträchtigen. Denn Freiheit ist nicht nur ein hoher Wert, sie hat auch einen produktiven Wert. Sie ist die elementare Vorbedingung für ein selbstverantwortliches Leben und Handeln der Menschen. Sie sichert zudem die beste Nutzung und Verwertung des individuellen Wissens zugunsten aller Mitglieder einer Gesellschaft. Bei einem kritischen Vergleich des Forschungsprogramms vo/i M. Streit mit den hochspezialisierten und formalisierten Ansätzen der Mainstream-Ökonomie erweisen sich die eingangs angeführten Vorwürfe gegen die Ordnungsökonomik und speziell gegen die Trennung von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik als belanglose Argumente. Seine in diesem Band abgedruckten Aufsätze zeichnen sich durch eine überzeugende Einheit von kognitions- und prozesstheoretisch fundierter Theorie und ordnungspolitischen Schlussfolgerungen zugunsten einer freiheitlich und wettbewerblich geordneten Gesellschaft aus. Gerade an dieser Einheit ermangelt es den vorherrschenden, mathematisch und rein empirisch ausgerichteten wirtschaftstheoretischen Ansätzen.

Literatur Fuest, Clemens (2006), Die Stellung der Ordnungspolitik in der Ökonomik, Wirtschaftsdienst 1, S. 11-17. Ritsehl, Albrecht (2009), Am Ende eines Sonderwegs. Warum die Ordnungsökonomik sich erschöpft hat, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 63, S. 12.

Thomas

Pfahler

Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie Anmerkungen zum gleichnamigen Buch, herausgegeben von Lothar Funk* Eckhard Knappe hat an der Universität Trier maßgeblich die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät mitbestimmt. Dabei hat er sich nicht nur bei den Studenten größter Beliebtheit erfreut, sondern er hat auch maßgeblich die wissenschaftliche Diskussion insbesondere in den Bereichen der Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Einkommenspolitik u n d der Gesundheitsökonomik sowie Umweltpolitik bestimmt. A n lässlich seines 65. Geburtstages haben ihm seine Schüler und wissenschaftlichen W e g * Lothar Funk (Hg.), Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie, Metropolis-Verlag, Marburg 2008, 685 Seiten.

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begleiter die Festschrift „Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie" gewidmet, die das Spektrum seiner Interessen und Tätigkeitsschwerpunkte widerspiegelt. Da Eckhard Knappe im Rahmen seiner Forschungsaktivitäten stets großen Wert auf Interdisziplinarität gelegt hat, war es ein Anliegen des Herausgebers, dass sich diese Interdisziplinarität auch in der Festschrift wiederfindet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Herausgekommen ist ein umfangreicher Sammelband mit 23 Beiträgen zu den vier Themenbereichen neuere Entwicklungen der wirtschafts- und sozialpolitisch relevanten Wirtschaftstheorie, aktuelle Herausforderungen und Chancen des Strukturwandels, Anwendungsfelder Gesundheitswesen, Renten- und Pflegereform sowie Anwendungsfelder Einkommensverteilung und Arbeitsmarkt. Alle Beiträge zeigen, welche bedeutenden und vielfältigen Fragestellungen sich hinter den Forschungsschwerpunkten von Eckhard Knappe verbergen und können als Beleg dafür angesehen werden, wie bedauerlich es eigentlich ist, dass die Ordnungspolitik in der gegenwärtigen Forschungslandschaft häufig so unterrepräsentiert ist. Leider ist es an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Beiträge der Festschrift ausführlich einzugehen. Daher sollen hier nur kurze Inhaltsangaben der einzelnen Beiträge erfolgen, um das Interesse an diesem Werk zu wecken. Ziel des ersten Beitrages von J. -Matthias Graf von der Schulenburg mit dem Titel „Sozialversicherungstheorie" ist es anzumahnen, dass die Forschungsaktivitäten zur Entwicklung eines Gebäudes der Sozialversicherungstheorie verstärkt werden, da sie zur Analyse der anstehenden Herausforderungen zur Neu- und Weiterentwicklung des sozialen Sicherungssystems gebraucht wird. Eckhard Knappe hat bislang in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk ebenfalls eine Vielzahl von wertvollen Bausteinen zu diesem Gebäude geliefert. Peter Oberender und Jürgen Zerth haben Ihren Beitrag mit „Soziale Ziele und das Rationalitätsparadigma" überschrieben. Da individuelle Akteure unterschiedliche individuelle Ziele haben, ist es die Aufgabe von Grundregeln, die marktwirtschaftlichen Austauschbeziehungen zu kanalisieren und zu ordnen. Die Wettbewerbsordnung, die als Ausdruck für die Gesamtheit der Grundregeln fungiert, hat die Aufgabe, die Interaktionsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken, und sorgt dafür, das gesellschaftlich erwünschte Ergebnisse entstehen, ohne dass die Ergebnisse ex ante planbar oder gar steuerbar wären. Gerold Blümle beschreibt mit seinem Beitrag „Die Ideen von Adam Smith und die Praxis der Sozialpolitik". Eine Sozialpolitik gegen den Markt erscheint demzufolge dem Politiker als der für die praktische Sozialpolitik erfolgreicher politisch zu vermarktende Weg. Verhängnisvollerweise bleibt mit diesem Interventionismus auch die von Eucken eingeforderte Konstanz der Wirtschaftspolitik auf der Strecke, die deren Berechenbarkeit, Beständigkeit und Zuverlässigkeit sichert und somit eine Atmosphäre des Vertrauen schafft und auf langfristige Planungen und unternehmerische Initiative nicht förderlich wirkt. Es besteht solchermaßen die Gefahr, dass in einem Wust kurzfristig angelegter Interventionen nicht nur die Unternehmer und Wähler, sondern auch die Politiker selbst den Durchblick verlieren und diesen der Mut zu einem grundsätzlichen Umdenken fehlt. Andres Freytag und Simon Renaud mit ihrem Beitrag „Aktuelle Entwicklungen der Theorie der Wirtschaftspolitik: Die Rolle des Lernens" verfolgen das Ziel, die relative Bedeutung von Lernprozessen für wirtschaftspolitische Entscheidungen zu analysieren sowie ihre Auswirkungen auf die Einführung von Regeln als Mittel gegen die negativen Effekte diskretionärer Maßnahmen aufzuzeigen. Die zentrale Aussage war, dass jegliche politische Reform das Ergebnis eines evolutorischen Prozesses mit aktivem und pathologischem Lernen ist. Für die Politik ist dieser Prozess insofern schmerzhaft, als Regelbindung einem Verlust an Einfluss gleichkommt, wie es beispielsweise in der Geldpolitik geschehen ist. Der Beitrag von Gerwin Bell und Norikazu Tawara mit dem Titel „The Size of Government and Economic Performance" kommt zu dem Ergebnis, dass die momentane Fiskalpolitik des Staates keine effiziente Verwendung öffentlicher Ressourcen darstellt.

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Der Beitrag von Werner Sesselmeier ist überschrieben mit „Sozio-ökonomischer Wandel: Ein Überblick". In Folge der neuen Arbeitsformen ist die typische Erwerbsbiographie immer weniger geradlinig sondern perforiert. Diese Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis gefährden insbesondere das lohnarbeitszentrierte soziale Sicherungssystem. Insgesamt führt der Verlust der empirischen Allgemeingültigkeit der für die soziale Marktwirtschaft konstitutiven Leitbilder zur Veralterung der sich daran orientierenden sozialen Sicherungssysteme. Diese Entwicklung macht eine Neuausrichtung der Sozialpolitik erforderlich, wobei allerdings das Problem der Pfadabhängigkeit zu beachten ist. Erfolgreiche Reformpolitik kann folglich nicht am Reißbrett entworfen werden, sondern muss sich immer an den institutionell gegebenen Ausgangspunkten orientieren. Michael Hüther beschreibt mit seinem Beitrag die „ Angebotsorientierte Umweltpolitik". Die institutionalisierte deutsche Umweltpolitik steht heute in einer 35jährigen Tradition. Seit ihren Anfängen hat sich die Umweltpolitik stark gewandelt - sowohl in den theoretischen Grundlagen und Leitbildern als auch in der gesetzgeberischen und unternehmerischen Praxis. Trotz des auf breiter Basis akzeptierten Konzepts der Nachhaltigkeit ist eine konsistente Verknüpfung von wirtschaftlichen und ökologischen Leitbildern bisher nicht hinreichend gelungen. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist mit dem Konzept der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik ein erfolgreiches Leitbild vorhanden. Die diesem Konzept zugrunde liegenden Prinzipien sollten auch auf die Umweltpolitik angewendet werden, um die Zielgruppen der Nachhaltigkeitspolitik mit einem konsistenten Ansatz verfolgen zu können. Der Beitrag von Wolfgang File „Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte: Anpassung versus Finanzierung bei globalisierten Finanzmärkten" beschäftigt sich mit Koordination und die dabei vorausgesetzte gleiche Interessenlage. Warum sollten Überschussländer, wie China, und Defizitländer, wie Spanien und die USA, zu Maßnahmen bereit sein um außenwirtschaftliche Ungleichgewichte abzubauen, die dem ökonomischen Wohlstand dieser Länder dienen? Dargelegt wurde, dass Überschussländer wie Defizitländer Vorteile erzielen, wenn sie den gegenwärtigen Zustand außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte konservieren. Gekennzeichnet wird das als Gleichgewicht außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Das ist eine Konstellation, die es bislang noch nicht gegeben hat. Wir müssen deshalb, so File, lernen, damit umzugehen. El-Shagi El-Shagi und Makram El-Shagi beschäftigen sich mit „Globalisierung und Dritte Welt". Nachteile für die Entwicklungsländer im Rahmen ihrer außenwirtschaftlichen Beziehungen ergeben sich kaum durch Liberalisierung und Öffnung dieser Länder gegenüber der Weltwirtschaft. Sie ergeben sich vielmehr durch fragwürdige Interventionen und restriktive Praktiken der Industriestaaten gegenüber Entwicklungsländern als auch durch restriktive Praktiken und fragwürdige Interventionen der Entwicklungsländer selbst. Auf der Seite der Industriestaaten ist nicht zuletzt auf die massiven Wettbewerbsverzerrungen durch die betriebene Agrarpolitik hinzuweisen, aber auch auf die Tatsache, dass Außenhandelsrestriktionen der Industriestaaten gegenüber Entwicklungsländern oft ausgeprägter sind als gegenüber anderen Industriestaaten. Und besonders problematisch ist, dass die Restriktionen stärker ausgerichtet sind auf Bereiche, für die viele Entwicklungsländer komparative Vorteile aufweisen, wie Textil-, Bekleidungs- und Stahlindustrie. Eric Owen Smith erläutert mit „Germany and the Dynamics of European Economic Integration" die Rolle der Bundesbank auf die monetäre und fiskalische Integration in Europa. Axel Plünnecke und Hans-Peter Klös erläutern „Volkswirtschaftliche Effekte des gegenwärtigen Bildungssystems". Bei den formalen Abschlüssen erreicht Deutschland innerhalb der OECD nur einen durchschnittlichen Rang. Die Akademikerquoten sind niedrig, die Kompetenzen der Schüler im Textverständnis sind als durchschnittlich zu bezeichnen. Besser schneidet Deutschland beim Bereich MINT ab. Die Kompetenzen der Schüler in den Naturwissenschaften sind überdurchschnittlich, der Anteil der Ingenieure und der Naturwissenschaftler an den Hochschulabsolventen hoch. Jedoch ist aufgrund der geringen Hochschulabsolventenquote die Zahl der MINT-Absolventen relativ zur Zahl der Beschäftigten ausgesprochen niedrig. Bei der Bildungsarmut ergibt sich ein gemischtes Bild. Zwar ist der Anteil der Risikoschüler etwa durchschnittlich hoch. Durch das duale Ausbildungssystem gelingt es aber, den Anteil der jungen

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Menschen ohne höheren Sekundarabschluss niedrig zu halten. Auch ist durch viele Nachqualifizierungsangebote der Anteil der Personen ohne Schulabschluss sehr gering. Schwach schneidet Deutschland hingegen bei der sozialen Selektivität ab. Besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten und aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten erreichen als Jugendliche nur geringe Kompetenzwerte. Der Beitrag von Volker Ulrich, Brit S. Schneider und Udo Schneider ist mit „Gesundheit, Gesundheitsverhalten und Bildung" überschrieben. Dieser Beitrag konzentriert sich deshalb stärker auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen Bildung, Gesundheit und Gesundheitsverhalten. Stark diskutiert wird in der Literatur der Einfluss der Bildung auf die Gesundheit. Auch unsere empirischen Untersuchungen für Deutschland zeigen, dass Bildung das gesundheitsrelevante Verhalten fordert. Zudem zeigt sich, dass Erwerbstätigkeit und Einkommen wichtige Determinanten des gesunden Verhaltens sind. Bislang weniger thematisiert und empirisch auch schwieriger zu überprüfen ist hingegen der Einfluss der Gesundheit auf die Bildung. Theoretisch implizieren Investitionen in die Gesundheit, beispielsweise von Kindern, langfristige Bildungseffekte. Da Bildung einen treibenden Wachstumsmotor darstellt, sind Investitionen in die Gesundheit zudem als Investitionen in die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aufzufassen. Im Unterschied zum Einfluss der Gesundheit auf das Wachstum ist der Einfluss der Bildung aufgrund der theoretisch unbegrenzten Verfügbarkeit von Wissen zudem dauerhaft. Günter Neubauer und Andreas Beivers stellen die „Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft als Kompass zur Neuordnung der Gesundheitsversorgung in Deutschland: Das Beispiel der vertragsärztlichen Versorgung" dar. Eine Neuordnung der Gesundheitsversorgung muss von der Leitidee einer Wettbewerbsordnung in allen Subsystemen getragen werden, da es sonst zu Inkonsistenzen kommt. Vor allen Dingen kann und darf die Versicherungsseite nicht losgelöst von dem Vertragsbereich und dem Leistungsmarkt betrachtet werden. Dazu sind die Bereiche zu sehr verflochten. Um eine effiziente Preissteuerung zu etablieren, sind die dafür notwendigen Konstituierenden Prinzipien (Privateigentum, Vertragsfreiheit und Gesetzliche Wettbewerbsregeln) weitest möglich umzusetzen. Wer ein Wettbewerbsmodell ohne Konstituierende Prinzipien etablieren will, endet sehr schnell in einer administrativen Preissetzung und regulierten Angebotssteuerung. Stephan Burger, Hans-Joachim Jobelius und Beate Männel analysieren die Frage „Wachstumsmarkt Gesundheit - Hoffnungsträger oder Schreckgespenst?" Das Gesundheitswesen hat demnach unbestreitbar das Potential zu einem exzellenten Wachstumsmarkt. Die Gründe hierfür sind vielfaltig und liegen vor allem im medizinisch-technischen Fortschritt; sie werden in den nächsten Jahren stärker als heute in einer demographisch bedingten Altersstrukturverschiebung und einer relativen Zunahme chronischer Krankheiten begründet sein. Selbst bei wirtschaftlichem Mitteleinsatz werden diese Faktoren auch in Zukunft zu steigenden Gesundheitsausgaben führen. Gelingt es zudem, die Koppelung der Finanzierung an den Arbeitseinsatz abzulösen, steht der Ausschöpfung der Potentiale für Wachstum und Beschäftigung kaum etwas im Wege. Dieter Cassel und Katrin Nihalani analysieren die „Präferenzgerechte Versorgungsangebote zur Kundenbindung im Kassenwettbewerb". Die Ergebnisse der Conjoint-Analyse zeigen, dass die Qualität der Ärzte und Krankenhäuser, mit denen eine Krankenkasse Versorgungsverträge hat, sowie die Höhe des monatlichen Prämienaufschlages im Vergleich zur Prämiengestaltung und der Anzahl der unter Vertrag genommenen Ärzte und Krankenhäuser für die Höhe des Gesamtnutzens des Leistungsangebotes einer gesetzlichen Krankenversicherung besonders wichtig sind. Dies ist überraschend, denn man hätte vermuten können, dass die Prämie bei einem sehr jungen und gesunden Kundensegment von viel höherer Wichtigkeit als die Qualität der unter Vertrag genommenen Versorger ist. Sicher erscheint, dass unterschiedliche Kundensegmente unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich eines „optimalen Krankenversicherungsangebotes" haben. Bei einem älteren und morbideren Versicherungssegment ist es plausibel anzunehmen, dass die Qualitätsaspekte noch weitaus wichtiger sind, als bei einem jungen und gesunden Kundensegment. Die Ergebnisse der conjointanalytischen Untersuchung sind auch insofern erstaunlich, als dass die Anzahl der unter Vertrag genommenen Ärzte und Krankenhäuser in Wohn- und Arbeitsortnähe eines Versicherten für das untersuchte Kun-

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densegment von sehr geringer relativer Wichtigkeit ist, denn im Vergleich zu den anderen drei Eigenschaften hat diese Eigenschaft das geringste Präferenzänderungspotential. Ulrich Roppel wendet „Zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung" ein, dass die erforderliche Zahl von Arbeitsplätzen für ältere Arbeitnehmer nicht angeboten werde und eine Verlängerung der Erwerbsphase daher gar nicht möglich sei. Folglich entspräche eine Erhöhung des Renteneintrittsalters letztlich einer „verkappten Rentenkürzung". Oder es käme zu einem Verdrängungseffekt zu Lasten jüngerer Arbeitnehmer; und zwar dann, wenn ältere Arbeitnehmer ihre Erwerbsarbeit fortsetzen würden. In diesem Fall käme es zwar nicht zu einer verkappten Rentenkürzung, es würde jedoch die Arbeitslosigkeit jüngerer Arbeitnehmer zunehmen. Diese Einwände, so Roppel, überzeugen nicht. Die Befürchtung fehlender Beschäftigungsperspektiven für das mit einer Anhebung der Regelaltersgrenze einhergehende Arbeitsangebot setzt implizit voraus, dass die Arbeitsnachfrage - vor allem nach älteren Arbeitskräften - eine exogene Größe ist. Diese Annahme ist aber weder theoretisch noch empirisch belastbar. Eberhard Wille und Christian Igel stellen die Frage: „ Pflegereform: Vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren?". Für die Ausgestaltung des Kapitaldeckungselementes im Rahmen des Reformvorschlages bieten sich mehrere Möglichkeiten an, wobei ein kohortenspezifisches Ansparen nach dem Vorbild der PKV für jede Neugründung einer Pflichtversicherung die wohl beste Variante darstellt. Im Rahmen der Erweiterung der bestehenden, umlagefinanzierten SPV um einen kapitalgedeckten Teil empfiehlt sich die Bildung eines kollektiven Kapitalstockes. Diese Form des Ansparens ermöglicht die Kalkulation einer einheitlichen Pauschale für alle Beitragszahler. Die einheitliche und altersunabhängige Pauschale schließt dann auch in der zweiten Säule eine Umverteilung von jung zu alt ein. Im Vergleich zur individuell kalkulierten Pauschale zahlen junge Versicherte eine höhere Prämie, ältere Versicherte eine niedrigere, die Bildung des Kapitalstockes unterliegt so auch einer Umlage. Das Gesamtvolumen des Kapitalstockes muss bis zu einem vorgesehenen Endzeitpunkt ein Ansparvolumen erreichen, das in der Summe über alle Versicherten dem eines individuell kalkulierten Kapitalstockes entspricht. Michael Grömling erläutert „Die wirtschaftspolitische Problematik der Lohnquote". Die Lohnquote ist kein geeignetes Maß zur Bewertung der Verteilungssituation in einer Volkswirtschaft. Damit ist sie auch nur mit Einschränkungen als wirtschaftspolitische Orientierungsgröße geeignet. Für verteilungs- und wirtschaftspolitische Analysen ist vielmehr die personelle Einkommensverteilung heranzuziehen. Dabei werden die Einkommenspositionen der einzelnen Individuen oder Haushalte vor und nach allen Umverteilungsmaßnahmen durch Steuer und Transfers sichtbar. Die Lohnquote beschreibt eine Verteilungssituation, die mehr oder weniger einem überalterten Denken in den Kategorien Arbeit auf der einen Seite und Kapital auf der anderen Seite entspricht. Dabei werden zum einen der volkswirtschaftliche Produktionsprozess und die damit einhergehenden Einkommen auf zwei Produktionsfaktoren reduziert. Dies entspricht nicht mehr den theoretischen Erkenntnissen über Wachstumsprozesse in modernen Volkswirtschaften. Zum anderen bezieht sich der Arbeitsbegriff, der sich in der Lohnquote niederschlägt, nur auf die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer. Damit wird die wirtschaftspolitische Aussagekraft insofern eingeschränkt, weil die Lohnquote infolge einer wachsenden Querverteilung - private Haushalte erzielen in wachsendem Ausmaß Vermögenseinkommen - und veränderter Erwerbsformen - Selbstständigkeit und Individualisierung - nicht die Einkommensposition des „Produktionsfaktors Arbeit" beschreibt. Bernhard Külp macht „Kritische Anmerkungen zu einigen lohnpolitischen Konzepten" und erklärt, Markteingriffe zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur die erwünschten verteilungspolitischen Ziele berühren, sondern fast immer die Allokation der Ressourcen durch eine Verfälschung der Preise als Knappheitsindikatoren beeinträchtigen. Sie verringern damit die materielle Wohlfahrt und mit ihr die Möglichkeit, überhaupt verteilungspolitisch tätig zu werden. Darüber hinaus lässt nur eine Verteilungspolitik, die zentral ausgeübt wird und nicht bei den einzelnen Verwendungsarten der Ressourcen ansetzt, eine an allgemeinen für alle Individuen gültigen Kriterien orientierte Umverteilung zu. Legt man diese Erkenntnisse zugrunde, dürfte der Vorschlag einer negativen Einkommenssteuer noch am ehesten eine weitgehend allokationsneutrale Lösung herbeifuhren. Wer

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nach diesem Vorschlag kein Einkommen erreicht, das einer politisch gesetzten Mindesthöhe entspricht, erhält vom Staat eine Transferzahlung anstelle der Steuerzahlungen, die bei einem Einkommen deutlich über dem Existenzminimum anfallt. Auf diesem Wege ist sichergestellt, dass jeder Bürger ein Einkommen erhält, das mindestens dem Existenzminimum entspricht. Einflüsse auf das Verhalten am Arbeitsmarkt sind in geringerem Maße zu erwarten als bei lohnpolitischen Maßnahmen, da diese Beträge unabhängig vom Marktpartner gewährt werden. Werner Eichhorst erläutert „Kombilöhne und Mindestlöhne als Instrumente der Beschäftigungspolitik - Erfahrungen und Handlungsoptionen". Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Politik darauf verzichten sollte, einen zu hohen gesetzlichen Mindestlohn bzw. untere tarifliche Lohngruppen per Allgemeinverbindlichkeit festzuschreiben. Vertretbar wäre allenfalls ein sehr moderater gesetzlicher Mindestlohn. Bei Kombilöhnen spricht vieles für eine Begrenzung der derzeit vorhandenen Möglichkeiten einer unbefristeten Kombination von Transferbezug und Erwerbseinkommen aus Teilzeittätigkeit. Keinesfalls sollten großzügigere Kombilöhne zusätzlich eingeführt werden. Vielmehr wäre im Zuge einer konsequent aktivierenden Arbeitsmarktpolitik für dauerhafte und vollständigere Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt zu sorgen. Hagen Lesch beschäftigt sich mit „Tarifrechtsökonomik". Arbeitsmärkte unterliegen eigenen Mechanismen, die anders wirken als die auf Güter- oder Kapitalmärkten. Bei freier Preisbildung kann Marktversagen auftreten. Allerdings kann die „Kartellierung" des Arbeitsmarktes durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ebenfalls zu ineffizienten Zuständen führen, wie die hohe Zahl an Arbeitslosen beweist. Wenn schon keine erstbeste Lösung erreichbar scheint, sollten die Rahmenbedingungen zumindest so gestaltet werden, dass es zumindest zu einer zweitbesten Lösung kommt: Die tarifpolitischen Akteure müssen einer Kontrolle unterworfen werden. Diese übernimmt aber nicht allein der Staat, sondern vor allem die Tarifaußenseiter. Der Außenseiterwettbewerb nimmt dem Arbeitsmarkt ein stückweit seine Kartellstruktur. Dem Staat fällt die Aufgabe zu, den Außenseiterwettbewerb zu schützen. Dazu bedarf es auch Anpassungen im Tarifrecht: Beim Günstigkeitsvergleich ist der Beschäftigungsaspekt zu berücksichtigen, um betriebliche Bündnisse für Arbeit rechtlich abzusichern. Auf Allgemeinverbindlicherklärungen ist ebenso wie auf eine Ausweitung des AentG möglichst zu verzichten, weil sie Außenseiterwettbewerb von vorneherein unterbindet. Das Problem von „Arbeit in Armut" lässt sich über ein zielgerichtetes Kombilohnmodell lösen. Heinz-Dieter Hardes erläutert mit ,,'Flexicurity' als beschäftigungspolitische Strategie in der Europäischen Union" eine Möglichkeit, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes auf europäischer Ebene zu verbessern. Die EU-Kommission hat im Rahmen der EBS ein Rahmenprogramm von verschiedenen Flexicurity-Maßnahmen zur Entwicklung einer koordinierten beschäftigungspolitischen Agenda nach der Methode der handlungsoffenen Koordinierung angeregt. Die vorliegenden alternativen Optionen von Flexicurity-Pfaden basieren auf typisierten Fallbeispielen, weil die nationalen Beschäftigungssysteme der EU-Länder verschiedene Institutionen hinsichtlich relevanter makroökonomischer Dimensionen des Flexicurity-Konzepts aufweisen. Diese allgemeine Vorgehensweise entspricht der Erkenntnis, dass ein internationaler Transfer von Benchmark-Beispielen einzelner EU-Länder wegen der nationalen Bedingtheiten ausscheidet. Die Typisierung von regionalen Beschäftigungssystemen bildet insofern einen konzeptionellen Fortschritt, da hiermit alternative Ansatzpunkte von Flexicurity-Pfaden aufgezeigt werden. Lothar Funk analysiert mit Hilfe von „Observations on European Flexicurity Policies" und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass mit Hilfe von Flexicurity-Maßnahmen ein Aufbrechen der verkrusteten Arbeitsmarktordnungsstrukturen in Europa gelingt. Aus den dargestellten Beiträgen wird sichtbar, wie vielfältig die Bereiche sind die Gegenstand ordnungsökonomischer Analysen sein können. Besonders gefällt, dass hier sowohl theoretische als auch praktische Aspekte der Ordnungspolitik in den vier genannten Themenfeldern beleuchtet werden. Darüber hinaus sei dieses Buch all denjenigen zur Lektüre empfohlen, die bei Existenz unvollständiger Informationen stets staatliche Interventionen in den Wirtschaftsprozess fordern, obwohl diese nicht immer zwangsläufig erforderlich sind.

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Benedikt Römmelt

Internetökonomie - Ein interdisziplinärer Beitrag zur Erklärung und Gestaltung hybrider Systeme Besprechung des von Heinz Lothar Grob und Jan vom Brocke herausgegebenen gleichnamigen Bandes* Das Internet ist wohl eine der bedeutendsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts, welche in kürzester Zeit das Kommunikationsverhalten ganzer Generationen veränderte. Als das Internet 1969 aus dem militärischen Forschungsprojekt ARPA in den USA entstand, konnte noch keiner ahnen, dass das Internet mit seinem Durchbruch seit Anfang der 1990er Jahre innerhalb von zehn Jahren gar gesellschaftliche Prozesse beeinflussen würde. Das Kommunikations- und Informationsverhalten in der heutigen Gesellschaft wird von E-Mail, Google und Co. mitbestimmt. Sogar die Ergebnisse der Bundespräsidentenwahl werden mittlerweile vorab auf Twitter verkündet. Die Entwicklung des Internets hatte neben gesellschaftlichen auch ökonomische Auswirkungen. So akzelerierte sich nicht nur die geschäftliche Kommunikation, sondern es entstanden auch neue Geschäftsmodelle, Branchen und Anwendungen (z.B. E-commerce oder Online Banking). Das einem Phänomen wie dem Internet, das mit seinen Anwendungsmöglichkeiten die nicht nur E-Mail, World-Wide-Web, Datenübertragungsdienste, IP-Telefonie und IP-TV umfassen, sich auch die wirtschaftswissenschaftliche Forschung widmet, ist nicht verwunderlich. Das European Research Center for Information Systems der Universität Münster ist ein Forschungscluster, der sich den Themen Internetökonomie und Hybridität widmet. In dem von Heinz Lothar Grob und Jan vom Brocke im Jahr 2006 herausgegebenen Band „Internetökonomie" behandelt eine Vielzahl von Autoren interdisziplinär das Problemfeld Internet und Hybridität. Die Beiträge sind drei Themenfeldern zugeordnet und beschäftigen sich mit Marketing und Finanzierung, Politik und Regulierung sowie Informations- und Wissensmanagementsysteme. Im einleitenden Beitrag (S. 1-20) stecken Grob und vom Brocke den Rahmen des Sammelbandes ab. Nach einer Analyse der Marktphasen, die das Internet bisher durchlaufen hat, definieren die beiden Herausgeber die wichtigen Begriffe. So verstehen sie unter Internetökonomie „eine Ökonomie der Integration internet- und nicht-internetbasierter Phänomene". Dem Untertitel des Werkes, einen „Beitrag zur Erklärung und Gestaltung Hybrider Systeme" zu leisten, folgend, gehen Grob und vom Brocke auf die Besonderheiten hybrider Systeme ein. Hierbei verstehen sie unter Hybridität die „integrierte Behandlung verschiedenartiger Bereiche". Weiterhin stellen sie die drei oben genannten Themenblöcke, unter die sich die einzelnen Beiträge einordnen, vor. Der erste Themenblock ist internetökonomischen Problemfeldern in Marketing und Finanzierung gewidmet und beinhaltet ebenso wie die beiden anderen Themenblöcke vier Beiträge. Der erste Beitrag von Evanschitzky und Ahlert (S. 25-43) untersucht den hybriden Konsumenten in Form einer Metastudie sowie einer empirischen Untersuchung. Die Autoren bieten eine Übersicht aller relevanten Studien zu traditionellen Kundentypologien sowie zu Typen von Internetshoppern. Des Weiteren erarbeiten sie auf Grundlage einer quantitativen Erhebung sechs Typologien hybrider Konsumenten auf Basis von neun Einkaufmotiven. In einer Diskussion dieser Ergebnisse kommen Evanschitzky und Ahlert zum Ergebnis, dass das neue Phänomen der Konsumentenhybridität in der Internetökonomie eine zentrale Herausforderung für das Marketingmanagement darstellt. Backhaus und Säbel (S.45-70) untersuchen Aspekte der Markenführung von reinen Onlinemarken (z.B. Yahoo!, Amazon.de), hybriden (Konvergenz-)Marken, die sowohl online als auch * Heinz Grob und Jan vom Brocke (Hg.), Internetökonomie - ein interdisziplinärer Beitrag zur Erklärung und Gestaltung hybrider Systeme, München 2006.

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offline existieren (z.B. Quelle, Sixt), sowie klassischen Offlinemarken {BMW, Nivea). Zur Differenzierung zwischen diesen drei Typen nutzten die Autoren das Kriterium „Ort des Kaufs". Marken haben die Funktion, Informationen effizient zu signalisieren, das Risiko beim Kauf zu mindern und einen ideellen Nutzen zu schaffen. Diese Funktionen werden von allen drei oben genannten Markentypen erfüllt. Bei Onlinekäufen hilft eine Marke zusätzlich als Surrogat für fehlende greifbare Eindrücke zur Steigerung der Information. Darüber hinaus senken etablierte Marken das Risiko. Bei bekannten Händlern wie Amazon.de senkt die etablierte Marke das Fulfillmentrisiko (Auslieferung der Ware) oder das Datenmissbrauchsrisiko. Lediglich der ideelle Nutzen scheint bei Onlinemarken stärker in den Hintergrund zu treten. So gibt die Marke des Internetproviders (AOL, l&l, etc.) dem Kunden keinen Beitrag zur Selbstverwirklichung oder zur Selbstdarstellung. Backhaus und Säbel arbeiten weiterhin heraus, mit welchen Maßnahmen bei Online- und Hybridmarken die Informationseffizienz- und Risikoreduktionsfunktion einer Marke genutzt werden kann. Im anschließenden Beitrag (S. 71-93) gehen Gerg, Doge und Pfingsten auf die Besonderheiten des hybriden Kreditgeschäfts ein und analysieren die Chancen und Risiken dieses Geschäftsbereichs von Banken. Nachdem die Autoren die Grundlagen des Internetbankings gelegt und eine Übersicht über die Anbietergruppen und Nachfragerstruktur gegeben haben, untersuchen sie unterschiedliche Formen des Kreditgeschäfts auf ihre Eignung für den Internetvertrieb. Hierbei wenden sie Ansätze der neuen Institutionenökonomik, insbesondere die PrincipleAgent-Theorie im Rahmen der Kreditvergabe sowie die Transaktionskostentheorie zur Erklärung der Kosteneffekte bei online ablaufenden Prozessen, an. Zum Ende ihres Aufsatzes geben die Autoren einen Ausblick auf eine kommende empirische Untersuchung zur Überprüfung der erarbeiteten Thesen. Inwieweit bei Börsengängen Internetplattformen die Funktion traditioneller Investmentbanken übernehmen können, ist Thema des Beitrags von Trauten und Langer (S. 95-126). Neben Theorien der Emissionsintermediation und klassischer Emissionsverfahren (Festpreisverfahren und Bookbuilding) sowie einer Diskussion über Emissionskosten und Ansätze zur Lösung von Informationsasymmetrien wird die Möglichkeit der Aktienemission über Internetplattformen, insbesondere in Form preisorientierter Auktionen, analysiert. Am Beispiel des Börsengangs von Google wird untersucht, ob Auktionsverfahren zur Emission besser sind als BookbuildingVerfahren. Diese Frage lässt sich jedoch nicht eindeutig beantworten, da eine empirische Überprüfung auf Grund des Mangels an vergleichbaren Daten schwierig ist. Als Möglichkeit zur Lösung dieser Problematik sehen die Autoren den Einsatz von Laborexperimenten zur Simulation von Börsengängen. Der zweite Themenblock, der in diesem Sammelband abgehandelt wird, steht unter dem Schlagwort „Politik und Regulierung". Im ersten dieser Beiträge analysieren Aufderheide, Lindner und Zimmerlich (S. 131-156) Wettbewerbseinschränkungen sowie die Hybridtät bei Essential-Facilities. Zu Beginn dieses Aufsatzes steht eine Übersicht über die Grundlagen und die Anwendung der Essential-Facilities-Doktrin, die wettbewerbsrechtliche Einschränkungen für marktstarke Unternehmen untersucht. Solche Unternehmen müssen über eine wesentliche Einrichtung bzw. Technologie verfügen, die für den Wettbewerb auf nachgelagerten Märkten unverzichtbar ist. Anschließend analysieren die Autoren anhand eines Drei-Ebenen-Modells der Internetökonomie das Vorhandensein von Essential-Facilities sowie insbesondere die Marktzutrittsbarrieren, die, sofern sie unüberwindbar sind, eine Grundvoraussetzung für die Anwendung der Essential-Facilites-Doktrin sind. Am Beispiel des Internetauktionshauses e-Bay wird gezeigt, dass hier zumindest mittelfristig keine Essential-Facility vorliegt. Inwieweit das Internet Einfluss auf die kollektive Willensbildung nehmen kann, inwiefern die Funktionen des Internet die (politischen) Beteiligungschancen der Bürger erhöhen und ob das Internet eine Entwicklung zu mehr direkter Demokratie ermöglicht, sind die Fragen, die sich Becker und Hartwig in ihrem Aufsatz stellen (S. 159-179). Nach einer kurzen Einführung in die Theorien der kollektiven Willensbildung werden die beiden Extreme der Entscheidungsfindung Plebiszit (Athener Polis) und der (wohlmeinenden) Diktatur sowie den realen Hybridformen

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vorgestellt. Anschließend untersuchen die Autoren die Auswirkungen des Internets auf die kollektive Entscheidungsfindung am Beispiel der Akzeptanz von Internetwahlen. Sie kommen zum Ergebnis, dass zumindest in naher Zukunft das Internet die klassischen Medien im politischen kollektiven Willensbildungsprozess nicht ersetzten wird. Jedoch als Ergänzung zu bewährten Formen der Politkommunikation räumen sie dem Medium Internet Chancen ein. „Gesetze wollen allgemein gültige, hinreichend bestimmte Verhaltensmaßregeln für eine unbestimmte Zahl von Einzelfällen aufstellen" (Bröcher und Hoeren, S. 198). Somit sind Gesetzte selbst hybride Systeme. Die Besonderheiten des Markenrechts und dessen Anwendung auf internetbedingte Problemfelder untersuchen Bröcher und Hoeren in ihrem Beitrag (S. 191-200). Nach einer Besprechung hybrider Aspekte des Markengesetztes wenden die Autoren diese Erkenntnisse auf ausgewählte Felder an. So diskutieren sie das Territorialitätsprinzip und dessen Anwendung in einem globalen Medium, untersuchen die Auswirkungen des Markengesetzes bei fehlendem körperlichen Produktbezugs in einer virtuellen Welt, erforschen Probleme bei der Eintragung von gleichnamigen Marken unterschiedlicher Branchen bezüglich der Sperrwirkung von Domains und setzen sich mit dem Prioritätsprinzip bei der Domainvergabe auseinander. Trotz dieser markenrechtlichen Besonderheiten im Internet sehen die Autoren aber keine Notwendigkeit eines eigenen Internetrechts, sondern eine Integration der Intemetsachverhalte in das bestehende Kennzeichnungsrecht. Holznagel und Jungfleisch behandeln in ihrem Beitrag (S. 201-223) das Thema „Co-Regulierung als hybrides System im Mediennutzerschutz", in dem sie zunächst die Bereiche und Ziele des Mediennutzerschutzes besprechen. Anschließend stellen sie die Steuerungsmodelle Regulierung, Selbstregulierung und die hybride (Misch-)Form Co-Regulierung vor und diskutieren die Vor- und Nachteile der einzelnen Modelle. Am Beispiel des Jugendschutzes wird die Co-Regulierung näher untersucht. Die Autoren kommen zum Ergebnis, dass in Europa eine Tendenz zur Co-Regulierung zu beobachten ist, wobei diese Art der Regulierung durchaus problembehaftet ist. Der dritte Themenblock behandelt „Informations- und Wissensmanagementsysteme". Im ersten Artikel dieses Blocks (S. 227-248) untersuchen Becker, Brelage, Falk und Thygs die fachkonzeptionelle Modellierung hybrider Informationssysteme. Unter Berücksichtigung der konstatierenden Eigenschaften hybrider Systeme (Heterogenität, Konkurrenz und Koexistenz) besprechen sie Informationssysteme. Nachdem die Autoren Grundlagen zur Konstruktion von konzeptionellen Modellierungsmethoden gelegt haben, beschäftigen sie sich mit Begrifflichkeiten, die für die Modellierung von Informationssystemen nötig sind, und zeigen die Modellierung eines Informationssystems am Beispiel eines Softwaredienstleisters. Riemer, Müler-Lankenau und Klein klassifizieren in ihrem Beitrag (S. 249-277) Methoden der Web-Evaluation und wenden diese zum Internet-Qualitätsmanagement an. Nach der Erarbeitung der Dimensionen der Web-Evaluation sowie den Anlässen solcher, stellen sie ein komplexes E-Commerce-Qualitätsmodell auf. Hierbei steht der Interaktionsprozess des Kunden mit dem Unternehmen im Mittelpunkt, wobei auch die Potentialqualitäten von Kunde und Unternehmen berücksichtigt werden. Die Autoren geben auf diesem Modell aufbauend eine Übersicht über die Methoden von Web-Evaluationen und zeigen beispielhaft die Anwendung eines WebEvaluationsproj ekts. Eine Anforderungsanalyse zur Softwareevaluation stellen Holling, Kuhn und Freund (S. 279-294) vor. Auf Basis einer Studie mit einem hybriden Design, sie basiert auf Experteninterviews und einer Fragebogenstudie, zeigen die Verfasser, wie Anforderungen für Wissensmanagementsoftware erhoben werden können. Im abschließenden Beitrag stellen Grob, vom Broke, Altfeld und Hermanns (S. 295-317) eine Konzeption zur Entwicklung von internetbasierten Wissensmanagementsystemen (WMS) vor. Nach der Erläuterung der allgemeinen Funktionen von WMS diskutieren die Autoren die Potentiale von WMS mit hybriden Eigenschaften. An einem praktischen Beispiel (HERBIE) zeigen die Autoren, wie sich ein solches WMS realisieren lässt und sich bereits existierende Systeme

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integrieren lassen. Für besonders wirtschaftlich erachten die Autoren den Einsatz eines solchen WMS in der Wissenschaft. Einen wahrlich bunten Strauß von Aufsätzen, die einen weiten, multiperspektivischen und thematischen Überblick über die ökonomischen Auswirkungen des Internets mit vielen seiner unterschiedlichen Facetten geben, findet der Leser im vorliegenden Werk wieder. In diesem werden hierbei vor allem informationsökonomische Modelle respektive Modelle der neuen Institutionenökonomie zur Erklärung der Besonderheiten des Internets für zielführend erachtet. Insbesondere die transaktionskostensenkenden Möglichkeiten des Internets werden als Besonderheit der reinen Online- und der hybriden Geschäftsmodelle diskutiert. Sicherlich kann man von einem Sammelband nicht erwarten, dass mit diesem ein Thema ausschöpfend behandelt wird, zumal alle Aufsätze Bezug zur „Hybridität" nehmen. Das Gesamtwerk „Internetökonomie" gibt auf jeden Fall einen sehr guten Einstieg in die unterschiedlichen Thematiken und Themenfelder. Die Aufsätze, die oft zumindest im Ansatz Metastudiencharakter aufweisen, zeichnen sich durch eine intensive Aufarbeitung der relevanten Literatur aus. Obwohl sich das im Jahr 2006 erschienene Werk mit Problemen in einem sich extrem schnell entwickelnden Markt beschäftigt, sind die Einzelbeiträge auch heute noch zutreffend und die zu Grunde liegenden Theorien aktuell.

Andreas

Schmid

Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Doris Weissberger* Rationierung im Gesundheitswesen - kaum ein Themenkomplex birgt soviel Sprengstoff, wenn es um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geht, wie dieser. Dabei ist die Tragweite der Problematik einem Großteil der Bevölkerung wahrscheinlich noch überhaupt nicht bewusst, zumal führende Gesundheitspolitiker nach wie vor - wohl aus politischem Kalkül - die Existenz jeglicher Rationierung im deutschen Gesundheitswesen abstreiten. In der wissenschaftlichen Debatte wird häufig versucht, durch die Verwendung von weniger harten Begriffen - wie z.B. Priorisierung - eine schwer kontrollierbare Emotionalisierung dieser Fragestellung diplomatisch zu umgehen. Jedoch verhindert dies leider all zu oft eine offene und dezidierte Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Knappheitsproblem - die Gelegenheit, Lösungsstrategien zu erarbeiten und einen öffentlichen Diskurs anzuregen, wird verpasst. Umso erfreulicher ist es, dass Weissberger in ihrer Dissertationsschrift „Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands" sachlich und nüchtern das zugrundeliegende ökonomische Problem benennt und mit klaren Definitionen den von ihr verwendeten Begriff der Rationierung umreißt. Ziel ihrer Arbeit ist es nicht nur, einen Beitrag zur allgemeinen Rationierungsdiskussion zu leisten, sondern auch, dem Status quo überlegene Rationierungsstrategien für die GKV aufzuzeigen. Im Zentrum ihrer Definition des Begriffs Rationierung stehen die Präferenzen des medizinisch fachkundigen Patienten. Werden ihm im Rahmen einer Pflichtversicherung Leistungen vorenthalten, von denen er sich einen positiven Grenznutzen verspricht, kommt es zur Rationierung. Dies gilt somit auch, wenn die Kosten einer bestimmten Behandlung den Nutzen übersteigen. Handelt es sich bei den Leistungen um Behandlungsalternativen, die nicht effektiv sind oder bei gleichem Nutzen höhere Kosten bzw. bei gleichen Kosten einen niedrigeren Nutzen

* Doris Weissberger, Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands, PCOVerlag, Bayreuth 2009.

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aufweisen, handelt es sich jedoch nicht um Rationierung, sondern um Rationalisierung. Es sei nochmals betont, dass hierbei das subjektive Nutzenempfinden des Patienten als Maßstab herangezogen wird, der jede Begrenzung, die ein Erreichen der Sättigungsmenge verhindert, als Rationierung empfindet. Somit stellt auch jeder Preismechanismus eine (wenn auch relativ gesehen weichere) Form der Rationierung dar. Nach einem kurzen Abriss über die typischen Formen, in welchen Rationierung zu Tage treten kann, widmet sich die Autorin zunächst den Charakteristika einer Pflichtversicherung. Neben allokativen und distributiven Aspekten wird auch die politische Motivation skizziert, die ein derartiges staatliches Eingreifen begründen kann. Eine Abwägung von harter Rationierung (ein Zukauf von Leistungen außerhalb der Pflichtversicherung ist nicht gestattet) und weicher Rationierung (ein Zukauf von Leistungen ist gestattet) fuhrt zu einer klaren Präferenz für ein weiches Vorgehen. Auch wenn vordergründig das Argument, dass alleine ein Mehr an finanziellen Ressourcen nicht dazu führen dürfe, sich ein längeres Leben „kaufen" zu können, dem spontanen Gerechtigkeitsempfinden vieler entspricht, zeigt eine genaue Betrachtung, dass eine harte Rationierung nicht nur in der Praxis nicht umsetzbar ist, sondern zudem weitere, weitaus größere Ungerechtigkeiten mit sich bringt. Deutlich komplexer stellt sich die Gegenüberstellung expliziter und impliziter Rationierung dar, eine Aufgabe, welcher die Autorin knapp ein Viertel des Gesamtumfangs widmet. Explizite Rationierung ist hierbei durch eine klare Regelbindung auf der Makroebene gekennzeichnet. Transparente Regeln legen fest, wem welche Leistungen zur Verfügung stehen. Implizite Rationierung hingegen führt zu einer Verlagerung der Rationierungsentscheidung auf die Mikroebene. Auf Makroebene werden lediglich Budgets festgelegt. Eingehend auf die multiple Agentenrolle des Arztes und unter Berücksichtigung verschiedener Gerechtigkeitsaspekte sowie Effizienzüberlegungen wird schließlich gefolgert, dass eine transparent umgesetzte, explizite Rationierung die klar überlegene Variante darstellt. Hierbei benennt die Autorin auch die verschiedenen Probleme, die eine Strategie expliziter Rationierung mit sich bringt: Nicht nur die Festlegung eines Leistungskatalogs, sondern auch die Frage der geographischen und zeitlichen Verfügbarkeit von Kapazitäten sind keineswegs trivial zu lösen. Ferner bestehen nach wie vor schwere Vorbehalte, was die gesellschaftliche und politische Akzeptanz expliziter Rationierung betrifft. Basierend auf diesen Erkenntnissen soll die Arbeit im Weiteren „(...) einen Weg zur Umsetzung einer expliziten Rationierungsstrategie in der GKV" aufzeigen (S. 99). Hierbei wird der Fokus auf die Festlegung eines Leistungskatalogs gelegt. Zunächst werden detailliert verschiedene Rationierungskriterien mit Hinweis auf die ihnen zugrundeliegenden normativen Grundsätze abgearbeitet. Zumutbarkeit, Verhalten des Versicherten und die Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens gehören ebenso zu diesem Katalog wie Gleichheit und Lebensalter. Dabei fallt auf, dass im Bereich der Nutzenbewertung verschiedenste Methoden und Ansätze gesundheitsökonomischer Evaluation angesprochen werden, die gerade in Deutschland derzeit aber an Relevanz gewinnende Analyse von Effizienzgrenzen jedoch nicht berücksichtigt wird. Auch einige Erläuterungen zum zwar kurz erwähnten, aber nicht weiter ausgeführten Health Technology Assessment hätten das Bild hier abgerundet. Zuletzt werden nochmals knapp die beiden Varianten einer Abgrenzung des Leistungskatalogs abschließende Definition der Leistungen oder Rationierung durch Selbstbeteiligungen - gegenübergestellt. Hierbei wird auch auf den Sonderfall natürlich begrenzter Kapazitäten, z.B. bei Organen, verwiesen. Recht knapp wird im Folgenden die gängige Rationierungspraxis in der GKV abgehandelt, wobei die Definition des Leistungskatalogs im ambulanten und stationären Sektor mit ihren jeweiligen rechtlichen Grundlagen sowie die implizite Rationierung durch Budgets in den einzelnen Sektoren im Zentrum stehen. Die starke Dominanz impliziter Rationierung wird durch eine Einordnung in den interessenspolitischen Kontext verständlich gemacht: Viele der zentralen Akteure im Gesundheitswesen können sich mit dem Status quo (noch!?) relativ gut arrangieren und befürchten durch höhere Transparenz eine Verschlechterung ihrer Position. Hierauf aufbauend widmet sich die Autorin der „Umsetzung expliziter Rationierung in der GKV" (S. 169 ff.). Sie konstatiert, dass im derzeitigen System sowohl die Definition des Leis-

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tungskatalogs als auch die entsprechende Umsetzung desselbigen auf Mikroebene kaum zu leisten sind. Erstere scheitert bereits an der exakten Kapazitätsermittlung und -planung. Ausgehend vom einnahmeseitig definierten Budget der GKV müssten über Budget Impact Analysen im planwirtschaftlichen Stil beständige Anpassungen am Leistungskatalog vorgenommen werden. Dabei wird vermutet, dass Knappheit häufig nicht offengelegt würde, sondern auf Mikroebene verdeckt Leistungen vorenthalten würden, um die starren Vorgaben einer expliziten Rationierung zu vermeiden. Auch von Seite der Kassen sei kein gemeinsames Interesse an einer konsequenten Umsetzung zu erwarten. Ein Lösungsansatz wird in der Etablierung von Vertragswettbewerb gesehen. Ohne Details zu elaborieren werden Eckpunkte eines derartigen Systems - Wettbewerb der Versorgungssysteme, Management der Leistungserbringung, Einschränkung der freien Arztwahl, Aufhebung sektoraler Grenzen, monistische Krankenhausfinanzierung etc. - umrissen. Zur Finanzierung wird eine Umstellung auf Pauschalprämien favorisiert. Nochmals hervorgehoben wird die Bedeutung des Wettbewerbsparameters Qualität, welcher durch eine Erhöhung der Transparenz gefordert werden soll. Die explizite Rationierung soll nun wie folgt umgesetzt werden: Die Regierung setzt eine maximale durchschnittliche Pauschalprämie fest, welche bspw. gemäß des BIP-pro-KopfWachstums steigt. Ferner beauftragt sie eine Rationierungsinstitution anhand des errechneten Budgets (Prämienaufkommens) Einschränkungen am Leistungskatalog vorzunehmen. Die Krankenkassen sind frei in der Umsetzung des vorgegebenen Leistungskatalogs und erheben jeweils für ihr Versichertenkollektiv eine kostendeckende Pauschalprämie. Die Rationierungsinstitution vergleicht die sich aus den Pauschalprämien der verschiedenen Krankenkassen ergebende durchschnittliche Pauschalprämie mit der von der Regierung vorgegebenen maximalen durchschnittlichen Pauschalprämie. Wird diese überschritten, werden weitere Kürzungen am von allen Kassen umzusetzenden Leistungskatalog vorgenommen. Die Autorin sieht große Potentiale in einem derartigen selbstregulierenden Mechanismus und geht sogar so weit, dass die bei Vertragswettbewerb zu erwartenden Effizienzsteigerungen auf „einen Spielraum zur kontinuierlichen Erweiterung des Leistungskataloges" hindeuten (S. 188). Aufbauend auf einer Analyse der Schwächen des Gemeinsamen Bundesausschusses werden für die zentrale Rolle der Rationierungsinstitution drei verschiedene Entscheidungsträger diskutiert: Die Regierung, ein interessenspluralistisches Gremium, oder eine interessensneutrale Institution, die sich an der Konzeption des Direktoriums der Deutschen Bundesbank orientieren könnte. Dabei wird letzterem der Vorzug gegeben. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick, auf welche Weise ein System des Vertragswettbewerbs und eine Umstellung der Finanzierung auf Pauschalprämien zu einer Reduzierung des systembedingten Rationierungsdrucks führen könnten. Konzeptionell ist die Arbeit sehr breit angelegt. Dies wird in der sehr umfassenden Auseinandersetzung mit dem Rationierungsbegriff und der Differenzierung der diversen Erscheinungsformen reflektiert. Für einen Einstieg in eine informierte Diskussion der Rationierungsthematik bietet diese Aufarbeitung einen ausgezeichneten Ausgangspunkt. Im weiteren Verlauf der Arbeit, insbesondere bei der Skizze des Vertragswettbewerbs und der Diskussion der potentiellen Rationierungsinstitutionen, führt die weiterhin sehr in die Breite gehende Bearbeitung aber dazu, dass einige Fragen offen und manch interessanter, tiefergehender Aspekt unberücksichtigt bleiben. So wäre es beispielsweise wünschenswert gewesen, der kritischen Bewertung des Systems selektiven Kontrahierens etwas mehr Raum einzuräumen und auf die systemimmanente Transaktionskostenproblematik zumindest kurz einzugehen. Die normativen Politikempfehlungen hätten hierdurch sicherlich an Gewicht gewonnen. Dass bei einer Arbeit, die sich explizit mit Rationierung im deutschen Gesundheitswesen auseinandersetzt und Vor-und Nachteile verschiedener Entscheidungsträger diskutiert, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) lediglich in einer einzigen Fußnote (S. 193) erwähnt wird, wirkt etwas befremdlich. Gerade hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen wissenschaftlicher Analyse, letztlich normativer Wahl von Ent-

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scheidungskriterien und demokratischer Legitimation hätten sich hier einige Ansatzpunkte für eine tiefergehende Betrachtung der Rationierungsproblematik ergeben. Abschließend lässt sich jedoch ein positives Fazit ziehen. Das innovative Element dieser Arbeit - die Zusammenfuhrung der Rationierungsdiskussion mit einem System des Vertragswettbewerbs - bereichert die Reformdiskussion der deutschen GKV um eine interessante Variante. Ferner ermöglicht die differenzierte Aufarbeitung des Begriffs der Rationierung mit seinen unterschiedlichen Auslegungen und Erscheinungsformen dem Leser einen ausgezeichneten Einstieg in die Diskussion dieser komplexen Thematik. Weissberger hat in dieser Hinsicht wichtige Grundlagenarbeit geleistet. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass ihre Skizze eines konkreten Modells expliziter Rationierung in der GKV dazu beitragen kann, diese Diskussion in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen.

André

Schmidt

Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Besprechung des gleichnamigen Buches von Adrian Künzler* Der ,jnore economic approach" hat in den vergangenen fünf Jahren die wettbewerbspolitische Diskussion insbesondere in Deutschland bestimmt. Aus der von allen Seiten niemals in Frage gestellten Notwendigkeit, dass die Wettbewerbspolitik stets ihre Fundierung in der Ökonomik finden muss, entzündete sich die Diskussion anfänglich vor allem daran, wie die Ergebnisse der ökonomischen Theorie in die Wettbewerbspolitik einfließen sollten. Konsequenterweise führte diese Diskussion im weiteren Verlauf zu den theoretischen Wurzeln der Wettbewerbspolitik. Im Mittelpunkt stand nun mehr und mehr die Frage nach den methodologischen Grundlagen der Wettbewerbspolitik (Hellwig 2006). Konkret geht es dabei um die Frage nach dem geeigneten Abwägungskriterium, nach dem in der Wettbewerbspolitik wettbewerbsschädliche von wettbewerbsfördernden und damit unbedenklichen Verhaltensweisen voneinander separiert werden können. Während die Proponenten des effect based-approach auf das Kriterium der ökonomischen Effizienz verweisen, sollte nach Ansicht der Befürworter des sogenannten form based-approach das Abwägungskriterium sich hauptsächlich an der Wettbewerbsfreiheit orientieren. In diesem Zusammenhang geht es damit im Kern um die Frage, ob zwischen dem Effizienzziel und dem Freiheitsziel ein Trade Off besteht. Obwohl diese Fragestellung nicht grundsätzlich neu ist {Hoppmann 1967), wurde sie gerade im letzten Jahr in einer Reihe von Beiträgen kontrovers diskutiert (Schmidtchen 2008; Schmidt 2008; Budzinski 2008; von Weizsäcker 2007; Mestmäcker 2008). Adrian Künzler von der Universität Zürich hat die Analyse dieses oben beschriebenen Problemfeldes zur Aufgabe seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation gemacht, die im vergangenen Jahr in der Reihe „Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik" des Walter Euchen Instituts erschienen ist. Ziel der Untersuchung ist die Beleuchtung der konzeptionellen Grundlagen des „more economic approach" vor dem Hintergrund seiner rechtspolitischen Brauchbarkeit. Primär steht daher die Frage nach der Rolle der Ökonomik im Kartellrecht im Zentrum der Analyse. Die Untersuchung untergliedert sich in drei Teile. Während im ersten Teil die Grundlagen der Wettbewerbspolitik erörtert werden, wird im zweiten Teil der axiomatische Charakter der Wettbewerbskonzeptionen und vor allem deren Unbeweisbarkeit analysiert. Der abschließende

* Adrian Künzler, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Tübingen 2008.

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dritte Teil untersucht dann die Anwendbarkeit einer stärkeren Ökonomisierung anhand der materiell-rechtlichen Bestimmungen des Kartellrechts. Bereits ein flüchtiger Überblick über diese drei Teile zeigt, dass der Verfasser im Rahmen seiner Untersuchungen die wettbewerbstheoretischen und -politischen Grundlagen in ihrer Gesamtheit diskutiert, so dass insgesamt ein umfangreiches, nahezu nachschlageartiges Werk von fast 580 Seiten entstanden ist. Im Rahmen seiner Analyse über den „more economic approach" geht der Autor von dem Urteil aus, dass im Vergleich zu den traditionellen Wettbewerbskonzeptionen im Rahmen des ökonomischeren Ansatzes die Handlungs- und Wettbewerbsfreiheit als Beurteilungsmaßstab von Wettbewerbsbeschränkungen ausgeschlossen wird. Diese Neuausrichtung soll durch Auslegung der bestehenden rechtlichen Normen erfolgen, so dass aus rechtswissenschaftlicher Sicht der ökonomischere Ansatz in der Wettbewerbspolitik als eine Theorie der Rechtsanwendung anzusehen ist. Die Erörterung der Grundlagen der Wettbewerbspolitik erfolgt durch eine Gegenüberstellung der Realfaktoren der Wettbewerbspolitik mit den Idealfaktoren. Unter den Realfaktoren versteht der Autor die Gesamtheit aller Faktoren, die den Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit einengen (S. 69). Sie bestimmen, welche Regelungsaufgaben sich für die Wettbewerbspolitik überhaupt stellen, und welche Mittel und Wege mithilfe der Rechtsnormen gewählt werden können. Von diesen Realfaktoren sind die Idealfaktoren zu unterscheiden, welche die rein normativen Ziele der Wettbewerbspolitik abbilden. Am „more economic approach" kritisiert Künzler die Zielsetzung, dass die Gewinne der Konsumenten maximiert werden sollen. Die Orientierung am Konsumentenwohlfahrtstandard würde keineswegs der Sicherung von Effizienzen dienen, sondern sei sogar eine Quelle von größeren Effizienzverlusten (S. 110 f.). Eine solche Einengung der Wettbewerbspolitik auf den Konsumentenstandard verkenne, dass Allokationsentscheidungen sich auch auf die Effizienz der Produktion auswirken. Hierbei sei insbesondere auf die Bedeutung der dynamischen Produktionseffizienz zu verweisen, die stärker auf die verfügbaren Gütermengen in der Zukunft rekurriert und somit vom Investitionsentscheidungskalkül der Unternehmen determiniert wird. Allerdings sei eine Orientierung am Gesamtwohlfahrtstandard nicht weniger frei von Fehlern, weil dieser Anreize für unproduktive Investitionen setzen würde, wenn die Gewinne aufgrund fehlenden Wettbewerbsdrucks nicht weiter gegeben werden. Daraus schlussfolgert der Verfasser, dass der ,/nore economic approach" seinem eigenen Anspruch, gegenüber den traditionellen Ansätzen einen erheblichen Rationalitätsgewinn hervorzubringen, nicht gerecht wird (S. 142). Die Unbestimmtheit des ökonomischen Wohlfahrtskalküls ergäbe somit keine hinreichende Legitimation für den ökonomischeren Ansatz in der Wettbewerbspolitik. Doch damit ist die Kritik gegenüber dem neuen Ansatz der Wettbewerbspolitik noch nicht am Ende. Gerade in der Konfrontation des neuen Ansatzes mit den Idealfaktoren der Wettbewerbspolitik sieht Künzler weitere eklatante Schwächen. So sei auch die normative Legitimation des ökonomischeren Ansatzes mehr als fraglich. Weder aus utiliteralistischer, noch konsenstheoretischer oder pragmatischer Sicht lässt sich ohne Rückgriff auf Werturteile die Maßgeblichkeit des Effizienzziels in der Wettbewerbspolitik nicht begründen. Im Ergebnis sieht der Autor daher die Gefahr, dass sich auf einer solchen Basis die ökonomische Rationalität, wie sie von der Wohlfahrtsökonomik vorgegeben wird, zu einer alles umfassenden Wertnorm erklärt wird. Ein solches Verständnis von Wettbewerbs- und Wirtschaftsprozessen sei aber nicht vereinbar mit demokratischen Grundwerten. Vielmehr müssen Wettbewerbsregeln aus den Präferenzen und Wertvorstellungen der Bürger hervorgehen. Hierzu zähle zunächst die Wettbewerbsfreiheit und nicht die Behandlung der Wettbewerbsakteure als Funktionsträger für ein wie auch immer definiertes Wohlfahrtskalkül. Insofern sei eine solche Wettbewerbspolitik, die den Wettbewerb und dessen Akteure a priori instrumentalisiert, zutiefst antidemokratisch. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit dem axiomatischen Charakter von Wettbewerbskonzeptionen. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass die Umsetzung der Wettbewerbspolitik nicht ohne einen breiten Konsens über fundamentale Wertungen möglich sei. Künzler weist darauf hin, dass die Vertreter des „more economic approach" dessen Überlegenheit im

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Vergleich zu den traditionellen Ansätzen vor allem immer unter dem Hinweis einer solideren theoretischen Fundierung propagierten. Im Kern gehe es somit um die Übertragung wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes auf die Wettbewerbspolitik. Daher liegt es für den Autor nahe, die neue Wettbewerbspolitik auf ihren Anspruch, auf besserer wissenschaftlicher Erkenntnis zu beruhen, zu überprüfen. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der wirtschaftlichen Wohlfahrt. Während die Vertreter traditioneller Wettbewerbskonzepte die wirtschaftliche Wohlfahrt indirekt über Wettbewerbsfreiheit definieren, wird im neuen Ansatz die Wohlfahrt direkt, anhand des ökonomischen Effizienzkriteriums bestimmt. Daher, so Künzler, stellt sich die Frage: „ob eine der gegebenen Definitionen der wirtschaftlichen Wohlfahrt als richtig bewiesen werden kann, woraus sich logisch ergäbe, dass die andere als falsch zu gelten hätte" (S. 277). Dabei zeigt der Verfasser, dass aufgrund der Unmöglichkeit, wissenschaftlich exakt eine verbindliche Definition wirtschaftlicher Wohlfahrt zu bestimmen, die eigentliche Fragestellung darum kreisen muss, von welchem Begriff der wirtschaftlichen Wohlfahrt eigentlich sinnvollerweise auszugehen ist (axiomatische Problemlage der Wettbewerbspolitik). Damit wird für ihn nur allzu deutlich, dass es die einzig richtige Wettbewerbskonzeption nicht gibt und jemals geben kann. Wettbewerbskonzeptionen vermitteln keine Erkenntnis und kein Wissen, sondern sie sind einfache Entwürfe. Daher sei der ,/nore economic approach" ein Postulat, das festlege, was unter wirtschaftlicher Wohlfahrt verstanden werden soll. Den Anspruch, dass es sich hier im Vergleich zu den traditionellen Wettbewerbskonzeptionen um einen Ansatz handelt, der sich durch eine bessere wissenschaftliche Fundierung auszeichnet, könne er somit jedoch nicht erfüllen. Im dritten Teil analysiert der Autor die praktischen Konsequenzen des ,/nore economic approach" bei der Anwendung der materiell-rechtlichen Kartellvorschriften. Es soll die Leistungsfähigkeit des neuen Ansatzes zur Behandlung konkreter Problemstellungen untersucht werden. Dies erfolgt anhand der Vorschriften des schweizerischen und europäischen Kartellrechts. Die Diskussion bezieht sich auf die Anwendung der Wettbewerbspolitik in den Feldern wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, der Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle sowie der prozeduralen Aspekte bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts. In den jeweiligen Feldern diskutiert der Verfasser dann sowohl die ökonomischen als auch juristischen Aspekte, bei der Anwendung der jeweiligen Nonnen. Insgesamt hinterlässt dieser Teil auf den Leser einen ambivalenten Eindruck. Während die ersten beiden Teile durch ihren analytischen Charakter und der strengen Konsistenz der Argumentation bestechen, geht die Stringenz der Argumentation in diesem Teil verloren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der Verfasser hier zwischen Kommentar und Analyse nicht entscheiden konnte. Daher wirkt dieser Teil aufgrund seiner Dichte und Detailliertheit überladen und es besteht die Gefahr, dass die eigentliche Zielsetzung dieses Teils der Untersuchung, die Leistungsfähigkeit des neuen Ansatzes zu analysieren, verloren geht bzw. nicht deutlich zu Tage tritt. Aus der Sicht des kritischen Lesers wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor bei der Analyse der zu diskutierenden kartellrechtlichen Tatbestände sich auf diejenigen Aspekte beschränkt hätte, bei denen die Anwendung des ökonomischeren Ansatzes zu anderen Ergebnissen führen würde als bei Anwendung einer eher traditionell ausgerichteten Wettbewerbspolitik. Daher verwundert es auch nicht, wenn das Ergebnis der Untersuchung dieses Teils wenig Konkretes zu Tage bringt. Adrian Künzler zeigt, dass dem „/«ore economic approach" in der praktischen Anwendung, insbesondere auf der europäischen Ebene, nur eine geringe Bedeutung zukommt. Daher kann von einem echten Paradigmenwechsel in der Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik (noch) nicht die Rede sein. Der Verfasser zeigt jedoch, welche Richtung die Wettbewerbspolitik einschlagen würde, wenn der ökonomischere Ansatz konsequent angewendet werden würde. In der Gesamtschau ist dem Verfasser trotz der oben geäußerten Kritik ein hervorragendes Werk gelungen. Sein Hauptverdienst, ist darin zu sehen, dass sämtliche Argumente pro ökonomischeren Ansatz der Wettbewerbspolitik systematisch und konsistent überprüft werden. Insbesondere in den beiden ersten Teilen belegt der Verfasser eindrucksvoll, dass die Befürworter des ökonomischeren Ansatzes nicht für sich in Anspruch nehmen können, über den wissenschaftlich

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besser fundierten Ansatz zu verfügen. Die Ausrichtung am Konzept der Wohlfahrt bleibt ein Postulat, das auf Werturteilen basiert. Alle darauf basierenden abgeleiteten Empfehlungen suggerieren eine Scheingenauigkeit und lassen sich daher wissenschaftlich nicht überprüfen. Daher bleiben erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit dieses Ansatzes in der Wettbewerbspolitik erhalten. Auf der anderen Seite zeigt Künzler jedoch nicht, dass es den eher freiheitsorientierten traditionellen Wettbewerbskonzepten gelingt, bessere Ergebnisse im Vergleich zum ökonomischeren Ansatz hervorzubringen. Daher kann und sollte auch nicht von einer Überlegenheit einer der beiden Konzeptionen ausgegangen werden. Gerade hierin ist ein wichtiges Ergebnis zu sehen. Den Wettbewerbsökonomen würde ein höheres Maß an Bescheidenheit gut tun. Die sei all jenen insbesondere ins Stammbuch geschrieben, die im Glauben an eine absolute Überlegenheit ihrer Konzeption ihre theoretischen Denkmodelle verabsolutieren wollen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für die Wettbewerbsbehörden ableiten. Die Eigenschaft der kritischen Selbstreflexion sollten sich die Ökonomen auch in Zukunft erhalten. Desto mehr ist es erstaunlich, dass ihnen dieses konsistent eine rechtswissenschaftliche Dissertation vor Augen führen muss.

Literatur Budzinski, Oliver (2008), „Wettbewerbsfreiheit" und der „More Economic Approach": Wohin steuert die europäische Wettbewerbspolitik? In: Marina Grusevaja (Hg.), Quo vadis Wirtschaftspolitik'! Frankfurt am Main, S. 15-38. Hellwig, Martin (2006), Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, in: Christoph Engel und Wernhard Möschel (Hg.), Recht und spontane Ordnung: Festschrift für Ernst Joachim Mestmäcker zum achtzigsten Geburtstag, Baden-Baden, S. 231 -268. Hoppmann, Erich (1967), Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik, in: ORDO Bd. 18, S. 77-94. Mestmäcker, Ernst-Joachim (2008), Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz: Eine Erwiderung auf Schmidtchen, in: ORDO Bd. 59, S. 185-208. Schmidtchen, Dieter (2008), Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik, in: ORDO Bd. 59, S. 143-184. Schmidt, André (2008), Ordnungsökonomische Wettbewerbskonzepte: Die Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Effizienz, in: ORDO Bd. 59, S. 209-236. Weizsäcker, C. Christian von (2007), Konsumentenwohlfahrt und Wettbewerbsfreiheit: Über den tieferen Sinn des „Economic Approach", in: Wirtschaft und Wettbewerb 57, S. 1078-1084.

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Visionäre Wege aus der Subprime-Krise Anmerkungen zu einem Buch von Robert J. Shiller* Shiller wurde von der FAZ zum Ausgang des vergangenen Jahres als wichtigster Krisenprophet der Welt bezeichnet. Er ist Professor an der Yale University und zählt seit geraumer Zeit zu den einflussreichsten Ökonomen; ,Jlobert Shiller ist ein Visionär" (Nassim N. Taleb). Bereits 1981 publizierte Shiller in der American Economic Review einen bahnbrechenden Artikel, der irrationales Verhalten von Finanzmarktakteuren als Ursache von Kursausschlägen an den amerikanischen Aktienbörsen in den Fokus nahm. Mit seinem Werk „Irrationaler Überschwang" erwies er sich bspw. nicht nur als Augur in Sachen Dotcom-Blase, sondern auch als Pionier einer neuen theoretischen Richtung der Kapitalmarkttheorie „Behavioral Finance". Basierend

* Robert J. Shiller, Die Subprime Lösung: Wie wir in die Finanzkrise hineingeraten sind - und was wir jetzt tun sollten, Verlag Börsenmedien AG, Kulmbach 2008, 188 Seiten.

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auf den verhaltenswissenschaftlichen Arbeiten von Kahneman und Tversky avancierte dieser Forschungszweig schnell zu einem wettbewerbsfähigen Paradigma, welches versucht, die strikten Annahmen und Aussagensysteme der neoklassischen Kapitalmarkttheorie (Informationseffizienz etc.) auszuhebein oder zumindest die bekannten blinden Flecke des herrschenden Paradigmas besser auszuleuchten. Bereits 2004 hatte Shiller konstatiert, dass sich am amerikanischen Immobilienmarkt eine Spekulationsblase abzeichnete und er kreierte dazu (zusammen mit Case und Weiss) den Case-Shiller-Index, der als Frühindikator quartalsweise die Veränderung der amerikanischen Häuserpreise ermittelte. Mit seinem Buch „Die Subprime Lösung: Wie wir in die Finanzkrise hineingeraten sind - und was wir jetzt tun sollten" beschreitet Shiller seinen eingeschlagenen Weg konsequent weiter, in dem er nicht nur aufschlussreiche Analysen der epochalen Krisenerscheinungen an den Finanzmärkten vornimmt und theoretisch fundiert, sondern auch handlungspraktische Empfehlungen für ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen liefert, um ähnlichen Problemen zukünftig vorzubeugen. Im Anschluss an eine Einführung (Kap. 1) werden die historischen Fakten um den Zusammenbruch des Subprime-Segmentes auf dem amerikanischen Häusermarkt kenntnisreich dargestellt. Shiller zeigt die historische Entwicklung des Immobilienmarktes anhand seiner eigenen Index-Berechnungen auf, erörtert Parallelen zu vorangegangenen Blasen-und Krisenerscheinungen und setzt diese Erfahrungswerte in Beziehung zu verhaltenswissenschaftlichen Aspekten der Behavioral-Finance-Forschung (Kap. 2 bis 4). Er behauptet dabei, „dass die Immobilienblase, die die Subprime-Krise erzeugt hat, letztlich deswegen so groß geworden ist, weil wir als Gesellschaft Spekulationsblasen nicht begreifen und weil wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen" (S. 22). Hochintelligente Menschen aus der Wissenschaft sowie Führungspersönlichkeiten in der Politik und Wirtschaft, die allesamt um die Krisen der Vergangenheit wussten, sind demnach kaum in der Lage, solche Situationen zu erfassen, geschweige denn damit umzugehen. Die Ursachen der Subprime-Krise bringt er auf die Formel: „Übertrieben aggressive Anbieter von Hypothekendarlehen, willfährige Gutachter und selbstgefällige Kreditnehmer fütterten gemeinsam den Immobilienboom" (S. 24). Die damit verbundene mangelnde Sorgfaltspflicht äußerte sich in der Unterlassung einer angemessenen Kreditwürdigkeitsprüfung und in der geheimnisvollen Verpackung und Weiterveräußerung der Hypotheken an Investoren in der ganzen Welt; „und das bereitete die Bühne für eine Krise von wahrhaft globalen Ausmaßen" (S. 24). Nachdem viele Kreditnehmer nicht mehr in der Lage waren, den Kapitaldienst für ihre Hypothekendarlehen zu zahlen, platzte die Blase. Im 3. Kapitel, dessen Titel „Blasen-Probleme" nicht einer unfreiwilligen Komik entbehrt, gibt Shiller Hinweise für eine Erklärung zur Entstehung spekulativer Blasen jenseits der herkömmlichen Wirtschaftstheorie mit ihrem Menschenbild vom rational handelnden Homo Oeconomicus. Er fuhrt an, dass auch Kapazitäten wie Alan Greenspan (in seinem Buch The Age of Turbulence) oder Ben Bernake die sich abzeichnende Immobilienblase im Vorfeld noch verharmlosten; offensichtlich gilt, „dass Blasen nicht greifbar genug seien, um Änderungen der Politik zu rechtfertigen" (S. 55). Die Übernahme scheinbar ,Rationaler" Entscheidungen kann jedoch dazu führen, dass „die Menschen eine allgemeine übertriebene optimistische (oder übertrieben pessimistische) Ansicht übernehmen, weil sie die Informationen anderer Menschen rational, aber irrtümlich beurteilen", argumentiert Shiller (S. 60) und verweist dabei auf den von David Hirshleifer und Ivo Welch geprägten Begriff „Informationskaskaden". Er kommt auf diese Weise zu der Einsicht, dass alle anderen scheinbar exogen wirkenden Faktoren zur Ursachenerklärung im Grunde „selbst ein Produkt der Blase waren" (S. 61). So sollte man bspw. die „Periode der sehr lockeren Geldpolitik nicht als exogene Ursache der Blase betrachten, denn die Geldpolitik (...) wurde von Wirtschaftsbedingungen bestimmt, die von dem Platzen der Aktienmarktblase der 1990er-Jahre erzeugt worden war; der Immobilienboom war in mancher Hinsicht eine Nachwirkung genau dieser Aktienblase" (S. 62). Durch das Zusammenwirken der Fed, die an ewige Hauspreissteigerungen glaubte, „kreative" Kreditgeber, gutgläubige Kreditnehmer, unaufmerksame Regulierungs-und Aufsichtsbehörden und Ratingagenturen entstand eine Epidemie irrationalen Vertrauens, bei der alle Beteiligten - scheinbar rational - daran

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glaubten, dass die Blase keine Blase sei bzw. nicht platzen könne (S. 63 ff.). „Die Lockerung der Richtlinien zur Kreditvergabe, die zu dieser Situation geführt hatte, gehört zu den normalen Vorgängen einer Spekulationsblase" resümiert Shiller und verweis dabei auf die Arbeiten von Hyman Minsky und Charles Kindleberger. Von hoher Bedeutung sind Shillers Ausführungen im 5. Kapitel zu den vielerorts geforderten und teilweise auch realisierten kurzfristigen Rettungsaktionen der Politik („Bailouts"), welche die schlimmsten Folgen der Finanzkrise (Domino-Effekte, Banken Run, Kernschmelze) abwenden sollen. Ein Bailout beinhaltet die Rettung einer verantwortungslosen natürlichen oder juristischen Person, „die sich nicht an die Regeln gehalten hat oder die nicht dir richtigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat" (S. 98). Zwar wird durch derlei Rettungsaktionen der „Fall mancher Dominosteine" verhindert, argumentiert Shiller, „aber sie können auch das Vertrauen der Allgemeinheit schädigen" (S. 103). Die ernsteren Folgen der Subprime-Krise umschreibt Shiller mit,Systemeffekten' infolge externer Effekte; diese haben „mit dem Anlegervertrauen, mit psychologischer und sozialer Ansteckung zu tun" (S. 111). Das klassische Beispiel ist der Banken-Run. „Die Menschen vertrauen ihrer Bank und daher gelten die Banken als vertrauenswürdig. Aber wenn die Menschen im Gegenzug das Vertrauen in ihre Bank verlieren, wenn sie dann ihr Geld abheben und dadurch die Bank pleite machen, dann wird der Vertrauensverlust zur selbst erfüllenden Prophezeiung'" (S. 111). Shiller spricht sich somit explizit für kurzfristige Rettungsaktionen in solch epochalen Krisensituationen aus, plädiert dabei jedoch dafür, diese insbesondere auf einkommensschwache Opfer von Subprime-Geschäften zu fokussieren. Der eigentliche Zweck der kurzfristigen Maßnahmen bestehe nämlich darin, „einen grundlegenden Verlust des wirtschaftlichen Vertrauens in unsere Institutionen zu verhindern und das Gefühl der sozialen Gerechtigkeit zu bewahren. Deshalb sollten die Rettungsmaßnahmen am intensivsten darauf abzielen zu verhindern, dass Menschen mit bescheidenen Mitteln in Not geraten" (S. 119). Vor diesem Hintergrund geht es in dem gedankenreichen 6. Kapitel um „Die Verheißung der finanziellen Demokratie". Der Schlüssel zur Subprime-Lösung zur Verhinderung und Linderung von Finanzkrisen liege in der „Demokratisierung des Finanzwesens - die Ausdehnung solider Finanzprinzipien auf einen immer größeren Teil unserer Gesellschaft und der Einsatz aller uns zur Verfügung stehenden technischen Mittel zu Erreichung dieses Ziels" (S. 124). Sein langfristiges Maßnahmenpaket umfasst sechs Punkte (S. 129 ff.): 1. Umfassende Finanzberatung (gefordert für weniger wohlhabende Personen und auf Basis fester Stundenhonorare, um Falschempfehlungen zu vermeiden); 2. Neue Finanz-Regulierungsbehörde (staatliche Verbraucherschutzinstitution, die gleichzeitig als Schiedsstelle fungiert und Anwaltsfunktionen übernehmen kann); 3. Standardisierte Finanzplanung (durch staatliche Standardverträge zur Vermeidung von Benachteiligungen im Zuge intransparenter Vertragswerke); 4. Verbesserte Offenlegung von Finanzinformationen (Implementierung von Frühwarnsystemen unter Nutzung neuester technologischer Möglichkeiten); 5. Bezuschussung einer leistungsfähigeren Finanzdatenbank (zur Schaffung eines umfassenderen Bildes vom finanzwirtschaftlichen Geschehen); 6. System wirtschaftlicher Maßeinheiten (Einführung inflationsindexierter Rechnungseinheiten zur Vermeidung von Irrtümern der - ansonsten überforderten - Allgemeinheit; Chile sei durch die Einführung der Rechnungseinheit Unidad de Formento (UF) zu einem der inflationsbewusstesten Ländern der Welt geworden. Neben dieser Reformierung der Informationsinfrastruktur fordert Shiller neue Märkte und Finanzinnovationen, die potenziellen Investoren bspw. auch die Möglichkeiten geben, Immobilien „zu shorten", d.h. ihrer Skepsis gegenüber einer überzogenen Preisentwicklung durch entsprechend einfach ausgestaltete Finanztechnologien (Derivate) Ausdruck zu verleihen. Auch die Entwicklung von „ContinuousWorkout-Hypotheken" sei bedeutsam; dabei geht es um Hypotheken mit sich ständig verändernden Konditionen, die sich nach den aktuellen Hinweisen auf Veränderungen der Zahlungsfähigkeit und auf veränderte Bedingungen am Immobilenmarkt angepasst werden. Ferner

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spricht er sich für die Entwicklung versicherungstechnischer Vorkehrungen des Wertverlustes von Immobilienvermögen aus, so dass Hausbesitzer sich weiterhin solide refinanzieren können, sowie für eine Lebensstandard-Versicherungspflicht - bspw. in Form von Berufsunfähigkeitsversicherungen - aus (S. 163 ff.). Im abschließenden Kapitel 7 resümiert Shiller seine verhaltenswissenschaftliche Erklärung der Finanzkrise und seine ungewöhnlichen Reformvorschläge noch einmal. Grundsätzlich stößt Shiller mit seinen Überlegungen in eine Nische, da die epochalen Krisenerscheinungen Mainstream-Ökonomen noch lange vor unzählige ungelöste Rätsel stellen werden. Auf diese Weise gibt Shiller Hinweise für ein psychologisches Verstehen der Krisenerscheinungen in der Vergangenheit (Tulpenmanie etc.) und erklärt damit die Blasenbildung auf dem Immobilienmarkt, obwohl dieser im Grunde keinem zufalligen Entwicklungspfad („Random Walk") - wie dies bei Aktienmärkten angenommen wird - ausgesetzt ist (S. 67 ff.). Es ist nur schade, dass Shiller seine Ausführungen insgesamt zu sehr auf den US-amerikanischen Markt bezieht und man detailliertere Bezüge zur Rolle der Wertpapierindustrie bei der internationalen Transmission manchmal vermisst. Doch das sind Nebensächlichkeiten. Inhaltlich lassen sich grundsätzlichere Aspekte diskutieren. Da sind zum einen die theoretischen Ideen zur Interpretation der Finanzkrise und zum anderen die politischen Implikationen in Form der genannten Reformvorschläge. Im Hinblick auf seine theoretische Fundierung seiner Forderungen ist zunächst anzumerken, dass Shiller völlig zu Recht immer wieder darauf verweist, dass verhaltenswissenschaftliche Aspekte bei der ökonomischen Theoriebildung zu kurz kommen und dass der von ihm favorisierte Forschungszweig Behavioral Finance die herrschenden Strömungen der Kapitalmarkttheorie (Kapitalmarktgleichgewichtstheorie, Prinzipal-AgentTheorie) in fruchtbarer Weise erweitert. Diesen theoretischen Richtungen liegt bekanntlich das Menschenbild des Homo Oeconomicus zugrunde, dessen Rationalitätsideale seit jeher immer wieder Gegenstand der Kritik sind. Zwar integriert die institutionenökonomische Forschung bereits das Konzept der „begrenzten Rationalität", eine tiefere verhaltenswissenschaftliche Orientierung ist im Zusammenhang mit der Erklärung sozialwissenschaftlicher Phänomene damit jedoch nicht verbunden. Shillers Ausführungen weisen jedoch einen so populärwissenschaftlichen Charakter auf, dass eine tiefgreifendere Erläuterung der so bedeutsamen Theoriebausteine der Behavioral Finance-Forschung ausbleibt, obwohl es für den interessierten Laien bestimmt hilfreich gewesen wäre, etwas mehr über die Rolle und Entstehung von Entscheidungsheuristiken, Kontrollillusionen, mentaler Modelle etc. zu erfahren. In der Verhaltensökonomik der Finanzmärkte wird dem menschlichen Handeln aufgrund der Komplexität der Umwelt eine eingeschränkte Rationalität beigemessen, so dass Menschen sich oft auf komplexitätsreduzierende Entscheidungsheuristiken berufen, die sie systematisch zu Fehlentscheidungen animieren. Dennoch bleiben die Ausführungen hinsichtlich der konkreten Inhalte des Rationalitätsbegriffs bei Shiller vergleichsweise vage. Das Erkenntnismodell des Radikalen Konstruktivismus (Maturana, Varela, Luhmann, von Foerster u.a.) - mag man sich über dessen Schlüssigkeit und Anwendbarkeit auch streiten - gibt beispielsweise Hinweise dafür, dass Rationalität im Auge des Betrachters liegt. Im Anschluss an die genannten system- und erkenntnistheoretischen Arbeiten von Maturana et al. ließen sich Shillers verhaltenswissenschaftlichen Ideen über eine stärkere funktionale Ausdifferenzierung des Rationalitätsbegriffs sowie über eine stärkere Differenzierung der Begriffe Daten, Information und Wissen für solche makroökonomische Überlegungen in fruchtbarer Art und Weise nutzen. Die unterschiedlichen finanzunternehmerischen Dispositionen wirken schließlich auf das realwirtschaftliche Geschehen in unterschiedlicher Form ein (Siemon 2006). In der Wirtschaftswissenschaft spielen im Anschluss an die Entwicklungstheorie Joseph A. Schumpeters und die Evolutionstheorie von Jochen Röpke die unterschiedlichen unternehmerischen Dispositionen (Unternehmerfunktionen: Routine, Arbitrage, Innovation und Evolution) eine besondere Rolle, da sie unterschiedliche Formen der Rationalität im Hinblick auf das Fällen von unternehmerischen Entscheidungen konstituieren (Röpke 2002). Zwar argumentiert Shiller stets sehr pointiert, manchmal vermisst

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man jedoch eine Verortung seiner Überlegungen in einen entwicklungstheoretischen Gesamtkontext, zumal er seinen Überlegungen selbst langfristige Untersuchungsreihen zugrunde legt. Ein Beispiel: Schumpeter hat im Rahmen seiner konjunktur- und entwicklungstheoretischen Arbeiten gezeigt, dass auf innovationsinduzierte Aufschwungsbewegungen sekundäre Wellenerscheinungen folgen, die von Spekulationsphasen gekennzeichnet sind (Arbitrageverhalten), aus denen Blasen und (insbesondere im Abschwung) Krisen resultieren können. „In der Atmosphäre der sekundären Prosperität werden auch verantwortungslose, betrügerische und in anderer Weise erfolglose Unternehmungen entstehen, die den Prüfungen, wie sie die Rezession mit sich bringt, erliegen", heißt es bei Schumpeter (1961/2008, S. 157). Ob dann eine Depression eintritt oder nicht, ist nach Schumpeter abhängig von den jeweiligen, mitunter zufälligen Umständen, „wie etwa der Mentalität und der Stimmung der Geschäftswelt und der Öffentlichkeit, dem Vorherrschen des Prinzips, schnell reich zu werden', der Art (...), in der während der Prosperität das Kreditproblem gehandhabt wird, der Fähigkeit der Öffentlichkeit, sich eine Meinung über den Wert von Geschäftsvorhaben zu bilden, dem Ausmaß, in dem die Öffentlichkeit an Phrasen über die Beständigkeit der Prosperität und an die Wunderwirkungen der Geldpolitik glaubt usw. (Schumpeter 1961/2008, S. 160). Demnach wären die ordnungsökonomischen Forderungen Shillers möglicherweise auch innovationslogisch mit entwicklungs- und konjunkturpolitischen Aspekten zu kombinieren, zumal nach schumpeterscher Zeitrechnung die fünfte große Innovationswelle (5. Kondratiejjf) ausläuft und ein Zusammenfallen der Abschwungsphasen von größeren und kleineren Konjunkturzyklen möglicherweise auch ausschlaggebend für die Weltwirtschaftskrise der 1930erJahre war (ibid, S. 936). Ein anderes Beispiel ist die modellmäßige Berücksichtigung des Vertrauensaspektes. Systemtheoretisch gilt Vertrauen als ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Luhmann 1968). Mit dem „irrationalen Überschwang" mag eine Lockerung der Kreditpolitik der Kreditinstitute einhergehen, was aber sind die evolutionslogischen Opportunitätskosten verstärkter Regulierungsbemühungen im Finanzsektor angesichts der nächsten großen Innovationswelle? Reicht es aus, das Vertrauen wieder herzustellen oder muss zudem noch ein besonderes Augenmerk auf die Etablierung der dafür notwendigen finanzunternehmerischen Kräfte gelegt werden? Für Shiller ist die Sache einfacher: Ist die Vertrauensproblematik ausgeräumt, kann der Kapitalmarkt seine Zubringerfunktion für unternehmerische Initiativkraft wieder reibungslos erfüllen, da er glaubt, dass seine sechs Reformpunkte nicht nur helfen, Krisen zu vermeiden und zu lindern, sondern auch dazu beitragen, dass „Fantasie und Unternehmergeist das Ruder übernehmen und uns bei der Erkundung der Informationen auf unbekanntes Terrain führen" (S. 152). Ökonomen wie Bernanke haben aus der Weltwirtschaftskrise die Lehre gezogen, dass eine kontraktive Geldpolitik die Krisenerscheinungen weiter verfestigen. Ob die seit Herbst 2008 expandierende Geldmenge langfristig wirklich das non plus ultra darstellt, kann aus verschiedenen ordnungsökonomischen Perspektiven heraus mit Skepsis betrachtet werden (Inflationsproblematik, Neuentzündung von Spekulationsaktivität etc.). Shillers Ausführungen sind diesbezüglich ebenfalls kritisch, geben der Diskussion dabei jedoch eine neue Wendung. Während Shiller die Geldpolitik der Fed vor der Finanzkrise im Zusammenhang mit der epidemiemäßigen Ausbreitung der Blasen und Krisen in der Vergangenheit (als endogene Erklärungskomponente) sieht, hat die Fed mit ihrer niedrigen Geldpolitik die Spekulations-bzw. Arbitragekräfte m.E. (als exogene Größe) im Grunde erst entfesselt. Vor diesem Hintergrund ist es ordnungspolitisch nach wie vor bedeutsam, die grundsätzliche Funktion einer staatlichen Notenbank zu hinterfragen. Hayek hat bspw. immer wieder auf die Gefahren einer staatlichen Geldpolitik hingewiesen und für eine Entnationalisierung des Geldes plädiert (Hayek 1977). An anderer Stelle hört man Hayeks Basisgedanken vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren förmlich heraus, wenn Shiller darüber sinniert, ob und wieviel die von ihm postulierte Förderung der Finanzberatung für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen nutzen würden: „Die Antwort erfahren wir nur, wenn wir die Förderung einführen" (S. 135).

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Shillers Forderung nach einer Demokratisierung des Finanzsystems auf der Basis seiner verhaltenswissenschaftlichen Argumentation stellt eine bahnbrechende Reformüberlegung an. Wahrscheinlich sind es jedoch weniger die von Blasen-und Krisenerscheinungen überforderten Politiker als vielmehr die im Eigeninteresse vorgenommenen politischen Kalküle des Handelns und Nicht-Handelns, welche die Umsetzung solcher Forderungen erschweren. Auch diesen „psychologischen" Effekt der Neuen Politischen Ökonomie sucht man bei Shiller vergebens. Ordnungsökonomisch von großer Bedeutung ist seine Forderung, wohlfahrtsstiftende Institutionen durch einen verbreiteten (versicherungstechnisch und finanztechnologisch geschützten) Besitz von Vermögens-werten - insbesondere Hausbesitz - zu untermauern. Diese Forderungen kennen Ordnungsökonomen aus dem vermögenstheoretischen Ansatz von Preiser und Krüsselberg, (siehe dazu Krüsselberg 1997). Vermögen repräsentiert Handlungspotenziale beim Umgang mit Unsicherheit und stellt das Bindeglied zwischen Wachstums- und verteilungstheoretischen Überlegungen dar. Die vorangegangenen Überlegungen stellen selbstverständlich keine grundsätzliche Kritik dar. Im Gegenteil: Die Lektüre des sehr lesenswerten und aufschlussreichen Buches ist ordnungsökonomisch in mancherlei Hinsicht überaus inspirierend. Die Lektüre lädt Seite für Seite dazu ein, Shillers theoretische Ideen und Reformvorschläge in die eine oder andere Richtung weiterzudenken. Das Buch ist zudem in einer sehr verständlichen Sprache verfasst. Er verzichtet auf ein detailliertes Theoriegebrösel, so dass das Buch für große Bevölkerungsteile verständlich ist. Zudem argumentiert er sehr anschaulich. Um seiner Forderung nach inflations-indexierten Maßeinheiten bspw. zu untermauern, argumentiert er: „Wenn man den Wert in Pesos oder in Dollar misst, dann ist das so, als würde man die Länge mit einem Zollstock messen, der jedes Jahr länger oder kürzer wird" (S. 146 f.). Der theoretische Tiefgang bleibt dabei zwar manchmal etwas auf der Strecke, aber es liegt an jedem Leser selbst, Shillers revolutionäre Gedanken und Reformvorschläge kritisch und konstruktiv zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Die FAZ hat das Buch kurz vor Jahresende 2008 - als alle Welt angesichts der Krisenlawine noch in Schockstarre verweilte - zum besten Wirtschaftsbuch 2008 gewählt. Wenn man die Intention des Buches so versteht, die Verhaltensökonomik für ökonomische Grundprobleme wie die Finanzkrise stärker zu berücksichtigen, dann kann man sich dieser Würdigung nur anschließen.

Literatur Hayek, Friedrich A. von (1977), Entnationalisierung des Geldes, Tübingen. Krüsselberg, Hans-Günter (1997), Vermögen im Systemvergleich, Stuttgart u.a. Luhmann, Niklas (1968), Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart. Röpke, Jochen (2002), Der lernende Unternehmer, Marburg. Siemon, Cord (2006), Unternehmertum in der Finanzwirtschaft, Norderstedt. Siemon, Cord (2009), Innovationspolitik, Wissenstransfer und der 6. Kondratieff. Schumpeter, Joseph A. (1961/2008), Konjunkturzyklen, Göttingen.

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Manfred E. Streit

Studien zur evolutorischen Ökonomik IX Zu dem gleichnamigen Band des Vereins für Socialpolitik, herausgegeben von Wolfgang Kerber* Der vorliegende Band 9 gehört zu einer beachtlichen Reihe, die den Selbstfindungsprozess einer ambitionierten Teildisziplin der Ökonomik dokumentiert. Wie der Herausgeber in seinem aufschlussreichen Vorwort erwähnt, finden sich in dem Band die schriftlichen Fassungen von Referaten, die bei den Jahrestagungen des Ausschusses Evolutorische Ökonomik des Vereins für Socialpolitik 2002 in Marburg und 2003 in Erfurt gehalten wurden, was den Umfang des Bandes erklären dürfte. Der Band selbst ist in drei Teile gegliedert: (1) theoretische und normative Grundsatzfragen der evolutorischen Ökonomik, (2) evolutorische Wachstumstheorie und MakroÖkonomik und (3) Institutionen und evolutorische Ökonomik. Im ersten Teil geht es Carl Christian von Weizsäcker darum, den evolutorischen Charakter der Wohlfahrtsökonomik bei adaptiven Erwartungen zu konzipieren. Das geschieht mit dem Referat: „Ist der Begriff des Fortschritts kompatibel mit einer evolutorischen Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft?" Fortschritt ist für ihn in Anlehnung an Spencer, das was die Evolution bringt (S. 15). Dieser Begriff erscheint ihm problematisch, da er auf einem naturalistischen Fehlschluss beruht, ..., womit der Begriff für den Leser offen bleiben dürfte. Ausgangsbasis ist für den Autor, dass die Neoklassik eine Wohlfahrtsökonomik entwickelt habe, mit der wirtschaftspolitische Maßnahmen -gemeinwohlorientiert- bewertet werden können. Das ist zweifellos anspruchsvoll und leitet über zu einer Kritik an der neoklassischen Annahme fixer Präferenzen, die als anti-evolutorisch und anthropologisch unplausibel bezeichnet werden. Damit ist der Weg für eine Modellierung von endogenen Präferenzen und deren Wandel geebnet. Der Autor wählt ein Modell adaptiver Präferenzen, um es mit den fixen Präferenzen der Neoklassik zu kontrastieren und vermutet bei ersteren „die Chance einer Wohlfahrtsökonomik" (S. 23). Er hofft dabei, den Evolutorikern einen Ansatz anzubieten (S. 18). Dem steht vermutlich die grundlegende Kritik der Evolutoriker an der Neoklassik entgegen. Im zweiten Aufsatz dieses Teils geht Frank Beckenbach einem Handlungskonzept in der evolutorischen MikroÖkonomik nach. Vor allem konzentriert er sich auf „die internen Antriebskräfte für ein Handeln, das Neuerungen hervorbringt" (S. 29). Man kann auch fragen, wie kommt der Mensch zur zündenden Idee, zur „fulguratio" (Konrad Lorenz), aus der eine Neuerung oder Innovation werden kann? Wie kommt es zur Kreativität oder zur Möglichkeitsproduktion als den beiden Elementen eines innovativen Suchprozesses (S. 33)? Damit wird die Distanz zum Wahlhandlungs- oder Entscheidungsprozess als Selektion aus bekannten Optionen i.S.d. Neoklassik deutlich. Auf der individuellen Handlungsebene wählt der Autor eine gestaltspsychologisch geprägte Kognitionstheorie, die, wenn auch entfernt, an Hayeks „sensorische Ordnung" erinnert. Die bei mehreren Akteuren auftretende Interaktion wird vom Autor systemtheoretisch verstanden, wobei der Leser vielleicht einen Bezug zu Bertalanffy, dem Nestor der Systemtheorie, erwarten könnte. Die Überlegungen des Autors münden in ein „interaktives evolutorisches Handlungskonzept" (S.42). Die angestrebte Skizze ist eher taxonomisch, da der Autor, gestützt auf die relevante Literatur, eine Reihe von Handlungsmodi unterscheidet: einfache Routine, multiple Routinen, Wahl. Imitation und Innovation. Der Evolutoriker dürfte besonders auf den letztgenannten Handlungsmodus gespannt sein, der vom Autor zum „deliberativen Suchhandeln als Problemlö-

* Wolfgang Kerber (Hg.), Studien zur evolutorischen Ökonomik IX, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 195/IX, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004, 200 Seiten.

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sungshandeln (S. 51) gezählt wird. Kategorial und mit Bezug auf Simon u.a. versteht der Autor Innovation als „überwiegend extrinsisch motiviertes Lösen von präsentierten (eher gut strukturierten) Problemen" (S. 56). Etwas irritierend dürfte die Schlussbemerkung des Autors sein, nach der Neuerungshandeln aus einer zunächst virtuellen Problemmanipulation besteht, die durch das „Zusammenspiel von Fähigkeiten, Domänenwissen und Kreativität geprägt ist" (S. 64). Werden hier nicht Invention und Innovation ursächlich mit Kreativität gleichgesetzt, so fragt sich der Leser eines kognitionstheoretisch umsichtig recherchierten Aufsatzes. Wohl eher als Provokation, wenn nicht resignierend gedacht dürfte der Aufsatz von Gerhard Hanappi „Evolutionary Economic Programs" sein. Gleich zu Beginn stellt er zur evolutorischen Ökonomik fest: „We do not have a common economic program" (S. 69) und eher resignierend klagt er „there will probably never be such a well-defined evolutionary economics paradigm" (ebenda), und sucht diese Klage im Referat zu begründen. Er räumt ein, dass evolutorisch vage definiert ist, obwohl es den gemeinsamen Nenner beschreibt. Die Maßstäbe für derartige Aussagen sind der von der Physik geprägten Epistemologie entlehnt, die er mit Carnap, Kuhn, von Neumann und Newton in Verbindung bringt. Das veranlasst ihn, einzuräumen, dass sein Argument in mancher Hinsicht vage war. Der etwas verwirrt zurückgelassene Leser wird mit dem Satz getröstet: „If issues are not completely clear a vague and stimulating mentioning of Problems has to be preferred to noble silence waiting for secretly worked out final solutions" (ebenda). Im zweiten Teil des Bandes steht die transparent gegliederte Arbeit von Rainer Voskamp „Schumpeterscher Wettbewerb und Produktvielfalt: Ein evolutorisches Wachstumsmodell und ausgewählte Simulationen der FuT-Politik" im Vordergrund. An den Beginn hat der Autor eine kurze und übersichtliche Diskussion des Forschungsstands der Wachstumstheorie gestellt, den er als „noch immer nicht abgeschlossenes Kapitel der Ökonomik" beurteilt (S. 87). Favorisiert und genutzt wird von ihm ein Modell in der Tradition von Nelson und Winter, mit dem er ambitioniert Interdependenzen zwischen Schumpeterschem Wettbewerb Produktvielfalt, Wachstum und Einkommensverteilung nachgeht. Im wirtschaftspolitisch interessanten Teil 5 versucht er eine Simulation von FuT-politik mit dem Ziel, einen Beitrag zur nicht abschließend geklärten Frage zu leisten, ob durch staatliche Ausgaben für FuT private FuE-Ausgaben sich reduzieren (verdrängt) oder angeregt werden. Varianten der FuE-Politik werden vorgestellt und analysiert, wobei Grundlagenforschung und Existenzgründungsforderung geprüft werden. Hinsichtlich der Grundlagenforschung wäre es wichtig „zu erfahren, wie bei dem produktionstheoretischen Ansatz des Autors das Ergebnis der öffentlichen Grundlagenforschung gemessen wurde. Allerdings betont der Autor, dass seine erzielten Ergebnisse eine „eklektische Auswahl" (S. 119), „erste Ergebnisse" (ebenda) darstellen. Eine weitere Einschränkung bezieht sich auf die Modellkomplexität, die aus einer durchaus wünschenswerten Erweiterung des Modells resultiert (S. 113). Hier wäre zu prüfen, ob die Komplexität nicht durch einen blockrekursiven Aufbau des Modells reduziert werden könnte. Vielleicht kann die Habilitationsschrift, auf die der Autor am Ende der Arbeit verweist, hier eher Aufschluss geben. Der dritte und letzte Teil bezieht sich auf Arbeiten zum Thema „Institutionen und evolutorische Ökonomik". Am Beginn dieses Teils findet sich das Referat von Martina Eckardt, betitelt mit „Institutionen- und evolutionsökonomische Erklärungen des Rechtswandels". Die detailliert gegliederte Arbeit bezieht sich auf zwei Arten von Ansätzen zur Erklärung des Rechtswandels, (1) institutionenökonomische Ansätze und (2) effizienzorientierte Ansätze. Bei letzteren fragt sich der Leser mit dem Koreferenten Malcolm Dunn (S. 305), „was bedeutet überhaupt effizient in Bezug auf den Rechtswandel? Effizienz, woran gemessen? Und was ist in diesem Kontext mit Wettbewerb gemeint?" Die Autorin verweist darauf, dass der Prozess der Rechtsinnovation analog zur neoklassischen MikroÖkonomik modelliert wird. (S. 169). Für Evolutoriker ist das insofern problematisch, als in der Modellwelt der Neoklassik Innovationen nicht vorkommen können, da sich Unvorhergesehenes in einer Welt vollkommener Information logisch verbietet. In diesem Fall nutzt nur, wie bei der Autorin (S. 169), die Modellierung mit exogenen Faktoren, „wie der Präferenzen, der Faktorausstattung, der Technologie und der Informationskosten".

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Unter dieser problemvermeidenden Prämisse wird der aufgetretene Rechtswandel durch die mikroökonomische Modellmechanik pareto-effizient verarbeitet, da Rechtsinnovationen nur durch freiwillige Tauschakte verarbeitet werden können. Hier schimmert wohl die strittige Rechtstheorie von Richard A. Posner durch (Mestmäcker 2007), den die Autorin mit der politischen Ökonomie in Verbindung bringt. Das von der neoklassischen MikroÖkonomik qua Annahme ausgeschaltete Wissensproblem lässt sich mit Hayeks „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" angehen, was die Autorin mit den wissensorientierten Ansätzen (Teil 4.1, S. 139 ff.) auch versucht, obgleich Hayek die neoklassische Modellwelt mit seinem Aufsatz „Wirtschaftstheorie und Wissen" (1936) äußerst kritisch beurteilte. Die Aufnahme wissensorientierter Ansätze führt die Autorin zu Hayeks Rechtswandel durch Richterrecht. Wenn sie darauf verweist, dass der Richter bei bekannten Konfliktlagen auf die zu einem Zeitpunkt bestehenden informellen Normen zurückgreift, findet sie sich in Übereinstimmung mit Hayek, der Sitten (customs) als Rechtsquellen betrachtet. Besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf den Rechtswandel durch interjurisdiktionellen Wettbewerb (Teil 4.3.2, S. 192f.). Angesprochen wird damit von ihr der inzwischen aktuell gewordene System- oder Standortwettbewerb als eine Form interjurisdiktionellen Wettbewerbs. Ihrem Befund, dass noch keine ausgearbeitet Theorie dieses Wettbewerbs vorliegt (Streit 2001), ist wohl zuzustimmen. Bisher erwies sich das politisch ökonomisch relevante Zusammenwirken der Hirschmanschen Kategorien „voice" und „exit" explikativ als wenig zugänglich. Die Autorin beschränkt sich dabei auf eine Analyse der Bedingungen für diese Art von Wettbewerb. Das führt sie gegen Ende dieser überblicksartigen Arbeit zu dem Eingeständnis, „dass wir im Hinblick auf eine evolutionsökonomische Theorie des Rechtswandels noch ziemlich am Anfang stehen" (S. 196). Das vorletzte Referat in diesem Band stammt von Fritz Rahmeyer und hat den Titel „Auf dem Wege zu einer evolutorischen Theorie der Unternehmung". Wie der Titel nahe legt, handelt es sich dabei um einen auf dem Gang durch die relevante Literatur entstandenen Überblick zu Unternehmenstheorien, die klassifiziert werden in technologisch ausgerichtete Theorien (Teil 3.1), effizienzorientierte Faktoren (Teil 3.3) und evolutionsorientierte Theorien (Teil 4), die der Leser erst am Ende des vom Autor angekündigten Weges erwarten würde. Im Übrigen bemüht sich der Autor um eine klassifizierende Deskription, gestützt auf eine breite Literaturkenntnis. Bei seinen abschließenden Bemerkungen (Teil 5) angekommen, fragt sich der Leser, wie das Ende des vom Autor angekündigten Weges wohl aussehen mag. Der Leser sollte sich wohl mit einer Auflistung einschlägiger Autoren wie Nelson, Winter, Marshall, Schumpeter und Penrose sowie dem Satz bescheiden: „Evolutorischer Wandel ist das gemeinsame Ergebnis von beabsichtigter Unternehmensstrategie und Selektion von Vielfalt durch die Umwelt" (S. 234). Im letzten Beitrag des Bandes fragt Peter Weise: „Selbstorganisation: ein fruchtbares Konzept für die evolutorische Ökonomik?" Er geht dazu auf ein systemtheoretisch geprägtes Paradigma kompetent ein, das „allumfassend in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften geworden ist" (S. 243). Systemtheoretisch wird es handhabbar, wenn es sich auf eine große Zahl interaktiver Elemente bezieht. Letztere können entweder selbstorganisiert oder fremdorganisiert sein. Der Autor siedelt dieses Paradigma ursprünglich bei der klassischen Physik an. Gegenwärtig wird es allerdings auch z.B. in der neurowissenschaftlich orientierten Kognitionstheorie genutzt und dort von Vertretern des sog. Radikalen Konstruktivismus (z.B. v. Förster, v. Glasersfeld, Watzlawick). Die Verwendung dieses Ansatzes durch Hayek in der Ökonomik begünstigte seine ordnungstheoretischen Konzepte der spontanen Ordnung und des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren, mit denen er auf wenig Verständnis in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften stieß, wie er selbst einmal bedauernd feststellte. Für die Kognitionstheorie war er insofern ein Vorläufer bei der Verwendung des Ansatzes, als er mit seiner „Sensory Order" (1952) neurowissenschaftliches Neuland betrat {Streit 2006). Zu einer formalisierten Präsentation konnte er damit nicht vordringen. Über eine mit Kombinatorik gestützte verbale Argumentation hinaus verzichtete er vermutlich auf eine mathematische Darstellung. Gemessen daran kommt der Autor dieses Beitrags insofern ein Stück weiter, als er ein allgemeines Modell der Selbstorganisation mathematisch und gleichgewichtsorientiert formuliert (S. 247 ff.), um

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dann zu seinem Gegenstand, der Selbstorganisation in der evolutorischen Ökonomik, zu gelangen (S. 256 ff.)- Er vermutet, dass schon Adam Smith den Grundgedanken des Paradigmas „unsichtbaren Hand" vorweggenommen habe (ebenda). Etwas verwirrend dürfte die Unterscheidung des Autors zwischen Mikro- und Makroebene sein (S. 257), wenn der Leser an die herkömmlichen Kategorien denkt. Gemeint sind vom Autor die einzelwirtschaftliche und die Ebene des Marktprozesses. Damit dürften die ungeplanten Ergebnisse auf der Marktprozessebene und die nicht intendierten Handlungsfolgen (wiederum bezogen auf die Marktebene) verständlicher werden. Später (S. 254) weist der Autor auf einen bedeutenden Unterschied zwischen der physikalischen und ökonomischen Selbstorganisation hin. Im ersten Fall sind die Systemelemente passiv, währen sie im zweiten Fall initiativ und mit Erwartungen sowie Absichten ausgestattet sind. Die beiden Fälle beschreiben das, was Hayek mit der Unterscheidung von geplanter und ungeplanter oder spontaner Ordnung meint. Für ihn dürfte die ungeplante Ordnung ein Phänomen der Selbstorganisation sein, während die geplante Ordnung ein Produkt der Fremdorganisation wäre. Abschließend kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Übertragung des betrachteten Paradigmas auf die evolutorische Ökonomik sowohl nach Anwendungsbereich als auch nach Erkenntnisgewinn bescheiden bleibt (S. 260). Das dürfte, gemessen an der ebenfalls der klassischen Physik (Mechanik) entlehnten Neoklassik bescheiden sein. Es kann jedoch auch als Aufforderung angesehen werden, weiterzusuchen, ohne die zentralen Phänomene der Neuerung und Entwicklung aus dem Auge zu verlieren. Literatur Mestmäcker, E.-J. (2007), A legal Theory without law, Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 174, Walter Eucken Institut, Tübingen. Streit, M. E. und D. Kiwit (2001), Zur Theorie des Systemwettbewerbs, in: M. E. Streit (Hg.), Jenaer Beiträge zur Institutionenökonomik und Wirtschaftspolitik, Contributiones Jenenses Bd. 10, S. 328363, Baden-Baden. Streit, M. E. (2006), Nachwort des Übersetzers und Herausgebers von F.A. Hayek, Die sensorische Ordnung, Gesammelte Schriften von F.A. Hayek in deutscher Sprache Bd. 5, Tübingen, S. 259-272.

Petra Stykow und Joachim Zweynert

Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History Zu dem gleichnamigen Buch von Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast Mit der Botschaft „institutions matter" ist der Wirtschaftshistoriker Douglass North seit Ende der 1980er Jahre weit über die Grenzen seiner Disziplin hinaus rezipiert und zu einem der wichtigsten Vertreter des Neoinstitutionalismus geworden. In den vergangenen Jahren verfolgte er gemeinsam mit Barry Weingast und John Joseph Wallis das Projekt, ein methodisches Konzept

zur umfassenden Interpretation der gesamten schriftlich überlieferten Menschheitsgeschichte zu erarbeiten. Es geht den Autoren dabei nicht um die Formulierung einer neuen formalen Theorie, welche ökonometrisch getestet werden kann, sondern um nichts weniger als einen „fundamentally new approach to social science analysis" (S. 257), den sie ausgiebig mit histori* Douglass C. North, John Joseph Wallis, Barry R Weingast, Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History, Cambridge 2009, 308 Seiten.

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sehen Beispielen illustrieren. Ein solcher Ansatz sei erforderlich, weil die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bisher trotz aller Bemühungen nicht überzeugend erklären könnten, „how economics and political development are connected either in history or in the modern world" (S. xi). Mit dieser Feststellung und ihrer daraus abgeleiteten Forderung nach facherübergreifender Kooperation knüpfen die Autoren - wenn auch unbewusst - an die Forschungsagenda der Freiburger Schule an. Vier Konzepte bilden das Gerüst dieses Ansatzes (Kap. 1 und 7): Als das Grundproblem jeder menschlichen Gesellschaft wird „Gewalt" (violence) identifiziert, speziell die kollektiv organisierte Gewalt in Form physischen Zwangs bzw. seiner Androhung. Damit große soziale Gruppen dauerhaft bestehen und sich entwickeln können, muss sie eingehegt und beschränkt werden. Dafür bedarf es einerseits „Institutionen" und andererseits „Organisationen", die entsprechend Norths früherer Arbeiten definiert sind: Institutionen sind die Regeln für die Gestaltung sozialer Beziehungen, welche die Handlungsspielräume von Individuen eingrenzen, aber auch strukturieren, wie Erwartungen über das Verhalten anderer gebildet werden. Organisationen sind Gruppen von Individuen, die mittels partiell koordinierten Handelns einen Mix aus gemeinsamen und individuellen Interessen verfolgen und meist selbst eine eigene institutionelle Struktur aus Regeln, Normen und geteilten Überzeugungen aufweisen. Das vierte Konzept schließlich (das in der weiteren Argumentation seltener eine Rolle spielt) ist das der „Überzeugungen" (beliefs), welche als „intellectual road maps" (Hayek) der Wahrnehmung der sozialen Umwelt einschließlich der in ihr herrschenden Kausalbeziehungen zugrunde liegen und so die Entscheidungen von Individuen beeinflussen. Beliefs spiegeln die Struktur der Organisationen und Institutionen der betreffenden Gesellschaft wider. Dieses Konzept soll kulturelle Faktoren in den Ansatz integrieren und so den Zugriff auf den Variantenreichtum menschlicher Gesellschaften und ihrer Dynamik ermöglichen. In der Art und Weise, wie Gesellschaften Gewalt einhegen, sehen North und seine Kollegen das typologische Kriterium für eine Systematik von Mustern der Sozialorganisation (social Order). Abgesehen von den frühgeschichtlichen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die durch endemische Gewalt geprägt waren, unterscheiden sie zwei Typen der Sozialordnung, die sich durch kategorial verschiedene Logiken der Gewaltkontrolle auszeichnen: In natural states (Kap. 2 und 3) verfügt jeder, der stark und organisiert genug ist, sie anzuwenden, über den Zugang zu Gewaltressourcen, die daher auf verschiedene Individuen und Gruppen verteilt sind. Diese bilden eine „dominante Koalition", innerhalb derer Wettbewerb stattfinden kann. Aufgrund gegenseitiger Gewaltandrohungen wird ein Gleichgewicht ausbalanciert. Das Handeln der Eliten, die vielfach verflochtene ökonomische, religiöse, politische und soziale Interessen verfolgen, wird durch Arrangements koordiniert, in denen Renten anfallen und zu denen der Rest der Gesellschaft nur eingeschränkten Zugang hat (limited access society). Die Mitglieder der dominanten Koalition teilen trotz ihrer Heterogenität das Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung, für welche die Beschränkung des Zutritts zum politischen wie zum ökonomischen Wettbewerb konstitutiv ist. Der Herrschaftskompromiss innerhalb der mächtigen Koalition wird abgesichert, indem ökonomische Privilegien eingeräumt werden, und umgekehrt: Politische und wirtschaftliche Wettbewerbsbeschränkungen bedingen sich durch eine „double balance" wechselseitig (S. 20). Die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts bilden persönliche Beziehungen zwischen den ressourcenstarken Individuen, während die Chancen, sich zu öffentlichen oder privaten Organisationen zusammenzuschließen, für alle anderen Gesellschaftsmitglieder begrenzt bleiben. Natural states haben sich seit der ersten sozialen („neolithischen") Revolution vor ca. 10.000 Jahren herausgebildet. Sie sind, so die Autoren, bis heute die Normalform menschlicher Vergesellschaftung geblieben. Erst seit der zweiten sozialen Revolution, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, entsteht mit dem Typus der open access society eine soziale Ordnung, die nicht auf zwischen den Eliten ausgehandelten Arrangements, sondern auf Massenbürgerschaft beruht (Kap. 4). Sie ist durch den offenen Zugang zu Politik und Wirtschaft definiert. Unpersönliche Kategorien von Individuen („Bürger") interagieren in vielfältigen Be-

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reichen, darunter in Organisationen, deren Mitgliedschaft für jeden offen steht. Die Ausdehnung von Bürgerrechten auf tendenziell alle Gesellschaftsmitglieder führt zu massenhafter politischer Partizipation und politischem Wettbewerb; die offene Wirtschaft entsteht durch die Gewährung des Zugangs zu den unterschiedlichen Wirtschaftsformen und zu den Kredit- und Gütermärkten. An die Stelle personeller Abhängigkeiten treten Universalität und Unpersönlichkeit von Rechten sowie die rule of law. Diesem Typus der open access society ordnen North, Wallis und Weingast nur ca. 25 Länder der Erde zu. Sie sind im politischen System durch repräsentative Wettbewerbsdemokratien und im ökonomischen System durch kompetitive Märkte gekennzeichnet; Gewalt wird hier politisch, durch den Staat, kontrolliert. Dieser konzeptionelle Rahmen bietet neben einer Typologie sozialer Ordnung sowohl eine „theory of politics", welche die Verteilung von Macht, Gewalt und ihrer Anwendimg in einer Gesellschaft erklärt, als auch eine „theory of government", die sich mit Strukturen und Akteuren des „Regierens" befasst. Auf dieser Grundlage skizzieren North und seine Koautoren eine Theorie des Staates. Deren volle Entfaltung wird zwar vertagt (S. 270), aber ihr Ausgangspunkt ist eine Alternative zum traditionellen Verständnis (von Weber und Olson bis zum früheren North)-. In natural states ist der Staat keineswegs ein unitarischer Akteur, der über das Gewaltmonopol verfügt. Das Militär wird regelmäßig nicht vollständig durch die formale Regierung kontrolliert, und die großen Wirtschaftsorganisationen sind gleichzeitig auch politische Akteure. Nur in einer open access society verfügt der Staat über ein konsolidiertes Gewaltmonopol, das im Verlaufe von institutioneller Separation und Spezialisierung - also funktionaler Ausdifferenzierung - entstanden ist. Das fehlende Gewaltmonopol in natural states bedeutet auch, dass in ihnen der politische Prozess nicht durch die Interaktion zwischen „Herrscher" und „Volk" erklärt werden kann (wie etwa bei Acemoglu und Robinson 2006). Maßgeblich sind vielmehr die Auseinandersetzungen und Arrangements innerhalb der dominierenden Koalition. Gleichwohl ist die Unabhängigkeit von Politik und Wirtschaft, die Politikwissenschaftlern und Ökonomen die isolierte Analyse der gesellschaftlichen Teilbereiche erlaubt, auch hier eher Schein als Realität. Deshalb mahnen die Autoren eine stärker integrierte Politische Ökonomie an. Damit stehen sie nicht allein, aber sie bringen eine wichtige Einsicht ein: „Natural states are not sick" (S. 269). Zwar weisen open access societies eine überlegene politische und ökonomische Dynamik auf. Dennoch sind natural states keinesfalls ein dysfunktionaler Typ der sozialen Ordnung. Dank ihrer je spezifischen Funktionslogik erfüllen vielmehr beide Typen die wichtigsten Aufgaben für die Existenz menschlicher Gesellschaften: Sie gewährleisten Stabilität und Ordnung und sind damit Zuständen vorzuziehen, in denen endemische Gewalt herrscht. In ihrer Theorie des sozialen Wandels unterscheiden die Autoren dementsprechend zwei Prozesse, die weder zwangsläufig noch einseitig gerichtet oder irreversibel ablaufen: Erstens können sich natural states innerhalb der Grenzen ihrer Funktionslogik entwickeln, wobei sich ihre Zuordnung zu Subtypen entsprechend des Entwicklungsgrades ihrer Organisationen und Institutionen ändert (Kap. 2.3, 2.6-2.9). Zweitens kann sich ein Übergang von einer Gesellschaft mit beschränktem Zugang zu einer mit offenem Zugang vollziehen. Ein solcher Übergang ist nur in reifen natural states möglich, in denen zudem spezielle Schwellenbedingungen (doorstep conditions) dafür vorliegen (Kap. 5): rule of law, die sich auf alle Angehörigen der Elitenkoalition erstreckt; öffentliche und private Organisationen, deren Existenz nicht mehr an das Leben ihrer individuellen Mitglieder gebunden ist und die Rechtspersonen darstellen (perpetually lived organizations); konsolidierte Kontrolle des Militärs durch eine politische Organisation, die üblicherweise in die Regierungsstrukturen integriert ist. Der Transitionsprozess selbst (Kap. 6) beginnt aber nur unter der (kontingenten) Bedingung, dass die Eliten ein gemeinsames Interesse daran entwickeln, gewisse persönliche Privilegien in unpersönliche Rechte für alle Angehörigen der dominanten Koalition zu überfuhren und durch institutionelle Reformen abzusichern. Dies ist denkbar, sollten die Eliten annehmen, dass sie ihre Privilegien im intraelitären Wettbewerb besser sichern können, wenn sie als gemeinsame Rechte - als unpersönliche Bürgerrechte - definiert werden. Das wiederum erleichtert es, sie schließlich auf größere Gruppen

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in der Gesellschaft auszudehnen, welche dadurch in die Lage versetzt werden, politische, ökonomische und andere Organisationen zu gründen. Die konzeptionelle Stärke des vorgeschlagenen Ansatzes liegt darin, mit dem Problem der Gewaltkontrolle ein grundsätzliches Problem sozialer Beziehungen als konstitutiv für jede Gesellschaft zu konzipieren, das in allen Sozialwissenschaften (und auch in der Geschichtswissenschaft) traditionell Beachtung findet. Es ist jedoch bisher nicht als Kriterium von Gesellschaftstypologien verwendet worden; vielmehr bilden sowohl die Wirtschafts- als auch die Politikwissenschaft eigene Begriffssysteme anhand von Eigenschaften der je disziplinär analysierten Teilsysteme (Märkte und Privateigentum vs. staatliche Kontrolle und Staatseigentum bzw. demokratische Wahlen vs. andere Selektions- und Legitimierungsmechanismen der politischen Eliten). Das Konzept von North und seinen Koautoren ist dabei mehr als ein interdisziplinäres Begriffsangebot. Es erlaubt auch einen innovativen Blick auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, darunter insbesondere auf eine der Großen Fragen von Wirtschafts- und Politikwissenschaft - auf den Zusammenhang von sozioökonomischer Entwicklung und Demokratie. Das wirft ein neues Licht auf ein Problem, für das die Entwicklungs- und Demokratieforderung insbesondere seit den 1990er Jahren vielfache empirische Belege erbracht hat, das aber noch immer kaum verstanden ist: Der Transfer von Institutionen in andere Kontexte bedeutet häufig nicht, dass dort die erwarteten Effekte auftreten. So führen die von „westlichen" Ökonomen empfohlenen Reformen in Schwellen- und Entwicklungsländern regelmäßig nicht zu Wachstum, sondern zu steigender Korruption und zur Bereicherung mächtiger Eliten, und die Einführung von Wahlen verhindert keineswegs zwangsläufig die (Neu-)Etablierung autoritärer politischer Systeme. North et al. erklären das Scheitern gesellschaftlicher Großreformen damit, dass Institutionen und Politiken von open access Orders entweder die Situation der betreffenden Gesellschaft verschlechtern statt verbessern oder aber von den Eliten abgewehrt werden: Weil Zugangsbeschränkungen zu Märkten und Politik Kooperationsanreize für Individuen und Gruppen schaffen, die sich anderenfalls gewaltsam durchzusetzen versuchen würden, unterminiert ihre Abschaffung und die Einführung von universeller und unpersönlicher Rechtsgeltung die Stabilität dieses Gesellschaftstyps existentiell. Institutionen zeitigen also kontextabhängige und interdependente Effekte, und dies bezieht sich nicht nur auf die konkrete „Kultur" oder „Geschichte" der betreffenden Gesellschaft, sondern auch und vor allem auf ihren (Sub-)Typ. Die Empfehlung, marktwirtschaftliche und demokratische Reformen durchzuführen, hat den Autoren zufolge nur dann Erfolgsaussichten, wenn ein natural State zum einen bereits an der Schwelle zur open access society steht und seine Eliten zum anderen ein Interesse daran entwickelt haben, den unbeschränkten Zugang aller Bürger zu den politischen und ökonomischen Märkten zu öffnen. Bereits in einem früheren Aufsatz 1 haben die Autoren diese bedeutsamen entwicklungspolitischen Implikationen angerissen. Sie enttäuschen hier insofern, als dass sie diese Überlegungen nicht weiterführen. Zum einen beschränken sie sich auf historische Fälle. Zum anderen lässt es der Umstand, dass alle drei Fallstudien (Großbritannien, Frankreich, USA) Erfolgsstories des Überganges zur open access order sind, beinahe wie ein Lippenbekenntnis erscheinen, wenn die Autoren mehrfach beteuern, es handele sich keineswegs um ein teleologisches Konzept, und gescheiterte Transitionen seien der historisch weit relevantere Fall. Wenn dem so ist, dann wäre es sehr zu wünschen gewesen, dass die Autoren zumindest eine ihrer historischen Fallstudien einem solchen Scheitern gewidmet hätten. Zudem stellt sich die Frage, wie relevant die Geschichte dieser ersten open access das Verständnis heutiger Transitionsprozesse ist. Denn die Gesellschaften, die heute gang von der limited zur open access order in Angriff nehmen, tun dies auf dem nachholenden Entwicklung und damit in der Regel durch den Import von Ideen

Orders für den ÜberWege der und Insti-

1 North, Douglass C.; Wallis, John Joseph; Webb, Steven B.; Weingast, Barry R. (September 2007):

Limited Access Orders in the Developing World. A New Approach to the Problem of Development. The World Bank (Policy Research Papers, 4359).

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tutionen, die sich in anderen gesellschaftlichen Kontexten entwickelt haben. Eine Antwort auf die Frage, welches die Voraussetzungen dafür sind, dass solche Importe auf entwicklungsfördernde Weise mit der inhärenten Logik der einheimischen Ideen und (formellen wie informellen) Institutionen interagieren, bleiben die Autoren schuldig. Der Hinweis darauf, dass ein erfolgreicher Übergang nur dann möglich ist, wenn die betreffende Gesellschaft bereits von sich aus an der Schwelle zum Übergang steht, ist völlig unbefriedigend. Gerade hier rächt es sich, dass die Autoren ihr Vorhaben nicht verwirklicht haben, die Rolle von beliefs bei der Herausbildung von open access Orders näher zu untersuchen. Denn gerade die kognitive und die kulturelle Ebene institutionellen Wandels, denen North ab den 1990er Jahren eine ganze Reihe von Beiträgen gewidmet hat, wären möglicherweise von entscheidender Bedeutung, um die heutigen Transitionsprozesse besser zu verstehen. Indem nicht nur beliefs, sondern auch das gesamte Themenfeld der informellen Institutionen - trotz wiederholter, aber anekdotischer Verweise auf kulturelle Faktoren - kaum behandelt wird, kann man das Buch innerhalb des Northschen Œuvres in der Nähe seines Structure and Change in Economic History aus dem Jahre 1981 verorten. Man mag das als Rückschritt oder als Fortschritt gegenüber seinen Arbeiten nach 1990 deuten: Violence and Social Orders bietet zwar eine weit stringentere theoretische Analyse als Norths späte Werke. Aber diese Stringenz wird durch die weitgehende Abstraktion vom Problem der historischen Spezifizität menschlicher Gesellschaften erkauft. Unbenommen dieser Einwände gilt: Mit Violence and Social Orders legen North, Wallis und Weingast ein anspruchsvolles konzeptionelles Angebot für Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Provenienz vor, das zu diskutieren ist. Erweist sich die enorme Abstraktion, die hinter aller Varianz menschlicher Gesellschaften letztlich nur kategoriale Unterschiede im Umgang mit organisierter Gewalt gelten lässt, tatsächlich als fruchtbar? Dürfen die Unterschiede zwischen ökonomischem Wettbewerb einerseits und politischem Wettbewerb andererseits über die insbesondere in der politikwissenschaftlichen Literatur seit Jahrzehnten diskutiert wird - ohne Einbußen an theoretischer Angemessenheit vernachlässigt werden? Lässt sich der Ansatz sinnvoll operationalisieren und empirisch testen? Und kann das hier vernachlässigte Gebiet der „weichen" Determinanten institutioneller Wandlungsprozesse in das Konzept integriert werden, ohne seine Stringenz zu untergraben.

Adolf

Wagner

Eine anekdotische Volkswirtschaftslehre für jedermann Zu einem Taschenbuch von Heiner Flassbeck* Heiner Flassbeck (Jahrgang 1950), Acting Director der UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) in Genf, von 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium (zur Zeit von Oskar Lafontaine), seit 2005 Honorarprofessor an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, versucht die Bürger zu interessieren und zum Nachdenken zu ermuntern. Die Denkverbote einer weltweit gleichgeschalteten und hilflosen MakroÖkonomik reizen ihn zum Widerspruch. „ Ökonomisches Gammelfleisch " auf den Frühstückstischen? Es ist sehr schwer, die Bevölkerung für ihre eigenen Angelegenheiten wirtschaftlicher Art zu interessieren und zum kritischen Nachdenken darüber anzuregen. Im vorliegenden Taschenbuch *

Heiner Flassbeck, 50 einfache Dinge, die Sie über unsere Wirtschaft wissen sollten, Piper Boulevard, München 2008, 171 Seiten.

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wird das mit plastischen Bildern und auch ein wenig Zorn versucht. Der Autor - kein nationalökonomischer Niemand - will dem Wähler und Leser bewusst machen, wie viel ökonomisches Gammelfleisch ihm jeden Tag von unseren Medien und den politischen Meinungsträgern aufgetischt wird (S. 14). Man könnte die Überschrift wählen: „Über die notleidende deutsche MakroÖkonomik". Vor etwa 20 Jahren haben sich die deutschen Ökonomen ohne jeden äußeren Zwang dazu entschlossen, das gesamtwirtschaftliche Denken über Bord zu werfen. Nach 40 Jahren Makroökonomie war MikroÖkonomie angesagt und wurde, gründlich wie man in Deutschland ist, nicht als Ergänzung, sondern gleich als Ersatz für die ungeliebte Makroökonomie betrachtet (S. 10). Wo Politische Ökonomik gefragt ist, bemüht man falsche betriebswirtschaftliche Analogien. Erzürnt hat den Schreiber die Hybris der Laienschar, allen voran zwei Bundespräsidenten, die meinten, nicht die Erkenntnis sei das Problem, sondern allein die politische Durchsetzung (Siehe Einleitung: Der Ruck in den Abgrund, S. 9). Es lohnt, sich den Provokationen des Büchleins zu stellen. Magische Vielecke der Wirtschaftspolitik, keine

Gleichgewichtstendenzen

Die konkreten Ärgernisse für Flassbeck in Schlagworten: In Deutschland liegt die Arbeitslosenquote noch immer bei rund 8 %; die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts bleibt 2008 unter 2 %, und die Inflationsrate wird 2008 wohl 2,7 % erreichen (The Economist 2008). Die Wirtschaftspolitik hat nach wie vor ihre „Magic Poliygons" zu verzeichnen, die magischen Drei-, Vier- oder sonstigen Vielecke variierender und konflikthafter Ungleichgewichtslagen (etwa Neuneck nach Wolfgang Eichhorn). Statt ehrlichen und mühevollen makroökonomischen Bemühens für die Wirtschaftspolitik greift wieder ein blindes und absonderliches Vertrauen in reale umfassende Gleichgewichte um sich. Das Büchlein von Flassbeck darf nicht als ein besserwisserischer alternativer Katechismus zu den dicken, leserunfreundlichen Sachverständigenratsgutachten und den unfruchtbar einheitlichen Lehrbüchern der MakroÖkonomik herangezogen werden. Wiewohl eine von den USA ausgehende Gleichschaltung makroökonomischen Denkens Züge religionswissenschaftlicher Rechtgläubigkeit aufweist, die der Methodologie des kritischen Rationalismus hohnsprechen, macht sich Heiner Flassbeck mit dem Appell an den gesunden Menschenverstand und an das Denkvermögen mündiger Bürger verdient und unbeliebt zugleich. Flassbeck wider die

Rechtgläubigen

Die Mehrheitsökonomen des „Main Stream" haben zu allen Zeiten versucht, sich per Konvention auf bestimmte Aussagengebäude zu verständigen und kritischen Geistern wie Flassbeck den Weg zu verbauen. Selbst bei offenkundiger Unfähigkeit für das Wohl der Bürger. Klare Worte findet man in der Nobel-Lesung eines Maurice Allais vom 9. Dezember 1988, in der es u. a. heißt: Die vorherrschenden Ideen, so irrig sie auch sein können, gewinnen einfach durch ständige Wiederholung den Charakter von etablierter Wahrheit, die man nicht in Frage stellen kann, ohne sich dem Bannstrahl des „Establishments" auszusetzen. Dieser Bannstrahl hat Heiner Flassbeck längst auch getroffen. Das spärliche Literaturverzeichnis verrät seine Neigungen zu Sympathisanten keynesianischen Denkens (Peter Boflnger und Gustav Adolf Horn), zu populären Mahnern (etwa Meinhard Miegel und Gabor Steingart), wie auch zu Popanz-Schriften (von Hans-Werner Sinn), auf die Flassbeck einschlägt (vgl. S. 109 ff.: Der Unsinn des Herrn Sinn). Gehen wir nun zu einzelnen konkreten Denkanstößen von Heiner Flassbeck. Ein systematischer Unter- oder Überbau fehlt. Am Schluss des Einleitungskapitels entschuldigt sich Flassbeck, er sei aus beruflichen Gründen zurzeit nicht in der Lage, eine systematische Darstellung einer alternativen Ökonomie zu Papier zu bringen (S. 14). Es handelt sich beim vorliegenden Taschenbuch also nicht um eine systematische, sondern eher um eine anekdotische, vielleicht auch fraktale Volkswirtschaftslehre.

Buchbesprechungen Die einfachen Dinge fiir alle nationalökonomischen

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Welches sind nun die 50 „einfachen Dinge", die jeder über unsere Volkswirtschaft wissen sollte? Dem Leserauge zuliebe hat das Lektorat proportioniert: 12 einfache Sachen unter „Wirtschaftspolitik", 8 unter „Globalisierung und Weltwirtschaft", 5 unter „Europäische Union", 9 „einfache Sachen" unter „Binnen- und Arbeitsmarkt", unter „Rente und Gesundheit" stehen 5 weitere einfache Sachen, 11 Themen sind unter „Steuer- und Finanzpolitik" gebündelt. Ich kann aber nur einzelne Körner herauspicken, um das Interesse der Leser zu wecken. Für Gewerkschaftsleute vor allem ist der zigfach wiederkehrende Gedanke an gesamtwirtschaftlich zweckmäßige höhere Arbeitseinkommen reizvoll. „Schlusslicht in Europa" (Thema 1) bildet den Einstieg. In den 90er Jahren scheint nichts, aber auch gar nichts von alten Erfolgen übrig geblieben zu sein. Selbst die deutsche Vereinigung, politische Krönung der Erfolgsstory, ist wirtschaftlich in die Hose gegangen und wird von vielen inzwischen als ein entscheidender Grund für den allgemeinen Niedergang angesehen (S. 17). Das treffe so nicht zu, und auch Überregulierung und soziales Netz hinderten die Wachstumskräfte nicht an der Entfaltung. Mit Erkenntnissen von der keynesianischen Hierarchie der Märkte schiebt Flassbeck die gängigen Klagen über verkrustete Arbeitsmärkte und die Gewerkschaften beiseite und in die zweite Reihe. Der Arbeitsmarkt sei dem Gütermarkt nachgeordnet; er folge mit seinem Beschäftigungsniveau dem Wirtschaftswachstum und der Weltkonjunktur, was empirisch belegt sei. Absatz und Nachfrage sind der Angelpunkt. Bei stagnierenden Reallöhnen stagnierte aber auch der inländische Absatz der Unternehmen, die daraufhin auch keine Leute einstellten (S. 21). Gleichwohl hätte Flassbeck einräumen können, dass Deregulierung und Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarktes überfällig waren. Löhne nicht nur als Kosten, sondern als Teilhabe am Volkseinkommen sehen Neue Regierung - alte Wirtschaftspolitik, so das Thema 2. Der alte Gefahrte von Oskar Lafontaine spricht hier und versucht Gerhard Schröder sowie die Koalitions-SPD zu ohrfeigen. Die Linken aus der SPD (in eine neue Partei hinein?) zu vertreiben, beklagt der Autor. Von den Konsequenzen würden einige uns noch um den Schlaf bringen. Am falschen Weg der neuen Regierung geht kein Weg vorbei. (S. 23) Einmal hätte Flassbeck nun seinen Lieblingsgegner Hans-Werner Sinn mit dem Ausspruch zitieren können, der Faktor Arbeit und die Arbeitnehmer sind die Verlierer der Globalisierung. Sich in falscher betriebswirtschaftlicher Analogie auf die Ansicht zu versteifen, Lohnkosten und Lohnnebenkosten gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, greift für die Politik allerdings zu kurz. Es geht - zur Sicherung der Demokratie 1 - um faire Teilhabe des Faktors Arbeit am Volkseinkommen. Die neuen alten MakroÖkonomen wollen nicht wahrhaben, dass volkswirtschaftliche Verteilungstheorie mit zwei Kunstgriffen im akademischen Betrieb und in der Politikberatung „stillgelegt" wurde: (S. 1) Mit der These, Verteilungsquoten steckten für jede Wirtschaftsgesellschaft quasi naturalökonomisch in den Produktionselastizitäten einer postulierten Makroproduktionsfunktion, (S. 2) mit der beharrlichen Verwendung von nur einer einzigen Größe für „Kapital" in den Modellen. Beide Kunstgriffe sind unfaire Fehlgriffe, und berühmte ältere deutsche Nationalökonomen - so Erich Preiser (1900 - 1967) und Wilhelm Krelle (1916 - 2004) wussten das bereits und haben darüber geschrieben. Insofern ist Heiner Flassbeck zuzustimmen, dass die neue Mehrheits-Makroökonomik Jahrzehnte zurückfallt auf alte Irrtümer, die dem angloamerikanischen „mainstream" zupass kommen. Zu viele Professoren leben anscheinend den karriereträchtigen Denkmustern nach und zu wenig den möglichen besseren Einsichten für das wirkliche Leben. Doch auch dies ist nicht neu: Die ethische Bindung an das Fach fehlt. Über Verteilung solle man laut Flassbeck nicht mehr viel reden (vgl. Thema 45, Verteilung über alles), allerdings dies wissen: Nach vierzig Jahren Umverteilung (von 1960 bis 1980 zugunsten der Arbeitnehmer, von 1980 bis 2000 vollständige Rückverteilung zugunsten der Un-

1 Vgl, hierzu Robert Reich (2007); Professor Robert Reich war von 1993 bis 1997 US-Arbeitsminister unter Präsident Bill Clinton.

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ternehmen) wäre es an der Zeit, die unselige Umverteilungsdebatte an den Nagel zu hängen. (S. 150) Es gehe um den Zuwachs des für alle verfügbaren Realeinkommens. .Andere Länder waren weniger laut in Sachen Umverteilung, dafür aber viel erfolgreicher beim Wachstum und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen." Soso. Auch hier Gemeinsamkeit mit den Neoklassikern. Rationale Wirtschaftspolitik? Für den berühmten David Ricardo (1772 - 1823) war die Verteilungsfrage der Kern der Nationalökonomik. Konjunktur- oder Strukturpolitik? Dies ist Thema 3. Am konjunkturpolitischen Nichtstun - auch seiner (?) SPD - nimmt der Autor Anstoß. Er hätte leicht den biblischen Automatismus der sieben mageren und sieben fetten Jahre für das Abwarten zitieren können. Das ist beklagenswerte Theorie der Altvorderen, die man allenfalls als Einleitung in Lehrbüchern benützt. Viele können Abwarten, aber nicht die gerade Arbeitslosen zu Zeiten hoher allgemeiner Arbeitslosigkeit. Offenbar verlässt man sich vollkommen auf die Wirkung der „strukturellen Reformen", wie die nächste Steuerreform und die Rentenreform (S. 25). Übersehen werde, dass das gesamte Wachstum der beiden letzten Jahre vollständig der in einmaligem Tempo expandierenden Weltwirtschaft geschuldet war und nicht den eigenen Leistungen (S. 25). Und dann noch die jüngste Mehrwertsteuererhöhung der Großen Koalition - laut Flassbeck in der schwierigsten Binnenmarktsituation seit 50 Jahren! Es sei falsch, auf langfristige Reformen auf der Angebotsseite zu setzen. Stärker als die Auswirkung aller Reformen auf die Wirtschaft wirkt immer die konjunkturelle Lage (S. 25). Zyklus und Trend, Konjunktur und Wachstum sind wissenschaftlich nicht wirklich zu separieren. Vielleicht interpretiert man Flassbeck am besten, wenn man typischerweise von Wachstumsschüben der Wirtschaft und dem pauschalen Auf und Ab der Wachstumsraten (Wachstumszyklen) ausgeht: Wie immer würden die Investitionen zurückgefahren, sobald die Umsätze sinken, und die Arbeitskräfte werden bei einem Nachfrageeinbruch so schnell wie immer entlassen. Nicht lamentieren sollten Politiker, sondern realistische Ökonomie lernen, damit man das nächste Mal weiß, was man wann tun sollte und was man schlicht lassen kann (S. 26). Lieber Flassbeck, hier erwartet der Leser Konkreteres! Am stehenden Fahrrad zerren? Nullrunden und null Wachstum kommen sodann zur Sprache (Thema 4). Das Problem sei wieder einmal die Logik, dass Verzicht des einen zwingend das Geschäft eines anderen verdirbt (S. 27). Ein marktwirtschaftliches System ohne Wachstum und Entwicklung sei wie ein Fahrrad im Stand: extrem labil und umfallgefahrdet (S. 27). Nur rasche Fortbewegung könne eine von unternehmerischen Entscheidungen getragene Volkswirtschaft stabilisieren. Der Umweltschutz müsse dabei nicht auf der Strecke bleiben. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass alle Parteien in Deutschland an dem stehenden Fahrrad zerren, um es in ihre Richtung zu bringen, dass aber niemand auf die Idee kommt, es anzuschieben und loszufahren (S. 28). Welchen Verheißungen sich die Unternehmen verschreiben, um Gewinne zu erzielen, ist eine weitgehend offene Frage. Mit dem Analogmodell des stehenden Fahrrads ist Flassbeck offenbar an Grenzen der vernünftigen Vermittlung an seine Leser geraten. Worauf will Flassbeck beim staatlichen „Machen" hinaus? Ordnungspolitik (Reformen aller Art) oder Prozesspolitik? Denkt er noch an Wassily Leontief {1905-1999), den Nobelpreisträger von 1973, der Mitte der 1980er Jahre noch auf der Hannover-Messe vor großem Publikum seine Input-Output-Tabellen vorstellen durfte, die anschließend in zahlreichen Dienstzimmern der volkswirtschaftlichen Universitätsprofessoren hingen? Die Nationalökonomen sollten beim Machen mehr auf die Ingenieure schauen, war eine Empfehlung Leontiefs. Will Flassbeck Staatsausgaben in Sektoren mit dem größten Multiplikator lenken? Bevölkerungsentwicklung

kümmert nicht

Wie bei allen Linken, zumal den sogenannten 68ern, wird die Demographie möglichst ausgespart. Weshalb? Nach allen Varianten ökonomischer Wachstumstheorie verursacht Schrumpfung doch eine permanente depressive Tendenz für die Wirtschaftsentwicklung (entweder unmittelbar „keynesianisch" über die Nachfrage und die Absatzerwartungen oder mittelbar „neo-

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klassisch" über die Dämpfung der Kreativität und des Fortschritts). Das Wachstum der USA geht nachweislich zu einem Teil auf das demographische Wachstum zurück. Peinliche Erinnerung an Lenin, man könne die Menschenproduktion ebenso regeln wie man die Güterproduktion regele? Peinliche Verbindung zum Thema Ehe und Familie bei Emanzipation? Peinliche Erinnerung der „Internationalen" an die Nation als das Staatsvolk jeder demokratischen Verfassung und auch des Grundgesetzes? Ausflüchte gemeinsam mit den geschmähten Neoklassikern: Innovationen, technologischer Fortschritt und Produktivitätssteigerungen seien viel wichtiger als Menschenzuwachs oder wenigstens das Konstanthalten irgendeiner Bevölkerungszahl in einem Land. Naivität im Hintergrund: Multikulturell aufgestockte Wirtschaftsbevölkerung durch freie Zuwanderungen jederzeit möglich. Beim Thema 19 (Globalisierung und Alterung) lässt Flassbeck sein Kätzchen aus dem demographischen Sack: Wenn die Arbeitskräfte in den kinderreichen Ländern mobil genug sind und wir sie hereinlassen, können China und Indien ohne weiteres die Lücken füllen, die die Kinderlosigkeit bei uns reißt (S. 70). Hier zeigt sich Flassbeck als ganz einfältiger NurÖkonom, der weder soziologische Forschungen zur Integration (etwa in der Schweiz) noch andere bevölkerungsökonomische Aspekte kennt. Austauschbare „Proletarier aller Länder"? Stattdessen halten wir die Grenzen für Einwanderung dicht und suchen offenbar eine Lösung durch Panikmache (S. 70). Für wen, wenn nicht die Staatsbürger, soll denn Einkommens- und Wohlstandswachstum einer Volkswirtschaft erreicht werden? Flassbeck: Weshalb denn über die absehbare Abnahme der Arbeitsbevölkerung klagen, wenn man gegenwärtig nicht zur Vollbeschäftigung in der Lage ist? Günther-Paradoxon als eine seit 1931 bekannte Denkmöglichkeit bevölkerungsbedingter Arbeitslosigkeit! Das wäre für mich das 51. „einfache Ding" zu wissen: Dass kein Staatsvolk und keine Wirtschafitsgesellschaft unbegrenzt schrumpfen kann (Nettoreproduktionsrate ständig unter Eins), ohne in Schwierigkeiten zu geraten (depressive Tendenzen, bevölkerungsbedingte Arbeitslosigkeit; Gefahrdung sozialer Sicherungs- und Bildungssysteme, die auf Konstanz angelegt sind; „tiefsitzendes gesellschaftliches Übel" laut Joan Robinson). Der Pragmatiker J. M. Keynes sprach bereits 1925 von der selbstverständlichen Pflicht des Staates, sich mit der Größe der Bevölkerung ebenso zu befassen wie etwa mit der Größe des Staatshaushaltes. Ostdeutschland, Bayerischer Wald und regionale Entwicklungsreserven Wer die Bedeutung der Bevölkerungsentwicklung für die Wirtschaftsentwicklung und die örtliche Lebensqualität sehen möchte, besuche Ostdeutschland abseits von Dresden, Leipzig und Chemnitz. Die Kombination aus defizitärer Geburtenentwicklung und Nettoabwanderung der Jüngeren hat denkbar ungünstige Bedingungen für Produktion, Unternehmensgründungen und Handel in den ländlichen und kleinstädtischen Regionen bewirkt. Der sogenannte „Rückbau" von Großimmobilien belastet neben allem anderen die Stimmung der Bevölkerung. Statt die „Fluchtgelder" zu thematisieren (vgl. Thema 46) hätte man die von manchen vorgeschlagenen „Bleibeprämien" für Ostdeutsche erwähnen können (von mir seinerzeit DM 1.000 pro Kopf und Monat). Menschen in Ostdeutschland zu halten oder dorthin zurückzuholen, wäre allemal wichtiger als die Rückholung von „Schwarzgeld aus Liechtenstein oder Luxemburg" (siehe S. 150). Bevölkerungsbewegungen sind zum einen strukturabhängig (vgl. derzeitige Arbeitsplätze) und zum anderen strukturbildend (siehe künftige Arbeitsplätze durch Gewerbeansiedlungen)! Niemand wäre je auf die Idee gekommen, die Angleichung des Bayerischen Waldes an den Großraum München zu propagieren. Selbstangleichung und Gleichmachen sind Fehlvorstellungen in der Regionalökonomik. So etwas geht nicht und macht keinen Sinn. Weniges aus volkswirtschaftlicher Feder war so blamabel wie die zeitlichen Angleichungsprognosen für Ostdeutschland an Westdeutschland. Da hätte Flassbeck einige Vertreter der ß-Konvergenz und ähnlicher Konstrukte aufspießen können. Andere Entwürfe hatte von Anfang an Paul Krugman (1991; geb. 1953) der daraufhin vom „Mainstream" ausgesondert wurde. Kenntnisse der älteren regionalökonomischen Literatur hätten vor den Angleichungs-Parolen bewahrt. Unverstandene Wiedervereinigung: Die gleichen Akteure, die die Weichen für die Vereinigung gestellt hatten,

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zu nennen ist hier vor allem der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, gingen in Sachen Makropolitik für Gesamtdeutschland nur Monate nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland zur Tagesordnung über (S. 39). Im Kopfschütteln über das einstmals moderne „Transformationsthema" hat jemand gesagt, man habe nun einfach Märkte in Ostdeutschland spielen lassen. Das sei alles gewesen - auch damals für Tietmeyer? Hier wartet man auf Vertiefung durch Flassbeck. Soll man - und wie - „endogenes Potential" der Region nach Herbert Giersch (geb. 1921) fortentwickeln oder den „Datenkranz" nach Walter Eucken (1891-1950) für ökonomische Systeme verbessern? Vielleicht geht es in unserer Zeit um Bewältigung der multikulturellen Gesellschaft und um Sozialinnovationen am Ort? Es ist doch eher von Vorteil, wenn nicht alle Gebiete dem Mittelmaß des Durchschnitts gleichen. Nach manchen Indikatoren unterdurchschnittliche Regionen wie der Bayerische Wald und ländliche Teile Ostdeutschlands können doch als Entwicklungsreserven für die Zukunft begriffen werden.2 Regionale Ungleichheit kann sogar als eine Vorbedingung, nicht nur eine Begleiterscheinung, guter marktwirtschaftlicher Landesentwicklung angesehen werden - wie die Inhomogenität der Menschen auch. Binnenmarkt und Realeinkommen, Agenda 2010 Beim Thema 5 (Binnenmarkt und Realeinkommen) erfahrt der Leser: Was die meisten nicht begreifen wollen: Der Zyklus ist tot. Getötet von einem wirtschaftspolitischen Ansatz, der darauf hinausläuft, von der Mehrzahl der Menschen zu verlangen, dass sie permanent den Gürtel enger schnallen (S. 29). Die Mär von den zu hohen deutschen Löhnen etwa - im internationalen Vergleich wie im Zeitvergleich - ist hundertmal widerlegt worden, und die Widerlegung gilt im Ausland inzwischen als ein Fakt. Nur in Deutschland feiert sie fröhliche Urständ ... (S. 36). Mit geschichtlichen Bezügen wertet Flassbeck die Politik des Verzichts und die sogenannte Agenda 2010 als einen Schritt vorwärts in die Vergangenheit (S. 33). Selbst eine totale finanz- und geldpolitische Kehrtwendung würde heute nichts bringen, wenn sie nicht begleitet ist von einer Wende bei der Lohnpolitik (S. 31). Die Modeerscheinung des „Benchmarking" wird schlicht als Irrtum gewertet (vgl. Thema 7). Benchmarking ist ein extrem simples Verfahren: Man hat ein regional begrenztes Problem vor Augen, etwa die Arbeitslosigkeit in Deutschland, und sucht nun in Vergleichsregionen, wo dieses Problem in geringerem Maße auftritt, nach möglichst vielen Indikatoren, die anzeigen könnten, warum es dort besser geht. Das muß nicht falsch sein." (S. 34). Doch es müssten kausale und funktionale Wirkungszusammenhänge dazu aufgedeckt werden. Solange dies nicht geschieht, gehört das Benchmarking in die Mottenkiste mit der Aufschrift „Measurement without theory" (Ökonomen erinnern sich an eine alte Kontroverse um einerseits „theory without measurement" und andererseits „measurement without theory"). Wahlen und dem Wählerwillen wendet sich Flassbeck mit einigen Bemerkungen zu (vgl. Thema 8). Das Volk hätte im Herbst 2005 weder das Eine noch das Andere gewollt. Man erfährt Beispiele, wo der politische Zeitgeist mit dem gesunden Menschenverstand kollidiert. Dass sich zwischen Partiaisätzen und Globalsätzen kraft Größenmechanik gelegentlich Paradoxa einstellen (so Wolfgang Stützet), bleibt unerwähnt. Ein „bloßes Management der öffentlichen Meinung" hätte Flassbeck da und dort auch diagnostizieren können. Die Wähler sind vielleicht auch müde von den ständigen Bemühungen um „Systemänderung" früher und heute. Vor 20 Jahren noch wollten „Systemänderer" an das Ruder, die in Westdeutschland möglichst rasch und gründlich das damalige DDR-System haben wollten. Die Gemäßigten begreifen heute nicht recht, dass ein permanentes Herumreformieren dem Muster der alten Revoluzzer folgt. Flassbecks Lustigkeit über „Liberale Wirtschaftspolitik" (Thema 10) und Guido Westerwelle klingt übertrieben unernst. Des Autors Wunsch am Ende des Abschnitts: Wenn die erste Bundestagsdebatte läuft, bei der man als interessierter Bürger wieder gerne zuhört, weil man etwas über

2 Beinahe möchte man im alten DDR-Jargon von territorialer Entwicklungsreserve sprechen.

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Inhalte von Politik lernen kann, (...) geht es aufwärts im Land" (S. 39). Dem widerspricht niemand. „Die lange Frist", die Chaos-Theorie und die eingeschränkte Rationalität Unsere Wirtschaftspolitik hat sich der langen Frist verschrieben (S. 44). Bei allen Widerständen von Jedermann (und seiner Frau) gegen Mathematik als Sprache muss man ein wenig zur wirtschaftstheoretischen Fundierung der F/oss2>ec£-Bedenken ausholen. Mit althergebrachter Abitur-Mathematik verstehen es Ökonomen zu zeigen, dass sich Mikro- und Makromärkte sowie ganze Wirtschaftsgesellschaften schließlich (nach grenzwertig langer Zeit) meist einem beruhigend stabilen und harmonischen Gleichgewichtszustand annähern. Man müsse nur die „lange Frist" aushalten und mit Nichtstun abwarten - auch wenn die Leute dann nach einem gängigen Spruch aus dem Keynes-\Jmit\d längst tot sind. Eine seit 30 Jahren etwa neue mathematische Welt hebt die herkömmlichen (Gleichgewichts-) „Lösungen" der nationalökonomischen Schul-Mathematik aus den Angeln. Ein Teil der Gleichungssysteme erweist sich bei bestimmten Gelegenheiten als ein sogenanntes chaotisches System. Nicht langfristig, sondern allenfalls kurzfristig sind Entwicklungen vorhersehbar und kontrollierbar. Einflussnahmen wirken nicht immer nach dem herkömmlichen Kausalitätsprinzip (kleine Ursache, kleine Wirkung; große Ursache, große Wirkung). Vor mehr als drei Jahrzehnten hätte man dahinter nichts grundsätzlich anderes vermutet als Schulmathematik, sondern darin nur eine besonders große Arbeitsaufgabe gesehen: Chaos war einfach Komplexität so hohen Grades, dass Forscher ihr praktisch nicht nachgehen konnten. Aber man fühlte sich sicher, dass man dies eines Tages im Prinzip tun könnte. Und wenn dieser Tag käme, dann gäbe es kein Chaos mehr. Nicht nur die Naturwissenschaftler, auch die Ökonomen und Ökonometriker, nicht zuletzt alle vernünftig denkenden Menschen im wirklichen Leben, hingen dem Reduktionismus an, der Natur- und Systemsicht eines Uhrmachers. Eine Art Uhrmacher-Gott hätte sich Adam Smith für die Wirtschaftswelt vorgestellt, und damit konnten sich die Ökonomen nach den mathematischen Systemmodellierungen von Leon Walras, Abraham Wald und Gérard Debreu für Marktwirtschaften zufrieden geben. 3 Erst nach dem Aufkommen der Computer konnte man diese Ansicht überprüfen und zu diesem Zweck die komplexen, nichtlinearen Gleichungen umfassend und systematisch analysieren. Herausgekommen ist eine „Entzauberung": Nichtlineare Gleichungen führen den Mathematiker in zwielichtige Bereiche. Wer sie löst, bewegt sich scheinbar in einer normalen mathematischen Landschaft, kann sich aber ganz plötzlich in einer völlig anderen Wirklichkeit wiederfinden. So kann es einem - auch bei völliger Enthaltsamkeit in mathematischer Schreib- und Sprechweise - mit verbal modellierten Systemen ergehen. 4 Herbert Simon (1916-2001) wurde 1978 mit dem Nobelpreis geehrt, weil er u. a. erkannt hatte, dass den Menschen bei allen ihren Entscheidungen stets nur eingeschränkte Rationalität („bounded rationality") verfügbar ist. Es ist jeweils ein Rätsel der empirischen Sozial- und Wirtschaftsforschung, wie der Entscheidungshorizont von Menschen tatsächlich aussieht. Die Anfängerlehrbücher der axiomatischen Wirtschaftstheorie können nicht darüber informieren. Dies alles spricht für Flassbecks Bedenken gegen die lange Frist und die Deutungsversuche mit strengen Rationalitätsannahmen. Einige Flassbeck-Gegner könnten Zuflucht beim spieltheoretischen Nobelpreisträger von 1994, Reinhard Selten (geb. 1938) suchen. Doch weit gefehlt. Selten selbst hat in Interviews durchblicken lassen, es müsse künftig darum gehen, die ökonomisch

3 Allen Wissenschaftlern erschienen Phänomene nach diesem Weltbild „gesetzmäßig", wenn man im Sinne von Ursache und Wirkung verbundene Veränderungen durch Differential- oder Differenzengleichungen darstellen konnte. Man verließ sich nach ermutigenden Einzelerfahrungen auf lineare Differential- und Differenzengleichungen. Die wirklichen Welten, auch Ökonomien, sind jedoch großenteils „nicht-linear". Gleichwohl schienen dafür lineare Näherungen gut brauchbar zu sein. 4 Selbst ausprobieren im Sinne von „experimenteller Mathematik" kann man das drohende „Irreguläre" anhand einer Einzelgleichung, die schon seit 1845 bekannt ist und zur Modellierung von „Ansteckungen" mit Krankheiten wie mit innovativen Ideen Verwendung findet (sog. FerAuto-Gleichung).

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angewandte Spieltheorie mit Lernverhalten und anderem Lebensnahen zu konfrontieren. Die pausbäckige Selbstsicherheit einzelner Spieltheoretiker, die Spieltheorie könne für alle sozialen Konfliktsituationen eindeutig das individuell rationale Entscheidungsverhalten definieren, ist gesamtwirtschaftlich nicht viel wert. Gipfel des Absurden war und ist die sogenannte „repräsentative Mikrofundierung" für die makroökonomischen Sektoren. Bei flüchtigem Lesen dieser Zeilen könnte man denken, die methodischen Vorbehalte wie chaotische Entwicklungen und eingeschränkte Rationalität sprächen nur für Flassbeck und seine „einfachen Dinge". Weit gefehlt. Es handelt sich bei diesen methodischen Vorbehalten gegen allzu mathematisch-rationale Schlussfolgerungen um „Spielfeldgrenzen" für die gesamte Nationalökonomik. It takes a new theory to beat an old one... Unterstellen wir für einen Augenblick, alle Ökonomen wüssten um das methodologische Glatteis, so könnte die von Flassbeck kritisierte Flucht aus der MakroÖkonomik auch ein stillschweigendes Eingeständnis der grundsätzlichen Unzulänglichkeiten ökonomischen Erkennens sein. Man geht in eine „Spielecke", aus der heraus man mit axiomatisch formulierter MikroÖkonomik leichter mit Publikationen für die Karriere „punkten" kann. Vielleicht ahnte dies Max Planck (1858-1947), als er das Studium der Nationalökonomik als „zu schwierig" aufgab und zur Physik wechselte!? An diesem Schlusspunkt kommt die Entschuldigung der Einleitung in Erinnerung: Keine Zeit für eine systematische alternative Volkswirtschaftslehre! Das ist sehr schade für Flassbeck und seine kritischen Anregungen. Wir lesen bei Mark Blaug (2006, S. 703), University of Exeter: „it takes a new theory, and not just the destructive exposure of assumptions or the collection of new facts, to beat an old theory." Richtungsentscheidungen

einer marktwirtschaftlichen

Demokratie

Das reflexive Nachwort Freiheit oder Sozialismus? trifft und betrifft all jene besonders stark, die ab November 1989 aus der alten DDR „zu uns" stießen sowie jene, die sich in Ostdeutschland seither engagieren konnten. Der Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit ist aktueller denn je (S. 165). Tief sitzende und geschichtlich gewachsene Zweifel sind zu überwinden. Die Trivialökonomik der Mehrheitsökonomen taugt nicht zum politischen Konsens, und sie darf den Laien nicht unehrlich als quasi-naturwissenschaftlicher Erkenntnisstand der Nationalökonomik vorgesetzt werden. So kommt man den politischen Geisterfahrern mit wachsender Präsenz in den Parlamenten nicht bei. Wir sind eine marktwirtschaftliche Demokratie (Variante „Soziale Marktwirtschaft"); das Geschehen wird nicht nur mit Geldscheinen souveräner (und ungleicher) Konsumenten und Finanzinvestoren bestimmt, sondern auch mit den Stimmen (gleicher) Wähler („one man one vote"; und das bei rund 50 % Staatsquote). Milton Friedman (1912 - 2006), Nobelpreisträger von 1976, bezeichnete übrigens alle mitteleuropäischen demokratischen Staaten mit etwa 50 % Staatsquote schlicht als „sozialistisch". Mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostens ist Westeuropa (mit seinem Fundus wertvoller historischer Erfahrungen) keineswegs leichtfüßig zum „Kapitalismus pur" zurückgekehrt! Da hat Flassbeck insgeheim recht. Und das macht - auch - Standortqualität Deutschlands aus!

Literatur Blaug, Mark (2006, 1997), Economic theory in retrospect, 5. Aufl., Cambridge U. K. Krugman, Paul (1991), Geography and Trade, London u. a. Reich, Robert (2007), Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt, Frankfurt und New York. The Economist (2008), Economic and financial indicators, 21.6. 2008.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Kurzbesprechungen Charles B. Blankart, Erik R. Fasten und Hans-Peter Schwintowski, Das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfähig gestalten, Patientenseite stärken - Reformunfähigkeit überwinden, Springer-Verlag, Berlin 2009. Mit dem Buch wollen die Autoren einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens leisten. Verschiedene Felder der ökonomischen und rechtswissenschaftlichen Literatur werden dabei mit dem Ziel zusammengeführt, ein tragfahiges und durchsetzbares Zukunftskonzept für das deutsche Gesundheitswesen aufzuzeigen. Wie bereits im Titel formuliert, sollen dabei auch die Stärkung und der Ausbau der Patientensouveränität ein elementarer Punkt sein. Zunächst nehmen Blankart, Fasten und Schwintowski eine ökonomische Analyse des Gesundheitswesens in Deutschland vor, in der aktuelle Defizite sowie die künftigen Herausforderungen des Gesundheitswesens beschrieben werden. Als Problem werden dabei auch die Reformunwägbarkeit durch stimmenmaximierende Politiker und mangelnde Mitspracherechte der Patienten angeführt. Die Ineffizienz des deutschen Gesundheitswesens wird deskriptiv im internationalen Vergleich anhand ausgewählter Indikatoren der OECD dargestellt, bevor auf die Finanzierungsschwierigkeiten durch die demographische Entwicklung und die Gesetze zur Reformierung des Gesundheitswesens eingegangen wird. Den Abschluss dieses Teilkapitels bilden die Darstellung und Würdigung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitsfonds. Die Verfasser fügen auf 26 Seiten die bekannten Defizite und Probleme des deutschen Gesundheitswesens zusammen. In dem folgenden Kapitel analysieren die Autoren die verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesens mit dem Ziel, mögliche Effizienzverbesserungen herauszuarbeiten. Auf Ebene der einzelnen Beteiligten im Gesundheitswesen (Versicherter/Patient, Leistungserbringer, Krankenversicherung) werden die Sachverhalte „moral hazard" (auf Versicherten-/Patientenseite), „angebotsinduzierte Nachfrage" (auf Leistungserbringerseite) und „adverse Selektion" (auf Versicherungsseite) erläutert, bevor anschließend auf „kollektiver Ebene" die derzeitige Ausgestaltung der Krankenkassenfinanzierung (einkommensabhängige Beiträge), die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (Einzelleistungshonorierung mit Globalbudget und bilateralem Monopol zwischen kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkassen) und der Krankenhäuser (DRGVergütung) dargestellt wird. Als Lösungsansatz wird die Einführung risikoorientierter Versicherungsprämien kombiniert mit einer Versicherungspflicht, Subventionen aus Steuermitteln bei Härtefällen und einer Mitnahme der Altersrückstellungen bei Versicherungswechseln vorgeschlagen. Blankart, Fasten und Schwintowski setzen sich nun mit den Argumenten auseinander, die Kritiker einer wettbewerblichen Lösung vorbringen und entkräften diese, bevor sie anschließend auf die Rolle des Kartell- und Wettbewerbsrechts in einer wettbewerblichen Ordnung eingehen. Nachdem einige Elemente einer integrierten Gesundheitsversorgung (Managed Care und Integrierte Versorgung) und deren gesetzliche Grundlagen und bisherige Akzeptanz in Deutschland beschrieben werden, werden die Ursachen für ein Scheitern der Gesundheitspolitik erarbeitet. Basierend auf der Vetospielertheorie von Tsebelis wird dargelegt, dass die Vielzahl der Beteiligten und das derzeitige Gesetzgebungsverfahren mit Zustimmungspflicht des Bundesrates zu einer Torpedierung der Reformen führen. Zum Abschluss der ökonomischen Analyse zeigen die Autoren das Spannungsfeld auf, in dem sich öffentliche Dienstleistungen im Europarecht befinden. Die folgende juristische Analyse baut auf der ökonomischen Analyse auf. Zentrale Frage ist dabei, inwiefern der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des Europarechtes (EG-Vertrag) am derzeitigen System festhalten kann und darf.

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Zunächst wird dabei die Konzeption des Art. 86 EG-Vertrag mit Blick auf das deutsche Krankenversicherungssystem entwickelt. Die Verfasser führen zahlreiche Urteile des Europäischen Gerichtshofes auf und analysieren, welche Konsequenzen diese Urteile für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKVen) haben. Blankart, Fasten und Schwintowski kommen zu dem Ergebnis, dass sich aus der Analyse der europäischen Rechtsprechung drei Kernsätze ableiten lassen. Die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme obliegt den Mitgliedsstaaten. Diese Systeme sind den Anwendungen der Regelungen des Europäischen Vertrages nur entzogen solange sie nicht wirtschaftlich, d. h. im Wettbewerb arbeiten. Bei grenzüberschreitender medizinischer Leistung sind die Regelungen der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit gemäß EG-Vertrag anzuwenden. Die Autoren schlussfolgern, dass die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages auf die GKVen anzuwenden sind, soweit diese als wirtschaftliche und wettbewerbliche Unternehmen einzuordnen sind und analysieren inwiefern Wettbewerb im GKV-System bereits vorhanden ist. Auf den nun folgenden 37 Seiten werden verschieden Elemente des GKV-Systems beschrieben, mit dem Ergebnis, dass es im GKV-System eine Fülle wettbewerblicher Elemente gibt und der Gesetzgeber die noch regulierten Teile der GKV ebenfalls für die Kräfte des Wettbewerbs freigeben sollte. Die Rolle des Kartellrechtes in der GKV wird auf 8 Seiten dargestellt. Aus der Sicht des Kartellrechts sehen die Autoren ebenfalls die Notwendigkeit das deutsche Krankenversicherungssystem wettbewerblich zu organisieren. Auf den nächsten 32 Seiten widmen sich Blankart, Fasten und Schwintowski der Frage, wie eine Stärkung der Patientensouveränität die wettbewerbliche Neuorganisation des GKVSystems fordern könnte. Zwar bestände die Alternative, dass die Kommission der europäischen Gemeinschaft nach Art. 86 Abs. 3 EG Richtlinien zur Einführung des verstärkten Wettbewerbs zwischen Krankenkassen erlässt und der europäische Gerichtshof prüft, inwiefern die erarbeitete These, dass Mitgliedsstaaten angehalten seien, effektive und effiziente Systeme einzuführen, wenn diese im Vergleich zu einem praktizierten System sozialer und preisgünstiger wären, zutrifft. Die bestehenden Rechtsmittel Verbandsklage, Gruppenklage, Musterklage sowie die Bildung von Interessengruppen werden auf die Möglichkeit zur Stärkung der Patientensouveränität geprüft. Verbandsklagen, Gruppenklagen und auch Musterklagen sind nach Auffassung der Autoren nicht dazu in der Lage, die Patientensouveränität zu stärken. Diskutiert wird die Gründling eines Vereins, der im jeweiligen Einzelfall eine Gesellschaft gründet, die dann die Wahrung der Patientenrechte gerichtlich durchsetzt. Im Weiteren wird die sog. Vereinslösung beschrieben. Die Verfasser haben Vereine recherchiert, die eventuell in der Vergangenheit Prozesse zugunsten ihrer Mitglieder geführt haben. Diesen wurde ein Fragebogen zugesendet um zu klären, inwiefern und mit welchem Erfolg diese Vereine Klagen zur Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder durchgeführt haben. Lediglich neun Vereine haben den Fragenkatalog beantwortet. Diese Vereine (IG Metall, ADAC, Deutscher Caritasverband, Bundesverband Pro Bahn, Verband Wohneigentum, Verkehrsclub Deutschland, Bund der Versicherten, Bund für Umweltschutz und Naturschutz Deutschland und Schutzgemeinschaft Kapitalanleger) werden anschließend einzeln vorgestellt. Für einzelne Vereine wird die Möglichkeit zur Durchführung von Prozessen und Klagen zur Wahrung der Interessen der Mitglieder bejaht. Abschließend wird die Möglichkeit ärztlicher Schlichtungsstellen bei Arzthaftungsstreitigkeiten erläutert. In ihrem Resümee zur Stärkung der Patientensouveränität fassen Blankart, Fasten und Schwintowski zusammen, dass die individuelle Patientensouveränität durch die vorhandenen ärztlichen Schlichtungsstellen vorhanden ist, diese durch Veröffentlichung der Schlichtersprüche aber weiter erhöht werden kann. Instrumente zur strukturellen Stärkung der Patientensouveränität gibt es im deutschen Gesundheitssystem derzeit nicht, jedoch bedarf es keiner gesetzgeberischen Maßnahmen zu deren Stärkung, da durch die Gründung eines Vereins mit der Beantragung einer Erlaubnis zur Rechtsberatung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetzes und einer

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im Einzelfall zu gründenden Gesellschaft auf die die Patienten ihre Forderungen im Rahmen eines echten Factorings übertragen, die Möglichkeiten für Gruppenklagen bestehen. Das vorliegende Buch fast in der ökonomischen Analyse die derzeitige Situation und bestehenden Probleme und Herausforderungen des deutschen Gesundheitswesens lesenswert und strukturiert zusammen. Die Analyse der Gründe, warum eine Reformunfahigkeit besteht, hätte detaillierter dargestellt werden können. Die juristische Analyse stellt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zu Fragen der Gesundheitsversorgung und eines Wettbewerbs im Gesundheitssystem ausführlich dar. Auch wenn man den Schlussfolgerungen der Autoren nicht immer folgen mag, sind die formulierten Thesen schlüssig und es wäre interessant, ob sie einer „Überprüfung" durch den Europäischen Gerichtshof stand hielten. Die Stärkung der Patientensouveränität als weiterer Ansatz zur Überwindung der Reformunfahigkeit und als Mittel zur Einführung mehr wettbewerblicher Elemente in der GKV bleibt allerdings hinter den Erwartungen zurück. Zwar wird detailliert auf die rechtlichen Rahmenbedingungen fur juristische Schritte von Interessengruppen gegen bestehende Probleme des Gesundheitswesens dargestellt. Eine ökonomische Bewertung und wie das von den Autoren ebenfalls thematisierte Problem der „Vetospieler" dadurch überwunden werden soll, wird nicht dargestellt. Andreas Götz

Dieter Starke, Unternehmensinsolvenzen im Wandel von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen - Eine Untersuchung im Lichte des Kritischen Rationalismus und der Evolutionsökonomik, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 84, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2007. Ein erster Blick auf den Buchtitel „Unternehmensinsolvenzen im Wandel von Gesellschaftsund Wirtschaftssystemen" weckt bei praktisch orientierten Lesern rasch die Erwartung, man werde bei der Lektüre sozusagen in die Wirbel der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 hineingezogen, die in Bezug auf Wandel wie auf Insolvenzen ja nicht wenig geboten hat. Beim zweiten Hinsehen zeigt sich freilich, dass das Buch schon 2007 erschienen ist und dass ein noch viel dramatischerer Wandel analysiert wird, nämlich die deutsche Wiedervereinigung, der Übergang Ostdeutschlands von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Im Zentrum von Dieter Starkes Arbeit steht die Frage, welche Rolle Unternehmensinsolvenzen in diesem Transformationsprozess spielten, wie die Beziehung zwischen den Phänomenen „Unternehmensinsolvenz" und „Transformation" genau aussieht. Unwillkürlich erwartet man vor diesem Hintergrund eine empirische Untersuchung zur Frage, in welchem Ausmaß Firmenkonkurse Teil der Transformation waren, wieweit sich etwa bezüglich Branchen, Unternehmensgröße, Arbeits- und Kapitalausstattung oder anderen Eigenschaften typische Muster ergaben. Tatsächlich beginnt das Buch mit einem quantitativen Überblick zur Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen in den alten und in den neuen Bundesländern, zusätzlich sind im hinteren Teil weitere Tabellen zu finden. Rasch wird dann aber klar, dass die ursprünglich als Dissertation erarbeitete Publikation keine empirische Untersuchung darstellt, sondern eine Art Konzept zum Eingrenzen des Phänomens Unternehmensinsolvenz in unterschiedlichen Umgebungen, also in unterschiedlichen Typen von Wirtschaftsordnungen. Der Untertitel „Eine Untersuchung im Lichte des Kritischen Rationalismus und der Evolutionsökonomik" deutet an, dass die Theorie im Vordergrund steht. Die Analyse wurde unter anderem aus einer erkenntnistheoretischen Sicht vorgenommen, und der Autor erwähnt die Methodologie von Popper und die evolutionäre Erkenntnistheorie als zentrale Orientierungsgrößen. Jedes Kapitel stellt sozusagen einen Baustein der Arbeit dar. In einer breiten Aufarbeitung der Theorie der Unternehmung werden zunächst mehrere unterschiedliche Ansätze zur Deutung bzw. Erklärung des Unternehmens beleuchtet; die Firma wird unter anderem als Hypothesen-

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bündel verstanden, das in wettbewerblichen Ordnungen scheitern kann. Ähnliches wird im anschließenden Kapitel zur Interpretation des Begriffs Unternehmensinsolvenz unternommen. In diesem Zusammenhang wird eine Fülle juristischer Spielregeln dargestellt und dabei herausgearbeitet, wie institutionenreich eine Insolvenzordnung ist und mit welch mannigfaltigen Unsicherheiten und mit welcher Ungewissheit Aussagen etwa zu Überschuldung, Sanierung oder Scheitern verbunden sind. Das daran anschließende Kapitel befasst sich mit der Systemtransformation, also dem Übergang von der alten Zentralverwaltung zur Marktwirtschaft. In der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, dass man von einer Transformationsbasis (dem alten DDR-System) ausgeht und über einen Transformationsprozess zum Transformationsziel (der angestrebten neuen Ordnung) gelangt. Das Transformationsziel wird großenteils anhand der wettbewerblich und dezentral ausgerichteten Ordnungs-Ansätze Euckens und von Hayeks umrissen. Schließlich rückt im fünften und letzten Kapitel die Frage ins Zentrum, welche Rolle Unternehmensinsolvenzen im Transformationsprozess spielen. Eine wichtige Rolle spielt der Übergang von der Insolvenzlosigkeit ä la DDR zur Insolvenzmöglichkeit in der marktwirtschaftlichen Ordnung und damit wird zugleich deutlich gemacht, dass die freiheitlich-wettbewerbliche Wirtschaftsordnung nicht einfach gegeben ist, sondern dass das Einrichten der entsprechenden Institutionen zum Vorgang gehört. Damit besteht durchaus Spielraum, von der marktwirtschaftlichen Ordnung abzuweichen, wie dies im heutigen Deutschland verbreitet ist. Es gibt beispielsweise aufgestaute Insolvenzen oder insolvenzbedingte Transformationsbarrieren („too big to fail"-Szenarien, Subventionierungen aller Art). Alles in allem gelten Unternehmensinsolvenzen nach den Erkenntnissen des Autors aber als Transformationsbeschleuniger. Aus statischer Sicht können sie als „Werte- und Erkenntnisvernichter" interpretiert werden, aus dynamischer Sicht eher als „Quellen des Vermutungswissens", da aus jedem Scheitern Lehren gezogen werden können. Starkes Arbeit ist so stark auf theoretische Darstellungen ausgerichtet, dass der Leser nicht sehr viel über die konkreten Vorgänge bei der Transformation der DDR-Wirtschaft erfährt. Aber es werden derart viele Begriffe aus der Fachsprache von Ökonomen und Juristen aus unterschiedlichen Sichtweisen interpretiert, dass das Buch fast als eine Art Fundgrube für Interpretationsreichtum aufgefasst werden kann. Fast auf jeder Seite finden sich Beispiele für Interdisziplinarität oder Perspektivenvielfalt, bei denen man sehr gut ohne Bezug zur Transformationsfrage verweilen kann. Beat Gygi

Stephan Wirz, Erfolg und Moral in der Unternehmensführung: Eine ethische Orientierungshilfe im Umgang mit Managementtrends, Peter Lang, Frankfurt am Main 2007,297 Seiten. Unsicherheit in Entscheidungssituationen gehört zu den konstitutiven Merkmalen moderner Gesellschaften. Entsprechend versuchen normative Managementkonzepte Mitgliedern der Unternehmensführung Orientierungshilfen an die Hand zu geben, wie Unternehmen geführt werden sollten um auf dem Markt erfolgreich zu sein. Die Normen der Managementkonzepte lassen sich aber natürlich nicht auf eine moralfreie, rein-betriebswirtschaftliche Größe reduzieren, sie entspringen vielmehr kulturellen Bedingungen wie vorherrschenden Menschen-, Unternehmensund Gesellschaftsbildern und beeinflussen durch ihre Implementierung die betriebswirtschaftliche und gesellschaftliche Realität, sei es nun zum Positiven oder zum Negativen. Deswegen gilt es, um zu realitätsnahen Erkenntnissen zu gelangen, neben betriebswirtschaftlichen Aspekten auch anthropologische, soziale und ökologische Faktoren in der Analyse zu berücksichtigen. Stephan Wirz hat mit seiner Abhandlung eine Arbeit vorgelegt, die diesem Anspruch gerecht wird.

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Im ersten Teil (131 Seiten) unterzieht Wirz zunächst eine Vielzahl exemplarisch gewählter Managementkonzepte einer umfangreichen und detaillierten Literaturanalyse und arbeitet den ethischen Gehalt bzw. ethischen Mangel von Managementkonzepten heraus. Anhand der Analyse von verschiedenen Konzepten zeigt er auf, dass in der Literatur nicht eine lineare, sondern eine oszillierende Entwicklung stattgefunden hat. So hat einerseits ein umfassenderes Verständnis über die unternehmerische Verantwortung Eingang in die Literatur gefunden, so dass Managementkonzepte heute eben nicht nur betriebswirtschaftlich-funktionale Aspekte heranziehen, sondern auch anthropologische (die Stellung des Menschen im Produktionsprozess), soziale (das Verhältnis des einzelnen Mitarbeiters zur Unternehmensorganisation sowie die Außenbeziehungen vom Unternehmen zur Gesellschaft) und ökologische Aspekte (nachhaltiger Ressourcenschutz) Berücksichtigung finden. Andererseits zeigt Wirz auf, dass diese „moralischen Einsichtsbestände" häufig nicht in neue Managementkonzepte aufgenommen werden, sondern dass sich den Urhebern von neuen Konzepten nicht zu allen Zeiten „die Plausibilität der von früheren Managementkonzepten geschaffenen » M i n i m a M o r a l i a « eröffnet" (S. 129). Entsprechend legt Wirz im zweiten Teil (129 Seiten) einen eigenen, multidimensionalen Entwurf zu den Anforderungen an die Unternehmensführung aus theologisch-ethischer Perspektive vor. Durch die theoretische Rückbindung an anthropologische bzw. kulturelle Faktoren gelingt es Wirz die relevanten Dimensionen der Unternehmensführung herauszuarbeiten und aufzuzeigen, dass es bei der Erarbeitung und Anwendung der Managementkonzepte aufgrund der Tatsache, dass es sich beim Menschen um ein soziales Wesen handelt, speziell der Symbiose von moralischen und funktionalen Überlegungen bedarf, um der reduktionistischen Tendenz eines ausschließlich betriebswirtschaftlichen Verständnisses von Management entgegenzuwirken. Empirisch begründet er seine Überlegungen mit Hilfe der Befunde der philosophischen Anthropologie, normativ leitet er seine Argumente aus dem christlichen Daseinsverständnis, d.h. einer theologischen Ethik ab. Ziel seiner Ausführungen ist die Beantwortung der Frage, wie Unternehmensführungen die funktionalen, sozialen und ökologischen Aspekte einer Unternehmung so „gewichten und ausbalancieren" können, dass sich Unternehmen nachhaltig im „Korridor des ethisch Verträglichen" positionieren können (S. 268). Die Lösung auf diese Frage sieht Wirz in einem multidimensionalen Konzept der Unternehmensführung, welches mit Hilfe der Implementierungsprinzipien der Retinität (Festhalten an allen relevanten Dimensionen unternehmerischer Tätigkeit) und Equilibration (Flexibilität bezüglich der genauen Aufteilung möglicher konfligierender und konkurrierender Unternehmensziele) auf eine Symbiose von funktionalen und moralischen Erfordernissen des Unternehmens ausgerichtet ist. Trotz einiger Kritikpunkte - insbesondere wäre zu klären, ob die von Wirz gewählte normative Begründung mit Hilfe einer theologischen Ethik mit ihrem Rückgriff auf ein christliches Daseinsverständnis für moderne pluralistische und multi-religöse Gesellschaften eine ausreichende Legitimation unternehmerischen Handelns darstellen kann, wenn ein universeller Konsens als Legitimationskriterium unterstellt wird - ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass Wirz mit dem vorliegenden Buch ein exzellenter Beitrag zur unternehmensethischen Managementforschung gelungen ist, der auch für Ordnungsökonomen von einem gesteigerten Interesse sein dürfte. So sind es insbesondere zwei Argumente, die diese Abhandlung auch für Ordnungsökonomen lesenswert machen. Erstens, weil sein Buch einen Beitrag zu der wichtigen Frage leistet, wie man in modernen Gesellschaften prinzipiell mit wirtschaftsethischen Konflikten umzugehen hat. So ist es nicht primäre Aufgabe einer Wirtschaftsethik mögliche (wenn auch verdeckte) Kooperationsgewinne aufzudecken - dies ist eindeutig die Aufgabe einer Wirtschaftspolitik. Vielmehr ist es zentrale Aufgabe einer Wirtschaftsethik, Interessengegensätze und Zielkonflikte dort zu thematisieren, wo sich keine wechselseitige Besserstellung ergibt und Individuen eine geeignet Argumentation sowie konkrete Hinweise zu liefern, wie mit solchen Konflikten umgegangen werden sollte, damit eine Situation entsteht, die für alle Betroffenen gleichermaßen akzeptabel ist. „Nicht die Konfliktausblendung, sondern die ethisch akzeptable Konfliktbewältigung muß für die Unternehmen wegleitend sein." (S. 261)

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Zweitens, weil Wirz - ganz im Sinne des ordnungsökonomischen Forschungsprogramms darauf verweist, dass marktwirtschaftliche Ordnungen nicht durch ihre Produktivität legitimiert werden, sondern durch die Tatsache, dass sie für alle Betroffenen ein zustimmungsfahiges und wünschenswertes Gesamtarrangement darstellen. Entsprechend leistet Wirz einen wertvollen Beitrag, indem er detailliert aufzeigt, dass nicht nur die (betriebs-)wirtschaftliche, gewinnbringende Dimension berücksichtigt werden muss, sondern dass auch anthropologische, soziale und ökologische Aspekte Eingang in die Wirtschaftsordnung und Unternehmensführung finden müssen. Damit entwickelt Wirz ein Konzept, dass - wie es auch die Vertreter der Freiburger Schule taten, was heute aber zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht - die konzeptionelle Integration von wirtschaftlichen Mittel und sozialer Zwecke in den Mittelpunkt der Überlegung stellt. Dabei sind Wettbewerb und Effizienz nicht als Ziele, sondern als zweckdienliches Mittel zur gesellschaftlichen Gestaltung zu sehen, weswegen Wirz sich für eine Optimierungs- anstelle einer Maximierungsstrategie ausspricht. Eine Meinung, die ganz im Sinne des ordoliberalen Programms steht. Denn, so heißt es schon im Vorwort zum ersten ORDO-Jahrbuch: „Unsere Forderung beschränkt sich auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet sind. Weil der Wettbewerb diesem Ziel dienstbar gemacht werden kann, das ohne ihn sogar unerreichbar bleibt, deswegen fordern wir ihn. Er ist Mittel, nicht letzter Zweck." Alexander

Lenger

Andreas Lienkamp, Klimawandel und Gerechtigkeit - Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2009,534 Seiten Klimawandel und Nachhaltigkeit gehören sicherlich zu den Schlüsselbegriffen der letzten Dekade, und dies zu Recht, denn mit diesen Begriffen sind Probleme und Lösungskonzepte verbunden, die die Mehrheit der Menschen betrifft und interessiert. Andreas Lienkamp diskutiert in seiner Habilitationsschrift das problembeladene Spannungsverhältnis von Klimawandel und (globaler) Gerechtigkeit vor dem Hintergrund einer Nachhaltigkeitsethik aus christlicher Perspektive. Die ethische Relevanz des Themas wird in dem Einleitungskapitel mit dem Titel „Zuvor" dargelegt, die Kriterien einer Ethik der Nachhaltigkeit werden ausführlich im dritten Kapitel erörtert. Die Würde des Menschen und die christlichen Konzeptionen der Gerechtigkeit werden hier mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung verknüpft. Kapitel 2 gibt einen fundierten Überblick über die Symptome, Ursachen und Folgen des Klimawandels. In Kapitel 4 werden schließlich Klimaschutzmaßnahmen in Solidarität mit den potenziellen Opfern sorgfältig abgewogen. Ein kurzes Fazit (mit dem Titel „Nicht Zuletzt"), in dem Andreas Lienkamp die Klimakrise als Gefahr und Chance beschreibt, beschließt die Arbeit. Die sorgfältig entwickelten Argumente sind für den Leser sehr gut nachvollziehbar und auch aus ordnungsökonomischer Sicht interessant. Die Wertegrundlage der christlichen Ethik hat viel gemeinsam mit dem, was Walter Eucken als „menschenwürdige Ordnung" bezeichnete. Allerdings fallen aus ökonomischer Sicht zwei nicht unwichtige Punkte bei der Argumentation auf. (a) Den Klimaschutzgegnern werden an einigen Stellen egoistische Motive wie Geltungssucht oder Profitgier (als Handlanger der Großindustrie) vorgeworfen. Man muss jedoch ebenso in Betracht ziehen, dass auch viele Klimapessimisten und Klimaschützer von Aufträgen leben und Anreizen unterliegen, besonders bedrohliche Szenarien zu entwickeln, (b) Klimaschutzmaßnahmen werden im vierten Kapitel aus Sicht der christlichen Ethik diskutiert. Gerechtigkeit, Menschlichkeit und die Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen werden eingefordert. Es wird appelliert, gemäß moralischer Standards zu handeln. Auf dieser Basis werden vorhandene Vorschläge zum Klimaschutz bzw. zu einer gerechten Verteilung der Lasten bewertet und auch neue Vorschläge entwickelt. Eine ordnungsökonomische Analyse würde Gerechtigkeitsar-

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gumente sicherlich auch in die Analyse mit einbeziehen, jedoch würden Ordnungsökonomen versuchen, auf Basis des Status Quo zu umsetzbaren institutionellen Arrangements zu gelangen, die letztlich alle Betroffenen besser stellen. Trotz der Unterschiede zwischen der ordnungsökonomischen und der christlich-ethischen Perspektive ist die Arbeit für Ökonomen, die sich für Klimaschutzpolitik interessieren, sehr interessant, denn die angeführten Argumente spielen auch in ökonomischen Diskursen eine nicht unbedeutende Rolle. Martin Leschke

Joachim Weimann, Die Klimapolitik-Katastrophe: Deutschland im Dunkel der Energiesparlampe, Verlag Metropolis, Marburg 2008,188 Seiten. Weimann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Magdeburg, wendet sich mit seinem Essay an ein breites Publikum. Der vom Menschen verursachte Temperaturanstieg und der gigantische Energiehunger der schlummernden Riesen stellen die dringliche Frage, wie Wirtschaftswachstum, der globale Anstieg des Energieverbrauchs und ein Aufhalten der Erderwärmung vereinbar sind. „Weder die regenerierbaren Rohstoffe, noch der Fusionsreaktor oder die atomare Stromerzeugung werden in der Lage sein, Gas, Kohle und Öl abzulösen" (S. 32), deren Einsatz aber drastisch sinken müsse, da der Autor auch die C02-Abscheidung für unrealistisch hält. Nach der Beschreibung des Problems widmet sich Teil II den Todsünden der Klimapolitik', in dem sich eine arrogante und störend herablassende Art gegenüber Politikern offenbart. Sie seien einzig an der Widerwahl orientiert und nur sehr begrenzt informiert, „(e)s ist nicht einfach zu beurteilen, ob Politiker tatsächlich wissen, was sie tun, wenn sie politische Entscheidungen fallen" (S. 43). Das Grundkredo des Autors lautet: „Wenn der Staat sich darauf beschränkt, die Gesamtemissionsmenge festzulegen - nur auf die kommt es schließlich an - und es den C02-Märkten, die dann entstehen, überlässt, wie diese Gesamtmenge erreicht werden kann, dann könnten wir uns viel mehr C02-Reduktion leisten, als wir mit Wind- und Sonnenkraft hinbekommen" (S. 5657). Seine Kritik zielt vor allem auf die zu hohen Kosten der deutschen Klimapolitik: Eine Tonne C02-Vermeidung durch Windenergie koste 500% des Preises, den man bei der kostengünstigsten Vermeidungsform zahlen müsste, Vermeidungsaktivitäten in Schwellenländern werden als „inzwischen gut eingespielt und eigentlich kein Problem" begrüßt (CDM-Mechanismus nach dem Kyoto-Protokoll, S. 62). Beim Verkehrssektor werden Mineralöl-, Öko- und Mehrwertsteuer als impliziter Steuersatz zusammengefasst und gefolgert, dass so für eine Tonne die zehnfachen Vermeidungskosten im Vergleich zum Zertifikatepreis an der Strombörse anfallen und daher das Ziel einer 120g/km-Vorschrift abzulehnen sei. Natürlich ist der Autor auch gegen die Einspeisevergütung für Solarstrom. Mit regenerativen Energien seien keine nennenswerten Anteile im Bereich der Grundlastversorgung zu erreichen, da die Natur eben wetterlaunisch sei. Der Text enthält zusätzlich eine elementare Einführung in die Umweltökonomie (öffentliche Güter, externe Effekte, spieltheoretische Dilemmasituationen usw.). Besonders hervorgehoben wird hierbei die dezentrale Informationsverarbeitung über Märkte, wie überhaupt eine wesentlich mikroökonomische und neoklassische Ausrichtung auffällt, so hält der Verfasser tatsächlich das Parefo-Kriterium für politisch-praktisch anwendbar (S. 88-89). „Macht es (...) Sinn anzunehmen, dass solchermaßen motivierte Menschen systematisch und dauerhaft Möglichkeiten übersehen, die es erlauben, den Gewinn des Unternehmens zu steigern (...) Gerade die Automobilindustrie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, welche ungeheure Dynamik ein solcher Wettbewerb entfacht" (S. 102-103). Den Argumenten des Verfassers lässt sich entgegenhalten: Die Kostenvergleiche wirken etwas abenteuerlich und widersprechen Angaben z.B. des Umweltbundesamtes. Nicht nur das Zusätzlichkeitskriterium stellt den CDM-Mechanismus fundamental in Frage. Viele Bereiche

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(Häuserdämmung) lassen sich nicht dem Zertifikatehandel unterwerfen, der selbst zwangsläufig zu einer juridisch-bürokratischen Lawine an Verordnungen und Dokumentationspflichten usw. führt, die vom Autor ebenso wenig erwähnt wird wie die Ineffizienzen des Zertifikatehandels (auf 800 von 1800 Unternehmen entfallt z.B. nur 1% der Emissionen). Anstelle der lehrbuchhaften Wiederholung der großartigen Marktkonformität des Emissionshandels hätte aus ordnungspolitischer Sicht eine Einschätzung interessiert, mit wie viel ordnungsrechtlichem Beiwerk eine solche Lösung zwangsläufig oder durch die Politiker-Bürokraten kontingent bedingt ist; Sammlungen zu Gesetzes-, Richtlinien-, Umsetzungsverordnungen usw. weisen mittlerweile über 1000 Seiten auf. Bemerkenswert sind die apodiktischen Urteile des scheinbar rein theoretischen Umweltökonomen: Ordnungsrecht ist prinzipiell immer schlechter (last best sozusagen, S. 171), mit Windenergie könne man auf absehbare Zeit nicht über 1% des Emissionsvolumens einsparen, in der Solartechnik seien in den letzten 15 Jahren keine Fortschritte erzielt worden usw. (S. 80). Hinsichtlich sozialer Dilemmata wird behauptet, „dass es praktisch [in Experimenten] unmöglich ist, größere Gruppen dazu zu bringen, in die öffentliche Anlage zu investieren" (S. 128). Der Autor übergeht völlig die Frage, welchen Beitrag die zurzeit nicht in den EU-Emissionshandel einbezogenen Sektoren zur Einhaltung der Gesamtemissionsmenge Deutschlands zur Senkung leisten müssen bzw. sollten. Der Verweis auf die Steuerbelastung im Verkehrssektor genügt hier nicht, da im Gegenzug die Stahl- und Zementindustrie z.B. zahlreichen kostspieligen allgemeinen Auflagen neben der Zertifikatepflicht unterliegt und auf Early Actions, d.h. frühere Vermeidungsbemühungen, verweisen können, die dann auch gegenzurechnen wären. Völlig unberücksichtigt bleibt auch die von der evolutorischen Ökonomik behandelte Frage, ob es bei großen Technolgietraversen, in diesem Fall von fossilen zu nachfossilen Energiesystemen, nicht evtl. einer Anfangsunterstützung und vorhersehbarer Preise bedarf, um Lock-ins zu vermeiden (G. Dosi). Von einem Stillstand der Forschung im Solarbereich durch Subventionsüberfütterung zu schreiben, ist schlichtweg Unsinn. Der Autor beschwört die durch Emissionshandel hervor gekitzelten neuen Vermeidungstechnologien, bleibt aber auch nur ein Beispiel schuldig. Da in der Klimafrage ein 10-15jähriges Zeitfenster besteht, bedarf es u.E. einer ergänzenden, sichtbaren, antreibenden Hand. Nicht die heutigen Vergleichskosten, sondern die befürchteten Kosten des Klimawandels in der Zukunft sind hier gegenzurechnen. In der praktischen Umsetzung des EEG sind sicher Fehler gemacht worden, aber lautet die Folgerung: Jeglicher Anreiz ist aus Sicht des Theoretikers abzulehnen? Sind wir nicht über Polarisierungen wie „Märkte oder Politiker: Wer kann es besser?" (S. 149) hinaus? Bedarf es negativer Hellseherei über die Solartechnik, die „in Deutschland nicht die geringste Aussicht darauf hat, irgendwann einmal C 0 2 zu Kosten vermeiden zu können, die auch nur ansatzweise wettbewerbsfähig sind" (S. 164)? Sollte die Solarbranche und -forschung vorankommen und in Nordafrika bald große Solarparks entstehen, die uns beizeiten versorgen: warum nicht und dann auch noch mit deutscher Technik? Teil III über die richtigen Instrumente enttäuscht: Die üblichen Argumente pro und contra Emissionssteuer oder handelbare Emissionsrechte werden vorgetragen, ebenso die Problematik des Leakage-Effektes: wenn nicht alle Länder mitmachen, subventioniert man die Ausscherer, die Emissionen werden letztlich von den Ressourcenanbietern determiniert, Alternativtechnologien am Horizont dürften zu Torschlusspanik, d.h. einem höheren Angebot, bei den Ressourcenbesitzern führen, Argumente die H. W. Sinn (auf dessen Thünen-Voriesung korrekterweise verwiesen wird) in seinen Thesen zum grünen Paradoxon bereits erläuterte. Gegen Ende plädiert der Autor für eine globale Koalition der Mengenbegrenzung, bei der man angesichts dummer Politiker und sozialdilemmatisierter ökonomischer Akteure nicht recht weiß, wie diese zustande kommen soll, ergänzt durch einen satten Nachschlag Umverteilung, da die Zertifikate in Abhängigkeit von der jeweiligen Bevölkerungszahl auf die Länder verteilt werden sollen, und die Zertifikate dann von den entwickelten Ländern zurückgekauft werden müssten. So berechtigt die Forderung sein mag, hier hätte der sonst so auf die Kosten achtende Autor ruhig einmal eine Kostenrechnung dieses Vorschlages vornehmen und sich fragen können, ob sein Vorschlag

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realistisch ist. Dazwischen findet sich eine bemerkenswerte Strategieaussage zur wahrscheinlichen Ultima Ratio, nämlich „die Anbieter von Kohlenstoff daran zu hindern, ihre Lager auszubeuten, darin, sie ihnen abzukaufen und dann still zu legen. Anstatt die Besitzer von Ölquellen und Kohlelagerstätten dafür zu bezahlen, dass sie die Rohstoffe abbauen, müssten sie dafür bezahlt werden, dass sie den Kohlenstoff in der Erde lassen" (S. 182). Schade, dass dieser Satz nicht auf der ersten Seite des Textes steht und der Autor sich dann eigenständige Gedanken gemacht hätte, wie man diese Strategie möglichst ordnungskonform umsetzen könnte. So bleibt er ein Fremdkörper. Helge Peukert

Michael Angrick, Ressourcenschutz für unseren Planeten, Verlag Metropolis, Marburg 2008,123 Seiten. Auch das dünnere Buch von Angrick, der (Bio)Chemie studierte und Leiter der Abteilungen „Produktion" und ,Abfall- und Wasserwirtschaft" des Umweltbundesamtes ist, erschien in der Reihe „Ökologie und Wirtschaftsforschung" des Metropolis-Verlages, es unterscheidet sich aber fundamental vom Beitrag Weimanns. Der Autor weist nachdrücklich darauf hin, „dass es neben dem Klimaschutz die ebenso wichtigen Fragen des Ressourcenschutzes gibt, die sich aber bislang noch nicht im Fokus der Betrachtung der Politik befindet" (S. 11). In eindringlichen Worten und mit fachkundig ausgewählten, nachweisbaren Zahlen belegt der Autor den Verlust fruchtbarer Böden und (ansatzweise) den dramatischen Rückgang der Biodiversität. So werden in Deutschland täglich über 100 Hektar für Gewerbe-, Wohnungsbau und Verkehr neu beansprucht, die weltweite Ressourcenextraktion stieg zwischen 1980 und 2002 um 35%, ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Böden weltweit ist durch Erosion gefährdet usw. An den Beispielen des Bergbaus, der Materialherstellung, der Konsumprodukte, der Verkehrs- und Siedlungsstrukturen, der Wasserver- und -entsorgung, des Bauens und Wohnens der Mobilität und der Freizeit (z.B. Billigflieger) zeigt er den mit ihnen verbundenen frappierenden Flächen-, Material- und Energieverbrauch. Alleine im Bauwerksbestand des Hoch- und Tiefbaus (Gebäude, Straßen, Parkplätze usw.) lagern rund 50 Milliarden Tonnen mineralische Rohstoffe (Kalk, Gipsstein, Kies, Schiefer Sand, Ton), bis „2010 dürfte dieser Wert auf mehr als 60 Milliarden Tonnen wachsen" (S. 51). Ein besonderes Augenmerk gilt den modernen, anscheinend erfreulich dematerialisierten Informations- und Kommunikationstechnologien (PC, Notebook, Internet, Mobiltelefon, Chip), deren hohen Strom- und Metallbedarf der Autor schonungslos auflistet und auch auf den pro Jahr anfallenden Elektroschrott von 1,1, Mio. Tonnen und Schwermetallrückstände wie Quecksilber hinweist. Der Autor räumt auch mit gängigen Beschwichtigungen auf: Recycling bedeutet meist Downcycling, der Rebound-Effekt (Umweltmehrverbrauch durch Massenabsatz) frisst meist alle ökologischen Fortschritte bei Innovationen auf. Neben weit verbreiteten Forderungen wie dem Ausbau alternativer Energiequellen werden radikale politische Forderungen aufgestellt, so z.B. die Einführung einer (weltweiten) „Ressourcensteuer in Form einer Materialinputsteuer" und einer „Pro-Kopf-Quote für den Verbrauch natürlicher Ressourcen für jeden Menschen auf diesem Planeten (...), [d.h.] zu fragen, wie viel Beton, Stahl, Papier, Holz usw. einer Person zusteht" (S. 108-109). Nach derzeitigem Kenntnisstand seien dies 10 Tonnen pro Kopf, der Bundesbürger verbraucht zurzeit die doppelte Menge. Neben der globalen Ressourcenschonungsstrategie zur Senkung des ökologischen Fußabdrucks, die auch für die EU angemahnt wird, sind auch nationale Zielsetzungen erforderlich, etwa die Verringerung des Flächenverbrauchs in Deutschland auf max. 30 Hektar im Jahr 2020. Die notwendigen Veränderungen bedürfen nach begründeter Ansicht Angricks aber die Überwindung eines zunehmend technokratischen Umweltschutzes und eines neuen Primats der Ökologie (als begrenzendes Obersystem) vor der Ökonomie, eines neuen Wohlstandsmodells

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und Lebensstils, eines ökologischen New Deals. Das zukünftige Zivilisationsmodell verlange von uns, in den entwickelten Ländern auch Elemente der Askese und der Aufgabe des Konsumismus als Grundwert, um weltweit übertragbar und nachhaltig sein zu können. „Wir benötigen ein neues Wirtschaftssystem; dem Dogma des unendlich sich fortsetzenden wirtschaftlichen Wachstums muss endlich energisch ein Ende bereitet werden. Nichts kann ohne Begrenzung in einem limitierten System wachsen" (S. 17). Der Autor fordert eindringlich „eine radikale Abkehr von der gängigen Wachstumsideologie und eine Hinwendung zu einer an Suffizienz orientierten Wirtschaft (...) Wir benötigen eine Abkehr von der Gängelung der Politik durch die Ökonomie und eine Hinwendung zu einer am Naturhaushalt orientierten Wirtschaftspolitik (...) Ohne Lebensstilwandel wird der Kampf gegen die Klimakatastrophe und den zunehmenden Ressourcenverbrauch scheitern" (S. 21 und 43). Das Buch Angricks hat einige kompositorische Schwächen (Redundanzen usw.), es bringt aber die derzeit oft hinter der Klimadiskussion eher verborgene Gesamtproblematik deutlich zum Vorschein. Der Reiz des Buches besteht in der Mischung aus nach Meinung des Rezensenten leider berechtigter Kassandraphilosophie und reinen naturwissenschaftlichen Daten und Zusammenhängen. Was fehlt, ist die ökonomisch-politische Strategie- und Systembeschreibung des erforderlichen neuen Wirtschaftssystems, das der Begrenzungskrise (Biedenkopf) Rechnung trägt. Von neoklassischen Armchair-Ökonomen wie Weimann, die gleich alles besser wissen und sich ansonsten über die Ineffizienz einer Kritik an Rasern auf der Autobahn echouffieren, ist hierfür wohl eher nicht viel zu erwarten. Die große Frage für die Menschheit besteht darin, wie man einen solchen Systemübergang schnell, aber ohne allzu große individuelle Freiheitsverluste und unter Einsatz möglichst marktkonformer Instrumente bewerkstelligen kann. Hier liegt auch die bedeutende Herausforderung der Zeit für den Ordoliberalismus, der stets die Freiheitsfrage mit ins Zentrum stellte und dem sogenannten Datenkranz jenseits einer technokratisch-ökonomistischen Einstellung Bedeutung zumaß. Die Wachstumsfrage war ferner nie entscheidend für den Ordoliberalismus, auf gerechte und dem Menschen angemessene Strukturen im Sinne eines emphatischen Ordo und eines umfassenderen Gleichgewichtskonzepts von Wirtschaft und Gesellschaft (und der Natur) kam es an (Eucken), auch wenn dies mit einem geringeren Wachstum verbunden sein mochte. Die Kritik des Materialismus und die Idolatrie des Konsumismus spielten eines wesentliche Rolle in Müller-Armacks Analyse der Wirtschaftsstile, die (damals neuen) Erfordernisse der Umweltpolitik und die Beobachtung der hektischen Nervosität der Zeitgenossen führten ihn zur Forderung einer zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Schließlich forderte Röpke, der wie die meisten Ordoliberalen als Christ offen für die spirituelle Dimension war, eine Politik auch jenseits von Angebot und Nachfrage, die der menschlichen Anthropologie durch Verwurzelungschancen auch mit der Natur gerecht wird. Er wendet sich gegen „Theorien des Modernismus" und die „vorwärtsstampfende Massenzivilisation", es geht ihm um „einen Rest von Eigenleben, Natur, menschlicher Dimension und Ursprünglichkeit" (Röpke in „Maß und Mitte"). Die Begrenzungskrise bietet so gesehen auch eine Chance der Rückbesinnung. Dem Ordoliberalismus kommt durch seine Grundausrichtung nach Meinung des Rezensenten eine herausragende Bedeutung zur Rettung unseres Planeten zu, er muss sie nur annehmen. Helge Peukert

Jörn Martiensen und Bianca Rundshagen, MikroÖkonomik-Übungsbuch, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007,396 Seiten. Übungsbücher zu den Grundlagen der MikroÖkonomik gibt es zuhauf. Es darf deshalb die Frage erlaubt sein, ob das Werk von Martiensen und Rundhagen zu diesem Thema etwas beisteuern kann, das in dieser Form bisher noch nicht vorliegt. Zunächst beeindruckt das Buch von Martiensen und Rundhagen mit seiner Fülle von Übungsaufgaben. In sechs Kapiteln wird auf

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fast 400 Seiten der Versuch unternommen, die Grundlagen der MikroÖkonomik in ihrer ganzen Breite abzudecken. Die Verfasser beginnen mit Ausführungen zur Theorie des Haushalts. Martiensen und Rundhagen beenden dieses und jedes folgende Kapitel mit ausführlichen Lösungshinweisen, die zu einem vertiefenden Studium des jeweils vorgestellten Lehrgebietes anregen. Hilfreich für das Studium ist auch das umfangreiche mikroökonomische Glossar, das erstens den Lesefluss erleichtert, weil etwa definitorische Ausführungen den Fließtext nicht stören und zweitens Leser ohne Vorkenntnisse ihre Wissenslücken schnell schließen können. Überhaupt ist es ein Verdienst von Martiensen und Rundhagen, dass für das Verständnis der im Buch dargestellten ökonomischen Sachverhalte nur geringe mathematische Vorkenntnisse notwendig sind. Martiensen und Rundhagen kommt es stattdessen auf das Verstehen von ökonomischen Zusammenhängen an. Die Leser können sich damit vollständig auf die mikroökonomischen Inhalte konzentrieren und werden nicht durch mathematische Darstellungen abgelenkt. Die Interessenten formaler Darstellungstechniken kommen dennoch auf ihre Kosten. Aber eben nur so weit wie es nötig ist und nicht wie es möglich ist. Die folgenden Kapitel legen den theoretischen Grundstein für die mikroökonomische Analyse. Studienanfänger erhalten eine fundierte Einführung in die mikroökonomische Theorie. Mit diesem theoretischen Instrumentarium sind die Leser gut gerüstet für die Ausführungen zu Preisbildung und Preispolitik, die gewissermaßen Marktformenlehre in „action" bieten. Von Problemen der Monopolpreisbildung über aktuelle Diskussionen zur Netzwerkökonomik bis zur Wettbewerbspolitik wird den Studierenden das ganze Spektrum der praktischen Wirtschaftstheorie vorgestellt. Ausgestattet mit derartigem Problembewusstsein bereiten Martiensen und Rundhagen den Leser in den weiteren Kapiteln auf die Gleichgewichtstheorie, die Wohlfahrtstheorie und die Theorie des Marktversagens vor. Ein Vorteil des Lehrbuches von Martiensen und Rundhagen ist seine moderne Konzeption. Die einzelnen Kapitel können als Lernmodule aufgefasst werden, da sie in sich geschlossen, aber auch miteinander kombinierbar sind. So lassen sich etwa die Kapitel fünf und sechs, die sich mit der Funktionsfähigkeit von Märkten und der Wettbewerbstheorie beschäftigen mit den Kapiteln zwei, drei und vier kombinieren, so dass schon methodisch der Eindruck der Interdependenz der Ordnungen beim Lernenden entsteht. Aus ordoliberaler Sicht ein erwünschter und gewollter Effekt. Ein großer Vorteil des vorliegenden Übungsbuches ist auch die enthaltene CD-ROM, mit interaktiven Übungsaufgaben, animierten Grafiken und Simulationen. Thomas Pfahler

Peter Oberender (Hg.), Der „more economic approach" in der Beihilfenkontrolle, Duncker & Humblot, Berlin 2008,131 Seiten Unter dem Begriff des „more economic approach" vollzog sich in den letzten Jahren eine Neuorientierung der europäischen Wettbewerbspolitik, die das Ziel einer verstärkt ökonomischen Betrachtungsweise und eines wirkungsbasierten Ansatzes verfolgt. Im Gegensatz zu den Bereichen des Kartellverbots, der Fusionskontrolle und der Missbrauchsaufsicht, war der „more economic approach" in der Beihilfenkontrolle bislang kaum Diskussionsgegenstand der Literatur. Dieses Defizit veranlasste die Arbeitsgruppe Wettbewerb des Wirtschaftspolitischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik, ihre Jahrestagung 2007 diesem Thema zu widmen. Hieraus entstanden die Beiträge des von Peter Oberender herausgegebenen Sammelbandes. Den Autoren ist hierfür zu danken. Die insgesamt sechs Aufsätze und die abschließende Zusammenfassung geben einen Überblick über einige wettbewerbspolitische Aspekte und Fragestellungen, die mit der Anwendung eines „more economic approach" in der Beihilfenkontrolle einhergehen. Den Einstieg in die Thematik liefert Ulrich Schwalbe mit einer ausfuhrlichen Darstellung der Beihilfenkontrolle. Nach der Darlegung der rechtlichen Grundlagen und der Beihilfenarten sowie Vergabeformen geht Schwalbe auf die ökonomischen Aspekte der Beihilfenvergabe ein.

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Diese kann zum einen die Korrektur einer Form des Marktversagens oder zum anderen normativ, d. h. politisch motiviert sein. Besonders letztere macht vor dem Hintergrund des Wettbewerbs auf dem Markt der Europäischen Gemeinschaft die Notwendigkeit einer Beihilfenkontrolle deutlich. Allerdings ist diese mit verschiedenen Problemen verbunden, von denen Schwalbe v. a. Second-best Probleme und die Finanzierung staatlicher Beihilfen thematisiert, welche oftmals außer Acht gelassen wird. Deshalb plädiert Schwalbe bei der Beurteilung von Beihilfen für einen mehrstufigen Abwägungstest, der auch die Finanzierungskosten berücksichtigt und stärker wirkungsorientiert ist. Die Anwendung einer grundsätzlichen Einzelfallanalyse sei aus Kostengründen allerdings nicht zu empfehlen. Wernhard Möschel befasst sich in seinem Beitrag mit den juristischen Konsequenzen des „more economic approach" in der Beihilfenkontrolle. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsverfälschung. Als Bedrohung im Zuge der Ökonomisierung sieht er hier die verstärkte Akzentuierung der Kategorie des Marktversagens seitens der Kommission. Durch den inflationären Gebrauch dieses Arguments bestehe die Gefahr einer Schwächung der Beihilfenkontrolle. Als klarer Befürworter des „more economic approach" kritisiert Hans Friederiszick an dem bisher seiner Meinung nach zu formalistischen Vorgehen, dass dieses die tatsächlichen Effekte von Beihilfen nicht erfasse und somit zu Fehlurteilen führe. Ein verstärkt ökonomischer und wirkungsbasierter Ansatz sei demgegenüber in der Lage, das Ziel weniger und besser ausgerichteter Beihilfen zu realisieren. Operationalisiert werden solle dies durch eine intensive Einzelfallanalyse. Wie diese genau ausgestaltet werden müsste, lässt Friederiszick allerdings ebenso außer Acht wie die damit einhergehenden Kosten sowie politökonomische Aspekte. Michael Bartosch stellt in seinem Beitrag bei der Untersuchung zweier Fallbeispiele fest, dass die Anwendungspraxis der Kommission durchaus noch Fragen offen lässt. So seien die viel detailliertere Marktdefinition und die Untersuchung der wettbewerblichen Wirkungen zwar grundsätzlich positiv zu sehen, wirken allerdings etwas befremdlich, da sie ein Spürbarkeitskriterium der Wettbewerbsverfalschung suggerieren, welches nicht existiert. Darüber hinaus merkt Bartosch an, dass die Prüfung der Geeignetheit der geplanten Beihilfe zur Erreichung eines Zieles von gemeinsamem Interesse im Widerspruch zu dem primären Zweck der Beihilfenkontrolle, nämlich der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen, steht. Zu Recht wird außerdem beanstandet, dass, im Gegensatz zu ursprünglichen Absichtsbekundungen, Finanzierungskosten einer Beihilfe nun doch unberücksichtigt bleiben. Kritisch äußerst sich auch Michael Knoblich, der die Entwicklung des Regionalbeihilfenrechts und die Folgen des „more economic approach" für die Praxis beschreibt. So gehe mit dem erheblichen Verfahrensaufwand und längeren Bearbeitungsfristen kein entsprechender Nutzen einher. Zu bemängeln sei auch das neu eingeführte Kumulierungsverbot von Regionalbeihilfen mit De-minimis-Zuwendungen, welches vor allem KMU zum Nachteil gereiche. Knoblich wirft der Kommission zudem vor, durch die Beihilfenkontrolle die Position europäischer Standorte im internationalen Standortwettbewerb grundsätzlich zu schwächen. Der Thematik der Standortwahl im Zusammenhang mit Regionalbeihilfen widmet sich auch Justus Haucap. Dabei geht er insbesondere auf die Gefahr eines staatlichen Hold-ups ein, die sich aus der Irreversibilität standortspezifischer Investitionen ergebe. Um Unternehmen vor der kalten Enteignung zu schützen, solle sich der Staat ex ante durch Ansiedlungsbeihilfen an der spezifischen Standortinvestition beteiligen. Haucap sieht die Beihilfenvergabe somit letztlich als Wettbewerbsparameter im internationalen Standortwettbewerb und als Instrument für effizientes Investitionsverhalten. Inwieweit allerdings die direkte staatliche Einmischung in Form einer Beihilfenvergabe als Anmaßung von Wissen im Sinne Hayeks zu werten ist, wird hier nicht diskutiert. Der von Peter Oberender herausgegebene Sammelband erweist sich als sehr lesenswert. Die Beiträge machen deutlich, wie facettenreich das wettbewerbspolitische Feld staatlicher Beihilfen ist. Insbesondere vor dem Hintergrund der veränderten gesamtwirtschaftlichen Situation ist

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die Frage der adäquaten Behandlung staatlicher Beihilfen aktueller denn je geworden. Somit wird sicher auch in Zukunft ausreichend Diskussionsbedarf für Befürworter und Kritiker des „more economic approach" in der Beihilfenkontrolle bestehen. Insbesondere politökonomische Aspekte des ökonomischen Ansatzes sollten dabei noch mehr Berücksichtigung finden. Steffen Schmidt

Max Albert, Dieter Schmidtchen und Stefan Voigt (Hg.), International Conflict Resolution, in: Conferences on New Political Economy 23, Mohr Siebeck, Tübingen 2006. The international interdependence in economics, politics, but also in other areas, has considerably increased, but also has risen the potential for international conflict in various areas, such as trade, competition, the environment, etc. In order to peacefully settle such conflicts, there are roughly 40 International Courts which serve to solve such conflicts. In this volume, the editors ask, what are adequate criteria to measure the effectiveness of these International Courts? Are there factors, which explain the difference in their success, and what are the reasons for explaining the difference of nation-state governments in delegating competence to International Courts in the first place? These are challenging and interesting questions, and with this edited volume, an attempt is made at least to partially answer these questions. The editors make the usual distinction between positive and normative analyses in their book, and with regard to international conflict resolution mechanisms, positive analysis mainly deals with the description and explanation of the differential success rates of the various institutional arrangements. Normative analysis is concerned with the identification of optimal solutions, which deal with international conflicts. Essential features here are the optimal degree of International Court competence and optimal decision rules. Following this distinction, the majority of the papers deals with a positive analysis and can be grouped into two different sections. In the first, the authors focus their analysis on comparing the different effects that are caused by different attributes that various international conflict resolution mechanisms have. In the second group, the authors deal with a positive analysis of the international conflict resolution mechanisms, which will be endogenous, e.g. analyses as the result of choices made by various actors. In the first paper, Daniel Sutter analyses the exceptive effectiveness of the International Criminal Court (ICC) in a theoretical way and concludes that the ICC is unlikely to have a major deterrent effect. The next two papers deal with a somewhat similar topic, the first by Anne van Aaken deals with "Making International Human Rights Protection More Effective: A Rational-Choice Approach to the Effectiveness of Provisions for Ius Standi" and the second one by Eric Neumayer "Do international human rights treaties improve respect for human rights?". Anne van Aaken's contribution analyses the different incentives, the different complaint mechanisms provided for individuals and for NGO's to use international human rights law. Her conclusion is that underenforcement is likely under the currently given mechanisms. In the second (similar) paper, Neumayer finds that ratification is often associated with an improvement in human rights record of the states that are ratified in international human rights treaties. In the fourth paper, Eric A. Posner analyses the development of the International Court of Justice, and in the fifth paper, Tom Ginsburg undertakes an analysis of "International Judicial Lawmaking". Ginsburg identifies a number of informal mechanisms that are used by nationwide governments in order to constrain the International Judiciary in its lawmaking capacity. In the sixth paper, Cesare Romano brings in new aspects, when he analyses the monetary costs of International Courts. In his analysis, he connects three aspects, the size of the budget, the sources of the budget, and the output that is produced with the respective budget. In his contri-

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bution, he presents a very interesting, elaborated analysis of the costs, the financing and the output of International Courts and Tribunals. In the seventh paper, another quite interesting question is put forward by Laurence Heifer in his contribution "Why States Create International Tribunals: A Theory of Constrained Independence". He more or less asks, why is it that the number of International Courts is rising rapidly. His conclusion is that International Courts are never independent in a qualified way, but they only enjoy constraint independence. In the next (and eighth) paper, George Tridimas deals in his analysis with the European Court of Justice. His major result is that establishing a court and endowing it with the power of judicial review can be completely rational from the point of view of EU member states and that these EU member states aim at maximizing their expected net benefit from membership in the European Union. After these eight papers, dealing with more or less positive analyses, the last two put forward a normative perspective. Justus Haucap, Florian Miiller and Christian Wey ask "How to Reduce Conflicts over International Antitrust?". They put forward the question whether an International Competition Court should be created. They do not come to a clear-cut answer of this question and conclude that further research is desirable to carefully investigate the detailed cost and benefit of their proposal. The last paper by Wilfried Hinsch and Markus Stepanians deal in their contribution "International Justice and the Problem of Duty Allocation" with the classical (Hohfeldi&n) theory of (claim-)rights. These rights are relational properties that imply the existence of at least one other person, the bearer of the correlative duty. The come to the conclusion that this theory has no principled solution and can only be solved with the aid of existing networks of cooperation. The editors hope that their book will stimulate the exchange between scholars of International Law with the ones of Law and Economics as well with Public Choice scholars, and it should stimulate research. Considering this volume, being an economist and Public Choice scholar, I miss more analyses of individual behavior using Public Choice analyses, but in general, this is a highly stimulating and intellectually challenging volume dealing with a lot of interesting aspects. I can highly recommend it to anyone who wants to know a bit more about International Conflict Resolution. Friedrich Schneider

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 60

Personenregister Abelshauser, Werner 233,235, 242, 385 Adler, Paul 488,492 Aidt, Toke S. 464,491 Akerlof, George A. 283f., 453,458 Albert, Hans 351, 353f. Aldenhoff, Frank-Oliver 262, 26, 265 Alesina, Alberto 467,491 Aliber, Robert 327f, 333, 335f„ 339f., 353 Alkire, Sabina 409,425,431 Alien, Franklin 298, 308, 314 330. 3 3 4 f f , 343f., 353 Allinger, Hanjo 492 Alonso-Terme, Rosa 492 Altman, Roger C. 273,284 Amann, Anton 426,431 Amemiya, Akihiko 54, 81 Anand, Sudhir 394,409 Anari, Ali 228,242 Andel, Norbert 146 Andersson, Martin 237, 242 Andvig, Jens Chr. 470f., 492 Ariccia, Giovanni dell 225, 242 Ariely, Dan 122,146 Arndt, Christian 393,409 Artis, Michael 262,265 Ashcraft, Adam B. 219 Ashraf, Nava 119,146 Atkenson, Andrew 284 Austin, James 437f., 458 Baedeker, Diedrich 440ff., 446, 458 Baetge, Jòrg 232, 239, 242 . Bagehot, Walter 380,385 Bagus, Philipp 323 Baier, Anette 488,492 Bajaj, Vikas 272,284 Ballet, Jerome 428,431 Balzter, Sebastian 337, 353 Baneijee, Abhijit V. 409 Barber, Brad M. 123, 146 Barbera, Robert J. 270f., 273f., 276, 278, 284 Bardhan, Pranab 464,492 Barr, Michael S. 409 Barro, Robert J. 277, 283f., 467,492 Bastiat, Frédéric 484, 492 Batthyàny, Philipp 49 Baumann, Dorothée 437, 460

Baurmann, Michael 283f. Beaulier, Scott 130,146 Beck, Hanno 119f., 122,124,126, 128, 130,132, 134,136, 138,140,142, 144, 146, 148, 150, 523, 525 Becker, Axel 220 Becker, Gary S. 277,283f. Beckmann, Klaus 463ff„ 468,470,472, 474,476, 4 7 8 , 4 8 0 f f , 4 8 4 f f , 488,490ff„ 523, 532 Beckmann, Markus 435ff., 440,442, 444f., 448, 451 ff., 454, 456, 459f. Beckmann, Ulf 107,113,115 Benartzi, Shlomo 149 Bentham, Jeremy 88, 92, 96ff. Berdrow, Wilhelm 4 3 9 f f , 443,458 Bergh, Syvia I. 424f.,431 Berlin, Isaiah 23ff., 33, 47, 49ff„ 420, 431 Berman, Harold J. 327,353 Bernanke, Ben 228, 242, 334, 353 Bernholz, Peter 280,284 Bernstein, Peter L. 338, 342, 353 Bertrand, Marianne 130,146 Beshears, John 141,146 Besley, Timothy 470,472,480, 484, 492 Bhardwaj, Gunjan 412 Bialas, Wolfgang 54,81 Bieber, Hans Joachim 58,60,81 Biewer, Ludwig 69, 81 Binmore, Ken 161,167 Binswanger, Hans-Christoph 180f. Blanchard, Olivier 290, 298, 309, 312, 314 Blancpain, JeanPierre 387 Blankart, Charles B. 276f., 284 Bloss, Michael 346ff„ 353 Blum, Jürg 256,265 Blümle, Gerold 55,81 Blundell-Wignall, Adrian 219 Böckenförde, Ernst W. 88, 98 Boelcke, Willi A. 445f„ 456,458 Boese, Franz 71, 81 f., 109ff, 115ff. Böhm, Franz 17,20,456,458 Bohsem, Guido 228,242 Bonn, Moritz J. 117 Bookstaber, Richard 327, 330, 338, 349ff„ 353 Borchardt, Knut 7 3 , 8 1 , 3 7 0 , 3 8 5 Bordo, Michael D. 172,181, 224ff., 242 Borenzstein, E. 409 Bork, Robert 153,157,167 Bornstein, David 438,458 Bouillon, Hardy 523, 534 Bourguignon, Francois 418, 431 Boyer, Nicole 409

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Personenregister

Brandenburger, Adam M. 456, 459 Braudel, Fernand 330,353 Braunberger, Gerald 348, 351, 353 Brestel, Heinz 376,385 Breuer, Stefan 73, 81 Breuer Markus 523,536 Briese, Olaf 441,458 Brocke, Bernhard vom 117 Broyer, Sylvain 55,66,81 Brügelmann, Hermann 101 f., 115 Brüggemeier, Franz Josef 442,458 Bruner, Robert E. 258,265 Buchanan, James M. 277, 280, 285 Buchheim, Christoph 233, 242 Budinich, Valeria 399, 410 Buiter, Willem 225,242 Burghof, Hans-Peter 290, 311f„ 314 Burkhardt, Johannes 181 Busemeyer, Jerome 148 Calomiris, Charles W. 228, 237f., 242 Camerer, Collin 119f., 126, 128, 133ff„ 143,146f. Campbell, Donald E. 465, 492 Campos, Nauro F. 471, 478ff., 492 Caplan, Bryan 130, 146, 280, 282f„ 285 Cardarelli, R. 290,314 Carney, Brian M. 270f.,285 Carr, Sean D. 258,265 Carter, John R. 129, 147 Caspari, Volker 102, 106, 115 Cassel, Dieter 387 Chaiken, Shelly 125, 149 Chakravarty, Satya 418, 431 Chater, Nick 149 Choi, James J. 146 Chomsisengphet, Souphala 219 Christensen, Clayton 410 Christiansen, Arndt 523, 539 Coase, Ronald 155, 160, 163, 145, 167f. Cohen, Marshall 49 Coleman, James S. 278, 285,427, 431 Cornelißen, Christoph 78, 81 Cowell, Frank 465,492 Crabtree, Andrew 410 Crane, Andrew 437,459 Crocker, David 423,431 Crowder, George 50 Damania, Richard 478, 492 Dasgupta, Parta 420,431 Dathe, Uwe 53f„ 56, 58, 60, 62, 64, 66, 68, 70, 72, 74, 76, 78, 80, 82, 84, 86 Davis, Susan 438,458 Davoodi, Hamid 492

De Jasay, Anthony 283,285 de Soto, Hernando 322f., Dees, J. Gregory 437f., 458 Demyanyk, Yuliya 250, 265 Deneulin, Séverine 423,428,431 Dietz, Markus 489, 492 Dimova-Cookson, Maria 30, 49 Dimri, Aditi 395,405,410 Dixit, Avinash K. 472,492 Dollar, David 467,492 Döring, Tanja 133f„ 149 Downs, Anthony 280,285 Drayton, William 438,458 Dreher, Axel 264f. Dreyer, Ernst A. 82 Drèze, Jean 423,431 Druwe, Ulrich 149 Dubois, JeanLuc 431 Dubra, Juan 124, 147 Duflo, Ester 409 Duke, Duncan 411 Dürr, Ernst 358,385 390,410 Durth, Rainer 399,410 Duwendag, Dieter 265 Eckey, Hans F. 285 Economy, Peter 438,458 Ehrlich, Lothar 54,82 Eichengreen, Barry 172, 181, 243, 278, 285 Eicher, Theo 467f„ 490,492 Eil, Nadine 353 Einecke, Helga 303,314 Eisermann, Gottfried 104, 115 Elekdag, Selim A. 314 Elkington, John 437,458 Ellickson, Robert C. 489,492 Emerson, Jed 438, 458 Engelhard, Peter 523, 546 Engelmann, Bernt 456, 458 Enk, Gordon 411 Epstein, Gil S. 480,492 Erhard, Ludwig 7f., 20 Erlei, Mathias 465,492 Ernst, Dietmar 353 Ernst, Otto 234,243 Esser, Hartmut 427,431 Eßlinger, Hans-Ulrich 115 Euchner, Walter 99 Eucken, E. 115,458 Eucken, Rudolf 55ff., 59ff„ 66, 69f., 76, 81 f., 86 Eucken, Walter 11,13, 20, 53ff., 63ff, 67, 69ff, 73ff, 77ff, 86, 97f., 102, 104, 115ff.,

Personenregister 174,181,197, 216,219,223, 242, 359, 375, 385f, 389ff., 398ff, 401f, 404ff, 412f., 436,455, 458 Evanoff, Douglas D. 298, 314f. Evans, Peter B. 428,431 Faber, Richard 54,82 Fabozzi, Frank J. 219, 349, 353 Falk, Armin 131, 147,486,492 Fang, Haimling 480,492 Fehl, Ulrich 180f„ 381, 385 Fehr, Benedikt 348,353 Fehr, Ernst 128f„ 147 Feldman, Gerald D. 67,82 Feiton, Andrew 242, 244f. Ferguson, Adam 88f., 98 Ferguson, Niall 173,182 Ferguson, Niall 277,285, 385 Fetter, Frank A. 117 Fey, Gerrit 366,368,385 Field, Chris 134, 143, 147 Fields, Gary S. 410 Finley, Moses I. 484,492 Fischer, Hermann 116 Fischhoff, Baruch 123, 147f. Fisher, Irvin 378,385 Fjelstad, OddHelge 470f, 492 Fleckenstein, William A. 204,219 Flügge, Wilhelm von 58,82 Folz, Willibald 66,82 Förg, Michael 147 Frank, Philipp 431 Franke, Hans Hermann 50 Frederick, Shane 147 Frediani, Alex A. 424, 431 Fredricksson, P. G. 492 Frey, Bruno S. 131, 147,485f„ 489,492 Friedman, Milton 138, 147, 228, 242f„ 317f„ 323, 391,410, 454, 458 Frieser, Karl-Heinz 490,492 Frühauf, Markus 233, 244 Frynas, Jedrzej George 404,410 Gaertner, Wulf 459 Gaeth, GaryJ. 125,148 Galbraith, John Kenneth 4,20 Gale, Douglas 298, 314, 330, 335ff., 344f„ 353 Gall, Lothar 439,458f. Gangl, Manfred 55,79,83 Gantenbein, Pascal 338, 354 Garrison, Roger W. 319,323 Gattke, Susan 386,492 Gaumert, Uwe 211,220

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Gehlen, Arnold 87,98 Gehrmann, Volker 220 Gehrmann, Wolfgang 176, 182 Gerhardt, Volker 459 Gerken, Lüder 83 Gerrits, Carsten 463f., 466, 468, 470, 472, 474,476,478,480,482,484,486,488, 490,492,494 Gigerenzer, Gerd 123, f., 137, 147 Gilovich, Thomas 147 Giovannoni, Francecso 471, 478ff., 492 Glaeser, Edward L. 133,143, 147 Gneezy, Uri 129,131,147 Gocht, Rolf 378,386 Goerke, Ulrich 232f, 243 Goethe, Johann Wolfgang 49 Goette, Lozenz 131,147 Goldschmidt, Nils 55ff., 59, 79, 81ff., 115f, 458 Goodman, Laurie S. 219,353 Gordon, John Steele 271, 285 Gordon, Michael 411 Görgens, Egon 202,219,243 Gorton, Gary 249,265 Graf Ballestrem, K. 459 Gray, John N. 43,49 Green, Thomas H. 30,49f. Greenspan, Alan 88, 98,259, 265 Greiling, Kurt 416, 418f., 431 Griffin, Dale 123, 137, 147 Gröner, Helmut 375, 385f. Groß, Steffen W. 23f., 26, 28, 30, 32, 34, 36, 38,40, 42, 44,46,48, 50 Großmann-Doerth, Hans 454, 458 Grüner, Stefan 69,83 Guidolin, Massimo 187,219 Günther, Gustav A. 102, 115 Gupta, Sanjeev 466ff.,492 Gusy, Christoph 77, 83 Guthrie, Chris 122, 149 Haakonssen, Knut 89,94,98 Haan, J. de 315 Haberler, Gottfried von 21, 225, 243, 366, 386 Habermann, Gerd 267,285 Häcker, Joachim 353 Hagemann, Harald 103, 114f. Hahn, Albert 17,21 Hailu, Degol 398,410 Halevy, Elie 94,98 Hamm, Walter 372,386 Hammond, Allen 395,411 Hamowy, Ronald 39,41,50

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Personenregister

Haq, Moinul 411 Hardin, Garret 448,458 Hardy, Henry 24,26f.,49f. Harris, Seymour E. 20 Harstad, Bard 478,492 Hart, Stuart L. 400,403,410f., 452,459 Hartigan, Pamela 437,458 Hartmann-Wendeis, Thomas 230, 243, 290,314 Hartwell, Ronald M. 170, 182 Haselbach, Dieter 54, 83,106,115 Hashemi, Syed 411 Hastie, Reid 148 Haucap, Justus 523, 551 Häuser, Karl 103,116 Hawkesby, Christian 207,220 Hayek, Friedrich August von 23ff., 32ff., 87ff„ 91ff„ 95ff., 99,267,269f„ 280, 282, 285, 358, 360, 363, 377f„ 382, 384ff. Hazlitt, Henry 283,285 Heal, Geoffrey 405,410 Hecht, Dieter 285 Heckscher, Charles 488, 492 Heimann, Eduard 104ff., 1 lOff. Heinemann, Friedrich 132f., 147 Hellwig, Martin 256, 265, 272,285 Helm, Dieter 420,431 Henkel, Heinrich A. 431 Hennecke, Hans Jörg 28, 50, 177, 182 Hensel, K. Paul 115,458 Herfeld, Catherine 523, 554 Herrmann-Pillath 523,558 Herrnstein, Richard J. 147 Hershey, John 148 Hertfelder, Thomas 54,83 Hesse, Martin 228,242 Hielscher, Stefan 435f., 438,440,442, 4441,448,450ff„ 454,459f. Hieronymi, Otto 177, 182 Higgs, Robert 270, 283, 285 Hildebrand, Philipp 179,182 Hilzenbecher, Manfred 523, 564 Hindriks, Jean 473,492 Hirsch, Fred 282f., 285 Hirschman, Albert O. 283, 285 Hirshleifer, David 133,148 Hirshleifer, Jack 473,492 Hobbes, Thomas 92, 96f., 99 Hochmuth, Uwe 390,410 Hoerster, Norbert 157, 161,167 Hofmann, Bernd 220 Homann, Karl 436,458 Homburg, Stefan 170, 182 Hoppe, Hans-Hermann 318f., 322f.

Horn, Karen 276,285 Houwink ten Cate, Johannes 66, 83 Huber, Ernst R. 69,72,83 Huber, Wolfgang 303, 311, 314 Hübinger, Gangolf 54, 83 Hudson, Richard L. 173,182 Hüfher, Jan 53,83 Huhn, Willy 358,386 Hülsmann, Jörg Guido 270, 277, 283,285 Hulverscheidt, Claus 228, 242 Hume, David 87ff., 95, 97ff. Hunold, Albert 21 Ibrahim, Solava 425, 428, 431 Ignatieff, Michael 25f., 50 Ilgmann, Cordelius 223f„ 226, 228,230, 232, 234, 236, 238,240,242ff„ 246 Inglehart, Ronald 268, 282,285 Irons, Michael 129,147 Issacharoff, Samuel 147 Issing, Ottmar 224,243 Jaffee, Dwight M. 224ff., 243 Jahanbegloo, Ramin 36, 50 Jain, Arvind K. 465,470,493 Jain, Subash, C. 410 Jaiswal, Aanand 401,410 Janssen, Hauke 64f., 83, 101f„ 104, 106, 108, 110, 112, 114, 116, 118 Jasay, Anthony de 171,182 Jenkins, Rhy 400,403,410 Jeunesse, Elizabeth A. La 187, 219 Joebges, Heike 210,219 John, Jürgen 54, 82 Johnson, Eric H. 134,148 Jöhr, Walter A. 173, 181f. Jonas, Eva 147 Jones, Larry Eugene 54, 57, 83 Jong-A-Pin, R. 315 Jost, Norbert 220 Jünemann, Bernhard 353 Junkernheinrich, Martin 285 Kagel, John 146 Kahneman, Daniel 121ff., 126, 137, 147ff. Kallwass, Wolfgang 327, 353 Karnani, Aneel 395f.,410 Karsten, Arne 485,489,493 Kashyap, Anil K. 256,265 Kaufman, Alexander 431 Kaufman, George G. 314f. Kaufmann, Daniel 465,467,477f„ 493 Kay, John 274,285 Keen, Michael 492

Personenregister Kehoe, Patrick J. 284 Kent, Daniel 133, 148 Keren, Gideon 137,148 Kersting, Wolfgang 459 Khan, Mushtaq H. 467,469,493 Khawari, Aliya 410 Kiehling, Hartmut 331,353 Kiffs, John 219 Kindleberger, Charles P. 224f., 228, 243, 326ff., 333, 335f, 339f„ 353 Kirchner, Christian 350, 353 Kittel, Manfred 83f. Klayman, Joshua 148 Klee, Günther 390,410 Klein, Daniel 148 Klinckowstroem, Wendula Gräfin von 53, 79, 83 Knetsch, Jack L. 125f., 148 Knight, Frank H. 97, 99, 172,182 Knoepffler, Nikolaus 459 Koch, Hannes 452,458 Koch, Hans-Joachim 156, 167 Köhler, Horst 374,386 Kolb, Eberhard 68,83 Kömer, Heiko 399,410 Korobkin, Rüssel B. 148 Kosfeld, Michael 486, 492 Köster, Thomas 276,278, 285 Kösters, Wim 373,386 Kotler, Philip 410 Kraay, Aart 467,492 Kracauer, Siegfried 73, 77f„ 83 Kramer, Matthew H. 29,50 Kreiss, Silvia 235f.,243 Kreps, David M. 444,459 Kretschmar, Hans 102,116 Krieger, Alexandra 210,219 Krishna, Vijay 480,493 Kröger, Matthias 105, 116 Krohn, Claus-Dieter 54, 55, 60, 83, 103f., 107,110f„ 115f. Krugman, Paul 21, 230, 243, 270ff„ 2277, 281, 284f. Kuklys, Wiebke 426,431 Kunreuther, Howard 148 Kunz, Volker 149 Kunzmann, Peter 459 Kurlander, Eric 55, 83 Kurz, Heinz D. 108,113,116 Kvarnström, Jan 298,314 LaBrosse, John 314f. Lackner, Elisabeth 465,470, 492 Laeven, Luc 225,243,298,315

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Lahno, Bernd 488,493 Lahr, Reinhard 441,446,449,460 Laibson, David 146 Lall, Subir 314 Lambsdorff, Johann Graf von 466,468m 472f, 480,493f. Landrum, Nancy. E 410 Lange, Carl 71,82 Langer, Ellen J. 123,148 Langewiesche, Dieter 54, 83 Lederer, Emil 107, 11 Off., 116 Lei, Peng 404,410 Leipold, Helmut 385, 524, 568 Leisner, Tony 410 Lenel, Hans Otto 64, 83, 276, 285, 372, 386 Leonhard, Jörn 76, 83 Leonhardt, David 272,284 Leschke, Martin 48, 50, 373, 386,465, 492 Leßmann, Ortrud 415f., 418,420,422, 424,426,428,430ff. Levin, Irwin P. 125,148 Lichtenstein, Sarah 123,148 Lien, DaHsiang Donald 480,493 Lindbeck, Assar 283, 285 Lippert, Allyson 411 List, John A. 131,147 Littlefield, Elizabeth 411 Loewenstein, George 119, 127f., 146ff. Long, Baijin 404,410f. Löwe, Adolf 102,104ff„ 109ff. Lucas, Douglas J. 219,353 Lucas, Robert E. 360, 376, 386 Luhmann, Niklas 153ff„ 160,167 Luo, Yadong 472,493 Lutz, Friedrich A. 357, 375, 386 MacCallum, Gerald C. 23, 30, 44ff„ 50 Mackie, John L. 326, 353 Madrian, Brigitte C. 146 Mahieu, François Régis 431 Manchester, William 456,459 Mandelbrot, Benoit 173, 182 Mandeville, Bernhard 89,99 Mani, Muthukumara 492 Manning, Rebecca J. 219 Marsh, IanW. 207,220 Martin, Marcus R.W. 351,353 Martin, Maximilian 437,459 Martin, Roger L. 437, 459 Mason, Joseph 228, 237f., 242 Matten, Dirk 437,459 Mauro, Paolo 466,493

626

Personenregister

McCloskey, Michael 123,148 McCreary, Eugene C. 443f., 447, 449, 459 McGregor, Roy Rob 258,265 Mclntire, Mike 230,243 McKenzie, Craig 125, 139, 148f. McLean, Murdith 437,459 Meder, Hermann 234,243 Medin, Douglas L. 148 Meier-Rust, Kathrin 104ff„ 113ff. Meitzer, Allan H. 198,220 Menger, Carl 318f.,323 Meon, PierreGuillaume 465f., 468,476, 493 Merkenich, Stephanie 66, 84 Merle, Uwe 431 Mestmäcker, Ernst-Joachim 87f., 90, 92, 94, 96, 98, 100, 153ff., 158ff Meszaros, Jacqueline 148 Meyer, Fritz W. 3f., 21, 362, 367, 377, 386 Meyerowitz, B. E. 125, 149 Michaelowa, Katharina 399,410 Michler, Albrecht 226f., 243 Michler, F. 185f., 188, 190, 192, 194, 196, 198,200, 202, 204, 206,208, 210, 212, 214,216,218, 220 Mikkelsen, L. A. 149 Mill, JohnS. 92f., 95, 99 Miller, David 49 Mills, PaulS. 187,189,219 Milstein, Mark B. 410 Minsky, Herman 174,182 Mises, Ludwig von 110f., 116, 318, 323, 358,386 Mishkin, Frederic S. 204, 220 Mizen, Paul 225ff., 243 Möhrs, Thomas 493 Möller, Hans 233 Möller, Horst 83f. Molsberger, Josef 360, 386 Moon, Jeremy 437, 459 Morduch, Jonathan 411 Möschel, Wernhard 175, 182, 362, 386 Mulholland, Joseph P. 134, 149 Mullainathan, Sendhil 120, 146, 149 Müller-Armack, Alfred 17, 21, 390, 411 Murphy, Allan H. 137,149 Murphy, Kevin M. 277,284 Mussweiler, Thomas 149 Muthoo, Abhinay 492 Nahnsen, Ingeborg 419,431 Nalebuff, Barry J. 456, 459, 472, 492 Naujokat, Katrin 485,492

Neisser, Hans 102f., 107, 111,116 Nelson, John D. 125, 149 Neurath, Otto 418,426,431 Newell, Peter 411 Nickerson, Raymond S. 122, 149 Nipperdey, Thomas 332, 353 Nitzan, Shmuel 480,492 Norton, Robert E. 24, 50 Nothwehr, Erin 243 Nozick, Robert 30,50 Nuscheier, Franz 411 Nussbaum, Martha 422, 425, 431 f. Nyberg, Sven 283,285 O'Donoghue, Ted 127, 136, 147, 149 O'Rourke, Kevin H. 223,243 Oakeshott, Michael 368, 386 Oaksford, Mike 149 Oberender, Peter 180f., 381, 385 Ochel, Wolfgang 492 Odean, Terrance 123, 146 Olson, Mancur 21,280,285,448,459 Oosterloo, Sander 307,315 Oppenheim, Felix E. 29, 50 Oppenheimer, Franz 105ff., 111, 115f. Orr, Dan 122, 149 Osberg, Sally 437,459 Osterloh, Margit 485,489f., 492f. Ostwald, Walter 104,116 Ott, Claus 166f. Ottmann, Henning. 459 Palazzo, Guido 437,460 Palyi, Melchior 111,117 Pamlin, Dennis 404,410 Patrick, John D. 253,265 Paul, Stephan 209ff, 220 Pellissery, Sony 424f., 431 PenningtonCross, Anthony 219 Peredo, Ana Maria 437, 459 Peter, Fabienne 423,432 Petrova, Vanya 395,411 Pettit, Philip 29,50 Petzina, Dietmar 385 Pfahler, Thomas 386, 524, 571 Pfeffermann, Guy 410 Phelps, Edmund 249, 265, 274,285 Pies, Ingo 50, 411,436ff., 458f. 463ff., 471, 474,487ff. Pirenne, Henri 327, 353 Plickert, Philip 269, 284f. Pohle, Ludwig 102,116 Polizu, Cristina 220 Polleit, Thorsten 269, 285

Personenregister Popper, Karl R. 91,99 Posner, Richard A. 157, 167, 276, 286 Postema, Gerald J. 92,99 Prahalad, Coimbatore Krishnarao 392, 395,400,411,452,459 Prelec, Drazen 128, 147f. Priddat, Birger P. 173,181 Prollius,, Michael von 269,285 Prothmann, F. 290, 31 lf., 314 Pyta, Wolfram 57,83 Rabin, Matthew 136,147,149 Rabin, Robert 157,167 Ramirez, Ricardo 411 Raulet, Gérard 54f., 83f. Rawls, John 31,45,50,93,99 Read, Daniel 128,149 Reddy, Sanja 411 Rehberg, KarlSiegbert 98 Reinhart, Carmen M. 243, 268, 270, 286 Reisch, Richard 110,117 Reitz, Stefan 351,353 Repullo, Rafaël 256,265 Ricardo, David 363,386 Ricciardi, Mario 42, 50 Richardson, Don 411 Richter, Ludwig 68, 83f. Rieter, Heinz 103f„ 116 Rischkowsky, Franziska 133f., 149 Robbins, Lionel 39, 50, 95, 99 Roberto, Ned 410 Robeyns, Ingrid 394f., 397,411,426,428, 431 Roche, Jose M. 423, 428, 432 Röchet, JeanCharles 197, 220 Rodrik, Dani 467,491 Rogoff, Kenneth S. 243, 268,270, 286 Röhn, Oliver 492 Rohwer, Anja 492 Roll, Richard 149 Römmelt, Benedikt 524, 577 Röpke, Wilhelm 4, 17f., 21,101f., 104, 106f, 110f„ 113ff„ 169f, 172, 174, 177, 181f„ 355, 358f„ 370f„ 380, 385f. Roth, Alvin E. 146 Roth, Jane 146, 148 Rothbard, Murray N. 30, 40, 50, 318, 322f. Rotherrmund, Dietmar 244 Roubini, Nouriel 172,182 Rubinstein, Ariel 128, 149 Ruchniewicz, Rrzysztof 82 Ruckriegel, Karlheinz 202, 219

627

Rudolph, Bernd 190, 220, 226f., 244,290, 301,315 Rüßmann, Helmut 156, 167 Russo, J. Edward 124, 149 Rustichini, Aldo 131, 147 Rüstow, Alexander 101 ff. Salin, Edgar lOlff., 115, 117,410 Samuelson, Paul A. 448,459 Samuelson, William 126, 149 Sanders, Anthony 225f., 244 Sanio, Jochen 307, 315 Sardison, Markus 436, 459 Sartre, Jean Paul 29,50 Sass, Peter 457,459 Sauerland, Dirk 465,492 Sauvant, Karl P. 412 Savage, Leonard J. 138, 147 Say, Jean Baptiste 362, 387 Schaber, Albert 220 Schäfer, Hans-Bernd 166f. Schäfer, Klaus 220 Schäfers, Manfred 228,231,233,244 Schäffler, Frank 269,285 Scharff, Juliane 185,220 Schefold, Bertram 102, 106,115f. Schellenberger, Dirk 353 Schelling, Thomas C. 454, 460 Scherer, Andreas Georg 437,460 Schlichting, Wolf 234, 244 Schlick, Moritz 431 Schmid, Andreas 524,580 Schmidt-Trenz, Hans-Jörg 161,167 Schmidt, André 524,583 Schmidt, Klaus M. 128f., 147 Schmidtchen, Dieter 28, 50, 153ff., 158ff., 164,166fr. Schmoller, Gustav von 21,329,353 Schnabl, Gunther 277, 283, 286 Schneider, Friedrich 405, 411 Schneider, Sandra L. 125, 148 Schoemaker, Paul J. H. 124, 149 Schölten, Marc 128, 149 Scholtes, Fabian 411 Schön, Wolfgang 99 Schötz, Hans O. 73,81 Schröder, Emst 444,460 Schuermann, Til 219 Schuknecht, Ludger 267, 277, 283, 286 Schüller, Alfred 180ff„ 355f., 358, 360, 362, 364, 366, 368, 370, 372, 374ff., 380ff., 384ff. Schulte-Mattler, Hermann 211, 220

628

Personenregister

Schumpeter, Joseph A. 21, 103, 108f., 111,117,268, 279, 282, 286,358, 387 Schwartz, Anna 228,243 Schwarz, Gerhard 169ff., 174,176, 178,180ff. Schwenk, Otto 426,432 Seitz, Franz 202,219 Sekkat, Khalid 466,468,493 Sen, Amartya K. 32, 50,93,99, 394, 397ff„ 402f„ 406,408f„ 41 If., 416f„ 419ff., 428,43Off. Sennholz, Hans 322f. Servigny, Arnaud de 220 Shafir, Elgar 130,146 Shapiro, Daniel 150 Sharma, Amiya 395,405,410 Shaw, George Bernard 435,460 Sheehan, Frederick 204,219 Shiller, Robert J. 172,182, 283f., 313, 315, 337, 348,350, 352f. Shlaes, Amity 177,182 Sicherman, Nachum 148 Siebke, Jürgen 265 Siegetsleitner, Anne 459 Siemon, Cord 524,586 Simanis, Elena 399,411 Simhony, Avital 31,50 Simon, Henry C. 378,387 Sinn, Hans-Werner 19,21, 247ff„ 252, 256, 258, 261, 265 Skinner, Andrew S. 99 Skinner, Quentin 29f., 48, 50 Slovic, Paul 148,150 Smith, Adam 87f„ 92ff., 96,98f„ 278, 28If., 286, 329, 351, 354, 362f„ 379, 387, 455,460 Smith, Steven C. 399,412 Solchany, Jean 6,21 Soros, George 326, 334f., 337, 345, 351f., 354 Spaventa, Luigi 226, 244 Spremann, Klaus 354 Srinivasan, Sharath 423, 432 Starbatty, Joachim 182, 276, 286 Starmer, Chris 122, 149 Stavins, Robert N. 411 Stein, Jeremy C. 256,265 Steinbrück, P. 303, 305f., 309f., 315 Steiner, Hillel 155,157 Stella, Peter 297,315 Stenzel, Burkhard 54, 81 Stercken, Vera 441, 446, 449, 460 Stevens, Ibrahim 207, 220 Stevenson, Howard 437f., 458

Stewart, Frances 428, 43If. Stigler, George J. 94f„ 99 Stocké, Volker 125, 149 Stolzmann, Rudolf 102,117 Stottinger, Barbara 395,411 S trading, Rebecca 333, 354 Streit, Manfred E. 524,592 Stykow, Petra 524,595 Suarez, Javier 256, 265 Suchanek, Andreas 436, 460 Sufrin, Sidney C. 39,50 Sunstein, Cass R. 134,148f. Svensson, Jakob 492 Szyperski, Norbert 21 Tabarelli, Werner 379, 387 Taleb, Nassim N. 172,182 Tanzi, Vito 267, 277, 283, 286 Taylor, Charles 29f., 50 Taylor, John B. 251,265,271,277,286 Teoh, Siew Hong 133, 148z Termin, Peter 228,244 Testfachew, Taffere 412 Thaler, Richard 120, 125f„ 129, 134f„ 147ff. Thieme, H. Jörg 185f., 188, 190, 192, 194, 196, 198, 200, 202, 204,206, 208, 210, 212, 214, 216, 218, 220, 362, 387 Thiessen, Hillard von 485, 489, 493 Thompson, M. P. 459 Tietzel, Manfred 384,387 Titmuss, Richard M. 131,150 Todaro, Michael P. 399,412 Todd, Peter M. 137,147 Tofall, Norbert F. 269,285 Tollison, Robert D. 280, 285 Traut-Mattausch, Eva 147 Treue, Wilhelm 332,354 Trunz, Erich 49 Tullock,, Gordon 280, 285 Tuy, Peter 386 Tversky, Amos 121ff., 137, 147f., 150, 587 Ulen, Thomas S. 148 Ulmer, Peter 99 Uszczapowski, Igor 342, 354 Uyan Semerci, Pinar 424f., 432 Vachani, Sushil 410 Valencia, Fabian 225,243,298,315 van Hemert, Otto 250,265 van Suntum, Ulrich 223f., 226, 228, 230, 232ff., 236, 238, 240, 242ff„ 246

Personenregister Vanberg, Viktor J. 158, 167,280,286 Vaubel, Roland 174,182,247f., 250,252, 254,256, 258,260,262, 264ff. Vaughan, Williams 147 Vicente, Pedro C. 465,493 Viner, Jacob 40,42f., 50,97,99 Viotti, Staffan 237,242 Voges, Wolfgang 427,429,432 Volkert, Jürgen 389f„ 392ff„ 398,400, 402,404ff, 426,432 Vollmer, Uwe 204,220, 368, 387 Vosgerau, Hans Jürgen 17,21 Vossiek, Wilhelm 441,460 Wagener, Hans J. 21 Wagner, Adolf 524,599 Wagner, Adolph 332,354 Wandel, Eckhard 233, 235f„ 244 Wason, Peter C. 150 Weber, Adolf 103,110,117 Weder di Mauro, Beatrice 182, 350, 354 Weede, Erich 267f., 270,272, 274,276, 278, 280, 282,284, 286 Wehler, Hans-Ulrich 235, 244 Wehn, Carsten S. 351,353 Wei-Skillern, Jane 437f„ 458 Weill, Laurent 465,468,476,493 Weinstein, Neil D. 123,150 Weisser, Gerhard 416,418f„ 426,432 Weizsäcker, Carl Christian von 270,286

629

Wendt, Rainer 426ff., 430,432 Werding, Martin 493 Whitman, Glen 142, 150 Wilcox, David W. 256,265 Wilde, Alan 99 Willgerodt, Hans 3f., 6, 8, 10,12, 14,16, 18, 20ff„ 356, 387 Williams, Bernard 99 Williamson, John 387 Wilson, Linus 230, 232, 238,244 Wilson, Thomas 99 Winkler, Heinrich-August 54,81,85 Winkler, Robert L. 137, 149 Wohlgemuth, Michael 271, 286, 458 Wolf, Klaus Dieter 437, 459f. Wolf, Martin 274,276,286 Woods, Thomas 270ff., 274,277, 283f., 286 Wüst, K. 128,150 Wyplosz, Charles 226ff., 245 Zaragoza, M. 123, 148 Zeckhauser, Richard 126, 149 Zehnpfennig, B. 459 Zollitsch, Robert 295, 315 Zündorf, Irmgard 245 Zweynert, Joachim 524, 595 Zybura, Marek 82

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Sachregister Affirmative action 272 Aktien 217, 255f., 33Iff., 335ff„ 341ff„ 344f. -gesellschaft 174,217, 278, 331ff„ 344 -gesetz 217, 331 f. -kurs 133,211,248, 332, 335f., 342, 344f. Aktiva 211,225, 232f, 235,238, 292f., 298, 300, 302, 305, 308, 335, 350 Problem- 209ff.,219 Ambulante Pflege 566 Analyse 35f., 70f„ 79f„ 92f., 163, 397f., 426f., 435ff., 4 5 0 f f , 5 3 I f f , 557ff, 57Iff., 5 8 I f f , 607ff. Angebotspolitik 526 Anreizkompatibilität 131, 208,210,485f. Anthropologie 592, 61 Off, 616 Antiliberalismus 34, 5 4 f , 58, 6 7 f , 7 2 f f , 76ff. Arbeitsmarkt 372, 390, 397f, 402, 407, 4 4 4 f f , 571f, 576 Armut 312, 389ff, 4 1 5 f f , 4 6 3 f f , 499, 547 Armutsbekämpfung 3 8 9 f f , 4 1 5 f f , 4 6 3 f f , 515 Asset Backed Securities 190, 226ff„ 230, 250, 253, 274, 326 Auktion 230, 4 8 0 f f , 491, 578 Automobilindustrie 511, 562, 613 Bad Bank 21 Of, 2 3 0 f , 237ff„ 257, 293, 336 Bad Governance 403 Bank Depositen- 379f. Behavioral Economics 119ff. Behavioral Finance 586ff. Beihilfenkontrolle 617ff. Benchmarking 604ff. Beschäftigungsniveau 601 Bevölkerung 12ff, 235, 282, 391f, 4 0 2 f , 4 0 5 f f , 603 Binnenmarkt 97, 546ff, 602, 604 Blase 172ff, 178, 225,229, 245, 351ff, 362, 373, 586ff Blasenbildung 271, 352, 380, 589 Bretton Woods 187, 318, 334ff.

Budgetbeschränkung 2 9 4 f f , 313,315 Bundeskanzler 274, 541 Bundesverfassungsgericht 234, 565 Bürgerliches Recht 9, 536 Capability 393ff, 401, 407,416f. Capability-Ansatz 393ff, 4 0 2 , 4 0 5 f , 412, 4 1 6 f , 4 1 9 f f , 433 Chaos Theorie 605f. Corporate Citizenship 4 3 7 f , 451 Corporate Social Responsibility 547 Credit Default Swap 190f, 213, 326, 351 Credit Rating Agencies 250 CSR 4 0 0 f f , 404,407 Deflation 205, 228, 270, 284, 320ff„ 332, 336, 371 Demokratie 4, 8, 72, 77, 183, 267,279ff„ 384,422ff„ 433,455, 579ff, 596ff. Depositen 327, 334, 339, 362, 366ff„ 379 Deregulierung 175, 186, 2 5 2 f f , 299, 336f„ 601 Derivat 207, 292, 299, 302, 339f, 588 Kredit- 1 9 0 f , 2 1 3 , 2 7 4 Dichotomie 23, 2 9 f f , 48 Dilemmasituation 613 Dissertation 64, 5 4 l f , 551, 580ff, 609 Diversifikation 192f,299f. DRG-Vergütung 607 Dynamik 163,293,300,305,313,376, 435, 527, 559, 568, 570, 596f. Effizienz 153ff, 275, 315,404ff„ 421 f„ 4 6 7 f , 510fr, 565f, 583ff, Eigenkapital 215, 2 2 9 f f , 239f, 253, 256, 259, 276, 292, 308, 343f„ 349, 352, 368 -quote 238, 255f„ 259f„ 272, 276, 308 -rentabilität 191, 303f, 379 -Vorschriften 215, 227, 2 5 3 f f , 259 Eingeschränkte Rationalität 589, 605f. Eliten 406, 596ff. Emissionshandel 614, 558ff. Empirismus 30, 557 Entdeckungsverfahren 155, 163f„ 590, 594 Entrepreneurship 453 Entwicklung Entwicklungsgeschichte 556

632

Sachregister

Entwicklungsländer 300, 392f„ 399f„ 405f., 408f., 412, 476,494, 563, 568, 573, 598 Entwicklungspfad 529,589 Erkenntnis 48, 89f., 360, 554ff., 565, 576 Ethik 105,495ff„ 534f„ 556, 611 Europäische Union (EU) 260, 546ff., 601 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 539,542 Evolution 43, 89f., 92, 529, 561f„ 589f., 592ff. Evolutionsökonomik 558ff„ 593f„ 609 Evolutorik 592f. Externalitäten 241, 249,421,469, 474, 552, 563 Externe Effekte 142, 155, 162, 166, 377, 613 Fannie Mae 175, 226, 251 f., 272, 369 Finanzinnovationen 224, 272, 284, 299f., 305, 326ff, 347, 381, 588 Finanzinstitut 98,185ff„ 191,195, 200, 207ff„ 215f., 291 ff., 295ff, 305ff. Finanzkrise 88,185ff, 223ff„ 247ff, 267ff„ 289ff., 325ff„ 359ff„ 381, 586ff. Finanzmarkt 187, 291, 295f„ 311, 335ff. 352f., 383 Finanzmarktstabilisierung 254f., 263,295f. -gesetz 260 Finanzsektor 199ff„ 212f., 218, 233ff„ 291 ff., 305ff., 529, 590 First Best 475 Fiskalpolitik 177, 228, 257, 270, 359f., 373, 572 Forschungsagenda 596 Forschungsanreize 552 Forschungsprogramm 53, 119ff., 439, 568ff. Framing 125f., 133ff„ 141 Freddie Mac 175, 226, 251 f., 272, 369 Freiburger Schule 357, 536ff., 569, 596, 612 Freiheit 3ff„ 23ff„ 87ff„ 153ff„ 351, 362ff„ 389ff„ 543, 571 Wahlfreiheit 415ff. Funktionslogik 597 Fusionskontrolle 162, 541ff, 585, 617

Garantien 134, 190f., 225f., 229, 238, 269, 291,293 Staatsgarantien 174, 208f., 368f. Kreditgarantien 257 Transparenzgarantien 403, 407 Geld 317ff.,497ff. Geldpolitik 177f., 192ff., 201ff., 218ff„ 251f„ 256ff„ 270ff., 320, 357ff, 374ff., 590 Geldschöpfung 8, 97, 321, 362f„ 377ff„ 382 -smonopol 375, 377,385 Genese 53f., 75, 560 Geschichte 19, 54f., 89,106, 170, 232f„ 439, 484f., 539 Gesellschaftsphilosophie 554f., 557 Gesellschaftsrecht 180,248, 381 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 580ff., 608f. Gesundheitsfonds 607 Gesundheitsökonomik 528, 530f., 571 Gesundheitsprämienmodell 530 Gesundheitsversorgung 441, 530, 574, 607, 609 Gesundheitswesen 400, 502, 530f., 564f., 572, 574, 580ff, 607ff. Globalisierung 268, 281,286,299, 546ff, 573, 603 Goldene Bankregel 378f. Goldstandard 128, 318, 334f„ 357 Good Governance 404f., 408f., 488 Governance 532 Governance-Beiträge 436, 439, 460 Governance-Innovation 444, 450, 453 New Governance 456f., 464 Governancestrukturen 405, 408 Grundlagenforschung 529, 593 Haftungsbeschränkung 174,201,216,219, 248, 250f., 260, 276, 278 Handelsrecht 536 Handlungsfolgen 275,595 Hedge-Fonds 259, 326, 331, 337, 343, 345, 347 Herdentrieb 174, 299ff„ 315 Herrschaft 38f., 44, 78, 108, 224, 280, 282, 372f„ 596 Heuristik 121ff„ 137, 139ff„ 534f., 589

Sachregister Hierarchie 48,490,601 Zielhierarchie der FED 202 Historische Schule 103,108, 111,117 Hybride Systeme 579 Hybris 570,600 Hypotheken -banken 227,249ff., 259, 346ff. -darlehen 587 -forderungen 97f., 226, 250 -märkte 186ff., 194f, 218, 220, 307, 347, 369 -kredite 185ff., 192, 194,201f„ 250, 297, 317, 346ff„ Subprime-Hypothek 186,250f., 346, 348 Ideologie 26, 32,42, 56, 61f„ 74ff„ 144, 317,517, 526ff., 616 Industrialisierung 445,457, 563 Innovation 249, 264,447, 547, 592f. Innovationen 252, 272, 299f., 444f., 450, 453 Innovationsprozess 299, 529, 561 f. Insolvenz 97,185,195, 202, 204,207ff., 215, 237, 239, 241,291, 328, 609f. Institution 87ff., 162ff., 341f„ 356ff., 380, 383, 399ff., 405f., 454ff, 464f„ 468f„ 547, 560ff„ 592f., 595ff. Interdisziplinarität 572,610 Internationale Vereinbarungen 563 Internetökonomie 577ff. Interventionismus 114,141, 171,317, 322, 359ff., 370ff„ 383, 572 INUS 326,346 Irrationales Verhalten 138, 141, 145, 586 Irrtumspotential 259 Kapitaldeckung 200, 530, 575 Kapitalismus 62, 74, 106f„ 112ff„ 179, 267ff, 317, 350ff. Kapitalmarktrecht 525 Kartell Kartellrecht 155, 583ff., 607f. Keynesianer 25, 106, 177,180, 271, 284 Keynesianismus 18, 113,177, 526 Klassik 30, 33, 37, 59, 120, 127,131, 270, 363f., 454,459,472,486 Klimapolitik 558ff„ 613 Klimaschutz 559, 561f„ 612f„ 615

633

Klimawandel 177,456, 558, 612ff. Koalition 66,70, 74, 525, 596f., 601 f., 614 Kognitionstheorie 592, 594 Konjunkturzyklen 357,370,590 Konstruktivismus 549, 589, 594 Konsumentenwohlfahrt 87, 97, 163, 584 Korruption 7,403,453, 456,463ff., 533, 598 Kostenrechnung 62, 614 Kostenträger 565, 567 Krankenversicherungssystem 530, 608 Kreativität 528, 592f„ 603 Kreditklemme 195,205,256,293,321 Kreditrisiko 190,226,348 -transfer 201 Kreditverbriefimg 189ff., 197, 216, 226ff„ 253, 272, 300, 346, 380 Kreditvergabe 188,195, 209,215, 224f., 230,255ff„ 308, 321, 336, 348, 578, 588 Kritischer Rationalismus 535, 600, 609ff. Kyoto Protokoll 559,613 Laissez faire 3, 5, 21f„ 44, 97, 306, 475f. Lebenslage 73,418f.,433 -Ansatz 416f.,426ff. Lehrstuhl 17, 63, 552, 566, 568f. Leistungsempfänger 420, 566 Leistungserbringer 566f., 607 Leistungswettbewerb 200, 268,454, 540 Lender of last resort 207,255,264 Leveraging 308 Deleveraging 226,228,321 Liberaler Paternalismus 143 Liberalismus 27f., 30, 37, 53ff„ 106f„ 142, 169ff„ 351,354 Neo- 114, 539ff. Lohnkosten 546,601 Lohnnebenkosten 601 Makroökonomie 13, 570, 600 Management 192, 278f., 335, 343, 369, 372, 377, 381, 453f., 610f. Krisen- 255ff„ 277 Marketingmanagement 577 Marktprozess 219, 317, 375, 548, 560, 564, 569Í,595 Marktprozessanalyse 568 Marktsystem 318, 356ff„ 364f„ 371, 373, 375, 383f., 517

634

Sachregister

Marktversagen 94f., 175, 185ff, 248ff„ 271, 286, 297f., 304ff., 366, 368, 378, 576, 617f. Marktzutrittsbarriere 578 Marxismus 25, 61ff., 105 Menschheitsgeschichte 595 Methode 18f., 24, 102f., 140, 256, 347f., 415f., 424,489, 541, 547, 555, 579 Methodenstreit 103,551 Militär 1 0 , 1 0 5 , 4 8 5 , 4 9 0 , 538, 577, 587 -regierung 233 Mindestlöhne 372,497, 500, 510, 519, 576 Modell 127ff„ 138ff„ 157ff„ 173, 227ff„ 319, 342, 417, 427ff„ 480ff„ 530, 532f„ 561 ff., 578ff., 592ff. Sozial- 546ff. Monetarismus 526 Monopol 110, 317, 367, 371, 375395,494, 543f., 607 Monopolkommission 153 Moral Hazard 2 1 0 , 2 3 8 , 2 5 1 , 2 6 1 , 2 9 5 , 348, 607 Morgenthauplan 6 Multikulturell 603f. Nachtwächterstaat 114, 540 Nash-Gleichgewicht 253,481 Nationalökonomie 19, 63f., 72, lOlff., 175, 357, 600f„ 605 Nationalsozialismus 4, 54f., 73, 77ff. Neoinstitutionalismus 595 Neoklassik 92f„ lOlff., 547, 559ff., 5 6 8 f f , 587, 592ff„ 613, 616 Nettoabwanderung 603 Networking 485,491 Netzwerk 2 8 , 4 0 3 , 4 8 6 , 4 9 1 Forschernetzwerk 553 Stakeholder-Netzwerk 405, 408 Netzwerkökonomik 617 Neue Politische Ökonomie 551, 571 f. Notenbank 175ff., 187, 207, 257, 296f., 334f„ 384, 590 US-

194, 196, 202, 204, 207, 304 361

OECD 133, 262f., 468,476, 478f., 547, 573, 607 Ökonomik 137ff., 276, 464, 491, 535, 583, 592ff„ 600, 614 Ökonomisierung 5 6 6 , 5 8 4 , 6 1 8

Open access 351, 596ff. Ordnungsdenken 364,533 Ordnungspolitik 3ff„ 169ff„ 355ff„ 435ff. Ordnungstheorie 3ff., 454,456f., 532, 583 ORDO 3 f f , 22f. Ordoliberal 172, 391, 409, 539ff„ 612, 616f. Ordonomik 436, 460 Papiergeld 98,224, 3 1 8 f f , 322f., 329, 362 Partizipation 402f., 406,422ff., 430,487, 597 Passiva 235 Patentsystem 552 Patientensouveränität 607ff. Pflegeeinrichtung 566 Pluralismus 47, 103, 113, 529, 582, 611 Wertepluralismus 42 Politikempfehlung 494, 582 Preisblase 2 0 2 , 2 2 7 , 2 5 1 Preisniveaustabilität 209 Prinzipal-Agent 279f., 286, 4 8 5 f , 569, 589 Private Haushalte 193, 334, 575 Privateigentum 113, 317f., 574, 598 Privilegien 361, 380, 383, 517, 570, 596f. Privilegienfreiheit 565 Steuerprivilegien 400 Prozesspolitik 17f., 602 Public Choice 269, 2 8 0 , 4 0 5 , 4 7 0 , 532f„ 561,620 Publikation 78, 210, 527, 532f., 537, 551ff., 606, 609 Rahmen 5 3 7 , 5 6 1 , 5 9 7 , Rahmenbedingung 186,196, 200, 218f., 2 7 1 f f , 391 ff., 402ff„ 465, 553, 561, 576, 609 Ratingagentur 227, 301 f., 347, 349f„ 587 Rationale Ignoranz 280 Rationales Verhalten 137, 145, 301 Rationalismus 368, 535, 557, 600, 609f. Rationalität 11, 38, 88, 137ff., 145, 174, 2 7 4 f f , 281,525, 572 Begrenzte Rationalität 121 ff., 589f. Eingeschränkte Rationalität 605f. Ökonomische Rationalität 150, 154, 156f, 584 Rationalität des Rechts 94, 154, 156f.

Sachregister Rationierung 4, 7,498f„ 509, 580ff. Recht 87ff., 153ff. Rechtsstaat 78,380,382 Refinanzierung 185, 189, 191ff., 205,214, 227, 291 f., 299, 304, 334 -sbedarf 210 -sbedingungen 211 -szinsen 296 Reform 131f, 180, 260, 530, 551, 597f., 602 Reformbedarf 258ff„ 364 Reformnotwendigkeit 32Iff. Währungsreform 233f., 245 Regime 33, 55,162,180, 280, 317, 537, 563 Regulatory Capture 252,272, 278 Rekapitalisierung 176, 292f. Rent Seeking 280, 406,455, 466,469ff, 473f., 477f., 480,483ff., 491 Renten 174,465,471,473,476f. -system 501 Reparation -spolitik 66,71,80 -sproblem lOlff. -szahlungen 331 Republik 29,525 Bundes- 132, 234, 264, 525ff„ 538, 542 Deutsche Demokratische 235 Weimarer 3, 6, 56ff„ 59ff„ 103 Ressourcenschutz 611, 615f. Revolution 28, 57ff„ 62f., 112f. Finanztheoretische 337ff. Rezession 1 Iii., 186ff„ 204, 226, 251, 256ff, 290, 319ff., 332f, 590 Richterrecht 594 Risiko 98, 140, 226f„ 293ff„ 298ff„ 310f., 348, 374, 505f. -transfer 190ff. Risikomanagement 133,193, 214, 250, 301,351,405, 488 Risikoübernahme 198, 292f. Schockanfalligkeit 312 Schockübertragung 312 Schwarzgeld 603 Scientific Competition 5 51 ff. Second Best 166,254,618 Selbstorganisation 594f. Semantik 436

635

Social Enrepreneurship 435ff. Solartechnik 614 Sozialdemokratie 56ff, 69 Soziale Marktwirtschaft 7,106,199,267, 389, 392, 525ff„ 573f„ 606, 616 Sozialismus 61ff„ 105ff., 181,269, 278, 358,517, 569, 606 Sozialmodell 546ff. Sozialstaatlichkeit 546, 549 Sozialstandard 546ff. Sozialstruktur 428f., 436, 444ff., 450ff. Sozialwirtschaft 564ff. Soziologie 106, 154f„ 546, 553ff. Sparen 18,128, 130,135, 141, 319, 340, 361, 366ff. ; 490, 502,514 Spekulation 180, 260, 330, 333, 381,489, 590 Spekulationsblase 18,224, 313, 330, 337, 587f. Spitzensport 552 Spread 191f., 245, 307 Zinsspread 208 Staat 185ff.,247ff.,290ff.,317ff. -sgläubigkeit 15 3 ff. Staatsaufgabe 268ff., 277, 356,409,455, 531,543 Staatseigentum 598 Staatseingriff 17, 74, 76, 114, 268ff, 283, 322 Staatsgarantien 174, 208f., 368f. Staatsinterventionismus 11,16 Staatsversagen 175f., 185ff., 247ff„ 258, 265,270, 286, 305f„ 392,401,407ff, 532 Stabilisierung 60, 238, 270, 291ff„ 304, 366ff„ 370ff. -sansätze 357ff. Stakeholder 398,403ff., 451,460 Standortfaktor 570 Standortqualität 606 Standortwettbewerb 594,618 Subprime Systemrelevanz 176f., 208, 255, 257, 259f., 274, 277 Systemstabilität 175ff. Taylor Rule 271,277 Transferleistung 546, 548

636

Sachregister

Transformation 4,98,531,569,609 Fristentransformation 191, 193, 252f., 259f., 361,367, 378,383 Systemtransformation 610 Transformationsprozess 529, 609f. Transparenz 142, 195, 207, 213, 237, 240, 258f, 379f„ 402ff, 560, 581f„ 593 Trennbanken-System 379 Trittbrettfahrer 139,294ff. ( 297 -problem 404,448f„ 452 -verhalten 130,294,404 Überschuldung 198,224,235,320,361, 610 Überschuldungsgefahr 207 Umverteilung 3 l f „ 43, 106, 275, 283, 390f„ 467, 511, 530, 575, 601f., 614 Umverteilungssystem 131 Umverteilungsstaat 321 Umweltpolitik 558, 571, 573, 614 Unabhängigkeit 36,43,127, 297, 318, 374, 391,409,454,485, 542, 597 Unterbeschäftigung 529 Unternehmensfiihrung 248, 333, 381, 61 Off. Unternehmensgründung 603 Unternehmertum 43, 124, 452f., 529 Verbriefiing 190ff., 215, 226f„ 300, 346ff, 362, 370, 380 Verein für Socialpolitik 65, 534, 627 Verein für Sozialpolitik 109ff. Vereinte Nationen 438, 547, 549 Verteilungsfrage 498, 534, 560, 563, 602 Vertrauensproblematik 590 Volkswirtschaftslehre 17, 20,23, 101 ff., 566, 599f„ 606,613 Wachstum 276ff, 299ff„ 372, 464,467f„ 476, 574, 602f„ 616 Wachstumstheorie 592f., 602 Wahlfreiheit 43, 415ff„ 517 Währung 334,499,608 -spolitik 67,359,374 -ssystem 238,318,382 -sunion 200,205,235,383 Währungsreform 7, 233f., 245, 525 Weimarer Republik 3, 6, 55ff., 74f., 103 Weltarbeitsorganisation 549 Weltethos 535

Weltkrieg 105,367 Erster Weltkrieg 54ff„ 59, 65, 76, 101f„ 117,233,317, 357, 536 Zweiter Weltkrieg 3f„ 63,223, 232, 318, 334, 359, 539ff. Weltwirtschaftskrise 112ff„ 177, 223, 257f., 277, 366, 590 Wertpapier 98, 190ff., 209ff„ 214, 219, 226ff., 253, 338ff, 343, 347, 379 Wertpapierhandel 379 Wettbewerb 61ff., 74, 87ff, 144, 153ff, 178, 539ff., 564ff„ 568ff, 580ff., 583ff„ 586ff. Wettbewerbsbeschränkungen 97, 153ff., 198,455, 527, 578, 584 Wettbewerbsfreiheit 97,153ff., 583ff. Wettbewerbsordnung 3, 54, 153ff., 176, 373, 375f., 383, 389ff., 408,436,454, 572, 574 Wettbewerbspolitik 5, 54, 153ff, 176, 381, 527, 529f„ 569, 583ff. Wettbewerbsrecht 97, 154f., 162f., 165ff, 381, 539ff., 578, 585,607 Wiedervereinigung 120 Deutsche Wiedervereinigung 8, 20, 232, 236, 245, 525, 603, 609 Windenergie 613f. Wirtschaftsforschung 605, 615 Wirtschaftspolitik 53ff„ 119ff„ 389ff„ 525ff., 558ff„ 568ff„ 592ff., 600ff. Wirtschaftswachstum 20, 202, 225, 235, 262, 271,300, 393,463,466 Wirtschaftswissenschaft 15, 25, 88, 95, 103, 108, 368, 534ff„ 561, 589 Wissen 1 lf„ 35,43,48f„ 95f„ 164ff„ 171 ff., 481,490f., 525, 561ff., 568ff. Wissensmanagementsysteme (WMS) 577, 579 Wissensverarbeitung 569 Wohlfahrtsstaat 267f., 358, 363f., 373, 383 Zentralbank 8, 80, 198, 218, 258, 269ff„ 296f„ 304, 217f., 320ff„ 329f., 361, 374ff. Europäische 175, 195f„ 202, 207,261, 304 US 202,204,271,277 Zentralverwaltungswirtschaft 3ff., 64, 269, 271, 276f.

Sachregister

Zertifikat 326, 329, 558f., 562f., 613f. Zielkonflikt 3 2 f , 42,48,270, 308, 611 Zins 188ff., 194, 198, 319ff., 333, 346ff„ 360 Zwang 31 ff., 3 8 f f , 48f., 163,207, 318, 332

637

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2009) Bd. 60

Anschriften der Autoren Dr. Hanno Beck Professor an der Hochschule Pforzheim, Volkswirtschaftslehre, 75175 Pforzheim, Tiefenbronner Straße 65. Dr. Klaus Beckmann Professor an der Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, 22043 Hamburg, Holstenhofweg 85. Dr. Markus Beckmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik, 06108 Halle, Grosse Steinstr. 73. PD Dr. Hardy Bouillon Centre for the New Europe, Head of Academic Affairs, Public Partners, 54295 Trier, Sachsenstr. 29. Dipl.-Volksw. Markus Breuer Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fachbereich Sportökonomie, 07749 Jena, Institut für Sportwissenschaft, Seidelstr. 2 Dr. Arndt Christiansen Mitarbeiter am Bundeskartellamt, 53113 Bonn, Kaiser-Friedrich-Straße 16. Dr. Uwe Dathe Technische Universität Braunschweig, Historisches Seminar, 38106 Braunschweig, Bienroder Weg 97. Dr. Peter Engelhard 45277 Essen, Milchstr. 26. Carsten Gerrits Mitarbeiter an der Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr Hamburg, Fakultät für Wirtschafte- und Sozialwissenschaften, Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, 22043 Hamburg, Holstenhofweg 85. Andreas Götz Seniorberater bei Oberender & Partner, 95448 Bayreuth, Nürnberger Str. 38. Dr. Steffen W. Groß Mitarbeiter an der Brandenburgische Technische Universität Cottbus, Lehrstuhl Technikphilosophie, LG 10, 03044 Cottbus, Erich Weinert Str. 1. Dr. Beat Gygi Neue Zürcher Zeitung-Wirtschaftsredaktion, CH-8021 Zürich, Postfach, Falkenstr. 11. Dr. Justus Haucap Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE), 40225 Düsseldorf, Universitätsstr. 1.

640

Anschriften der Autoren

Dipl.-Volksw. Catherine Herfeld externe Doktorandin an der Universität Witten/Herdecke an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Zustifhingslehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie, 58452 Witten, Alfred-Herrhausen-Straße 50. Dr. Carsten Herrmann-Pillath Professor an der Frankfurt School of Finance & Management, Volkswirtschaftslehre, East-West Centre of Business Studies and Cultural Science, 60314 Frankfurt am Main, Sonnemannstraße 9-11. Dipl.-Kfm. Stefan Hielscher Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik, 06108 Halle, Grosse Steinstr. 73. Manfred Hilzenbecher Ministerialrat im baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, 70173 Stuttgart, Königstraße 46. Cordelius Ilgmann, M.A., M.Sc. Ec. Mitarbeiter an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen, 48143 Münster, Am Stadtgraben 9. Hauke Janssen Leiter Dokumentation, SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, 20457 Hamburg, Brandstwiete 19. Dr. Helmut Leipold Professor an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Ordnungsökonomie und internationale Wirtschaftsbeziehungen, 35032 Marburg, Barfußertor 2. Dipl.-Volksw. Alexander Lenger Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, 79085 Freiburg, Kollegiengebäude II, Platz der Alten Synagoge. Dr. Martin Leschke Professor an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWL V insb. Institutionenökonomik, 95440 Bayreuth, Universitätsstr. 30. Dr. Ortrud Leßmann 22145 Hamburg, Hofstückenstieg 4. Dr. Dres. h.c. mult. Ernst-Joachim Mestmäcker Professor em., Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, 20148 Hamburg, Mittelweg 187. Dr. Wilhelm Meyer Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, c/o Dekanat, 35032 Marburg, Universitätsstr. 25. Dr. Albrecht Michler Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, 40225 Düsseldorf, Universitätsstr. 1.

Anschriften der Autoren

641

Dr. Dr. Helge Peukert api. Professor an der Universität Erfurt, Krupp-Stiftungslehrstuhl für Finanzwissenschaft und Finanzsoziologie, Staatswissenschaftliche Fakultät, 99089 Erfurt, Nordhäuser Str. 63. Dr. Thomas Pfahler Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Lehrstuhl für öffentliche Finanzwirtschaft, 20099 Hamburg, Berliner Tor 5. Dr. Athanassios Pitsoulis Juniorprofessor an der Brandenburgische Technische Universität Cottbus, Lehrstuhl Volkswirtschaftslehre II, MikroÖkonomie, Lehrgebäude LG, 03046 Cottbus, Siemens-Halske-Ring 14. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Pohl Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Geld und Währung, Institut für Volkswirtschaftslehre, 06108 Halle, Universitätsring 3. Dr. Thorsten Polleit Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance & Management und Chief German Economist bei Barclays Capital, 60323 Frankfurt am Main, Bockenheimer Landstr. 38. Dipl.-Sportökonom Benedikt Römmelt Mitarbeiter an der Universität Jena, Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Institut für Sportwissenschaft Zi. K 002a, 07749 Jena, Seidelstr. 20. Dr. Thomas Schelling Distinguished University Professor, Emeritus am Department of Economics and School of Public Policy), University of Maryland, 2101 Van Munching Hall, College Park, MD 20742. Dipl.-Gesundheitsök. Andreas Schmid Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWL III, 95440 Bayreuth, Universitätsstr.30. Dr. André Schmidt Professor an der Universität Witten-Herdecke, Lehrstuhl für MakroÖkonomik und Internationale Wirtschaft, 58448 Witten, Alfred-Herrhausen-Str. 50. Steffen Schmidt FOR-MED GmbH, 95406 Bayreuth, Postfach 100 647. Dr. Dieter Schmidtchen Professor an der Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Nationalökonomie, insbesondere Wirtschaftspolitik, 66041 Saarbrücken, Postfach 15 11 50. Dr. Dr. h. c. mult. Friedrich Schneider Professor an der Johannes-Kepler-Universität Linz, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft, A-4040 Linz-Auhof, Altenberger Str. 69. Dr. Alfred Schüller Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Ordnungstheorie und Wirtschaftspolitik, 35032 Marburg, WiWi-Baracke, Universitätsstr. 25. Dr. Petra Stykow Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Lehreinheit Vergleich politischer Systeme, 80538 München, Oettingenstr. 67.

642

Anschriften der Autoren

Gerhard Schwarz Neue Zürcher Zeitung, Stv. Chefredaktor, 8001 Zürich Kreis 1 (Österreich), Falkenstrasse 11. Dr. Cord Siemon Marburger Förderzentrum für Existenzgründer aus der Universität, 35037 Marburg, Universitätsstr. 25. Dr. Manfred E. Streit Professor em. am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, 07745 Jena, Kahlaische Str. 10. Dr. Jörg Thieme Professor em. an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, 40225 Düsseldorf, Universitätsstr. 1. Dr. Ulrich van Suntum Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Geschäftsführender Direktor des Centrums für angewandte Wirtschaftsforschung Münster (CAWM), Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen, 48143 Münster, Am Stadtgraben 9. Dr. Roland Vaubel Professor an der Universität Mannheim, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Politische Ökonomie, 68131 Mannheim, Verfügungsgebäude L7. Dr. Jürgen Volkert Professor an der Hochschule Pforzheim, Volkswirtschaftslehre, 75175 Pforzheim, Tiefenbronner Straße 65. Dr. Dr. h.c. Adolf Wagner Professor em. an der Universität Leipzig, 72108 Rottenburg, Burglehenweg 7. Dr. Erich Weede Professor em. an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, 53113 Bonn, Lennestr. 27. Dr. Hans Willgerodt Professor em., 51429 Bergisch Gladbach, Hubertushöhe 7. Joachim Zweynert Privatdozent an der Universität Hamburg, wissenschaftlicher Leiter der Zweigniederlassung Thüringen des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) in Erfurt, c/o Thüringer Aufbaubank, 99084 Erfurt, Gorkistr. 9.

Europäische Integration (Hrsg. v. PatdJ.J. Welfens, Europäisches

und digitale

Institut für internationale

Bergische Universität

Finanzmarktintegration in Europa

Transatlantische Bankenkrise 978-3-8282-0459-1

Die Untersuchung zeigt die Ursachen der USBankenkrise und deren internationale Ausbreitung auf. Neben der Rolle von Hedge Fonds und Finanzinnovationen wird die Untätigkeit der Bankenaufsicht als Kernproblem identifiziert, wobei für Deutschland das Versagen der BaFin beleuchtet wird. Die Mega-Rettungspakete für Banken werden als Teillösung eingestuft - ohne Strukturreformen werden sich die Probleme der Finanzmärkte weiter verschärfen. Vorgeschlagen als Lösung werden u.a. die Einführung einer Besteuerung der Renditevarianz, einer Evidenzzentrale für Kreditversicherungspolicen und ein neuartiger Qualitätssicherungsmechanismus bei Ratings sowie umfassendere Regulierungen der Banken. Ohne verbesserte US-Regeln kann ein freier transatlantischer Kapitalverkehr nicht befürwortet werden. Die EU steht vor großen Anpassungen, die Weltwirtschaft vor der Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise.

Bd. 2: PaulJ. J. Welfens

Finanzmarktintegration und Wirtschaftswachstum im EUBinnenmarkt

2009. XVI/207S.,

kt. € 42,-. ISBN

Wirtschaftsbeziehungen

Wuppertal)

Bd. 3: Martin Keim

Bd. 1: Paul J. J. Welfens

2009. 274 S„ kt. € 48,-. ISBN

Weltwirtschaft

978-3-8282-0463-8

Finanzmarktintegration kann zu Wirtschaftswachstum beitragen, wie man im Kontext der EU-Binnenmarktdynamik sehen kann; aber die Überlagerung von regionaler und globaler Integration führt auch zu Problemen. Thematisiert werden theoretische Ansätze und empirische Befunde zur Finanzmarktintegration und zur Verbindung von Integration und Wirtschaftswachstum. Dabei wird zwischen mittelfristigen Ansatzpunkten und langfristigen Perspektiven unterschieden. Zudem werden Innovationsfragen und Bezugspunkte zur EU-Lissabon-Agenda aufgegriffen. Für Europa und die USA wird ein Defizit an nachhaltigen Finanzinnovationen festgestellt.

Implikationen für Stabilität und Wachstum in Sozialen Marktwirtschaften 2009. XVI/271 S„ kt. € 48,-. ISBN

978-3-8282-0464-5

Thematisiert wird die Integration von Finanzmärkten als ein weltweit anhaltender Prozess; er gewinnt auch in der EU durch den Binnenmarkt und die Einführung des Euros sowie die Implementierung des Europäischen Systems der Zentralbanken an Bedeutung. Für die europäischen und nationalen Politikakteure ist die Aufstellung modernisierter ordnungspolitischer Leitbilder und institutioneller Reformen wichtig, damit wirtschaftliche und finanzielle Stabilität gewährleistet, aber auch langfristiges Wirtschaftswachstum generiert werden kann. Diese Studie analysiert die Akteure und Impulse der Finanzmärkte auf regionaler bzw. globaler Ebene.

Bd. 4: PaulJ. J. Welfens/Dorn Borbely

EU-Osterweiterung, IKT und Strukturwandel

2009. XII/162 S„ kt. €39,-. ISBN

978-3-8282-0465-2

Die EU-Osterweiterung hat zu einer veränderten Arbeitsteilung in Europa und weltweit geführt. Betriebsverlagerungen von West- nach Osteuropa bzw. eine dynamische Aufspaltung der Wertschöpfungsketten sind festzustellen. Zudem spielt die Informations- und Kommunikationstechnologie eine zunehmend gewichtige Rolle. Denn hier entstehen einerseits neue Märkte - häufig länderübergreifend - und andererseits wird die Aufspaltung der Wertschöpfungsprozesse erleichtert; zugleich ändern sich die geforderten Qualifikationen. Für Ost- und Westeuropa bietet die IKT-Expansion enorme Möglichkeiten für Produktivitätssteigerungen und eine neue Interpretation des Universaldienstes: einen breitbandigen mobilen Universaldienst kann man als wichtige Politikoption vorantreiben.

LUCIUS LUCIUS

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Michael Kilpper

Freiheit ohne Staat? Eine Kritik des libertären Ordnungsentwurfes einer reinen Privateigentumsgesellschaft 2009. VII1/170 S„ kt. € 34,-. ISBN 978-3-8282-0461-4 In einer Welt zu leben, in der es keinen Staat gibt, ist wohl nur für Vertreter des Libertarismus vorstellbar oder gar wünschenswert. Aus libertärer Sicht greift der Staat immer in die individuelle Freiheit ein und ist daher abzulehnen. Die von Libertären angebotene Alternative lautet: geordnete Anarchie. Die Individuen sind, so die Behauptung, in der Lage, eine funktionsfähige Ordnung allein auf Basis von Verträgen zu erreichen und zu erhalten. Damit ist die vorgeschlagene geordnete Anarchie vor allem eine radikal marktwirtschaftliche Ordnung. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich kritisch mit dieser Position und mit dem Anspruch des Libertarismus, die einzig konsistente Position im Namen des klassischen Liberalismus zu sein und zeigt auf, dass eine liberale Gesellschaft nicht ohne Staat Bestand haben kann. Inhaltsübersicht: 1. Grundlagen 2. Freiheitsnormen im Libertarismus 2.1 Vorbemerkung 2.2 Zum Begriff der Freiheit 2.3 Eine libertäre Definition individueller Freiheit 2.4 Deontische Begründung eines Systems individuellen Freiheit 2.5 Utilitaristische Begründung individuellen Sacheigentums 2.6 Naturrechtliche Begründung von Eigentum 2.7 Prüfung der libertären Eigentumskonzeption 2.8 Bilanz und Folgerungen

4.4 Zur Produktion von Kollektivgütern aus libertärer Sicht 4.5 Der Staat: Verallgemeinerung der libertären Kritik 4.6 Staatslegitimation und Legitimation der Anarchie 4.7 Bilanz und Folgerungen

3. Der libertäre Entwurf: die geordnete Anarchie 3.1 Vorbemerkung 3.2 Der Markt für Recht und Ordnung 3.3 Monopolbildung auf dem Sicherheitsmarkt 3.4 Äußere Sicherheit 3.5 Reputation als Durchsetzungsmechanismus 3.6 Bilanz und Folgerungen

6. Auswege aus der Aporie 6.1 Vorbemerkung 6.2 Theoretischer Neubeginn: Der dispositionelle Nutzenmaximierer 6.3 Die Anarchie im Licht des neuen ökonomischen Modells 6.4 Weis bindet den Staat an das Recht? 6.5 Bilanz und Folgerungen

4. Die libertäre Kritik: Kollektivgüter und der Staat 4.1 Vorbemerkung 4.2 Kollektivgüter als ein Aspekt des Marktversagens 4.3 Libertäre Kritik an der Theorie der Kollektivgüter

5. Die Grenzen der Anarchie 5.1 Vorbemerkung 5.2 Das moralische Problem: Reputation und Sanktionierung 5.3 Das kognitive Problem: Reputation und Normen 5.4 Bilanz und Folgerungen

7. Der Libertarismus: eine liberale Ordnungstheorie? 7.1 Der liberale Charakter der geordneten Anarchie 7.2 Innere Stabilität des libertären Ordnungsentwurfs 8. Zusammenfassung

LUCIUS LUCIUS

Neu bei Mohr Siebeck Max Weber

Allgemeine (»theoretische«) Nationalökonomie. Vorlesungen 1894-1898 Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Cristof Judenau, Heino Heinrich Nau, Klaus Scharfen und Marcus Tiefei Max Webers Stichwortmanuskripte zu seiner Vorlesung über Allgemeine bzw. Theoretische Nationalökonomie, die er zwischen 1894/95 und 1898 insgesamt sechsmal hielt, werden hier erstmals vollständig entziffert und veröffentlicht. Sie , geben Aufschluß über Webers methodologische Grundüberlegungen und seine Akzentuierung der Thematik. 2009. XVI, 814 Seiten + CD-ROM (Max Weber-Gesamtausgabe III/l). ISBN 978-3-16-149765-0 Leinen € 299,-; in der Subskription Leinen € 259,-; ISBN 978-3-16-149767-4 Halbleder € 344,-; in der Subskription Halbleder € 304,-

Viktor J. Vanberg

Wettbewerb und Regelordnung Herausgegeben von Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth Mit einer Einführung von Hans Albert 2008; unveränderte Studienausgabe 2009. VIII, 328 Seiten (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 55). ISBN 978-3-16-150074-9 fadengeheftete Broschur € 54,-

Adrian Künzler

Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur Frage nach den Aufgaben des Rechts gegen private Wettbewerbsbeschränkungen Welches sind die Aufgaben des Rechts gegen private Wettbewerbsbeschränkungen: Der Schutz der Wettbewerbsfreiheit oder die Maximierung der (Konsumenten-) Wohlfahrt? Welche Bedeutung kommt der Ökonomie im Wettbewerbsrecht zu und inwieweit sind wirtschaftswissenschaftliche Ansätze mit geltendem und zukünftigem Recht vereinbar? 2008. XXXIV, 579 Seiten (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 56). ISBN 978-3-16-149858-9 fadengeheftete Broschur € 79,-

Privatrechtsgesellschaft Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts Herausgegeben von Karl Riesenhuber 2008; unveränderte Studienausgabe 2009. XXII, 394 Seiten (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 53). ISBN 978-3-16-149936-4 fadengeheftete Broschur € 59,-

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Mohr Siebeck Tübingen [email protected] www.mohr.de

Labormetrics Herausgegeben von Lutz Bellmann, Wolfgang Franz, Knut Gerlach, Reinhard Hujer, Wolfgang Meyer und Joachim Wagner 2009. 230 S„ kt. € 88,-. ISBN 978-3-8282-0458-4 Themenheft Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 5+6/2008 (Herausgegeben von Wolfgang Franz, Werner Smolny, Peter Stahlecker, Adolf Wagner, Joachim Wagner, Dietmar Wellisch und Peter Winker) In a paper published in the April 2000 issue of the Industrial and Labor Relations Review Daniel Hamermesh introduced the term Labormetrics (that he attributes to Steven G. Allen) to describe the application of econometric techniques to issues related to the labor market. Such applications are numerous, covering all fields of labor economics from labor supply and labor demand to micro econometric studies of wages and macro econometric studies of unemployment and inflation. Modern labor economics textbooks are in large parts textbooks in applied econometrics, too, and many econometric techniques were developed or further refined with a view to analyze labor market topics (e. g., the application of sample selection models to the analysis of female wages, or the use of matching techniques to analyse the impact of labor market programs). The Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik have a long lasting tradition in pblishing papers that apply econometrics to labor market issues, and the contributions in this special issue fit into this tradition.

Labour Economics Hrsg. von Bernd Fitzenberger, Werner Smolny und Peter Winker 2009. 246 S., kt. € 88,-. ISBN 978-3-8282-0478-2 Themenheft Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 2+3/2009 Inhaltsübersicht: Uwe Hassler, Jürgen Wolters Hysteresis in Unemployment Rates? A Comparison Between Germany and the USD Werner Smolny Wage Adjustment, Competitiveness and Unemployment - East Germany after Unification Andreas Löschel, Ulrich Oberndorfer Oil and Unemployment in Germany Axel Börsch-Supan, Alexander Ludwig Living Standards in an Aging Germany: The Benefits of Reforms and the Costs of Resistance Friedrich Heinemann, Ivo Bischoff, Tanja Hennighausen Choosing from the Reform Menu Card Individual Determinants of Labour Market Policy Preferences Knut Cerlach, Olaf Hübler Employment Adjustments on the Internal and External Labour Market - An Empirical Study with Personnel Records of a German Company Dirk Antonczyk, Bernd Fitzenberger, Ute Leuschner

Can a Task-Based Approach Explain the Recent Changes in the German Wage Structure? w/co/e Cuertzgen Firm Heterogeneity and Wages under Different Bargaining Regimes: Does a Centralised Union Care for Low-Productivity Firms? Horst Entorf Crime and the Labour Market: Evidence from a Surve y of lnmates Joachim Möller, Annie Tubadji The Creative Class, Bohemians and Local Labor Market

Performance

Thiess Buettner, Alexander Ebertz Spatial Implications of Minimum Wages Volker z i m m e r m a n n

The Impact of Innovation on Employment in Small and Medium Enterprises with Different Growth Rates /rene B e r t s c h e K J e n n y M e y e r D o 0 , d e r W o r k e r s L o ^ e r |f E n a b | e d

Productivity? Firm-Level Evidence from Germany

LUCIUS LUCIUS