Onboarding für Führungskräfte : So starten Sie optimal in eine neue Führungsrolle [1. Aufl.] 9783658309848, 9783658309855

​Wie startet man in eine neue Führungsrolle? Der Autor stellt in diesem Buch Methoden und Prozesse eines optimalen Onboa

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German Pages XIV, 152 [161] Year 2020

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Onboarding für Führungskräfte : So starten Sie optimal in eine neue Führungsrolle [1. Aufl.]
 9783658309848, 9783658309855

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Herbert Reiß)....Pages 1-5
Führung im Wandel (Herbert Reiß)....Pages 7-10
Wichtige Bausteine exzellenter Führung (Herbert Reiß)....Pages 11-31
Selbst-Führung – die elementare Voraussetzung, um andere zu führen (Herbert Reiß)....Pages 33-40
Onboarding (Herbert Reiß)....Pages 41-93
Auf Kurs bleiben (Herbert Reiß)....Pages 95-131
Schlussbemerkungen und Ausblick (Herbert Reiß)....Pages 133-137
Anhang: Werkzeuge (Herbert Reiß)....Pages 139-150
Back Matter ....Pages 151-152

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Herbert Reiß

Onboarding für Führungskräfte So starten Sie optimal in eine neue Führungsrolle

Onboarding für Führungskräfte

Herbert Reiß

Onboarding für Führungskräfte So starten Sie optimal in eine neue Führungsrolle

Herbert Reiß Deckenpfronn, Deutschland

ISBN 978-3-658-30984-8    ISBN 978-3-658-30985-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Was waren meine Beweggründe für dieses Buch? Als ich vor 46 Jahren nach einem Studium der Betriebswirtschaft  – zuvor hatte ich noch eine Banklehre absolviert – bei meinem damaligen Arbeitgeber als Financial Analyst startete, hatte ich noch keine Ahnung, wohin mich diese Reise führt. Die Vorstellung, dass ich bei diesem Unternehmen 34 Jahre bleiben würde, hätte ich damals als völlig absurd abgetan. Und dennoch kam es so. Nach 3 Jahren hat man mir die erste Vorgesetztenposition angeboten. Ich durfte als sehr junger Mann zwei erfahrene Mitarbeiterinnen führen und eine dritte einstellen. Die beiden Frauen haben natürlich nur darauf gewartet, bis so ein junger, unerfahrener Mann sie führte und entsprechend holprig war mein Start, außerdem war meine erste Einstellung auch nicht gerade ein Hit. Daraus habe ich sehr viel gelernt und ich schlug mich wacker durch, bis ich dann nach weiteren 2 Jahren gefragt wurde, ob ich Interesse hätte, für ein Jahr nach Frankreich zu gehen, um dort als Leiter der Kostenrechnung neue Prozesse einzuführen, wie sie in Deutschland bereits vorhanden waren. Meine Frau war zuerst alles andere als begeistert, weil wir eine Tochter von dreieinhalb Jahren hatten und sie kurz vor der Entbindung unseres zweiten Kindes stand. Schließlich hat sie doch zugestimmt und wir zogen nur wenige Tage nach der Geburt unseres Sohnes nach Frankreich. Meine Mission war erfolgreich und ich habe mein Netzwerk im Unternehmen V

VI Vorwort

wesentlich erweitert, was mir 20 Jahre später geholfen hat auf eine Position als Vice President aufzusteigen, weil einer meiner damaligen Mitarbeiter mich in sein Team holte mit den Worten: „Herbert, ich weiß aus unserer gemeinsamen Zeit, dass Du eine ausgezeichnete Führungskraft bist und nun brauche ich Dich, eine weltweite Organisation neu auszurichten und zu führen.“ Für diesen Auslandsaufenthalt bin ich meiner Frau noch heute sehr dankbar, denn ohne ihr Mitwirken, wäre alles anders gekommen. Als mein Jahr in Frankreich zu Ende war mit sehr viel neuen Führungserfahrungen und dem Wissen, dass ich nun die „Geheimnisse französischer Seelen gut verstehe“, durfte ich in Deutschland als Financial Controller eine neue Abteilung in einer europäischen Unternehmenseinheit aufbauen, eine Aufgabe, die schöner nicht sein kann. Da dieses Team zahlreiche Kontakte zu sehr vielen amerikanischen Geschäftsbereichen hatte, wuchs mein internationales Netzwerk sehr stark an, welches ich auch durch regelmäßige Besuche sehr gut pflegte. Nach 7 Jahren als Controller, bemerkte mein Vorgesetzter, dass mir diese Tätigkeit zu langweilig wurde und er bot mir an, einen größeren IT-Bereich mit 120 Mitarbeitern zu übernehmen, weil dieser im Rahmen einer unternehmensweiten Restrukturierung eine strategische Neuausrichtung einer neuen Führungskultur bedurfte. Nach weiteren 3 Jahren fragte man mich, ob ich Lust hätte, das Programmmanagement für den Neubau einer neue High-Tech Produktionsstätte zu übernehmen, ein €  150  Millionen Investment. Daran reizte mich folgende Herausforderung: ich hatte bis dahin bewiesen, dass ich sehr erfolgreich war, Teams aufzubauen und zu Höchstleistungen zu führen. In der neuen Rolle musste ich zeigen, ob ich auch indirekte und sehr diverse Teams mit vielen externen Experten, u. a. Architekten, Bauleiter, Technologieexperten, führen kann, d.  h. ohne direkte Personalverantwortung. Diese Phase war in der Tat ein wichtiger Meilenstein für mich, denn erst in dieser Situation wurde mir klar, dass ich meine höchste Effektivität als Führungskraft zeige, wenn ich der Leader bin, wenn ich Menschen anzünden und begeistern, sie entwickeln kann. Ich habe endlich erkannt, dass dies meine berufliche Lebensmission ist, deshalb bin ich auf der Welt.

 Vorwort 

VII

Und das war auch mein roter Faden in den Folgejahren. Immer wieder übernahm ich Organisationen bzw. Bereiche, die sehr reaktiv, bürokratisch und ohne Esprit agierten. Ziele waren nicht klar und die Kundenorientierung war eher dürftig. Mit einem gewissen Stolz darf ich behaupten, dass es mir immer gelungen ist, in diesen Organisationen eine Kultur zu entwickeln mit einer sehr hohen intrinsischen Motivation, die sich logischerweise in Höchstleistungen zeigte, die sich über die Grenzen hi­ naus bemerkbar machten. Periodische, unternehmensweite Mitarbeiterbefragungen bewiesen immer Höchstwerte im Engagement der Mitarbeiter und wir hatten für offene Stellen immer sehr viele interne Bewerbungen. In dieser Hochphase meines Wirkens kam ein Wechsel an der Konzernspitze. Zum ersten Mal in der Firmengeschichte kam ein neuer CEO von extern und dieser Schritt war auch wichtig, weil das Unternehmen mit der Zeit sehr reaktiv und bräsig wirkte. Eine Frau, und sie brachte im wahrsten Sinn des Wortes frischen Wind in das Unternehmen, ja der Wind der Veränderung wurde regelrecht zu einem Orkan. Da wurden Fürstentümer geschleift, dem Unternehmen wurde endlich eine einheitliche Corporate Identity verpasst, sie führte eine mehr leistungsorientierte Entlohnung ein und – was vielen Führungskräften überhaupt nicht passte – Informationen wurden direkt von der Konzernspitze an alle Mitarbeiter sofort weitergeleitet. Sehr viele Führungskräfte fühlten sich dadurch entmachtet, vor allem jene, die Information als Macht missbrauchten. Die neue CEO wollte einen Kulturwechsel rundum, vor allem mehr Agilität und das störte zu viele Führungskräfte, weil es sie aus ihren Komfortzonen herausdrängte. Der Zufall wollte es, dass ich in jenen unruhigen Tagen in Kontakt kam mit einer auf der Konzernebene für Führungskräfteentwicklung verantwortlichen Person. In einer Nachricht an sie machte ich sie darauf aufmerksam, dass ich sehr besorgt bin, zu viele meiner Führungskollegen im fast aktiven Widerstand gegen den neuen Wind zu erleben, mit dem Hinweis, dass dies nicht toleriert werden sollte, weil Führungskräfte als schlechte Vorbilder den wichtigen Kulturwandel aufs Höchste gefährden. Dieser Hilferuf hatte eine für meine Karriere sehr wichtige Auswirkung. Einige Zeit später ernannte die CEO ca. 90 interne Senior Leaders aus der ganzen Welt, die alle Funktionen repräsentierten, in eine interne Beratergruppe, die ihr helfen sollten bei

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dem Kulturwechsel und ich wurde einer von ihnen – natürlich war ich überglücklich über diese Berufung. Inzwischen hatte sich die Notwendigkeit eines Kulturwechsels dramatisch erhöht, weil es zu einem komplexen Merger mit einem anderen Unternehmen kam, der damals als der größte Merger in der IT-Industrie weltweit tituliert wurde. Nun mussten zwei zum Teil sehr verschiedene Kulturen zusammengebracht werden, ein sehr schwieriges Unterfangen. Wir alle waren hoch engagiert und ich war für eine lange Zeit jeden Monat für eine Woche in USA. Dieses sehr aufwendige Bemühen um eine neue Kultur war ein großes Investment aber genau der richtige Schritt um die Kultur von innen heraus zu entwickeln. Jedoch die gewünschte große Veränderung fand nicht statt. Warum? Weil die CEO eine sehr wichtige Grundregel nicht beachtete, die mir erst später bewusst wurde und sich nun sehr tief in mein Glaubensbekenntnis über Führung verankert hat: „Sage mir, an was Du mich misst, und ich sage Dir, wie ich mich verhalten werde.“ Im Klartext, wir, das Beraterteam erstellten klare Regeln und auch den dazu notwendigen „360° Feedback-­Prozess“, um Führungskräfte zu coachen und zu bewerten, aber dieser wurde nicht top-down umgesetzt, bzw. die CEO hat es versäumt, ihre direkten Mitarbeiter, die Executive Vice Presidents, zu zwingen, den Prozess zuerst bei sich und dann konsequent weiter runter in ihren Hierarchieebenen anzuwenden. Dieses Erlebnis hat sich tief in mein Führungsverständnis eingebrannt und ich entwickelte daraus einer meiner Führungsimperative „Miss es oder vergiss es“, bzw. „You get what you measure!“ Messen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht messen in Maßeinheiten, sondern Feedback geben auf gegebene Regeln und konsequent sein mit den daraus folgenden, notwendigen Konsequenzen und Veränderungen. Und so kam es auch. Die Führungskräfte wurden nicht an dem neuen Verhal­ ten gemessen, die Unternehmensleistung wurde immer schwächer und schließlich musste die CEO ihren Hut nehmen – eine Tragödie, denn sie war eine inspirierende, visionäre Führungspersönlichkeit. Aber es kam noch schlimmer. Der neue, nachfolgende CEO war nur noch besessen von Shareholder Value, d. h. das war seine ultimative Messlatte, was in Wirklichkeit nicht sein Problem war, sondern meines Erachtens das Problem eines schlechten Aufsichtsrates, denn dieser definiert schlussend-

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lich, an was der CEO gemessen wird. Er schaffte es fast, die vorbildliche Unternehmenskultur auszulöschen. Dennoch bin ich sehr dankbar, dieses Spannungsfeld von Führungskulturen erlebt zu haben. Ich habe gesehen und persönlich miterlebt, welche Wunder eine Vertrauenskultur bewirken kann, aber auch das Gegenteil, eine Kultur von Mistrauen und Micro-Management. Mir wurde glasklar bewusst, dass Führung alles ist. Es gibt erfolgreiche Unternehmen, Organisationen und Abteilungen, weil sie gut geführt werden und Unternehmen verschwinden von der Bildfläche nur aus einem einzigen Grund: schlechte Führung. Das habe ich auch in meinem persönlichen Umfeld erlebt, hatte ich doch sowohl ausgezeichnete und gute Vorgesetzte, aber auch zwei sehr schlechte. Bei den beiden letzteren zog ich nach einiger Zeit die Konsequenzen und ging, nicht aber ohne zuvor deren Vorgesetzten reinen Wein einzuschenken mit der Warnung, dass sie das nicht tolerieren dürfen, weil sonst fatales geschehen kann. In beiden Fällen war meine Intervention erfolgreich, denn nach einigen Monaten wurden die beiden aus ihrer Führungsverantwortung genommen. All diese wichtigen und unverzichtbaren Erlebnisse mit einigen Tiefen aber doch wesentlich mehr Höhen haben mich dann nach 34 Jahre Zugehörigkeit im Unternehmen bewegt, dieses zu verlassen mit dem brennenden Ziel, anderen und mehr Menschen zu helfen, nicht nur gute, sondern ausgezeichnete Führungskräfte zu werden. Mir war bewusst, dass ich damit bei jungen Menschen starten muss und so wurde ich Dozent an zwei internationalen Hochschulen und hielt Vorlesungen und Workshops zum Thema Leadership. Ich wollte mit jungen Menschen aus der ganzen Welt meine Führungserfahrungen teilen, damit die Welt in Zukunft bessere Führungskräfte bekommt. Mit diesem Ziel coachte ich – und tue es noch heute – auch Menschen und Teams, die bereits in Führungspositionen sind. Und ich habe im Jahr 2013, zusammen mit anderen erfahrenen Führungskräften, die seelenverwandt in einem gemeinsamen Bestreben sind, Wegbereiter und Gestalter eines Dialogs zur zukunftsfähigen Führung zu sein, den gemeinnützigen Verein „Initiative Zukunftsfähiger Führung“ (IZF) gegründet, in dessen Hauptvorstand ich bin.

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Schließlich hat mich meine Mission auch zur Entscheidung für dieses Buch geführt, in der Hoffnung, es findet viele Leser damit das Leben vieler Geführten besser wird, dass sie auf Augenhöhe und nicht als reine Befehlsempfänger geführt werden, dass Ihnen eine vertrauensvolle Gestaltungsfreiheit geboten wird, die sie im höchsten Maß intrinsisch motiviert. Dieses Buch ist aus der Führungspraxis für die Praxis. Es hat nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Führung. Dazu gibt es bereits genügend Literatur. Das Buch soll in sehr kompakter Form und auf sehr pragmatische Weise Anregungen und Tipps geben, die sehr wirksam sind, weil sie auf gemachten Erlebnissen basieren. Aus aktuellen Erfahrungen bei meinen Kunden weiß ich, dass es leider immer noch Führungsstile gibt, die ich bereits vor Jahrzehnten als überkommen abgelegt habe. Der Leser wird am Ende feststellen, dass Führung eigentlich sehr einfach ist. Es gibt relativ nur sehr wenig Dinge, die gegeben sein müssen. Umkehrschluss: wenn es allerdings an ihnen fehlt, hat es dramatische Konsequenzen für die Wirksamkeit als Führungskraft. Ich danke den vielen Menschen, die ich auf ihrem Entwicklungsweg begleiten durfte, meinen sehr zahlreichen Mitarbeitern auf der ganzen Welt, meinen Studentinnen und Studenten, meinen Coaching-Kunden und Geschäftspartnern. Sie alle haben mich zu diesem Buch ermutigt und das Feedback, welches ich von ihnen auch nach vielen Jahren noch bekomme, zeigt, dass mein Vorbild als Führungskraft nachhaltig wirkt, wie z. B. dieses hier ganz aktuell nach 12 Jahren: „You had such a strong, positive influence on my career.  I thank you, from the bottom of my heart for always supporting me and cheering me on, it truly meant the world to me. I truly appreciate you, your leadership, your passion and kindness. You had such a profound impact on me, believing, guiding and encouraging me along the way made a big difference. I would not have been a strong leader without your guidance“. DeckenpfronnHerbert Reiß 30. Juni 2020

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung  1 2 Führung im Wandel  7 3 Wichtige Bausteine exzellenter Führung 11 3.1 Kontext  11 3.2 Das ideale Team  15 3.3 Die Mission  17 3.4 Die Kunden  17 3.5 Das Produkt bzw. die Dienstleistung  18 3.6 Die Teamvision  18 3.7 Zielpunkte und Strategien  19 3.8 Teamprinzipien  20 3.9 Schlüsselprozesse und Schlüsselpartner  21 3.10 Rollen, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen  21 3.11 Gelebte Unternehmenswerte  22 3.12 Vertrauenskultur  25 3.13 Feedback  26 3.14 Hochleistungsteams  28

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4 Selbst-Führung – die elementare Voraussetzung, um andere zu führen 33 4.1 Die „7 Wege zur Effektivität“  33 4.2 Die 4 Grundmotivationen des Lebens  39 5 Onboarding 41 5.1 Auf zu neuen Ufern  41 5.2 Persönliche Werte  42 5.3 Die Mission des Lebens  43 5.4 Die Schlüsselfrage: Zieht es mich in eine Führungsaufgabe? 44 5.5 Onboarding Tipps, die für alle Szenarien zutreffen  47 5.6 Inhalte der ersten Ansprache  50 5.7 Die ersten Wochen als neue Führungskraft  54 5.8 Ein Teamleitbild erstellen  58 5.9 Checkliste „generelles Onboarding“  68 5.10 Onboarding in eine erste Führungsrolle aus einem Team heraus 69 5.11 Ergänzende Checkliste „Onboarding in eine erste Führungsrolle aus einem Team heraus“  71 5.12 Onboarding in ein anderes Team innerhalb des gleichen Unternehmens 72 5.13 Ergänzende Checkliste „Onboarding in ein anderes Team innerhalb des gleichen Unternehmens“  74 5.14 Onboarding in ein Team in einem anderen Unternehmen ohne Führungskräfte im Team  75 5.15 Ergänzende Checkliste „Onboarding in ein Team in einem anderen Unternehmen ohne Führungskräfte im Team“ 80 5.16 Onboarding in ein Team mit Führungskräften, die zu Ihnen berichten  82 5.17 Ergänzende Checkliste „Onboarding in ein Team mit Führungskräften, die zu Ihnen berichten“  87

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5.18 Die ersten 90 Tage – die ersten Veränderungsnotwendigkeiten werden sichtbar  88 5.19 Betriebsrat  93 6 Auf Kurs bleiben 95 6.1 Das Teamleitbild leben  96 6.2 Kommunikation  97 6.3 Feedback als wichtiges Navigationsinstrument 101 6.4 Talente fordern und fördern 106 6.5 Führen von virtuellen Teams 107 6.6 Führen in einem globalen Umfeld 110 6.7 Führen in der digitalen Welt 112 6.8 Wenn das Team-Klima krankt 115 6.9 Sind Sie sichtbar 116 6.10 Eine neue Führungskraft ins Team nehmen 117 6.11 Führen in Krisenzeiten oder Umgang mit schwierigen Vorgaben120 6.12 Integration von Unternehmenskulturen bei Fusionen 123 6.13 Nicht auf oben warten – eine eigene Führungskultur gestalten126 6.14 Mentor 130 6.15 Erste Erfolge ernten 130 7 Schlussbemerkungen und Ausblick133 7.1 Reflektionsfragen und Verpflichtung 137 8 Anhang: Werkzeuge139 8.1 Mein Onboarding-Plan 140 8.2 Checkliste zu meiner inneren Einstellung für Führung und meiner Wirksamkeit als Führungspersönlichkeit 141 8.3 Sinnvoll leben – Fragen zu Sinnspuren 141 8.4 Beispiel von Leitlinien, die sich ein Führungsteam gegeben hat 142

XIV Inhaltsverzeichnis

8.5 Beispiel Teamleitlinien 8.6 Beispiel Meeting-Regeln 8.7 Email Knigge 8.8 Die Gallup Q12® Befragung 8.9 Fiktives Beispiel einer Balanced Scorecard für das Zieljahr der Team-Vision

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Literatur und Links151

1 Einleitung

„Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen“, sagte Aristoteles. Das gilt meines Erachtens nicht für den Start in eine Führungsposition, sei es die allererste oder eine für einen weiteren Karriereschritt. Für einen solchen Anfang sind es nach meiner Meinung nahezu hundert Prozent des Ganzen. Wir erinnern uns alle noch an unsere Schulzeit, vor allem als wir Teenies waren. Wenn eine neue Lehrerin oder ein neuer Lehrer unsere Klasse betrat, war bereits in der ersten Stunde entschieden, ob wir sie bzw. ihn res­pektierten. Der Volksmund meint zwar „aller Anfang ist schwer“, aber diese Aussage trifft nach meiner Meinung nicht zu auf das sogenannte Onboarding in eine neue Führungsrolle. Das zu beweisen und aufzuzeigen, und wie mit relativ wenig Methoden, Werkzeugen und Schritte eine Führungskraft sehr schnell sehr wirksam sein kann, ist Ziel dieses Buches. Ich habe zu viele unglückliche Starts bzw. falsches Onboarding von Führungskräften erlebt. Führungskräfte haben es einfach nicht verstanden, warum sie für eine sehr lange Zeit oder sogar nie als authentische Führungspersönlichkeit wahrgenommen und akzeptiert wurden. Da war z. B. Hans, der sich am ersten Tag seinem Team mit den Worten vorstellte: „Ich bin Hans, Ihr sollt wissen, dass dies nicht mein Traumjob ist,

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_1

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aber ich habe ihn akzeptiert“. Welch ein Desaster! Er hat sich nie davon erholt und wechselte nach 2 Jahren frustriert den Job und das Unternehmen. Die Akzeptanz einer Führungskraft entscheidet sich vom ersten Tag an und sie erreicht ihre optimale Wirksamkeit, wenn es ihr gelingt, sehr schnell das geführte Team hinter einem gemeinsamen, ehrgeizigen Ziel zu vereinen und wenn sehr schnell eine Teamkultur aufgebaut wird, die geprägt wird durch gemeinsam gelebte Werte. Ein hohes Maß an intrinsischer Motivation ist dann die Folge. Es ist nun mal für einen gemeinsamen Erfolg unabdingbar, dass sich jedes Teammitglied mit dem Zweck und der Vision des Teams identifiziert, jedes Mitglied gemäß seinen Stärken eingesetzt ist und seinen wertvollen Beitrag zum Gelingen des Ganzen kennt und erbringt. Dies alles bedarf eines Führungsstils auf Augenhöhe bei dem die Führungskraft nicht mehr wie in der Vergangenheit der allwissende, einsame Entscheider an der Spitze ist, sondern mehr in der Rolle eines Coaches und Teamentwickler agiert. Führung ändert sich bzw. muss sich ändern und zwar vom Boss zu einem Beziehungsgestalter und Organisationsentwickler. Mir sind keine belastbaren Untersuchungen bekannt, wie groß der Anteil der Führungskräfte ist, die nach der Übernahme einer neuen Führungsverantwortung scheitern, aber ich kenne gut situierte Unternehmen, die nur eine Trefferquote von 50 % haben. Welch ein Verlust an Geld und Zeit und vor allem, was noch gravierender ist, ein Verlust von Vertrauen in die Entscheider, welche die erfolglose Führungskraft eingestellt haben. Sehr gutes Onboarding, was die Sicherheit eines „cultural fit“ beinhaltet, wird immer mehr auch ein Thema für Headhunter, denn fehlerhafte Empfehlungen schaden deren Ruf im höchsten Maße. Einmal daneben gegriffen, kann einmal zu viel sein. Der Leser dieses Buchs wird am Ende erkennen, wie relativ einfach es doch ist, einen perfekten Start zu haben, bei dem die Teammitglieder unisono sagen: „Wow – so einen Start habe ich noch nie bei einer Führungskraft erlebt!“ Es ist wahrlich keine Zauberei, dies zu erreichen, wenn auch das Ergebnis den Betroffenen wie ein Zauber erscheint, ganz im Sinne des Gedichts von Hermann Hesse „Stufen“, in dem es heißt „in jedem

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Anfang liegt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“. Im zweiten Kapitel dieses Buches wird zunächst das Führungsszenario beschrieben, welches heute auf Menschen wartet, die zum ersten Mal eine Führungsaufgabe übernehmen. Dieses in seinen sehr wahrscheinlichen Ausprägungen und kritischen Einflussfaktoren zu kennen, ist sehr wichtig, denn ich muss wissen, welches Spielfeld ich als Führungskraft betreten werde. Eine Führungsaufgabe zu übernehmen, ist eine wichtige Entscheidung, welche eine tiefe Reflektion über persönliche Werte und die eigene Lebensmission bedingt. Die Aufgabe und das Umfeld müssen für mich stimmig sein. Im dritten Kapitel stelle ich elementare Pfeiler von exzellenter Führung vor, die starke Erfolgsfaktoren für mein Wirken als Führungskraft waren und noch heute Eckpfeiler bei meinen Führungskräfte-Coachings sind. Sie zu verstehen ist eine wichtige Grundlage für den gesamten danach beschriebenen Onboarding-Prozess in seinen verschiedenen Szenarien. Das vierte Kapitel befasst sich mit der wichtigsten Grundvoraussetzung für eine Führungsrolle schlechthin, die eigene Fähigkeit zur Selbstführung, denn wenn diese nicht gegeben ist, wird das Ergebnis der Führung geradezu katastrophal sein. Die Führungskraft wird dann statt einer vorbildlichen authentischen Persönlichkeit als chaotischer, narzisstischer, prinzipienloser Hampelmann wahrgenommen oder sogar als Despot. Im fünften Kapitel lernen Sie das perfekte Onboarding für die verschiedenen Onboarding-Szenarien im Detail. Es ist der Schlüssel für Ihren nachhaltigen Erfolg in einer Führungsrolle. Sie erhalten Anregungen, wie Sie sich darin verhalten sollten, um Fehler zu vermeiden. Dabei gibt es generische Empfehlungen, unabhängig vom konkreten Szenario der neuen Führungsrolle und auch konkrete auf das spezielle Onboarding-­ Szenario bezogene mit jeweils praktischen Checklisten anhand deren Sie vorgehen sollten um erfolgreich zu sein. Im sechsten Kapitel erfahren Sie, wie Sie nach einem erfolgreichen Onboarding Kurs halten, damit nicht nur der Anfang sehr gut ist, sondern Ihr Momentum als ausgezeichnete Führungskraft nachhaltig bestehen bleibt. Dabei gibt es einige Empfehlungen, die sehr provokant sind und die einigen von Ihnen fast brutal oder empathielos erscheinen, weil sie Ihnen völlig neu und fast etwas unwirklich vorkommen. Ich sehe diese

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jedoch aus meinen Erfahrungen als absolut notwendig und konsequent an, weil Sie sonst in Gefahr laufen, Ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es ist ganz einfach: Wer als Führungskraft zum Beispiel nicht tolerierbares Verhalten toleriert, verliert in den Augen seiner Mitarbeiter relativ schnell seine Glaubwürdigkeit und damit das wichtigste Kapital. Ich selbst hatte eine für heutige Verhältnisse sehr lange Lernphase bis ich als ausgezeichneten Führungskraft anerkannt wurde. Diese Zeit und diese Bewährungsfrist erhält heute niemand mehr als Führungskraft und genau das begründet mein Engagement anderen zu helfen eine vorbildliche Führungskraft zu werden. Im siebten Kapitel fasse ich die wichtigsten Botschaften nochmals zusammen und versuche einen Ausblick auf die Zukunft und deren besonderen Herausforderungen für die Führung. Was die Führungsstrukturen in Unternehmen betrifft, fokussieren sich fast alle Empfehlungen auf die immer noch in der Mehrzahl vorhandenen klassischen Organisationskulturen, weil dies immer noch das häufigste Szenario ist, welches Führungskräfte bei ihrem Onboarding antreffen. Ich gebe jedoch einige Hinweise, wie man selbst in diesen nach außen starr wirkenden Strukturen, sich wichtige Elemente von H ­ olocracy bzw. selbstgesteuerten Teams und Netzwerkorganisationen nehmen sollte. Im achten Kapitel finden Sie einige sehr wertvolle Werkzeuge zur praktischen Umsetzung sowie Literaturempfehlungen und Links zu interessanten Videos. Zum Schluss wünsche ich Ihnen, dass Sie aus diesem Buch einige Anregungen entnehmen können, die Ihnen helfen, eine exzellente Führungskraft zu werden, denn das benötigt die Welt dringender denn je. Sie werden lernen, dass es Ihr Führungsstil ist, mit dem Sie und Ihrem Team nachhaltig mit Höchstleistungen in der Champions League spielen werden, wie es auch mir gelungen ist. Im Vorwort habe ich die Behauptung gemacht, dass sehr gute Führung sehr einfach ist und dass es nur einiger weniger Stellschrauben bedarf. Eine der wichtigsten davon ist, dass Sie selbst in einem Umfeld sind, das Ihnen erlaubt, sowohl Ihre Lebensmission als auch Ihre Grundwerte zu leben und zu den letzteren zählt vor allem eine Gestaltungsfreiheit. Dann kann Sie niemand mehr bremsen

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und Ihre Mitarbeiter folgen Ihnen mit großer Begeisterung, weil Sie eine authentische Führungspersönlichkeit sind. Ich bitte um Verständnis, dass ich aus Gründen der Einfachheit im Buch überwiegend die männliche Schreibweise gewählt habe, die aber natürlich beide Geschlechter gleichermaßen anspricht.

2 Führung im Wandel

Viele Faktoren erzwingen es, dass Führung heute und vor allem morgen nicht mehr die von gestern sein kann und darf. Die wichtigsten antreibenden Kräfte sind notwendige Änderungen, die in immer kürzer werdenden Abständen erforderlich sind zum Überleben eines Unternehmens und die eine geradezu dramatische Agilität erzwingen, wie es in der Vergangenheit noch nie der Fall war. Während komplizierte Abläufe in der Regel mit mehr Automation gelöst werden können, erfordert die täglich steigende Komplexität eine völlig neue Interpretation von Führung. Organisatorische Silo-Fürsten einer starren funktionalen Organisation, die nur auf die Optimierung ihres Bereiches fokussiert sind, passen nicht mehr zur Notwendigkeit von Schnelligkeit und Digitalisierung. Sie erhöhen die Notwendigkeit nach einer horizontalen Agilität über alle Funktionen hinweg und eine Verteilung von Verantwortung. Der bekannte Spruch „die Schnellen fressen die Langsamen“ gilt ganz besonders für große Unternehmen mit deren starken Beharrungskräften in bestehende, überkommene Strukturen. Diese ständigen Anpassungen an immer öfters eintretende, erzwungene Änderungen für eine nachhaltige Zukunft eines Unternehmens bringt sehr viele Menschen an ihre persönliche Grenze des Akzeptablen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_2

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Wir Menschen lieben nun mal unsere Komfortzonen und die Kontinuität. Und hier kommt meines Erachtens die größte Herausforderung für Führungskräfte, wie ich sie auch selbst erlebt habe: ein Team immer wieder erfolgreich durch oft schwierige Transformationen zu führen, Menschen zu überzeugen, warum die Veränderung notwendig ist, ihnen die Vorteile zu vermitteln, ihnen Ängste zu nehmen und mit Widerständen umgehen. Das ist nur dann und nur dann möglich, wenn ich selbst als Führungskraft gegenüber Veränderungen aufgeschlossen bin und sie auch proaktive treibe mit großen Fähigkeiten der Resilienz. Zum Thema Evolution von Führung zeigt Frederic Laloux (2013) mit seinem Bestsellerbuch „Reinventing Organizations“ radikale Wege auf, die in die Zukunft führen. Ein Leser des Buchs hat es so kommentiert: „Ground-breaker! Game-changer! Brilliant! The most exciting book I’ve read in years on organization design and leadership models.“ Laloux führt mit Recht an, dass in zukunftsfähigen Organisationen die Verantwortung auf die Ebene bzw. den Platz delegiert werden müssen, an dem die Wertschöpfung entsteht. In einem solchen Modell ändert sich die Rolle einer Führungskraft geradezu revolutionär. Sie wird in seiner alten Form völlig überflüssig. Diese Transformation haben bereits einige Unternehmen erfolgreich bewältigt, so z. B. die Firma HEMA in Fricken­ hausen bei Stuttgart. Eine weitere treibende Kraft für ein neues Führungsverständnis ist die Erkenntnis, „dass es neben dem traditionellen Shareholder-Value, also den solitären Gewinninteressen der Aktionäre, eine übergeordnete Größe gibt, und das ist die Bestimmung des Unternehmens als Bestandteil einer gesellschaftlichen Ordnung.“ So Joe Kaeser, CEO von Siemens, in einem Interview in der ZEIT am 30.01.2020. Joe Kaeser spricht von einem Purpose oder eine Bestimmung, die einem Unternehmen und dessen Mitarbeitern die Richtung und einen Wert für die Gesellschaft geben jenseits dem Shareholder-Value. Das bedeutet für viele klassische Führungskräfte eine komplette Zensur ihrer Denkweise, aber auch eine völlig neue Bewertung von Leistung. Eine immer stärker werdende internationale Verflechtung im Rahmen der Globalisierung bedeutet eine weitere Herausforderung an eine zukunftsfähige Führung. Eine wirkungsvolle Kooperation mit Menschen anderer Kulturen und Wertesysteme verträgt sich nicht mit narzissti-

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schem Führungsverhalten, wie wir sie leider noch sehr oft bei Führungskräften vorfinden, sondern erfordert vor allem von beispielgebenden Führungskräften ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und vor allem Empathie. In diesem Umfeld voller Umbrüche wird die Persönlichkeit einer Führungskraft zum entscheidenden Qualifizierungskriterium. Während in der Vergangenheit sehr oft zu stark auf die fachliche Eignung Wert gelegt wurde – und dieses Profil gibt es noch (leider) allzu oft in den Unternehmen mit klar erkennbaren Defiziten im Führungsverhalten  – gilt es heute, starke Persönlichkeiten für die Führungsaufgabe zu finden, vo­ rausgesetzt, sie haben Interesse an Führung. Aber das wird immer schwieriger. In meinen 12 Jahren als Dozent an zwei Hochschulen, musste ich feststellen, dass das Interesse an Führung über die Jahre zurückging und das aus mehreren Ursachen. Die jungen Leute der sogen. Generation Z sind  – mit Recht  – sehr anspruchsvoll bei der Auswahl der Unternehmenskulturen, die für sie in Frage kommen. Sie erwarten, dass sie sich mit dem Unternehmenszweck  – Purpose oder Mission  – identifizieren können, dass das Unternehmen nicht nur auf Shareholder-Value-­ Maximierung, sondern auch auf einen gesellschaftlichen Nutzen fokussiert ist. Ein weiterer Grund für eine nachlassende Begeisterung für eine Führungsaufgabe ist auch ein Stück Bequemlichkeit. Es wird als zu anstrengend angesehen, sich mit Mitarbeiter auseinanderzusetzen, kritisches Feedback zu geben und Verantwortung zu übernehmen über deren Weiterentwicklung. Jedoch muss dieser Trend nicht dramatisch sein im Sinne eines Mangels an fähigen Führungstalenten. Wenn Mitarbeiter mehr ermächtigt werden und es immer mehr selbstgeleitete Teams gibt, brauchen wir auch deutlich weniger Führungskräfte als in der Vergangenheit. Mehr Qualität und weniger Quantität ist der Imperativ. Wir benötigen menschliche Führungskräfte mit einem positiven Menschenbild, denn auch in tausend Jahren muss und wird das wichtigste in jedem Unternehmen der Mensch sein. Dieses Bewusstsein kam in den letzten Dekaden leider zu kurz. Es ist Zeit, dass der Mensch wieder die Shareholder-Value-Gier zurückdrängt. Und das ist eine große Herausforderung. Einsteins Zitat, „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, erfordert eine völlig neue Denkweise zu Führung.

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Und diese neue Denkweise muss an der Konzernspitze beginnen. Ich sehe da einige Herausforderungen für sehr große Unternehmen, z. B. Aktiengesellschaften und vor allem amerikanische Konzerne. In beiden hat der Aufsichtsrat einen sehr großen Einfluss und er besteht in der Regel aus CEOs oder ehemaligen CEOs aus anderen Unternehmen mit der Gefahr, dass Sie ihre alten Denkweisen zur Führung einbringen. Der Aufsichtsrat wählt den Vorstand und bestimmt dadurch auch, nach welchen Kriterien dieser gesucht und auch entlohnt wird. Ganz kritisch sehe ich das bei den amerikanischen Aktiengesellschaften, weil es die ansonsten sehr strengen Regeln der US Security and Exchange Commission (SEC) zulassen, dass ein CEO eines Unternehmens in Personalunion auch der Aufsichtsratsvorsitzende sein darf, d. h. wo bleibt da die ansonsten zu Recht geforderte Compliance? Ich habe diese kritische Konstellation sehr negativ erlebt, als ein CEO seine „buddies“ in den Aufsichtsrat brachte, die ihm genehm waren.

3 Wichtige Bausteine exzellenter Führung

Es gibt tausende Bücher über Führung. Deren Inhalte sollen hier nicht redundant wiederholt werden. Ich möchte nur auf einige sehr essenzielle Bausteine von exzellenter Führung hinweisen, die für meine Wirksamkeit als Führungskraft den großen Unterschied gemacht haben. Es sind nur wenige, aber jeder einzelne ist äußerst wichtig und ist unersetzbar.

3.1 Kontext Mitarbeiter haben heute den Anspruch, zu verstehen, warum ihr täglicher Beitrag in einem Unternehmen wichtig ist. Das war in der Geschichte nicht immer so. Henry Ford prägte den aus heutiger Sicht sarkastischen Spruch „Why comes a brain attached if I just ask for a pair of hands.“ Damals wollte man keine mitdenkenden Mitarbeiter, sondern lediglich Arbeitskräfte, die ohne Widerspruch das tun was man von ihnen verlangt. Heute ist eine derartige Denkweise unhaltbar. In einer Welt des „war of talents“ wollen die jungen Menschen den gesamten Kontext ihres Beitrags verstehen. Sie wollen wissen, welchen gesellschaftlichen Beitrag oder Nutzen bringt ein Unternehmen, in dem sie tätig sein wol© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_3

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len. Um diesen Gesamtkontext zu verstehen, benötigt nach meiner Überzeugung jedes Unternehmen eine sogenannte Strategy Map mit deren wichtigsten Elementen (siehe Abb. 3.1). Am Anfang einer solchen Strategy Map steht der Zweck bzw. die Mission des Unternehmens. Sie muss ausdrücken, worin der Wertbeitrag des Unternehmens für die Gesellschaft liegt, ein klares Nutzenversprechen. Das hört sich zwar einfach an, kann aber für so manches Unternehmen sehr schwierig sein, vor allem, wenn z. B. ihre Produkte ökologisch oder gesundheitlich fragwürdig sind. Welches Nutzenversprechen überzeugt z. B. ein Mitarbeiter von einem Waffenhersteller oder einem Hersteller von Pestiziden? Da haben es andere Unternehmen leichter, die z. B. Medizinprodukte herstellen. Einer meiner Kunden stellt zum Beispiel Sicherheitstechnik her. Deren Mission-Statement ist: Wir schützen Leben und Werte

Perfekt, damit können sich die Mitarbeiter sehr leicht identifizieren. Da haben es Unternehmen der Tabakindustrie wesentlich schwerer. Einer dieser großen Konzerne spricht über seinen „purpose of creating somet-

Strategy Roadmap Werte und Team Prinzipien

Mission Vision Strategic Goals Strategy Initiativen

Actions & Tactics Abb 3.1  Strategy Roadmap

• Zweck-Statement – WARUM gibt es uns? – unser USP

• WO wollen wir in 3 Jahren sein? – Ein inspirierendes Zukunftsbild

• WAS werden wir erreicht haben, wenn wir die Vision erfüllt haben? – Konkrete, messbare Zielpunkte für „was“ & „wie“ (~ Balanced Scorecard) • WIE erreichen wir die Zielpunkte der Vision? – Mit welchen Key Strategien (Kunden/Märkte, Prozesse, Mitarbeiter, Finanzen)?

• WELCHE Initiativen müssen wir innerhalb unserer Organisation ergreifen?

• Wer muss was bis wann tun?

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hing better for the world’s smokers“. Müsste das in Wirklichkeit nicht so lauten: „Wir bereiten mit unseren Produkten unseren Kunden eine Freude und dann verkürzen wir ihr Leben mit Hilfe von Lungenkrebs“? Ich stelle es mir als sehr schwierig vor, sich als Mitarbeiter und Nichtraucher damit zu identifizieren. Viele Unternehmen unterschätzen leider die Kraft eines wertschöpfenden Zweckstatements für eine intrinsische Motivation der Mitarbeiter und es ist erschreckend, wie wenig Unternehmen die Chance wahrnehmen. Wir Menschen wollen stolz sein auf das, was wir tun, das „Warum“ muss klar sein. Folgende, schon oft zitierte Geschichte macht das bildlich greifbar: Drei Steinmetze arbeiten auf einer Baustelle. Ein Schüler auf der Suche nach seinem Meister fragt sie danach, was sie tun. Der erste Steinmetz räumt mürrisch Steine zusammen und sagt: „Ich verdiene meinen Lebensunterhalt“. Der zweite Steinmetz klopft mit wichtiger Miene auf seinen Stein, während er antwortet: „Ich liefere die beste Steinmetzarbeit weit und breit.“ Der dritte Steinmetz aber schaut den Fragenden ruhig und mit glänzenden Augen an und sagt: „Ich helfe dabei, eine Kathedrale zu bauen.“

Wollen wir nicht alle mit unserer Arbeit eine Kathedrale bauen? Ist es denn so schwierig, ein solches Nutzenversprechen in der Unternehmensmission klar sichtbar zu machen? Während das Mission-Statement den Wesensgrund eines Unternehmens definiert, muss davon auch eine Vision, ein inspirierendes Zukunftsbild, abgleitet werden, welches die Mitarbeiter anzündet zu einer tiefen emotionalen Bereitschaft und hilft bei deren Verwirklichung. Idealerweise sollte dabei auch ein Zeithorizont gesetzt werden, damit die Verpflichtung klarer artikuliert wird. Das könnte dann folgendermaßen lauten: Bis Ende 2023 sind wir der weltweit führende Hersteller von XYZ

falls das heute noch nicht der Fall ist. Vision-Statements müssen ambitioniert und dennoch realistisch sein. Eine Vision muss die Menschen anzünden, muss sie inspirieren und ihre Bereitschaft für ihren engagierten Einsatz wecken.

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Es versteht es sich von selbst, dass eine Vision unterstützt werden muss mit einem konkreten Plan, welcher die Realisierung der Vision unterstützt und möglich macht. Sonst hätte der frühere deutsche Bundeskanzler, Helmut Schmidt, recht mit seiner Aussage „Wer Visionen hat, sollte seinen Arzt aufsuchen“. In der Tat, eine Vision ohne Exekution ist eine Halluzination. Zur Umsetzung der Vision braucht es zuerst klare, messbare Zielpunkte, die ausdrücken, was genau erreicht werden soll, wenn die Vision realisiert wurde. Da bietet sich die Struktur der Balanced Scorecard an. Statt nur eindimensional den Erfolg eines Unternehmens an seinen finanziellen Ergebnissen zu messen, fordert die Balanced Scorecard drei weitere Messkriterien und zwar für die die Dimensionen Kunden, Mitarbeiter, und gesellschaftlicher Beitrag und nur wenn die Ergebnisse in all diesen 4 Dimensionen stimmen, spricht man von einem ganzheitlich erfolgreichen Unternehmen. In seinem Buch „Strategy Maps“ trifft der Autor Robert S.  Kaplan (2004) die Aussage, dass der Marktwert eines ­Unternehmens zu mehr als 75  % von sogenannten „intangible assets“ abhängt, d. h. den anderen drei Dimensionen und wenn man nicht alle vier Dimensionen misst, sagt er You can’t manage what you can’t measure.

Diese Überzeugung hat bereits sehr früh mein Verhalten als Führungskraft geprägt, aber leider setzte sich diese bis heute noch nicht in vielen Unternehmen durch. Es gibt noch viel zu viele Unternehmen, bei denen die Vorstandsboni ausschließlich nach den finanziellen Ergebnissen verteilt werden. Wundern wir uns dann noch, warum diese Messlatte zu einem völlig falschen Führungsverhalten führt? „Sage mir, an was Du mich misst und ich sage Dir, wie ich mich verhalten werde“. Dieser Spruch gilt bis in die Vorstandsetagen. Um ein Unternehmen nachhaltig erfolgreich zu führen, muss ich die vier Dimensionen der Balanced Scorecard als Leistungskriterien heranziehen mit der Konsequenz, dass nur der Vorstand seinen 100 % Bonus erhält, wenn die finanziellen Ergebnisse passen, die Kundenzufriedenheit sehr gut ist, die Mitarbeiter hoch engagiert sind und auch der gesellschaftliche Beitrag, wie z.  B. der ökologische Fußabdruck stimmt. Wenn diese ganzheitliche Beurteilungsmethode

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eine generelle Verbreitung in den Unternehmen finden würde, wären diese viel zukunftsfähiger aufgestellt. Ein gutes Beispiel dieser verpassten Chance bietet meines Erachtens die deutsche Automobilindustrie, die viel zu spät das Thema e-Mobility entdeckt hat. Wären deren Vorstände auch daran gemessen worden, wäre das mit Sicherheit nicht passiert. Im weiteren Prozess der Erstellung einer Strategy Roadmap sind von diesen Zielpunkten der Balanced Scorecard konkrete Strategien abzuleiten, die klären, was konkret zu tun ist, um die Vision umzusetzen, denn ohne diese Verpflichtung bleibt die Vision die erwähnte Halluzination. Aus den Strategien ergeben sich dann konkrete Aktionen für die gesamte Organisation. Schlussendlich gibt es noch ein enorm wichtiges Element, das leider sehr oft vergessen wird, obwohl es unersetzbar für eine gelingende Strategy Map bzw. deren Umsetzung ist. Das sind die Unternehmenswerte und deren Ableitung auf konkrete Verhaltensprinzipien. Darüber später mehr im Kap. 3.11 „Gelebte Werte“ Alle Elemente einer Strategy Map sind für das Verständnis des gesamten Kontextes eines Unternehmens und für die emotionale Bindung sowie Identifikation eines jeden Mitarbeiter äußerst wichtig und es ist Aufgabe jeder Führungskraft, diesen im Dialog mit den Mitarbeitern immer wieder, ja fast gebetsmühlenhaft, zu wiederholen. Diese ganzheitliche Perspektive beantwortet stets aufs Neue, WARUM eine bestimmte Aufgabe wichtig ist. Die Mitarbeiter müssen verstehen, wir ihr persönlicher Beitrag, ganz gleich in welches Funktion sie im Unternehmen beschäftigt sind, zum Nutzenversprechen ihres Unternehmens beiträgt.

3.2 Das ideale Team Während die Strategy Map das Verständnis des strategischen Gesamtkontextes für ein Unternehmen klärt, gibt es für Teams eine verfeinerte Ableitung dazu, das Teamleitbild. Es ist nach meinen Erfahrungen ein absolutes Muss für jedes Team. Mit seinen 10 Elementen schafft es den notwendigen Rahmen und ist damit ein Garant für Klarheit und Engage­ ment bzw. Leistungsbereitschaft. Alle Elemente sind unverzichtbar, wenn nur über ein Thema Unklarheit herrscht, kann nach meiner Überzeu-

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gung ein Team nicht optimal funktionieren. Dann gibt es zu viele schwarze Löcher, Unklarheiten, Blindleistungen und Konfusionen. Es ist so, als wenn ein Fußballteam der Bundesliga den Platz betritt ohne Spielplan und ohne Verständnis, wie sie nun spielen sollen, um zu gewinnen. Ich habe immer wieder beide Extreme erlebt, Teams ohne und mit einem Teamleitbild. Was für ein Unterschied – wie Tag und Nacht. Im Kap. 5.8 wird die Erstellung eines Teamleitbilds als konkrete Onboarding-Aktion genauer erklärt. Um es vorwegzunehmen: Die Erstellung eines Teamleitbildes (siehe Abb. 3.2) ist nicht die Aufgabe einer Führungskraft, sondern ist die Aufgabe des gesamten Teams. Nur so ist gewährleistet, dass sich alle Teammitglieder damit identifizieren und sich zum Leben des Leitbildes verpflichten. John Naisbitt brachte es treffend zum Ausdruck:

Teamleitbild Ein MUSS für ein sehr gut funktionierendes Team Mission – das „Warum“ existiert es Warum dieses Team existiert

VISION Ein klares Bild über das Ergebnis, wenn wir unsere Potenziale schöpfen – ein inspirierendes Zukunftsbild. Das Ergebnis unserer Anstrengungen.

Abgeleitet von den Unternehmenswerten

Team-Prinzipien Richtlinien, wie wir zusammen arbeiten: uns verhalten, kommunizieren, aus Konflikten Chancen kreieren, Meeting-Regeln, Normen, etc.

Schlüsselpartner Mit wem und wie arbeitet dieses Team am meisten zusammen. Die Brücken mit dem Rest der Organisation.

Abb. 3.2  Teamleitbild

Der einzigartige Beitrag des Teams/USP

Produkte/Dienstleistungen

Was liefern wir unseren Kunden.

Mehrwert

Kunden

Wer erhält unsere Produkte/Dienstleistungen

Schlüsselprozesse

Die Arbeit des Teams. Was „produziert“ das Team um die Produkte bzw. Dienstleistungen zu erstellen.

Zielpunkte(KPIs) + Strategien Was wollen wir wie und wann konkret erreichen.

Rollen und Verantwortlichkeiten Beschreibung über die Verantwortlichkeiten des Teams und jedes einzelnen Teammitglieds.

Kompetenzen Welche Fähigkeiten muss das Team besitzen.

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Menschen, deren Leben durch eine Entscheidung berührt und verändert wird, müssen an dem Prozess, der zu dieser Entscheidung führt, beteiligt sein und gehört werden.

Aber in wie vielen Unternehmen wird das so konsequent gelebt? Es ist mit meiner Erfahrung einfach unvorstellbar, dass man einem Team einen vorgefertigten Plan vorgibt und dann erwartet, dass alle Mitglieder sich darauf einschwören. Mit einem solchen Vorgehen kann und wird es scheitern, hundert Prozent!

3.3 Die Mission Wie auch das gesamte Unternehmen, so muss auch für ein Team klar sein, warum es existiert, was ist seine Berechtigung, was würde fehlen, wenn es plötzlich nicht mehr existiert, was ist sein einzigartiger Wertbeitrag? Dieser einzigartige Beitrag bzw. das Nutzenversprechen gibt den Teammitgliedern Sinn für ihre Arbeit. Das ist der Grund, warum sie jeden Tag zur Arbeit kommen und sich mit Herzblut engagieren. Jeder versteht es, dass es relativ einfach ist, einen solche Berechtigung der Existenz für Teams im Verkauf, in der Produktion oder in der Entwicklung zu definieren. Ohne Entwicklung gibt es keine neuen Produkte, ohne Produktion werden diese nicht gefertigt und ohne Vertrieb werden diese nicht an Kunden verkauft. Aber auch alle „indirekten“ Bereiche eines Unternehmens, wie die Personalabteilung und die Buchhaltung sind kritisch für den ganzheitlichen Erfolg und es ist relativ einfach, auch deren Wertbeitrag in Form eines Mission Statements zu artikulieren.

3.4 Die Kunden Es versteht sich eigentlich von selbst, dass jedes einzelne Mitglied eines Teams die Kunden bzw. die Leistungsempfänger der Teamleistung kennen sollte und zwar nicht nur als imaginäre Größe, sondern auch deren Bedürfnisse und Erwartungen an das Team. Idealerweise hat das Team auch die Möglichkeit, manchmal Kunden im direkten Austausch ken-

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nenzulernen. So habe ich in meiner aktiven Führungszeit regelmäßig sogenannte Kundentage veranstaltet, bei denen alle Mitarbeiter in Workshops mit Kunden arbeiten konnten. Das hatte immer einen enormen positiven Einfluss auf ein besseres gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Sowohl die Kunden als auch die Mitarbeiter waren begeistert über diesen direkten und persönlichen Kontakt, der normalerweise nur per Telefon oder Email-Austausch stattfindet. Es ist ja ganz einfach: Nur, wenn ich weiß, was mein Kunde erwartet, kann ich ihm wirklich helfen.

3.5 Das Produkt bzw. die Dienstleistung Es klingt banal, ist es aber nicht. Alle Teammitglieder müssen Kenntnis darüber haben, was die konkrete Wertschöpfung des Teams ist. Nur mit einer vollkommenen Transparenz darüber kann ich als Führungskraft erwarten, dass die Mitarbeiter bestehende Prozesse zur Erstellung des Produktes oder der Dienstleistung ständig in Frage stellen und verbessern.

3.6 Die Teamvision Alle erfolgreichen Teams haben stets ein Ziel vor Auge. „Wer das Ziel nicht kennt, kann den Weg nicht finden“, sagt ein altes Sprichwort. Es ist geradezu erschreckend, wie viele Teams es in Unternehmen gibt, denen ein klares Ziel fehlt und damit meine ich nicht ein Quartals- oder Jahresziel, sondern eine inspirierende Vision für einen Zeitraum von ca. 3 Jahren. Nach meiner Erfahrung ist das ein Zeitraum, der noch einigermaßen überschaubar ist. Ein kürzerer Zeitraum ist viel zu taktisch und ein längerer wird eher nebulös und erschwert die Identifikation damit. Eine Teamvision muss ambitioniert, aber dennoch erreichbar sein, wenn auch mit viel Anstrengungen. Sie muss die Mitarbeiter anzünden und begeistern für eine erstrebenswerte und gute Zukunft. Das sehr bekannte Zitat des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry bringt es auf den Punkt:

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Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.

Diese Metapher sagt alles was eine Vision bewirkt: Sie übt einen Sog aus, sie erzeugt Lust auf Zukunft und Aufbruchstimmung, sie schafft Bereitschaft zu Veränderungen, sie appelliert nicht nur an den Kopf, sondern auch an das Herz, den Spirit und inspiriert so die Mitarbeiter, vitalisiert sie und gibt ihnen Energie und sie ist gleichzeitig eine Handlungsanweisung, wie eine Teamvision entstehen sollte. Es gilt die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft zu wecken und nicht um eine direktive Aufgabenverteilung  – letzteres wäre Micro-­ Management. Menschen müssen die Überzeugung gewinnen, dass es sich lohnt, für die Verwirklichung dieser Vision sich anzustrengen und extra Meilen zu gehen. Wenn Sie mit Ihrem Team eine solche Vision erarbeiten, stellen Sie auch immer den Abgleich Ihrer Teamvision mit den Zielen Ihrer übergelagerten Organisation bis hin zur Unternehmensstrategie her. Zeigen Sie bildlich auf, wie die Vision Ihres Teams schlussendlich auch die Unternehmensvision und deren Strategien konsequent unterstützt. Das ist sehr, sehr wichtig um den Gesamtkontext zu verstehen und sollte daher immer wieder klar zum Ausdruck gebracht werden. So versteht jeder, warum das Erreichen Ihrer Vision so wichtig ist. Dieses Ziel, zusammen mit der Mission, gibt den Menschen den wichtigen Sinn ihres Handelns und Streben. Dann sind alle stolz darüber, ihre „eigene“ Kathedrale zu bauen.

3.7 Zielpunkte und Strategien Die Artikulation eines Vision Statements ohne nicht sofort im Anschluss die Fragen zu beantworten WAS und WIE konkret zu dessen Verwirklichung notwendig ist, wäre Halluzination. Somit ist zuerst zu klären, welche messbaren Ergebnisse dazu in 3 Jahren vorliegen müssen, um bei diesem Zeithorizont zu bleiben, und zwar nicht nur finanziell. Wie bereits erwähnt, bietet sich die Balanced Scorecard als die meines Erachtens

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beste Methode an zu einer ganzheitlichen Ergebnismessung. Im Anhang finden Sie ein fiktives Beispiel. Während bei einer Balanced Scorecard für ein Unternehmen der „gesellschaftliche Beitrag“ eines Unternehmens gemessen wird, empfiehlt es sich, für ein Team das Thema Prozesse als vierte Dimension zu verwenden. Bei der Erstellung der Messkriterien ergeben sich folgende Fragen: • Welche finanziellen Ergebnisse wollen wir dann zeigen, wenn unsere Vision realisiert ist? Für Teams können dies je nach Funktion Deckungs­ beiträge, Prozesskosten oder Kostenreduzierungen sein. • Was sagen dann Kunden über uns? Ausgedrückt in gemessener Kundenzufriedenheit, Anzahl von Reklamationen oder Reaktionszeiten. • Wie hoch ist der Level von Mitarbeiterengagement dann? Grundlage hierfür muss nicht eine unternehmensweite Zufriedenheitsumfrage sein, sondern es kann auch nur eine Mikroaufnahme im Team, ein sogenanntes „Blitzlicht“ sein. • Wie sehen dann die wichtigsten Parameter unserer Schlüsselprozesse aus? Z. B. Durchlaufzeiten, Qualitätsparameter, Verschwendung etc. Wenn diese Messgrößen fixiert sind, stellt sich automatische die Frage: Wie erreichen wir diese Ziele in drei Jahren? Welche Strategien und Initiativen müssen wir wann anstoßen, um diese sicherzustellen? Dazu später mehr.

3.8 Teamprinzipien Alles, was wir tun, und so auch ein Team, hat immer zwei Ausbringungsdimensionen: das WAS wir tun und das WIE wir es tun. Während es für uns alle immer sehr leicht ist, das Was zu bestimmen und uns auch dazu zu verpflichten, ist das Wie, d. h. das dazu unabdingbare Verhalten, sehr viel schwieriger. Das lässt sich nach meiner Meinung sehr leicht an Unternehmenswerten festmachen, über die in einem Folgekapitel noch mehr gesagt wird. Fast alle Unternehmen haben solche Werte definiert. In der Regel werden sie im Intranet des Unternehmens und auf Postern publiziert. Aber wer lebt diese?

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Bei den Teamprinzipien geht es nun genau darum, diese Werte in einem Team zu leben und das ist nach meinen Erfahrungen nur dann realisierbar, wenn sich das Team selbst – und nicht vorgegeben durch die Führungskraft! – Verhaltensregeln gibt, bei denen sich alle Teammitglieder verpflichten, diese zu leben. Als generelle Regel gilt: Alle Teamprinzipien drücken eine solche Verpflichtung aus und beginnen mit dem Wort „Wir“. Wenn z. B. ein Unternehmen Vertrauen als Unternehmenswert definiert hat, könnte ein dazu adäquates Teamprinzip lauten; „Wir halten ein, was wir versprechen“ – denn das ist eine Voraussetzung, um anderen zu vertrauen. Mehr Beispiele finden Sie im Anhang dieses Buches. Dort finden Sie auch ein sehr gutes und umfangreiches Beispiel von Teamprinzipien und auch Führungsleitlinien, die sich ein Führungsteam eines meiner Kunden gegeben hat. Ein Team, welches diese lebt, spielt wahrlich in der Champions League. Dann reden wir über exzellente Führung.

3.9 Schlüsselprozesse und Schlüsselpartner In einem Hochleistungsteam kennt jedes Teammitglied die Kernprozesse, denn wie sollte sonst ein Gesamtverständnis für das Gesamtsystem vorhanden sein? Ich muss wissen, wie mein Beitrag dazu passt und welche Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Prozesselementen bestehen. Nur so ist gewährleistet, dass ich weiß, welche Auswirkung meine Arbeit für das Team und den Gesamtprozess hat und ich bin in der Lage, autark Prozessverbesserungen anzustoßen. Das gleiche Gesamtverständnis muss auch für die Schlüsselpartner bestehen. Immer wieder geht es um Klarheit für alle im Team.

3.10 Rollen, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen Bei der Klärung dieser Punkte ist zu überprüfen, ob diese adäquat zur Vision und den unterstützenden Strategien sind, d. h. es sind Fragen zu beantworten, wie: haben wir heute alle Kompetenzen, die notwendig

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sind, um unsere Ziele zu erreichen? Wie sind die Rollen und Verantwortlichkeiten in unserem Team verteilt? Gibt es ineffiziente Überlappungen oder weiße Felder, die gefüllt werden müssen? Dazu bietet sich folgende Aufstellung an: Mitarbeiter

Rolle

Zweck

Verantwortung *

Accountability *

*Dabei ist zu entscheiden, zwischen der Verantwortung für eine Rolle und damit die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit und der Accountability, d. h. die Verantwortung, für die der Mitarbeiter haftet. In der englischen Sprache wird das klarer unterschieden. Bei diesem Abgleich sind selbstverständlich die unterschiedlichen Stärken der Teammitglieder zu berücksichtigen, mit dem Ziel, dass jedes Mitglied in einer Rolle ist, die optimal seinen Stärken entspricht. Wenn dieses Leitbild vollständig erstellt wurde, herrscht im Team eine völlige Transparenz und Klarheit über das Warum, das Was, das Wie sowie das Wer und wenn das Ganze dazu noch eingebettet ist in eine umfassende Vertrauenskultur, wird das Team zum Hochleistungsteam – Sie werden es erleben, wie ich es immer erfahren habe, sei es in meiner aktiven Führungszeit oder bei meinen Kunden, die ich bei der Erstellung eines Teamleitbildes unterstützt habe. Selbstverständlich muss ein solches Leitbild in einer dynamischen Welt ständig neu angepasst werden, genau so wie sich zum Beispiel ein Fußballteam auf jedes neue Spiel neu einstellt.

3.11 Gelebte Unternehmenswerte Es wurde bereits ausgeführt, dass die meisten Unternehmen ihre Werte artikuliert haben, oft in schönen Hochglanzbroschüren und Postern konsequent über das ganze Unternehmen verteilt. Werden sie aber genau so konsequent gelebt? Nach meinen Beobachtungen leider nein. Und warum nicht? Ganz einfach: weil niemand daran gemessen wird bzw. weil niemand Feedback bekommt, selbst dann, wenn er die Werte verletzt, oder, wenn eine Verletzung der Werte keine Konsequenzen hat. Leider gehen dabei die Führungskräfte sehr oft mit schlechtem Beispiel voran, was mich zu der harten Aussage bringt: wenn Führungskräfte die Unternehmenswerte nicht vorleben, hat das Unternehmen keine Unternehmenswerte, basta!

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Dann erzeugen sie Sarkasmus und Zynismus. Ich coachte einmal ein Führungsteam in einem mittelständischen Unternehmen und eines der Ergebnisse war, dass sich das Team Führungsleitlinien gab. Ich wurde gebeten, das Ergebnis auf Postergröße zu drucken, damit sie es in ihrem Management-Konferenzraum aufhängen können. Als ich nach drei Monaten wieder dort war, fragte ich den Assistenten der Geschäftsleitung: „Na, spüren Sie, dass sich etwas am Verhalten der Führungskräfte etwas verbessert hat?“

Er meinte: „Kommen Sie mal mit“.

Wir gingen in den Konferenzraum. Dort hing das Poster neben einem anderen auf dem gewisse Meeting-Regeln gelistet waren, u. a. Regeln, wie „Unsere Meetings beginnen pünktlich; Wir schalten unsere Mobiltelefone in Meetings aus“. Danach sagte er: „Der einzige, der grundsätzlich bei Meetings zu spät kommt, und immer wieder Telefonanrufe erhält und dann für einige Minuten den Raum verlässt, ist unser Chef – und nun können Sie sich vorstellen, wie es mit den Führungsprinzipien läuft.“

Das meine ich mit Sarkasmus und Zynismus. Dabei wäre es so einfach. Es gilt der Spruch: „Sage mir, an was Du misst – bzw. mir Feedback gibst – und ich sage Dir, wie ich mich verhalten werde“. Ein wichtiger Leitfaden, nicht nur für die Erziehung, sondern auch im Verhalten in einem Unternehmen. Der alles entscheidende Punkt, der sicherstellt, dass Unternehmenswerte top-down wirklich gelebt werden, ist folgende Botschaft an alle Mitarbeiter bei einem Leistungsgespräch, angefangen von der Unternehmensspitze über alle Hierarchiestufen bis zum letzten Mitarbeiter: Ihre Leistung wird zu 50  % beurteilt, WAS Sie geleistet haben und zu 50 % WIE Sie die Unternehmenswerte – oder die Teamprinzipien – (vor) gelebt haben.

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Leider kenne ich kein Unternehmen, welche die Botschaft konsequent so lebt. Und dann wundern sich die Verantwortlichen, dass es zu viele Pitbulls in den Organisationen gibt, die zwar sehr gutes leisten in dem, WAS sie tun, aber dabei die Unternehmenswerte ständig verletzen. Wenn ein solches Verhalten von Führungskräften vorgelebt wird, ist es nicht erstaunlich, dass dies durch die ganze Organisation Schule macht. Führungskräfte sind grundsätzlich Vorbilder, sowohl in ihrem positiven aber leider auch negativen Verhalten. Führen heißt führen mit Klarheit und Konsequenz. Das gilt insbesondere für Führungskräfte, weil sie Vorbild sind. Eine Führungskraft und wenn sie noch so gute Zahlen macht, die aber Unternehmenswerte nicht vorlebt, darf nicht toleriert werden. Ich empfehle meinen Kunden beim Coaching ihrer Führungskräfte folgende Matrix anzuwenden (siehe Abb. 3.3): Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass viele Grenzgänger im oberen linken Quadrant, die Probleme mit gelebten Unternehmenswerten haben, aber gute Ergebnisse zeigen, ihr Verhalten grundlegend ­verbessern,

Messmbare Ergebnisse

Coaching von Führungskräften mit Klarheit und Konsequenz Lebt die Werte nicht…liefert Ergebnisse

Lebt die Werte…liefert Ergebnisse

Konfrontieren

CHALLENGE

Verändern

Coachen

(„Lebe die Werte oder arbeite irgendwo anders!“)

(coachen für weitere Entwicklung)

(„Geh – arbeite irgendwo anders!“)

Lebt die Werte nicht und liefert keine Ergebnisse

(ermutigen!)

Lebt die Werte ….liefert (noch) nicht Ergebnisse

Gelebte Unternehmenswerte Quelle: Orxestra Inc. - angepasst

Abb. 3.3  Coaching von Führungskräften mit Klarheit und Konsequenz

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wenn sie erfahren haben, dass der erste Kollege seinen Führungsjob räumen musste, weil der ein schlechtes Beispiel für gelebte Unternehmenswerte war. Aber leider sind dies nur sehr wenige. Die meisten scheitern an ihren schlechten Persönlichkeitsmerkmalen und dann muss gehandelt werden. Wie heißt doch der Spruch? „the first cut is the deepest“. Daher: sind Sie mutig – es zahlt sich aus!

3.12 Vertrauenskultur Jeder wird den Satz unterschreiben, dass ein nachhaltiger Erfolg eines Unternehmens oder einer Abteilung nur mit kontinuierlichen Innovationen sichergestellt werden kann. Innovationen sind das Lebensblut von andauerndem Erfolg, aber was bedingt Innovation? Es gilt folgende Wirkungskette: Vertrauenskultur → Kreativität → Innovationen → nachhaltiger Erfolg am Markt Es beginnt mit einer Vertrauenskultur. Sie erfordert ein Höchstmaß an Autonomie für jeden Mitarbeiter, nicht grenzenlos, sonst endet es im Chaos, aber sehr viel Gestaltungsfrei innerhalb von weit gefassten Leitplanken. Jede Form von Micromanagement ist der Tod einer Vertrauenskultur. Ein Beispiel eines solchen Micromanagement habe ich von einem Jahr erfahren als ich einem Mitarbeiter eines Corporate-Start-ups eines Automobilherstellers folgende Frage stellte, um herauszufinden, wie hoch sein Freiheitsgrad in seinem Start-up-Bereich ist: „Nehmen wir an, Sie haben einen sehr wichtigen Wertschöpfungspartner in Korea identifiziert und Sie müssen diesen besuchen, um eine wichtige Vertrauensbasis aufzubauen. Wie viele Unterschriften zur Genehmigung dieser Geschäftsreise benötigen Sie von Ihrem Arbeitgeber?“

Die Antwort war „drei“. Ich war geschockt. So etwas nenne ich eine fehlende Vertrauenskultur bzw. Micromanagement, welches nicht mehr

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in die heutige Zeit passt, und erst recht nicht in ein Start-up. Warum geht es nicht einfach mit einem vereinbarten, gesamten Kostenbudget für den Mitarbeiter und er kann frei entscheiden, wie er das Geld investiert? Diese Vorgehensweise ist oft typisch für sogenannte „Corporate Start-­ ups“. Unternehmen gliedern bewusst Teams auf Zeit aus, um ihnen mehr Entscheidungsfreiheit zu geben außerhalb der oft sehr engen Schranken des Unternehmens, mit dem Ziel, bestimmte Produkt- und/oder Vermarktungsstrategien zu beschleunigen. Die Idee ist zwar gut, aber dann muss das Team auch eine sehr große Autonomie erhalten. Das kann dann Fragen aufwerfen, wie „Warum dürfen die das und wir nicht?“, aber das zu verteidigen ist auch Führung. Aber es geht auch noch schlimmer. Ein mir sehr gut bekanntes Unternehmen hatte vor einiger Zeit einen generellen Travel-freeze ausgegeben, der sogar die Reisetätigkeit von Vertriebsmitarbeiter mit einbezogen hatte, d. h. ein Flug Stuttgart zu einem Kunden in Hamburg war nicht mehr möglich, so dass der Kunden angeboten hatte, dem Vertriebsmitarbeiter ein Flugticket auf seine Kosten zu schicken – einfach unglaublich. Wenn Führungskräfte zu feige sind, bei Regeln zu differenzieren, statt den großen Rasenmäher anzusetzen, ist das ein sehr schlechter Führungsstil. Solche Hürden sind leider heute noch in vielen und besonders großen Unternehmen keine Seltenheit. Sie sind der Feind jeder intrinsischen Motivation.

3.13 Feedback Ehrliches, offenes, direktes, promptes und vor allem wertschätzendes Feedback ist das Salz in der Suppe von Mitarbeiterführung. Ich habe in all den vielen Jahren meiner beruflichen Tätigkeit nie einen Mitarbeiter in einem Unternehmen getroffen, der sich beklagt hat über zu viel Feedback. Das Gegenteil ist leider immer noch der Fall, obwohl es wahrscheinlich kein Führungstraining gibt, in dem seine Wichtigkeit nicht erwähnt wird. Alle Untersuchungen, die mir bekannt sind, so auch die von Gallup, zeigen, dass dieses Instrument immer noch viel zu selten ein-

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gesetzt wird. Aber wie können wir von einem Menschen die Fortsetzung eines positiven oder die Korrektur eines falschen Verhaltens erwarten, wenn wir ihm keine Chance über das Feedback geben? Auch im 21. Jahrhundert gibt es leider immer noch viel zu viele Führungskräfte, die meinen, dass das Feedback ausschließlich im jährlichen Mitarbeitergespräch seinen Platz haben sollte. Ich nenne ein solches Verhalten einen „Steinzeitführungsstil“. Gerade in der heutigen so dynamischen Zeit muss Feedback sofort erfolgen. Das jährliche Mitarbeitergespräch in seiner ursprünglichen Form hat dazu meines Erachtens als primäres Feedback-Ereignis ausgedient. Es passt in seiner alten Form nicht mehr in die Zeit. Jährliche Ziele zu vereinbaren ist auch mehr als obsolet, es sei denn, es handelt sich um Entwicklungsziele für den Mitarbeiter – und dazu zählt auch das Leben bzw. die Einhaltung von Teamprinzipien. Menschen arbeiten mehr und mehr in Netzwerken oder in Projektorganisationen mit öfters wechselnden Aufgabenstellungen und Führungsstrukturen. In Netzwerkorganisationen erhält das Teammitglied mehr und mehr Feedback von seinen Kollegen und nicht nur von seiner unmittelbaren Führungskraft. Dazu ist das jährliche Mitarbeitergespräch ungeeignet. Wenn ich das Thema Feedback mit meinen Klienten diskutiere, erwähne ich oft die Metapher aus dem Leistungssport und benutze das Thema des Weltklassetennisspieler Nadal. Nehmen wir an, er würde auch nur einmal pro Jahr ein Feedbackgespräch von seinem Trainer bekommen. Das wäre doch ein Witz, oder? Sein Coach gibt ihm vielmehr bei jedem Schlag mit dem Tennisschläger das nötige Feedback. Wenn das doch im Sport so selbstverständlich ist, warum schaffen wir es nicht, diese wirksame Vorgehensweise in die Unternehmen zu tragen? Das ist doch paradox, oder? Im privaten Leben bewundern wir die Hochleistungssportler und die Bedingungen, die zu ihren Höchstleistungen führen, doch wenn wir als Führungskraft die Pforte eines Unternehmens betreten, führen wir oft noch wie im 20. Jahrhundert. Das kann doch nicht sein, oder? Hier ein paar Empfehlungen zum Thema Feedback und zwar zum dem ungeplanten, informellen Feedback:

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• Geben Sie es öfters und regelmäßig, ganz gleich, ob es ein spontanes Lob oder eine Korrektur zu einem falschen Verhalten ist. Das kann ein Schulterklopfen ein kurzer Anruf oder eine Messenger-Nachricht sein. • Wenn es Ihnen bisher schwerfällt und Sie es immer wieder vergessen, setzen Sie sich eine Erinnerung in Ihrem Kalender. Es gibt keine Ausrede es zu vergessen. • Feedback muss ehrlich und authentisch sein. Falsche Lobhudelei erreicht das Gegenteil. • Denken Sie bei Feedback nicht nur an das „WAS“ ein Mitarbeiter gemacht hat, sondern geben Sie auch Feedback zu seinem Verhalten und zwar in Reflektion zu den Teamprinzipien • Denken Sie immer daran: auf ein nicht tolerierbares Verhalten nicht sofort mit einem korrigierenden Feedback zu reagieren, ist für den Mitarbeiter eine implizite Bestätigung, dass sein Verhalten in  Ordnung war.

3.14 Hochleistungsteams Wie bereits gesagt, der Sport liefert sehr viele gute Metapher und Impulse für die Erfolgsfaktoren von Teams in einem Unternehmen. Nehmen wir ein Team aus dem Fußball, das seit Jahren Höchstleistungen zeigt und daher auch folgerichtig jedes Jahr in der Champions League spielt. Wie sieht dessen Teamkomposition aus? Alles sehr starke Individualisten mit dedizierten Stärken. Der Coach des Teams und der Sportdirektor stellen zu 100 % sicher, dass jeweils der beste Spieler mit seinen Stärken auf der richtigen Position spielt. Niemand kommt auf die Idee, zum Torwart zu sagen: „Du stehst nun schon seit Jahren im Tor, wechsle doch bitte nun in die Mittelstürmerposition“. Ist es dann nicht paradox, dass es in vielen Unternehmen sehr viele Mitarbeiter gibt, die nicht nach ihren Stärken eingesetzt werden? Ist es dann ein Wunder, dass sie keine guten Leistungen bringen? Niemand kann sehr gute Leistungen bringen, wenn der Job nicht zu den Stärken passt. Daher sind nach meinen Erfahrungen Falschbesetzungen in Teams die Hauptursache für Leistungsproblemen bei Mitarbeiter. Somit müsste

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die erste Frage in einem Gespräch über mangelnde Leistungen eines Mitarbeiters sein: Liebst Du Deinen Job (noch)?

Es ist doch eigentlich sehr einfach: ich kann nur dann sehr gute Leistungen bringen, wenn ich meine Stärken einbringen kann und darf. Dann liebe ich meinen Job und niemand kann mich stoppen  – außer einer schlechten Führungskraft. Es gilt: „no performance without happiness!“ Selbstverständlich schließt das nicht aus, dass ich einmal für eine kurze Zeitspanne etwas tun muss, was nicht meinen Stärken entspricht und ich daher auch nicht mag, aber dann sollte bereits klar erkennbar sein, wann diese Phase beendet ist, sonst setzt eine Negativspirale ein. Neben einer idealen Teamzusammensetzung sehe ich noch weitere Attribute, welche Hochleistungsteams als solche auszeichnen: • Eine Mission, ein gemeinsames Ziel, eine Vision, als Orientie­ rung für alle • Teamgeist  – nur gemeinsam sind wir erfolgreich; sich füreinander einsetzen • Ein Siegeswille – ein Siegergen mit einem unbändigen Ehrgeiz • Die Verpflichtung zum Engagement – von allen ohne Halbherzigkeit • Hartnäckigkeit  – die Ausdauer und Beharrlichkeit in der Zielver­folgung • Agilität und Resilienz  – die Beweglichkeit und Belastbarkeit, sich schnell auf Neues einzustellen • Klare Regeln und Disziplin – Prinzipien die für alle gelten und die Konsequenzen bei Nichteinhaltung, z.  B. aus dem Kader für einige Zeit ausgeschlossen werden • Offenheit und Ehrlichkeit – völlige Transparenz • Konfliktbewältigung – Konflikte als Chance sehen und sofort bereinigen • Diversität  – das erfolgreiche Zusammenwirken von verschiedenen Kulturen

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• Keine oder kontrollierte Egos  – auch die größten Stars mit ihren Egos ordnen sich unter • Spaß – Freude am gemeinsamen Erfolg und diesen auch zusammen feiern Wir alle kennen Teams aus der Sportwelt, die erfolgreich sind, weil sie diese Attribute perfekt beherrschen. Warum tun wir uns so schwer, wenigstens einige davon in den Unternehmen anzuwenden? Selbstverständlich kann man nicht alles, was ein erfolgreiches Sportteam auszeichnet eins zu eins in Unternehmen tragen. Da ist z. B. die Teamzusammenstellung. Während im Sport alle Teammitglieder sozusagen handverlesen sind, übernehmen in Unternehmen die Führungskräfte in den meisten Fällen ein bereits bestehendes Team und müssen sich damit zunächst arrangieren. Das darf jedoch keine Ausrede sein, um das nicht weiter zu optimieren. Auch eine Führungskraft muss stets wissen, wer seine A, B oder C-Spieler sind, um diese individuell zu coachen. Wenn Sie großes Glück haben, werden Sie auch einmal wie ich die Chance haben, ein neues Team zusammenzustellen, sozusagen handverlesen. Dann kann Sie niemand mehr Ihren Erfolg stoppen – eine wunderbare Aufgabe. Mein Vorstandskollege bei der Initiative Zukunftsfähige Führung, Patrick Cowden, fasst die Erfolgsmerkmale von Hochleistungsgemeinschaften in seinem Buch „Neustart“ wie folgt zusammen (Cowden 2013): Erfolgsmerkmale von Hochleistungsgemeinschaften*

Alle Hochleistungsgemeinschaften – von kleinen Internetfirmen bis zu einzelnen Abteilungen großer Konzerne – tragen in sich immer wieder dieselben gemeinsamen Erfolgsmerkmale. Sieben Merkmale, die das Außergewöhnliche erst möglich machen, indem sie dem Miteinander eine neue Qualität geben.

1. In diesen Gemeinschaften werden wir alle zu Überzeugungstäter. Weil jeder von uns gleichermaßen an sich selbst glaubt, an die Mitglieder des eigenen Teams und an die gemeinsame Sache. Wir zweifeln nicht daran, dass wir gemeinsam in der Lage sind, das beste Produkt für unsere Kunden herzustellen. Dass wir die Welt besser machen können. Dass wir Weltmeister werden können. Aus diesem Glauben heraus wächst ein unerschöpfliches Reservoir an Energie.

3  Wichtige Bausteine exzellenter Führung 

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2. In diesen Gemeinschaften teilen wir die Werte, die jeder von uns von ­seinen Mitmenschen erfahren will: Respekt, Wertschätzung, Vertrauen, Toleranz und auch Freude. Und wir lassen zu, dass diese Werte von jedem Einzelnen auf persönliche Art und Weise gelebt werden können. Unsere Werte engen die individuelle Einzigartigkeit nicht ein, sondern schaffen Orientierung in einer gewollten Vielfalt. 3. In diesen Gemeinschaften pflegen wir Beziehungen über alle individuellen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg. Es ist ein starkes, dauerhaftes Geflecht persönlicher Verbindungen, in dem sich die Kraft der vielen widerspiegelt. Und in dem eine Frage immer im Mittelpunkt steht: Wie gut geht es dem anderen – meinem Kollegen, meinem Kunden? Unser Miteinander ist ein Füreinander. Denn nur wenn uns als Mensch etwas wirklich wichtig ist, dann kümmern wir uns darum, setzen uns für den anderen mit aller Kraft ein und sind bereit, Opfer zu bringen. 4. In diesen Gemeinschaften kombinieren wir fachliche Kompetenz mit emotionaler Intelligenz. Das, was wir tun, wollen wir so gut wie möglich beherrschen. Wir kennen unsere Techniken, unsere Zahlen bestens. Aber damit hört es nicht auf, sondern fängt es erst an. Wir verbinden technologisches Wissen mit Mut und machen daraus Innovationen. Wir kombinieren Produkte mit Empathie und schaffen dadurch dauerhaft loyale Kunden­ beziehungen. Wir koppeln das Know-how für Prozesse mit unserer eigenen Motivation – und erbringen dadurch die bestmögliche Performance. 5. In diesen Gemeinschaften nehmen wir jede Herausforderung an. Bei einer Bedrohung von außen oder einer überraschenden Chance bewirkt der innere Zusammenhalt, das Vertrauen darauf, dass jeder für den anderen alles geben wird, vor allem eines: die unglaubliche Energie, über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen. 6. In diesen Gemeinschaften können wir alles erreichen. Unsere Dynamik, unsere Verbundenheit, unsere Begeisterung bündelt sich in einer Energie, die uns aus unserem Umfeld herausstechen lässt. Weil wir damit Ergebnisse erzielen, die alles andere in den Schatten stellen. 7. Und in diesen Gemeinschaften scheitern wir. Immer wieder. Weil wir Mut haben, Risiken einzugehen. Um nach Niederlagen zusammen wieder aufzustehen: stärker und besser als zuvor. * Aus dem Buch „Neustart“ von Patrick Cowden.

4 Selbst-Führung – die elementare Voraussetzung, um andere zu führen

4.1 Die „7 Wege zur Effektivität“ „In jedem Moment unserer Existenz sind wir dazu aufgerufen zu führen, selbst wenn es lediglich dem Zweck dient, uns selbst zu führen.“ (John Strelecky 2012)

Aus tiefster Überzeugung sage ich, nur wer sich selbst führen kann, darf andere führen. Ich habe einfach zu viele schlechte Führungskräfte erlebt – und tue das heute noch – die eine geradezu katastrophale Wirksamkeit auf ihre Teams und Organisationen haben. Da gibt es immer noch Despoten, hochgradige Narzissten und zur Führung unfähige Typen, die andere Menschen auf das Höchste frustrieren. Das traurige dabei ist, dass dies alle in ihrem Umfeld wissen und sie dennoch in ihren Funktionen belassen werden bis sie in der Regel altersbedingt aus dem Unternehmen ausscheiden. Daher muss der Fokus bei der Auswahl von Führungskräften in erster Linie auf deren Persönlichkeit liegen. In seinem Bestsellerbuch „Die 7 Wege zur Effektivität – Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg“ hat Stephen Covey (2004) diese wichtigen Prinzipien sehr gut be© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_4

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schrieben, die meines Erachtens ein Muss sind besonders für Führungskräfte, denn Führungskräfte sind Vorbilder, ganz gleich ob sie verbal oder non-verbal kommunizieren. Übrigens, auch Schweigen zu einem nicht tolerierbaren Verhalten ist Kommunikation. Das erste Prinzip, das Covey nennt, ist Pro-aktiv sein. Ein pro-aktives Verhalten zeigt sich, dass man Problemen nicht aus dem Weg geht oder sie ignoriert, sondern pro-aktiv angeht. Das Gegenteil wäre, bei Problemen immer einen Schuldigen suchen oder Probleme auszusitzen, Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Gerade letzteres Verhalten führt zur großen Frustration bei Mitarbeitern. Bei auftretenden Problemen, sowohl im beruflichen als auch privaten Umfeld, gibt es grundsätzlich nur drei Handlungsalternativen: das Pro­ blem aktiv zu lösen, d.  h. zu ändern, dem Problem aus dem Weg zu ­gehen, zu ignorieren bzw. davonzulaufen, oder das Problem bzw. die ­Situation anzunehmen. Für mich selbst habe ich bereits vor Jahrzehnten das geradezu philosophische Mantra internalisiert: change it – leave it – love it!

Es ist ein wichtiger Bestandteil bei meinen Vorlesungen, Coachings und Beratungen. Ich nenne es die „ultimative Formel zum glücklicheren Leben“. Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr hat sie in seinem „Gelassenheitsgebet“ so formuliert: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Unser größter Hebel für unsere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit ist unsere persönliche Einstellung. Jeden Morgen nach dem Aufwachen haben wir die sehr persönliche Freiheit, uns über unsere Einstellung für den Tag zu entscheiden. Wir und nur wir selbst entscheiden mit unserer Einstellung darüber. Sehen wir die Welt positiv bzw. das Glas immer halb voll oder immer halb leer und damit negativ. Sie haben sicher schon Länder bereist, in denen viele Menschen sehr arm und doch relativ glücklich

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sind. Warum? Weil sie nicht die hohen Erwartungen der Menschen in reichen Ländern haben. Zufriedenheit ist also der Quotient von Erreichtem über Erwartetes, d. h. wir steuern mit unseren Erwartungen unsere Zufriedenheit. Wenn wir immer mehr unsere Erwartungen hochschrauben, ist die Unzufriedenheit vorprogrammiert. Umkehrschluss: wenn wir einfach unsere Erwartungen etwas heruntersetzen, sind wir glücklich. Wie viele Menschen sehen sich selbst im relativ höheren Erwachsenenalter noch als Opfer ihrer Vergangenheit und artikulieren ihren Frust mit Fragen, wie z. B. „Ach, hätte ich doch andere Eltern oder Lehrer gehabt?“ Diese ungelösten Vergangenheiten und Traumas sind Gift für ein Leben im heute und jetzt und die Wartezimmer der Psychotherapeuten sind voll mit diesen Menschen. Die „ultimative Formel zum glücklicheren Leben“ pro-aktiv vorzuleben und sie immer wieder gegen Nörgler und Berufspessimisten einzusetzen, ist gelebte Führung. Alles andere ist für das Team fatal. Führungskräfte sind nun mal keine Klassensprecher, die Probleme ungefiltert aufnehmen und sie sogar verstärken. Machen Sie sich immer wieder klar, dass es nur diese drei Alternativen. Mein Vorschlag: Beginnen Sie noch heute, diese Formel einzusetzen, am besten starten Sie in Ihrem privaten Umfeld und reflektieren Sie am Abend vor dem Einschlafen, wie oft es Ihnen gelungen ist, dadurch unnötigen Ärger zu vermeiden. Das zweite Prinzip ist Schon am Anfang das Ende im Sinn haben. Und das beginnt zuerst bei uns selbst bzw. besonders für eine Führungskraft. Am Anfang steht die wichtige, ganz persönlichen Frage „was ist der Zweck meines Lebens?“, wozu bin ich auf dieser Welt, was will ich der Welt hinterlassen, wenn ich nicht mehr bin? Welchen Ruf nehme ich wahr, wenn ich ganz tief in mich hineinhöre? Auf diese Fragen gibt es keine leichten Antworten. Nach meiner Erfahrung tun sich viele Menschen schwer bei der Suche nach ihrer Mission bzw. dem Zweck Ihres Lebens. In einer meiner vielen Ausbildungen haben wir dazu folgende, sehr tief gehende Übung gemacht: Schreiben Sie Ihren eigenen Nachruf für den Fall Ihres Sterbens. Was sollte dann die Welt über Sie sagen? Welche bleibenden Fußspuren wollen Sie hinterlassen? Spüre ich bei der Beantwortung der Fragen zum Beispiel eine Bestimmung für andere da sein, ein Kümmerer für meine Familie, für ein Team,

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für die Gesellschaft? Eine Führungskraft muss ein Kümmerer sein, eine Persönlichkeit, der es tiefe Freude bereitet, mit Menschen umzugehen, ihnen zu helfen, sie zu entwickeln. Eine Lebensmission „ich will glücklich sein und viel Geld verdienen“ taugt da nichts. Die Klärung dieser Frage ist DER wichtigste Startpunkt für eine Führungsrolle. Wer hier mit sich im Reinen ist, dem fällt es sehr leicht, auch eine Mission, einen „purpose“, für sein Team oder seine Organisation zu entwickeln. Im Anhang finden Sie eine Liste von Fragen zum Thema „Sinnvoll leben“, die ich dem Buch von Alfried Längle (2007) entnommen habe. Er war mein Lehrmeister in meiner Ausbildung zum Existenzanalytischen Coach. Das dritte Prinzip ist Das Wichtigste zuerst tun. Die sogenannte Eisenhower-Matrix (siehe Abb.  4.1) unterscheidet die 2 Dimensionen wichtig und dringend und sie gibt Handlungsempfehlungen für die 4 Quadrate.

Abb. 4.1  Eisenhower-Matrix. (Quelle: Wikipedia)

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Für Führungskräfte ist die obere linke Box sehr wichtig, denn gerade bei ihnen besteht die große Gefahr, dass sie sich im rechten oberen Quadrat verlieren und all ihre Zeit in diesem Hamsterrad verbringen, statt sich Zeit zu nehmen für die Dinge, die wichtig aber noch nicht dringend sind. Dazu zählen Gespräche mit Mitarbeiter, Reflektionen über die eigene Wirksamkeit als Führungskraft und Zukunftsarbeit für die langfristige Absicherung des eigenen Teams bzw. der Organisation. Wenn diese drei ersten Prinzipien gelebt werden, nennt Covey dies als die Entwicklung von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit, den privaten Erfolg. Dann habe ich die Fernbedienung für mein Leben in meiner eigenen Hand und bin nicht mehr fremdgesteuert. Ich übernehme Verantwortung für mein Leben und mache nicht andere für die Probleme in der Vergangenheit haftbar. Diese persönliche Unabhängigkeit ist aber nicht ausreichend, denn wir sind nicht allein auf dieser Welt als Einsiedler, sondern müssen mit anderen Menschen kooperieren zu einem größeren Ganzen. Und hier liegt eine ganz besondere Herausforderung in einer immer mehr globaler werdenden Welt. Das vierte Prinzip nennt Covey das Gewinn/Gewinn denken. Es geht darum – wie das Prinzip es ausdrückt – um win/win-Lösungen im Falle von unterschiedlichen Positionen. Dies lässt keinen Raum für Narzissten und Egomanen, die immer mit dem Kopf durch die Wand wollen. Kollaboration ist das Schmiermittel in einer immer mehr vernetzten Welt. Konflikte gibt es immer, aber entscheidend ist, wie sie ohne Verlierer gelöst werden. Dazu hilft auch das fünfte Prinzip, Erst verstehen, dann verstanden werden, eine Haltung, welche Empathie einfordert, die Fähigkeit, mich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. In einem empathischen Ansatz gibt es im Falle einer abweichenden Meinung nicht das Todschlagargument „Das ist Mist, da bin ich nicht einverstanden“, sondern die empathische Rückfrage, wie zum Beispiel: Das ist eine sehr interessante Meinung, bitte hilf mir zu verstehen, wie Du dazu kommst.

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Während die erste Antwort die sogenannte Amygdala aktiviert, den Mandelkern im limbischen System unseres Gehirns, mit den Coping-­ Reaktionen „fight, flight or surrender“, werden mit der zweiten Antwort die negativen Emotionen vermieden. Gerade bei Konflikten unter oft testosteron-gesteuerten männlichen Kontrahenten kommt überwiegend dann der Kampfmodus der Amygdala zur Anwendung, der keine Pro­ bleme löst, sondern sie eher unlösbarer macht. Ohne Empathie und Mitgefühl gibt es keine wertbringende Zusammenarbeit. Leider zeigen sehr viele Führungskräfte nur zaghaft echtes Mitgefühl für die Menschen, die sie führen, jedenfalls nicht so, wie sie das bei Freunden oder Angehörigen tun würden. In einer Gallup-Studie wurden über 10  Millionen Menschen zum Thema „Mein Vorgesetzter … interessiert sich für mich als Mensch“ befragt. Dabei stellte sich heraus, dass Personen, die diesem Satz zustimmten, • • • •

signifikant häufiger in ihrem Unternehmen bleiben, wesentlich mehr emotional gebundene Kunden haben, erheblich produktiver sind und dem Unternehmen mehr Gewinn bringen

Synergien schaffen ist das sechste Prinzip. Eine vorbildliche Führungskraft trifft seine Entscheidungen nicht im stillen Kämmerlein, sondern holt zuvor die Inputs seiner Teammitglieder ein. Das gilt insbesondere für Entscheidungen, die das Team betreffen. So geht Führung auf Augenhöhe und nur dann ist die Summe der Teile größer als das Ganze. Schließlich das siebte und letzte Prinzip lautet die Säge schärfen. Damit ist eine permanente Selbstreflektion der Führungskraft bezüglich seiner ganzheitlichen Persönlichkeit und deren Wirkung auf andere gemeint. Covey bezieht das nicht nur auf den Geist, sondern auch die Dimensionen Körper, Seele und Esprit. Wir sind nun mal ganzheitliche Wesen und sind nur dann in unserer Mitte, wenn alle Dimensionen im Einklang sind. Auf einen einfachen Nenner gebracht heißt Führung nicht nur Aktion, sondern auch regelmäßige Reflektion. Ohne Reflektion lernen wir nicht. Führungskräfte, welche diese sieben Prinzipien vorleben, werden als starke, authentische Persönlichkeiten wahrgenommen. Ihnen ist ein

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Charisma zu eigen. Vielleicht kennen Sie bereits welche. Mitarbeiter sind sehr sensibel in ihren Beobachtungen auf das Verhalten ihrer Führungskraft. Der Imperativ für ihr Verhalten lautet simpel: Verlange nie von Deinen Mitarbeitern ein Verhalten, das Du nicht selbst vorlebst. Wasser zu predigen und selbst Wein trinken, hat katastrophale Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit einer Führungskraft, wie auch eine Lüge. Glaubwürdigkeit ist wie eine kostbare chinesische Vase, wenn sie kaputt geht, kann man sie nicht mehr reparieren. Daher ist „walk your talk“ oder „tue was Du sagst“ unabdingbar. Viele Führungskräfte sind sich der Dramatik nicht bewusst, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Wenn das geschieht, wäre es besser, sie verlassen das Unternehmen, denn so etwas spricht sich herum. Mitarbeiter verlieren ihr Vertrauen und damit ist die grundlegende Basis von Führung für immer zerstört.

4.2 Die 4 Grundmotivationen des Lebens Man kann Coveys 7 Prinzipien auch ergänzen um die vier Grundmotivationen der Existenzanalyse von Viktor Frankl. Sie liefern Ergänzungen und zusätzliche Betrachtungsweisen über die Dimensionen einer authentischen Führungspersönlichkeit. Ziel und zentrales Wirkelement der Existenzanalyse ist die Herstellung einer inneren und äußeren dialogischen Offenheit, in der die Person ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen kann. Die 4 Grundmotivation fokussieren dabei auf 4 Arten von „Können“, aus denen sich detaillierte Fragen immer wieder ergeben. 1. 2. 3. 4.

SEIN-KÖNNEN (Was gibt mir Halt und Sicherheit) MÖGEN-KÖNNEN (Werte haben, die mich berühren) DÜRFEN-KÖNNEN (Selbst sein und Selbstwert) SOLLEN-KÖNNEN (Wofür will ich leben)

Das Ergebnis dieser Fragen ist ein echtes, ganzheitlichen WOLLEN, eine innere Zustimmung. Eine Führungskraft, welche diese 4 Fragen bzw. Ankerpunkte für sich geklärt hat, wird als starke Persönlichkeit und Vorbild wahrgenommen und erhält eine sehr hohe Akzeptanz von ihrem

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Team. Das sind Menschen, die strahlen eine geradezu magische Anziehungskraft aus, viele wollen in deren Team mit hohem Engagement und intrinsischer Motivation arbeiten, so meine Erfahrung. Führungskräfte müssen eine positive Ausstrahlung haben, weil Mitarbeiter einfach nicht von negativen Menschen geführt werden wollen. Es ist sehr wichtig, diese 4 Grundmotivationen vor einer Entscheidung für eine neue Führungsposition heranzuziehen, so z. B. die 2. Grundmotivation mit der Frage: „kann ich in dem neuen Umfeld meine Werte leben“ oder die 4. Grundmotivation mit der Frage: „entspricht die neue Aufgabe der Mission meines Lebens? Zieht es mich in meinem tiefsten Inneren in diese Rolle?“

5 Onboarding

5.1 Auf zu neuen Ufern „Culture eats Strategy for Breakfast“. Dieses Zitat von Peter Drucker sagt alles: Die Kultur eines Unternehmens ist das (fast) alles Entscheidende. Sie ist entscheidend ob eine Strategie erfolgreich umgesetzt wird oder werden kann. Ich wage die Behauptung, dass die meisten Fehlschläge für Veränderungen in ihrer Mehrheit daran gescheitert sind, weil die Unternehmenskultur im Wege stand und man deren wichtigen Einfluss auf das Gelingen völlig unterschätzt hat. Auch für eine neue Führungskraft entscheidet die Unternehmenskultur, ob sie sich in ihr entfalten kann, um zur Höchstleistung aufzulaufen oder nicht. Und an diesem Mismatch zwischen Unternehmenskultur und ganz persönlichen Wertvorstellungen und Lebensziele scheitern sehr viele neue Führungskräfte. Schmerzhaft müssen sie nach einer gewissen Zeit, nachdem sie in ihrem Job sind, erkennen, wie viele unüberbrückbar Hindernisse sie in ihrer Entfaltung blockieren. Ein Abgang ist dann die logische Konsequenz, denn „change it“ für die Unternehmenskultur ist völlig illusorisch, ein „love it“ würde krank machen, und so bleibt nur ein „leave it“. Ergo: „it’s the culture stupid!“ © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_5

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5.2 Persönliche Werte Jeder Mensch hat persönliche Werte, bewusst oder unbewusst, die unverhandelbaren Grundsätze, die wir nicht über Bord werfen, weil sie uns wichtig sind. Sie sind das Ergebnis unserer Erziehung und unserer Vergangenheit. In meiner Coachingtätigkeit ist es immer sehr erstaunlich, wenn nicht sogar erschreckend, wie wenig Menschen, selbst im Alter über 40 Jahren, ihre Grundwerte nicht spontan nennen können und wenn doch, dann maximal 2 bis 3. Ganz erstaunlich waren immer chinesische Stunden in meinen Vorlesungen. Die konnten mit dem Wort Werte überhaupt nichts anfangen. Wie kann es sein, dass so viele von uns diesen wichtigen Wertekompass nicht zur Hand haben, obwohl er doch so viel über unsere Zufriedenheit entscheidet? Dabei ist es so einfach sich über seine Werte bewusst zu werden. Wenn wir uns über etwas ärgern, so liegt es in der Regel daran, dass einer unserer Grundwerte verletzt wurde. Und dies gilt sowohl im privaten als auch beruflichen Kontext, denn Werte sind allgemein gültig. Wir geben sie nicht ab, wenn wir das Gebäude des Unternehmens betreten, in dem wir arbeiten. Daher ist eine der wichtigsten Frage vor der Entscheidung für einen neuen Job oder eine neue Führungsaufgabe: Kann ich dort meine persönlichen Grundwerte leben oder werden sie dann permanent verletzt? Beispiel: Wenn einer meiner Grundwerte Autonomie ist, aber ich weiß, dass in einem Unternehmen oder einer Organisation das pure Micro-­ Management herrscht – und sei es nur durch meinen direkten Vorgesetzten, und ich so gut wie nichts selbst entscheiden kann, darf ich in einem solchen Umfeld auf keinen Fall einen Job annehmen. Alles andere führt zu täglicher Frustration und früher oder später zum Therapeuten oder zu einer psychosomatischen Krankheit. Ja, das habe ich alles bereits bei Kollegen erlebt. Ein weiteres Beispiel: Wenn einer meiner Grundwerte Ehrlichkeit ist, kann es nicht gut gehen, wenn ich in einem Job bin und/ oder einen Vorgesetzten habe, der mir vorgibt, im Verkaufsgespräch meine Kunden zu belügen, eine Situation, wie sie leider nicht selten vorkommt. Das Wissen um die eigenen Werte und der Abgleich, ob ich diese in einem Unternehmen oder Organisation leben kann, ist ein entscheiden-

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der Faktor für die Jobzufriedenheit und damit auch zum persönlichen glücklich sein. Nach meinen Erfahrungen tun sich auch viele, gerade junge Menschen schwer, deren wichtiger Grundwert Gestaltungsfreiheit ist, in einem börsennotierten Unternehmen zu arbeiten, wie ich es auch erlebt habe. Die Kurzfristigkeit in deren Quartalsdenken, ausgelöst durch den Druck der Börse, ist so stark und präsent, dass allzu oft sehr gute Entscheidungen in Richtung nachhaltiger Zukunftssicherung in den Hintergrund gedrängt werden. Das führt zu viel Frustration und es ist sehr schwer für eine Führungskraft, diese Dominanz von sehr kurzfristigen Prioritäten über notwendige, langfristige, dem Team zu vermitteln. Diese Problematik taucht in der Regel nicht auf in Unternehmen, hinter der eine Familie oder eine Stiftung steht, wie es z. B. bei der Firma BOSCH der Fall ist. Generell tun sich da mittelständische Unternehmen leichter.

5.3 Die Mission des Lebens Die gleiche kritische Frage der Kompatibilität zwischen den Unternehmenszielen und meinen Lebenszielen stellt sich auch für meinen Lebenszweck: kann ich in dem neuen Unternehmen die Mission meines Lebens verwirklichen oder nicht? Beispiel: Wenn der Daseinsgrund meines Lebens ist, eine glückliche Familie zu haben und für diese immer da zu sein, so ist ein Job in einem Beratungsunternehmen, welches einen Einsatz von 70 Stunden, inklusive Wochenendarbeit einfordert, nur sehr schwierig mit dieser Mission kompatibel. Obwohl das jedem einleuchtet, ist es immer wieder überraschend, wie viele Menschen diesen Abgleich nicht vornehmen, was oft zu sehr viel Unglücklichsein führt. Wir haben nun mal nur dieses eine Leben und wir selbst sind „des Glückes Schmied“. Da wir einen sehr großen Teil unseres Lebens in Arbeitsverhältnissen verbringen, müssen wir selbst entscheiden, in welcher Kultur wir uns verwirklichen können und wollen und zwar so, dass es auch ein erfüllendes Leben neben der Arbeit gibt. Im Japanischen gibt es eine sehr treffende Definition für den Lebenssinn, dargestellt als die Schnittmenge von vier Einflussgrößen (siehe Abb. 5.1).

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Abb. 5.1  Definition für den Lebenssinn

Werden Sie sich sicher, worin Ihr Lebenssinn besteht. Menschen, die Sterbebegleitung machen, sagen oft, dass sie noch nie erlebt haben, dass ein Mensch in seinen letzten Stunden gesagt oder bedauert hat „Ach, hätte ich mich doch mehr in der Firma und in meinem Job engagiert und mehr Zeit mit meinen Kunden verbracht“. Viel mehr und öfters ist es das Bedauern, nicht noch mehr Leben seinen Lieben geschenkt zu haben.

5.4 D  ie Schlüsselfrage: Zieht es mich in eine Führungsaufgabe? In der Vergangenheit sind sehr viele Menschen regelrecht in Führungsrollen reingestolpert. Eines Tages kam ein Vorgesetzter und fragte: „wir suchen für die Abteilung X einen Vorgesetzten und haben dabei an Dich ge-

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dacht.“ Aus meiner Erfahrung wage ich die Behauptung, dass die überwiegende Mehrzahl diese Frage mit Ja beantwortet haben. Ich treffe solche Vorgesetzte immer noch an in den Unternehmen an, in der Regel sind sie mehr als 50 Jahre alt. Wenn sie Glück hatten, wurden sie auf ein „Schnellbleiche-Führungsseminar“ geschickt und das war es auch an Entwicklungsmaßnahmen. Aber die Welt hat sich verändert und der Anspruch der Mitarbeitenden auch. Viele von ihnen – leider viel zu viele – machen mehr schlecht als recht ihren Führungsjob und frustrieren vor allem junge Mitarbeiter. Sie kommen nicht mehr klar in der schnellen Welt von Globalisierung und Digitalisierung, sind völlig überfordert mit der Häufigkeit, Dynamik und Konsequenzen von Veränderungen. Das tragische dabei ist, dass man sie immer noch in Führung lässt, obwohl sie, wenn man sie fragen würde, keine Lust mehr haben auf Führung. Und dabei wäre es doch so einfach. Fast alle von ihnen haben sehr viel Erfahrung und Fachwissen gesammelt, auf die man sie als Experten oder fachliche Coaches fokussieren könnte. Ich habe immer wieder festgestellt, dass die Menschen glücklich waren, wenn eine solche Lösung gefunden wurde. Dies schaffte Raum und Platz für junge Führungstalente, die mit viel Leidenschaft und Vorbild Teams zu Höchstleistungen inspirieren konnten. Für junge Menschen heißt das, in sich sorgfältig hineinzuhören, ob es einen inneren Ruf nach einer Führungsaufgabe gibt. Es gibt sehr viele, die schon früh einen solchen Ruf erspürt haben. Man findet sie unter ehemaligen Klassensprecher, Jugendgruppenleiter, Spielführer oder Trainer in Sportclubs etc. Es gibt aber auch Menschen, die noch nie in ihrer Jugend einen solchen Ruf vernommen haben. Diese müssen ganz besonders intensiv reflektieren und sich folgende Fragen beantworten: • Bin ich von Natur aus eher ein Optimist oder ein Pessimist? Sehe ich das Glas generell eher halb voll oder halb leer? Wenn Sie diese Frage beantworten: „ich bin eher immer mehr pessimistisch als optimistisch“, ist das kein Defekt Ihrer Persönlichkeit oder Ihres Charakters, aber dann ­sollten Sie unbedingt die Finger von einer Führungsposition lassen. Führungskräfte MÜSSEN als Vorbild grundsätzlich Optimisten sein. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Vorgesetzten, der bei jedem Problem

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anfängt zu jammern und schwarz zu malen. Wäre das für Sie der perfekte Chef? Gute Führungskräfte ignorieren Probleme nicht, aber sie sehen sie als Herausforderungen, denen man mit der bereits genannten Devise „change it – leave it – love it“ begegnen und auch entscheiden muss. • Bin ich ein Kümmerer? Liegt es mir am Herzen, andere zu helfen und habe ich dies bisher in meinem Leben bewiesen – in meiner Familie, mit meinen Freunden, mit meinen Kollegen? • Macht es mir Spaß, andere Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern? Wie für jeden Job gilt gerade für eine Führungsaufgabe der Imperativ: Mache nur einen Job, wenn er Dir Spaß macht. Diese Regel ist in der Tat äußerst wichtig für die Jobzufriedenheit. Niemand kann einen Job über die Dauer gut machen, wenn sie/er ihn nicht mag. Das setzt eine Negativspirale in Kraft. Umgekehrt ist es ein Katalysator für Glücklichkeit und Zufriedenheit, wenn ich meinen Job liebe. Leider ist die Erkenntnis über die negativen Auswirkungen eines ungeliebten Jobs nicht sehr weit verbreitet. Vielmehr akzeptiert man, dass es viele Mitarbeiter gibt, die am Montag schon auf den Freitag warten und bereits 10 Jahre vor Eintritt in die Rente die Tage zählen, wie lange sie noch arbeiten „müssen“ – ein für mich erschreckendes Szenario. • Könnte es zu meiner Lebensmission werden, anderen Menschen in Ihrer Entwicklung zu helfen? Ich selbst habe diese Fragen bereits vor sehr vielen Jahren mit einem klaren Ja beantwortet. Es wurde und ist noch immer meine Lebensmission. Für mich traf das zu, was John Strelecky in seinem sehr zu empfehlenden Buch „The big Five for Life – Was wirklich zählt im Leben“ (Strelecky 2012) beschreibt: Erfolgreiche Führungskräfte beginnen etwas, das so stark mit ihrem Zweck der Existenz verknüpft ist, dass die Aufgabe nicht nur eine Chance, sondern auch eine persönliche Notwendigkeit für sie ist. Sie haben genug Vertrauen in ihre Fähigkeiten, dass sie sich durch den Erfolg ihrer Mitarbeiter bestätigt und nicht etwa bedroht fühlen. Sie fördern andere, anstatt sie unten zu halten, sie inspirieren, anstatt einzuschüchtern, sie lehren, anstatt zu blockieren, und sie rechnen mit Erfolg, anstatt sich vor dem Scheitern zu fürchten.

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Wenn auch Sie die oben genannten Fragen mit einem klaren Ja beantworten können und eine Führungsaufgabe übernehmen, spürt Ihre Umgebung das, denn dann reden Sie über Ihren Job mit leuchtenden Augen und Sie versprühen eine Leidenschaft, die Sie klar differenziert. Dann ist Ihnen auch nicht mehr Ihre eigene Karriere das wichtigste, sondern die Entwicklung Ihrer Mitarbeiter, vielleicht sogar so, dass sie stolz sind, wenn sie ihnen auf der Karriereleiter vorbeiziehen, wie es mir gelungen ist. Zwei meiner ehemals sehr jungen Mitarbeiter, deren großes Potenzial ich sehr früh erkannte, habe ich von Anfang an so konsequent gefördert und unterstützt, dass sie mich auf meiner Karriereleiter überholt haben. Beide wurden Senior Vice Presidents im Unternehmen während ich „nur“ Vice President blieb und einer von den beiden wurde sogar 20 Jahre später, nachdem ich ihm in seinen frühen Jahren geholfen habe, meinen Bereich zu verlassen, um schneller voranzukommen, mein Chef. Er sagte am ersten Tag des Wiedersehens zu mir: „Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass Du ein ausgezeichneter Vorgesetzter warst und nun brauche ich Dich mit Deinen starken Führungsfähigkeiten in meinem Team, um eine weltweite Organisation aufzubauen und zu führen.“

Dieses Erlebnis wurde ein wichtiger Teil meiner Erfahrungen, die ich in meinen Coachings weitergebe, so z. B. mit den Worten: Behandle Deine Mitmenschen immer so, wie Du selbst behandelt werden willst, denn man sieht sich immer zweimal im Leben.

5.5 O  nboarding Tipps, die für alle Szenarien zutreffen Sie stehen nun vor Ihrer ersten oder neuen Führungsaufgabe. Es gibt ein paar wichtige Punkte, die für alle Onboarding-Szenarien zutreffen, ganz gleich ob es Ihre erste Führungsrolle ist, eine im Unternehmen, in dem Sie bereits tätig sind, oder ob Sie in einem neuen Unternehmen eine Führungsrolle übernehmen. Folgende Schritte sollten Sie in allen Szenarien beachten, damit es ein ausgezeichnetes Onboarding wird:

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Onboarding Tipps 1. Holen Sie sich so viel Informationen wie nur möglich und erreichbar über Ihr neues Team und den neuen Bereich ein. Was ist dessen Charter und Wertschöpfung; was ist die aktuelle Situation bzw. das Leistungsniveau? Wie sind die Kultur und das Klima? Können Sie sich damit identifizieren bzw. haben Sie eine reelle Chance, sich darin zu verwirklichen? Falls Sie bei all Ihrem Optimismus große Bedenken haben, Finger weg. 2. Ist es eine neue Führungsstelle oder gab es einen Vorgänger für Ihre Stelle? Falls ja, was war sein Führungsstil? Wie lange war er oder sie auf dieser Position. Was ist überhaupt die Führungskultur in dem Unternehmen, falls es neu für Sie ist? Erfahren Sie vorab etwas über ihr neues Team und seine Mitglieder. Wie ist deren Stimmung? Was sind die aktuellen und kurzfristigen Herausforderungen des Teams? 3. Terminieren Sie 2 Meetings für Ihren ersten Tag, eines mit Ihrem Vorgesetzten und eines mit Ihrem Team. Falls dieses an verschiedenen Standorten ist, laden Sie zu einer Videokonferenz ein. Machen Sie in der Einladung klar, dass dies ein Pflichttermin ist. Falls Sie in der neuen Position eine Admin Assistant bzw. Sekretärin zu Seite haben, wird sie Ihnen sicher dabei helfen. 4. Bereiten Sie sich sehr gut auf Ihren ersten Tag vor. Er wird für lange Zeit Ihr wichtigster in Ihrer neuen Führungsrolle sein. Planen Sie sehr sorg­ fältig Ihre ersten beiden Besprechungen, welche für Sie wichtigen Botschaften wollen Sie senden. 5. Klären Sie in Ihrem Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten: welche Er­ wartungen hat er an mich bzw. an mein Team; welche Kompetenzen habe ich? In welcher Häufigkeit soll ich ihm berichten? Es empfiehlt sich, dass dies in den ersten 6 Monaten monatlich der Fall sein sollte. Sind Sie nicht überrascht, wenn Ihr Vorgesetzter auf diese Fragen nicht vorberei­ tet ist. Ist das ein Problem? Nein – im Gegenteil – dann kommen Sie auf ihn zurück, sobald Sie Klarheit über Ihr Team und Ihren neuen Bereich haben und präsentieren ihm Ihre Pläne. Die Situation hatte ich relativ oft und ich habe es genossen, dass ich die Strategien vorschlagen durfte und ich fand immer die Zustimmung zu meinen Ideen 6. Während das Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten nicht unbedingt am ers­ ten Tag stattfinden muss, zumal es durchaus möglich ist, dass er an die­ sem Tag nicht erreichbar ist, muss die erste Besprechung mit Ihrem Team unbedingt am Tag eins erfolgen. Nach meinen Erfahrungen unterschät­ zen sehr viele Führungskräfte die große Bedeutung der ersten Be­ gegnung mit ihrem Team. In der Tat war es erschreckend, wie viele ­meiner Coachees einfach gedankenlos in ihre wichtige Aufgabe reinge­ stolpert sind. Irgendwann in den ersten Wochen fanden sie es dann für notwendig mit ihrem Team Kontakt aufzunehmen  – welch ein Fehler.

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Viele stürzen sich zuerst daran, selbst und ohne Unterstützung der Mitarbeiter sich einen Überblick über die Abteilung bzw. Organisation zu machen. 7. Ihre erste Ansprache an Ihr Team ist vielleicht das wichtigste Ereignis, das für eine gewisse Zeit über Ihre Wirksamkeit als Führungskraft entschei­ det, denn der erste Eindruck, welchen das Team von Ihnen erhält, ist der wichtigste. Wie heißt es doch so passend und wahr? There is no second chance to make a first impression! (Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck). Dabei ist es doch so einfach, sich mit nur etwas Empathie in die Mitarbeiter reinzudenken. Was liegt denen am Herzen? Natürlich wol­ len sie wissen, wer Sie sind und vor allem was Sie mitbringen, woraus sich schließen lässt, warum gerade Sie die Stelle bekommen haben. Bereiten Sie diese Ansprache sehr gut vor. Drei Faktoren spielen dabei eine sehr große Rolle sowohl was den Inhalt betrifft, aber auch die Art und Weise wie Sie diesen vermitteln: Vision, Disziplin und Leidenschaft. Ich habe daraus die sogenannte Formel exzellenter Führung entwi­ ckelt. Merken Sie sich diese gut. Sie sollte Sie grundsätzlich immer be­ gleiten. Sie lautet:



Exzellente Führung = Vision x Disziplin x Leidenschaft Die Formel bündelt meine Führungserfahrung, denn diese drei Ele­ mente machen meines Erachtens exzellente Führung aus. Angewandt auf Ihre erste Ansprache heißt das: Ihr Team erwartet von Ihnen eine in­ spirierende Zukunftsvision, welche dem Team gleich einem Nordstern die Richtung für eine bessere Zukunft aufzeigt. Disziplin zeigt sich in gelebten Unternehmenswerten plus Klarheit und Konsequenz in der Führung. Schließlich ist eine authentische Leidenschaft von großer Bedeutung, um andere für eine Idee anzuzünden. In dem berühmten Video „The Golden Circle“ von Simon Sinek wird diese Notwendig sehr schön aufgezeigt. Dazu mehr in einem der folgenden Kapitel. Und wie in einer mathematischen Formel, darf keiner der drei Faktoren Null sein, sonst ist es keine exzellente Führung, denn stellen Sie sich eine Führungskraft vor, die z. B. sehr trocken und leidenschaftslos über die Notwendigkeit einer besseren Zukunft redet. Das reißt nie­ mand vom Hocker und entsprechend negativ wird auch die Beteiligung sein. Und darin liegt eine Herausforderung für Führungskräfte: sie müs­ sen die authentische Fähigkeit mitbringen, andere zu entzünden und diese Fähigkeit ist tief verankert in der Persönlichkeit. Der große Augustinus brachte das so zum Ausdruck:

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Du kannst andere nur mit dem entzünden, was bereits in Dir selbst brennt! Und wenn nichts im Innern brennt, wird es sehr schwer bis unmög­ lich, andere zu entzünden. Während man Visionsarbeit und Disziplin er­ lernen kann, ist dies für den Faktor Leidenschaft sehr viel schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich, weil sie ein tief verwurzeltes Element unse­ rer Persönlichkeitsstruktur ist. Dies zu beachten ist sehr wichtig bei der Auswahl neuer Führungskräfte. Im Klartext: leidenschaftslose Menschen eignen sich nicht zur Führung.

5.6 Inhalte der ersten Ansprache Zuerst stellen Sie sich vor. Denken Sie sich dabei in Ihre Mitarbeiter hinein und fragen Sie sich, was diese über Sie am meisten interessiert. Sie wollen selbstverständlich implizit erfahren, was Sie zu der neuen Aufgabe befähigt, warum wurden Sie ausgewählt. Dementsprechend sollten Ihre Informationen über Ihren bisherigen Werdegang eine gewisse Relevanz zu der neuen Rolle haben. Vermeiden Sie auf jeden Fall angeberisch zu wirken, ohne ein gewisses Maß an gesundem Selbstbewusstsein vermissen zu lassen. Bringen Sie Ihre Freude über die neue Aufgabe zu Ausdruck und Ihre Bereitschaft für einen großen persönlichen Einsatz mit dem Team, ausgezeichnete Ergebnisse zu erreichen. Als nächstes müssen die neuen Mitarbeiter von Ihnen erfahren, wie Sie „ticken“, was ist für Sie wichtig, was ist für Sie nicht diskutierbar. Bringen Sie ihnen Ihre wichtigsten, persönlichen Werte näher, so z. B. mit den Worten: „Sie sollten wissen was mir wichtig ist. Ich habe folgende Werte, die mich bisher in meinem Leben sehr gut geleitet haben. Da ist zu einem die Verbindlichkeit bzw. die Zuverlässigkeit. Ich tue was ich sage, halte mein Wort und erwarte das auch von meinem Gegenüber. Außerdem habe ich eine große Leidenschaft für Kunden. Sie bezahlen letztendlich unsere Gehälter, ohne sie könnten wir nicht existieren ….“

Die Werte sofort am ersten Tag zu kommunizieren ist äußerst wichtig, denn ist mehr als fair, wenn die Mitarbeiter wissen, was Ihnen wichtig ist

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und was Sie ärgert, und was Sie nicht akzeptieren. Umgekehrt ist es sehr unfair, erst später anlässlich eines Mitarbeitergesprächs zum Beispiel zu sagen: „Es ärgert und enttäuscht mich, dass Du nie Deine Vereinbarungen einhältst, denn einer meiner Grundwerte ist Verbindlichkeit und Du verletzt ihn oft.“

Verwenden Sie bewusst das Wort „verletzen“; das ist viel wirkungsvoller, denn normalerweise will kein Mensch einen anderen verletzen. Wenn die Werte von Anfang an klar kommuniziert werden, verhalten sich in der Regel alle daran. Sie sollten am besten die Zusatzbemerkung machen: „Ihr dürft mich an meinen Werten messen, seid aber auch nicht überrascht, wenn ich das auch bei Euch tue.“

Kommunikation in der Führung muss immer klar sein, besonders in den Erwartungshaltungen. Treffen Sie auch eine Aussage zu Ihrem Führungsstil, auch darauf warten Ihre Mitarbeiter. Wie bereits gesagt, sollten Sie vorab erfahren haben, was der Führungsstil Ihrer Vorgängerin war, falls es eine gab. Dabei sind verschiedene Szenarien denkbar. Eine wäre, dass der Vorgänger ein sogenannter „Micro-Manager“ war, der alle Mitarbeiter an der kurzen Leine geführt hat. In diesem Fall würden die Mitarbeiter sehr wahrscheinlich aufatmen, wenn Sie sagen würden, dass Sie auf Augenhöhe und einer „stets offenen Tür“ führen und dass Ihnen ein kollegiales Miteinander sowie Offenheit sehr wichtig ist. Als nächstes erwarten die Mitarbeiter von Ihnen Aussagen über die Zukunft. Das ist der Moment für Ihren Optimismus. Haben Sie dabei das berühmte Zitat von Martin Luther King „I have a dream!“ vor Augen bzw. in den Ohren. Das könnte sich so anhören: „Ich weiß noch nicht allzu viel über Sie und den neuen Bereich, aber ich habe den Traum, mit Ihnen in wenigen Jahren eine Vorzeigeabteilung in diesem Unternehmen zu sein – ich will mit Ihnen sozusagen in der Champions League spielen  – dazu benötige ich Sie und ich verspreche Ihnen dazu meinen vollen Einsatz.“

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Auf die Aussage „Ich weiß noch nicht allzu viel über Sie“ könnten Sie anknüpfen mit den Worten: „Ich möchte Sie alle näher kennenlernen, was jeder Einzelne von Ihnen tut, für was er verantwortlich ist, und welche Themen Ihnen auf den Nägeln brennen. Dazu werde ich in den nächsten 4 Wochen mit jedem von Ihnen ein 30-­minütiges Meeting vereinbaren und ich freue mich heute schon auf unsere Gespräche. Die Mitarbeiter, die ihren Standort in anderen Niederlassungen haben, werde ich besuchen.“

Abschließend sollten Sie noch einen Ausblick auf die nächsten Wochen geben, der so lauten könnte: „Wie geht es nun weiter? Ich treffe mich noch heute mit meinem Vorgesetzten, um seine Erwartungen an mich und uns zu erfahren. Sobald ich verstanden habe, wer unsere internen und externen Kunden sind, werde ich auch diese um ein Gespräch über deren Erwartungen bitten. Wenn ich dann alle Gespräche mit Ihnen und unseren Kunden geführt haben, planen wir alle zusammen ein Offsite-Meeting über einen ganzen Tag, in dem wir gemeinsam an unserem neuen Zukunftsbild arbeiten. Diese Vorgehensweise habe ich auch immer in meinen bisherigen Führungspositionen erfolgreich angewandt und auch auf dieses Treffen freue ich mich schon heute. Ich verspreche Ihnen, das wird ein toller Tag mit wichtigen Ergebnissen für eine gute Zukunft.“

Lassen Sie am Ende Ihrer Ansprache Zeit für Fragen, ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter zu mehr Dialog und kündigen Sie eine offene Kommunikationskultur an, so z. B. mit den Worten: „Sie wissen, wo und wie Sie mich finden, meine Tür ist jederzeit für Sie offen. Ich freue mich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit und auf die Einzelgespräche in den nächsten Wochen.“

Holen Sie danach Feedback von einzelnen Mitarbeitern ein, wie Ihre erste Ansprache ankam und aufgenommen wurde. Es wäre sehr überraschend, wenn die Rückmeldungen nicht überwiegend sehr positiv wären. In den ersten Tagen und Wochen ist es äußerst wichtig, dass Sie schnell eine Vertrauensbasis aufbauen. Selbstverständlich sind viele Ihrer neuen

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Mitarbeiter sehr kritisch und beäugen Sie genau, was Sie tun und was Sie kommunizieren. Vertrauen ist ein sehr kostbares Gut. Es ist die Basis Ihrer Glaubwürdigkeit und diese ist sehr zerbrechlich. Ein französisches Sprichwort bringt es treffend zum Ausdruck: Man gewinnt Vertrauen tropfenweise – und verliert es eimerweise.

Niemand kann es allein herstellen und es reicht nicht, wenn Sie den Mitarbeiter einfach sagen „vertraue mir“. Ernest Hemingway gab folgenden Rat: The best way to find out if you can trust somebody is to trust them.

Vertrauen ist das Ergebnis eines Prozesses zwischen Partner und in Ihrem Fall zwischen Ihnen und Ihrem Team. Dieser Prozess kann lange dauern, oft sehr lange. Vertrauen ist wie ein Bankkonto. Sie müssen zuerst etwas einzahlen, bevor Sie Geld abheben können. Für Sie heißt das, geben Sie Freiräume und mehr Autonomie und zwar so rasch wie möglich. Lassen Sie Ihre Mitarbeiter mehr selbst entscheiden, so dass sie nicht für jede Kleinigkeit Ihre Zustimmung benötigen. Und vor allem: „Walk your talk“, d.  h. halten Sie, was Sie versprechen und „trinken Sie nie Schampus, wenn Sie Wasser predigen“. Es tötet Ihre Glaubwürdigkeit bzw. eine mühsam erkämpfte Vertrauensbasis in Sekunden, wenn Sie lügen oder mit nur einer falschen Entscheidung, zum Beispiel, wenn sie sich ein teures, neues Firmenfahrzeug genehmigen, während Sie von Ihren Mitarbeitern Lohnverzicht einfordern. Für mich ist es immer wieder erschreckend zu sehen, dass in Zeiten wirtschaftlicher Probleme, nicht zuerst das Management mit freiwilligen Gehalts- oder Bonusverzicht vorangeht, obwohl sie es sich gut leisten könnten. Und dann wundern sie sich, dass das Mitarbeiterengagement im Eimer ist. Wie gesagt, Glaubwürdigkeit ist äußerst kostbar, ohne sie gibt es keine Vertrauenskultur. Und das dramatische ist, sie kann dann auch nicht mehr repariert werden. Wenn ich so erlebe, wie sich manche Führungskräfte auf den höchsten Ebenen verhalten, zweifle ich sehr stark, ob ihnen diese Dramatik bewusst ist. Da werden immer noch exzessive Boni

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für das Management ausbezahlt, während von den Mitarbeitern verlangt wird, kürzer zu treten oder schlimmer noch, wenn gleichzeitig Mitarbeiter entlassen werden. Ich frage mich, was für ein Aufsichtsrat ist das, der so etwas akzeptiert?

5.7 D  ie ersten Wochen als neue Führungskraft In den Folgetagen führen Sie die Einzelgespräche mit jedem Teammitglied, in dem gegenseitige Erwartungshaltungen geklärt werden. Dazu sind folgende 5 Fragen äußerst hilfreich: 1. „Was ist Ihre Aufgabe in diesem Team?“ 2. „Lieben Sie Ihren Job?“ Und falls die Antwort Nein sein sollte: „welche andere Aufgabe würde Sie mehr motivieren?“ 3. „Was läuft in diesem Team besonders gut?“ 4. „Was sollte in diesem Team geändert werden?“ 5. „Was sind Ihre Erwartungen an mich?“ Die Antworten auf diese Fragen sind für Ihre Wirksamkeit als Führungskraft von größter Bedeutung. Sie erfahren, wer welche Tätigkeit macht und dabei noch wichtiger, ob jeder Mitarbeiter auf einem Job ist, den er mag. Wir alle können nur top Leistungen erbringen, wenn wir eine Tätigkeit machen, die unseren Stärken entspricht und die wir nicht nur mögen, sondern auch lieben. Die Antwort auf die dritte Frage zeigt die Dinge oder Prozesse auf, die gut laufen und daher für Sie kurzfristig keine Priorität haben, während die vierte Frage Ihnen Hinweise gibt auf Dinge, welche das größte ­Verbesserungspotenzial aufzeigen. Schließlich, die Antwort auf die vierte Frage offenbart, was die Mitarbeiter von Ihnen als neue Führungskraft erwarten. Dabei ist es wichtig, dass Sie, nachdem Sie alle Gespräche geführt haben, diese Erwartungen hinsichtlich ihrer Wichtigkeit und Dringlichkeit priorisieren, in drei Kategorien klassifizieren und das Ergebnis dem Team am Ende aller Interviews präsentieren mit einem Kommentar, der ungefähr so lauten könnte:

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„Besten Dank für Ihre Offenheit in meinen Interviews. Die Ergebnisse sind von unschätzbarem Wert für mich. Vor allem kenne ich nun Ihre Erwartungen an mich. Ich habe diese in drei Kategorien geordnet: Da gibt es Dinge, die ich mit Ihnen sofort angehen werde und ich verspreche Ihnen, dass sie in 3 Monaten erledigt sind. Für die Dinge in der zweiten Kategorie benötigen wir etwas mehr Zeit. Wir werden darüber in einem der nächsten Teammeetings ausführlicher reden und einen gemeinsamen Plan erstellen. Die folgenden Erwartungen liegen außerhalb meiner Möglichkeiten und sind damit – ganz offen gesagt  – nicht realistisch. Ich bitte Sie, Ihre Erwartungen diesbezüglich zu korrigieren.“

Sehr oft kann das erste Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten nicht sofort am ersten Tag vor Ihrer Ansprache an das Team erfolgen. In diesem Fall müssen Sie seine Erwartungen an Sie und Ihr neues Team Ihrem Team zu einem späteren Zeitpunkt nachreichen. Folgende Punkte sind in dem Gespräch zu klären: • • • • • •

Was sind die Erwartungen an Sie? Welche Erwartungen gibt es für das Team – in welcher Zeitlichkeit? Wo sieht Ihr Vorgesetzter Sie und das Team in 3 Jahren? Wo sieht er/sie aktuelle Herausforderungen mit welcher Dringlichkeit? In welche Entscheidungen will sie/er eingebunden sein? In welchem zeitlichen Rhythmus ist ein Update-Meeting mit ihr/ihm erforderlich?

Diese Antworten zu kennen, ist gerade in einem neuen Unternehmen sehr wichtig. Es reicht nicht, wenn Sie klare Botschaften nur an Ihre Mitarbeiter geben, Sie benötigen auch Klarheit darüber, wie Sie Ihren Vorgesetzten „zu managen“ haben. Sind Sie sich darüber über drei Dinge im Klaren. 1 . Er kann sich nicht leisten, dass Sie versagen 2. Das meiste, was Sie wissen müssen, weiß er bereits 3. Ihr Erfolg ist auch sein Erfolg Sind Sie nicht überrascht, wenn Ihre/Ihr Vorgesetzte die eine oder andere Frage – oder sogar keine – nicht ad hoc beantworten kann. Ich habe

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einen Fall erlebt als ich im Rahmen einer Auslandsentsendung einen neuen Vorgesetzten in den ersten Wochen gar nicht zu Gesicht bekam und als er kam, war er nicht in der Lage, eine dieser Antworten zu liefern. Sehen Sie eine solche Situation nicht als Problem, sondern als Chance, vor allem was die Erwartungen betrifft. Werden Sie in diesem Fall proaktiv und schlagen Sie ihr/ihm vor, dass Sie in 4 Wochen einen konkreten Plan über Ihre Vorgehensweise vorlegen werden. Wichtig ist jedoch, dass die Frage Ihrer Entscheidungsfreiheit geklärt wird, sofern Sie dies nicht bereits im Vorstellungsgespräch gemacht haben, was ich dringend empfehle. Ich musste leider allzu oft von Kollegen erfahren, dass sie den verlockenden Angeboten bzgl. Titel und Gehalt anderer Unternehmen gefolgt sind und später äußerst frustriert feststellen mussten, dass sie so gut wie keine Gestaltungsfreit hatten mit dem Gefühl, permanent Handschellen zu tragen und mit dem Ergebnis, dass sie wieder reumütig zurückkamen. Nachdem Sie in den ersten Wochen für sehr viel Klarheit in Ihrem Team gesorgt haben, sollten Sie auch mit den anderen Stakeholdern Ihres Bereiches reden, den internen und externen Kunden Ihres Teams. Stellen Sie auch denen das neue Teamleitbild vor, über das Sie im nächsten Kapitel noch mehr erfahren, mit dem Schwerpunkt auf die neue Mission und Vision Ihres Teams. Holen Sie dazu auch deren Feedback und deren Erwartungen ein, die evtl. auch einen Einfluss auf das Teamleitbild haben. Fragen Sie, was Sie und Ihr Team tun können, um sie noch erfolgreicher zu machen. Meine Erfahrungen, besonders mit externen Kunden, waren echte Aha-Erlebnisse. Oft waren es Kleinigkeiten, die entweder nichts oder nur sehr wenig gekostet haben, um echte Wunder zu bewirken. Ein Ergebnis war, dass ich danach regelmäßig einen „Kundentag“ pro Jahr mit der gesamten Organisation und einigen Schlüsselkunden gemacht haben, an dem wir in Workshops unsere gegenseitigen Erwartungen geklärt und neue Lösungen gefunden haben. Dieses Zusammenkommen hat das zwischenmenschliche, vertrauensvolle Zusammenarbeiten immer wieder neu gestärkt und auch der finanzielle Return-on-Investment in der Gestalt von mehr Aufträgen war hervorragend. Arbeiten Sie sehr sorgfältig am Aufbau der Vertrauensbasis mit Ihrem Team. Praktizieren Sie ein „Management by walking around“ (MBWA), d. h. kleben Sie nicht an Ihrem Schreibtisch und Headset, sondern ma-

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chen Sie es zur Routine, dass sie regelmäßig informellen Kontakt aufnehmen mit Ihren Mitarbeitern. Zeigen Sie ein echtes, authentisches Inte­ resse an ihnen als Mensch, erkundigen Sie sich über ihre Familiensituation, machen Sie sich anfassbar. Schaffen Sie eine tiefe Vertrauensbasis in dem Sie viele Dinge delegieren. Das setzt selbstverständlich voraus, dass es Ihnen leichtfällt, anderen Menschen zu vertrauen und dazu ist Ihr eigenes Selbstvertrauen die Voraussetzung. Sie lernen in den ersten Wochen sehr viel über Ihr Team und die Herausforderungen, die vor Ihnen liegen. Sie sehen immer klarer die Dinge, die gut laufen und auch jene, die große Verbesserungspotenziale bieten. Das ist dann die Zeit, dass Sie den Ganztagesworkshop für die Zukunftsarbeit vorbereiten mit dem konkreten Ziel der Ausarbeitung eines Teamleitbildes, welches bereits im Kapitel „das ideale Team“ dieses Buches erwähnt wurde. Machen Sie diese Ankündigung ca. 14 Tage vorher und weisen Sie darauf hin, dass zur Vorbereitung des Tages noch einige Hausarbeiten zu machen sind, um am Tag des Meetings rasch gute Ergebnisse zu erzielen. Senden Sie dazu eine Nachricht an alle, die folgenden Inhalt haben sollte: „Wie Sie bereits wissen, treffen wir uns alle am …. zu einem Offsite-Meeting mit dem Ziel, dass wir zusammen ein Leitbild für unsere Zukunft erarbeiten. Es wird uns für die nächsten Jahre wie ein Nordstern begleiten und uns Richtung geben. Machen Sie sich bitte dazu vorab folgende Gedanken zu folgenden Fragen und bringen Sie die Antworten dazu mit: 1. Was ist der Grund unserer Existenz, warum gibt es uns? Was würde unser Unternehmen vermissen, wenn es uns ab morgen nicht mehr gibt? Was ist unser einzigartiger Wertbeitrag in diesem Unternehmen? 2. Was könnte für uns ein ehrgeiziges und inspirierendes Ziel für heute in 3 Jahren sein? Womit könnten wir beweisen, dass wir als die Besten in der Champions League unseres Unternehmens spielen? Welches Bild haben Sie vor dem Auge, wenn Sie uns am Ende der 3 Jahren sehen? 3. Wenn wir wissen, „was“ wir zusammen erreichen wollen, „wie“ müssen wir uns dann verhalten, um das zu erreichen?“

Mit dieser Vorbereitung stellen Sie sicher, dass die Mitarbeiter mit der richtigen Einstellung und den adäquaten Erwartungen zum Work­ shop kommen.

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5.8 Ein Teamleitbild erstellen Es versteht sich von selbst, dass auch Sie für diese Arbeit gut vorbereitet sein müssen. Die Mitarbeiter erwarten gerade von Ihnen wichtige Impulse, vor allem was das inspirierende Zukunftsbild betrifft, das Sie mit großer Leidenschaft vortragen und so Ihre Mitarbeiter anzünden. Wie gehen Sie nun vor? Am Anfang dürfen Sie gerne erwähnen, dass Sie dieses Vorgehen bereits mehrfach erfolgreich mit Teams gemacht haben. Vermeiden Sie aber auf jeden Fall den Kardinalsfehler, vor jedem Vorschlag in Zukunft zu sagen: „In meinem alten Unternehmen haben wir das so gemacht und daher sollten wir dies auch hier anwenden“. Das kann zwar für Sie richtig sein, ist aber die falsche Eingangsbemerkung für ein Vorhaben. Diesen Fehler habe ich bei vielen Führungskräften gesehen. Eine solche Ansage generiert automatisch Widerstand, denn das ist die völlig falsche Begründung für eine notwendige Veränderung und ist Ihre Absicht auch noch so gut. Das Thema ist: die Mitarbeiter mitnehmen und den Prozess so zu moderieren, dass sie selbst die Notwendigkeit von Veränderungen erkennen und deren Nutzen. Ich habe immer sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn ich als Startpunkt für eine Diskussion über notwendige Veränderungen mit meinem Team die Methode des „Appreciated Inquiry“ angewandt habe, an die sich dann die Ausarbeitung eines Teamleitbilds angeschlossen hat. Bei dieser Methode startet man mit der Frage: „Was läuft gut bei uns, worauf sind wir stolz?“

Warum ist es wichtig, diese Frage zuerst zu stellen? Wäre es nicht zielführender, sofort die Frage zu stellen: „Was läuft falsch bei uns und was müssen wir daher ändern?“ Nein, es ist aus psychologischen Gründen sehr wichtig für die Folgediskussion, mit einem positiven Gefühl zu starten. Würde man dagegen mit der Frage starten: „Was läuft schlecht bei uns?“, würden alle sofort in eine defizitäre Denkschleife eintauchen. Das erzeugt schlechte Gefühle, wie z. B. Schuld, Minderwertigkeit, Versagen und führt die Menschen in eine Negativspirale.

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Mit der positiven Frage beginnend, bringen dann die Mitarbeiter die entsprechenden Punkte hoch, die zu clustern sind in Bereiche, wie z. B. Kunden, Prozesse, Strukturen, Methoden und Verhalten. Wenn alle Punkte aufgenommen und diskutiert wurden, damit alle das gleiche Verständnis haben, stellen Sie die Frage: „Wie fühlt sich das an? Darauf können wir doch stolz sein, oder?“

Geben Sie diesem Moment Zeit, so dass sich das positive Gefühl bei allen manifestiert und es im Raum fast greifbar ist. Mit dem Hochgefühl von Stolz und Zufriedenheit im Team starten Sie die zweite Übung mit der Frage: „Was können wir noch besser machen um noch erfolgreicher zu werden, um z. B. um auf Champions League Niveau zu spielen?“

Sie erkennen, dass die Frage nicht auf Defizite abzielt, sondern die Befragten anregt, Chancen zu identifizieren. Auch diese Punkte nehmen Sie aus dem Team auf und clustern Sie in die bereits genannten Kategorien. Lassen Sie auch diese Punkte auf das Team wirken, damit sie eine erste Ahnung über die Dimension der notwendigen Veränderungen erhalten. Dann ist der Boden bereitet für die großen Themen und Sie können starten mit der Mission für das Team bzw. dem Nutzenversprechen. Wie bereits ausgeführt, hat jedes Team seinen Zweck, seinen Grund für die Existenz. Bevor Sie jedoch dieses Thema anfangen zu diskutieren, empfehle ich Ihnen, das Video „The Golden Circle“ von Simon Sinek zu zeigen. Einen Link finden Sie im Anhang. Es macht sehr deutlich und verständlich, warum das „Warum“ eines Unternehmens oder einer Organisation so wichtig ist, sowohl für die Menschen in der Organisation als auch die Kunden. Simon Sinek stellt klar, dass die Suche nach einem „Warum“ tief verankert ist in unserem Gehirn und zwar im limbischen System, welches nicht adressierbar mit Sprache ist, sondern nur mit Gefühlen bzw. Emotionen. Es geht um die Sinn-Frage.

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Als ich dieses Video vor einigen Jahren im Managementkreis eines großen, deutschen Unternehmens zeigte, sagte der Geschäftsführer danach zu seinen Mitarbeitern: „Genau das fehlt uns – unsere Mitarbeiter wissen gar nicht, warum wir existieren und warum wir unersetzbar im Konzern sind“. Sammeln Sie danach die Vorschläge Ihrer Mitarbeiter ein, die sie als Hausaufgabe mitgebracht haben. Wie formuliert man ein Mission-­ Statement? Ein Mission-Statement muss immer das Wort „Wir“ beinhalten und die Aussage muss im Präsens und darf keine Absichtserklärung für die Zukunft sein. Nehmen wir an, Sie leiten die Auftragsabwicklungsabteilung in einem Unternehmen. Da könnte z.  B. folgende Mission bzw. folgendes Nutzenversprechen passen: „Als kritisches Bindeglied zwischen Vertrieb und unseren Kunden garantieren wir unseren Service auf Benchmark-Niveau“

Benchmark zu sein als die effektivste und effizienteste Auftragsabteilung ist ein sehr hoher Anspruch, der selbstverständlich durch entsprechende Messgrößen abgesichert werden muss. Ein Mission-Statement sollte bzw. muss nicht den Status Quo ausdrücken, es sei denn, ein Idealzustand ist bereits erreicht, was in den meisten Fällen nicht gegeben ist. In der Regel drückt es einen ehrgeizigen Anspruch aus, der den Menschen Sinn gibt. Nach meinen Erfahrungen scheuen die meisten Menschen nicht vor großen Ansprüchen zurück, sondern es macht ihnen Freude, auf „Champions-League-Niveau“ zu spielen. Stellen Sie in der weiteren Diskussion mit dem Team über dieses Thema sicher, dass Sie bei den meisten Mitarbeitern das Verlangen nach einem anspruchsvolle Nutzen Ihres Teams wecken. Springen Sie nicht zu kurz. Wenn Sie danach zur Ausarbeitung der Vision übergehen, hat es sich gut bewährt, wenn das Team sich nicht nur theoretisch damit befasst, sondern zuerst einmal haptisch. Daher ist es gut, das Team in zwei Gruppen einzuteilen. Die erste Gruppe erhält die Aufgabe, ein Bild für die Zukunft entwerfen und es zu Papier bringen, eingeleitet mit der Frage: „Wenn Ihr an unsere ideale Position heute in 3 Jahren denkt, die wir zusammen erreichen könnten, welches Bild kommt Euch dann vor das Auge?“

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Eine zweite Gruppe erhält die Aufgabe, einen Pressebericht über das Team und seine außerordentliche Leistung bzw. Erfolge in diesem Idealzustand zu entwerfen, wie er in 3 Jahren in einer überregionalen Zeitung oder einem Magazin stehen könnte. Diskutieren Sie danach die Ergebnisse und sammeln Sie nun von den Teilnehmern deren Antworten auf die in der Hausaufgabe genannten zweiten Frage ein. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem Sie Ihre authentische Überzeugung ins Spiel bringen. Zeigen auch Sie ein inspirierendes Bild der Zukunft auf, das die zu diesem Zeitpunkt eingebrachten Ideen ergänzt, so dass danach die meisten Mitarbeiter sagen: „Ja, das will ich auch – dafür setze ich mich ein!“ Dann basteln Sie daraus einen ersten Entwurf eines Vision-Statements. Nachdem Sie so auch das Vision Statement erstellt haben, sollten Sie es reflektieren mit der Liste „Was können wir noch besser machen?“ In der Regel geht die Teamvision noch sehr viel weiter bzw. hat einen wesentlich weiteren Horizont als die Mitarbeiter in den Köpfen hatten, als sie die erste Liste erstellt haben, denn diese Ideen sind sehr stark gefärbt durch die aktuelle Situation, d. h. es sind wichtige Ergänzungen nötig. Spätestens nach Abschluss dieser Aufgaben plus dem Mission-­ Statement zuvor, werden Sie feststellen, dass etwas mit Ihrem Team geschehen ist. Ich habe dabei immer erfahren, dass die Teams in einen regelrechten Flow kommen. Sie erkennen nun den Wertbeitrag des Teams und sie sind angezündet über eine vielversprechende, positive Zukunft. Ihre Sinne sind nun offen und geschärft, so dass Sie mit der weiteren Ausformulierung der Vision starten können. Versuchen Sie aber nicht, dies bereits druckreif zu machen. Wenn Sie glauben, dass es zu 80 % stimmt bzw. in die richtige Richtung geht, fragen Sie nach 2–3 Freiwilligen aus dem Team, die zusammen mit Ihnen die finale Version erstellen in den kommenden Tagen. Selbstverständlich wird es auch einige Teilnehmer dabei geben, die mehr reserviert sind mit einer sehr gebremsten Euphorie. Das ist völlig normal, es gibt nun mal in fast jedem Team einige Bedenkenträger, lassen Sie sich davon nicht bremsen – love it! Ein weiterer, enorm wichtiger Baustein, der alles entscheidend ist, ob das Teamleitbild gelebt wird, sind die Teamprinzipien. Mein Vorschlag ist, dieses Thema vor allen anderen nachfolgenden Dimensionen des

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Teamleitbilds vorzuziehen, weil dann die vereinbarten Teamprinzipien sofort in der weiteren Diskussion eingesetzt werden können. Entscheidend dabei ist, dass diese Prinzipien nicht von Ihnen als Führungskraft vorgegeben werden, sondern vom Team selbst erstellt werden. Das Team wird dabei lernen, dass es nicht Ihre Prinzipien sind, sondern deren eigene und dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssen, diese zu leben – eine enorm wichtige Erkenntnis. Sie als Führungskraft sind in dieser Diskussion nur Impulsgeber und Moderator. Für viele Teams, die es bisher nicht gewohnt waren, selbst Verantwortung zu übernehmen, bedeutet dies einen sehr großen Schritt. Wahrscheinlich waren sie noch nie in der Situation, sich selbst Prinzipien zu geben. Zur Einleitung der Diskussion über die Teamprinzipien bieten sich folgende Fragen an: • • • • • •

Was sind unsere Unternehmenswerte und wie leben wir diese? Sehen wir zusätzliche Werte, die für unsere Zusammenarbeit wichtig sind? Wie verhalten wir uns untereinander? Wie stellen wir sicher, dass wir alle am gleichen Strang ziehen? Sehen wir Konflikte als Probleme oder als Chancen? Wie stellen wir sicher, dass wir diese Prinzipien auch wirklich leben?

Sind Sie nicht überrascht, wenn keines oder nur sehr wenige Ihrer Teammitglieder die Unternehmenswerte kennen, das ist leider so, aber genau das zu ändern ist nun ein Ziel der Übung. Sammeln Sie wieder die Ergebnisse der Hausaufgabe ein. Wie bereits erwähnt, drücken Teamprinzipien grundsätzlich Verpflichtungen aus und sie beginnen immer mit dem Wort „Wir“. So könnte z.  B. ein adäquates Teamprinzip zu einem Unternehmenswert Offenheit lauten: „Wir reden grundsätzlich miteinander und nicht übereinander“, oder „Wir sehen Konflikte als Chancen und lösen sie sofort nach ihrer Entstehung“.

Im Anhang dieses Buches finden Sie ein gutes Beispiel mit Teamprinzipien.

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Es hat sich bewährt, dass es insgesamt nicht mehr als 10 Prinzipien sind. Stellen Sie zum Abschluss der Diskussion die Frage: „Sind das ab sofort unsere Prinzipien, wie wir uns verhalten werden?“

Und holen Sie sich die Bestätigung bzw. das JA von allen Teammitglieder einzeln ein. Zum Abschluss dieser Übung bleibt die Frage über, wie nun sichergestellt werden kann, dass diese Prinzipien nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sie auch gelebt werden, denn ohne Antwort auf diese Frage war bzw. ist die ganze Übung umsonst. Teams in der ganzen Welt haben wahrscheinlich tausende solcher Leitlinien oder Prinzipien erstellt, aber sie wurden nie gelebt, nur weil dieser elementare Schritt fehlte. Dabei ist wieder das Team sehr stark gefordert und die Diskussion darüber muss von Ihnen angestoßen werden, z. B. mit der Frage: „Ihr habt Euch nun diese Prinzipien gegeben – sehr gut – was werdet Ihr bzw. jeder Einzelne von Euch nun tun, damit diese auch tagein, tagaus gelebt werden?“

Idealerweise kommt aus dem Team von selbst der Vorschlag, dass sie sich ab sofort untereinander spontanes Feedback geben und zwar sowohl positives bzw. ermutigendes als auch korrigierendes über ein positives oder suboptimales Verhalten bei einem Teamprinzip. Das ist für sehr viele Teams völliges Neuland und es liegt nun an Ihnen als Führungskraft, hier ab sofort, und ich meine unmittelbar sofort in diesem Meeting, mit gutem Beispiel voranzugehen. In meiner Praxis hat es sich auch bewährt, dass das originäre Flipchart mit den erstellten Prinzipien von jedem Teammitglied mit seinem Namenskürzel unterschrieben wird, denn das verstärkt die persönliche Verpflichtung und es hängt danach  – evtl. sogar eingerahmt  – im Team­ besprechungsraum, damit es permanent als Referenzpunkt bei allen Besprechungen eingesetzt werden kann. Eine zweite sehr wichtige Maßnahme zur Sicherstellung, dass die Prinzipien gelebt werden, ist eine ständige Referenz von Ihnen bei allen Entscheidungen, so z. B. mit einer Aussage, wie:

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„Wir entscheiden uns nun bewusst für diese Kulanz an den Kunden, weil es so adäquat zu unserem dritten Teamprinzip ist.“

Last, but not at least, sind Sie nochmals gefordert mit der vielleicht wichtigsten Aussage nachdem die Teamprinzipien geklärt und von alles als Verpflichtung akzeptiert sind: „Ich freue mich, dass Ihr Euch selbst diese anspruchsvollen Prinzipien gegeben habt. Ich werde diese nun auch bei den regelmäßigen Feedbackgesprächen mit Euch einsetzen und nicht zuletzt ziehe ich sie bei den Leistungsbeurteilungsgesprächen heran. Neben dem WAS Ihr gemacht habt, sind sie nun die Richtschnur über das WIE bzw. Euer Verhalten und wie Ihr die Prinzipien gelebt habt.“

Wenn Sie das dann konsequent so tun – denken Sie daran: „walk your talk!“ – garantiere ich Ihnen, dass Sie wahre Wunder erleben mit Ihrem Team. So und genau so verhalten sich Höchstleistungsteams, denn diese, wie z. B. im Sport, haben und leben Teamprinzipien. Im Kap. „das ideale Team“ habe ich Ihnen bereits alle Elemente des Teamleitbilds vorgestellt. Nachdem Sie mit dem Team die Teamprinzipien erstellt haben, empfehle ich Ihnen die Zielpunkte herauszuarbeiten, an denen Sie messen, ob Sie die Vision erreichen. Setzen Sie die Zielpunkte mit den vier Dimensionen der Balanced Scorecard entsprechend Ihrer Vision, d. h. ambitioniert, aber realistisch. Ein Beispiel einer solchen Scorecard finden Sie im Anhang. Bei unrealistischen Zielen verlieren Sie sehr leicht Ihre Mitarbeiter bzw. deren Engagement. Beachten Sie auch, dass es nicht nur um messbare Zielgrüßen geht, sondern Sie müssen sich auch klar darüber sein, wie Sie diese messen. Da ist es wichtig, dass Sie sehr pragmatisch vorgehen und unnötige Komplexität vermeiden. Hier ist weniger oft mehr. Zum Beispiel: in größeren Unternehmen ist es in der Regel sehr schwierig, eine eigene Umfrage zur externen Kundenzufriedenheit durchzuführen, weil dieser Prozess ausschließlich in der Hand des Vertriebs liegt. Planen Sie stattdessen einfach stichprobenartige, periodische Anrufe mit ganz wenigen Fragen bei Ihren Kunden bzw. deren Hauptan-

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sprechpartner ein. Eine ähnliche Vorgehensweise empfehle ich auch bei dem Thema Mitarbeiter-Engagement. Warten Sie nicht auf unternehmensweite Befragungen, die in der Regel mit dem Betriebsrat abgestimmt werden müssen. Ich empfehle Ihnen eine Mikro-Statusaufnahme oder auch Blitzlichter genannt am Ende eines Quartals. Die könnte z. B. so aussehen: Am Ende einer Besprechung zeigen Sie eine Flipchart mit nur 3 Fragen: 1. Wie gut ist unser Fortschritt auf dem Weg zum Erreichen unserer Vision? 2. Wie gut leben wir unsere Teamprinzipien? 3. Wie schätzt Du das Engagement in unserem Team ein? Fügen Sie zur Bewertung drei Spalten ein: ein lachendes Smiley, ein trauriges und ein neutrales. Falls Sie eine gewisse Anonymität bevorzugen, können Sie vor der Bewertung den Raum verlassen, allerdings nicht ohne davor anzukündigen, dass Sie über das Ergebnis in der nächsten Besprechung diskutieren werden. Einige Unternehmen, ziehen neben dem Mitarbeiter-Engagement-­ Index auch die Mitarbeiter-Fluktuation als Messgröße heran. Da empfiehlt es sich aber, dass nur die „unerwünschte“ Fluktuation gemessen wird, denn wenn Sie erfolgreich waren, einen schwierigen Mitarbeiter zu verabschieden, sollte dieser Schritt nicht als negatives Ergebnis in Ihren Messgrößen auftauchen. Erstellen Sie im Anschluss zu den gesetzten Zielpunkten die notwendigen Strategien, auch angelehnt an die Dimensionen der Balanced Scorecard, d. h. Strategien für die Bereiche Finanzen, Kunden, Mitarbeiter und Prozesse. Hierbei liefern die Ergebnisse aus der AppreciateInquiry-­Übung die ersten Ideen, denn dort wurden von dem Team die aktuellen Schwachstellen aufgezeigt. Mit großer Wahrscheinlichkeit genügen sie aber nicht, um die ehrgeizige Vision zu realisieren, weil sie zu stark auf die aktuelle Situation passen und definiert wurden bevor sich der weitere Horizont der Vision auftat. Definieren Sie für jede Strategie die Zeitachse bis wann sie erfolgen muss und erarbeiten Sie mit Ihrem Team die Teammitglieder die dafür verantwortlich sind. Achten Sie auf die Gefahr, dass zu viel für das erste Jahr geplant wird mit der Gefahr des Scheiterns. Dieser Plan wird ohnehin nicht ein Stein gemeißelt,

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sondern muss quartalsmäßig überprüft und angepasst werden, damit er realistisch bleibt. Schließlich vervollständigen Sie das Teamleitbild mit den anderen Themen wie im Teil II dieses Buches beschrieben. Vorschlag zum Thema „Strategien“: Nachdem Sie diesen Punkt mit Ihrem Team erarbeitet haben, erkennen Sie mit großer Wahrscheinlichkeit eine große Anzahl von Veränderungen, die Sie als notwendig sehen, um Ihre Ziele zu erreichen. Um deren Zeitlichkeit final festzulegen, empfehle ich, eine Liste aller Strategien, die einer Veränderungen zum Status Quo bedeuten – und das werden mit Sicherheit die meisten sein – und bewerten Sie diese nach zwei Dimensionen: zu erwartender Nutzen und Aufwand. Es genügt, wenn Sie dazu nur mit drei Bewertungskategorien verwenden: Hoch, Mittel, Gering. Selbstverständlich sind dies alles nur sehr subjektive Einschätzungen, aber das genügt für den Anfang. Mit dieser Vorgehensweise erkennen Sie und Ihr Team auf einen Blick, wo die „reifen Äpfel“ hängen oder die „low hanging fruits“. Dies sind Veränderungen, bei denen Sie einen relativ geringen Aufwand und einen sehr hohen Nutzen sehen. Diese sollten Sie zuerst angehen, um möglichst schnell Erfolge aufzuweisen, denn diese Erwartung haben nicht nur Ihre Mitarbeiter und Ihr Vorgesetzter, sondern Ihr gesamtes Umfeld. Wie bereits erwähnt, haben Sie nicht die Erwartung, dass Sie an einem Tag das Teamleitbild zu 100 % fertig stellen. Sind Sie mit 80 % zufrieden. Finden Sie einige begeisterte Freiwillige, die mit Ihnen zusammen das Ganze vervollständigen, bevor Sie es wieder dem Gesamtteam vorstellen mit den Fragen: „Ist dies nun unser Teamleitbild, das uns die nächsten die nächsten Jahre wie ein Nordstern leiten wird? Können sich alle damit identifizieren und dazu verpflichten?“

Auf diese Fragen sollten Sie jedes Teammitglied direkt ansprechen und eine Ja-Antwort erhalten. Diese kritische Frage darf nicht anonym im Raum stehen bleiben – da reicht ein Kopfnicken nicht aus. Stellen Sie das Teamleitbild bei der nächsten Gelegenheit Ihrem Vorgesetzten vor. Ich bin fest davon überzeugt, dass er begeistert sein und mit großer

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Wahrscheinlich sagen wird, dass er so etwas noch von keiner Führungskraft gesehen hat. Falls Sie zur Realisierung von ihm konkrete Unterstützung benötigen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, darum zu bitten. Das könnte z. B. der Fall sein, wenn Sie bei der Bearbeitung des Themas „Rollen, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen“ festgestellt haben, dass es eine kritische Lücke gibt, die es durch eine Neueinstellung zu schließen gilt. Wenn Sie Führungskraft eines Bereiches mit mehreren Teams sind, sollten Sie Ihre Führungskräfte auffordern, auch mit ihren Teams Leitbilder zu erstellen, so dass Klarheit und Verpflichtung zum Engagement in Ihrem ganzen Bereich herrscht. In der Regel, werden Mitglieder anderer Teams ohnehin einen gewissen Druck auf ihren Vorgesetzten machen, denn es bleibt mit Sicherheit nicht verborgen, dass Ihr Team sich nun ganz anders verhält als zuvor, denn der Flow, der durch die Gestaltung des Teamleitbildes entstanden ist, wird noch sehr lange anhalten. Etablieren Sie in ersten Monaten regelmäßige Meetings mit Ihrem gesamten Team, idealerweise ein Zusammenkommen aller Mitglieder. Wenn das durch eine räumliche Trennung nicht für alle möglich ist, wählen Sie die zweitbeste Lösung einer Videokonferenz. Die neuen Medien erleichtern das sehr, da es eine Auswahl von Lösungen dazu gibt. Eine besondere Problematik bei virtuellen Meetings ist die Disziplin. Das wird in einem späteren Kapitel näher eingegangen. Wichtig bei diesen regelmäßigen Meetings ist, dass Sie immer wieder, ja fast gebetsmühlenartig, Ihre wichtigsten Positionen wiederholen, sei es das Teamleitbild, den konkreten Status dazu, das beobachtete Verhalten anhand der Teamprinzipien oder Ihre persönlichen Werte, so dass diese Punkte jedem Teammitglied klar werden. Apropos Klarheit: Sie ist in der Kommunikation mit Ihrem Team unabdingbar. Ihre Aussagen dazu müssen ganz klar sein. Jede Art von „Wischi-Waschi-Kommunikation“ ist geradezu tödlich für Ihr Ziel. Wir alle kennen Menschen, die diese Klarheit in ihrer Kommunikation vermissen. Sie reden sehr viel und am Ende weiß keiner der Zuhörer, was nun die Schlüsselbotschaften waren. Ich nenne ein solches Verhalten die eines „Regierungssprecher“. Auch hier gilt der Grundsatz, dass weniger oft mehr ist.

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5.9 Checkliste „generelles Onboarding“ Informationen über neues Team einholen  - Zweck/Auftrag  - Kultur  - Leistungsniveau  - Spezielle Herausforderungen  - Bisherige Führungskraft  - Klima Kontakt zur Admin Assistant – falls vorhanden 2 Meetings für den ersten Tag terminieren  - Mit Vorgesetzten  - Mit ganzem Team Meetings vorbereiten  - Mit Vorgesetztem  - Erste Ansprache an das Team: was müssen sie über mich wissen? Gespräch mit Vorgesetzten am 1. Tag  - Welche Erwartungen hat sie/er?  - Was sind meine Kompetenzen?  - In welcher Häufigkeit soll ich an sie/ihn berichten?  - Wen sieht sie/er als Ihre Schlüsselpartner im Unternehmen? Schlüsselinhalte für erste Ansprache  - Persönliche Vorstellung mit Fokus auf Führungskompetenz  - Freude und Begeisterung für neue Aufgabe  - Meine Werte – wie ticke ich – was ist mir wichtig – an was lasse ich mich messen – und „daran messe ich auch Euch“  - Mein Führungsstil  - Über die Zukunft: „I have a dream!“  - Hinweis auf die individuellen Gespräche mit den 5 Fragen  - Hinweis auf ein Offsite-Meeting mit dem Ziel, gemeinsam die Zukunft zu definieren  - Feedback einholen zur Ansprache Vorbereitung für Ganztagesworkshop (Offsite-Meeting): Nachricht an alle Teilnehmer Vorbereitung als Hausaufgabe: sich Gedanken machen über die 3 Fragen  - Mission  - Vision  - Prinzipien der Zusammenarbeit Gespräche mit internen Schlüsselpartner (Stakeholders)  - Erwartungen  - Besondere Herausforderungen und gemeinsame Chancen Gespräche mit Topkunden  - Erwartungen  - Besondere Herausforderungen und gemeinsame Chancen

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Feedback an das Team über das Ergebnis der Einzelgespräche  - Was haben Sie gelernt?  - Segmentierung der Erwartungen an Sie – was werden Sie sofort – was in 3 Monaten – was innerhalb des 1. Jahres erledigen – was können Sie nicht versprechen? Start mit regelmäßigen informellen Kontakten mit jedem Mitarbeiter (MBWA)

5.10 O  nboarding in eine erste Führungsrolle aus einem Team heraus Diese Situation tritt sehr oft ein, weil Unternehmen immer öfters für ein Team einen Teamleiter einsetzen wollen, der in der Regel zwar keine disziplinarischen Vollmachten hat für z. B. Ein- und Ausstellungen, sowie Mitarbeitergehaltsgespräche, aber dennoch das Team fachlich leitet und zwar in der Regel zusätzlich zu seiner normalen, Nichtführungs-Rolle. Die besondere Problematik besteht darin, dass ich von heute auf morgen Führungskraft werde und dabei sich die Kollegen sehr oft die Frage stellen: „warum die/der und ich nicht“, d. h. der neuen Führungskraft schlägt von Anfang an eine gewisse Skepsis entgegen und sie/er wird sehr kritisch beäugt, wie sie vorgeht. Um möglichst schnell alle Skepsis abzubauen und vom Team akzeptiert zu werden, empfehle ich zusätzlich zum oben genannten generischen Vorgehen folgende Schritte: 1. Zum Teammeeting am ersten Tag und Ihrer persönlichen Vorstellung: Da Sie in der Regel allen Mitgliedern bekannt sind, kommt es darauf an, dem Team dennoch einige wichtige Dinge mitzuteilen, die ihnen wahrscheinlich noch unbekannt sind und das sind Ihre Werte, wie sie ticken. Und auch in diesem Szenario muss das sofort erfolgen, denn es ist sehr unfair, erst später anlässlich eines Feedbackgesprächs zu sagen: „Es ärgert mich, dass Du nie Deine Vereinbarungen einhältst, denn einer meiner Grundwerte ist Verbindlichkeit und diesen Wert verletzt Du immer wieder.“

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Wenn die Werte von Anfang an klar kommuniziert werden, verhalten sich in der Regel alle daran. Sie sollten am besten die Zusatz­ bemerkung machen: „Ihr dürft mich an meinen Werten messen, seid aber nicht überrascht, wenn ich das auch bei Euch tue“.

Es ist wichtig, dass Sie in der Ansprache am ersten Tag Ihre Freude für die neue Aufgabe zum Ausdruck bringen sowie eine erste Vision für das Team artikulieren. Das könnte sich so anhören: „Ich freue mich über die Aufgabe, Euer Teamleiter zu sein und mein Ziel ist es, mit Euch zusammen in drei Jahren einen Leistungsstatus zu erreichen, der im Unternehmen als leuchtendes Beispiel bekannt ist. Das schaffen wir nur gemeinsam. In den nächsten Wochen setzen wir uns einmal zusammen und formulieren dieses Ziel und was dazu gehört im Detail. Ich kenne die Erwartungen meines Chefs für unser Team, die ich mitbringen werde“.

2. In den Folgetagen führen Sie die im vorangegangenen Kapitel erwähnten Einzelgespräche mit jedem Teammitglied – obwohl Sie als bisheriges Teammitglied vieles bereits wissen -, um gegenseitige Erwartungshaltungen zu klären. Das ist in diesem Szenario besonders wichtig, weil Sie nun nicht mehr der Teamkollege, sondern die Führungskraft sind. Fordern Sie von jeder Person Teamgeist ein. Da Sie aus dem Team heraus entwickelt wurden, ist davon auszugehen, dass Sie alle Teammitglieder und deren Stärken sowie Aufgaben kennen. Es kann und wird sogar mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit so sein, dass Sie aus den Einzelgesprächen gewisse Vorbehalte gegen Sie als neue Führungskraft verspüren, oder diese mit feinen Antennen bereits zuvor verspürt haben. Sind Sie darüber nicht überrascht, denn das ist zutiefst menschlich. Selbstverständlich frägt sich der eine oder andere enttäuschte Mitarbeiter, der bisher Ihr Kollege war, warum Sie und nicht er diese Stelle bekommen hat. Ignorieren Sie diese Reaktion nicht, sondern sprechen Sie Ihr Gefühl ganz offen an, wie z. B.

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„Ich habe das Gefühl, Du tust Dich noch schwer, mich in meiner neuen Rolle zu akzeptieren – wie siehst Du das?“

Erfragen Sie nochmals seine Erwartungen an Sie und klären Sie, ob diese kongruent zu Ihren Zielen bzw. Führungsstil sind. Machen Sie klar, was Sie akzeptieren können und was nicht. Geben Sie dem betroffenen Mitarbeiter etwas Zeit und treffen Sie dazu mit ihm eine klare Vereinbarung. Dies ist einer der Momente, in denen Sie den Spruch „change it – leave it – love it!“ zitieren dürfen bzw. sollten, denn der macht die Optionen für den Mitarbeiter glasklar. Er muss verstehen, dass nur er allein mit seiner persönlichen Einstellung entscheidet, ob er die Situation annehmen kann oder nicht. Das erfordert sehr oft mehrere Gespräche, in denen Sie immer ganz klar Ihre Wahrnehmungen und Gefühle äußern aber auch Ihre Position wiederholen sollten. Gerade in diesem Szenario, bei der Sie Führungskraft von bisherigen Kollegen werden, ist es ganz besonders wichtig, dass Sie rasch mit konkreten Maßnahmen eine Vertrauensbasis aufbauen. Je schneller ist Sie das schaffen, desto früher werden etwaige Zweifel über Ihre Führungskompetenzen verschwinden. Alle anderen Empfehlungen für dieses Szenario entnehmen Sie dem Abschn. 5.5.

5.11 E  rgänzende Checkliste „Onboarding in eine erste Führungsrolle aus einem Team heraus“ Vorbereitung auf potenzielle Fragen der Kollegen, die nun Ihre Mitarbeiter werden  - „warum fiel die Wahl auf Dich?“  - „Was ändert sich nun in unserer Beziehung?“  - „Wie wird Dein Führungsstil sein?“  - „Was ist für Dich wichtig?“  - „Das erwarte ich nun von Dir als mein Chef“

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Vorbereitung auf erste Ansprache  - Siehe generische Checkliste  - Aussagen zu Ihrem Führungsstil  - Zukünftige Kommunikationsstruktur mit und im Team Erste Ansprache  - Siehe generische Checkliste Einzelgespräche mit jedem Mitarbeiter Vorbereitung auf Widerstände  - Identifikation von Mitarbeiter, die in Einzelgesprächen sich schwer taten, Sie als Vorgesetzter zu akzeptieren  - Vorbereitung eines weiteren Gesprächs zur Klärung der Zusammenarbeit und deren klaren Regeln  - Botschaft „change it – leave it – love it!“

5.12 O  nboarding in ein anderes Team innerhalb des gleichen Unternehmens In diesem Fall kennen Sie die Unternehmenskultur bereits, aber evtl. nicht die Führungskultur Ihres neuen Vorgesetzten, der Ihnen ein Angebot macht, eine Führungsstelle zu übernehmen. Daher ist es sehr wichtig, dass Sie sich Informationen über ihn einholen, bevor Sie es annehmen. Das sollte nicht allzu schwierig sein, denn fast jeder Führungskraft in einem Unternehmen eilt ein Ruf voraus. Sind Sie sich darüber bewusst, dass der direkte Vorgesetzte und dessen Führungsstil entscheidend ist über Ihren Erfolg. Ich habe zu viele Fälle erlebt, in denen die Zusammenarbeit gescheitert ist. Wenn Menschen Unternehmen verlassen, verlassen sie nicht Unternehmen per se, sondern sie verlassen einen Menschen und dies ist in der Regel eine Führungskraft. Nach meinen Erfahrungen sind es drei Dinge, die sehr wichtig sind bzgl. des idealen und nach meinem Maßstab, des „akzeptablen“ Vorsetzten: 1. Gestaltungsfreiheit, Freiräume – die Basis dafür ist ein hohes Maß an Vertrauen. Vertrauen ist die Mutter von Kreativität, Kreativität ist die Mutter von Innovationen und Innovationen sind der Schlüssel für nachhaltigen Erfolg. Prüfen Sie insbesondere diesen wichtigen Punkt

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mit Ihren Grundwerten. Benötigen Sie Freiräume und Autonomie wie den lebensnotwendigen Sauerstoff? Dann ist Micro-Management tödlich für Ihr Engagement und Ihre Zufriedenheit. 2. Unterstützung für eigene Sichtbarkeit im oberen Management. Es gibt nach meiner Erfahrung leider zu viele Führungskräfte, welche die Erfolge ihrer Mitarbeiter im oberen Management als ihre eigene verkaufen. 3 . Unterstützung für eigene Weiterentwicklung über den aktuellen Bereich hinaus. Wahre Größe zeigen die Vorgesetzten, denen es gelingt, dass ihre Mitarbeiter sie selbst auf der Karriereleiter überholen, statt sie im eigenen Bereich „verhungern“ zu lassen. Wenn Sie Zweifel nur an einer dieser Grundvoraussetzungen haben, sollten Sie Ihre Entscheidung für diese Stelle nochmals überdenken. Wenn Sie alle drei Fragen negativ beantworten, müssen Sie das Angebot ausschlagen, es sei denn, Sie wissen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Vorgesetzte nicht mehr sehr lange in seiner Verantwortung ist. Ich habe zweimal die bittere Erfahrung machen müssen, dass schlechte Vorgesetzte zu einer untragbaren Belastung werden können. Ich selbst habe dann immer sehr schnell die Reißleine gezogen und habe die Position verlassen, aber ich musste auch erleben, dass Kollegen regelrecht daran zerbrochen sind und krank wurden, nicht nur seelisch, sondern auch physisch. Wenn Sie jedoch nach dieser Prüfung überzeugt sind, dass Sie den neuen Vorgesetzten akzeptieren können, weil er Ihnen diese drei Punkte bietet, sollten Sie folgende Schritte angehen: • Holen Sie vorab möglichst viele Informationen ein über das neue Team, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben. Was ist dessen Charter und Wertschöpfung; was ist die aktuelle Situation bzw. das Leistungsniveau? Wie ist die Kultur und das Klima im Team? Gibt es wichtige Leistungsträger und wie viele notorische Bedenkenträger gibt es? • Vor dem ersten Tag mit dem Vorgesetzten klären: welche Erwartungen hat er an mich und an uns?  – welche Kompetenzen habe ich?  – in welcher Häufigkeit soll ich ihm berichten? Es empfiehlt sich, dass dies in den ersten 6 Monaten monatlich der Fall sein sollte.

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• Es ist wichtig, dass Sie in der Ansprache am ersten Tag Ihre Freude für die neue Aufgabe zum Ausdruck bringen sowie eine erste Vision für das Team artikulieren. Das könnte sich so anhören: „Ich freue mich über die Aufgabe, Eure Führungskraft zu sein. Mein Ziel ist es, mit Euch zusammen in drei Jahren einen Leistungsstatus zu erreichen, der im Unternehmen als leuchtendes Beispiel bekannt ist. Das schaffen wir nur gemeinsam – ich brauche Euch dazu. In den nächsten Wochen setzen wir uns einmal zusammen und formulieren dieses Ziel und was dazu gehört im Detail. Ich kenne die Erwartungen meines Chefs für unser Team, die ich mitbringen werde“.

• Beschreiben Sie in einigen Worten Ihren Führungsstil. Bei diesem Punkt wird das Team ganz besonders sensibel aufhören, denn schließlich gab es ja einen Vorgänger auf Ihrer Stelle. Vermeiden Sie aber unbedingt Vergleiche mit ihm, z. B. mit den Worten „Im Gegensatz zu meinem Vorgänger, bin ich oder werde ich ….“

• Das ist ein „no go“. Dennoch sollten Sie konkrete Dinge nennen, aus denen das Team selbst und implizit erkennen kann, was in Ihrem Führungsstil anders ist und anders bedeutet selbstverständlich besser. Das Team muss erkennen, dass Sie „auf Augenhöhe“ führen und dass es immer ein „wir“ gibt. Bringen Sie die Metapher eines erfolgreichen Sportteams ein mit dem Hinweis einiger wichtigen Kriterien für deren Erfolg. Mit diesem Bild erreichen Sie sehr viele Menschen.

5.13 E  rgänzende Checkliste „Onboarding in ein anderes Team innerhalb des gleichen Unternehmens“ Vor der Entscheidung, die neue Führungsrolle anzunehmen: Informationen über den neuen Vorgesetzten einholen? Was ist sein Führungsstil? Was ist sein Ruf? Gibt er mir genügend Gestaltungsfreiheit und Freiräume?

5 Onboarding  Unterstützt er mich in meiner Sichtbarkeit im oberen Management? Unterstützt er mich in meiner Weiterentwicklung? Informationen über Ihren Vorgänger als Führungskraft auf dieser Stelle einholen.  - Wie war sein Führungsstil und wie weicht er von Ihrem ab?  - Was sind die Ausprägungen der Unterschiede, die Sie implizit in Ihrer ersten Ansprache erwähnen? Wo holen Sie Ihr Team ab?  - Ist es bereits auf einem sehr hohen Leistungsniveau?  - Ist es eine Baustelle mit einer sehr hohen Veränderungsnotwendigkeit? Informationen über das Team einholen.  - Wie ist das Verhältnis von Leistungsträger zu Bedenkenträger? Hat das Team eine Veränderungsvergangenheit?  - Wie oft gab es Veränderungen und mit welcher Tragweite?  - Wie war das Verhältnis von erfolgreichen zu gescheiterten Veränderungen?

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5.14 O  nboarding in ein Team in einem anderen Unternehmen ohne Führungskräfte im Team In diesem Szenario betreten Sie völliges Neuland. Von der ersten Sekunde an in der Sie diese Entscheidung in Erwägung ziehen, muss Ihnen klar und wird dabei für Ihren Erfolg entscheidend sein, dass eine Schlüsselfrage vor der Entscheidung die wichtigste ist: ist die Kultur des Unternehmens und dabei insbesondere die Führungskultur sowie die gelebten Unternehmenswerte mit Ihren Werten kompatibel? Sollte das nicht der Fall sein, heißt es „Finger weg“, selbst wenn in der neuen Stelle ein schöner Titel und Geld winken. Ich habe zu viele Kollegen erlebt, welch in diese Falle getappt sind. Wie gehen Sie nun vor? Beginnen wir mit Ihrer Bewerbung für eine solche Position. Hierzu empfehle ich folgende Schritte: 1. Holen Sie sich so viele Informationen wie möglich über das Unterneh­ men ein, das Internet bietet dazu sehr viele Möglichkeiten. Es gibt Be­ wertungsportale, in denen Arbeitnehmer ihr Unternehmen bewerten,

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so z. B. GLASSDOOR, hauptsächlich für Konzerne, die ihren Sitz in den USA haben und international vertreten sind. Im deutschsprachigen Raum ist es Kununu. Sie bieten Einblicke in Unternehmen. Dabei gilt die Regel, je mehr Kommentare von deren Unternehmen sichtbar sind, desto größer ist deren Relevanz. Eine weitere Quelle bieten die Social Media Plattformen LinkedIn und Xing, mit Hilfe derer kann man Mitarbeiter von Unternehmen finden, die evtl. bereit sind, Auskünfte über die Kultur ihres Unternehmens zu geben. Solch ein Verhalten war noch vor Jahren undenkbar, aber inzwischen ist das Mitteilungsbedürfnis der Arbeitnehmer gewachsen und die Generation der Millenniums ist generell mehr offen, sich in diesen Medien zu öffnen. 2. Haben Sie dabei die bereits genannten drei Anforderungen an einen akzeptablen Vorgesetzten im Auge, die wichtig sind für eine erfolgreiche Wirksamkeit, die da sind: Gestaltungsfreiheit und Freiräume, Unterstützung für eigene Sichtbarkeit im oberen Management und Unterstützung für eigene Weiterentwicklung. Nehmen wir an, dass Sie nach Klärung dieser beiden Schritte, die angebotene Führungsposition unbedingt bekommen wollen. Sie bewerben sich. Welche Informationen über Sie sind dabei die Wichtigsten? Um diese Frage zu beantworten, empfehle ich, sich in die Rolle des Lesers der Bewerbungsunterlagen zu begeben und sich die weitere Frage zu stellen: Was möchte dieser unbedingt über Sie wissen und zwar so schnell wie möglich ohne umfangreiche Bewerbungsunterlagen zu studieren? Natürlich Ihre Berufserfahrung vielleicht auch noch Ihre Berufsausbildung. Jedoch nach meiner Erfahrung ist das Allerwichtigste, Ihre Persönlichkeit. Was zeichnet Sie als Mensch aus, ja was macht Sie geradezu einmalig, Ihre USPs. Dazu zählen: • • • • • • •

Welchen interkulturellen Horizont haben Sie? Wie verhalten Sie sich in einem Team? Wie groß ist Ihre Resilienz? Wie gehen Sie mit Veränderungen um? Auf welche Leistung sind Sie besonders stolz? Sind Sie ein Kümmerer oder haben Sie sehr starke narzisstische Züge? Sind Sie eher zögerlich oder proaktiv?

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• Wie ist Ihr innerer Kompass? Was ist das Lebensziel? Welche Werte leiten Sie? • Sind Sie klar in Ihrer Kommunikation oder ein „Schwätzer“? Nach meinen Erfahrungen liefern dazu die überwiegende Mehrheit aller Bewerbungsunterlagen keine Antworten. Die Lebensläufe sind übervoll mit Ausbildungszertifikate und Tätigkeitsnachweise, aber wo bleiben da die unverwechselbaren Charakterstärken der Persönlichkeit? Daher empfehle ich, prägnante Aussagen dazu in einem Lebenslauf oder Anschreiben voran zu stellen, denn die Leserin oder der Leser möchte diese Dinge unbedingt erfahren. Stellen Sie sich vor, die Personalabteilung des Unternehmens, das eine Führungskraft sucht, wird regelrecht überschwemmt mit Bewerbungen mit jeweils langen Lebensläufen und umfangreichen Unterlagen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass der Leser binnen wenigen Minuten wissen möchte, welcher Mensch mit welcher Persönlichkeit sich hinter all den Informationen verbirgt? Selbstverständlich müssen die Aussagen zu Ihren Charakterstärken ehrlich und authentisch sein, damit sie in einem Bewerbungsgespräch Stand halten und zwar durch anschauliche und authentische Beispiele dazu. Nehmen wir nun an, Sie wurden nach einem ersten Gespräch nochmals zum finalen Vorstellungsgespräch eingeladen. Was nehmen Sie dazu mit? Ich selbst habe sehr gut Erfahrungen, wenn man einen groben Plan für die Führungsaktivitäten in den ersten 90 Tage mitnimmt und vorstellt. Die bisher bereits genannten Punkte liefern dazu exzellente Anregungen. Mit einem solchen Plan geben Sie ein klares Signal, dass Sie sich bereits in die Lage der gesuchten Führungskraft hineinversetzt haben. Das macht Sie äußerst glaubwürdig und zeigt, dass Sie nicht so einfach in eine solche Position reinstolpern würden, sondern dass Sie eine Strategie zum Erfolg haben – eine sehr starke Botschaft. Nehmen wir nun weiter an, dass die Signale, welche Sie während des Meetings erhalten haben, jedoch noch nicht so klar zu Ihren Gunsten waren und Sie fahren mit diesem unsicheren Gefühl wieder nach Hause. Was machen Sie nun? Warten Sie nicht tatenlos und sehnsüchtig auf eine positive Antwort, sondern versetzen Sie sich wiederum in die Lage der Personen, die Sie interviewt haben. Vielleicht waren Sie nicht der einzige Bewerber mit

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dem sie an diesem Tag gesprochen haben. Vielleicht haben sie sich nur stichwortartige oder keine Notizen gemacht. Vielleicht wurden sie im Anschluss an das Gespräch mit Ihnen mit einer Eskalation konfrontiert, welche alle anderen Eindrücke des Tages überlagert hat. Vielleicht dauert es Tage, bis die Interviewer wieder zusammenkommen und gemeinsam eine Entscheidung über Sie fällen. All diesen Unwägbarkeiten können Sie proaktiv vorbeugen, indem Sie die Interviewer am Tage danach per Email kontaktieren, sich für das wertvolle Gespräch nochmals bedanken und in wenigen Worten zusammenfassen, warum Sie überzeugt sind, die richtige Person für die Aufgabe zu sein. Erwähnen Sie dabei Ihre wichtigsten persönlichen Stärken mit einer Referenz zu den von Ihnen verstandenen Herausforderungen der neuen Führungsrolle und präsentieren Sie Ihren stichwortartigen 90-Tage-Plan. Eine derartige professionelle Vorgehensweise zahlt sich nach meinen Erfahrungen als wichtiger USP aus. Damit differenzieren Sie sich um Meilen von eventuellen Mitbewerbern. Nehmen wir nun weiter an, Sie bekommen die angestrebte Führungsposition und unterschreiben den Vertrag. Was sind die nächsten Schritte? 1. Treten Sie als Reaktion auf die Zusage in Kontakt auf mit der Per­ sonalabteilung des neuen Unternehmens und bitten Sie um die Kon­ taktdaten der Person, die Sie in der neuen Führungsrolle unterstützen wird, in der Regel ist dies die Admin Assistant bzw. die Sekretärin. 2. Kontaktieren Sie diese und bitten Sie sie um zwei Terminreservierungen für Ihren ersten Tag im neuen Unternehmen: einen Termin mit Ihrem neuen Vorgesetzten und einen Termin mit allen Ihren neuen Mit­ arbeitern zusammen, idealerweise mit physischer Präsenz oder einen Video-Web-Meeting mit allen, falls ersteres nicht möglich ist. Idealerweise sollte der Erstkontakt mit der Sekretärin zumindest ein Telefonat sein, noch besser wäre ein persönliches Treffen, denn sie wird Ihre wichtigste Vertrauensperson in Ihrer neuen Aufgabe sein und für Ihre Wirksamkeit eine ganz wichtige Rolle spielen. Sie beide müssen besonders gut harmonieren. Idealerweise gelingt es Ihnen, sehr schnell ein blindes Verständnis zwischen Ihnen aufzubauen. Von ihr werden Sie auch in der Regel sehr viel über die aktuelle Stimmung und die Situation des Teams erfahren. Eine wichtige Frage dabei ist – sofern Sie das nicht bereits vorab erfahren haben – ob es im Unternehmen bzw. in

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der neuen Abteilung eine „Siez- oder Duz“-Kultur gibt. Das ist ein sehr wichtiges und nicht zu unterschätzendes Merkmal einer Unter­ nehmenskultur und erfordert etwas Fingerspitzengefühl. Sie könnten zum Beispiel, falls Sie bisher erfolgreich in einer Duz-Kultur waren, im schlimmsten Fall total gegen die Wand laufen, wenn Sie eine solche ad hoc in Ihrem neuen Bereich einführen wollten. Vielleicht gelingt es Ihnen, in diesem Gespräch mit ihr etwas über Ihren Vorgänger in der Führungsrolle zu erfahren, insbesondere über seinen Führungsstil, denn dann könnten Sie sich besser auf die „Mikrokultur“ der neuen Abteilung vorbereiten. Während das Meeting mit Ihrem Vorgesetzten nicht unbedingt am ersten Tag Ihres Erscheinens erfolgen muss, ist es absolutes Muss, dass Ihre neuen Mitarbeiter Sie am ersten Tag kennen lernen. Selbstverständlich sind sie aufs Höchste interessiert, Sie als Person wahrzunehmen. Das duldet keinen Aufschub, denn welches Signal sendet es aus, wenn sie dies nicht am ersten Tag tun? Ganz klar: „Ihr seid nicht meine erste Priorität“. Das Ziel des gesamten Onboardings muss für Sie sein, möglichst schnell eine ­ Vertrauensbasis zu schaffen und Vertrauen bauen wir Menschen ausschließlich über persönliche Kontakte auf und nicht über virtuelle. Vor Ihrem ersten Tag in der neuen Führungsrolle empfehle ich Ihnen eine Reflektionsübung wie sie Tom Peters in seinem Buch „The Pursuit of Wow“ (Peters 1994) beschreibt und die ich grundsätzlich vor jedem neuen Karriereschritt angewandt habe. Nehmen Sie ein Blatt Papier und zeichnen Sie zwei Spalten ein. Die erste überschreiben Sie mit dem Titel „Was mich in meiner letzten Position ärgerte/frustrierte“ und der rechten Spalte geben Sie die Überschrift „Mein Rezept dagegen in der neuen Stelle“. Dann tragen Sie zuerst in die linke Spalte all die Dinge ein, die Sie bisher frustrierten, sei es wegen eigener Fehler oder Verhaltensweisen Ihres bisherigen Vorgesetzten. Darüber habe ich mich in meiner letzten Position geärgert

Mein Rezept dagegen in meiner neuen Stelle

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Wenn diese Liste vollständig ist, überlegen Sie sich für jede Aussage auf der linken Seite die Korrekturmaßnahme, die Sie sich für die neue Position vornehmen. Bewahren Sie dieses Blatt gut auf und werfen Sie monatlich einen Blick darauf, um zu prüfen, wie weit Sie gekommen sind die geplanten Rezepte anzuwenden. Obwohl Sie sich sehr gut vorbereitet haben, bevor Sie sich für das neue Unternehmen entschieden haben, empfehle ich Ihnen, möglichst rasch einen internen „Kultur-Coach“ zu finden, zum Beispiel wenn keine Admin Assistant diese Rolle übernehmen kann. Dieser Coach sollte Ihnen die Integration in die neue Kultur erleichtern. So vermeiden Sie, dass Sie in unnötige Fettnäpfen treten. Bei der Suche kann Sie sicher die Personalabteilung unterstützen. In den Folgetagen führen Sie Einzelgespräche mit jedem Teammitglied, in dem gegenseitige Erwartungshaltungen geklärt werden. Dazu sind die 5 Fragen sehr hilfreich, die bereits im Kap. 5.7 erwähnt wurden. Dabei ist es wichtig, dass Sie diese Erwartungen hinsichtlich ihrer Wichtigkeit und Dringlichkeit priorisieren, in drei Kategorien klassifizieren und das Ergebnis dem Team am Ende aller Interviews präsentieren.

5.15 E  rgänzende Checkliste „Onboarding in ein Team in einem anderen Unternehmen ohne Führungskräfte im Team“ 5.15.1 Schritt 1: Vorbereitungen zur Bewerbung Informationen über das Unternehmen einholen (Glassdoor, Konunu etc.) Was ist die Mission des Unternehmens, kann ich mich damit identifizieren? Kontakte zu Mitarbeiter des Unternehmens aufnehmen, z. B. via Xing, LinkedIn., um mehr über die wahre Kultur des Unternehmens zu erfahren Reflektion über generelle Persönlichkeitsmerkmale, die auf dieser Position gefordert sind bzw. wahrscheinlich entscheidend sind. Bringe ich diese mit? Reflektion, ob die Unternehmenswerte mit meinen persönlichen Werten übereinstimmen

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Eigenen Lebenslauf um die USPs meiner Persönlichkeit anreichern und diese herausstellen Beispiele vorbereiten, welche die USPs untermauern und glaubwürdig machen Bewerbungsgespräch vorbereiten Während des Bewerbungsprozess und während des Bewerbungsgesprächs sehr sensitiv Signale der „wahren“ Unternehmenskultur wahrnehmen, z. B. Wartezeiten, formelle oder informelle Kultur, Duz- oder Siez-Kultur, Verhalten der Interviewpartner

5.15.2 S  chritt 2: nach dem Bewerbungsgespräch, wenn Sie diese Position wollen Email an die Interviewpartner am Tag nach dem Interview Inhalt:  - Danke für das Interesse und das Gespräch  - In kurzen, knackigen Punkten zusammenfassen, was ich konkret an Stärken (fachlich und noch wichtiger persönlich) mitbringe für die Aufgabe  - Groben Plan für die wichtigsten Führungsaktivitäten in meinen ersten 90 Tage  - „Darum bin ich die richtige Person für Sie“

5.15.3 S  chritt 3: Onboarding-Aktivitäten, zusätzlich zu den generellen Vor dem 1. Tag:  - Kontakt zur Personalabteilung, um Kontaktdaten Ihrer neuen Admin Assistent zu erhalten, falls es eine gibt oder Vorschlag für einen „KulturCoach“  - Admin Assistant kontaktieren für ein erstes Treffen und sie bitten, 2 Termine für den ersten Tag zu vereinbaren: mit Vorgesetztem und neues Team Vertrauensverhältnis mit Admin Assistant aufbauen und reflektieren: „stimmt die Chemie zwischen uns beiden?“ Falls nicht, HR darüber informieren und gewünschten Austausch anmelden

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5.16 O  nboarding in ein Team mit Führungskräften, die zu Ihnen berichten Die Besonderheit in diesem Szenario ist, dass es in Ihrem neuen Bereich Führungskräfte mit eigenen Teams gibt. In den meisten Fällen werden Führungskräfte außerhalb des Unternehmens nur dann rekrutiert, wenn man bewusst jemanden will, der neue Perspektiven, Erfahrungen und/ oder konkretes Branchenwissen mitbringt, es im eigenen Unternehmen kein passendes Profil gibt, oder keinem der Führungskräfte in diesem Bereich diese höhere Verantwortung zugemutet wird. Sehr oft bzw. in der Regel, erwartet man von der neuen Bereichsführung einen größeren turnaround was die Leistung betrifft. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an Sie als neue Führungskraft, denn die implizite Botschaft Ihrer Einstellung ist: „keiner aktuellen Führungskraft in diesem Team traut man diese Aufgabe zu“. Daraus ergibt sich auch mit großer Wahrscheinlichkeit, dass einige der Führungskräfte enttäuscht sind, dass die Wahl nicht auf sie fiel und entsprechend sorgsam werden sie Sie unter die Lupe nehmen, denn deren Frage ist: „Was bringt der/die mit, was ich nicht habe oder mir nicht zutraut.“ Sie erwartet also ein gewisses Ressentiment. Nach meiner tiefsten Überzeugung geht es Abteilungen, Organisation und Unternehmen gut und sind erfolgreich, wenn sie ausgezeichnet geführt werden. Umkehrschluss: Unternehmen geht es schlecht und verschwinden sehr oft komplett, wenn die Führung versagt. „Der Fisch stinkt vom Kopf“ ist die nackte Realität in solchen Organisationen. Ergo: Führung ist alles! Nehmen wir nun an, Sie werden die neue Führungskraft eines Bereiches und ersetzen eine andere, von der man sich getrennt hat, weil man bewusst einen solchen gravierenden turn-around erwartet. In diesem Fall muss es am ersten Tag Ihres Wirkens nicht nur eine Ansprache an alle Mitarbeiter geben, sondern eine zweite, ausschließlich für die Führungskräfte. Welche der beiden Ansprachen Sie nun zuerst halten, bleibt Ihnen überlassen. Ich empfehle Ihnen, sich zuerst den Führungskräften vorzustellen, obwohl Sie in dieser Reihenfolge einige Dinge doppelt erwähnen müssen.

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In der Ansprache an alle Mitarbeiter sollten Sie die besondere Herausforderung bzgl. der Erwartungen an Sie erwähnen, vielleicht in folgendem Wortlaut: „Wie Sie wissen, erwartet das Management von mir und von uns eine wesentliche Leistungssteigerung, sei es eine deutliche Verbesserung der Zufriedenheit unserer Kunden, effizientere Prozesse oder die finanziellen Ergebnisse. Mir ist bewusst, das ist für uns eine große Herausforderung, aber ich bin guten Mutes und auch überzeugt, zusammen schaffen wir das.“

Ihre Ansprache an die Führungskräfte, starten Sie mit Ihrer Überzeugung: „Führung ist alles!“ Stellen Sie Ihre Position und festen Überzeugung klar, dass die Herausforderung in Form eines turn-arounds einzig und allein mit einer exzellenten Führung zu bewältigen ist. Bei dieser Ansprache sollten unbedingt alle Führungskräfte persönlich teilnehmen, d. h. auch diese sind vorab dazu einzuladen. Die Ansprache könnte folgenden Inhalt haben: „Ich möchte mit Ihnen ganz besonders auf den erwarteten turn-around eingehen. Aus meiner langjährigen Führungsarbeit habe ich die feste Überzeugung gewonnen, dass so gut wie alle Probleme in einer Organisation zu 100 % ihre Ursache in falscher oder schlechter Führung haben. Sie alle waren und sind bis heute ein Teil der Führung in diesem Bereich und der bisherigen Führungskultur. Das ist kein Vorwurf, sondern lediglich eine Feststellung. Die Führungskultur muss sich nun komplett ändern um unsere Ziele zu erreichen. Ich erwarte von Ihnen nun, dass Sie sich zu 100 % mit meiner Führungskultur identifizieren und sich auch konsequent als Führungskraft danach verhalten. In den nächsten 2 Wochen treffen wir uns und definieren gemeinsam verbindliche Leitlinien zu unserem Führungsverhalten, damit wir alle ein einheitliches Verständnis darüber haben, was eine exzellente Führung auszeichnet. (Im Anhang finden Sie ein gutes Beispiel) Es gibt danach nur ein „on the bus“ oder ein „off the bus“. Um es klar zu sagen, Ich werde keine Abweichung zu diesen Prinzipien tolerieren. Das mag für Sie nun hart klingen, aber es gibt keine Alternative für eine andere Führungskultur. Wie gesagt, Führung ist alles – und nur mit exzellenter Führung werden wir erfolgreich sein. Wir starten in den nächsten 2 Monaten eine Umfrage mit der Gallup-Methode „Q12“. Sie wird mir und uns Klarheit geben,

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wo es Verbesserungspotenziale in der Führung gibt. Danach setze ich mich mit jedem von Ihnen zusammen und wir vereinbaren einen Plan, um evtl. Schwachstellen in Ihrer Führung zu beseitigen. Nach 6 Monaten Monate wiederholen wir die Umfrage und dann werden sich die Wege aufzeigen. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich für jeden von Ihnen einsetzen werde, ganz gleich, ob Sie als Führungskraft in meinem Bereich bleiben, eine andere Position ohne Führungsaufgabe übernehmen werden oder ich Ihnen helfen werde bei einem Weg außerhalb des Unternehmens.“

Dieser Ansatz mag für Sie sehr hart oder vielleicht sogar brutal klingen, jedoch meine Erfahrung sagt mir, es gibt keine Alternative dazu. Ich sage es nun ganz klar: schlechte Führungskräfte in ihrer Führungsrolle zu lassen, nenne ich ein Verbrechen. Es ist höchst unfair gegenüber den Mitarbeitern in deren Team, ist gerade tödlich für das Engagement der Mitarbeiter, verhindert sehr gute Leistungen in der Organisation und ist sehr schädlich für Ihre Wirksamkeit als Führungskraft. Machen Sie sich nichts vor. Sie werden in Ihrer Aufgabe scheitern und die in Sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können, wenn Sie in dieser Schlüsselfrage inkonsequent sind. Denn jeder in der Organisation kennt die schlechte Führungsleistung und fragt sich, warum „das obere Management – und damit sind Sie gemeint – das toleriert statt zu handeln“. Nach meinen Beobachtungen gibt es in allen Unternehmen und Organisationen zu viele schlechte Führungskräfte. Das ist auch die Hauptursache, warum die jährlichen Untersuchungen der Gallup-Studie, welche das Engagement von Mitarbeitern weltweit misst, seit mehr als 10 Jahren zeigen, dass es in Deutschland nur maximal 16 % hoch engagierte Mitarbeiter gibt. Welch ein Armutszeugnis, wenn nicht sogar Bankrotterklärung der Führung! Ich höre immer wieder das Argument, dass es unmöglich ist, eine Führungskraft, die bereits viele Jahre im Amt ist, aus der Führungsrolle he­ rauszubewegen. Ich gebe zu, es ist nicht so einfach wie es klingt und es ist sehr viel einfacher, wenn eine Führungskraft noch sehr jung und in ihrer Anfangszeit einer Führungsrolle ist und so die Weichenstellung in frühen Jahren geschieht, wenn die Chancen auf dem Arbeitsmarkt noch größer sind. Wenn Sie eine neue Führungsposition in diesem Szenario übernehmen, werden Sie in den meisten Fällen Führungskräfte vorfinden, von

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denen einige mit 100 % Wahrscheinlichkeit Ihre Erwartungen nicht erfüllen, obwohl sie ihnen und allen mit der oben genannten Vorgehensweise eine faire Chance gegeben haben, ihren Führungsstil zu verbessern. Wenn Sie nach dieser „Bewährungsfrist“ zur Entscheidung kommen, sich von der einen oder anderen Führungskraft zu trennen, bietet sich aus meiner Erfahrung dann folgende Vorgehensweise an: Ja, es wird eine schwierige Diskussion mit dem Betroffenen, keine Frage. Am Anfang eines solchen Gesprächs, hilft vor allem als erstens die Frage: „lieben Sie Ihren Führungsjob noch?“. Viele, die nicht Ihren Erwartungen entsprechen, werden darauf sehr ausweichend antworten, aber einige werden die Frage sogar verneinen. Im zweiten Fall öffnet sich für Sie eine Tür und Sie können sofort über Optionen reden. Dann ist es eine Frage der Alternativen, die z. B. eine Senior-Experten-Rolle in Ihrem Bereich sein kann oder noch besser: Sie fragen „Welche Stelle in unserem Unternehmen würdest Du gerne anstatt einer Führungsrolle übernehmen?“

Geben Sie in diesem Fall der Führungskraft Zeit, sich der neuen Lage und den Optionen, die Sie ihm bieten, klar zu werden. Das kann einige Wochen dauern, aber letztendlich müssen Sie konsequent bleiben und ihn aus der Führungsposition herausnehmen, da führt kein Weg vorbei. Für alle anderen Fällen, vor allem wenn es sich um eine noch jüngere Führungskraft handelt, in den der Gefragte nicht die Tür öffnet und auf seine aktuelle Führungsposition beharrt, benutzte in meinen Fällen sehr oft das Beispiel eines Hochspringers mit den Worten: „Du springst aktuell über die Höhe von X, das ist zu wenig, denn ich benötige Führungskräfte, welche die Höhe Y packen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Ich schicke dich auf ein Training, aber es wird völlig unrealistisch sein, dass dies Dich auf Y bringt, oder Du suchst Dir einen neuen Verein, in dem Du mit der Höhe X immer Meister wirst. Wenn du aber bei uns bleibst, werde ich Dich aus Gründen der Fairness gegenüber Deinen Kollegen immer an die Diskrepanz zwischen X und Y erinnern müssen. Ist das nicht demotivierend für Dich, während Du im anderen Verein mit Deiner Leistung immer das positive Meistergefühl hättest?“

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Diese Diskussion war für den Betroffenen am Anfang immer sehr schwierig, aber nach einigen Wochen hat die Botschaft gefruchtet und die Führungskraft verließ das Unternehmen. Das schöne war, dass alle nach einigen Monaten mit der Rückmeldung kamen: „Damals hätte ich Dich erschlagen können, aber inzwischen bin ich Dir sogar dankbar, denn nun spüre ich nicht mehr die große Last einer unerfüllbaren Erwartung, sondern bin sehr „glücklich“ und das wirkt sich auch sehr positiv in meinem privaten Umfeld aus.“

In vielen Fällen wird jedoch aus Bequemlichkeit einfach weggeschaut statt gehandelt und somit das Problem jahrelang weitergezogen. Übrigens, eine Führungsrolle ist in meinen Augen keine lebenslängliche Zusage. Dieses Bewusstsein fehlt in unserer Gesellschaft. In dieser Problematik ist es jedoch elementar wichtig, dass Sie für derartige Veränderungen in Ihrem Führungsteam eine Entscheidungsfreiheit haben müssen. Idealerweise klären Sie das vor der Vertragsunterzeichnung, was dann einfach sein sollte, wenn Sie in einer starken Verhandlungsposition sind, weil man Sie unbedingt will. In einem Fall wechselte eine meiner Kolleginnen zu einem sehr namhaften amerikanischen Unternehmen. Nach 3 Monaten musste sie feststellen, dass sie 3 von 9 Führungskräfte ihres Bereiches unbedingt austauschen müsste, um erfolgreich zu sein. Als sie die HR-Abteilung damit konfrontierte, erhielt sie als Antwort: „Sandra, das haben wir noch nie gemacht und das kannst Du nun auch nicht tun“. Dieses Veto war dann das Ende bei diesem Unternehmen und sie ging. Ihr war bewusst, dass diese Einschränkung inakzeptable Handschellen waren für ihren Erfolg. Schlechte Führungskräfte aus ihrer Führungsverantwortung zu nehmen, sei es, sie in fachliche Coaches zu transformieren oder zu überzeugen, das Unternehmen zu verlassen, ist keine einfache Aufgabe. Auch bei mir selbst hat es einige Zeit gekostet, bis mir klar war, es gibt dazu keine Alternative. Den Schaden, den sie anrichten ist viel zu groß. Das erfordert Mut und Durchstehvermögen. In einem Fall hat meine Entscheidung, eine Führungskraft aus ihrer Position zu nehmen, bei seinen Mitarbeitern folgende Reaktion ausgelöst: Am nächsten Tag kamen sie alle in

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schwarzer Kleidung ins Büro. Hat mir das imponierte? Ja. Hat es meine Entscheidung geändert: Nein, denn die Mitarbeiter konnten nicht wissen, dass er systematisch all meine Entscheidungen sabotiert hat und das für eine lange Zeit trotz wiederholter Ermahnungen. Ich machte mir nur den Vorwurf, dass ich zu lange gewartet hatte.

5.17 E  rgänzende Checkliste „Onboarding in ein Team mit Führungskräften, die zu Ihnen berichten“ Wenn Sie ein Angebot erhalten: Termin mit Ihrem neuen Vorgesetzten und der Personalabteilung in dem Sie fordern: Völlige Freiheit bzw. Autonomie bei Personalveränderungen in Ihrem Führungsteam, d. h. es gibt kein Vetorecht von HR, falls Sie zur Entscheidung kommen, eine Führungskraft aus Ihrem Team herauszunehmen Zweite Ansprache für den ersten Tag ankündigen, mit den Führungskräften als „Pflichttermin“ Informationen über die Führungskräfte einholen und deren Führungsstil. Quellen: Vorgänger auf Ihrer Position, Personalabteilung oder bisherige Admin Assistant Ansprache mit Führungskräften vorbereiten. Was sind die Schlüsselbotschaften? Ansprache an Führungskräfte mit Aussagen zu  - Meinen Werten  -Meiner Überzeugung: „Führung ist alles!“  -die evtl. schlechten Ergebnisse bisher sind auf mangelnde Führung zurückzuführen und die aktuellen Führungskräfte waren Mitgestalter der ungenügenden Führung  -Meine Führungsphilosophie erklären  -„ich erwarte von Ihnen 100 % Unterstützung dafür“ – es gibt nur ein „on the bus or off the bus!“  -Hinweis zu einer Mitarbeiterbefragung mit den Q12-Fragen von Gallup bzgl. deren Engagement und darauffolgende 1:1 Gespräche mit allen Führungskräften bzgl. Führungsproblemen und deren Korrekturmaßnahmen  -Hinweis: „Ich geben Ihnen alle eine Chance, jedoch, ich werde schlechte Führungsleistung nicht tolerieren“

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5.18 D  ie ersten 90 Tage – die ersten Veränderungsnotwendigkeiten werden sichtbar Je mehr und länger Sie nun in Ihre neue Rolle eintauchen, desto mehr und öfters werden Sie auf Dinge stoßen, von den Sie überzeugt sind, dass sie verändert werden müssen, um Ihren Erfolg bzw. die Erwartungen Ihres Managements nicht zu gefährden. Viele Hinweise über notwendige Veränderungen ergeben sich aus dem Teamleitbild, bei dessen Erarbeitung ja das ganze Team involviert war. Somit ist der Rahmen gesetzt. Diese Veränderungen nun konkret einzuleiten, ist der Beginn für Ihre ersten großen Herausforderungen. Packen Sie es an. Von Jack Welch stammt der dazu passende Satz: Verändere die Dinge, bevor Du es tun musst.

Aus meiner langen Führungserfahrung weiß ich, dass die Aufgabe, ein Team, eine Organisation oder ein Unternehmen erfolgreich durch Veränderungen zu führen, die mit großem Abstand größte Herausforderung für jede Führungskraft ist. Und diese Herausforderung wird in der Zukunft immer größer, ja, sie wächst von Tag zu Tag, weil die Welt immer dynamischer wird. Prozesse, Strukturen und Verhaltensweisen, die gestern noch den Erfolg gesichert haben, können schon morgen obsolet werden, weil sich zum Beispiel die globale Wettbewerbssituation über Nacht gravierend geändert hat. Dieser Notwendigkeit steht entgegen, dass wir Menschen im Grunde Veränderungen nicht mögen. Sie reißen uns mit Gewalt aus unseren Gewohnheiten und Komfortzonen. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass die Beharrungskräfte immer mehr wachsen, d. h. der nötige Spagat wird immer größer. Das betrifft uns alle, denn wir sind alle Spieler und nicht Zuschauer in diesem großen Veränderungs-Spiel. Als Führungskraft mit Vorbildcharakter muss ich zuerst bei mir selbst beginnen und mir selbst eine Reihe von Gretchenfragen stellen: • „Wie halte ich es mit Veränderungen? • Ängstigen Sie mich oder freue ich mich darauf?

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• Erwische ich mich manchmal bei dem Gedanken: Jetzt ist aber genug? • Welche Veränderungen habe ich in der Vergangenheit gemeistert? Was hat mir dabei geholfen? • Welche Veränderungen sind mir misslungen und warum?“ Es versteht sich von selbst, dass sich Optimisten mit dem Ergebnis dieser Reflektion leichter tun und umgekehrt es für Pessimisten zu einem schmerzhaften Ergebnis kommen kann. Ich habe an einer anderen Stelle dieses Buches bereits gesagt und ich wiederhole es hier noch einmal, obwohl es eine sehr harte Empfehlung ist: Pessimisten sollten/dürfen keine Führungskräfte sein! Diese Reflektion der Führungskraft über die persönliche Einstellung zu Veränderungen ist sehr wichtig, denn wir Menschen steuern uns über unsere Einstellung. Sehen wir ein halb volles Glar als halb voll oder halb leer. Beide Aussagen sind richtig, aber die Wahrnehmung ist in beiden Sichtweisen eine völlig andere, getrieben durch unsere persönliche Einstellung. Erst wenn wir als Führungskraft unsere eigene Einstellung geklärt haben, verstehen wir, warum Mitarbeiter sehr unterschiedlich auf Veränderungen reagieren, der eine mit Angst und der andere mit Zuversicht. Das ist zutiefst menschlich und ist weder gut noch schlecht. Love it! Bei der Ausarbeitung des Teamleitbildes haben Sie die Strategien, die zur Realisierung der Vision nötig sind, bewertet nach deren Nutzen und Aufwand und haben so die „low hanging fruits“ identifiziert. Diese Dinge sollten Sie mit erster Priorität ins Auge fassen, denn Ihr Umfeld – nicht nur Ihre Mitarbeiter  – erwartet rasche Ergebnisse von Ihnen als neue Führungskraft. Nun ist es an der Zeit, die notwendigen Veränderung mit Ihrem Team zu konkretisieren und damit geht es an das Eingemachte, denn jede Veränderung bedarf einer Verhaltensänderung und ist die Veränderung auch noch so klein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt merken Sie, wie die Stimmung im Team bzgl. der notwendigen Veränderung ist, denn nun wird es konkret für jeden Mitarbeiter. So lange Sie das Teamleitbild erstellt haben, waren alle Ideen über das „WAS“ zu ändern ist, reine Theorie. Nun, nachdem es konkreter wird, werden Sie feststellen, dass sich das Team in drei Gruppen unterteilt: die Gruppe der Überzeugten und Engagierten, die es nicht

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erwarten können, Dinge zu verbessern, dann die Gruppe der noch Unentschiedenen, die ein Grundskepsis haben, aber eher neutral als dagegen sind und schließlich die Gruppe der Bedenkenträger und Pessimisten, die es so gut wie immer in jeder Gruppe gibt. Fokussieren Sie sich zu allererst auf die positiv Denkenden und bitten Sie diese, ihre positive Haltung gegenüber den Unentschiedenen und Bedenkenträger zu artikulieren. Sie sind Ihr Change Agents oder wichtige Botschafter für die Veränderung. Investieren Sie nicht zu viel Zeit, um die Bedenkenträger umzustimmen. Denken Sie an die drei Alternativen „change it – leave it – love it“ und nehmen Sie sie an. Annehmen sollte allerdings nicht ein Freifahrschein für Widerstand sein. Bleiben Sie im Gespräch mit diesen Mitarbeitern. Machen Sie ihnen immer wieder klar, dass sie ihre Haltung akzeptieren. Empfehlen Sie ihnen eine regelmäßige Reflektion darüber, insbesondere über die Frage, ob sie sich in ihrer Abwehrhaltung immer noch wohlfühlen, obwohl sie selbst sehen können, dass ihre negative Einstellung die Veränderung nicht stoppt. Zu dieser Diskussion gehört auch unbedingt die klare Botschaft, dass Sie die Haltung zwar akzeptieren aber Widerstand nicht tolerieren werden. Haben Sie bei all Ihren Veränderungsbestrebungen immer im Kopf, dass es seit vielen Jahren eine unveränderliche weltweite Statistik gibt, die aussagt, dass 70  % aller Veränderungen scheitern, weil einer oder mehrere der folgenden vier kritischen Erfolgsfaktoren nicht gegeben sind. Es sind die absoluten Mussbedingungen für eine erfolgreiche Veränderung: 1. Die betroffenen Mitarbeiter müssen die Notwendigkeit der Ver­ änderung akzeptieren. Verstehen alleine reicht nicht aus. Nur mit Akzeptanz werden sie sich dafür engagieren. 2. Alle Veränderungen erfordern bzw. erzwingen Verhaltensänderungen. Die müssen für alle klar sein und das neue Verhalten muss sofort mit promptem Feedback belohnt bzw. korrigiert werden. 3. Die Mitarbeiter benötigen die Fähigkeiten, welche die Veränderung erfordert. Das bedeutet sehr oft ein Investment. 4. Die Führungskraft bzw. alle Führungskräfte müssen Vorbild sein, die Veränderung selbst zu leben.

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Wichtig: Wenn nur eine dieser vier Bedingungen nicht gegeben ist, wird die Veränderung scheitern. Und wieder sind Sie gefordert in Ihrer Vorbildrolle. Dazu müssen Sie sich zu allererst immer klar werden, wie Sie persönlich zu Veränderungen stehen, im allgemeinen und konkret auf die Veränderung, die nun gefordert ist, denn auch Sie haben wie alle Menschen eine persönliche Grenze der Menge von akzeptablen Veränderungen, sowohl was deren Häufigkeit als auch Auswirkungen bedeuten. Machen Sie sich dabei nichts vor und spielen Sie kein Theater vor Ihren Mitarbeiter, denn diese haben ein sehr feines Gespür, ob Sie ehrlich zu einer Veränderung stehen oder die Unterstützung dafür nur vortäuschen. Die gute Botschaft: Die Agilität gegenüber Veränderungen kann man trainieren, denn wie auch bei unseren körperlichen Muskeln, gilt die Devise „use it or loose it“, d. h. Sie müssen Ihre Veränderungsbereitschaft in ihr tägliches Trainingsprogramm mit aufnehmen. Wir sind nun mal „Gewohnheitstiere“ und neigen dazu, unsere täglichen Routinen eher zu wiederholen, statt zu ändern. Reflektieren Sie doch einmal, wie Sie in den Morgen starten. Bei den meisten von uns sind das tief manifestierte Gewohnheiten, die unbewusst einen Einfluss auf unsere Denkweise haben. Und, „wer immer in den gleichen Bahnen denkt, verlernt, neue Perspektiven einzunehmen“, so Maren Urner. Gewohnheiten sind nichts Schlechtes, sie helfen uns sehr im täglichen Leben. Nehmen Sie zum Beispiel die erlernte Gewohnheit des Autofahrens. Wie lästig wäre es doch, wenn wir jedes Mal, wenn wir einsteigen, überlegen müssten, wie wir starten und am Verkehr teilnehmen. Aber sie bergen in sich auch die Gefahr, dass wir alles nur noch im Autopilot machen und dann besteht die Gefahr, dass wir automatisch veränderungsresistent werden. Mit diesem Wissen sollten wir immer wieder bewusst versuchen, aus den zwar lieb gewonnen aber doch auch für die nötige Agilität störenden Gewohnheiten auszubrechen. Wie wäre es da zum Beispiel, wenn Sie  – sofern Sie wie ich leidenschaftlicher Jogger sind  – ihre Joggingrunden öfters ändern oder auch Ihre Essgewohnheiten? Im beruflichen Kontext gab es bei mir einen Zeitraum von 15 Jahren, in denen ich bewusst alle 3 Jahre den Job geändert habe. So etwas macht Sie agil und stärkt Ihre Resilienz und außerdem erweitert es Ihr Netzwerk. Ich musste immer wieder feststellen, welche

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fatale Auswirkungen es auf Menschen hatte, wenn sie 10 und mehr Jahre im gleichen Job waren. Da war die kleinste Veränderung für sie bedrohlich. Man muss auch nicht immer das Unternehmen wechseln, es reicht auch nur der Job oder dessen Inhalt. Wichtig ist dieser Zwang zu sich selbst, veränderungsbereit zu bleiben, denn als Führungskraft sind Sie nun mal Vorbild. Allerdings, und um die richtige Erwartung zu setzen, die Gehirnforscher sagen zu dem Thema „Gewohnheiten verändern“: „Die realistischere Einschätzung, wie lange es braucht, bis sich eine neue Gewohnheit in unserem Gehirn verankert hat, lautet: 18 bis 254 Tage. Außerdem gilt: Je stärker eine Gewohnheit ist, desto schwieriger können wir sie ändern oder verlernen“, so Maren Urner. Wenn Sie ein Veränderungsprojekt gestartet haben, ist eine regelmäßige Kommunikation über dessen Status sehr wichtig. Am besten ist ein im Kalender fest eingeplanter Jour Fix. Diesen auch immer einzuhalten, ist eine sehr wichtige Regel. Denn was geschieht, wenn ein solcher einmal storniert wird, weil es Ihrer Meinung nach keinen neuen Status gibt? Selbstverständlich und ganz automatisch entstehen dann Gerüchte, wie zum Beispiel: „Was hat das zu bedeuten? Warum erfahren wir nichts Neues? Da gibt es sicher eine schlechte Nachricht, die uns der Chef nicht zumuten will“.

Diese Gerüchte sind sehr schädlich für das Vertrauen in das Projekt. Daher ist es viel besser, auch an so einem Regeltermin festzuhalten, selbst wenn es keine Neuigkeiten zum Status des Veränderungsprojektes gibt. Dann wiederholen Sie einfach den letzten Stand und vor allem die Gründe für die Veränderungen sowie Ihren grenzenlosen Optimismus, dass alles gut bzw. besser wird. Veränderungsprojekte sind keine Sprints sondern eher Marathons. Sie benötigen ein hohes Maß an Durchhaltevermögen und generell mehr direkte Kommunikation mit den Mitarbeitern. In diesen Zeiten ist das „Management-by-walking-around“ noch wichtiger. Nehmen Sie sich Zeit dafür, planen Sie es in Ihren Tagesablauf ein und bleiben Sie im Gespräch mit Ihren Mitarbeitern. Nur dann haben Sie eine Chance, Stimmungen im Team rechtzeitig aufzunehmen und damit umzugehen. Er-

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muntern Sie auch immer öfters, die identifizierten „Change Agents“ in Ihrem Team. Sie sind Ihre wichtigen Botschafter, um im Team die Zuversicht für das Gelingen zu stärken. Und vergessen Sie nicht, Meilensteine in Ihrem Veränderungsprojekt für Zwischenergebnisse zu identifizieren und diese auch zu feiern, sobald sie erreicht werden. Das ist für die Stimmung im Team sehr wichtig.

5.19 Betriebsrat Versuchen Sie unmittelbar zu Beginn Ihrer neuen Führungsrolle ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen, denn er spielt in der Regel eine sehr wichtige Rolle bei der von Ihnen angestrebten Transformation Ihres Bereiches. Ein Betriebsrat hat seine Berechtigung und ist kein Gegner oder gar ein Feind, sondern ein Partner der Unternehmensleitung. Natürlich gibt es unter den Betriebsräten auch einige sehr schwierige Charaktere, die immer auf Kampf gepolt sind, aber nach meinen Erfahrungen ist die große Mehrheit sehr kooperativ. Betriebsräte vertreten die Belange der Mitarbeiter. Daher werden Sie bei ihm normalerweise offene Türen einrennen, wenn er sieht, dass Sie auch stets das Wohl Ihrer Mitarbeiter im Auge haben, so meine Erfahrung. Es gibt leider viele Unternehmen, in denen das Verhältnis zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat total zerstört ist. Auch dagegen können Sie etwas tun. Identifizieren Sie in Ihrer Abteilung Menschen, die auf Ausgleich bedacht und als positive Meinungsmacher bekannt sind. Ermutigen Sie diese, sich als Kandidaten für die nächste Betriebsratswahl aufzustellen. Das wirkt sich entspannend auf das Klima im Betriebsrat, aber auch positiv in Ihrem Verhältnis zu ihm aus.

6 Auf Kurs bleiben

Die ersten 90 Tage sind vorbei, Sie haben alles im Griff, Ihr Team ist begeistert, wie Sie gestartet sind und das neue Teamleitbild hat alle bzw. die große Mehrheit angezündet und will mit Ihnen zusammen auf die aufregende Reise in eine erfolgreiche Zukunft gehen. Sie selbst ziehen daraus eine tiefe Befriedigung und merken, wie Sie jeden Tag mit Freude zu Ihrem Unternehmen fahren und am Abend zufrieden wieder nach Hause. Diese Aufbruchstimmung bleibt nicht unbemerkt. Ihre Führungskraft, aber auch viele Ihrer Kollegen stellen fest, dass sich viel verändert hat, seit Sie in Ihrer neuen Rolle sind. Vielleicht geht es Ihnen auch so wie einem meiner Onboarding-Coachees. Er übernahm im Rahmen eines Auslandeinsatzes ein Team in Amerika und wandte meine Onboarding-Empfehlungen Wort für Wort an. Nach 3 Monaten fragte ihn sein Chef, dessen Platz er als Führungskraft übernahm, weil er eine Treppe höher rutschte: „Sag mal, was hat Du mit dem Team getan? Du kommst als Fremder aus Deutschland und nach wenigen Monaten sind alle begeistert von Dir und zei­ gen ein riesiges Engagement, was mir in 4 Jahren nicht gelungen ist.“

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_6

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Dieses Feedback und andere vergleichbare von meinen Coachees war auch ein Grund für dieses Buch. In der Folgezeit ist es nun sehr wichtig, dass Sie das Momentum halten, so dass Ihre Mitarbeiter und Ihr Umfeld die Nachhaltigkeit Ihres exzellenten Führungsstils täglich erleben. Dies sollte sich an folgenden Themen festmachen:

6.1 Das Teamleitbild leben Die Erstellung des Teamleitbildes zusammen mit Ihrem Team war bzw. ist ein äußerst wichtiger Erfolgsfaktor, der über Ihre Wirksamkeit als Führungskraft entscheidend ist. Nun besitzen Sie die Landkarte sowie das kritische Zubehör für Ihre Reise. Das Teamleitbild darf aber nun nicht in einer Ablage verstauben, wie es leider mit vielen Plänen bei Unternehmen geschieht, sondern es muss ein regelmäßiger Referenzpunkt all Ihres Handelns und jeder Kommunikation werden. Es ist DER Kompass für Ihren Erfolg. Hierzu einige Empfehlungen was zur Umsetzung sehr wichtig ist: • Falls Sie eine Intranet-Seite für Ihr Team haben, muss es dort präsent sein • Falls Sie einen dedizierten Konferenzraum für die Teammitglieder haben, die am gleichen Standort sitzen, sollten dort auf Posters mindestens die drei Elemente hängen: Mission, Vision und Teamleitlinien • Referenzieren Sie bei all Ihren Entscheidungen, wie diese zu Ihrer Mission passen und/oder Ihre Vision und Strategien unterstützen. • Tun Sie das gleiche, wenn eine Ihrer Entscheidungen im Sinne eines Teamprinzips ist, so z. B. –– „Eines unserer Teamprinzipien ist, dass wir in all unserem Handeln den Kunden im Auge haben. Daher entscheiden wir uns nun für fol­ gende kulante Regelung …“ • Starten Sie Ihre Meetings immer mit der Frage: „was haben wir von unse­ ren Kunden seit unserem letzten Zusammentreffen erfahren – wo gab es Lob oder Kritik?“ Wenn das zu Ihrer Regel wird, wissen alle Ihre Mitarbeiter, dass bei Ihnen der Kunde die Nummer 1 ist. „Walk your Talk!“,

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• Geben Sie unmittelbares, ehrliches und wertschätzendes Feedback, wann immer ein Mitarbeiter ein Teamprinzip entweder vorbildlich lebt oder verletzt. Gehen Sie zu seinem Arbeitsplatz, rufen Sie ihn an oder schreiben Sie eine kurze Nachricht • Beenden Sie jedes Teammeeting mit einer gemeinsamen Reflektion über die Teamprinzipien, wie z. B. „Welche Teamprinzipien haben wir heute vorbildlich gelebt und was können wir tun, um es bei anderen besser zu machen?“ • Implementieren Sie eine Überprüfung der Teamprinzipien in jedes Feedbackgespräch mit Ihren Mitarbeitern, wie z. B. –– „Marc, es gefällt mir sehr gut, wie Du Deine Zusagen einhältst und somit unser Teamprinzip Nr. 4 vorlebst, und ich denke, bei dem Prinzip Nr. 2 zur Kundenorientierung könntest Du noch etwas zulegen“ • Überprüfen Sie mindestens nach jedem Quartal, am Anfang monatlich, zusammen mit Ihrem Team Ihr Teamleitbild. Ist alles noch stimmig? Gibt es neue Einflussfaktoren, die uns zu Anpassungen zwingen? Nur so bleibt es eine lebendige Landkarte bzw. ein „online-Naviga­ tionsinstrument“ und kein totes Dokument.

6.2 Kommunikation Als Führungskraft kommunizieren Sie immer und immer dann, wenn Sie im Kontakt mit Ihrem Team sind. Es geschieht verbal, nonverbal und auch – und das zu wissen, ist sehr wichtig – wenn Sie auf nicht tolerierbarem Verhalten eines Mitarbeiters schweigen und es dadurch tolerieren. Denn dann ist die implizite Botschaft: „Mach weiter so!“. Ich habe bereits mehrfach gesagt, wie wichtig eine klare, unmissverständliche Kommunikation ist und dabei insbesondere, Dinge auf den Punkt zu bringen. Dies gilt ganz besonders in Besprechungen. Waren Sie auch schon in Besprechungen, die immer verspätet starten, weil viele zu spät kamen, Besprechungen ohne Ziel und mit vielen Teilnehmern, die zum Teil überhaupt nicht relevant waren für den Inhalt, Besprechungen, in den viele Teilnehmer ihren Laptop dabei hatten und während des Meetings

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ihre Emails erledigten oder am Mobiltelefon Nachrichten beantworten oder kurzfristig den Raum verließen um zu telefonieren? Kommt Ihnen doch sicher bekannt vor, oder? Und warum ist das so? Ganz einfache Antwort: es gibt nur einen einzigen Grund: weil die Führungskraft dieses Bereichs dieses Verhalten toleriert, oder noch schlimmer, wenn Sie es selbst vorlebt und somit versagt. Selbst wenn Sie selbst nicht der Verantwortliche einer konkreten Besprechung sind, müssen Sie sicherstellen, dass es klare Meeting-Regeln zur Disziplin gibt. Meetings und wie sie durchgeführt werden, sind übrigens der beste Test, um eine Unternehmenskultur oder auch nur die Kultur einer Abteilung zu beurteilen, und, die Beurteilung geht immer auf die dafür verantwortliche Führungskraft zurück. Alle Besprechungen kosten enorm viel Zeit und binden somit viele Ressourcen. Um diesen Aufwand so effizient und effektiv zu gestalten, bedarf es klarer Regeln. Im Anhang finden Sie ein Beispiel davon. So könnte es z.  B. sehr hilfreich sein, wenn die bereits erwähnten Teamprinzipien eines klarstellen: „Wir halten uns an unsere Meeting-­ Regeln“. Eine sehr wichtige dabei muss meines Erachtens sein: offene Laptops sind nur erlaubt für die Person, die gerade präsentiert. Es ist im höchsten Maße respektlos, in einer Besprechung nicht aktiv zuzuhören und ich kann nur empfehlen, darauf hinzuweisen, sollten Sie in einer Besprechung sein, selbst wenn Sie nicht der Leiter dieses Meetings sind. Ich habe in solchen Situationen oft die Sitzung unterbrochen mit der Frage: „stellt Euch vor, einer unserer Kunde betritt nun diesen Raum und wird Beobachter dieses pittoresken Szenarios – würde er uns dafür bezahlen?“ Das hatte immer gewirkt und die Betroffenen klappten schamvoll ihre Laptops zu. Tablets in Meetings sind eine gewisse Grauzone. Wenn sie von den Teilnehmern ausschließ für Notizen während der Besprechung eingesetzt werden, ist das akzeptabel, aber damit Emails zu schreiben ist ein „no-go“. Wie auch bei den Teamprinzipien ist es nicht Ihre Aufgabe, die Meeting-Regeln zu erstellen, sondern Sie machen das mit Ihrem Team zusammen und holen sich so das Commitment aller Beteiligten ein. Ist doch sehr einfach, oder?

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Eine besondere Herausforderung sind virtuelle Meetings bzw. Telefonkonferenzen und die Disziplin in diesen. Youtube bietet eine Menge lustiger Persiflages zu diesem Thema, leider mit einem sehr großen, aber traurigen Wahrheitsgehalt. Da sieht man u. a. • Viele Teilnehmer betreten den virtuellen Raum unpünktlich mit der Konsequenz, dass ein bereits gestartetes Meeting immer wieder akustisch unterbrochen wird, wenn ein neuer Teilnehmer dazu kommt. • Telefone werden nicht stumm geschaltet von den Teilnehmern, die aktuell nur zuhören, mit der Konsequenz, dass viele Hintergrundgeräusche hörbar sind, so z. B. Räuspern, Bellen eines Hundes, Toilettenspülung usw. • Viele – und schlimmstenfalls fast alle – Teilnehmer sind geistig abwesend, weil sie nebenher andere Dinge tun, statt zuzuhören. Oft hören Sie sogar das Klappern einer Tastatur, was darauf hinweist, dass der Teilnehmer nebenbei seine Emails macht • Gegenseitiges Unterbrechen und nicht ausreden lassen, und vieles mehr Die Konsequenzen solchen Verhaltens liegen auf der Hand. Ein solches Meeting-Verhalten kann niemals ein gutes Ergebnis bringen. Frus­ trationen sind das Ergebnis, vor allem bei jenen Teilnehmern, die mit einem konkreten Ziel in dem Meeting waren. Was können Sie vorbeugend dagegen tun? • Erweitern Sie Ihre Meeting-Regeln um den Teil „Telefonkonferenzen“ und erstellen Sie Regeln, die das unerwünschte Verhalten ausschließen • Laden Sie nur Teilnehmer ein, die für das Ziel der Konferenz relevant sind • Geben Sie bei Abweichungen zu diesen Regeln immer sofort ein entsprechendes Feedback • Wenn Sie etwas präsentieren, fragen Sie immer wieder mal einzelne Teilnehmer nach deren Beitrag oder Meinung. Dadurch kann sich niemand erlauben, geistig abwesend zu sein

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Ein weiteres Kommunikationsthema sind Emails und das Verhalten bei deren Einsatz. Da das Verfassen, Lesen und vor allem das Beantworten von Emails einer der größten Zeiträuber ist, empfehle ich, sogenannte „Email-Ethics“ für den Bereich bzw. die Abteilung zu verfassen, falls sie nicht bereits schon auf der Unternehmensebene bestehen. Viele Mitarbeiter sind bei diesem Thema überfordert, vor allem wenn sie sehr viele Emails erhalten und sich keine Gedanken machen über ein effizientes Verhalten. Im Anhang dieses Buches finden Sie unter Werkzeuge ein Beispiel über mögliche Email-Regeln. Es gibt so viele Möglichkeiten, Emails ineffizient einzusetzen, da müssen Sie Ihren Mitarbeiter helfen, denn die Flut von Emails wird von Tag zu Tag größer. Eine sehr beliebte Unsitte im Einsatz von Emails ist zum Beispiel, wenn Mitarbeiter versuchen, durch ein episch langes „Email-Ping-Pong“ zwischenmenschliche Probleme zu lösen. Da müssen Sie sofort intervenieren, sobald Sie davon Kenntnis erhalten. Meine Aussage in solchen Situationen war immer: „Seit Bestehen der Menschheit wurden noch nie zwischenmenschliche Pro­ bleme gelöst durch Austausch von Rauchzeichen, Austausch von Botschaften über Reiter, Briefe und so auch nicht durch Emails in diesem Jahrhundert. Setzen Sie sich bitte mit dieser Person zusammen oder greifen Sie zum Telefon, wenn es nicht anders geht, aber bitte stoppen Sie diesen Dissens per Email zu klären“.

Achten Sie auch auf Ihren persönlichen Email-Stil, vor allem wenn Sie kritische Dinge erwähnen bzw. kritisches Feedback geben müssen. In diesen Fällen sind Emails nur die drittbeste Kommunikationsmethode. Nur wenn weder ein direktes noch ein Video/Telefongespräch möglich ist, sollten Sie solche Botschaften in einer Email mitteilen. Es gibt Situationen, in denen wir manchmal sehr emotional reagieren, zum Beispiel, wenn einer unserer Grundwerte verletzt wurde und uns kein anderer Kommunikationsweg als eine Email bleibt. In solchen Situationen empfehle ich Ihnen, nach der alten „preußischen Wehrbeschwerdeordnung“ zu handeln und eine evtl. emotional aufgeladene Email nochmals eine Nacht zu überschlafen, bevor Sie sie versenden. Denken Sie stets dabei an Ihre Vorbildrolle als Führungskraft.

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6.3 Feedback als wichtiges Navigationsinstrument Ich sehe drei Formen von Feedbackgelegenheiten. Da ist einmal das informelle, ganz spontane „ad hoc“ Feedback, ungeplant und situativ. Ein weiteres ist ein formales Feedbackgespräch, welches regelmäßig geplant stattfinden sollte und schließlich das sogenannte Jahresgespräch, wie es in den meisten Unternehmen (noch) der Regelfall ist. Im Kap. 3.13 wurden dazu bereits wichtige generellen Aussagen zum Thema Feedback gemacht.

6.3.1 Das „ad hoc“ Feedback Nachdem Sie das Teamleitbild implementiert und erste Veränderungsprojekte angestoßen haben, ist es nun sehr wichtig, dass Sie auf das dabei vereinbarte Verhalten immer Feedback geben. Nutzen Sie jede Gelegenheit dazu, aber auch unbedingt jedes ungeplante Vier-­Augen-­Gespräch mit Ihren Mitarbeitern. Das könnte z. B. so erfolgen: „Da wir gerade zusammensitzen – darf ich Ihnen Feedback geben, wie ich Sie in der letzten Zeit erlebt habe? Mir gefällt außerordentlich, wie Sie die neuen Teamprinzipien leben, vor allem Ihre starke Kundenorientierung. Dazu erhielt ich auch bereits sehr positives Feedback vom Kunden X. Und ich glaube, bei Teambesprechungen dürften Sie sich noch aktiver einbringen – Sie können das!“

Fällt Ihnen bei dieser Formulierung etwas auf? Es gibt nämlich beim Feedbackgeben ein Unwort und das heißt „aber“. Ich habe das in meiner Formulierung einfach durch „und“ ersetzt. Warum ist das so wichtig? Stellen Sie sich vor, sie kommen am Abend nach Hause und sagen zu Ihrer(m) Partner(in): „Schatz, Du bist super, ABER ….“ Sie sehen die katastrophale Wirkung? Das „Aber“ löscht mit einem Wort alles Positive zuvor aus. Daher ist ein „und“ viel besser, vor allem dann, wenn Sie statt der demotivierenden Kritik das Vertrauen aussprechen, dass Sie glauben, dass der Mitarbeiter dieses Manko noch beseitigen kann. Viel zu viele Führungskräfte denken bei Feedback zu schnell an das korrigierende Feedback, während das positive, das wertschätzende viel zu kurz kommt.

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Es liegt an Ihnen, das richtig zu tun und Ihre Mitarbeiter werden es Ihnen danken.

6.3.2 Das formale Feedback Feedbackgespräche sind äußerst wertvoll investierte Zeit, die Sie sich mit hoher Priorität nehmen müssen. Stellen Sie sicher, dass Sie dabei nicht gestört werden und Sie in einem geschützten Raum sind. Schalten Sie Ihre Telefone aus. Fallen Sie nicht sofort mit der „Türe ins Haus“, sondern stellen Sie die Frage „Wie geht es Dir zur Zeit?“ oder dergleichen. Auf jeden Fall, steigen Sie positiv ein. Eine weitere Frage könnte sein: „Wie siehst Du Deine Leistung in den letzten x Monaten?“

Warum diese Frage zuerst, bevor Sie Ihr Feedback geben? Die Mehrzahl der Mitarbeiter hat eine gesunde Selbsteinschätzung, so dass sie auch von selbst irgendwelche Schwierigkeiten nennen, ohne dass Sie der „Ankläger“ sein müssen und schon steht die Tür offen. Wie bereits an anderer Stelle gesagt, müssen die regelmäßigen Feedbackgespräche einen sehr starken Fokus auf das Verhalten des Mitarbeiters haben, d. h. nicht nur auf das „WAS“ er gemacht hat, sondern vor allem auch auf das „WIE“ er sich verhalten hat, so z. B. gemessen an den Teamprinzipien. Korrigierendes Feedback bezüglich des Verhaltens auf das Jahresgespräch anzusammeln und sozusagen „Rabattmarken kleben“, ist Führungsverhalten aus dem letzten Jahrhundert. In welcher Häufigkeit sollten formale Feedbackgespräche stattfinden? Ich empfehle generell ein sogenanntes „reifegradbezogenes“ Führen, d. h. bei Mitarbeitern, die noch neu in ihrer Aufgabe oder Verantwortung sind, sind solche Gespräche in einer monatlichen Frequenz sinnvoll, während sie für erfahrene Mitarbeiter idealerweise nach jedem Quartal stattfinden sollten. Vor einem formalen Feedbackgespräch ist es ratsam, dass Sie Ihren Mitarbeiter bereits bei der Einladung zum Gespräch bitten, sich Gedanken über seine Leistung im abgelaufenen Zeitraum zu machen und das Ergebnis mitzubringen. Schließlich sollte bzw. müsste er das größte Inte-

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resse haben, dass diese vollständig und fair dokumentiert wird, denn diese Dokumentation wird sehr wichtig für ein Zeugnis, falls der Mitarbeiter einmal das Unternehmen verlassen will. Leider wird diese Notwendigkeit sehr oft unterschätzt mit der Folge, dass die Personalabteilung sprichwörtlich „ins Leere greift“, wenn der Mitarbeiter ein Zeugnis anfordert. Die Dokumentation der in den regelmäßigen Feedbackgesprächen erarbeiteten Leistungen in der offiziellen und formalen Personalakte setzt voraus, dass dies außerhalb des Jahresgesprächs technisch möglich ist. Falls dies nicht der Fall ist, kein Problem, speichern Sie die Ergebnisse dann einfach offline bei sich und spielen Sie diese nach dem Jahresgespräch in das HR-System ein.

6.3.3 Das Jahresfeedbackgespräch Es gibt inzwischen sehr viele Kritiker des klassischen Jahresgesprächs, so zum Beispiel Armin Trost, Professor an der HFU, dessen Argumentation ich mich anschließe (Trost 2015). Ich habe im Kap. 3.13 bereits erwähnt, dass das klassische Jahresgespräch nicht mehr in unsere Zeit passt. Wenn Ihr Unternehmen dennoch an diesem Prozess festhält, sollte Sie dennoch nichts davon abhalten, vierteljährlich Feedbackgespräche mit Ihren Mitarbeitern durchzuführen und die gesammelten Ergebnisse im Jahresgespräch zu wiederholen und im HR-System zu dokumentieren. Fokussieren Sie dann das Jahresgespräch ganz einfach zu einem Entwicklungsgespräch. Bei Feedbackgesprächen kommt es manchmal zu Diskrepanzen zwischen dem Eigenbild des Mitarbeiters und dem Fremdbild von Ihnen. Diese Situation tritt vor allem dann auf, wenn der Mitarbeiter sozusagen fast ausschließlich virtuell geführt wird, weil er an einem anderen Standort seinen Arbeitsplatz hat. Dieser Dissens kommt in der Regel nur in der Frage von kritischem Verhalten des Mitarbeiters vor und Sie erfahren solche Probleme sehr oft von Dritten. Somit kann und wird der Mitarbeiter auf einen Vorwurf oft antworten: „Wie kannst Du das wissen, Du siehst mich ja nur ganz selten.“ Diese schwierige Situation lässt sich vermeiden, wenn es die Unternehmenskultur und auch der Betriebsrat erlauben, Inputs von KollegInnen einzuholen, die regelmäßig mit dem

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Mitarbeiter zusammenarbeiten. Diese dann anonym im Leistungsgespräch einzusetzen, entkräftigt den Einwand des Mitarbeiters. Noch besser wäre es allerdings, wenn die Unternehmenskultur so weit fortgeschritten ist, dass die Teammitglieder sich selbst gegenseitig bewerten. Diesen hohen Reifegrad besitzen bereits einige aber noch viel zu wenige Unternehmen. Bei kritischem Feedback ist es ratsam, dass insbesondere Erwartungen klar artikuliert werden. Viele Führungskräfte scheuen davor die Formulierung „ich erwarte“ auszusprechen und wundern sich dann, dass ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Hier noch einige weiteren Empfehlungen zum formalen Feedbackgespräch: • Bereiten Sie sich gut vor. Werden Sie sich klar, was Sie rüberbringen wollen, warum Sie es sagen möchten und was Sie bewirken wollen • Sind Sie präsent, nicht nur körperlich, sondern auch mit Ihrer vollen geistigen Anwesenheit und Aufmerksamkeit. Hören Sie gut zu. Von Simon Sinek stammt die Aussage: „Die meisten Leute hören nicht zu, um zu verstehen, sondern um zu antworten“ • Achten Sie auf Ihre Körpersprache. Zuhören mit verschränkten Armen sendet die Botschaft „Ich wehre mich gegen das Gesagte, es prallt an mir ab“ • Argumentieren Sie mit Fakten und Wahrnehmungen; alles andere ist angreifbar Handelt es sich um ein Entwicklungsgespräch, so erörtern Sie mit Ihrem Mitarbeiter mögliche Entwicklungsoptionen, ausgehend von der vergangenen Leistung und dem aktuellen Stand. Die Eröffnungsfrage eines solchen Entwicklungsgesprächs könnte z. B. lauten: „Wo siehst Du Dich in 3–5 Jahren?“

Danach arbeitet man zusammen heraus, welche fachlichen und persönlichen Fähigkeiten für das artikulierte Ziel notwendig sind und welche Lücken es im Vergleich zum Status Quo zu schließen gilt. Dabei ist

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Ehrlichkeit und Offenheit unabdingbar. Es hilft nichts, eine falsche Karriereerwartung des Mitarbeiters aus Bequemlichkeit nicht zu korrigieren. Dies führt früher oder später auf beiden Seiten zu großer Frustration. Hier ist Mut gefragt. Viele Führungskräfte dokumentieren nicht nur die Ergebnisse eines formalen Feedbackgesprächs, sondern auch evtl. Vereinbarungen in sogenannten ad-hoc-Gesprächen. Ich halte das für überflüssig, um nicht zu sagen als falsch, denn es ist meines Erachtens ein Zeichen von Misstrauen in den Mitarbeiter. Wozu sollten Sie als Führungskraft die Vereinbarungen notieren? Ist es nicht ein Zeichen, dass Sie ihm nicht trauen, die vereinbarten Dinge zu erledigen? Die implizite Botschaft ist doch: „da ich Dir nicht traue, ob Du die getroffene Vereinbarung einhältst, schreibe ich es mir auf“.  – ein klares Zeichen von Micro-Management. Besser wäre, klar an alle Mitarbeiter gleich am Anfang zu kommunizieren, dass dies nicht Ihr Führungsstil ist. Vielmehr erwarten Sie, dass getroffene Vereinbarungen eingehalten werden  – zum Beispiel, weil ein solchen Verhalten den Teamprinzipien entspricht – und dass der Mitarbeiter zurückmeldet, wenn das der Fall ist oder es Probleme gibt und er Unterstützung benötigt. Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt von Feedback: Es sollte grundsätzlich keine Einbahnstraße sein, d. h. nehmen Sie die Chance wahr und fragen Sie in periodischen Abständen am Ende eines formalen Feedbackgesprächs: „Nun hätte ich gerne auch Feedback von Ihnen für mich. Wie haben Sie mich und meine Führungsarbeit in der letzten Zeit wahrgenommen?“

Ich weiß aus eigener Erfahrung, das kostet am Anfang etwas Mut, denn es könnte ja auch etwas zurückkommen, was mir nicht so passt. Zeigen Sie Mut, denn so eine Bitte für ein Feedback stärkt Ihre Glaubwürdigkeit. Sie geben damit ein Vorbild, dass auch Sie lernen wollen. Und wenn das Ergebnis ist, dass Sie einen Fehler eingestehen müssen, tun Sie es, denn auch das stärkt Ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauensverhältnis. Sie zeigen damit auch Ihre menschliche Seite.

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6.4 Talente fordern und fördern Vielleicht sind Sie in einem Unternehmen, welches einen formellen Talent-Management-Prozess hat, bei dem in jährlichen Routinen die Talente identifiziert und daraus konkrete Entwicklungsmaßnahmen abgeleitet werden. Dann sind sie in einer glücklichen Situation, vor allem wenn Talente nicht nur identifiziert, sondern sie auch konkret gefördert werden. Das ist aber leider nicht oft der Fall und dann sind Sie gefordert. Entwickeln Sie schon früh in Ihrer Führungslaufbahn ein Gespür für Talente, denn diese Fähigkeit gehört zu einer sehr guten Führungskraft. Was ist nun ein Talent? Zuerst gilt es nach zwei Kriterien zu unterscheiden, einmal die fachlichen Kompetenzen und zum anderen die Persönlichkeitsstärken, d. h. es geht auch bei dieser Frage um das „WAS“ und das „WIE“. Bei dem mehr fachlichen „WAS“ ist es in der Regel sehr einfach, einen Entwicklungsplan zu erstellen, denn dabei handelt es sich in der Regel um eine Entwicklung in einer Fachlaufbahn. Schwieriger wird es mit der persönlichen Eignung bzw. dem Potenzial bezogen auf eine zukünftige Führungsrolle. In der Vergangenheit – und leider immer noch in vielen Unternehmen – fokussierte sich das Entwicklungsgespräch sehr stark oder ausschließlich auf die fachliche Eignung. Der Anspruch an eine Führungspersönlichkeit geht aber meilenweit über deren fachlichen Eignung hinaus. Ziehen Sie daher die im Kap.  5.4 aufgeführten Kriterien zur Beurteilung einer Führungskraft heran und führen Sie mit Ihrem Talent ein sehr offenes und ehrliches Gespräch. Sehr oft treten dabei Differenzen zwischen dem Eigenbild des Mitarbeiters und Ihrer Einschätzung auf, die Sie auflösen müssen. Im schlimmsten Fall – und das habe ich auch erlebt – lassen sich diese Differenzen nicht lösen und da gibt es nur einen Rat an den Mitarbeiter: „Wenn Du das so siehst, haben wir einen fundamentalen Dissens über Ihr Po­ tential. Ich empfehle Dir, ein anderes Unternehmen zu suchen“.

Wenn Sie in der glücklichen Situation sind, dass Sie Top-Talente in Ihren Reihen haben, füttern sie diese mit anspruchsvollen Aufgaben oder Projekte, fordern Sie diese damit. Talente leiden in der Regel nicht an einem Burn-out, sondern sehr oft an einem „Bore-out“, d. h. sie fühlen sich

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sehr schnell nicht mehr gefordert. Setzen Sie sich für sie ein, kämpfen Sie für sie für eine faire Entlohnung und helfen Sie ihnen, ihre Karriere zu beschleunigen und sie loszulassen anstatt sie festzuhalten. Auch das zeichnet eine ausgezeichnete Führungskraft aus. Es ist vor allem weithin sichtbar und macht Ihr Team oder Ihre Organisation attraktiv. Dann wollen noch mehr „Rennpferde in Ihren Stall“, was Ihrem Ziel, mit einem Höchstleistungsteam in der Champions League zu spielen und zu siegen, nicht schaden sollte.

6.5 Führen von virtuellen Teams Keine Frage, das Führen von Teams mit allen Mitgliedern am gleichen Standort oder sogar im gleichen Gebäude ist relativ einfacher, als wenn viele auf mehrere Standorte verteilt sind. Dann findet die Kommunikation in der Regel überwiegend von „Angesicht zu Angesicht“ statt. Wir alle tun uns viel leichter, Dinge verbal zu besprechen und sich dabei in die Augen zu schauen. Doch diese Idealbedingungen werden immer seltener. Die Führung von virtuellen Teams ist inzwischen zum Standard geworden, weil selbst Unternehmen des Mittelstandes ihre Teams auf mehrere Standorte verteilt haben, im extremen Fall, über verschiedene Kontinente hinweg. Virtuelle Führung beginnt aber bereits, wenn Mitarbeiter regelmäßig ihre Arbeitszeit im Homeoffice verbringen oder Sie selbst als Führungskraft. Während das Arbeiten im Homeoffice vor ca. 20 Jahren vor allem in den USA einen regelrechten Hype auslöste, gab es in der letzten Zeit immer mehr sehr prominente Stimmen, die zum Rückzug geblasen haben. Einer davon war Steve Jobbs, der seine Vorbehalte dagegen wie folgt zum Ausdruck brachte: There’s a temptation in our networked age to think that ideas can be developed by email. That’s crazy. Creativity comes from spontaneous meetings, from ran­ dom discussions. You run into someone, you ask what they’re doing, you say ‚ ´wow´, and soon you’re cooking up all sort of ideas.

In der Tat hat man in der Anfangszeit die negativen Auswirkungen einer flächendeckenden Ausbreitung von Homeoffice-Arbeit auf das Zusammenspiel eines Teams sehr stark unterschätzt. Ich erinnere mich zum

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Beispiel an Besuche in unseren amerikanischen Niederlassungen, bei denen riesige Großraumbüros gespenstisch leer waren. Inzwischen hat sie diese Situation auf einem normalen Level eingespielt, wenn es auch immer noch viele Firmen gibt, die sich nicht trauen, diese Tür zu öffnen. Bei diesen hatte jedoch die aktuelle Coronavirus-Krise zu einem starken Umdenken geführt, d. h. sie wurden zu einem radikalen Perspektivwechsel gezwungen. Die wichtigste Voraussetzung für das Arbeiten im Homeoffice, und das gilt auch generell für alle virtuelle Teams, ist die Anwendung einer Vertrauensarbeitszeit. Das bedeutet für viele Unternehmen immer noch ein sehr großer Paradigmenwechsel, denn der Fokus bzgl. der Arbeit eines Mitarbeiters ist nicht mehr seine Anwesenheit, sondern sein konkreter Beitrag an einem Prozess oder Projekt. Das erfordert eine klare Vereinbarung mit dem Mitarbeiter darüber und eine regelmäßige Kommunikation zwischen ihm und seiner Führungskraft und dies per Video- oder Telefonanruf und nur ersatzweise per Austausch von Emails. Führung von virtuellen Teams hat gewisse interpersonale Einschränkungen. Es fehlt der persönliche Kontakt, besonders das sich in die Augen schauen, wenn kein Videogespräch möglich ist. Die feinen Signale der Kommunikation wie Gestik, Mimik und Körperhaltungen fallen unter den Tisch. Die sonst üblichen Gesten der Anerkennung, etwa ein Schulterklopfen, entfallen. Damit die notwendige Kommunikation nicht vernachlässigt wird, die gerade wegen der Entfernung noch wichtiger ist, bieten sich vereinbarte Regeltermine, sogenannte „Jour Fix“ an, bei denen gemeinsam über Arbeitsfortschritte, Probleme und Unterstützungsbedarfe aber auch über das persönliche Befinden in der „Isolation“ vom Team gesprochen wird. Diese „Jour Fix“ sollten Sie sowohl für Eins-zu-eins-Gespräche als auch mit dem gesamten Team vereinbaren, am besten einige Monate im Voraus terminiert. Bei virtuellen Teammeetings ist es ganz besonders wichtig und darauf zu achten, dass immer jeder Mitarbeiter zu Wort kommt und nicht nur die üblichen Meinungsführer und Sie im Monolog. Die neuen digitalen Kommunikationsmedien, wie z. B. die Plattform „zoom“, e­ rlauben es, innerhalb eines virtuellen Meetings in Teilgruppen in sogenannten „break-out-rooms“ zu arbeiten und dann immer wieder in ein Meeting zusammenzukommen. Damit wird ein

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virtuelles Meeting auch zu einem Arbeitsmeeting in dem alle aktiv mitwirken können. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, sind solche Regeltermine zur Kommunikation mit dem Team in Zeiten von Veränderungen ganz besonders wichtig und aufgrund der persönlichen Entfernung sehr schwierig. Ein fester emotionaler Bestandteil bei Veränderungen sind Unsicherheiten und Ängste bei den Mitarbeitern und diese können nicht mit trockenen Emails begegnet werden. Da benötigt es Empathie oder Einfühlungsvermögen bei Ihnen als Führungskraft und diese virtuell zu vermitteln, ist eine Herausforderung. Da wir Menschen soziale Wesen sind mit starken Kontaktbedürfnissen, sollten Sie versuchen, Mitarbeiter, die an anderen Standorten sitzen, regelmäßig zu besuchen. Das gilt insbesondere dann, wenn Mitarbeiter in anderen Kontinenten und anderen Kulturkreisen ihren Standort haben. Auch diese sollten Sie mindestens einmal pro Jahr besuchen. Sind Sie sich aber dabei bewusst, dass es Kulturen gibt, bei denen interkontinentale Reisen eine sehr große Ausnahme sind. So besitzen z. B. die meisten Amerikaner überhaupt keinen Reisepass, der notwendig ist, um die USA zu verlassen und in der Regel sehen sie das auch nicht als nötig an. Somit ist es in einer solchen Denkweise nur sehr schwer verständlich, wenn sie als Vorgesetzter, der seinen Standort in Deutschland hat, so einfach ins Flugzeug setzt, um sie zu besuchen. Um derartige unnötige Irritation vorzubeugen, habe ich sehr oft folgenden Trick angewandt: ich habe der Mitarbeiterin oder den Mitarbeitern mitgeteilt, dass ich „ohnehin“ in ihrer Nähe sei und sie deshalb besuchen werde, was auch der Wahrheit entsprach, denn ich hatte immer mehrere Besuchspunkte auf meiner Reise. Wenn ich dann dort erschien, waren sie immer sehr dankbar über die Zeit, die ich mit ihnen verbrachte. Sie sahen mein Investment in die Reise als eine große Wertschätzung ihnen gegenüber. Ein optimales Zusammenwirken von virtuellen Teams, die zum Teil aus dem Homeoffice heraus agieren, wird einfacher, wenn Sie mit Vorbild vorangehen und auch immer wieder im Homeoffice arbeiten, um an Dingen zu arbeiten, die zwar noch nicht dringend aber sehr wichtig für Ihren Bereich sind. So sehen und spüren Ihre Mitarbeiter, dass Sie die Zeit zu einer effektiven Reflektion nützen und nicht nur mit gesenktem Kopf an taktischen Themen, sondern auch mit Weitblick an der Zukunft

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arbeiten. Sie sollten sich immer wieder diese Auszeit aus dem Hamsterrad gönnen, denn aus der Gehirnforschung wissen wir, dass Kreativität Stille benötigt. Apropos Kreativität: Eine meiner wichtigsten Tankstellen für Kreativität war und ist immer noch das morgendliche Joggen. Es ist ein tolles Gefühl, wenn nach wenigen Minuten das Gehirn erwacht und gefüttert mit frischem Sauerstoff anfängt zu sprühen mit kreativen Ideen. Was für ein Tagesbeginn! Probieren Sie es aus, nicht nur Sie, sondern Ihr Team wird es spüren. Eine besondere Herausforderung für virtuelle Teams und deren Mitglieder ist die Transparenz über deren Leistung und das gilt auch für Sie selbst, falls Sie remote von Ihrem Vorgesetzten sind, eine Situation, die in der heutigen Zeit zum Normalfall geworden ist. Gehen Sie grundsätzlich davon aus, dass Ihr Vorgesetzte nur so viel über Sie und Ihre Leistungen erfährt, wie er von Ihnen selbst weiß, vor allem wenn er oder sie in einem anderen Kontinent sitzt. Ich habe in solchen Situationen, und das war der Fall in 14 meiner 34 Jahren, immer einen monatlichen „one-pager“ benützt, gefolgt mit einem Telefonat, aus dem sowohl ein Rückblick über den vergangenen als auch Vorschau für den kommenden Monat hervorging. Denken Sie stets daran: auch Sie sind als Vorgesetzter ein Mitarbeiter, dessen Leistungen sichtbar sein müssen. Wie bereits gesagt, müssen auch Sie als Mitarbeiter ein großes Interesse haben, dass Ihre Leistungen fair anerkannt und dokumentiert werden. Um das sicherzustellen, habe ich immer vor dem Jahresgespräch meinem Vorgesetzten die Zusammenfassung aller monatlichen „one-­ pagers“ geschickt und er/sie waren darüber stets dankbar, denn das hat ihre Leistungsbewertung sehr einfach gemacht. Die wichtigste Schlussfolgerung daraus: Sie selbst sind verantwortlich, und nicht Ihre Vorgesetzte, über eine faire Anerkennung Ihrer Leistung und damit Ihre weitere Karriereentwicklung.

6.6 Führen in einem globalen Umfeld Dazu gibt es von mir nur einen Rat: Streben Sie eine internationale Führungsrolle an, wenn Sie nach einer höheren Position streben, idealerweise auch mit einem Entsendungsauftrag in ein anderes Land für einige Jahre.

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Aus meiner Erfahrung ist ein solcher Perspektivwechsel von unschätzbarem Wert. Sie lernen nicht nur eine neue Kultur, erlernen evtl. nicht nur eine neue Sprache, Sie erweitern Ihren Horizont und vor allem, Sie erweitern Ihr Netzwerk. Letzteres ist vor allem für Ihre Karriere äußerst förderlich, denn in der heutigen Zeit müssen Sie in einem Unternehmen sehr weit bekannt sein, um in eine neue Position „gezogen“ zu werden. Es kann Sie niemand mehr in eine „schieben“ – diese Zeit ist vorbei. Auf meinen Karriereweg bezogen, hätte ich nie diesen so erfolgreich einschlagen können, wenn ich nicht international als sehr gute Führungskraft weithin bekannt gewesen wäre. Ein internationales Team zu führen, erfordert nicht nur ein Höchstmaß an Empathie, die Fähigkeit sich in andere Kulturen hineinzuversetzen, sondern auch ein besonderes Fingerspitzengefühl in jeder Situation. Die Fähigkeit, sich mit einer hohen sozialen Kompetenz in einem internationalen Umfeld zu bewegen, sollte sich aber nicht nur auf Sie beschränken. Falls Ihr Unternehmen seine Sitz in Deutschland hat mit vielen Niederlassungen auf der ganzen Welt, empfehle ich Ihnen, auch in Ihrem lokalen Team für eine Diversität zu sorgen. Stellen Sie bewusst Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund ein, sowohl Vollzeitkräfte als auch in Teilzeit arbeitende, wie zum Beispiel Praktikanten. Eine solche gesunde Durchmischung ist sehr hilfreich für ein gegenseitiges Verständnis gerade im täglichen Leben von Globalisierung, so meine Erfahrung. Diversität bereichert unser Leben und das erfahren Sie nur, wenn Sie es selbst tagein, tagaus die Vorteile erfahren. Dann empfinden Sie das Leben in einer Monokultur als äußerst langweilig. Die kulturellen Unterschiede fangen sehr oft bereits bei unseren europäischen Nachbarn an. Sie können z. B. französische Mitarbeiter nicht genau so wie deutsche führen. Das musste ich selbst sehr schmerzhaft, aber auch sehr lehrreich erkennen. Als ich den Fehler bemerkte, machte ich es das zweite Mal richtig mit dem Ergebnis, dass daraus ein Höchstleistungsteam mit Champions-League-Charakter wurde. Wenn Sie Ihre Führung auf internationale Mitarbeiter erweitern und diese gelegentlich auch besuchen, gibt es einen Klassiker als Handbuch für interkulturelle Kooperation, das Buch „Kiss, Bow, or Shake Hands“. Es gibt Empfehlungen über das richtige Verhalten mit jeder erdenklichen

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Kultur. Meine Empfehlung ist jedoch, Sie sollten im persönlichen Kontakt mit diesen Mitarbeitern auch nicht „päpstlicher als der Papst“ sein. Da ist Fingerspitzengefühl erforderlich. Selbstverständlich sollten Sie am Anfang die empfohlenen Regeln beachten. Wenn Sie es jedoch geschafft haben, ein tiefes Vertrauensverhältnis zu etablieren, können und sollten Sie gewisse steife Regeln lockern. Als ich ein japanisches Team übernahm und die Mitarbeiter mit einiger Zeit lockerer wurden, weil sie mich als Führungskraft schätzten, begrüßte ich die weiblichen Mitarbeiter so wie wir es in Europe tun – mit einer Umarmung und Küsschen rechts und links. Die Frauen waren regelrecht davon begeistert, denn sie sahen und empfanden es als größte Wertschätzung. Allerdings bedarf so eine Abweichung von lokalen, kulturellen Gepflogenheiten ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl. Eine besondere Herausforderung für globale Teams sind Video/Telefonkonferenzen über verschiedene Zeitzonen hinweg. Wenn Sie z. B. zeitgleich eine Telefonkonferenz mit Australien, Europa und der Westküste der USA führen wollen, bleibt es nicht aus, dass mindestens eine der drei Parteien entweder sehr früh am Morgen oder sehr spät am Abend daran teilnimmt. Dieses Opfer zwingt zu einer sehr guten Meeting-Disziplin- und Struktur, damit jeder Teilnehmer einen klaren Mehrwert erkennen kann. Auf solche wichtigen virtuellen Meetings zu verzichten ist keine Option, denn nicht nur Sie als Führungskraft sondern jedes Teammitglied muss den Mehrwert eines solchen Treffens persönlich erfahren, auch wenn es kleine persönliche Opfer erfordert.

6.7 Führen in der digitalen Welt Die mit großer Geschwindigkeit fortschreitende Digitalisierung erfordert von allen Unternehmen eines: Agilität und Geschwindigkeit. Über Nacht kommen neue Mitbewerber auf den Markt und Start-ups kommen hoch wie Pilze, die eines den großen Firmen voraus haben: sie sind schnell, sowohl bei ihren Entscheidungen als auch bei deren Umsetzung. Bei diesen Fähigkeiten können die Großen gar nicht oder nur sehr schwer mit-

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halten. Die Digitalisierung macht Informationen äußerst schnell und für viele verfügbar. Da versagen klassisch organisierte Unternehmen, bei denen Informationen noch in der Regel wasserfallartig von Hierarchiestufe zu Hierarchiestufe nach unten wandern und funktionale Silos werden zum Problem. Entscheidungen dauern viel zu lange, mit der Konsequenz, dass „die Schnellen die Langsamen fressen“. Außerdem, Wertschöpfung für den Kunden findet grundsätzlich horizontal statt, d. h. über mehrere Funktionen oder Silos hinweg. Wie kann das jedoch funktionieren, wenn die unternehmerischen Kennzahlen fast ausschließlich vertikal die Silos steuern? In der Regel behelfen sich Firmen mit bereichsübergreifenden Arbeitskreisen, um horizontale Herausforderungen zu begegnen, aber diese Vorgehensweise wirkt in der digitalen Welt sehr anachronistisch. Da passt der sarkastische Spruch: Und wenn Du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis.

Was ist die Lösung? Immer mehr weg von funktionalen Silos und hin zu Netzwerkstrukturen. Wie bereits sehr oft erwähnt, steuern die Kriterien oder Messgrößen, nach denen unsere Leistung bewertet wird, unser Verhalten, d. h. als ersten, pragmatischen Schritt, bevor die funktionalen Silos aufgelöst werden können, sollten die einzelne Silo-Fürsten zusätzlich zur ihrer vertikalen auch die Verantwortung für einen horizontalen Wertschöpfungsprozess erhalten, d.h. ihre Leistung wird an beiden Dimensionen gemessen. Merke: „you get what you measure“! In der von mir selbst erlebten Situation, die ich im Vorwort erwähnte, hatte die CEO zwar die Erkenntnis, den vertikalen Geschäftsbereichsverantwortlichen im Rang eines EVP jeweils auch die Verantwortung für einen horizontalen Geschäftsbereich zu geben, mit der wörtlichen Ansage, „wir müssen unser Unternehmen beidhändig führen“, aber diese Konzept versagte. Warum? „you get what you measure!“, d.  h. sie hat versagt, den EVPs zusätzlich zu deren vertikalen Messgrößen auch horizontale zu geben. Das und nur das hätte die versprochene Wirkung erzielt. Sagte ich nicht bereits: Führung ist doch so einfach?

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Unternehmen benötigen in der digitalen Welt mehr als jemals zuvor, eine neue, agile Kooperationskultur – ein neuer elementar wichtiger Paradigmenwechsel. Das startet mit und bedingt ein neues kollaboratives Führungsverständnis. Führung wird dabei als sozialer Austauschprozess verstanden, der über die kon­ ventionelle Beziehung zwischen Führungspersonen und Geführten hinausgeht

wie es im aktuellen Buch „Beyond Leadership“ von Matthias Mölleney und Sybille Sachs beschrieben wird (Mölleney et al. 2019). Sie schreiben weiter dazu: Diejenigen Führungskulturen, die eine hohe Rate an Kollaboration zwischen Mitarbeitenden ermöglichen, sind am ehesten für die digitale Welt tauglich. Strategien werden nicht im Alleingang entwickelt, sondern gemeinsam mit Mitarbeitenden aller Stufen sowie mit Kunden, Lieferanten und anderen Stakeholdern.

Der bereits an einer anderen Stelle in diesem Buch zitierte Patrick Cowden nennt dieses neue Kooperationsmodell den „Beyond Leadership Activation Cycle“, eine aus meiner eigenen Erfahrung sehr mächtige Methode, um unterschiedliche Meinungen sehr schnell in Einklang zu bringen. Der Startpunkt ist eine Ausrichtung auf gemeinsam getragene Werte und die Ausgangsfrage im „Align-Prozess“, wie Cowden diese erste Phase nennt, ist die Frage: „Wer sind wir und welche Gemeinsamkeiten ha­ ben wir?“ Dieses Alignment über Gemeinsamkeiten horizontal über die verschiedenen Silos und Funktionen hinweg ist der Schlüssel zum Erfolg. Dies ist aber nur möglich mit Menschen, die ein hohes Maß an sozialer Kompetenz besitzen, oder, um auf die eingangs erwähnten „7 Wege zur Effektivität“ von Stephen Covey (2004) zu reflektieren, die sowohl in der Lage sind, Win-Win zu denken, ein Interesse haben, andere zu verstehen und gewillt sind, Synergien zu schaffen. Egomane, Narzissten, „mit dem Kopf durch die Wand“ Typen, haben hier keinen Platz und ich füge hinzu, wenn diese Menschen sogar noch Führungskräfte sind, ist das eine geradezu tödliche Mischung für die digitale Welt.

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6.8 Wenn das Team-Klima krankt Auch in den besten und ausgeglichensten Teams kommt es vor, dass es zu Konflikten kommt, das ist menschlich. Sie als Führungskraft sollten das spüren. Vielleicht spürt es auch zuerst Ihre Admin Assistant, falls Sie eine in Ihrem Team haben. Selbstverständlich müssen Sie darauf reagieren und dürfen es nicht ignorieren im Sinne von „das wird schon wieder“. Ein dysfunktionales Team kann keine Höchstleistungen erbringen oder haben Sie das schon mal im Sport erlebt? Was machen Sie nun, um es wieder „in die Spur zu bringen?“ Vielleicht hilft eine Erinnerung an die Teamprinzipien, es kann aber auch sein, dass es etwas mehr benötigt zur Bereinigung des Klimas. Es gibt dazu eine sehr einfache und erprobte Methode, die ich immer erfolgreich in solchen Situationen einsetzte. Und das geht so: Sie laden zu einer Besprechung ein. Idealerweise erklärt sich eine HR-Person bereit, die Moderatorenrolle zu übernehmen, so dass auch Sie selbst aktiv teilnehmen können. Jeder Teilnehmer erhält für jeden anderen Teilnehmer 3 Metaplankarten, d. h. wenn das Team aus 10 Personen besteht, benötigen Sie 9 x 3 Karten in den Farben blau, gelb und grün. Jeder Teilnehmer notiert auf die jeweils 3 Karten für jeden seiner Kollegen folgende Botschaften: Auf die blaue Karte: „Tue davon bitte mehr“ Auf die gelbe Karte: „Tue davon bitte weniger“ Auf die grüne Karte: „Behalte das bitte bei“

Wenn alle Teilnehmer alle Karten erstellt haben, und das wird eine Weile dauern, gehen immer zwei paarweise zusammen und tauschen das Feedback gegenseitig aus. Geben Sie den Teilnehmer genügend Zeit für die Erstellung der Karten, vor allem, wenn diese Methode zum ersten Mal angewandt wird. Wichtig ist, dass jedes Paar für den bilateralen Austausch nur 10 Minuten zur Verfügung hat und dass eine strikte Zeitdisziplin eingehalten wird. Nach den 10 Minuten finden sich neue Paare bis jeder jedem Feedback gegeben hat. Eine solche formale Feedbackrunde „reinigt im wahrsten Sinne des Wortes die Luft“ im Team, vorausgesetzt alle Teilnehmer geben ehrliches

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Feedback und dazu muss der Moderator zu Beginn auffordern. Dieser Prozess zwingt alle Teilnehmer, Dinge klar anzusprechen, sowohl die positiven als auch die zu korrigierenden. Wenn es im Team Störenfriede geben sollte, bekommen diese in der Regel entsprechendes Feedback von allen Kollegen und nicht nur von Ihnen als Führungskraft, und das erzielt eine weitaus größere Wirkung. Ich habe dabei sehr spannende Situationen erlebt. Da waren einmal zwei Kollegen, die saßen an einem Standort nur wenige Meter auseinander, hatten sich aber bisher noch nie gegenseitig ausgetauscht und schon gar nicht Feedback gegeben. Nach der Übung waren sie froh und erleichtert, dass sie nun endlich die gegenseitigen Erwartungen kannten. Wenn Sie diese Methode anwenden, werden Sie erleben, dass das Team am Ende dieser Übung ein ganz anderes ist. Ein Gefühl der Entspannung, Erleichterung und Zufriedenheit durchschwebt den Raum. Machen Sie danach eine Abschlussrunde, in der jeder Teilnehmer mitteilt, sie er/sie sich nun fühlt und – ganz wichtig – geben Sie wertschätzendes Feedback und verweisen Sie bei dieser Gelegenheit auf die Teamprinzipien mit der Frage: „Haben wir aus der Übung etwas gelernt, was wir noch zusätzlich in unsere Teamprinzipien aufnehmen sollten?“

6.9 Sind Sie sichtbar Es gibt leider immer noch viel zu viele Vorgesetzte, die sich den Erfolg Ihrer Mitarbeiter auf ihre eigene Karte schreiben. Klären Sie das so früh wie möglich, idealerweise sogar noch bevor Sie eine Stelle antreten. Dies ist vor allem in größeren Unternehmen, die sehr hierarchisch strukturiert und geführt werden, eine Notwendigkeit. Es hilft Ihrer Karriere nicht, wenn nur Ihr direkter Vorgesetzte weiß, dass Sie gut sind. Melden Sie zum Beispiel Ihren Anspruch auf eine Präsentation in der übernächsten Hierarchieebene an, wann immer das passt. Das gilt insbesondere, wenn der Vorgesetzte Ihres Chefs Sie sonst nie zu Gesicht bekommt, weil er/sie zum Beispiel nur sehr selten von USA einfliegt. Ich hatte in meiner Karriere einst die Chance von einem meiner besten Vorgesetzten erhalten, vor einer EVP eine Präsentation zu halten, die sie nachhaltig beeindruckt

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hat, ein Erlebnis, welches für meine weitere Karriere bis zu meinem letzten Tag sehr förderlich war. Denken Sie stets daran: Sie, und nur Sie selbst, sind für Ihren Entwicklungsweg, bzw. Ihre Karriere verantwortlich und nicht HR, denn Sie werden in Karrierepositionen „gezogen“ und nicht „geschoben“. Gute Hinweise, wie Sie Ihre Sichtbarkeit und die Ihrer Leistung in einem Unternehmen verbessern können, bietet das Buch „Working Out Loud“ von John Stepper (2020). „Working Out Loud ist eine einfache Methode, um relevante Arbeitsbeziehungen aufzubauen, die dabei helfen, ein Ziel zu erreichen oder neue Themen zu entdecken.“

6.10 E  ine neue Führungskraft ins Team nehmen Nachdem Sie einige Monate als neue Führungskraft gewirkt haben, wird mit Sicherheit der Tag kommen, an dem Sie eine, oder sogar mehrere Personen Ihrer bisherigen Führungsmannschaft austauschen müssen, um Ihre Ziele zu erreichen, denn letzteres ist nur machbar, wenn Ihre gesamte Führungsmannschaft die gleiche Führungskultur wie Sie selbst lebt. Die „Bewährungszeit“, die Sie in Ihrer ersten Ansprache vor den Führungskräften erwähnt haben, ist vorüber. Nun müssen den Worten Taten folgen und Sie suchen entweder im Unternehmen oder außerhalb, eine neue Führungskraft. Vielleicht haben Sie auch in der Zwischenzeit ein Führungstalent in Ihrem Bereich entdeckt, dem Sie eine Führungsrolle zumuten. Letzteres ist nach meinen Erfahrungen grundsätzlich vorzuziehen, denn damit beweisen Sie mit Fakten, dass Ihnen die Entwicklung Ihrer Mitarbeiter sehr wichtig ist. Es sollte nicht so sein, wie ich es in einem Unternehmen erlebt habe. Dort gab es einen jährlichen Talent-­ Management-­Prozess, bei dem Führungstalente zwar identifiziert wurden, aber man hat sie danach regelrecht verhungern lassen. Für mich entstand dabei das Bild eines Goldfischteichs, in den die identifizierten Talente zwar eingesetzt, aber dann ein ganzes Jahr alleine gelassen wurden. Nach einem Jahr stellte man verwundert fest, dass fast alle noch im Teich waren und es nur einige wenige, aber die stärksten Fische darunter, es geschafft hatten, aus dem Teich in einen anderen zu entfliehen.

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Frage: Warum wurden diese Goldfische vernachlässigt? Dies sollten Sie an dieser Stelle selbst beantworten können. Ganz einfach: Weil die Führungskräfte nicht daran gemessen wurden, ob sie neue Führungskräfte aus dem „Goldfisch-Pool“ angeln, denn das wäre die nötige Konsequenz gewesen, bzw. Sie hätten daraus fischen MÜSSEN. Vielmehr haben sie diese Quelle komplett ignoriert, mit dem Ergebnis, dass viele Talente frustriert das Unternehmen verlassen haben. Wie war doch der Imperativ für das Feedbackgeben? „Miss es oder vergiss es!“ Nach welchen Qualifikationskriterien sollte die neue Führungskraft ausgewählt werden? Was sind die Qualifizierungskriterien dazu? In meiner Arbeit als Coach werde ich sehr oft gebeten, potenzielle Kandidaten – in der Regel interne Bewerber – zu interviewen und mir ein Urteil zu bilden über deren Eignung als Führungskraft. Ich wende dabei zwei Kategorien an: die Persönlichkeitsmerkmale der Kandidatin und die Führungskompetenz, beides schließe ich aus den Antworten auf folgende Kriterien:

Kriterien zur Persönlichkeit • • • • • • •

Hat Selbstvertrauen mit einer realistischen Selbsteinschätzung Hat Werte und lebt diese vor Hat ein positives Menschenbild Wirkt mit Empathie Ist Optimist – sieht Möglichkeiten, die nicht jeder sieht Ist proaktiv und lösungsorientiert Ist resilient und hat das bereits wiederholt bewiesen

Kriterien zur Führungskompetenz • Hat im privaten oder beruflichen Umfeld bereits Interesse an Füh­ rung bewiesen • Kann Vertrauensvorschuss geben • Ist Vorbild und reflektiert regelmäßig über ihre/seine Wirksamkeit als Leader

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• • • • •

Ist Vorbild als Optimist, auch in schwierigen Situationen – zeigt Mut Ist Beziehungsgestalter Ist ein Synergizer Hat die Fähigkeit, auch in unklaren Situationen Chancen zu sehen Kann klares, direktes, ehrliches und spontanes Feedback geben – positiv wie korrigierend • Kann andere mit authentischer Leidenschaft „anzünden“ • Hat die Fähigkeit, ein Umfeld zu gestalten mit dem Ziel einer hohen intrinsischen Motivation im Team Diese Kriterien spiegeln meine tiefe Überzeugung über die persönlichen Fähigkeiten, die eine ausgezeichnete Führungskraft aus meinen Erfahrungen mitbringen muss. Ich habe gelernt, dass man dabei keinerlei Kompromisse machen darf im Sinne von „na ja, er/sie bringt zwar nicht alles mit, aber vielleicht lernt sie/er das noch“. Ein solcher Ansatz ist vor allem bei den Persönlichkeitskriterien falsch und zugleich gefährlich, denn die genannten Ausprägungen sind tief in einer Persönlichkeit manifestiert und es ist ein aussichtsloses Unterfangen, die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen zu ändern, zumal es genügend Menschen gibt, die diese Anforderungen mitbringen. Den Fehler, einen Kompromisskandidaten zu akzeptieren, hatte ich in meinen Anfangsjahren als Führungskraft auch gemacht und es lief danach vollkommen schief. Eine nachträgliche Korrektur ist viel zu schwer für alle Beteiligten. Außerdem gibt es perfekte Kandidaten. Wenn ich zum Beispiel an die vielen Studenten denke, die meine Vorlesungen besucht haben, da waren einige, großartige Führungstalente dabei, denen ich sofort eine Führungsrolle zugetraut hätte. Eines ist bei der Auswahl sehr wichtig: in der Vergangenheit hat man bei der Auswahl die rein fachlichen Kompetenzen, zum Beispiel eine Branchenerfahrung, sehr hoch bewertet und die Führungskompetenzen spielten eine ungeordnete Roll, frei nach dem Motto „das wird sie/er schon noch lernen“. Diese Zeiten sind vorbei. Fachliche Kompetenzen kann man erlernen und Erfahrung sammeln, während die manifestierten Grundpfeiler einer Persönlichkeit so gut wie unveränderbar sind. Ein Pessimist bleibt ein Pessimist, ein Mensch mit einer Überzeugung, dass man anderen grundsätzlich nicht (ver)trauen kann, bleibt für den Rest seines Lebens misstrauisch, eine

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empathielose Persönlichkeit, die als Egomane nur seine Wahrheit als die einzige wahre sieht, darf niemals andere Menschen führen. Menschen wollen nicht von negativen Menschen geführt werden. Wenn Sie jedoch Menschen in Führung bringen, welche die genannten Kriterien erfüllen, werden Sie wahre Wunder erleben. Sie lassen ihre Mitarbeiter aufblühen, schenken ihnen Vertrauen, geben ihnen Raum für Kreativität und unterstützen sie in ihrer Entwicklung. Sie begeistern sie mit ehrgeizigen Visionen und erhalten dafür ihre volle Unterstützung. Sie sehen mit ihrer Positivität alle Probleme als Herausforderungen und stehen bei Niederlagen wieder auf, demonstrieren ihre Resilienz. Sie geben ein tägliches Vorbild, wie sie Beziehungen mit anderen gestalten und dies auch mit schwierigen Partnern. Und Mitarbeiter, die von solchen Persönlichkeiten gecoacht werden, stimmen folgender Aussage zu: People will forget what you said, people will forget what you did, but people will never forget how you made them feel.

6.11 F ühren in Krisenzeiten oder Umgang mit schwierigen Vorgaben Krisen kommen auf uns alle und so auch auf Sie zu. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Oft sind es wirtschaftliche Krisen, verursacht durch einen starken Nachfragerückgang. Es kann aber auch ein plötzlich eintretender neuer Konkurrent am Markt sein, der Ihnen mit einer bahnbrechenden Innovation große Probleme bereitet, oder es sind auch oft hausgemachte Ursachen, wie z. B. ein Wechsel an der Unternehmensspitze mit einem damit einhergehenden gravierenden Kulturwechsel. Ich selbst habe alles davon in meiner Karriere erlebt mit allen Facetten der Auswirkungen. Da waren einmal die positiven. Dazu zählte, dass Einsparmaßnahmen bei wirtschaftlichen Krisen im Konzern damit begannen, dass zu allererst das Management gebeten wurde, für eine gewisse Zeit auf 10 % ihres Gehalts zu verzichten Dabei haben alle mit­ gemacht, obwohl es freiwillig war. Was für ein starkes Zeichen an alle Mitarbeiter! So etwas stärkt die Glaubwürdigkeit des Managements enorm.

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Da waren aber auch – und leider waren diese Fälle in der Mehrheit – Krisen, in denen die Konzernspitze geradezu hilflos die Vorgabe machte, nicht nur X % aller Budgets zu streichen, sondern in einem fatalen Micro-Management-Stil Einzelanweisungen machte, wie z. B. das Einkaufssystem komplett zu schließen, alle Geschäftsreisen zu verbieten und auch selbst Einstellungen von Praktikanten zu untersagen. Gibt es noch schlimmere Beweise eines Mistrauens in die Führungskräfte? Im Klartext heißt das doch, man traut ihnen einfach nicht zu, in Krisensituationen richtige Entscheidungen zu treffen. Wie einfach wäre jedoch folgende, sehr einfache und praktikable Anweisung zu geben: alle Budgets müssen um X % reduziert werden und alle Führungskräfte entscheiden unter der Zuhilfenahme von Vorschlägen ihrer Mitarbeiter, an welchen Stellen diese Einsparungen gemacht werden könnten. Ich bin überzeugt, dass mit einem solchen Ansatz kurzfristig sogar noch mehr eingespart werden könnte. Vor allem – und das wäre die wichtigste Konsequenz – würden dann alle Mitarbeiter die Entscheidungen mittragen, denn sie waren ja schließlich im Entscheidungsprozess involviert. Betroffene zu Beteiligten machen, so einfach ist das. Diese Situation kennen Sie vielleicht bereits: Sie erhalten eine Anweisung von „oben“, zu der sie spontan nicht stehen können, weil sie die Argumentation darüber nicht verstehen. Im schlimmsten Fall – so von mir erlebt – ist die Richtlinie, dass Sie ihr Team verkleinern müssen, man nennt so etwas sprachlich geschönt „Restrukturierung“, ein Begriff, der die Herausforderung aber nicht kleiner macht. Derartige Situationen sind leider keine Seltenheit. Vor allem bei Unternehmen, deren Konzernzentralen geografisch sehr weit entfernt sind, ist das fast eine Regelmäßigkeit. Sehr beliebt sind zum Beispiel, wie bereits erwähnt, konzernweite Budgetreduzierungen im sogenannten „Rasenmäherstil“, d. h. alle müssen x % einsparen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wie gehen Sie in diesem Fall vor? Eines ist sicher: Ihr Team beobachtet Sie ab sofort haarscharf, wie Sie mit dieser Situation umgehen. Beginnen wir mit dem, was Sie NICHT tun sollen. Spielen Sie kein Theater vor und täuschen Ihre Zustimmung vor – das geht schief und ist tödlich für Ihre Glaubwürdigkeit. Bleiben Sie authentisch und sind Sie ehrlich mit Ihrem Team indem Sie zum Beispiel sagen:

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„Diese Anweisung verstehe ich im Augenblick auch noch nicht, ich werde aber meine Bedenken artikulieren und eine Begründung einfordern“

Zeigen Sie danach Mut und teilen Sie Ihr Unverständnis mit Ihrem Management – zeigen Sie Rückgrat. Vielleicht sind Sie erfolgreich und Ihre Einwürfe werden akzeptiert mit der Konsequenz, dass die Auswirkungen für Ihren Bereich kleiner sind oder sich sogar auflösen. Wenn Ihre Einwürfe jedoch ergebnislos waren, was nun? Auch diese Frage sollten Sie an dieser Stelle des Buches selbst beantworten können. Dann gibt es nur noch zwei der drei Alternativen, die da sind „Change it – leave it – love it!“, d. h. in diesem Fall endet die Auswahl der Alternativen mit Sicherheit bei „love it!“, weil Sie vielleicht nicht davonlaufen und ihr Team im Regen stehen lassen wollen, oder Sie sich in einer vielleicht wirtschaftlich schwierigen Situation nicht auf den Arbeitsmarkt begeben wollen. Aber dies sollten Sie wiederum klar an Ihr Team kommunizieren, so zum Beispiel: „Ich habe meine Einwände vorgebracht, aber sie waren nicht erfolgreich, d. h. „change it“ ist nicht möglich. Ich will nun nicht davonlaufen, sondern Euch sagen, wir nehmen das an, ergo „we love it!“. Zusammen werden wir das schaffen!“

Kommunizieren Sie als Vorbild in diesen Situationen immer wieder diese „Zufriedenheitsformel“, denn nur so manifestiert sie sich über die Zeit in allen Köpfen. Es muss allen klar werden, dass Jammern grundsätzlich keine Alternative ist und wenn Sie ein Führungsteam haben, das Ihre Führungsphilosophie auch vorlebt, wird Ihr gesamtes Team alle Krisen bewältigen, weil sie gute Vorbilder sind. Ihre Mitarbeiter sind Ihnen dafür sehr dankbar. Und falls ein Mitglied des Führungsteams doch einmal bei diesem Punkt ins Abseits kommt, müssen Sie ihn daran erinnern, dass es nur ein „on the bus“ oder „off the bus“ gibt. Generell sind in Krisensituationen Ehrlichkeit und Offenheit extrem wichtig. Sagen Sie lieber einmal mehr „Ich wünschte, ich könnte Euch mehr dazu sagen, aber ich weiß es selbst nicht“.

6  Auf Kurs bleiben 

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Viele Führungskräfte neigen leider dazu, eher nichts zu sagen und haben Angst, einzugestehen, dass sie selbst nicht mehr wissen und das schadet Ihrem verstaubten Bild, dass doch der Chef ein Allwissender ist. Das ist falsch. Schweigen generiert Konfusion und Angst und ist somit in Krisenzeiten fehl am Platz.

6.12 Integration von Unternehmenskulturen bei Fusionen Vielleicht haben Sie bereits eine Fusion mit einem anderen Unternehmen hinter sich. Falls nicht, werden Sie diese Erfahrung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in Ihrer Karriere noch machen, weil es immer mehr zu Firmenkäufe und Fusionen kommt. Mir ist zwar keine Statistik bekannt, wie viele davon erfolgreich waren bzw. sind, aber mir sind sehr viele Fälle bekannt, bei denen es nicht funktionierte mit der Konsequenz, dass viel Geld verbrannt wurde. Einer der bekanntesten Misserfolge war die von Daimler und Chrysler. Warum hat es nicht funktioniert? Warum zerplatzten all die erwarteten Synergien wie Seifenblasen? Es gibt nur eine Ursache. Es war nicht das Produktportfolio der beiden Unternehmen, es waren nicht die Prozesse und Systeme, obwohl diese zu integrieren immer eine große Herausforderung ist, und es waren nicht die Mitarbeiter, die nicht gut zusammen harmoniert haben, nein, es war das Versagen der Unternehmensführung an der Spitze. Das Versagen, der Integration der beiden Unternehmenskulturen den richtigen Stellenwert zu geben und auch konsequent dafür zu investieren. Das bereits erwähnte Zitat von Peter Drucker „Culture eats Strategy for Breakast“ beschreibt das Problem mit einem knackigen Slogan, in anderen Worten: Wenn eine Integration von zwei Unternehmenskulturen scheitert, scheitert auch die gesamte Integration und zurück bleiben Frust, vernichtetes Geld und ein Topmanagement das sich bis auf die Knochen blamiert und sich als unfähig bewiesen hat. Ja, diese Aufgabe ist äußerst schwierig und benötigt sowohl Zeit als auch Geld, aber es führt nun mal kein Weg vorbei. Es ist nicht damit getan, neue Organigramme zu erstellen und zu befehlen „so, nun lebt diese

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neue Struktur“, ein Fehler, den die meisten machen. Sind Sie sich darüber im Klaren: Unternehmenskulturen kann man nicht so einfach verändern, man muss sie vielmehr entwickeln und entwickeln bedeutet, die „Betroffenen zu beteiligen“. Sie werden sich nun fragen: wie ist das möglich, wenn das neue, fusionierte Unternehmen mehr als 100.000 Mitarbeiter hat? Selbstverständlich können dann bei diesem Entwicklungsprozess nicht alle Mitarbeiter beteiligt werden, sondern es genügt, wenn es Menschen sind, welche die richtige Offenheit und eine persönliche Verpflichtung zum Gelingen mitbringen, aber auch von ihren Kollegen als quasi Stellvertreter akzeptiert werden. In dem von mir im Vorwort erwähnten Beispiel, bei dem ich selbst beteiligt war, wurden 90 erfahrene Führungspersönlichkeiten, die bekannt waren als vorbildliche Führungskräfte, in ein Beratungsteam berufen. Sie repräsentierten die verschiedenen Funktionen und Regionen und auch die beiden Unternehmen, deren Kulturen zu integrieren waren. Zu diesem Power-Team kamen noch einige externe Berater und sie zusammen erhielten den Auftrag vom CEO und dem Executive Council, eine neue globale und unternehmensweite Führungskultur zu erarbeiten und sie danach in ihre Organisationen zu tragen. Was für ein Investment! In unzähligen Meetings in San Francisco und Webcasts, bei denen immer die CEO dabei war und so ihr starkes, persönliches Commitment zeigte, wurde das Ziel – fast – erreicht. Warum nur fast? Weil am Ende die CEO bei einem aber dem wichtigsten Punkt versagt hat. Das Beraterteam hat dem von mir in diesem Buch schön öfters erwähnte Mantra „You get what you measure!“ folgend, ein „360° Beurteilungssystem für Führungskräfte“ als Coaching-Werkzeug entwickelt und vorgeschlagen, dieses konsequent von oben nach unten einzuführen. Die Beurteilungskriterien bezogen sich konsequent auf ein neues Führungsverhalten, welches unabdingbar für das Leben der neuen Unternehmenskultur sein sollte. In all unseren sehr intensiven Diskussionen über diese neue Kultur wurde uns glasklar bewusst, dass wir dieses Mess- bzw. Feedbacksystem unbedingt benötigen und dass es dazu keine Alternative gibt. Wir waren fest überzeugt, dass dieses Werkzeug helfen wird, alle Führungskräfte zu einer Veränderung ihres Führungsverhaltens zu bewegen und diejenige aus ihrer Führungsaufgabe herauszunehmen, die sich gegen die Veränderung wehren sollten.

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Eines Tages wurden vier Leute von unserem 90-Personen-Team in eine Sitzung des Executive Council eingeladen, um unseren Vorschlag einzubringen und ich durfte auch dabei sein – ein unvergessliches Erlebnis, ja, vielleicht sogar der Höhepunkt in meiner Karriere! Diese Gelegenheit war es wert, dass ich nur für diese eine Stunde in die USA geflogen bin. Als ich gebeten wurde, meine Empfehlung auszusprechen, traf ich mit etwas zitternden Knien, aber mit meiner größten authentischen Leidenschaft folgende Aussage: „With this merger we now have the best product portfolio, the right systems and processes as well as great people, however, I strongly believe and I’m 100  % convinced, this company will fly or die whether we get the leadership right“

Die CEO war begeistert über diesen Beitrag, weil er genau auch ihrer Überzeugung entsprach und sagte spontan: „Can we bottle this guy?“. Allerdings, Wochen später merkte ich, dass sie immer noch zögerte, ihre direkten Mitarbeiter, die EVPs, zu überzeugen oder zu zwingen, das Beurteilungssystem einzusetzen und dabei bei sich zu beginnen. Daher nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb der CEO folgen­de Zeilen: „XX, the time of preaching must be over now. Please start measuring your peo­ ple on what you expect them to do“

Leider war auch diese Intervention nicht erfolgreich mit der Konsequenz, dass das System nie unternehmensweit eingeführt wurde, mit Ausnahme einiger der Mitglieder im Beratungsteam, so auch von mir. Und da somit so gut wie niemand daran gemessen wurde, ob die neue Kultur gelebt wird, war sie Makulatur, hatte es keine Konsequenzen und viele schlechte Führungskräfte blieben auf ihren Jobs. Tragisch war am Ende, dass die CEO Monate später ihren Hut nehmen musste, weil die wirtschaftlichen Ergebnisse nicht mehr stimmten. Die Ursache: einige EVPs sabotierten sie regelrecht und auch das blieb ohne Konsequenz. David Herold brachte dieses Scheitern in seinem Buch „Change  – the way you lead change“ (Herold et  al. 2008) so zu Ausdruck:

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She may have been a great strategic thinker, even a visionary, but she was a poor change leader.

Dieses Beispiel soll zeigen, dass eine Fusion nur dann erfolgreich sein kann, wenn zu allererst in die Integration der Unternehmenskultur investiert wird und es nicht damit getan ist, neue Organigramme zu malen, die neue Kultur zu beschreiben und darüber immer wieder zu predigen, sondern ich muss das für das Leben der neuen Kultur notwendige Führungsverhalten auch messen, Feedback dazu geben und daraus Konsequenzen ziehen. Dass dies zu wenig konsequent gemacht wird, ist meines Erachtens die Ursache Nr. 1 misslungener Fusionen in der ganzen Welt.

6.13 N  icht auf oben warten – eine eigene Führungskultur gestalten In meinen Führungs-Coachings, sei es mit einzelnen Personen oder für intakte Führungsteams, höre ich immer den Einwand: „Das ist ja ganz toll, was Du mir/uns als Führungsphilosophie empfiehlst, aber bei uns ist das nicht möglich. Unser Management tickt völlig anders. Es führt hierarchisch und da gilt nur die Devise „top-down“ – da kann ich doch als kleines Licht nichts machen“.

Das ist in der Tat noch immer ein Dilemma. Nach meinen Beobachtungen werden jährlich Millionen in Führungstrainings bei externen Veranstaltern investiert und die Teilnehmer sind in der Regel fast alle aus dem mittleren Management und Führungskräften aus der unteren Führungsebene. Sie alle gehen dann hoch motiviert nach Hause und rennen dann höchst frustriert gegen Wände der bestehenden Unternehmenskultur. Den Trainingsveranstalter füllt das zwar die Kassen, aber gesamtwirtschaftlich ist das eine katastrophale Geldverbrennungsma­ schine. In der Tat sind die Beharrungskräfte eines hierarchischen Handelns sehr stark, weil ein hierarchisches Denken noch tief im Unterbewusstsein

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vieler erfahrener Führungskräfte verankert ist. Es versperrt ihnen den Zugang zu neuen Führungsphilosophien, welche sehr stark auf die Eigenverantwortung von Mitarbeitern fokussiert sind. Bedeutet das aber, dass Sie sich damit frustriert abfinden müssen und somit eine große Chance verpassen oder sogar das Unternehmen verlassen sollten? Die Antwort kann nur ein klares Nein sein. Was kann Sie daran hindern, Stück für Stück eine eigene Führungskultur in Ihrem Team aufbauen? Eigentlich nichts, oder? Da Rom bekanntlich auch nicht an einem Tag gebaut wurde, benötigen Sie aber einen Plan. Und dieser beginnt zuerst bei Dingen, die Sie in Ihrem Führungsverhalten ändern sollten/ wollen. Ihre innere Einstellung zu Führung ist dabei Ihr wichtigster Kompass und er leitet Sie dabei an. Dazu bietet sich die folgende Checkliste an:

Checkliste zu meiner inneren Einstellung für Führung • Welches Menschenbild ist in mir verankert? Denke ich „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ oder bin ich überzeugt, dass jeder Mensch sein Bestes will, wenn man ihm nur die richtige Umgebung bietet? • Wie steht es mit meiner Achtsamkeit und Empathie in der Führung? • Wie ist in meinem Inneren das Verhältnis zwischen Bescheidenheit und Narzissmus? • In welchen Situationen zeige ich meinen Mitarbeitern, dass ich ihnen vertraue? • Wie verhalte ich mich, wenn ich mit einem Problem konfrontiert werde? • Kenne ich die Stärken jedes einzelnen Mitarbeiters? • Ist jeder Mitarbeiter gemäß seinen Stärken eingesetzt? • Weiß ich von jedem Mitarbeiter, ob er seinen Job liebt? • Wann habe ich zuletzt Feedback gegeben und auch für mich eingeholt? • Wann praktizierte ich zum letzten Mal „Management-by-walkin-around“? • Was ist der Status unseres Teamleitbildes? Sind Anpassungen notwendig? • Wie ist mein Fortschritt bei „Mein Rezept dagegen in meiner neuen Stelle“?

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• Bin ich (noch) ein Vorbild bzgl. Agilität und Veränderungsbereitschaft? • Wie steht es mit meiner „Körper-Geist-Seele“-Balance? Halte ich mich körperlich fit und investiere ich genügend Zeit für meine Familie und Freunde? • Wer ist mir wichtig und wann habe ich diesen Menschen zuletzt kontaktiert? • Welche Erfolge habe ich mit meinem Team erzielt und haben wir diese auch gebührend herausgestellt und gefeiert? Diese Fragen finden Sie im Anhang dieses Buches auf einem Fragebogen, den Sie sich einmal pro Monat in einer stillen Stunde anschauen sollten, ganz im Sinne des 7. Weges „Die Säge schärfen“ aus dem Buch von Steven Covey. Führung ist „Aktion und Reflektion“; ohne Reflektion gibt es keinen Lernfortschritt, das gilt auch für Führung. Zum Aufbau einer eigenen Mikrokultur in Ihrer Abteilung empfehle ich Ihnen, sich die Grundprinzipien von „Holocracy“ anzuschauen. Der Begriff kommt aus dem amerikanischen und ist dort als Prinzip von selbstgeleiteten Teams sehr bekannt. Es gibt inzwischen sehr viele Unternehmen, die Holocracy konsequent anwenden, vor allem mittelständische. In Deutschland gibt es zum Beispiel die Firma HEMA in Frickenhausen bei Stuttgart, welches dieses Prinzip sehr erfolgreich umgesetzt hat. Siehe dazu den Link im Anhang zu einem „brand eins“-Artikel. Holacracy ist ein Ansatz, Klarheit und Transparenz über die Arbeit in einem Team oder einer Organisation zu gewinnen und Entscheidungsprozesse schlank und effektiv zu halten. Holacracy verteilt die Autorität, die sonst bei Führungspersonen oder Managern liegt, auf die Teammitglieder. Es betont die Eigenverantwortung der Mitarbeiter und ermächtigt sie. Mitarbeiter in ihren klaren Rollen, aber auch in klar abgesteckten Grenzen zu ermächtigten. Dieses Prinzip bringt Führungskräfte mit einer klassischen Denkweise über Führung in ein Dilemma. Sie sind der Meinung, dass feste Strukturen unerlässlich sind, um Ordnung zu halten und um Unvorhergesehenes zu vermeiden. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Ich empfehle Ihnen, die Grundprinzipien dieser Philosophie in Ihrem Team einzusetzen. So können Sie selbst in Unternehmen mit einer hie­

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rarchischen Grundstruktur und Kultur ihre eigene Mikro-Kultur gestalten. Haben Sie Mut! Das kann Ihnen niemand verwehren. Ihre Aufgabe als Führungskraft besteht dann darin, Klarheit zu schaffen, sowohl was die Autonomie der Mitarbeiter als auch die gesteckten Grenzen sind. Autonomie erfordert Vertrauen und Vertrauen erfordert eine „verbindliche Verantwortung“, was in der englischen Sprache sehr gut mit dem Wort accountability im Gegensatz zu responsibility ausgedrückt wird. Vertrauen ohne accountability und ohne klar definierte Grenzen führt zum Chaos, aber es versteht sich von selbst, dass in diesem Kontext der Eigenverantwortung die Grenzen sehr weit abgesteckt sein müssen, sonst wird die Autonomie zum ad absurdum geführt. Um die Kohäsion von Verantwortung und accountability bildlich zu beschreiben, nehme ich gerne das Bild einer Münze, die zwei Seiten hat. Vertrauen ist also die eine Seite und accountability die zweite. Es gibt eine schöne Metapher was den Unterschied zwischen einem klassisch, hierarchischem und einem Holocracy-Ansatz ist, und zwar ist dies eine Verkehrsordnung. In der Hierarchie wird der Verkehrsfluss mit Hilfe von Ampeln geregelt. Der Verkehr wird langsam, es kommt zu vielen Staus und die Freiheit zu fahren ist stark eingeschränkt, ich werde sozusagen von der Ampel gesteuert und selbst dann, wenn weit und breit kein anderer Verkehrsteilnehmer in Sicht ist. Im Gegensatz dazu gleicht ein Holocracy-Ansatz einem Kreisverkehr, in dem der Verkehr ständig fließt. Es gibt zwar auch eine Vorfahrtsregel, aber es kommt sehr selten zum Stillstand und ich als Fahrer habe die Kontrolle, ich bin ermächtigt und kann fahren, wenn ich niemand anders gefährde. Haben Sie Mut, ermächtigen Sie Ihre Mitarbeiter, lassen Sie sich nicht durch Ihr Umfeld einschränken. Bereits Immanuel Kant gab vor 250 Jahren den Rat: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Ihr Team wird es Ihnen mit Höchstleistungen durch eine hohe intrinsische Motivation lohnen und zurückzahlen und andere Führungskollegen um Sie herum erblassen vor Neid.

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6.14 Mentor Führung macht einsam – das ist fast schon ein Naturgesetz von Führung. Je höher Sie auf einer Karriereleiter steigen, desto mehr werden Sie einsam und vermissen sehr oft einen Sparringspartner, vor allem vor schwierigen Entscheidungen und in schwierigen Situationen und dies ist der Fall, selbst wenn Sie ein sehr vertrauensvolles Verhältnis mit Ihrem Team haben. Wenn Sie auf Augenhöhe führen, wird das nicht so gravierend sein, aber viele Führungskräfte in den oberen Etagen bestätigen eine gewisse Einsamkeit. Daher meine Empfehlung: Suchen Sie sich in Ihrem Unternehmen sehr früh einen Mentor, der Sie auf Ihrem Lernweg der Führung begleitet. Wichtig ist, dass der Mentor von außerhalb Ihres Bereiches ist, denn das erweitert Ihren Horizont. Sind Sie nicht scheu und fragen Sie eine erfahrene Führungskraft der oberen Ebene an, von der sie wissen, dass er oder sie eine ausgezeichnete Führungskraft ist. Nur so können Sie so von einem reichen Erfahrungsschatz profitieren. Meine Erfahrung ist, dass gerade Führungspersönlichkeiten der höheren Ebene ganz selten sich einem solchen Wunsch verschließen, denn auch sie schätzen es sehr, wenn sie um Rat gefragt werden. Neben der Rolle eines Sparringpartners in Sachen Führung, ist ein solcher Mentor auch ein wichtiger Katalysator für die Erweiterung Ihres Netzwerkes und oft ein Garant für Ihre Sichtbarkeit im Unternehmen. Ich wiederhole dazu meine Aussage, die ich bereits mehrfach gemacht habe: Zu einem Karriereaufstieg wird man „gezogen“ und nicht „geschoben“.

6.15 Erste Erfolge ernten Als neue Führungskraft werden Sie selbstverständlich genau beäugt, und zwar 360° rundherum, was die ersten sichtbaren Ergebnisse Ihrer Führungsarbeit sind. Das wollen Ihre Mitarbeiter sehen, Ihr Vorgesetzter und auch alle Ihre anderen Stakeholder. Machen Sie sich dessen immer bewusst und vergessen Sie nicht, auch die „small wins“ herauszustellen ohne aber angeberisch zu wirken. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den

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Scheffel. Ein gesundes Maß an Selbstmarketing schadet nicht. Feiern Sie erste Erfolge mit Ihrem Team. Das ist nicht nur für Sie wichtig, sondern auch für eventuell noch vorhandene Unentschiedene und vor allem für die Bedenkenträger in Ihrem Team, die es ja immer gibt. Nur so können Sie deren Bedenken wirkungsvoll begegnen. Vermeiden Sie aber unbedingt Wettbewerbs-Vergleiche mit anderen Abteilungen. Das könnte Ihnen auf die Füße fallen. Diese Erfahrung musste ich in meinen frühen Führungsjahren machen, als ich eine Organisation nach kurzer Zeit zu einer Höchstleistung gepusht hatte. Es gab dazu einen Schwesterbereich in Frankreich mit dem gleichen Geschäftsmodell und den gleichen Kunden, welches die Vertriebsorganisation in den europäischen Ländern waren. Selbstverständlich bemerkten diese Kunden, dass unsere Leistungen immer besser wurden und die der Schwesterorganisation auf relativ niedrigem Niveau stagnierten. Sie priesen uns im höchsten Maße als Musterschüler, was selbstverständlich unseren französischen Freunden nicht gefiel. Tja, Musterschüler sind nun mal nicht bei allen beliebt. Angetrieben von meinem sportlichen Ehrgeiz, lies ich mich dann bei einer Ansprache vor meinem Team zu der Bemerkung verleiten: „We are the best, forget the rest“ und dies kam dem Team in Frankreich zu Ohren. Wie begeistert die darüber waren, überlasse ich Ihrer Fantasie. Das war selbstverständlich ein großer Fauxpas aus dem ich gelernt habe. Viel besser wäre es gewesen, wenn ich dem Team in Frankreich meine Hilfe angeboten hätte, um ihnen zu zeigen, was wir gemacht hatten, um die Leistung dramatisch zu steigern. Diese Lernerfahrung habe ich dann in späteren, ähnlichen Situationen konsequent angewandt.

7 Schlussbemerkungen und Ausblick

Dieses Buch habe ich geschrieben, als nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt unser Leben im Zeichen von Corona-Pandemie stand. Die Krise hat uns u. a. die Grenzen der Verflechtung in der Weltwirtschaft aufgezeigt mit klaren Konsequenzen für die Zukunft. Alle Experten sind sich darin einig, dass das einschneidende Erlebnis dieser Pandemie unser Bewusstsein und somit unser Verhalten nachhaltig beeinflussen wird. Uns wurde bewusst, dass die Komplexität und damit in Unsicherheit immer weiter wächst. Willkommen in der VUCA-Welt. VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe volatility ‚Volatilität‘, uncertainty ‚Unsicherheit‘, complexity ‚Komplexität‘ und ambiguity ‚Mehrdeutigkeit‘. Spätestens jetzt ist es uns allen klar geworden, was das bedeutet und diese neue Wirklichkeit wird meines Erachtens auch einen starken Einfluss auf das Führungsverhalten in der Zukunft haben. John Naisbitt, ein US-amerikanischer Autor mit dem Themenschwerpunkt Trend- und ­Zukunftsforschung, machte bereits vor sehr vielen Jahren die Aussage:

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_7

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The most exciting breakthroughs of the 21st century will not occur because of technology but because of an expanding concept of what it means to be human.

Diese Aussage stand noch vor wenigen Monaten im leeren Raum, aber nun in der Corona-Krise haben wir sie (hoffentlich) alle begriffen. Wir benötigen mehr Menschlichkeit und gerade in der Führung in ihrer Vorbildfunktion. Führungskräfte prägen eine Unternehmenskultur und dies nicht nur mit Visionen und Strategien, sondern vor allem durch das tägliche und aktive Vorleben von generischen Werten, die unser Zusammenleben als Menschen menschlich machen. Wir haben in der Krise den unermesslichen Wert von Beziehungen untereinander neu entdeckt. Dazu gehören gegenseitiges Vertrauen, empathisches Mitgefühl, Achtsamkeit und auch eine Bescheidenheit. Matthias Horx, der Trendforscher, spricht von „einer neuen Kultur der Erreichbarkeit und der Verbindlichkeit (Horx 2020). Er spricht von einem „neuen Menschen“, den er aus der Corona-Krise hervorgehen sieht. Er glaubt, dass das Virus unserem Leben eine Richtung gibt, in die es sich eigentlich schon lange entwickeln wollte. Die erzwungene Lage mache die Gesellschaft sozialer, höflicher, gerechter. Sie fokussiere sich fortan auf das Wesentliche.“ Er kommt zum Fazit, dass die unterschiedlichsten Beziehungen völlig neu überdacht würden. Die Beziehung zum Geld verliere enorm an Bedeutung, und die zum sozialen Umfeld, zur Familie, zu Freunden, zu Kollegen und Nachbarn bekomme einen ungleich höheren Wert. Ein neues Bewusstsein ist möglich ohne die wirtschaftlichen Ziele eines Unternehmens außer Acht zu lassen, wobei es auch bei diesen zu einem gesellschaftlichen Umdenken kommen wird bzw. muss. Fragen, die bisher mehr in gesellschaftlichen Randgruppen geführt wurden, kommen nun in den Vordergrund, nicht zuletzt auch wegen der parallel stattfindenden ökologischen Neuorientierung erzwungen durch den Klimawandel. Das sind Fragen wie: • Wie wollen wir den unternehmerischen Erfolg in Zukunft messen? Kann es immer noch ausschließlich der Shareholder Value oder ein vergleichbarer finanzieller Erfolg sein? Oder müssen wir nicht endlich auch den gesellschaftlichen Einfluss und den ökologischen Fußabdruck

7  Schlussbemerkungen und Ausblick 

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zusätzlich heranziehen und somit das gesamte Spannungsfeld und dessen Anforderungen einer humanen, ökologischen und ökonomischen Orientierung? Wie war das noch?: „You get what you measure!“ • Ist es gesellschaftlich noch zu verantworten, dass in guten Zeiten die Aktionäre eines Unternehmens immer reicher werden, was die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet, während in Krisenzeiten die gleichen Unternehmen nach Staatshilfen rufen und somit nach dem Steuergeld aller Bürger? • Müssen wir nicht endlich den starken Einfluss von Lobbyisten eingrenzen, die sehr oft von rein finanziellen Zielen und viel weniger oder gar nicht von gesellschaftlichen bzw. ökologischen Notwendigkeiten geleitet werden? Alles Fragen einer bisher ungeahnten Herausforderung an das gesamte Führungspersonal. Sie erfordern ein neues soziales Miteinander von Eigentümer und Mitarbeiter. Und dies leitet uns auch zur Grundsatzfrage über Führung: Wie messen wir in Zukunft unsere Führungskräfte, ganz gleich, ob in der Wirtschaft oder Zivilgesellschaft? Nach welchen Kriterien bringen wir sie in Führung und holen sie dort wieder raus? Wie bereits gesagt, „der Fisch stinkt vom Kopf“ und somit muss eine Neubesinnung ganz oben beginnen. Bei Kapitalgesellschaften beginnt das im Aufsichtsrat oder der Gesellschafterversammlung, denn sie entscheiden über die Leistungskriterien der Vorstände. Da sie aber in ihrer großen Zahl aus ehemaligen Vorständen rekrutiert werden, die in ihrer aktiven Zeit auch nur an finanziellen Ergebnissen gemessen wurden und oft ein sehr antiquiertes Bild von „top-down-Führung“ haben, wird eine Änderung sehr, sehr schwierig werden. Die Hoffnung liegt jedoch in der Schaffung einiger Leuchttürme, die beweisen, dass es auch anders geht und die gibt es bereits, nicht so sehr bei den ganz Großen, sondern eher im Mittelstand. Wie in diesem Buch deutlich ausgeführt, darf es aber nicht nur bei neuen Leistungskriterien für Führungskräfte bleiben. Die Ergebnisse müssen auch zu Konsequenzen führen. Pestalozzi, der Klassiker der Päda­ gogik, prägte den Leitsatz: „Erziehung ist Liebe plus Konsequenz“. Diesen auf Führung angewendet, lautet meines Erachtens: „Führung ist Res­ pekt plus Konsequenz“.

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Immanuel Kant spricht in seinen Erklärungen zum kategorischen Imperativ über die „Liebespflicht gegenüber anderen“ und das bringt es gut zum Ausdruck, was ich mit Respekt meine – eine Führung auf der Basis von Vertrauen und einer tiefen Menschlichkeit, aber auch einer klaren Konsequenz falls vereinbarte Werte bzw. Verhaltensregeln verletzt werden. Genau so wenig wie Konsequenz in der Erziehung eine negative Notation hat, sondern unerlässlich ist, ist sie auch meines Erachtens bei der Führung von Mitarbeiter und dabei ganz besonders in der Führung von Führungskräften. Dies in praktischen Hilfestellungen aufzuzeigen, war und ist Ziel dieses Buches. Ich habe an sehr vielen Stellen in diesem Buch das Phänomen einer intrinsischen Motivation erwähnt. Sie ist der Schlüssel zum Erfolg. Aus tiefster Überzeugung sage ich, man kann Menschen nicht motivieren. Motivation ist vielmehr ein Ergebnis und zwar das Ergebnis ausgezeichneter Führung und dann spricht man von einer intrinsischen Motivation. Reinhard Sprenger fasst mein Glaubensbekenntnis zu Führung so wunderbar zusammen, wenn er sagt: Die Leitlinie für richtiges Führen ist einfach: Finde die Richtigen, vertrau ihnen, fordere sie heraus, rede oft mit ihnen, bezahle sie fair und mach dann das wichtigste von allem: Geh aus dem Weg.

Ich wünsche mir, dass die Neubesinnung nach der Corona-Krise auch zu einer fundamentalen Änderung des Verständnisses über Führung in unserer Gesellschaft führt, denn ohne diesen Wandel wird es nur bei guten Vorsätzen bleiben. Und, um Victor Hugo zu zitieren „Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. Ergo: wenn nicht jetzt – wann dann? Zum Schluss wünsche ich mir, dass dieses Buch Ihnen einige Anregungen geliefert hat auf Ihrem Lernweg zu einer ausgezeichneten Führungskraft. Haben Sie Mut! Und haben Sie auf Ihrem Lernweg immer ein Ziel vor Augen: Sie sind nur dann eine ausgezeichnete FührungsKraft, wenn Menschen Ihnen mit Begeisterung folgen!

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Nun liegt es an Ihnen. Fangen Sie noch heute damit an, dazu einen Plan zu erstellen, wie Sie das umsetzen, was Sie gelernt haben. Denken Sie dran: „Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt“. Die folgenden Fragen sollten Sie leiten.

7.1 Reflektionsfragen und Verpflichtung „Das ändere ich an meinem Führungsstil – sofort!“

• Diese Dinge ändere ich ab morgen früh: _____________________________________________________ _____________________________________________________ _____________________________________________________ • Diese Dinge ändere ich mit Start der nächsten Woche: _____________________________________________________ _____________________________________________________ • Diese Dinge ändere ich ab nächsten Monat: _____________________________________________________ _____________________________________________________ _____________________________________________________ • Diese Dinge ändere ich vor Ende der ersten 100 Tage: _____________________________________________________ _____________________________________________________ _____________________________________________________ • Diese Punkt kläre ich mit meinem Vorgesetzten: _____________________________________________________ _____________________________________________________

8 Anhang: Werkzeuge

Auf den nächsten Seiten finden Sie sehr nützliche Werkzeuge, um den Inhalt dieses Buches in der Praxis anzuwenden. Zunächst ist es ein persönlicher Onboarding-Plan, den Sie in der Vorbereitung für eine neue Führungsaufgabe erstellen. Er sollte Ihr Leitfaden sein für einen perfekten Start sowie die Zeit danach. Es folgt eine sehr wichtige Checkliste zu Ihrer ganz persönlichen inneren Einstellung zu Führung, die Sie sowohl in der Vorbereitung für eine neue Führungsaufgabe aber auch danach regelmäßig zur Hand nehmen sollten um Ihre Wirksamkeit als Führungspersönlichkeit zu reflektieren. In Ihrem ersten Jahr empfehle ich eine ehrliche monatliche Reflektion, selbstverständlich mit den notwendigen Korrekturmaßnahmen danach. Diese Checkliste ist Ihr permanentes Navigationssystem auf Ihrem Führungslernweg. Als Hilfestellung zur Findung Ihrer Mission des Lebens bzw. Ihrer inneren Bestimmung bieten sich die „Fragen zu Sinnspuren“ von Alfried Längle an. Nehmen Sie sich dazu eine stille Stunde und tauschen Sie das Ergebnis mit einer Ihnen sehr vertrauten Person aus. Es folgen sehr konkrete und pragmatische Beispiele für Führungsprinzipien, Teamprinzipien, Meeting- und Email-Regeln, wie ich sie in meiner aktiven Führungszeit eingesetzt habe und heute meinen Kunden © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Reiß, Onboarding für Führungskräfte, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30985-5_8

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empfehle. Sie schaffen vor allem Klarheit und sind Leitplanken für ein wirkungsvolles und wertebewusstes Zusammenarbeiten. Gleichzeitig bieten sie die transparente Basis für das wichtige Feedback an die Mitarbeiter über deren Verhalten. Die beigefügten Gallup Q12 Fragen sind ein sehr einfaches Messin­ strument für Führungskräfte, wie sie Gallup seit vielen Jahren erfolgreich in weltweiten Messungen zum Mitarbeiterengagement einsetzt. Mit nur 12 Fragen können die Mitarbeiter sehr pragmatisch die Wirksamkeit Ihrer Führungskraft bewerten. Schließlich ist das Beispiel einer Balanced Scorecard beigefügt. Es zeigt, dass es nur ein paar wenige Messpunkte benötigt, um die ganzheitliche Leistung eines Teams oder einer Organisation zu bewerten. Wie bereits erwähnt, ist die Messung dieser vier Stakeholder-Dimensionen unabdingbar, denn sie folgt dem Imperativ „you get what you measure!“

8.1 Mein Onboarding-Plan Das erledige ich vor dem ersten Tag:

Meine Aktivitäten am ersten Tag:

Meine Aktivitäten in der ersten Woche:

Meine Aktivitäten im ersten Monat:

Meine Aktivitäten bis zum Ende der ersten 60 Tage;

Meine Aktivitäten bis zum Ende der ersten 90 Tage:

Meine Aktivitäten vor Ende des 1. Jahres:

8  Anhang: Werkzeuge 

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8.2 C  heckliste zu meiner inneren Einstellung für Führung und meiner Wirksamkeit als Führungspersönlichkeit Welches Menschenbild ist in mir verankert? Denke ich „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ oder bin ich überzeugt, dass jeder Mensch sein Bestes will, wenn man ihm nur die richtige Umgebung bietet? Wie steht es mit meiner Achtsamkeit und Empathie in der Führung? Wie ist in meinem Inneren das Verhältnis zwischen Bescheidenheit und Narzissmus? In welchen Situationen zeige ich meinen Mitarbeitern, dass ich ihnen vertraue? Wie verhalte ich mich, wenn ich mit einem Problem konfrontiert werde? Kenne ich die Stärken jedes einzelnen Mitarbeiters? Ist jeder Mitarbeiter gemäß seinen Stärken eingesetzt? Weiß ich von jedem Mitarbeiter, ob er seinen Job liebt? Wann habe ich zuletzt Feedback gegeben und für mich eingeholt? Wann praktizierte ich zum letzten Mal „Management-by-walking-around“? Was ist der Status unseres Teamleitbildes? Sind Anpassungen notwendig? Wie ist mein Fortschritt bei „Mein Rezept dagegen in meiner neuen Stelle“? Bin ich (noch) ein Vorbild bzgl. Agilität und Veränderungsbereitschaft? Wie steht es mit meiner „Körper-Geist-Seele“-Balance? Halte ich mich körperlich fit und investiere ich genügend Zeit für meine Familie und Freunde? Wer ist mir wichtig und wann habe ich diesen Menschen zuletzt kontaktiert? Welche Erfolge habe ich mit meinem Team erzielt und haben wie diese auch gebührend herausgestellt und gefeiert?

8.3 Sinnvoll leben – Fragen zu Sinnspuren (Quelle: Alfried Längle – „Sinnvoll leben“) • Was alles stellt einen Sinn in meinem Leben dar? • Spüre ich, wofür ich im Grunde lebe? • Wie stelle ich mir sinnerfülltes Leben vor? – Was wäre anders (persönlich, emotional, gesundheitlich, in meinen Beziehungen)?

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• Habe ich eine erfüllende Aufgabe – und wenn nicht: welche Aufgabe würde mir etwas bedeuten? • Was ist mein Beitrag zur Welt aufgrund meiner Einzigartigkeit? • Mag ich das, was ich tue, auch tun oder tue ich es nur wegen den a­ nderen? Um der Anerkennung willen? Nur, um reibungslos zu funktionieren? • Empfinde ich das, was ich tue, als richtig, wichtig und wertvoll? • Spüre ich, was jetzt ansteht in meinem Leben? • Mag ich so leben, wie ich gerade lebe? – und wenn nicht: was kann ich heute tun/lassen, damit ich morgen so leben mag? • Was ist in meinem Leben jetzt wirklich wichtig – und was davon werde ich auch in 10 Jahren noch als wichtig empfinden? • Was halte ich im Innersten für die Bestimmung meines Lebens – wofür bin ich auf die Welt gekommen? • Wo oder in welche Tätigkeiten kann ich mich so vertiefen, dass ich darüber die Zeit vergesse? • Was würde ich bei der Arbeit, im Beruf tun, auch wenn ich wüsste, dass ich dafür kein Geld bekomme? • Für welchen Wert habe ich in meinem Leben schon einmal gekämpft, ihn gegen Widerstand aufrechterhalten, dafür gelitten? Ein Leben empfinden wir dann als ungelebt, wenn wir nicht das getan haben, wofür unser Herz geschlagen hat.

8.4 B  eispiel von Leitlinien, die sich ein Führungsteam gegeben hat 1. Charaktereigenschaften und Selbst-Management (der Charakter ist das wichtigste Persönlichkeitsmerkmal einer Führungskraft) • Ich lebe die „7 Wege der Effektivität“ (von Steven Covey 2004) vor, denn nur wer sich selbst führen kann, darf andere führen.

8  Anhang: Werkzeuge 

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• Ich lebe Optimismus vor und habe ein optimistisches Zukunftsbild. Ich lebe die Unternehmenswerte vor. • Ich sehe Konflikte als Chance und spreche diese in ihrer Entstehung empathisch und offen an. 2. Führungsarbeit (Generierung einer intrinsischen Motivation) • Ich gebe klare Orientierung mit einer inspirierenden Vision, mit Zielen, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Ich sorge für eine klare Ausrichtung meines Teams auf das gemeinsame Ziel, eine klare Ableitung der Ziele meiner Mitarbeiter von den Unter­ nehmenszielen und mache den Mitarbeitern ihren Beitrag daran deutlich. • Ich wecke die Begeisterung meiner Mitarbeiter für die Aufgabe und gehe mit leidenschaftlichem Beispiel voran, stets das Engagement meiner Mitarbeiter in ihrer Arbeit zu steigern. • Ich schaffe eine vertrauensvolle Umgebung, biete Raum und Vielfalt, fördere Kreativität und Erneuerung • Meine Mitarbeiter sind adäquat zu ihren Stärken eingesetzt und ich steigere ständig die Fähigkeiten meines Teams. • Ich sorge für die Einhaltung des Verhaltenskodex/der Teamprinzipien und praktiziere eine Leistungskultur, welche die Ergebnisse meiner Mitarbeiter anerkennt und belohnt. Verletzungen der Teamprin­ zipien toleriere ich nicht. • Ich kommuniziere ehrlich, offen, respektvoll, konsistent und durch­ gängig. Mein Verhalten ist identisch mit dem was ich sage. • Ich fördere und fordere meine Mitarbeiter und gebe regelmäßig ehrliches Feedback. 3. Ergebnis- und Leistungsorientierung • Ich übernehme persönliche Verantwortung für Unternehmensergebnisse und bin immer bereit, diese zu verbessern. • Ich liefere konsistente Ergebnisse, um die vereinbarten Ziele/commitments zu treffen oder übertreffen.

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• Meine Entscheidungen basieren auf Fakten, die ich kommuniziere. Ich scheue mich nicht vor schwierigen Entscheidungen – 100 % Zustimmung sind kein Muss. • Ich übernehme Verantwortung über mein direktes Aufgaben­ gebiet hinaus. • Ich setze die Messlatte für mich und mein Team immer höher. • Ich schaue ständig und proaktiv nach Verbesserungen, sowohl für interne als auch kundenrelevante Prozesse. • Ich bin stark im Umsetzen und lebe Schnelligkeit und Entschlusskraft vor. 4. Kundenorientierung • Ich fördere in meinem Bereich eine „lernende Organisation“, in der Fehler Chancen für Qualitätsverbesserungen sind. • Ich stelle sicher, dass bei allen Entscheidungen die Bedürfnisse unserer Kunden mit einfließen. 5. Unternehmerisches Denken & Führen • Ich gestalte den ganzheitlichen Geschäftsprozess meiner Firma mit und mein Beitrag ist, das Gesamtergebnis zu verbessern. Ich sorge dafür, dass ich Rahmenbedingungen schaffe und meine Mitarbeiter den Gesamtprozess verstehen. Der Gesamterfolg, vor allem mittelund langfristig, steht über meiner Abteilung/Funktion. • Ich schaffe ein Klima für Innovationen, treibe diese und bin ein Vorbild für effektives Change Management – ich lebe es vor! • Ich forme ein tragfähiges Netzwerk mit Kollegen. Ich sehe Konflikte als Chance. Ich spreche diese in ihrer Entstehung empathisch offen an und strebe nach win-win-Lösungen.

8.5 Beispiel Teamleitlinien 1. Wir leben eine Leidenschaft für unsere Kunden, denn sie bezahlen letztendlich unser Gehalt. 2. Wir halten unsere Zusagen ein – nach innen und nach außen.

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3. Emails beantworten wir innerhalb von 48 Stunden. 4. Wir halten unsere Meeting-Regeln ein. 5. Wir unterstützen und stärken uns gegenseitig. 6. Wir nehmen Probleme sofort auf und verpflichten uns zu einer Lösung. 7. Wir sind offen für Neues und bereit für Veränderungen. 8. Wir reden miteinander und nicht übereinander. 9. Wir sehen Konflikte als Chance und gehen diese sofort nach ihrer Entstehung an. 10. Wir lösen Konflikte im persönlichen Gespräch und niemals über Emails.

So messen wir uns daran 1. Unmittelbares gegenseitiges Feedback. 2. Regelmäßige Überprüfung am Ende einer Besprechung. 3. Feedback von unserer Führungskraft.

8.6 Beispiel Meeting-Regeln 1. Reine Informationsmeetings finden per Video- oder Telefonkon­ ferenzen statt, face-to-face Meetings sind Meetings für Ent­ scheidungen. 2. Unsere Meetings starten pünktlich und haben einen klaren Zeitplan für alle Agendapunkte. 3. Wir praktizieren unsere Teamleitlinien und überprüfen deren Einhaltung. 4. Mobiltelefone sind im Flugmodus. Ausnahmen gibt es nur, wenn ein Rückruf aufgrund einer Kundeneskalation erwartet wird. 5. Laptops sind geschlossen mit Ausnahme für den Protokollanten und den Vortragenden. 6. Schweigende Teilnehmer holen wir in die Diskussion rein. 7. Jedes face-to-face Meeting hat einen Facilitator.

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8. Jedes Meeting startet mit der Frage: „Was haben wir seit unserem letzten Treffen von unseren Kunden erfahren? – Welches Feedback haben wir erhalten?“ 9. Jeder Agendapunkt hat einen Owner, der in seinem Beitrag klar zum Ausdruck bringt, von wem er welche Unterstützung in welcher Zeitlichkeit benötigt. 10. Vor jedem Agendapunkt fragt der Facilitator den Owner: „Was benötigst Du konkret?“ 11. Bei Projekten wird nur über deren Veränderungen zum letzten Update berichtet, detaillierte, generelle Updates erfolgen in Pro­ jektmeetings. 12. Am Ende eines Agendapunktes fragt der Facilitator den Owner: „Hast Du bekommen, was Du benötigst? Welche Entscheidung benötigst Du?“ 13. Am Ende jedes Meeting machen wir eine kurze Reflektionsrunde über die Effektivität und die praktizierten Teamleitlinien.

8.7 Email Knigge Ziel dieses Leitfadens ist es, die Kommunikation via emails innerhalb des Teams …………… (Name des Teams) sowohl effektiver als auch effizienter zu gestalten unter Berücksichtigung des Verhaltenskodex des Unternehmens ………………… (Name des Unternehmens). Ein falscher Umgang mit emails, deren Anzahl von Jahr zu Jahr steigt, verursacht unnötige Arbeit, Überlastungen und Frustration. Die folgenden Regeln machen das Leben mit emails leichter (siehe auch Abb. 8.1).

Die Top 3 Regeln 1. Aussagekräftiger Betreff 2. Auswahl der richtigen Verteilerliste 3. Manage Deine Inbox oder sie managed Dich

8  Anhang: Werkzeuge 

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Abb. 8.1  Richtiges Priorisieren – Dimensionen einer Nachricht. Erreichbarkeit reduzieren – Konzentration steigern

Emails schreiben oder: „Was Du nicht willst, das man Dir tut …“ • In einem respektvoller Umgang haben emails eine Anrede am Anfang und ein Gruß am Ende • f2f Kommunikation ist besser als eine email – wenn möglich, suche lieber das direkte Gespräch • Sei Dir bewusst, wer der richtige Adressat Deiner Mail ist  – oft ist „weniger mehr“; setze KollegInnen nur auf „cc“, wenn das unbedingt erforderlich ist • „BCC“ verstößt gegen die Grundwerte von Offenheit und Respekt! • Nenne im „Betreff“ klar, was Du von dem Adressaten erwartest, so z.  B. „wichtig  – bitte lesen“, „Aktion erforderlich“, „Terminsache“, „Dringend“, „Feedback“,„nur zur Info“, etc. • Benütze „reply to all“ äußerst sparsam und wenn, dann überlege, ob all die Vorabmails dazu angehängt werden müssen

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• Wenn du ein „email ping-pong“ feststellst – z. B. wiederholtes „reply to all“ ohne erkennbare Problemlösung, habe den Mut und unterbreche es mit einem konstruktiven Vorschlag, das Problem mit einem Telefonat oder spontanen „stand-up“ Meeting zu lösen • Generell: fasse Dich kurz – niemand hat die Zeit, lange mails zu lesen und es ist nicht unhöflich, kurze emails zu schreiben!

Emails empfangen und beantworten • Ist keine konkrete Deadline angegeben, sollte der „To“-Adressat innerhalb von 24 Stunden antworten • Emails lesen, sofort entscheiden → siehe Schaubild nächste Seite –– Gleich löschen? –– Gleich beantworten? –– Wann bearbeiten? –– Wenn Mails nicht sofort bearbeitet werden können  – ab auf die persönliche To-Do-Liste! Helfen kann auch Outlook mit der Reminder-Funktion und Flag-Option –– Leere Deine Inbox regelmäßig – sonst erzeugst Du Dir Stress • Melde Dich von Email-Verteiler ab, wenn sie für Dich wertlose Informationen liefern • Habe den Mut, email-Sender auf Verbesserungen wie oben beschrieben hinzuweisen • Nütze die Filtermöglichkeiten von Outlook, wie Fontgröße und Farbe; z. B. weise mails von bestimmten Personen an Dich eine besondere Fontgröße und/oder Farbe zu, oder: mache dies für alle mails bei denen Du „To“ bist. Folgerichtig wären dann alle emails, bei denen Du „cc“ bist, in schwarz. Somit hat Du für Dich eine einfache Priosierung für die Bearbeitung und weniger Stress.

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Out of Office • Falls Du aufgrund von Geschäftsreisen, Urlaub oder Krankheit keinen Zugriff auf dein Mails hast, solltest Du „Out of Office“ aktivieren mit –– Anrede  – Dank  – Zeitpunkt der Rückkehr  – evtl. Vertretung  – Grußformel Wer konzentriert an etwas arbeiten muss, soll Outlook-Vorschau, Messenger und Handy ausschalten! • Jede eingehende Mail lenkt ab. • Nach jeder Ablenkung koste es zwischen einer bis fünf Minuten, um sich wieder in seine Aufgabe zu finden. • Gegebenenfalls Kollegen „vorwarnen“, dass man kurzfristig nicht erreichbar ist bzw. Rückmeldungen verzögert erfolgen.

8.8 Die Gallup Q12® Befragung Seit Beginn der 2000er-Jahre existiert die  Gallup Q12® Befragung des Gallup Institutes, die u. a. unter Zuhilfenahme der sogenannten Gallup Q12® Befragung durchgeführt wird. Diese Studie zeigt auf, wie hoch der emotionale Grad der Bindung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmen ist. Bei der Gallup Q12® Befragung werden den Mitarbeitern nur folgende zwölf Fragen gestellt, die einen engen Bezug zum Arbeitsplatz und zum Arbeitsumfeld haben: 1. Mir ist klar, was von mir als Arbeitsleistung erwartet wird. 2. Ich verfüge über die nötigen Arbeitsmaterialien und Arbeitsbe­ dingungen, um meine Arbeit gut und richtig auszuführen. 3. Bei der Arbeit habe ich stets die Gelegenheit, das zu tun, was ich am besten kann. 4. In den letzten sieben Tagen habe ich für gute Arbeit Anerkennung oder Lob erhalten. 5. Meine Vorgesetzte/n oder jemand anders bei der Arbeit interessiert und schätzt mich als Mensch.

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6. Bei der Arbeit gibt es jemanden, der mich in meiner Entwick­ lung fördert. 7. In meinem Arbeitsumfeld hat meine Meinung Gewicht. 8. Das Ziel und die Unternehmensphilosophie unserer Firma geben mir das Gefühl, dass meine Arbeit wichtig ist. 9. Meine Kollegen/Kolleginnen fühlen sich verpflichtet und verantwortlich, Qualität in ihrer Arbeit abzuliefern. 10. In meiner Firma habe ich einen guten Freund/eine gute Freundin. 11. Im vergangenen Halbjahr hat jemand in meinem Unternehmen mit mir über meine Fortschritte gesprochen. 12. Ich hatte im vergangenen Jahr die Gelegenheit, in meinem Unter­ nehmen dazuzulernen und mich weiterzuentwickeln. Nähere Erläuterungen zu diesen Fragen finden Sie auf https://q12. gallup.com/public/en-us/Features

8.9 F iktives Beispiel einer Balanced Scorecard für das Zieljahr der Team-Vision Balanced Scorecard 202x

Team: Auftragsbearbeitungsabteilung Firma InnoTec Finanzen Eigene Kosten per Auftrag Weiterbildungskosten pro Mitarb. Kulanzkosten für eigene Fehler Kunden Zufriedenheit externe Kunden Zufriedenheit Vertrieb Antwortzeiten auf Kundenanfragen

Ziel: Mitarbeiter Blitzlichtergebnis < 3 € 5000 €/p.a. „Engagement“ Ungewollte Fluktuation 0 €

Ziel: 95 % 0

Ziel: > 95 % > 90 % < 24 Std.

Ziel: < 24 Std