Offene literarische Welten gegen geschlossene Denkmodelle: und Sozialsysteme. Don Quijote und Anton Reiser 9783964564641

Komparatistische Arbeit über die Entwicklung einer humanistischen Romantradition, die sich mit Cervantes' Don Quijo

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Offene literarische Welten gegen geschlossene Denkmodelle: und Sozialsysteme. Don Quijote und Anton Reiser
 9783964564641

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INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1. DIE POTENTIALITÄT DES QUIJOTE: ERZÄHLER UND DIALOG
2. UNIFORMITÄT UND PLURALITÄT UM DEN QUIJOTE AUS GESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE
3. DIE UNHALTBARKEIT DER GEMEINSAMEN WELTEN DON QUIJOTES UND ANTON REISERS: INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT
4. DIE POTENTIALITÄT DES ANTON REISER: ERZÄHLER UND...?
5. SCHLUSS
BIBLIOGRAPHIE: VERZEICHNIS
BIBLIOGRAPHIE

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Arturo Parada Offene literarische Welten gegen geschlossene Denkmodelle und Sozialsysteme: Don Quijote und Anton Reiser

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Arturo Parada

Offene literarische Welten gegen geschlossene Denkmodelle und Sozialsysteme: Don Quijote und Anton Reiser

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Parada, Arturo: Offene literarische Welten gegen geschlossene Denkmodelle und Sozialsysteme : Don Quijote und Anton Reiser / Arturo Parada. - Frankfurt/Main : Vervuert, 1997 Zugl.: Madrid, Univ., Diss. ISBN 3-89354-097-0

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany

Unserem Sohn, Antonio Parada-Kügler: Er möge das Lachen des Friedens entdecken.

INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG

9

ERSTE ABSCHWEIFUNG: ARISTOPHANES, DIE POLITIK, DIE ABSCHWEIFUNG UND EINE KLEINE GESCHICHTE DES LACHENS

14

1. DIE POTENTIALITÄT DES QUIJOTE: ERZÄHLER UND DIALOG

33

1.1 ZWEITE ABSCHWEIFUNG: DER POET ALS PROPHET

36

1.2 DRITTE ABSCHWEIFUNG: ERSTE KONTRASTE ODER DIE SYSTEMWELT SETZT SICH IM NORDEN DURCH

74

2. UNIFORMITÄT UND PLURALITÄT UM DEN QUIJOTE AUS GESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

81

2 . 1 ALLGEMEINES ZUR EINSCHÄTZUNG SPANIENS UND DES QUIJOTE IM 18. JAHRHUNDERT

81

2 . 2 VIERTE ABSCHWEIFUNG: SPANIEN/ENGLAND/DEUTSCHLAND ODER WIE DIE 'ALBIÖN' DEN QUUOTEHKCH

DEUTSCHLAND SCHLEUSTE

91

2 . 3 DIE 'THEORETIKER' ÄUßERN SICH ZUM QUIJOTE

93

2.3.1

GOTTSCHEDS EINSTELLUNG ZU ARISTOPHANES, ZUM QUIJOTE UND ZUM HUMOR ÜBERHAUPT

93

2.3.2

BODMERS UND BREITINGERS ANTWORT AUF GOTTSCHED

99

2 . 4 ZUR GESCHICHTE DER 'HUMORVOLLEN' QUIJOTE-REZEPTXOK

IN

ENGLAND UND DEUTSCHLAND 2.4.1

102

ALLGEMEINES ZUR PLURALITÄT IN ENGLAND: DIE WILKINS/WARD

-

WEBSTER DEBATTE 2.4.2

DIE VERGEBLICHEN MÜHEN DES 'HUMANISTEN'

102 THOMASIUS UM

ERASMUS, DEN QUIJOTE UND DEN „ HEITEREN VORTRAG"

112

2 . 5 FÜNFTE ABSCHWEIFUNG: WARUM DER QUIJOTE IN ENGLAND GERN GELESEN WURDE. ZUR 'DIALOGISCHEN' TRADITION ENGLANDS

129

2.5.1

JOHN MILTONS APOLOGIE DER GEWISSENSFREIHEIT

135

2.5.2

DER ENGLISCHE 'DUALISMUS' DES 18. JAHRHUNDERTS

144

2 . 6 DIE VERBREITETE REZEPTION DES QUIJOTE IM ABSOLUTISTISCHEN DEUTSCHLAND 2.6.1

147

SELBSTBESTÄTIGUNG DURCH ABSONDERUNG, LEHREN UND BELEHREN: DAS SPANIENBILD IM LICHTE DER MORALISCHEN WOCHENSCHRIFTEN, DIE MORALISCHEN WOCHENSCHRIFTEN ALS 'NARKOTIKUM'

161

2 . 7 SECHSTE ABSCHWEIFUNG: ARISTOPHANES UND SEINE DEUTSCHEN INTERPRETEN UND ÜBER-SETZER

178

2 . 8 DER DEUTSCHE 'DUALISMUS' IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 1 8 . JAHRHUNDERTS: SEHNSUCHTSMOMENT QUIJOTE, SEHNSUCHTSMOMENT SPANIEN

187

2 . 9 SIEBENTE ABSCHWEIFUNG: DAS 'HINAUSTRETEN' NEUGEBAUERS UND WIELANDS, MIT EINEM KLEINEN EXKURS ZU STERNE 3.

192

DIE UNHALTBARKEIT DER G E M E I N S A M E N W E L T E N D O N QUIJOTES U N D ANTON REISERS: INDIVIDUUM U N D GEMEINSCHAFT

199

3.1 ICH-WELT: ANNÄHERUNGEN UND ABSTOSSUNGEN 4.

5.

D I E P O T E N T I A L I T Ä T D E S ANTON

251

REISER:

E R Z Ä H L E R UND...?

265

SCHLUSS

281

BIBLIOGRAPHIE: VERZEICHNIS

288

BIBLIOGRAPHIE

289

«Die Revolutionen von 1648 und 1789 waren keine englischen und französischen Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils. Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft Uber die alte politische Ordnung, sie waren Proklamationen der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft.» Karl Marx, Die Bourgeoisie und die Konterrevolution. «Die epochale verfassungs- und sozialgeschichtliche Problematik der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft im absolutistischen Staat kennzeichnet weitgehend auch die formale Struktur und inhaltliche Gewichtung des Aufklärungsromans.» Dieter Kimpel, Der Roman der Aufklärung. «Un homme qui rit», said the Duke, «ne sera jamais dangereux.» Lawrence Sterne, A Sentimental Journey through France and Italy, by Mr. Yorick. «Im Triumph des Lachens offenbart sich, daß das Schlechte und Böse um uns und in uns, mag es noch so mächtig sein, gerichtet ist, daß ein Licht da ist, das es überstrahlt und auslöscht.» Walther Kraus «Die wenigsten Spanier tanzen Flamenco, aber (fast) alle tanzen Ordnungshütern aller Art und überhaupt jeglicher Autorität mit viel Hingabe auf der Nase herum.» Neue Zürcher Zeitung, 9. Juli 1994, S. 7.

Einleitung Die Komparatistik ist in der Literaturwissenschaft ein verhältnismäßig neues Forschungsgebiet. Dies gilt um so mehr für die Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland, die noch heute im Schatten des kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich bzw. England stehen. Diese Situation ergibt sich aus dem de facto größeren Ausmaß der traditionell intensiveren Verknüpfungen Deutschlands zur gallischen und angelsächsischen Kultur, wurde aber zusätzlich durch die zunehmende Isolation Spaniens seit dem 17. Jahrhundert, die bis in das erste Drittel des

9

20. Jahrhunderts reichte, und die Verbreitung der 'leyenda negra' in Europa begünstigt. Hinzu kommt, daß die deutsche Forschung bis in die 1940er Jahre die deutsche Barockdichtung, auf die naturgemäß die literarischen Meisterwerke des spanischen 16. und 17. Jahrhunderts zuerst einwirkten, oft als ein „bedauerliches Zeugnis, ja geradezu als Ergebnis einer Überfremdung von ausländischem und von undeutschem, nämlich christlichen und gar jesuitischem Unwesen" abstempelte1. Nur zögerlich wandte man sich dem deutschen Barock zu; erst in neuester Zeit genießt das Barockzeitalter in seinen europäischen Wechselwirkungen größere Aufmerksamkeit, wobei es wiederum bezeichnend ist, daß noch heute selbst in sehr breit gefächerten Zusammenstellungen Spanien kaum berücksichtigt wird2. Ausgangspunkt vorliegender Arbeit ist die Überzeugung, daß nicht nur „die Aufnahme ausländischer Literaturen einen wesentlichen und integrierenden Bestandteil der Literatur überhaupt jeder Zeit und jedes Landes darstellt"3 und daß eine vergleichende Vorgehensweise zu einem besseren Verständnis der nationalen Literaturen und in der Folge auch zu einem Abbau von chauvinistischen Vorurteilen beitragen kann, sondern auch, daß es sehr frühe gesamteuropäische Kulturströmungen gibt, die in die einzelnen Länder einfließen, um dort wieder neue Ströme zu bilden oder vorhandene zu modifizieren4. Ob überhaupt, und wenn ja, wie dieses mehr oder weniger neue Gedanken- oder Weltanschauungsgut aufgenommen wird, hängt entschieden von sehr konkreten diachronischen und synchronischen soziopolitischen und soziokulturellen Partikularismen der Nationen ab, die m. E. berücksichtigt werden müssen, will denn Literaturwissenschaft nicht zu 1

Schöne, Albrecht: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, C. H. Beck, München 19883 (1968 1 ), S. VII.

2

Aktuelles Zeugnis hierfür liefern die zwei Bände von Garber, Klaus (Hg.): Europäische Barockrezeption, (2 Bde.) Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Wiesbaden 1991.

3

Martino, Alberto (Hg.): Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert, Chloe. Beihefte zum Daphnis, Amsterdam - Atlanta 1990, Vorwort.

4

Hierzu: Garber, Klaus (Hg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit (Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Max Niemeyer, Tübingen 1989.

10

Recht des Solipsismus und der Unfruchtbarkeit bezichtigt werden5. Der Ansatz vorliegender Arbeit basiert auf einer Konzeption von Literatur als ein mit anderen sozialen Kommunikationsfragmenten dialogisierender gleichwertiger, ideellerweise unvoreingenommener und selbstsicherer Komplex, der gesellschaftliches Bewußtsein und Handeln erleidet, reflektiert, formt oder verwirft. Der Verfasser hat sich bemüht, diesem Ansatz im Rahmen vorhandener Möglichkeiten und Fragestellungen gerecht zu werden, indem er europäische Kulturgeschichte in Form von Bewußtseinsund Sozialanalyse in dem Maße hat einfließen lassen, wie er es für ein seines Erachtens angemessenes Verständnis von Literatur für notwendig hielt. Die tatsächlichen Gründe, die bewirkt haben, daß sich der deutsche Roman der Neuzeit einhundert, zweihundert Jahre später als der spanische, der französische oder der englische Roman ausbildet, hatten bis heute noch als offene Fragen zu gelten. Der immer wiederkehrende Hinweis auf das Fehlen eines Nationalstaates ist zwar zweckdienlich, weil er alles faßt und sich niemand und nichts angesprochen zu fühlen braucht - er erklärt jedoch gar nichts: Literatur gab es in Europa schon lange vor dem Aufkommen der Nationalstaaten, lange vor der Erfindung der Druckerpresse, und es dürfte sich wohl erübrigen, entsprechende Beispiele aus allen europäischen Literaturen, die deutsche eingeschlossen, anzuführen. Dieser 'Erklärungsversuch' wird gerne durch die Behauptung ergänzt, daß es wohl die Übermacht der französischen und der lateinischen Sprache bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gewesen sei, die der Ausbildung einer deutschen Literatursprache zuerst kaum zu überwindende Schranken gesetzt hätte. Aber davon abgesehen, daß hier ein Symptom zu einer Ursache wird, muß sich unmittelbar die Frage aufdrängen, warum es denn im 17. oder 18. Jahrhundert keine nennenswerte 'deutsche' Literatur auf Französisch oder Lateinisch gibt. Die Antwort, man ahnt es, würde dar-

5

Vgl. hierzu die Vorbemerkung von Grimminger zu Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Deutsche Aufklärung bis zur französischen Revolution 1680-1789, Carl Hanser, München - Wien, 1980, S. 7-12.

11

auf hinauslaufen, daß man auf das Fehlen eines Nationalstaates hinweist!6 Wolfgang Kayser war derjenige, der auf der Suche nach dem Zeitpunkt, zu dem der moderne deutsche Roman entsteht, auf Wieland und seinen Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) aufmerksam machte. Das Moderne an diesem Roman, so Kayser, liege darin, daß hier ein in der deutschen Literatur nie dagewesenes romantechnisches Verfahren zum Tragen komme, das „Verständnis für ironisches Sprechen und Kenntnis der Welt [...] das meint vor allem die Fähigkeit, im menschlichen Verhalten Schein und Sein zu unterscheiden"7 voraussetze. Dieses 'neue' Mittel, in dem und durch das sich Weltkenntnis ausdrücke, bestehe in der Präsenz eines auktorialen Erzählers. Es mögen aber zwei Beispiele genügen, um zu zeigen, daß Kaysers Behauptung sehr viel problematischer ist, als es den Anschein haben könnte. Im gleichen Jahr, in dem Kayser sein Buch veröffentlicht, schließt Jürgen Schrump, dessen Doktorvater Kayser ist, seine Dissertation ab. Der Titel der Arbeit lautet: Der Erzähler in den Simplicianischen Schriften. Schrump untersucht den Erzähler in Grimmelshausens Simplicissimus und bietet schließlich eine Definition an, die wortwörtlich mit deijenigen von Kayser für den Don Sylvio übereinstimmt8. Wenn wir uns also an den Erzähler halten, wann entsteht nun der erste 'moderne' deutsche Roman, 1669 oder 1764? 6

Zum Sprachproblem weiterhin das Standardwerk von Blackall, Eric A.: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. 1700-1775., Metzler, Stuttgart 1966 [The Emergence of German as a Literary Language. 1700-1775, Cambridge University Press 1959], Vgl. im ergänzenden Bericht von Dieter Kimpel, S. 477-519, die Vorwürfe, die Blackall zukamen, weil er anscheinend die nach Meinung seiner Angreifer sehr wohl hochentwickelte deutsche Literatursprache früherer Jahrhunderte nicht genügend würdigte.

7

Kayser, Wolfgang: Entstehung und Krise des modernen Metzler, Stuttgart 1955; Zitat S. 14.

Romans,

8

Vgl. Schrump, Jürgen: Der Erzähler in den Simplicianischen [Maschinenschriftlich], Göttingen 1955, S. 106.

Schriften,

12

Nimmt man aber das 18. Jahrhundert in Augenschein, war Wieland gar nicht der erste, der im deutschen Roman einen intensiven Gebrauch von einem 'auktorialen Erzähler' machte. Vor ihm steht Wilhelm Ehrenfried Neugebauer und sein Der teutsche Don Quichotte, Oder die Begebenheiten des Marggraf von Bellamonte/Komisch und satyrisch beschrieben; aus dem Französischen übersetzt, Breslau 1753, ein Roman, der vom Inhalt unbedeutend ist, von der Germanistik aber in den 1960er Jahren gerade wegen dieses in der deutschen Literaturlandschaft des 18. Jahrhunderts für innovativ gehaltenen Erzählers wiederentdeckt worden ist. Die Schwierigkeiten der Germanisten, die sich zum Erzähler in Neugebauers Roman äußern, zu einer eindeutigen, allgemeingültigen und daher 'wissenschaftlichen' Definition zu gelangen, machen deutlich, daß hier ein Problem angerissen wird, dem keine einfache Lösung gerecht werden kann9. Es ist aber unmöglich, zu einer Definition des auktorialen Erzählers, wie des Erzählers überhaupt, im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts zu gelangen, wenn man a) nicht die mündliche und schriftliche literarische Tradition berücksichtigt, in die der auktoriale Erzähler sich als Kunstmittel einfugt; b) den soziokulturellen Kontext, in dem die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts entsteht, außer acht läßt; c) nicht die Aufnahme der ausländischen Literatur berücksichtigt, aus der ja, wie bekannt, die deutsche Literatur nicht nur im 18. Jahrhundert aus vollen Zügen schöpft.

9

Die Interpretationen reichen von der Behauptung des rein Spielerischen und Unterhaltsamen bis hin zu einer marxistischen Interpretation, nach der Neugebauer deutlich den „Produktcharakter" betonen und sich als Individualität erhalten möchte. Vgl. Kurth, E. Lieselotte: „W. E. N. - Der teutsche Don Quichotte, oder die Begebenheiten des Marggraf von Bellamonte. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Romans im 18. Jh.", in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 9, 1965, S. 106-30; Fues, Wolfram Malte: Wirklichkeit im Spiel. Wilhelm Ehrenfried Neugebauers Roman Der teutsche Don Quichotte als Paradigma der Entstehung bürgerlicher Fiktionalität, in: Text und Kontext, 12, 1984, S. 7-30; Neil, Werner: Jean Pauls Komet und Der teutsche Don Quichotte. Zum historischen Ort von Jean-Pauls letztem Roman, in: Jahrbuch der Jean-Paul Gesellschaft, 21, 1986, S. 77-96.

13

Die Titel von Wielands und Neugebauers Roman verweisen gleichermaßen auf ihr Modell: Cervantes' Quijote. Cervantes hat aber nicht für die europäische westliche Kultur den 'auktorialen Erzähler' erfunden. Lange vor ihm steht Aristophanes. Erste Abschweifung: Aristophanes, die Politik, die Abschweifung und eine kleine Geschichte des Lachens Die erste Attische Komödie ist bestes Zeugnis für den freien Gebrauch des Wortes im Dienste des Demos10. Der Komödienautor schreibt nicht für irgendeine Partei, er verteidigt nicht die Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe. Der Komödienautor versteht es als seine Pflicht, auf Mißstände aufmerksam zu machen, Institutionen und Persönlichkeiten, vornehmlich die politisch am einflußreichsten, einer burlesken Behandlung zu unterziehen. Die Rede- und Meinungsfreiheit ist uneingeschränkt und unantastbar, denn sie geht einher mit der volkstümlichen Tradition der komisch-phallischen Umzüge der Dionischen Feste, in denen die erste Attische Komödie fest verwurzelt ist. Diese Volkstümlichkeit bestimmt auch den Reichtum der Sprache, mit der die Attische Komödie die realistischen alltäglichen Szenen zeichnet: eine lebendige vielschichtige Sprache, die alle sozialen Gruppen einschließt und kein Register außer acht läßt. Ein für die erste Attische Komödie kennzeichnendes Element ist die Parekbasis, Parabase oder Parabasis (= Übertretung, Abschweifung): die Unterbrechung der Handlung durch den Chor, der sich nun direkt dem Publikum zuwendet, um vor den Gefahren 10

14

Für die attische Komödie im allgemeinen und Aristophanes im besonderen: Artikel „Komödie", in: Andresen/Erbse u. a. (Hgg.): Lexikon der alten Welt (3 Bd.), Artemis, Zürich - München 1990; Murray, Gilbert: Aristophanes. A Study, Oxford at the Clarendon Press, Oxford 1933; Händel, Paul: Formen und Darstellungsweisen in der aristophanischen Komödie, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1963; Ehrenberg, Victor: Aristophanes und das Volk von Athen. Eine Soziologie der altattischen Komödie, aus dem Englischen von Grete Feiten, Artemis, Zürich und Stuttgart 1968 (besonders S. 21-82); Kraus, Walter: Aristophanes' politische Komödien. Die Acharner/Die Ritter, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1985; Newiger, Hans-Joachim (Hg.): Aristophanes und die Alte Komödie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975.

für das Volk zu warnen, den Autor der Komödie, an der das Publikum gerade teilnimmt, zu loben und seine Gegner zu tadeln11. Der epirrhematische fünfte Teil der Parabase ist für satirische Zeitanspielungen, die alle Anwesenden interpretieren können müssen, und für eine humorvolle Schelte des Publikums reserviert. Wenn auch die Parabase eine von den strikten Regeln der Komödie erforderte Unterbrechung darstellt, so ist doch die kontinuierliche, wiederholte, abrupte und direkte Kontaktaufnahme des Autors mit seinem Publikum, wofür jener natürlich die Handlung unterbrechen muß, vorwiegend als Eigeninitiative des Schriftstellers zu sehen. Dies spiegelt die Gleichwertigkeit wider, die Autor und Publikum der Aufführung als gesellschaftlichem partizipativem Phänomen einerseits und der Erhaltung der 'dramatischen Illusion' andererseits zukommen lassen. Es handelt sich um ein reziprokes Verhältnis: Das Stück findet Interesse, insoweit es sich als fähig erweist, einen Dialog mit den Zuschauern herzustellen, indem es eine Spannung schafft, die sich aus der Problematisierung einer gesellschaftlichen Realität ergibt, an der sich sowohl Autor wie auch Publikum teilhaftig wissen: "Sag mir, wovon sprechen sie [die Orakeln, A.P.]?", fragt der Demos in Die Ritter, und die Antwort lautet: „Von Athen, von Pylos, auch von mir, von dir, von allem"12. Im Vordergrund steht also immer das Gemeinschaftliche und, da es sich um eine freiheitliche Gemeinschaft handelt, der Dialog, und es darf in dieser Hinsicht natürlich nicht als ein Zufall betrachtet werden, daß die erste Attische Komödie mit dem Höhe- und Reifepunkt der Demokratie Athens zusammenfällt, in der sich aber schon ein Wandel ankündigt, dessen herausragendstes Merkmal unter dem Begriff des Materialismus zu fassen wäre. Sobald aber die demokratischen Freiheiten eingeschränkt werden, unterliegt auch die Komödie Veränderungen13, insofern die 11

Zur detailliert-technischen Erläuterung der Parabase: Händel, Paul: Formen und Darstellungsweisen in der aristophanischen Komödie, Kapitel III, S. 84-111.

12

Aristophanes: Die Ritter, in: Komödien, dtv, München 1990 (Übersetzt von Ludwig Seeger, überarbeitet von H. J. Newiger und P. Rau), S. 94 (alle weiteren Zitate aus Aristophanes' Werken aus dieser Ausgabe).

13

439-437 v. Ch. und um 415 werden die Freiheiten in Athen eingeschränkt, im ersten Fall aufgrund der Samischen Revolten, im zweiten infolge der Peloponnesischen Kriege.

15

Zensur um jeden Preis versucht, Autoritätspersonen vor Kritik zu bewahren. Als nun endlich Athen unter die Tyrannei der Spartaner fallt und die Dekadenz der Städte nicht mehr zu bremsen ist, muß die erste Attische Komödie auf ihr Wesentlichstes verzichten: Der Chor verliert an Bedeutung, die Parabase wird gestrichen, die Sprache büßt viel an Vielfalt und Reichtum ein. Diese geistige und somit künstlerische Verarmung erfolgt aus dem Skeptizismus, mit dem die Athener ab 400 den Staat und die eigenen Möglichkeiten, eine freie und partizipative Gesellschaftsordnung aufzubauen und zu erhalten, betrachten14. Die Unmöglichkeit für den durchschnittlichen Bürger, sich an der Gestaltung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu beteiligen, bewirkte einen Rückzug in Bereiche, die größere Erfolgsmöglichkeiten versprachen: das Individuum, die Familie, die Geschäftswelt. Die Komödien, die nun v. a. von Berufsschreibern verfaßt werden, die nicht aus Athen stammen und mehrere Städte mit Stücken beliefern, laden sich zusehends mit konventionellen Handlungen auf sehr beliebt sind Liebesaffären - und werfen politischen Ballast über Bord. Der Autor, der sein Publikum gar nicht kennt, tritt nun nicht mehr in einen Dialog mit den Zuschauern, er stellt nicht mehr dies und jenes in Frage, sondern - einem ernsten, strengen Familienvater gleich, der sich im Zweifelsfall immer für die Norm entscheidet - er lehrt hauptsächlich 'Anstand' und Moral. Die 'strikte Anarchie', die Spontaneität und Dialogfreudigkeit der ersten Attischen Komödie wird in der Neuen und Mittleren Komödie durch eine psychische Innerlichkeit abgelöst, die sich mehr im Reglementieren denn im Entlarven gefallt15. In Vorhergehendem sind zwei Aspekte hervorzuheben: 1.- Der Verlust politischer Anspielungen in der Komödie geht nicht einher mit einer demokratischen Verbesserung der Gesellschaftsorganisation, sondern mit einer erzwungenen Distanzierung des Bürgers von der res publica. Die Neuorientierung der Komödie erfolgt also nicht aus dem Wunsch oder der Notwendigkeit heraus, sich 14

Reinhardt, Karl: „Aristophanes und Athen", in: Newiger, S. 55-74, hier S. 71-72; zusammenfassend: „Die >Ekklesiazusen< geben die Erklärung auf die Frage, weshalb es mit der politischen Komödie aus war: Athens Demokratie wurde belanglos; keine Welt mehr für den Geist, weder um mit ihr einig noch mit ihr im Hader seine Sendung zu erfüllen" (S. 74).

15

Menander ist hier natürlich z. T. als Ausnahme zu betrachten.

16

neue problematische Bereiche zu erschließen, weil die alten einen hohen Grad der Perfektion erreicht hätten; 2.- Das rebellischdialogische Element in der Komödie wird durch eine affirmativdidaktische Intention verdrängt. Es gilt als ausgemacht, daß die erste Attische Komödie im Gegensatz zur Neuen und zur Mittleren Komödie - letztere sind zweifellos Dank der Vermittlung der lateinischen Kultur bis ins 17. und 18. Jahrhundert gelangt - keine Spuren hinterlassen hat, es sei denn in der Menippeischen Satire16. Diese Behauptung muß in zwei Richtungen korrigiert werden. Der Anfangsmonolog von Dikaiopolis in Die Acharner charakterisiert sich dadurch, daß er: a) sich ans Publikum richtet; b) in einer einfachen 'kumpelhaften' Alltagssprache verfaßt ist; c) eine Vielzahl von Themen in einem anscheinend zusammenhanglosen Durcheinander berührt. Dieser Monolog faßt nicht nur das Genre zusammen, aus dem er stammt, sondern er könnte auch für eine 'conversación de taberna', für ein Kaffeehausgespräch stehen, in dem das freie, spontane und daher auch abschweifende Wort regiert. Die Funktion dieses Monologs ist eindeutig: Es wird an die Gefiihlssphäre der Zuschauer - des Volks - appelliert, um seine Sympathien für den einfachen, weisen und ehrlichen Mann zu gewinnen. Das Lustige und das Moralische werden so vereinigt und das Interesse für die Darstellung geweckt, denn natürlich muß dieser 'ehrlichen Haut' ein Widersacher gegenüberstehen. Die klassische Rhetorik, vornehmlich Cicero und Quintilian, entdeckte, von einer utilitaristischen Perspektive aus, sehr schnell den Nutzen der Digressio, die schon im Pseudolonginus empfohlen wird17. Wenn also der literarische Ursprung der Abschweifung 16

Ausnahmen bilden Erasmus, Ben Jonson, Rabelais und, schon im 19. Jh., Tieck; vgl. Süss, Wilhelm: Aristophanes und die Nachwelt, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1911.

17

„Denn wie Menschen wahrhaft erzürnt oder geängstigt oder entrüstet sind, seis nun aus Eifersucht oder einer anderen Leidenschaft..., immer wieder abschweifen... so erzeugt bei den vorzüglichsten Schriftstellern die Nachbildung all dessen mittels des Verschiebens eine natürliche Wirkung. Denn dann ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur zu sein scheint...", Zitat aus Poser, Michael von: Der Abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im 18. Jahrhundert [Diss.], Gehlen, Bad Homburg 1969, S. 17. Auch Rom schränkt natürlich die Freiheit der griechischen Komödie ein: „Für die Römer, Juristen und Politiker, die sie waren, war diese li-

17

in der Alltagsgesprächsform des Plauderns anzusiedeln ist18, muß gleich hinzugefügt werden, daß es bis Quintilian und Cicero kein literarisches Zeugnis gibt, in dem die Digressio auf eine so reine Weise erscheint, wie es in der Alten Komödie der Fall ist, und selbst Apuleius, der in seinen Metamorphosen reichlich Gebrauch von ihr macht, ist ein hervorragender Kenner der alten griechischen Kultur und Sprache. Der Begriff Digressio - innerhalb der strikten Anordnung der römischen Rhetorik der freie Teil des Diskurses - ist ja auch die lateinische Form für das griechische 'Parabase', ein Begriff, von dem noch Quintilian Gebrauch macht: „parekbasis est, ut mea quidem fert opinio, alicuis rei, sed ad utilitatem causae pertinentis, extra ordinem excurrens tractatio". Festzuhalten bleibt, daß das erste literarische Beispiel einer Digressio in der kleinen 'Rede' von Dikaiopolis - in der Alten Attischen Komödie, die schon Quintilian zu empfehlen wußte19 zu finden ist, wo diese einem ähnlichen Zweck dient, wie ihn die römischen Rhetorik für die Abschweifung bestimmt. Von der lateinischen Rhetorik ausgehend gestaltet sich die Entwicklung der Digressio im Mittelalter dermaßen, daß sie sich allmählich mit der Amplificatio vermischt, so daß eine scharfe Trennung oder Differenzierung immer schwieriger wird. Dante schreibt eine (Göttliche) Komödie, bei der er sich von der klassischen Rhetorik leiten läßt und einen eigenen „modus digressivus" erarbeitet20. Und auch die von der Attischen Komödie bertas [die der attischen Komödie, A.P.] das Bemerkenswerte, aber auch Verwerfliche an der Alten Komödie. Mochte man Demagogen wie Kleon schmähen, aber einen vornehmen Staatsmann wie Perikles da hörte der Spaß auf. Dagegen beruft sich Cicero auf den mos maiorum und die zwölf Tafeln und begründet das Verbot mit juristischer Feinheit: iudiciis enim magistratum, disceptationibus legitimis propositam vitam, non poetarum ingeniis, habere debemus, nec probrum audire nisi ea lege ut respondere liceat et iudicio defendere. Das Verbot billigt auch Horaz". Kraus, Aristophanes ' politische Komödien, S. 9. 18

Vgl. Poser, S. 17.

19

Vgl. Murray, Gilbert: Aristophanes. A Study, Oxford at the Clarendon Press, Oxford 1933, S. 216.

20

„Propter primam partem notandum quod ad bene exordiendum tria requiruntur, ut dicit Tullius in Nova Rethorica..." Brief XIII; Le opere di Dante, Testo critico della Società Dantesca Italiana, Bemporad & Figlio, Florencia 1921, S. 441.

18

begründete 'metaliterarische Tradition' - „Dann aber litt ich tragisch - im Theater: /Ich sitze da mit offnem Maul, erwarte/ Ein Stück von Aischylos, da heißt's: Theognis!"21 - wird von Dante zum ersten Mal in der westlichen schriftlichen Kultur und in einer Nationalsprache fortgesetzt: Im fünften Gesang des Inferno, in dem Francesca über die verbotene Liebe zu ihrem Schwager Paolo erzählt, ist zu lesen: „Noi leggiavamo un giorno per diletto/ di Lancialotto come amor lo strinse:/ soli eravamo e sanza alcun sospetto.[...]/ Galeotto fu il libro e chi lo scrisse:/ quel giorno piü non vi leggemmo avante"22. Erasmus von Rotterdam versucht in seinem De duplici copia verborum ac rerum (1511) die verschiedenen Handbücher und Traktate über Rhetorik zusammenzufassen und zu ordnen. Und auch der niederländische Humanist erweist sich als ein Verfechter der Abschweifung. Doch Erasmus ist kein politischer, sondern ein eher wissenschaftlicher Mensch, der sich nur gelegentlich und mit größter Vorsicht in politische Geschäfte einmischt23. In dieser Hinsicht fallt es nicht aus dem Rahmen, daß es gerade Erasmus ist, der Aristophanes wiederentdeckt, welcher bis dahin im Schatten v. a. einer Plutarch-Verehrung stand, die besonders in Frankreich zum Tragen kam24. Der Einfluß Erasmus' auf die ihm nachfolgen21

Aristophanes: Die Acharner, in: Komödien,

S. 9.

22

La divina commedia, in: Le opere di Dante, S. 500. Es ist für meine Belange nicht unwichtig, daß gerade ein Ritterbuch als 'Fahrschein zur Hölle' dient, denn es deutet sich hier eine Sündhaftigkeit an, die im 16. und 17. Jh. von der vorwiegend reformierten Geistlichkeit gern zu Felde geführt werden wird, um jegliche Romane zu verdammen. Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit.

23

Bataillon, Marcel: Erasmo en España. Estudios sobre la historia espiritual del siglo XVI, Fondo de Cultura Económica, México 1950 (vierter Neudruck in Spanien, 1991), besonders S. 80, 88 und 107.

24

Eine Verehrung, die auch Eingang in Deutschland fand: „Der Aristophanes-Übersetzung insgesamt ist zweifellos abträglich, daß die in Deutschland sehr einflußreiche französische Ästhetik von Plutarchs Verdikt gegen die Alte Komödie geprägt ist. Seine >Vergleichung des Aristophanes mit Menander< - sie hat aufgrund der hohen Wertschätzung Plutarchs besonders im Frankreich der Humanistenzeit kanonische Geltung - fällt sehr zuungunsten des Aristophanes aus, dem Plutarch unter anderem Derbheit, Obszönität, verletzende Schärfe des Spottes vorwirft". Werner, Jürgen: „Aristophanes-Übersetzung und Aristophanes-Bearbeitung in Deutschland", in: Newiger, S. 459-485,

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den Rhetorik-Handbücher ist entscheidend, und die Digressio wird zum festen, strikt geregelten Bestandteil der Schulübungen25. In dem Maße, in dem die mittelalterliche Auffassung von Gemeinschaft verlorengeht, entsteht in der Renaissance eine neue Vorstellung vom Individuum. Der humanistische Geist, intellektuell eine immer höhere Stufe erklimmend, aber zunehmend einsamer und politisch machtlos, führt einen Selbstdialog. Unter Erasmus' Einfluß, doch fern von jedem scholastischen Formalismus, schreibt Montaigne seine Essays, eine, in Worten des Verfassers, fricassée, eine salade, zusammengerührt aus freiem Willen und Zutaten aus dem Garten des Verfassers. Montaignes Werk, 1572, dem Jahr der Bartholomäusnacht, begonnen, ist Ausdruck und Inschutznahme der Würde des Individuums in einer immer repressiveren und intoleranteren Gesellschaft. Indem Montaigne zu den Ursprüngen zurückkehrt, stellt er der geschwollenen Rhetorik der Pléiade die Einfachheit und Spontaneität des digressiven Stils gegenüber, wobei er das Risiko der mitfühlenden Teilnahme als Lebensprinzip nicht scheut. Konnten sich aber die Humanisten der Generation vor Montaigne noch erlauben, große Lacher zu sein und sich über die Zitat S.465. Molière läßt die Neuattische Komödie wieder auferstehen, während Voltaire Aristophanes - der ob seiner 'Grobheit' und vermeintlichen Formlosigkeit verworfen wird - als den Verleumder des Sokrates diskreditiert, ein Urteil, das in die Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts eingegangen ist. Von 1613 bis zu der von Christlob Mylius - Lessings Cousin - unternommenen Teilübersetzung des Plutos, das „am wenigsten 'unanständige' Stück des Dichters" (Werner, 467) von 1744 erscheint keine einzige Aristophanes-Komödie auf Deutsch (vgl. Werner, S. 466). Hervorzuheben ist die lateinische Übersetzung von Nicodemus Frischlin (erschienen 1586 bei Johann Spies in Frankfurt am Main), „diesem letzten deutschen Humanisten" (Süss, S. 42), der - zumindest in der Darstellung Süss' - einer frühzeitigen Verkörperung von Sternes Yorick gleichkommt. 25

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In England findet Erasmus durch das sich etablierende Schulwesen Verbreitung: „Und [John] Colet [Dekan u. a. der St. Paul Kathedrale in London, A.P.] verwandte sein Geld zur Gründung einer humanistischen Musterschule, der noch heute bestehenden St. Paul's School, für die Erasmus die Lehrbücher schrieb und die das Vorbild für das gesamte Schulwesen Englands wurde. Damit ist Colet der Reformer des ganzen englischen Erziehungswesens geworden." Borinski, Ludwig: Englischer Humanismus und deutsche Reformation, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969, S. 14.

Norm zu amüsieren26, signalisiert spätestens die Enthauptung Thomas Morus 1535, daß sich die Zeiten geändert haben27. „Zwar habe ich des öfteren mit Lukian gelacht und gespottet, mit Menippus satirisch getadelt, mit Heraklit lamentiert, aber mir ist auch das Lachen im Hals steckengeblieben und die Galle hochgestiegen, wenn ich Zeuge von Mißständen wurde, die ich nicht ändern konnte.", schreibt Robert Burton in erster Person - wie Montaigne und später Montesquieu - in seinem The Anatomy of Melancholy (1621)28, dessen Titel auf ein Krankheitssympton des Modernen Zeitalters anspielt29. Mit Burton erreicht die Abschweifung in der wissenschaftlichessayistischen Tradition eines Erasmus oder Montaigne ihren vorläufigen Höhepunkt, wobei ein neues Element hinzugetreten ist: der ohne Umschweife eingestandene therapeutische Charakter des Schreibens - und des Lesens. Das Erbe Burtons wird fortgetragen von dem größten Abschweifer, den die Literatur des modernen Zeitalters kennt: von Laurence Sterne, der sich in seinem Tristram Shandy zu Erasmus, zu Morus, zu Cervantes und zur großen humanistischen Fröhlichkeit bekennt:

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„Y agora" - schreibt Nebrija - "¿quién me quitará a mí que no me aparte con carpinteros y herreros, con sastres y zapateros, para reír con ellos lo que acá pasa entre los hombres que tienen hábito y profesión de letras...? Et cuando éstos me faltaren, todo será retraerme a un rincón, o en un campo desierto hacer un hoyo, y reyéndolo conmigo solo, o cantando como dice Persio, diga aquello del barbero del Rey Midas: Aurículas asini quis non habet?", Bataillon, S. 37.

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Arnold Hauser deutet auf ein sechs Jahre später stattfindendes Ereignis hin: „Das Scheitern der Religionsverhandlungen Contarinis auf dem Reichstag von Regensburg im Jahre 1541 bezeichnet das Ende der ersten, 'humanistischen' Periode der katholischen Reformbewegung. Die Tage der aufgeklärten, menschenfreundlichen, toleranten Sadoleto, Contarini und Pole sind gezählt. [...] Es beginnt die Verfolgung der Humanisten in den Reihen der hohen Geistlichkeit". Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Beck, München 1953, S. 398-399 (Sonderausgabe in einem Band, 1990).

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Zitiert wird aus Burton, Robert: Anatomie der Melancholie, (Übersetzung von Ulrich Horstmann), Artemis, Zürich und München 19882, S. 21.

29

Vgl. Hauser, Arnold: Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst, Beck, München 1964.

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Wäre es mir wie dem Sancho Pansa erlaubt, ein Königreich zu wählen, so sollte es nicht eine Seemacht sein, auch kein Land voll schwarzer Sklaven, um Geld daraus zu lösen - nein, es sollte ein Reich von herzlich lachenden Untertanen sein (...) daß Gott meinen Untertanen die Gnade verleihen wolle, ebenso weise wie fröhlich zu sein; dann wäre ich der glücklichste Monarch, und sie wären das glücklichste Volk unter der Sonne.30 Ende der ersten Abschweifung. Dieses Zitat von Sterne, in dem das Lachen als Ausdruck von Weisheit beschrieben wird, verweist implizit und frühzeitig auf den von Michail Bachtin geprägten Begriff der karnevalesken Literatur. Michail Bachtin hebt v. a. drei Aspekte der karnevalesken Literatur hervor: 1.- Die karnevaleske Literatur ist gegenwartsbezogen; 2.- Die karnevaleske Literatur ist nicht auf hohe kulturelle Tradition fixiert, die bisweilen ironisch 'entlarvt' wird, sondern sie fußt auf eigener Erfahrung und freier Erfindung; 3.- In der karnevalesken Literatur vermischen sich Stilebenen, werden Dialekte und Jargons miteinbezogen31. Diese Merkmale finden sich vollständig in der Alten Komödie, welche das partizipative und volkstümliche Element der Karnevalsumzüge auf die Bühne überträgt32. Wird aber das Volkstümliche v. a. durch Sprache, Gestik und Handlung angezeigt, so sind 30

Sterne, Laurence: Das Leben und die Meinungen des Tristram Shandy, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991 (aus dem Englischen von Siegfried Schmitz, unter Zugrundelegung der Übertragung von J. J. Bode), S. 335.

31

Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, Carl Hanser, München 1971 (aus dem Russischen von Adelheid Schramm), S. 120 ff.

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Zwei Beispiele für Verkleidungen und Masken, beide aus den Acharner von Aristophanes in der Ubersetzung von Seeger: „Erlaubt mir denn, daß ich, bevor ich spreche,/ Mich werf ins tragische Kostüm des Jammers" (S. 22); als Parodie auf den Telephos von Euripides: „'Denn bettelarm muß zeigen ich mich heut/ Und, bleibend der ich bin, ein andrer scheinen' " (S. 24).

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es die 'ununterbrochenen Unterbrechungen' der Handlung, die das Publikum in das Stück hineinziehen sollen: „Den Karneval schaut man nicht an, man lebt ihn, alle leben ihn, denn er ist von der Idee her dem ganzen Volk gemeinsam"™. Wenn Bachtin von „dialogistischer" Literatur, von „plurilingüisme", „discours bivocal" und „décentralisation verbale" fur einen bestimmten Typ von Roman spricht34, und er einen direkten Zusammenhang zwischen der Präsenz dieser Charakteristika, die sich im Grunde unter einem einzigen Begriff subsumieren lassen, und der entschiedenen Zugehörigkeit des Werks zur volkstümlichen Kultur gegenüber der offiziellen Kultur festlegt, setzt er Formelles und Inhaltliches in Beziehung. Und wenn sich tatsächlich die Themen der karnevalesken Literatur dadurch auszeichnen, daß „kein Dogmatismus, nichts Autoritäres, keine engstirnige Seriosität [...] sie besetzen kann" und sie „sich jeder Vollendung und Starrheit, jeder ungetrübten Seriosität und Abgeschlossenheit des Gedankens und der Weltanschauung" widersetzen35, müssen wir in dieser aus dem Werk heraus kommunizierenden Stimme einen nicht dogmatischen, nicht autoritären, sich der Norm widersetzenden, ironisch-humoristischen Geist finden, der, weil er sich einem fortwährenden Prozeß der humanistischen Fort- nie Aus-bildung verschrieben hat, überzeugt ist von der Relativität der Meinungen und Taten36. Das diesen Stimmen Wesentliche ist die Kommuni33

Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 55 (aus dem Russischen von Gabriele Leupold; Hervorhebungen von B.). Einige Beispiele: Die Acharner: „Ihr könnt euch denken, wie mein Herz erbebte!" (S. 9); „was meint ihr wohl,/ Wie sie sich drängen..." (S. 9); „Doch ihr ambassadiert und sperrt das Maul a u f (S. 13); ein schönes Beispiel aus den Rittern: „Gar nicht schlecht! Nur müssen wir/ Auf die Zuschauer deutend./Sie bitten, uns zu zeigen, ob es sie/ Auch freut, was wir hier oben tun und sagen." (S. 58).

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Rabelais und seine Welt, S. 121; auch: Bachtin, Michail: Esthétique et théorie du roman, Gallimard, Paris 1978 (traduit du russe par Daria Olivier).

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Diese Merkmale findet Bachtin bei Rabelais zu ihrer Vollkommenheit gebracht; vgl. Rabelais und seine Welt, S. 50.

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Hauser nennt es Humor: „Humor haben bedeutet im üblichen Sinne des Wortes: Distanz bewahren, Proportionsgefuhl haben, die Dinge in der richtigen Perspektive sehen, das heißt, sie gleichzeitig von zwei ver-

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kation, die rastlose Suche unterschiedlicher Perspektiven, also des Dialogs als den zugleich bejahenden und die Persönlichkeit bildenden Lebensgehalt. Vor diesem Anspruch müssen alle anderen Ambitionen, auch ästhetische, zurücktreten. So läßt sich auch verstehen, daß Bachtin die Mennipeische Satire und die Sokratischen Gespräche, in denen der Dialog Formprinzip ist, als erste Verlautbarungen einer Kunstprosa ansieht, die sich im Unterschied zum monologischen Epos oder der Rhetorik in die populäre Tradition des Karnevals einreiht37. Bedeutet dies, daß die Präsenz eines auktorialen Erzählers in einem Roman ausreichend ist, um das Werk in eine undogmatische, dialogische und dem Status quo immer kritisch gegenüberstehende Tradition einzureihen? schiedenen Seiten betrachten [...] es bedeutet, in allem das Gute und das Böse gleichmäßig zu berücksichtigen, stets die Berechtigung verschiedener Gesichtspunkte anzuerkennen, zu einer Sache gleichzeitig Ja und Nein zu sagen. Der Humor drückt eine dialektische Einstellung aus, einen flexiblen, entwicklungsfähigen, jederzeit rektifizierbaren Standpunkt. [...] Es ist tatsächlich ein quasi-religiöses Gefühl, das im Humor zum Ausdruck kommt: ein andächtiges Verständnis für den Lauf der Welt und eine tiefe Sympathie mit allem, was menschlich ist. (...)

Der Humor ist nüchtern, rational, unpathetisch, unsentimental, ja er ist trotz seiner Bereitschaft, zu verstehen, zu vergeben und zu lieben, skeptisch und kritisch", Hauser: Der Manierismus. S. 140 und 142. Hauser erkennt in Cervantes den ersten Humoristen der westlichen europäischen Kultur. Hausers Definition von Humor läßt sich jedoch schon auf Aristophanes anwenden. 37

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Mit Hauser aber halte ich dafür, daß wir es bei Sokrates mehr mit Ironie denn mit Humor zu tun haben: „Die sokratische Ironie hat kaum etwas mit Humor zu tun. Sie verspottet, verstellt sich, sagt zum Schein das Gegenteil von dem, was sie meint; ihr Ziel ist das Ziel aller Ironie: sie will lächerlich machen, Schwächen enthüllen, angreifen und vernichten. Sie mag sich zuguterletzt als noch so nützlich erweisen, sie mag erziehen und verbessern, unmittelbar hat sie nichts Gütiges an sich", Manierismus, S. 139. Über das Geschick der somatischen Ironie in der europäischen Kultur vgl. die detaillierte Studie von Knox, Dilwyn: Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony, E. J. Brill, Leiden, New York u. a. 1989, besonders S. 98-138. Die sokratische Ironie wurde von der Renaissance wiederentdeckt und vornehmlich als Waffe gegen die eitlen Gelehrten, gegen die neuen Sophisten, gegen die 'eruditos a la violeta' angewandt.

Die strikt volkstümliche Digressio lebte durchaus weiter, und der heitere, burleske karnevaleske Ton der Attischen Komödie drang ins Mittelalter ein. Nach Boiard und Ariost - „Beide greifen auf die volkstümlichen Epen der Jongleurs und Spielleute zurück und übernehmen von dort die Technik, das Lied immer an einem spannenden Höhepunkt abzubrechen und an einem anderen Strang der Geschichte weiter zu erzählen oder im Vorübergehen eigene Sorgen und Fragen in den Gesang miteinzuflechten"38 wird das Vermächtnis eines humorvollen hervortretenden Erzählers iur den Roman von Cervantes weitergegeben. Und doch stellt seine Erzähltechnik etwas vollkommen Neues dar. Kein Werk aus vergangenen Jahrhunderten ist im 18. Jahrhundert sowohl in England als auch in Deutschland so präsent wie der Quijote, so daß sich die Entstehung des englischen, des deutschen und überhaupt des modernen europäischen Romans ohne ihn nicht denken läßt. Worin lag diese große Attraktivität des Werks und warum wird er gerade mehr als hundert Jahre nach seinem Entstehen so aktuell? - Im Quijote spiegelt sich eine Krise wider - Mangel an religiösen oder weltlichen universellen Werten - , die weit über das Persönliche (in Hinsicht auf die Protagonisten des Romans), Soziale oder Nationale im geographisch-zeitlichen Raum des Spaniens des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts hinausgeht. Es ist vielmehr so, daß der Quijote die ganze Problematik anspricht, die in der Modernitätsentwicklung immer deutlichere Züge annehmen wird, bis sie im 18. Jahrhundert offen hervorbricht, u. zw.: die Beziehungen Individuum-Dingwelt, Ich-Er (Singular), Individuum-Institutionen, Individuum-Gemeinschaft/Gesellschaft usw. Der Quijote nimmt Probleme vorweg, die sich für Spanien aufgrund seines halb freiwilligen, halb forcierten Entschlusses, die Zeit anzuhalten, nicht in dem Maße stellen werden, 38

Miller, Norbert: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, Carl Hanser, München 1968, S. 369.

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wie dies in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Die drei „salidas" des Spanischen Hidalgo sind 'Pilgerfahrten' auf der Suche nach Antworten und Willensbekundungen zugleich, womit kostbare Zeit gewonnen wird, den Versuch zu unternehmen, die Leerräume zu füllen, die eine verbrauchte Ideologie aufgedeckt hat. In der Reibung zwischen alt und neu entspringen Definitionen, deren Gültigkeit im umgekehrten Verhältnis zur Intensität des Konflikts steht, da die Antworten meistens das Manko des Anachronismus aufweisen. Der Quijote stellt das endgültige und nicht wieder gutzumachende Scheitern eines monologischen absoluten Herrschaftsanspruchs dar - Militär, Kirche, Bildung - , und er beinhaltet zugleich die Möglichkeiten, die sich aus solch einem Bruch eröffnen; der Quijote deutet eine historische Konstante an, die eintritt, sobald bestimmte Bereiche, seien sie nun konkret - Staat - oder abstrakt Vernunft - , dazu tendieren, absolut zu werden: die Öffnung zur Potentialität, das Aufkommen des Konflikts zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte oder als Vorzustellendes, Mögliches, Unbekanntes oder einfach Erahntes sein könnte. Die unmittelbare Folge ist eine persönliche und soziale Aufwertung der sensitiven und sensiblen Welt, also der Lebenswelt, gegenüber der rational-analytischen Welt der Systeme. Der Quijote trägt eine humanistische Tradition weiter, in der sich der Mensch von einer nicht dogmatischen, nicht autoritären, nicht arroganten belehrenden Warte aus zum Menschen, zu seiner 'Sentimentalität' - das, was er an Gefühl ausstrahlt und bekommt - und zum Mitgefühl dem Schwachen gegenüber bekennt. Der Quijote wird so zum nicht nur literarischen Anhaltspunkt für alle europäischen (Geistes-)Strömungen, die der Lebenswelt den Vorzug vor der Systemwelt geben. In Anbetracht der Potentialität und der literarischen Selbstbezogenheit des cervantinischen Textes stellt dies jedoch kein unüberwindbares Hindernis dar, um den

Quijote im spiegelbildlich entstellten Sinn gegen die Lebenswelt und gegen den Roman zweckzuentfremden. - Der Quijote befindet sich im entgegengesetzten Lager zu dem nachtridentinischen Schelmenroman, womit er eines der Extreme einer frühen antagonistischen Dualität besetzt, die differenziert und funktionell nicht nur die europäische Moderne ab dem 16. Jahrhundert charakterisiert, sondern sie sogar zum großen Teil ausmacht. Auf literarischem Gebiet drückt sie sich zuerst in England im Gegensatz Defoe/Richardson - Fielding/ Sterne, dann auch in Deutschland in nachzuzeichnender Weise aus. In Kapitel 1 dieser Arbeit werden Erzähler und Dialog im Quijote auf ihre Potentialität hin analysiert und anschließend wird der Versuch unternommen, ein im Prinzip erzähltechnisches Verfahren mit einer Geisteshaltung zu verknüpfen, die der eines liberalen humanistischen Erbes entspricht. Kapitel 2 widmet sich der Rezeption des Quijote in Deutschland im 18. Jahrhundert und der Frage, welche soziokulturellen Faktoren seine Aufnahme begünstigt bzw. erschwert haben; die Betrachtung des Spanienbildes gehört zwangsläufig zu diesem Themengebiet. Die Äußerungen im 18. Jahrhundert über die aristhopanischen Werke dienen als tertium comparationis. Da der Quijote zuerst besonders in England bekannt wurde und beliebt war, die englischen Romane der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ausschlaggebend für die Entwicklung des Romans auch in Deutschland werden, sich auf Cervantes berufen, muß zuerst geklärt werden, warum der Quijote gerade in England so große Erfolge feiern konnte, um dies erneut in Bezug zu den deutschen Umständen zu setzen. Hier wird es notwendig sein, sowohl für England als auch für Deutschland auf die Kultur- und Geistesgeschichte zurückzublicken, um an einigen Beispielen (Wilkins/ Ward - Webster-Debatte, Thomasius, Milton) zu verdeutlichen, welche Rolle der humoristisch-humanistischen bzw. der 'ernsthaften' Literatur in der frühen Auseinandersetzung zwischen 'geschlossenen' und 'offenen' Geistesströmungen zukommt. Schließlich soll im zweiten Kapitel kurz auf die Nachahmungen des Quijote von Neugebauer und Wieland eingegangen wer-

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den, um zu zeigen, daß hier nur eine Nachahmung in der Form stattfindet, hinter der sich so gut wie nichts vom ursprünglich mit dieser Form einhergehenden Geist verbirgt. Dies ist durchaus nicht der Fall im biographischen oder psychologischen Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, der sich im hier berücksichtigten Rahmen wie von selbst anbietet, und zwar aus folgenden Gründen: - Im Anton Reiser39 agiert, wie im Quijote auch, der Protagonist in einer tatsächlichen, reellen Welt mit deutlich gezeichneten sozialen Strukturen. Wie bekannt, ist dies für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts und besonders hinsichtlich des Romans nicht als eine Selbstverständlichkeit anzusehen. - Auch im AR steht, wie im Quijote, eine Einzelperson im Vordergrund. Doch gewinnen beide ihre Tragweite aus der Reibung zwischen den in die Welt ziehenden Individuen und der Gesellschaft, die sie zu entdecken und in der sie sich zu bewähren haben. Die Fragen Individuum - Gemeinschaft/Gesellschaft, Ich - Dingwelt usw. werden erneut gestellt. - Der Protagonist im AR reiht sich in die Reihe der von der Realität enttäuschten, aber narzißtisch weltentwerfenden Subjekte ein, die 'literarisch' gegen die Wirklichkeit vorgehen. Darüber hinaus handelt es sich beim Protagonisten im AR nicht bloß um die erneute hohle Nachahmung eines literarischen Motivs, sondern die Figur erweist sich als ein durchaus 'komplexer' Charakter. - Der Roman AR weiß immer wieder auf soziokulturelle deutsch-protestantische Traditionen hinzudeuten, indem er bestimmte Erscheinungen der Gegenwart überhaupt als Spezifika zu isolieren und als solche zu benennen weiß. So wird es dem Nachforschenden möglich, Phä-

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Von nun an als AR angegeben.

nomene in einen breiteren Rahmen zu stellen, zumal sie untereinander in Beziehung gesetzt werden. - Der Roman AR wird von einer von seiner Hauptfigur distanzierten Erzählinstanz bestimmt und anscheinend beherrscht, die zum Leser spricht und sich im Verlauf des Romans, wie im Quijote, in eine quasi unabkömmliche Mittelsperson verwandelt. - Im AR werden knapp aber deutlich jene Erscheinungen positiv betont, die eine Brücke zu humanistischliberalem Gedankengut schlagen. - Der Roman AR reflektiert - spiegelt und erwägt - bewußt eine krisenhafte Übergangszeit, in der keine älteren Welten mehr und noch keine neuen möglich sind. - Der AR schreibt den Quijote insofern weiter, als sich das zugleich Widerstand leistende und teilnehmende Individuum nun in einer tatsächlich funktionalisierten, genormten Welt zu behaupten hat, die im Quijote als (verworfene) Alternative zum Zustand der Haltlosigkeit angedeutet wird. Kapitel 3 dieser Arbeit widmet sich daher der vergleichenden Gegenüberstellung von den Figuren Don Quijote und Anton Reiser und den Beziehungen, die sie zu ihrer respektiven Außenwelt unterhalten, wobei der Schwerpunkt auf Moritz' Roman ruht, der ebenfalls hauptsächlich unter dem Aspekt der Potentialität beleuchtet wird. Ein erster Hinweis auf Erzählerstrategien wird sich in diesem Kapitel als unerläßlich erweisen. Kapitel 4 schließlich hat den Erzähler im AR zum Gegenstand, womit es ein Pendant zum 1., dem Erzähler im Quijote gewidmeten Kapitel darstellt. Es sei hier deutlich darauf hingewiesen, daß diese Arbeit nicht den Erzähler unter romantechnischen Gesichtspunkten bzw. die tradierte Frage, wer den Roman erzählt und ob es eine vom Autor kreierte und daher von diesem differenzierte Erzählfigur gibt, erör-

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tert40. Wichtig ist, daß Aristophanes, Cervantes, Moritz in ihren Werken jemanden sprechen lassen, der sich aus dem Werk heraus an das Publikum bzw. an den Leser wendet. Sicherlich ist der Zwischenrufer nicht mit Aristophanes, Cide Hamete Benengeli, „autor arábigo", oder der Übersetzer nicht mit Cervantes und der über Anton Reisers Lebensweg Berichtende nicht mit dem Pädagogen und Ausreißer Moritz identisch. Und doch tragen sie notgedrungen Grund-Züge von ihren Autoren, da eben diese Form des Erzählens, diese ExTäkA-Haltung gewählt worden ist, die, wie zu zeigen sein wird, weder absichts- noch konsequenzlos ist, weil sie das Erzählte von Grund auf bestimmt. Da, wo der Verfasser also weiterhin von Erzähler spricht, könnte durchaus 'das Erzählerische' oder, mit Käte Hamburger, das Erzählen stehen41. Erzählt wird immer in einem bestimmten soziokulturellen und geschichtlichen Kontext, für oder gegen ein Publikum, in einer bestimmten oder gegen eine bestimmte Tradition usw. Es mag nun daher den Erzähler geben oder nicht, erzählt wird immer etwas, weshalb erzählen immer abwägen, beurteilen, sich entscheiden und, schließlich, es oder sich dem Leser so oder so darstellen, bedeutet. Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur erfolgt in der Arbeit vornehmlich im Anmerkungsapparat. Das Thema bringt es mit sich, daß auf keine einschlägigen Studien verwiesen werden kann, da - obwohl des öfteren der Name „Don Quijote" fallt, wenn vom AR die Rede ist - bis heute niemand den Quijote und den AR unter einem komparatistischen Blickwinkel und unter Berücksichtigung europäischer Sozial- und Kulturentwicklung im modernen Zeitalter untersucht hat. 40

Hierzu knapp und bündig: Arnold, Heinz Ludwig/Sinemus, Volker (Hgg.): Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1: Literaturwissenschaft, dtv, München 1986", S. 230 ff.. Auf S. 231 die Zusammenfassung Jochen Vogts: „Präzise wird man jedenfalls nicht von einem 'Erzähler' sprechen, sondern von der Erzählfunktion als von einem vom Autor gehandhabten Kunstmittel". Im ersten Kapitel dieser Arbeit nenne ich dies 'das Erzählerische' ('lo narratario'): das, was uns im Text anzeigt, daß erzählt (also nicht berichtet, informiert, dargestellt usw.) wird, seien dies sprachliche Zeichen (z. B. Imperfekt oder Konjunktiv der indirekten Rede) oder tatsächlich eine Erzählerfigur (Cide Hamete).

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Hamburger, Käte: Die Logik 1977 3 , besonders S. 111 f.

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der Dichtung,

Klett-Cotta, Stuttgart

Sollen Namen genannt werden, so sind Arbeiten von Max Weber, Arnold Hauser, Americo Castro, Michail Bachtin, Jürgen Habermas und Richard van Dülmen hervorzuheben. Die für einzelne Aspekte unerläßlichen, hervorragenden Arbeiten werden im Anmerkungsteil erwähnt. Es sei noch angemerkt, daß zu den verschiedenen Themenkomplexen sämtliche einschlägige und dem Verfasser zugängliche Literatur durchforscht wurde (im Falle der Problematik „Cervantes in Deutschland" tatsächlich ohne Ausnahme)42. 42

Zur Erforschung der literarischen spanisch-deutschen Beziehungen seien die Namen von Arturo Farinelli, Julius Schwering und Adam Schneider genannt, die im 19. Jahrhundert wesentliche Vorarbeiten leisteten. Hermann Tiemann setzte diese Bemühungen in unserem Jahrhundert fort. Seine Arbeit Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance bis zur Romantik (eine Vortragsreihe), Ibero-Amerikanische Studien 6, Hamburg 1936, in der ein erster Versuch einer Interpretation der Fakten unternommen wurde, ist heute noch ein Standardwerk. Zum engeren Themenkreis 'Quijote in Deutschland' sind vier Monographien erschienen: die 1908 veröffentlichte Dissertation von Tjard W. Berger Don Quixotte in Deutschland und sein Einfluss auf den deutschen Roman (1613-1800), Heidelberg 1908, der zum ersten Mal das Thema aufgreift und Pionierarbeit leistet; J. J. A. Bertrands Untersuchung Cervantes et le romantisme allemand, Alcan, Paris 1914, in der der Quijote naturgemäß eine privilegierte Stellung einnimmt, die aber kaum über eine Wiedergabe der Äußerungen der deutschen Romantiker zu Cervantes hinausgeht und sich oft im Anekdotischen erschöpft; eine dritte Monographie, Cervantes dans le pays de Faust, (ohne Ortsangabe) 1948, ebenfalls von Bertrand, bringt, im Vergleich zu der Dissertation Bergers kaum etwas Neues und bedeutet in ihrer strikten Aneinanderreihung von Daten sogar einen Rückschritt. Schließlich ist noch Werner Brüggemanns Arbeit Cervantes und die Figur des Don Quijote in Kunstanschauung und Dichtung der deutschen Romantik, Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 2. Reihe, Bd. 7, Aschendorff 1958, zu erwähnen, die zwar einen vorläufigen Höhepunkt in der Forschung zur Rezeption des Quijote in Deutschland in der von ihm berücksichtigten Periode darstellt, in der aber durch eine zu große Befangenheit in der Wertung der 'literarischen Weltanschauungen' der Romantiker ein sehr unscharfes Bild entsteht. Daß die Forschung über den Quijote in Deutschland unzureichend ist, wird auch daraus ersichtlich, daß die Frage nach der Identität des ersten Übersetzers des Quijote ins Deutsche eine wahre 'Flut' von Beiträgen bewirkt hat, während wichtige Aspekte wie zum Beispiel das

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Sollte diese oder jene Arbeit, die mancher für bedeutend halten mag, hier wenig oder gar keine Beachtung finden, so mag das am Ansatz vorliegender Arbeit liegen, der - der Verfasser ist sich dieser Tatsache bewußt - ein gewaltiges, aber immer spannendes und gewinnbringendes Wagnis darstellt.

deutsche 'Humorverständnis' des 17. Jahrhunderts und die sich daraus ergebende Interpretation des Quijote bis heute noch völlig unbeachtet geblieben sind. Ein strikt agelastischer Geist wußte aber derartige 'Blüten' hervorzubringen: „Gervinus nennt den Humor eine Krankheit des Geistes und Gemütes, die das Unerträgliche sich erträglich zu machen suche, und wenn man mit den neueren Psychologen das Überhandnehmen des Witzes als Zeichen der Dekadence betrachten will, so ist das Entstehen der Schwankliteratur psychologisch nur zu verständlich: 'Die durch die Reformation hervorgerufenen schwankenden Zustände waren die Krankheit, deren poetisches Symptom die Humoristik ist'". Rausse, Hubert: Zur Geschichte des spanischen Schelmenromans in Deutschland, Heinrich Schöningh, Münster 1908, S. 4. Rausse zitiert: Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Kempen 1906, S. 130.

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1. DIE POTENTIALITÄT DES QUIJOTE: ERZÄHLER UND DIALOG Der gesamte Quijote ist ein Dialog: Es dialogisieren Sancho und Don Quijote, diese mit anderen Personen, die 'sekundären' Figuren unter sich, der oder die Erzähler mit den Figuren und, vom ersten Wort des Prologs an, der Erzähler mit dem Leser, dann mit einem vermeintlichen Freund. So allgegenwärtig ist der Dialog, daß er nur an einer, aber bedeutenden Stelle unmöglich wird: als im Palast der Herzöge der Hauspfarrer, der „clérigo" den 'manchanischen Hidalgo' zu schelten weiß (II, 31)43. Die aufgebrachten Worte des Geistlichen sind grimmig, befehlend, sie erwarten keine Antwort, und sie zeigen, daß im Gegenteil zu seiner Ernährungsquelle, den „Duques", der Kleriker entschieden zu den 'ernsthaften' zu rechnen ist44. Die Antwort Don Quijotes, wenn auch maßvoll und im Grunde versöhnlich, stellt trotz des Hagels rhetorischer Fragen, die er an seine Zuhörer richtet, nicht gerade eine Einladung zur Diskussion dar: Don Quijote behauptet seine 43

Selbstverständlich bieten die 'Reden' von Don Quijote, z. B. über das Goldene Zeitalter, auch keine Gelegenheit zum Dialog. Aber hier wird ein eindeutiges hierarchisches Verhältnis Lehrer-Schüler aufgezeigt, dessen eindeutige parodistische Absicht ebenfalls keinen Zweifel läßt. Die gleiche Handlungsweise, nun aber weltlich, des übel gelaunten Seelsorgers wiederholt sich in II, 62. Der Scheltende zeigt sich aber mitleidig und verspricht Besserung: „y en la hora mala que vuesa merced dijo, sea para mí y para todos mis descendientes si de hoy más, aunque viviese más años que Matusalén, diere consejo a nadie, aunque me lo pida", Cervantes Saavedra, Miguel de: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (2 Bde.), Ausgabe von Vicente Gaos, Gredos, Madrid 1987, Bd. 2, S. 877. Alle Zitate und Hinweise beziehen sich auf diese Ausgabe; die römischen Zahlen weisen auf den Band hin, es folgt das Kapitel und ggf. die Seitenzahl.

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Er ist also zur Agelastenkultur zu zählen. Es sei auf die im Quijote ganz unübliche 'abfertigende' Art hingewiesen, mit der dieser Priester vom Erzähler traktiert wird: „... y con ellos un grave eclesiástico destos que gobiernan las casas de los príncipes, destos que como no nacen príncipes no aciertan a enseñar cómo lo han de ser los que lo son, destos que quieren que la grandeza de los grandes se mida con la estrecheza de sus ánimos, destos que queriendo mostrar a los que ellos gobiernan a ser limitados, les hacen ser miserables" (II, 31, 453).

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Person und seinen ritterlichen Stand. Da der Kleriker keine Unterstützung von seinen Herren bekommt, zieht er es vor, das Feld zu räumen. Die 'Duques', Don Quijote und Sancho, und auch der Erzähler als Figur, die erzählt, und als Figur der Erzählung, nehmen notgedrungen eine dem Kleriker entgegengesetzte Position ein. Diesem gegenüber teilen alle anderen Figuren einen Charakterzug: Auf die eine oder andere Weise verändern sie alle die Wirklichkeit. Don Quijote ist natürlich der größte aller Verwandlungskünstler, Sancho 'erfindet' Dulcinea, die Duques folgen dem Spiel von Ritter und Schildknappen und übernehmen die entsprechenden 'Inszenierungen', der Erzähler schließlich zeigt sich auch in keiner Hinsicht geneigt, dem Leser stichfeste Tatsachen an die Hand zu geben, und auch Cervantes, der nicht bereit ist, seine Vaterschaft zuzugeben, nimmt am Spiel teil. Alle sind sie, jeder auf seine Art, Romanautoren, „novelistas". Dies fuhrt zu einem Konkurrenzverhältnis. Der Geistliche kann sich einer alternativen Welt bedienen, die für ihn als Kleriker nur dann aktiviert wird, wenn die irdische Welt in Bezug zur transzendentalen interpretiert wird. Die irdische Welt hat sich ideellerweise als unveränderlich, stabil, geschlossen zu zeigen, da sonst immer neue Interpretationsleistungen notwendig würden. Aber an dem zu zweifeln, was die Sinne wahrnehmen, und dem Geist die Fähigkeit zu gewähren, parallele Welten zu schaffen, die nicht auf eine religiöse Sphäre verweisen, bedeutet so viel, wie auf die mediatische und interpretatorische Leistung des Klerikers zu verzichten und ihm seine soziale Funktion abzusprechen, wenn diese nicht asketische Abgeschiedenheit im Kloster, sondern unmittelbare, auf alleinige absolute Gültigkeit bedachte Teilnahme am Weltlichen verfolgt zum 'gobierno de las almas (y los mundos)'. Im 15. und v. a. im 16. und 17 Jahrhundert - Jahrhunderte, die durch die großen Figuren Cisneros, Richelieus oder die Julius-Päpste, durch die Gründung des Jesuitenordens, der religiös-politischen Traktate eines ihrer hervorragendsten Mitglieder, Graciän, und durch die religiösen Feindschaften und Kriege gezeichnet sind - konnte der direkte und erklärte Eingriff des Religiösen in das Weltliche nicht größer sein. Innerhalb dieses Bezugsrahmens ist Kunst, und v. a. die Kunst des Wortes, und hier wiederum der Roman, der besonders geignet ist, neue Welten zu 'schaffen', als ein potentieller Gegenspieler anzusehen. Beson-

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ders dann, wenn nicht die genügende und gebotene Zurückhaltung geübt und auf eine unmißverständliche und wiederholte Verankerung des Irdischen im Transzendentalen verzichtet wird45. Daß der Quijote diese Fähigkeit aufzeigt, wenn auch nicht ausdrücklich, ist eine alte Feststellung46.

45

Max Weber drückt es folgendermaßen aus: „Je mehr aber die Kunst als eine engegengesetzliche Sphäre sich konstituiert, - ein Produkt der Laienbildung, - desto mehr pflegt sie gegenüber den religiös-ethischen ganz disparaten Rangordnungen der Werte, welche damit konstituiert werden, hervorzutreten", Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 19725, S. 365 [347], Die Rezeption Foucaults und Bachtins hat zu einer 'Wiederentdeckung' dieser soziologischen Thesen geführt: „Klerus und Adel sind gleichermaßen in Gefahr dann, wenn ein geschlossenes vertikales theozentrisches Sinnmodell, das ihnen einen Spitzenplatz einräumt, durch ein offenes horizontales anthropozentrisches Sinnmodell ersetzt werden soll; beide werden gleichermaßen darum bemüht sein, die bedrohliche Pluralität wiederum durch eine Re-Monologisierung im Sinne der ursprünglichen Verhältnisse zu ersetzen. Insofern bilden sie die «soziale Basis des Barocks»; sie wurde «von allen konservativen Kräften der Gesellschaft getragen, Kräften, die nach Stabilität und nach einer Ordnung strebten, von der sie hofften, daß sie ewig sei» [Klaniczay: Renaissance und Manierismus. Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur, Poetik und Stil, Berlin 1977, S. 215]", Mahler, Andreas: „Jahrhundertwende, Epochenschwelle, epistemischer Bruch? England um 1600 und das Problem überkommener Epochenbegriffe", in: Garber, Klaus (Hg.): Europäische Barockrezeption, Bd. 2, S. 9951026, ZitatS. 1021-1022.

46

Lukäcs' Worte über Don Quijote aus dem Jahr 1920 sind bekannt: „aus dem Gott, der wegen der Unangemessenheit des ihn aufnehmenden Materials nur wie ein Dämon erscheinen konnte, ist in Wahrheit ein Dämon geworden, der in der von der Vorsehung verlassenen, die transzendentale Orientierung entbehrenden Welt die Rolle Gottes zu spielen sich anmaßt. [...] So steht dieser erste große Roman der Weltliteratur am Anfang der Zeit, wo der Gott des Christentums die Welt zu verlassen beginnt", Lukäcs, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Luchterhand, Frankfurt/Main 1978, S. 89. Lukäcs, noch Hegelianer und ohne den Sinn für Humor, den Don Quijote selbst beweist (vgl. I, 20, 398), achtet zu sehr auf die Idee, die Don Quijote verkörpert, und zu wenig auf die sozialen Beziehungen, die er unterhält. Davon abgesehen, daß Don Quijote die Fähigkeit besitzt, bis zu einem gewissen Grad über sich selbst zu lachen, kann er es nie zu einem Gott bringen, da seine Umgebung, an der er teilnimmt und die er braucht, sich ihm

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Der Konflikt zwischen religiösen und weltlichen Interpreten ist aber ebenfalls alt. 1.1 Zweite Abschweifung: Der Poet als Prophet Während in Spanien allmählich eine volkstümliche Kultur entsteht, an der sogar jene Autoren teilnehmen - sie verteidigend und bereichernd - , die sich am geziertesten geben47, und sich keine höfische Kultur entwickelt, die sich mit der deutschen oder der französischen vergleichen ließe, entsteht in Frankreich und Deutschland die erste schriftliche Literatur jedoch in erster Linie für die herrschende Schicht. Diese Tatsache soll nicht dazu verleiten, der ersten spanischen Literatur einen 'demokratischeren' Charakter zuzubilligen, sondern nur einen volkstümlicheren. In Spanien hat diese Kultur nie einen derart 'offiziellen' Status erlangt, wie dies in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Achten wir auf die deutschen Lande, stellen wir fest, daß schon im frühen Hohen Mittelalter der Dichter die Rolle eines Propheten für sich beansprucht, gleich einem „rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet"48. So schreibt Vogelweide: „vil wol gelobter got, wie selten ich dich prise,/ sit ich von dir beide wort hän unde wise!", oder: „Her keiser, ich bin frönebote/ und bring in boteschaft von gote:/ ir habt die erde, er hat daz himelriche"49. Vogelweide maßt sich hier an, Aufgaben erfüllen zu können, die wohl eher dem religiösen Menschen zustehen - das Wort Gottes kundzutun - , aber die Absicht verraten, seine soziale Rolle zu feentgegenstellt. In eben aber diesen sozialen Beziehungen ist die 'Kompetenz' des Werks anzusiedeln. 47

Im Bereich der Wortkunst stellen die 'libros de caballerías' die am wenigsten volkstümliche spanische Erzählform dar; der 'aristokratischste' Roman, den die spanische Literatur kennt, ist wohl die Cárcel de amor von Diego de San Pedro. Selbst ein so vornehmer Dichter wie Garcilaso verschmäht es nicht, auf Sprichwörter oder Wendungen der Volkskultur zurückzugreifen.

48

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 268 [250], (Hervorhebungen von W.).

49

Walther von der Vogelweide: Gedichte (hgg. von Peter Wapnewski), Fischer, Frankfiirt/Main 1962, S. 63 und 47.

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stigen, bis sich letztlich das Blatt wendet: „sie [die festengagierten Hofdichter, A.P.] spielen sich jetzt als die Lehrmeister ihrer Gönner auf' 50 . Die Hofdichter finden aber bald ein Gebiet, das ihnen in jeder Hinsicht angemessen erscheint, da es nun möglich wird, eine bedeutende soziale Rolle einzunehmen, ohne mit der Geistlichkeit in Konkurrenz treten zu müssen: Die Dichter werden zu Experten im bon goüt, zu den höchsten Lehrmeistern und Schiedsrichtern in allem, was höfische Etikette und ritterliche Ehre betrifft. Sie sind von nun an Berater und Vertrauensmänner des Fürsten51. Es darf daher nicht verwundern, daß der auktoriale Erzähler im deutschen Roman des Spätmittelalters im wesentlichen die Aufgabe übernimmt, sein höfisches Publikum an die Pflichten und Vorzüge ihres Standes zu erinnern52. Der Ursprung des auktorialen Erzählers liegt hier einerseits in der didaktischen Absicht, andererseits in der Nähe zur mündlichen Literatur, die diese Form des Romans noch beibehält. Literatur hat sich noch nicht als ein eigener Kosmos konstituiert, der eigenen Regeln und Prinzipien folgt: Literatur ist zur Selbstwahrnehmung noch unfähig, ist sich ihrer noch nicht bewußt. Im Einklang mit der hohen Sendung, die dem Autor zukommt, zeichnet sich sein Werk v. a. durch ernsthafte Nützlichkeit, nicht durch humorvolle Unterhaltsamkeit aus. Die Unwahrscheinlichkeit dieser Romane folgt den gleichen Gründen. Der biedere Held ist immer beispielhaft, ein mit Tugenden im Überfluß gesegneter Ritter53. Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman bringt also nicht eine progressive liberale Einstellung zum Ausdruck. Der auktoriale Erzähler, der entweder mit dem Autor identisch ist - wenn nicht unbedingt die innersten Überzeugungen des Romanciers zum Ausdruck kommen - , oder von diesem zweckdienlich geschaffen worden ist, hält mit allen Mitteln an einer Welt fest, in der es 50

Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Beck, München 1953, S. 238.

51

Hauser, Sozialgeschichte,

52

Vgl. Voelkel, Carola: Der Erzähler im spätmittelalterlichen [Diss.], Peter Lang, Frankfurt/Main 1978.

53

Der immer mehr moralische, ethische oder kulturelle und nicht kriegerische Werte verficht. Hauser sieht hier den Einfluß eines zunehmend weiblichen Publikums walten. Vgl. Sozialgeschichte, S. 236.

S. 238-239. Roman

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ihm gelungen ist, in Konkurrenz zu anderen Kündern und Mahnern eine hervorragende soziale Stellung einzunehmen. Ohne jemals die erhöhte Warte zu verlassen, sich stets als „Führer, Lenker und Lehrer" gebend54, versucht der Erzählende den Fragen und Zweifeln seiner Zuhörer vorauszueilen und sie zu beantworten, bevor sie gestellt werden. Der Kontakt zwischen Werk und Publikum ist daher permanent, ohne daß jemals ein wahrer Dialog zustande käme. „Als es gezam", „als man sol", dies sind die immer wiederkehrenden Formeln, welche die Handlungen des Helden durch den Hinweis auf Usus und Gewohnheit rechtfertigen. Es ist nun festzustellen, daß in dem Maße, in dem ein neues Lesepublikum aufkommt, das Patriziat, sich die Struktur des Werks vereinfacht und die mündlichen Elemente wie der auktoriale Erzähler überhaupt schwinden55. Wie läßt sich dies erklären? Ende des 15. Jahrhunderts ist die mittelalterliche Vorstellung des Rittertums nicht mehr aufrechtzuerhalten56, und dies um so 54

Voelkel, S. 13.

55

Das von einem Meister vom Oberrhein gemalte Bild „Josephs Zweifel" (um 1420, Teil eines ehemaligen Maria-Evangeliars, Museum Straßburg) zeigt die schwangere Maria neben Joseph, dem gerade die Frohe Botschaft von einem Engeln mitgeteilt wird. Die Wohnungseinrichtung stammt aus dem 15. Jh., Joseph steht neben seiner Hobelbank, Maria befindet sich an einem Tisch, auf dem Nähzeug liegt. Hinter der Frau ist ein besonderes Möbelstück zu sehen, dessen oberer Teil durch eine Gardine der Ansicht entzogen werden kann. Die Gardine ist zur Seite gerückt und es sind ein halbes Dutzend Bücher und mehrere Schriftrollen zu sehen. Im Wildungenaltar (1404, Bad Wildungen, Ev. Stadtkirche) von Konrad von Soest wird Maria vom Engel beim Lesen überrascht, neben ihr drei Bücher mehr. Lesend befindet sich Maria auch im Altar von Melchior Broederlam (um 1399, Museum Dijon) oder im Altar des Meisters aus Flömalle (hier in einer Patrizierwohnung aus dem 15. Jh., um 1438, Madrid, Prado). Es mögen diese Beispiele als Belege für die Verbreitung des erbaulichen - und wohl auch des vergnüglichen - Buches unter den vermögenden Stadtbewohnern, und besonders unter den Frauen, ausreichen.

56

Johannes Rothe schreibt um 1410 seinen Ritterspiegel, eine Lamentation über das Dahinschwinden der ritterlichen, bei Rothe vorwiegend militärischen Tugenden. Es werden Register niedergeschrieben - Ehrenbrief (1462) von Püterich von Reichertshausen - und Kompendien verfaßt - Das Buch der Abenteuer (1473/83), Ulrich Füehrer; Das

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weniger, als das Ende des Mittelalters in den deutschen Landen mit der Blüte der Städte zusammenfallt (Schwäbischer Städtebund, Rheinischer Städtebund, Hanse)57. Die einmalige Konzentration eines breiten Publikums mit einer bemerkenswerten Kaufkraft geht einher mit der bis jetzt nie dagewesenen Möglichkeit, Kunst fast grenzenlos zu vervielfältigen, sowohl in der Malerei (Werkstätten) als auch in der Schreibkunst (Druckerei). Was aber viel wichtiger ist: es findet ein Wertewandel statt. Die Rittertugenden und -ideale mögen echt oder vorgegaukelt sein, nun setzt sich eine geschäftliche Denkweise durch, „nüchtern, hart und illusionslos, mit einem Wort: unritterlich"58. Nicht so in Spanien. Das 16. Jahrhundert bedeutet für Spanien die endgültige wirtschaftliche Katastrophe: Die „ferias" der zwei Medinas und von Villalön ziehen kaum noch Kaufleute an, es mißlingt der Versuch, eine Nationalbank zu schaffen, der Staat muß zweimal eine Bankrotterklärung unterzeichnen, das Kapital gerät zunehmend in die Hände ausländischer Kaufleute und der traditionelle 'rettende' Zweig der Wollausfuhr in eine tiefe Krise, die Qualität der Produkte wird immer niedriger und die Arbeit weiterhin verachtet. In wenigen Jahrzehnten wird aus Spanien ein Land, das nicht mehr mit Europa Schritt hält59. Aber wenn sich schon in Spanien keine ökonomisch-pragmatischen Denkansätze entwickeln, die den gleichzeitigen französischen, englischen, deutschen oder niederländischen entsprechen, so mag der Hinweis auf die Celestina oder auf den berühmten Vers von Quevedo ausreichen, um zu zeigen, daß auch hier Geld zur begehrten Mangelware geworden war. In Spanien konnte sich aber im Vergleich zu den anderen Ländern keine breite soziale Schicht konstituieren, die sich durch ein StreAmbraser Heldenbuch (1517) - , untrügliche Zeichen dafür, daß ein soziokulturelles Kapitel der Geschichte zu Ende gegangen ist. 57

Ende des 15. Jhs. sind an die dreitausend deutsche Städte zu zählen, von denen fünfundzwanzig mehr als zehntausend Einwohner aufweisen (Fuchs, Konrad/Raab, Heribert: Wörterbuch zur Geschichte, (2 Bde.) dtv, München 19726, Artikel „Stadt").

58

Hauser, Sozialgeschichte,

59

Fernández Álvarez, Manuel: La sociedad española en el Siglo de Oro (2 Bde.), Gredos, Madrid 1989, Bd. 1, S. 77-137.

S. 269.

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ben nach Kapitalvermehrung ausgezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil: Der schon an sich sehr geringe wirtschaftlich aktive Bevölkerungsanteil verliert in Spanien Ende des 16. Jahrhunderts ökonomisch und zahlenmäßig an Bedeutung60. Ideologische und institutionelle Faktoren entschieden schließlich über den 'Sonderweg', den Spanien in den folgenden vier Jahrhunderten zu gehen hatte61. 60

Mousnier, Roland: Los siglos XVI y XVII. El progreso de la civilización europea y la decadencia de Oriente (1492-1715), Destino, Barcelona 1981, {Les XVIe etXVIIe siècles. Les progrès de la civilisation européenne et le déclin de l'Orient (1492-1715), Presses Universitaires de France, Paris 1959), S. 256.

61

Simón Ruiz, einer der begütertsten Männer Spaniens im 16. Jh., weigerte sich, Geschäfte anzugehen, die womöglich gegen die Glaubenssätze der katholischen Kirche verstoßen könnten: „Pues harto mejor es faltar en lo de la hacienda que en lo de la conciencia y servicio de Dios, pues Él premiará en mayores y mejores ganancias", Fernández Alvarez: La sociedad española, 1, 120. Der gleiche Gedanke läßt sich wiederholt im Quijote finden, in dem die Gleichung 'besser arm als...' des öfteren durch die ritterliche und weltliche quijoteske 'Ehre', und nicht durch einen religiösen Begriff, ergänzt wird: „y que si la vejez os coge en este honroso ejercicio [el militar, A.P.], aunque sea lleno de heridas y estropeado o cojo, a lo menos no os podrá coger sin honra, y tal, que no os la podrá menoscabar la pobreza", II, 24, 371; ,,...y, según oí decir a mi señor, que más vale el buen nombre que las muchas riquezas", behauptet Sancho, II, 33, 489, und in Hinsicht auf die Religion: „Todas estas y otras grandes y diferentes hazañas son, fueron y serán obras de la fama, que los mortales desean como premios y parte de la inmortalidad que sus famosos hechos merecen, puesto que los cristianos, católicos y andantes caballeros más habernos de atender a la gloria de los siglos venideros, que es eterna en las regiones etéreas y celestes, que a la vanidad de la fama que en este presente y acabable siglo se alcanza, la cual fama, por mucho que dure, en fin se ha acabar con el mesmo mundo, que tiene su fin señalado. Así, ¡oh Sancho!, que nuestras obras no han de salir del límite que nos tiene puesto la religión cristiana que profesamos", sagt Don Quijote, II, 8, 135. Nun muß man das nicht wörtlich nehmen. Die Meinung, daß Armut eine Auszeichnung des wahren Ritters sei, hat ihren Ursprung im hohen Mittelalter, natürlich schon mit religiösem Gendankengut, mit klösterlichem Stoizismus verwoben. Vgl. Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, Alfred Kröner, Stuttgart 1975. (Übersetzung von Kurt Köster unter Benutzung der Übersetzung von T. Wolff-Mönckeberg) S. 94-95: „Die Verachtung des Reichtums, die fllr den wahren Ritter kennzeichnend sein muß, spricht aus den Worten von Boucicauts Vater [...] Boucicauts Frömmigkeit hat puritanischen [natürlich im übertragenen Sinn, A.P.] Charakter. Früh steht er auf und bringt wohl drei Stunden in Gebet zu [...] Er ißt mäßig und einfach, spricht wenig und meist über

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Mag nun die 'Entzauberung der Welt' mit dem immer intensiver werdenden Druck eines rationalistischen wirtschaftlichen Denkens zusammenhängen, wie Hauser es will, oder aber mit dem den neuen Konfessionen des 16. Jahrhunderts inhärenten Rationalismus in Beziehung zu setzen sein, so Weber62, die 'magischen' Elemente mußten in Spanien notwendigerweise fortdauern. Es ist daher nicht nötig, die These eines niedrigeren Kulturniveaus - und überhaupt dürfte wohl höchstens von einem niedrigeren 'Etiquettenniveau' gesprochen werden - der neuen Leserschicht im Deutschland des 16. Jahrhunderts aufzustellen, um die Glättung der Romanstruktur zu rechtfertigen63. Das Zurücktreten eines auktorialen Erzählers hat natürlich erst einmal damit zu tun, daß dieser seine herkömmlichen Funktionen nicht mehr ausüben kann, weil sie eben nicht mehr gefragt sind. Wen und worüber soll er nun mahnen und belehren? Die „Versachlichung der persönlichen Beziehungen"64 betrifft auch den auktorialen Erzähler, und dem immer stärker werdenden Bürgertum beliebt es, wenn es schon der Kunst Beachtung schenkt, sich eher verzücken als belehren zu lassen: „der Zuschauer steht selber auf der Bühne; der Gott, die Heiligen, die Tugend oder die Ritterlichkeit". Hinter der angeblichen Bescheidenheit konnte sich oft „eine Welt von Gewinnsucht und Gewalt" verstecken. (Huizinga, S. 98). Der Katholizismus an sich mag kein ernsthaftes Hindernis für die Entwicklung eines nach frühkapitalistischen Kriterien funktionierenden Systems dargestellt haben. Simón Ruiz selbst könnte hier als Beispiel dienen. Trotzdem mußte der Katholik mehr moralisch-religiöse Hindernisse überwinden und durfte auf geringere Genugtuung hoffen als der Reformierte: „der strenggläubige Katholik bewegte sich im Erwerbsleben fortwährend in der Sphäre oder an der Grenze eines Verhaltens, welches teils gegen päpstliche Konstitutionen verstieß und nur rebus sie stantibus im Beichtstuhl ignoriert oder nur durch laxe (probabilistische) Moral gestattet, teils direkt bedenklich, teils wenigstens nicht positiv gottwohlgefällig war", Weber, Max: Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991», S. 337 (vgl. ebenfalls S. 93, Anm. 50). 62

Weber: Die protestantische Ethik, S. 133 f.

63

So Voelkel, S. 307: „Das Adelspublikum bleibt, jedoch kommt eine neue Schicht hinzu, das Bürgertum, die zumindest dasselbe, nur einfacher liest".

64

Hauser, Sozialgeschichte, S. 271.

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Zuschauer ist zugleich die Szenerie [...] Das Ziel der künstlerischen Darstellung ist die totale Illusion"65. Ein jedwedes aus dem Werk weisende Element könnte nur störend wirken, weil es den durch die Kunst zurückeroberten Zauber brechen würde. Das gleiche Phänomen werden wir in England Anfang des 18. Jahrhunderts feststellen, konkret im Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Ende der zweiten Abschweifung. Im schon erwähnten Kapitel des Quijote - II, 31 - kommt nun der spontane Sancho auf den Einfall, eine Anekdote zu erzählen, aus der deutlich werden soll, wer im Falle einer Einladung den Ehrenplatz einzunehmen hat, der Gast oder der Gastgeber. Die kontinuierlichen Abschweifungen aber, zu denen Sancho neigt, lassen die Erzählung nicht zu einem Ende kommen, so daß sich Don Quijote, der ja seinen adligen Gastgebern in nichts nachstehen und Maß und Würde zeigen will, und der schon bei anderer Gelegenheit seinem improvisierten Schildknappen vorgeworfen hatte, zu unbekümmert das Gespräch mit ihm zu pflegen, ohne auf soziale Unterschiede zu achten66, im gleichen Maße wie der strenge Hauspfarrer über die persönliche und erzählerische Disziplinlosigkeit und Naivität Sanchos ärgert. Nur die Duques, auf eine andere Art so selbstsicher wie Sancho selbst, wissen sich sowohl über die unbekümmerte bäuerliche 'simplicidad' des improvisierten Schildknappen wie auch über den verärgerten Kirchen- und Ritterstand zu amüsieren. Die Abschweifung, die Digressio zeigt hier - ungeachtet des späteren gezielten Gebrauchs, den die lateinischen Rhetoriker, besonders Quintilian, von ihr machen - ihre volkstümlichen Wur65

Hauser, Sozialgeschichte, S. 277. Der Maler zeigt sich nicht im Bild bis zu den Las Meninas von Velázquez, 1656, Madrid, Prado, und dem Ruhm der Malerei, von Jan Vermeer van Delft (um 1660), Wien, Kunsthistorisches Museum, wo der Maler dem Betrachter den Rücken zeigt, die Kunst also wieder über den Künstler gestellt wird.

66

„Retírate tres o cuatro [pasos, A.P.] allá, amigo - dijo Don Quijote, todo esto sin quitarse los dedos de las narices - , y desde aquí adelante ten más cuenta con tu persona y con lo que debes a la mía, que la mucha conversación que tengo contigo ha engendrado este menosprecio". (I, 20, 395)

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zeln, und wenn hinter Sanchos Abschweifungen noch keine, sagen wir, eindeutigen weitgehenden Aussagen oder Absichten des Erzählers - oder des Autors Cervantes - deutlich werden, so ist das bei Laurence Sterne schon ganz anders: Die unzähligen Anläufe Trimms im 19. Kapitel des Tristram Shandy, die „History of the King of Bohemia and his seven Castles" zu erzählen, bringen hier doch klar zum Ausdruck, daß der Dialog, deswegen er seine Geschichte, kaum angefangen, immer wieder unterbrechen muß, wichtiger ist als der Diskurs und letztendlich die Form, die in der klaren Strukturierung der Rhetorik zum Tragen kommt. Und auch Sancho, der sehr wohl die Macht des Wortes kennt, ist ja, wie bekannt, nicht so naiv wie es den Anschein haben könnte: Die Anekdote, die er schließlich doch noch zu Ende erzählt, weist ja die übertriebenen Höflichkeits- oder Galanteriekundgebungen als lächerlich aus und zielt direkt auf die Aufstiegs- und Machtansprüche Don Quijotes und des Pfarrers. Die bedeutendste und wichtigste Aufgabe des Wortes ist, so Sancho: „decir lo que el hombre tiene en su corazón" (I, 25, 49), zu sagen, was dem Menschen am Herzen liegt, und diese Aufgabe wächst aus der Notwendigkeit der Kommunikation heraus, die sich über die Verbote des Manchaners, der ja genauso gerne plaudert wie sein Weggefahrte, wie über jegliche Verbote hinwegzusetzen vermag und auch hinwegsetzt. Die Lust am Wort, die Lust, sich mitzuteilen, ist Form- und Strukturprinzip in Cervantes' Roman, der in einer Zeit schreibt, in der sich mehr und mehr das Schweigen gebietet67. Wenn der Erzähler auf den Nutzen und die Unterhaltsamkeit des Erzählten aufmerksam macht68, auf die Lust, die der Leser beim Lesen doch empfindet, setzt er sich mit den Romanfiguren gleich, wenn diese den guten Erzähler loben oder selbst die Aufmerksamkeit der Zu67

Im Quijote lassen sich des öfteren Konstruktionen wie folgende finden: „Contó don Antonio al visorrey todo lo que Carrasco le había contado...", II, 65, 935, und nur zwei Seiten später: „Contó el renegado la industria y medio que halló para sacar a don Gregorio; contó don Gregorio los peligros...". In II, 62, 871: „Contó Don Quijote por menudo todo el suceso...", auf der nächsten Seite: „...quiero contar a vuestra merced una de las más raras aventuras...", zwei Seiten später: „En este tiempo les había contado Sancho muchas de las aventuras...". Um stilistische Unachtsamkeit dürfte es sich hier wohl weniger handeln.

68

Vgl. I, 9, 191; I, 28, 565; II, 3, 69 (hier im Munde Sansón Carrascos); II, 44, 599-601.

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hörerschaft durch einen 'buen cuento' zu gewinnen beabsichtigen69. Die wesentlichste Absicht zielt aber nicht auf Unterhaltung. Dies ist der Fall bei der gemeinsamen Lektüre der Ritterbücher, die zur Erntezeit im Gasthof des „ventero" stattfindet: Die kriegerischen und galanten Abenteuer der Ritter dienen zur Ablenkung von der Wirklichkeit, dienen dem spanischen evadirse im wahrsten Sinne des Wortes und kommen wie gerufen für „el efeto que vos decís de entretener el tiempo, como lo entretienen leyéndolos vuestros segadores. Porque realmente os juro que nunca tales caballeros fueron en el mundo, ni tales hazañas ni disparates acontecieron en él" (I, 32, 649). Wenn auch der 'ventero' ein Übermaß an Respekt für das gedruckte Wort zeigt und die wundersamen Taten für geschichtliche Wahrheit hält, zeigt er doch genügend gesunden Menschenverstand, um zu wissen „que ahora no se usa lo que se usaba en aquel tiempo" (I, 32, 650)70. Die Geschichten und Anekdoten, die von den Romanfiguren erzählt werden, sind insofern von Nutzen, als sie gegenwärtige Gegebenheiten von allgemeinem oder persönlichem Interesse be69

Vgl. I, 12, 241 y 245; I, 18, 363-364; I, 20, 387-388; I, 27, 555; I, 42, 826, das ich als Beispiel zitiere: „Y es de tal manera el gusto que hemos recebido en escuchalle, que aunque nos hallara el día de mañana entretenidos en el mismo cuento, holgáramos que de nuevo se comenzara"; vgl. außerdem II, 62, 871 etc.

70

Diese letztendlich doch zutreffende Einschätzung der Wirklichkeit, die der 'ventero' zeigt, rüttelt doch um einiges an der Dissertationsthese Hans-Jörg Neuschäfers von der 'enttäuschten Leseerwartung' - der Quijote ginge von einer Publikumserwartung aus, die sich am Titel orientiere und daher auf neue Rittertaten hoffe. Davon abgesehen, daß Neuschäfer keinen einzigen Beweis fiir seine These anführt, davon abgesehen, daß die Ritterbücher - wie bekannt - Ende des 16. Jhs. in Spanien praktisch aus der Leselandschaft verschwunden waren, davon abgesehen, daß es keine einzige Figur im Roman gibt - Don Quijote eingeschlossen (vgl. I, 26) - , die tatsächlich an die „caballeros andantes" und ihre exaltierten Liebschaften glaubte, müßte die 'gente rústica' des 16. und 17. Jhs. sehr wenig Sinn für Humor oder zu viel Naivität aufweisen, um zu glauben, daß sich nun den hochtönenden Titeln der Ritterbücher, dessen Helden mit ebenfalls hochtrabenden Namen unweigerlich aus Grecia, Tracia, Inglaterra... stammen, ein neuer Held namens Don Quijote - mit komisch-freundlicher Endung wie Pepote - , nun aus La Mancha, hinzugesellen wollte! Vgl. Neuschäfer, Hans-Jörg: Der Sinn der Parodie im Quijote, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1963.

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handeln. Die Geschichte der Verrückten, die von den „rebuznos", die Geschichte der sinnesfrohen Witwe und ihren leidenschaftlichen derben Geliebten, sogar die artifiziellen und formal-erstarrten Liebesgeschichten oder die anscheinend absurde (Kinder-) Geschichte der „pastora Torralba" - gescheiterter Versuch Sanchos, eine Worttherapie anzubringen, um die Sorgen seines Herrn zu lindern - , alle verbergen sie in sich eine Lehre oder Weisheit über menschliche Angelegenheiten: Das Beispiel ist Exempel, nützlich und vergnüglich zugleich, „consejas, cuento o historia" (I, 20,392).

Über diese zwei Ebenen des prodesse et delectare hinaus gibt es aber noch eine dritte, die diese beiden umfaßt, eine, die den Quijote von allen Werken seiner Zeit unterscheidet und ihn in eine humanistische Tradition einreiht, welche sich mit der Zeit als unausrottbar erweisen sollte: Der Austausch von Erzählungen und Anekdoten, von Lehrhaftem und Vergnüglichem stellt zuerst und vor allem soziale Kommunikation dar, die sich aus einer schier unendlichen Neugier für das menschliche Leben und für das menschliche Leben in Gesellschaft speist71. Es muß betont werden, daß diese unbedingte Notwendigkeit, sich mitzuteilen, einen Austausch verfolgt, der dogmatische, belehrende, pädagogische oder zwingende Bestreben, die auf einem autoritären und/oder hierarchischen Verhältnis füßen, ausschließt. Dies ermöglicht, daß sich die Figuren frei ausdrücken oder zuhören können, ohne Tadel zu üben72. Nur wenn, wie im Falle des autoritären Wortes des Klerikers, die individuellen (geistigen) Freiheitsräume beschnitten werden sollen, fühlt und sieht sich das Subjekt im Quijote gezwungen, jedwede Bedenken und Achtung bei Seite zu lassen und seine un71

Die Möglichkeit, in einer Eremitage zu übernachten, wird sofort verworfen, um dem Wanderer in die „venta" zu folgen, „donde os contaré maravillas", da „él [Don Quijote, A.P.] era algo curioso y siempre le fatigaban deseos de saber cosas nuevas", II, 24, 365; das Einsiedlertum wird sogar mit dem Tod gleichgesetzt, II, 74, 1034. Die Wahl zwischen transzendentaler Einsamkeit und erdverbundener Gemeinschaft fällt ohne jegliche Zweifel und aus Gründen, die im Prinzip trivial erscheinen könnten - Neugier - sofort zugunsten letzterer aus.

72

„Siempre, Cipión, te he tenido por discreto y por amigo, y ahora más que nunca, pues como amigo quieres decirme tus sucesos y saber los míos...", Coloquio que pasó entre „Cipión" y „Berganza", in: Cervantes Saavedra, Miguel de: Obras completas (2 Bde.), Aguilar, Madrid 1990, Bd. 2, S. 263.

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antastbare persönliche Freiheit zu behaupten. Unabhängig vom sozialen Rang und unabhängig vom Glaubensbekenntnis behalten die Figuren im Quijote stets eine persönliche Würde, die nicht bereit ist, die Erniedrigung seitens der Macht zu dulden. Streiche, Schläge, böse Späße und Gewalt, ja dies alles müssen die Figuren des Werks aushalten, aber keine Erniedrigung, es sei denn, daß sie freiwillig und daher erhebend ist73. Diese diskrete Schweigsam-; keit, wenn es darum geht, Glauben und Ansichten der Romanfiguren zu bewerten, charakterisiert auch die Erzählhaltung(en) im Quijote. Für die in dieser Arbeit verfolgten Zwecke ist es angebracht, einen einzigen Erzähler zu berücksichtigen: nämlich den, der über Cide Hamete Benengeli und dem angeblichen Übersetzer steht. Dieser ist, die wenigen Fälle ausgenommen, in denen er etwas am Rande anmerkt, tatsächlich nur Ubersetzer. Cide Hamete dient erstens als Parodie der Chronisten der Ritterbücher, die Cervantes erlaubt, die Fiktion des aufgefundenen Manuskripts beizubehalten; zweitens lassen sich durch ihn erzähltechnische Aspekte rechtfertigen, z. B. Auslassungen; drittens dient er als vorgeschobene Verweisperson, wenn die Beziehung zwischen dem Mitgeteilten und dem Autor Cervantes zu offensichtlich zu werden droht, z. B. im Falle des Lamento über die Armut (II, 44). Es ist also der dritte Erzähler, oder der zweite Autor, - eine Mischung aus Herausgeber, Forscher und Schriftsteller - , der zum ersten Mal in I, 9 auftaucht, wo auch der zweite Teil des Werks beginnt, derjenige, der die Fäden in der Hand hält und dem wir glauben müssen oder nicht, wenn er behauptet, daß es einen arabischen Autor gäbe, dessen Kommentare er dann mit einfließen lassen kann oder nicht, sie kommentieren oder einfach wiedergeben kann. Wenn es nur um die Auswahl des Stoffes ginge, die dieser zweite Erzähler vornimmt, könnten wir glauben, daß wir es einfach mit einem Erzähler-Herausgeber zu tun hätten. Er widerspricht sich aber so oft und so augenscheinlich, es fällt ihm so schwer, eine einmal gewählte 73

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Mit dieser einzigen Bedeutung wird das Wort „humillación" in beiden Teilen des Quijote verwendet. Die freiwillige Erniedrigung, in der sich religiöse mit ästhetisierenden Elementen und einer gefiihlsgetränkten pseudosentimentalen Selbstbespiegelung vermengen, die freiwillige Erniedrigung als Zeichen persönlichen und ständischen Adels hat eine Tradition, die sich bis ins Mittelalter verfolgen läßt. Vgl. Huizinga, S. 50 ff.

Erzählperspektive beizubehalten, daß die Illusion der Fiktion immer wieder aus Gründen, die nicht genannt werden, zerstört wird. Gleich am Anfang des Werks will sich die Verwendung des Plurals in I, 1, 53 („autores que deste caso escriben"), in I, 1, 64 („los autores desta tan verdadera historia") und erneut in I, 2, 73 ff., wo verschiedene Meinungen über die Reihenfolge, in welche die Abenteuer Don Quijotes zu setzen sind, gegenübergestellt werden, nicht mit dem erzählerischen Singular des Prologs reimen, der nicht mit Cide Hamete zu identifizieren ist und der erneut als einziger Erzähler am Ende des Romans auftauchen wird. Der Erzähler im Prolog, der geradezu dazu verleitet, ihn mit Cervantes zu identifizieren, deutet in keiner Weise an, daß es mehrere Autoren geben könnte. Der 'erzählerische Widerspruch' besteht also von Anfang an. Er ist direkt und flagrant, und es wird nie versucht, zu verschleiern, daß ein 'Spiel' mit den Erzählern oder Erzählhaltungen begonnen hat. Es ist aber gerade das Offensichtliche an diesen Manipulationen, was das Erzählverfahren, das sich sowohl auf der a) innertextuellen Ebene als auch b) hinsichtlich der Beziehung Ich - Welt als bestimmend erweist, verschleiert. Bevor nun zu einer detaillierten Analyse der Funktionen, die der Erzähler im Quijote ausübt, übergegangen wird, sei folgendes vorangestellt: Die Behauptung Wolfgang Kaysers, daß sich der auktoriale Erzähler dadurch auszeichne, daß er in einen Dialog mit dem Leser trete, ist nicht auf den Quijote anwendbar. Entweder muß die Definition des auktorialen Erzählers nach Stanzel geändert werden, oder aber es gibt im Quijote keinen auktorialen Erzähler. Cervantes74 spricht zum Leser in den zwei Prologen von 1605 und 1615. In den Passagen, in denen es den Anschein hat, daß der Erzähler Kontakt zum Leser aufnimmt, wird nicht um die Meinung des 'verehrten' Lesers über diese oder jene Figuren oder Gegebenheiten gebeten, geht es nicht darum, den möglichen Fragen des Publikums zuvorzukommen und sie zu beantworten, bevor sie gestellt werden, oder das Publikum zu unterhalten und zu amüsieren. Von der klassischen captatio benevolentae abgesehen und der von Cide Hamete gestellten Bitte, „Tu, letor, pues eres 74

Sagen wir, daß Erzähler und Autor im Prolog übereinstimmen; weder begrifflich noch methodologisch bereitet dies Schwierigkeiten.

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prudente, juzga lo que te pareciere, que yo no puedo ni debo más" (II, 24, 361-362), die in einem besonderen Kapitel steht, von dem noch die Rede sein wird, zeigt sich der Erzähler, wenn er sich denn nun zeigt, vor allem um Erzähltechnisches und um Inhaltliches besorgt, das v. a. mit der Anordnung des Geschehens, d. h. mit der Struktur zusammenhängt. Es handelt sich also vorwiegend um romantechnisch-immanente Erörterungen oder Richtigstellungen, um Anmerkungen, die künstlerische Verfahrensweisen zum Thema haben. Inventur und Analyse der Momente, in denen sich der Erzähler - oder die Erzählhaltung - auf irgendeine Weise bemerkbar macht, sei es direkt in der ersten Person, sei es durch 'verräterische' Verbformen75, sei es, daß sich der Erzähler in der ersten Person Plural mit einbezieht76, sei es, daß Kommentare zu Auslassungen oder Ergänzungen von Cide Hamete oder dem Übersetzer hinzugefügt werden, weisen folgende Ergebnisse auf 7 : Die 'Einmischungen' des Erzählers entsprechen: 1.- Rhetorischen Formeln: Im Sinne der 'klassischen' Rhetorik geht es darum, die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen und ihn zu bitten, daß er sich milde dem Autor gegenüber zeige, der ja selbst auf seine eigene Unzulänglichkeit aufmerksam macht. I, 9, 191: I, 9,198: II,17,258:

reine captatio benevolentae. Unmöglichkeit, etwas mit Worten darzustellen. id.

75

„Y con este temor con que casi cada años nos toca arma, estaba puesta en ella toda la cristiandad...", Verbform im Präsens, die innerhalb einer syntaktischen Struktur der indirekten Rede vorkommt, in der die restlichen acht in ihr enthaltenen Verbformen die syntaktische Konkordanz beibehalten (II, 1, 32); ähnlich in I, 28, 576: „«Si no reparas más que en eso, bellísima Dorotea" (que este es el nombre desta desdichada), dijo el desleal caballero...»", (meine Hervorhebung).

76

„gozamos ahora en esta nuestra edad...", I, 28, 565.

77

Die Anordnung sagt nichts über die Tragweite aus.

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II, 8, 127: 11,44,603: 11,45, 618-619: II, 48, 664:

Versprechen, große, wunderbare oder lustige Taten zu erzählen. id. Anrufung an die Sonne, Eingeständnis eigener Schwäche. Cide Hamete bedauert, nicht Augenzeuge von bestimmten Geschehnissen gewesen zu sein.

2.- Wahrheitsformeln: Der Erzähler tritt aus dem Geschehen heraus, um den Wahrheitsgehalt des Dargestellten oder Beschriebenen zu unterstreichen und um Cide Hamete für seine Detailtreue zu loben: I, 16, 313; II, 38, 535; II, 40, 551-552; II, 47, 656; II, 54, 694. Zu diesem Punkt gehören auch Formeln wie „como él después confesó", „después se supo que", die auf eine nicht genauer präzisierte, aber auf jeden Fall auf eine nach dem entsprechenden Geschehen gelegene Zukunft verweisen, die dem Erzähler-Chronist unbedingt glaubwürdige Information in die Hände gespielt hat: I, 26, 529; I, 28, 568; II, 26, 389; II, 26, 397; II, 32,468. 3.- Zukunftsformeln: Der Erzähler weist auf ein zukünftiges Moment der Erzählung hin; es handelt sich hierbei um Formeln wie: „como se muestra en el capítulo siguiente", „pero ello se dirá a su tiempo", die sich v. a. im zweiten Teil des öfteren wiederholen: I, 27, 561; II, 34, 506; II, 37, 533; II, 49, 693; II, 62, 889; II, 68, 969. 4.- Spannungsformeln: Der Erzähler weist darauf hin, daß er die Erzählung zu unterbrechen hat, weil er entweder das Kapitel als beendet ansieht oder aber einen Szenenwechsel vorzunehmen hat: I, 8, 183 (berühmte Szene, die Goya später sehr ähnlich malen wird, in der Don Quijote und der 'vizcaíno' mit gegeneinander gerichteten und gehobenen Schwertern sozusagen 'eingefroren' werden); II, 17, 25725878; II, 26, 403. 78

Natürlich kreuzen oder ergänzen sich hier und dort die Funktionen, wie dies hier der Fall ist: Don Quijote steht vor dem Löwen, plötzlich wird

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5.- Vortragsformeln ('fórmulas de oralidad'): Es handelt sich um Formeln, die auf eine Tradition der mündlichen Erzählung verweisen, welche dem Erzähler bestimmte Regeln und Wendungen auferlegt, da er ein Publikum vor sich hat. Der 'volkstümliche' Roman weist in diesem Augenblick als Genre über sich hinaus und verrät eine seiner Quellen: Die öffentliche, mündlich mitgeteilte Erzählung (Nachbarn, Marktplatz). Mittels dieser beiderseitigen Beziehung behauptet sich der Roman als neues Genre, das in sich alte Traditionen aufnimmt, bearbeitet und in die Zukunft rettet. Jedesmal, wenn der Erzähler im Quijote alltagssprachlich-humoristisch von einer dieser Formeln Gebrauch macht, widmet er sie einem bestimmten (Lese-) publikum und beschwört zugleich eine Situation herauf, die nicht dem geschriebenen Wort entspricht, die aber auch im Quijote ihre Darstellung erfährt, nämlich im Marionettenspiel von don Gaiferos und Melisendra, das der von Maese Pedro angestellte Junge erzählt (I, 26). Erzähler im Quijote

Erzähler im retablo

„Los autores desta verdadera historia...", I, 1,64.

„Esta verdadera historia...y aún hay autores que dicen que...", II, 26, 389.

„No es bueno que dicen que...", II, 18, 277; „Olvidáseme de decir que...", II, 25, 378;

die Handlung unterbrochen, denn man findet keine Worte, um die Tollkühnheit Don Quijotes zu beschreiben: Spannung und captatio zugleich.

50

„Pero veis aquí cuando a deshora...", II, 41, 561; „Veis aquí a deshora entrar por la puerta de la gran sala a dos mujeres...", II, 52, 729.

„y vean vuesas mercedes allí como está jugando a las tablas don Gaiferos...", II, 26, 389; ,,Y aquel personaje que allí asoma...", II, 26, 389.

„pero todo esto fueron tortas y pan pintado para lo que ahora diré...", II, 63, 902.

„que no parece que le quiere dar con el ceptro media docena de coscorrones...", II, 26, 389.

„y así, estén vuestras mercedes atentos y oirán un discurso verdadero...", 1,38, 761. 6.- 'Magischen' Formeln: Mit dieser Bezeichnung beziehe ich mich auf die Kommentare des Erzählers, die in parodistischer Nachahmung der Ritterbücher dem Geschehen einen Hauch von Heimlichkeit verleihen wollen, indem sie auf unter einer Kirche verborgene Manuskripte verweisen, in denen die Geschichte des kastilischen Hidalgos aufgezeichnet ist, eine Geschichte, die dann teils auf dem Toledanischen Markt zu finden, teils in den „archivos manchegos" zu entdecken ist, in „lengua arábiga" geschrieben, durch apokryphe Zusätze verunstaltet...: I, 8, 183; I, 52, 964 f.; II, 5, 85. 7.- Parodistischen Formeln: Parodie des Rittertums, II, 17, 258-259 (mittels Cide Hamete), des Erzählers Cide Hamete und seines Übersetzers, II, 27, 404, des von Don Quijote erreichten Ruhmes, II, 74,1041.

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8.- Verkrusteten Formeln ('fórmulas fósiles'): es handelt sich um Formeln wie „cuenta la historia que", die ich schon als typisch für das mündliche Erzählen bezeichnete, die sich aber von diesen unterscheiden, weil sie im Quijote von 1615 als stereotype Anfangssätze der einzelnen Kapitel verwendet werden (am Ende des Kapitels heißt es meistens „como se verá adelante"). Diese Formeln nehmen mit dem Fortlauf der Erzählung zu, ohne daß eine Regelmäßigkeit auszumachen wäre: II, 31; II, 33; II, 47; II, 50; II, 56; II, 71; II, 73. 9.- Übergangsformeln: Schon in I, 26, als sich Don Quijote und Sancho in der Peña Pobre trennen, sieht sich der Erzähler gezwungen, seine Aufmerksamkeit zu teilen: „Y será bien dejalle [Don Quijote, A.P.] envuelto entre sus suspiros y versos, por contar lo que le avino a Sancho Panza en su mandadería" (I, 26, 529); I, 44, 864: „pero dejémosle aquí [...] y volvámonos atrás cincuenta pasos...". Besonders aber von dem Augenblick an, in dem Sancho seine Regierungsgeschäfte aufnimmt (II, 44) während sich Don Quijote weiterhin bei den Duques aufhält, sieht sich der Erzähler veranlaßt, diese Übergangsformeln zu verwenden79, - „Dejamos al gran Don Quijote", „nos está llamando el gran Sancho Panza" - , um abwechselnd eine zeitliche Simultaneität bei räumlicher Divergenz umspannen zu können. Sobald Sancho der Macht abgesagt hat und Ritter und Schildknappe wieder gemeinsame Wege gehen, erübrigen sich selbstverständlich diese Formeln: II, 44; II, 46-50; II, 52; II, 55-56. 10.- Verdeutlichungsformeln ('fórmulas aclaratorias'): Der Erzähler springt zu einem früheren Zeitpunkt der Geschichte, um den Knoten der Geschehnisse aufzulösen. Das in diesem Sinn berühmteste Kapitel hat natürlich mit dem Diebstahl von Sanchos Esel zu tun, da der Erzähler ausfuhrliche Informationen über Art und Anlaß des Diebstahls erst sehr viel später nachzutragen weiß. Zusätzliches 79

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Formeln, die auch in den Ritterbüchern sehr gern verwendet wurden. Hiervon später.

über die Identität Maese Pedros erfahrt man auch erst im nachhinein in II, 27, 406 ff., während in II, 50, 694 ff. „se declara quién fueron los encantadores y verdugos que azotaron a la dueña y pellizcaron y arañaron a Don Quijote", und in II, 62, 886 das Geheimnis der „cabeza encantada" gelüftet wird. 11.- Ausrufformeln ('fórmulas exclamativas'): Der Handlungsverlauf wird unterbrochen, um - normalerweise durch Cide Hamete - Wut, Resignation oder Freude in Beziehung zu allgemeinen Themen wie dem unaufhaltsamen Fortgang der Zeit oder der Armut, 'azote del hidalgo', auszudrücken: II, 44, 608 ff.; II, 53, 742 ff. 12.- Rechtfertigungsformeln: Diese Rubrik ist mit Absicht als letzter Punkt aufgeführt, weil sie erlaubt, eine Brücke zum ästhetisch-künstlerischen Bewußtsein Cervantes' und somit zur Problematik der Erzählhaltung zu schlagen, die ja das innovative Element bezüglich des vorangegangenen künstlerischen Tuns darstellt. Als seit der Veröffentlichung des ersten Teils des Quijote schon fünfzehn Jahre vergangen waren und sein Autor mehr als eine scharfe Kritik zu spüren bekommen hatte, ging Cervantes daran, den zweiten Teil zu beenden. Als wollte er seinen Kritikern keine zweite Gelegenheit für Vorwürfe bieten, ist es gerade in diesem zweiten Teil, wo der Erzähler immer wieder hervortritt, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Mal gibt er darüber Auskunft, warum denn nun bestimmte Auslassungen angebracht sind, II, 16, 267, mal darüber, warum das Szenario gewechselt wird, II, 26, 403, dann über Sanchos ihm doch nicht zustehende Art sich auszudrücken, II, 5, 85 und 91, und sogar über die Unsicherheit, ob Don Quijote sich „arrimado a un tronco de una haya o de un alcornoque" befinde, wird Rechenschaft abgelegt, II, 68,965. Durch ein unpersönliches „Dicen que" eingeführt, läßt sich die in diesem Sinne weitschweifigste Erörterung über den Einschub der Novellen des „Curioso impertinente" und des „Capitán cautivo" aus, II, 44, 599-601. Weitere Rechtfertigungsformeln finden sich in II, 43, 588 (der Er-

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Zähler rechtfertigt, daß sich Don Quijote eines bestimmten Vokabulars bedient), II, 60, 852 (die Geschichte von Claudia Jeronima hatte aufgrund der zerstörerischen Macht der Eifersucht notwendigerweise tragisch auszugehen), II, 74, 1040-1041 (Notwendigkeit, daß Don Quijote stirbt und der Ortsname „de un lugar de la Mancha" im Verborgenen bleibt). Hiermit glaube ich die wesentlichsten Momente, in denen sich der Erzähler als unterscheidbare Stimme - oder die Erzählhaltung als vom Geschehen Unterscheidbares - zu erkennen gibt, genannt und die entsprechenden Funktionen in Anzahl und Beschreibung erschöpft zu haben. Es ist nicht zu übersehen, daß der Erzähler im Quijote von 1615 öfter hervortritt als im ersten Teil von 1605. Wenn einerseits Cervantes sicherlich von sich selbst gelernt und erzähltechnische Möglichkeiten im Verlauf der Niederschrift entdeckt hat, so ist andererseits auch darauf hinzuweisen, daß eine Erstarrung bestimmter Erzählformeln stattfindet, so daß diese sich inhaltlich entleeren, um nur noch eine verbindende Funktion einzunehmen80. Folgt man Wolfgang Kayser und versteht unter Dialog eine selbstsichere Kommunikation zwischen Erzähler und Leser über die (verwirrten) Köpfe der Romanfiguren hinweg, muß der Schluß gezogen werden, daß im Quijote wohl nie ein Dialog mit dem Leser stattfindet, ja, noch nicht einmal Kontakt mit ihm aufgenommen wird. Ein Einverständnis wird um so weniger möglich, da ja der Erzähler selbst nicht weiß, wie er denn nun zu seinen Figuren, und besonders zu Don Quijote und Sancho, stehen soll. Die eindeutigste Haltung ist zumindest zweideutig, denn sie schwankt zwischen Befürwortung und Widerspruch, zwischen Mitleid und 'burla'. Der Erzähler ist auch nie bereit - seine Meinungen über den Hauspfarrer der Duques ausgenommen - , seine maßvolle, di-

80

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Ich enthalte mich, der Hypothese Fues' über Neugebauers Erzählhaltung das Wort zu reden und bestimmten Einmischungen und Ausführungen des Erzählers eine 'Krückenfunktion' zuzuschreiben. Selbst wenn dies in einigen Fällen den Anschein hat, z. B. im Falle des in Toledo gefundenen Manuskripts, erweist es sich als praktisch unmöglich, von der Intuition zum Beweis überzugehen.

stanzierte Haltung aufzugeben und definitive Urteile zu fallen81. Und gerade dies bietet dem Leser die Möglichkeit, einen breiten Raum im Werk einzunehmen, wie folgendes Beispiel zusätzlich verdeutlichen mag. In 1,19, 366 ff. folgt der Erzählvorgang vier Etappen: 0.- Ausgangspunkt: Der Dialog zwischen Don Quijote und Sancho wird beendet („En estas y otras pláticas les tomó la noche en mitad del camino...", S. 366), womit der Erzähler daran geht, 1.- eine möglichst 'objektive' Zustandsschilderung, eine 'composición de lugar' zu liefern: „Yendo, pues, desta manera, la noche escura, el escudero hambriento y el amo con gana de comer", S. 367. Im Anschluß 2.- geht die Perspektive von außen nach innen, so daß uns die Gedanken der Figuren mitgeteilt werden: „creyendo Sancho que...", S. 367. Diese Warte nicht verlassend 3.- wird erneut die Atmosphäre beschrieben, aber nun in gefühlsmäßigen Termini aus der Innenperspektive der Figuren. Hier kommt nun ein neues Element hinzu, das wir allgemein als 'Zusammentreffen mit dem Anderen' bezeichnen, und das 4.- objektiv in seiner physischen Erscheinung oder Materialität beschrieben wird: „veinte encamisados, todos a caballo, con sus hachas encendidas...", S. 368, und subjektiv 81

Abwertende Adjektive im Munde des Erzählers - „...y luego con algunas ridiculas ceremonias le entregaron las llaves" (II, 45, 620) - sind sehr selten. Im Gegensatz dazu lassen sich sehr viele parodistische Bezeichnungen wie „el gran Don Quijote" oder „el gran Sancho Panza" finden, die meistens eine 'liebevolle Neckerei' darstellen und nicht vom anfänglichen parodistischen Ton des Romans abweichen. Daß der Erzähler Don Quijote als einen 'loco-cuerdo' oder einen 'cuerdo que tiraba a loco' und Sancho als einen 'mentecato-discreto' bezeichnet, verstärkt einzig die immer wiederkehrende Ambiguität des „baciyelmo".

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nach dem Eindruck, den die Erscheinungen auf die Figuren machen: „Pasmóse Sancho en viéndolas, y Don Quijote no las tuvo todas consigo...", S. 367, „remató el ánimo de Sancho Panza...", S. 368, „Figurósele [a Don Quijote, A.P.] que la litera eran andas donde debía ir algún mal ferido o muerto caballero", S. 369, womit schließlich zur „aventura" übergegangen wird, zur freien Begegnung von Individualität und d. h. von Subjektivität, zuerst mittels des Dialogs, dann, als dieser scheitert, in Form von Gewalt, die aus dem Wahn, aus der Verkehrung der Realität seitens Don Quijotes, hervortritt. In dieser erzählerischen Struktur von Dialog - Atmosphäre Subjektivität - Zusammenkunft - Dialog, die sich erneut in I, 20, 380 ff. wiederholt, wo 'der Andere' durch das Poltern einer maschinellen Vorrichtung ersetzt ist („mazos de batán")82, achtet der Erzähler, der sehr wohl die ganze Szene beherrscht und weiß, was die Figuren denken und fühlen83, behutsam darauf, sich nicht mit einigen an den Leser gerichteten Worten oder mit einem Adjektiv, das von seiner eigenen Subjektivität aus die Subjektivität der Figuren - Angst - bestimme oder bewerte, einzumischen. So wie der Erzähler die Umgebung schildert, muß diese bestimmte Reaktion Don Quijotes und Sanchos folgen, weil sie die menschlichste ist. Dies vorausgesetzt und Szene, Handlung, Gedanken frei von erzählerischen ('narratorialen') Interferenzen, bleibt ein breiter Raum offen für die Kommunikation zwischen den Figuren plus dem Ganzen plus der Subjektivität des Lesers. Der SchriftstellerErzähler zeigt sich hier sicher in seinem Glauben an die evozierende Kraft seines Wortes: Aus seiner Stärke wächst seine 'erzählerische Bescheidenheit'84. 82

Zum Thema der 'Maschine' im Quijote vgl. Malter, Rudolf: Le moulin comme machine imaginaire. Réflexions philosophiques sur l'angoisse de l'homme dans le monde de la technique (enpartant de Cervantes et Wilhelm Busch), in: Études Philosophiques 1985, S. 113-124.

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Für die Mitteilung von innersten Gedanken vgl. II, 31, 447; II, 48, 661 f.; II, 56, 784-785 usw.

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In nur ganz wenigen Fällen empfindet der Erzähler die Notwendigkeit, die gesuchte Wirkung explizit auszudrücken: „...y así, se quedó toda aquella noche con la celada puesta, que era la más graciosa y extraña figura que se pudiera pensar", I, 2, 79; „Aquí Cide Hamete hace un paréntesis y dice que por Mahoma que diera por ver ir a los dos así

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Schon im Quijote von 1605 läßt sich eine deutliche Neigung des Erzählers bemerken, sich zurückzuziehen, damit die Figuren Autonomie erlangen können. Das erste Symptom hierfür ist, sagen wir, der 'Irrtum' des Erzählers in I, 20, 397, der Cide Hamete den Schildknappen Sancho als „bien nacido, y, por lo menos, cristiano viejo" loben läßt. Von nun an werden sich die 'Fehlgriffe' des arabischen Autors Cide Hamete - der es soweit bringt, als „catölico cristiano" (II, 27, 405) mit seinem Wort zu bürgen häufen, so daß die Inkongruenz der Perspektive die Ungewißheit, aber auch die Potentialität des ersten „La del alba seria..." verstärkt. Es handelt sich also um Möglichkeiten, die sich als Ungewißheiten verkleiden (oder tarnen?), denn daß der Erzähler viel mehr weiß, als er mitteilen möchte, darüber sollte von Anfang an kein Zweifel bestehen: „...de cuyo nombre no quiero acordarme"85. Bei einer Gelegenheit, bei der sich Don Quijote allein befindet (I, 26), und auch in dem Augenblick, in dem wir dem verzweifelten Sancho zusehen dürfen, wie er allein am Wegesrand versucht, eine Flunkerei für den verliebten Hidalgo auszuhecken (II, 10), zeigen die Figuren ihre verstecktesten Gedanken. Nur in einigen wenigen Momenten, in denen die vollständige Intimität gewährleistet ist, offenbaren die Figuren, daß sie sich der Fiktion, aus der ihr 'Leben' besteht, bewußt sind: Don Quijote als ein „cuerdo", der von der Literatur ausgehend seine eigene Tollheit in Szene setzt, Sancho als ein Schelm, der den größenwahnsinnigen und verzweifelten Narzißmus seines Herrn ausnutzt, um der Zwickmühle, in der er sich durch fremde und eigene Schuld befindet, zu entrinnen86. Und es ist gerade hier, wo der Erzähler, der kein einasidos y trabados desde la puerta al lecho la mejor almalafa de dos que tenía", II, 48, 664; normalerweise handelt es sich um Parodie: „Donde se concluye y da fin a la estupenda batalla...", I, 9, 188, oder Verstärkung: „¡Oh, válame Dios, y cuán grande fue el enojo que recibió Don Quijote...Digo que fue tanto, que con voz atropellada...", I, 46, 889, meistens eine Mischung aus beidem: „haciendo [Sancho, A.P.] sobre él el más doloroso y risueño llanto del mundo...", I, 52, 958 (meine Hervorhebung). 85

Vgl. ebenfalls I, 44, 867: „Entre otras cosas que el barbero decía en el discurso de la pendencia, vino a decir...", wo der Erzähler eine Auswahl nach eigenen, dem Leser nicht mitgeteilten Kriterien vornimmt.

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Zum narzißtischen Typus vgl. Hauser, Manierismus, S. 119-129. Gerade wenn es darum geht, eine der wichtigsten und innovativsten Er-

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ziges Wort der Beurteilung über die Gedanken der zwei Protagonisten verliert und die Szene wie der Leser selbst als eine Art „convidado de piedra" betrachtet, doch seine absolute Macht unter Beweis stellt. Trotzdem relativiert er sofort seine anscheinende Allwissenheit und somit seine Macht: in I, 26, indem er sagt: „y así fue la verdad, como él después confesó", S. 529; in II, 10, 160, indem er zweifelt „sobre tres pollinos, o pollinas, que el autor no lo declara"87. Gegenüber diesen immer wieder erneuerten Kundgebungen der Ungewißheit über Fakten, die völlig unwichtig sind - eine besonders kunstvolle Art, sich vom Imaginären zu distanzieren und auf den Wahrheitsgehalt des Erzählten hinzuweisen - , müssen die Vorstellungen und Gedanken der Figuren, und diese selbst, echt und authentisch erscheinen. Anders ausgedrückt: Der Erzähler gibt Macht ab, er zeigt sich zugunsten seiner Figuren unsicher, damit diese, und damit der ganze Roman, an 'Leben' gewinnen. Der Quijote gewinnt, Cervantes' Fähigkeit, authentische Dialoge zu schreiben, nun außer acht gelassen, seine Wahrscheinlichkeit und Authentizität, seine 'credibilidad y verosimilitud', aus der Brüchigkeit der Erzählhaltung. Um zu ermöglichen, daß sich die Figuren frei in der Gesellschaft bewegen, wird sogar jedem von ihnen die Funktion, die eigentlich dem Erzähler zukommt, gewährt und übertragen: „Cuatro hombres vienen a caballo, a la jinescheinungen der modernen europäischen Literatur zu analysieren, beschränkt sich Hauser darauf, einen psychologischen freudianischen Ansatzpunkt heranzuziehen und von der „Entfremdung des manieristischen Zeitalters" zu sprechen. Hauser schreibt: „Die bedeutendste kollektive Leistung der manieristischen Literatur besteht zweifellos in der Schöpfung einer Galerie narzißistischer Charaktere, die nicht nur die großartigsten ihrer Art sind, sondern auch in ihrer Zahl und Vielfalt die Produktion jedes anderen Zeitalters übertreffen", S. 119, womit er natürlich gegen den ihm eigenen literaturwissenschaftlichen Standpunkt Literatur und Kon('mit')-text auseinanderhält, um mit einem zuerst religiösen Terminus - „Schöpfung" - , und dann mit einem marktökonomischen - „Produktion" - die generative Kraft, die Hauser in dieser Periode in der Literatur ausmacht, praktisch exklusiv in der Subjektivität des Schriftstellers anzusetzen. Hier wird ein Problem der Genese von großartiger Literatur deutlich. 87

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Ähnlich in I, 4, wo, nachdem uns mitgeteilt wurde, was Don Quijote so für sich halblaut spricht, schnell wieder eine Einschränkung folgt: „descubrió Don Quijote un grande tropel de gente, que, como después se supo...", S. 110.

ta, con lanzas y adargas, y todos con antifaces negros; y junto con ellos viene una mujer vestida de blanco, en un sillön, ansimesmo cubierto el rostro, y otros dos mozos de a pie", teilt der 'ventero' von der Tür aus seinen Kunden mit (I, 36, 722). Es ist diese vorgetäuschte Ohnmacht des Erzählers, diese 'erzählerische Großzügigkeit', die sich durch ein Spiel von Annäherung und Distanz, von allumfassender Kenntnis und elementarer Ignoranz ausdrückt, welche das Wesentlichste der Erzählhaltung im Quijote ausmacht88. Das aber wirklich Gewichtige dieser dualistischen Technik liegt darin, daß sie mit dem ambivalenten und daher menschlichen Charakter der zwei Hauptfiguren übereinstimmt, der sich immer zwischen der volkstümlichen oder rhetorisch-akademischen Weisheit und der dümmsten Engstirnigkeit in Form von bäuerlicher Naivität oder eitler Anmaßung bewegt. Die Schwäche des Erzählers macht also nicht nur seine Stärke aus, sondern bedeutet zugleich ein offenes Tor, durch das der Leser als 88

Diese Feststellung findet sich schon bei El Saffar, Ruth: Distance and Control in Don Quixote: A Study in narrative Technique [Diss.], University of North Carolina, Chapel Hill 1975, die sich allerdings, dem Titel ihrer Arbeit gemäß, auf eine strikt immanente Analyse beschränkt, ohne den Versuch zu unternehmen, ihre Ergebnisse in einen breiteren Kontext zu stellen. Die Angriffe seitens der Figuren gegen den 'autor-historiador' im zweiten Teil des Romans haben, sieht man vom Unterhaltsamen ab, eine ähnliche Absicht und Wirkung wie die oben geschilderte. Ich nehme Abstand von der Theorie der „Unzuverlässigkeit des Erzählers", die z. B. Weich, Horst: Don Quijote im Dialog [Diss.], Wissenschaftlicher Verlag Richard Rothe, Passau 1989, als Grundlage dient. Diese Behauptung hat nur dann Sinn, wenn man eine traditionelle Perspektive beibehält und sich am Erzähler der Ritter- oder Schelmenromane orientiert. Gerade daher rühren aber die Schwierigkeiten Weichs, diese Bezeichnung mit einerseits seiner eigenen Festellung, daß der Erzähler im Quijote sich doch völlig frei gebe, weil er als 'autor segundo' die Regeln festlege, gegen die er gerade selbst immer wieder verstößt, und andererseits mit dem Satz der „einen Wahrheit vom Erzähler-Ich" (S. 223), die dokumentarisch verbürgt wird, zu harmonisieren. Da Weich nicht im geringsten Uber die parodistische und humoristische Absicht dieser vermeintlichen „pruebas", die der Erzähler vorlegt, stolpert, dürfte wohl seine 'Dokumentengläubigkeit' weit über der damaliger Leser liegen (,,...y lo que he hallado escrito en los anales de la Mancha, es que 61 anduvo todo aquel dia, y, al anochecer, su rocin y 61 se hallaron cansados y muertos de hambre", I, 2, 73: Das Großartige der Archive steht in keiner Beziehung zur Belanglosigkeit des Aufgezeichneten).

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konstitutiver und konstituierender Teil in eine noch nicht endgültig bestimmte und definierte Welt eindringen kann, um sich der Vielfalt der erzählenden und dialogisierenden Stimmen hinzuzugesellen89. Die Mauer, die Cervantes einreißt, zeigt völlig neue Welten, die im Ritter- und Schelmenroman versteckt gehalten wurden. In Bezug auf die Erzählhaltung im Amadis de Gaula läßt sich im Prinzip dasselbe wie für den Erzähler im mittelalterlichen deutschen Roman sagen: Wir haben es mit einem didaktischmoralisierenden Erzähler zu tun, der eine 'monologische' Sicht der Welt und des Menschen zu vermitteln sucht90. Der Erzähler im 89

Foucault irrt mit der Behauptung „Don Quichotte lit le monde pour démontrer les livres", denn Don Quijote, als Schriftsteller, der er doch werden wollte (I, 1, 56), 'liest' nicht die Welt, sondern 'schreibt' sie. Es ist nicht das Wort, das, wie Foucault behauptet, einer Krise unterliegt. Die Worte lassen Don Quijote nie im Stich, sie haben noch ihre ganze denotative Kraft, und wenn es nötig wird, bilden sie sogar neue Sinnzusammenhänge und (fast) Wirklichkeiten („baciyelmo"). Es sind die Menschen und die Dinge, die nicht mit Don Quijotes Vorstellung von ihnen übereinstimmen. Was Foucault von einem linguistischepistemologischen Ansatz aus betrachtet - „par une rupture essentielle dans le monde occidental, il ne sera plus question des similitudes, mais des identités et des différences" - , muß m. E. von einem psychischphänomenologischen (nicht hegelianischen!) Blickpunkt aus analysiert werden. Vgl. Foucault, Michel: Lets mots et les choses: une archéologie des sciences humaines, Gallimard, Paris 1966, S. 61-64.

90

Vgl. Einfuhrung von Cercas, Javier zu Garci Rodríguez de Montalvo: Amadís de Gaula, Círculo de Lectores, Barcelona 1989, S. 21-44. Der zweite, Montalvo zugeschriebene Teil des Amadis (Bücher drei und vier) stellt eine der nacharistophanischen Komödie nicht unähnliche Simplifizierung dar: „desaparece la variedad de incidentes y la rapidez de acción; la prosa se vuelve afectada e incluso retórica [...]; la historia sigue el hilo de una acción unitaria", (Cercas, S. 36). Der Amadís kann hier als ausreichendes Beispiel für alle Ritterromane dienen, um so mehr, da er es ja gerade war, der von Spanien und Frankreich aus im restlichen Europa Verbreitung fand, wo er im 17. aber auch noch im 18. Jh. z. T. mit der spanischen Schelmenliteratur und mit dem Quijote selbst vorwiegend von den Feinden des Romans gleichgesetzt wurde. Wieland selbst schreibt ja noch, wie bekannt, einen Amadis. Vgl. zur Verbreitung des Amadis in Europa Weddige, Hilkert: Die Historien vom Amadis auß Frankreich. Dokumentarische Grundlegung zur Entstehung und Rezeption [Diss.], Franz Steiner, Wiesbaden 1975. Was in diesem Zusammenhang konkret die literarischen Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland betrifft (vgl. die in der Einführung erwähnten Werke): Schwering, Julius: Litterari-

60

Quijote stimmt mit dem Erzähler im Amadis überein in den Prolepsen, in den 'umringenden' Imperativen ('sabed, oid') und wenn es darum geht, eine Szene anzuhalten, um einen Ortswechsel vorzunehmen. Die cervantinische Vielstimmigkeit, in die sich der Erzähler mit großer Bescheidenheit einfügt, hat aber wenig mit der dominanten Stimme im Amadis zu tun, wo der Erzähler seinen Figuren das Wort im wahrsten Sinne nur verleiht, damit diese auf dialogische Weise die von ihm in jeder Hinsicht beherrschte Erzähllinie fortsetzen91. Wenn aber der Dialog im Quijote als ein generatives Prinzip fungieren kann, ist das so, weil die Figuren sowohl in Bezug auf den Erzähler als auch in ihren Beziehungen untereinander eine Wort- und Handlungsfreiheit besitzen, die sich über Hierarchien hinwegzusetzen weiß92. Dies ist auch der wesche Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland, Heinrich Schöningh, Münster 1902; Schwering, Julius: Cervantes' Don Quixote und der Kampf gegen den Roman in Deutschland, Euphorion, XXIX, 1928, S. 497-503; Farinelli, Arturo: „Spanien und die spanische Literatur im Lichte der deutschen Kritik und Poesie", in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, 1892, N. F. 5 (Teile I-II) und 1895, 8. Band (Teile III und IV); Schweitzer, Christoph Eugen: Spanien in der deutschen Literatur des 17 Jahrhunderts [Diss.], Yale 1954; Schäfer, Walter Ernst: „Hinweg nun Amadis und deinesgleichen Grillen! Die Polemik gegen den Roman im 17. Jahrhundert", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 46, N. F. 15, 1965, S. 366-384; Barton, Erika Regina: Die spanische Literatur in Deutschland im Zeitalter des Barock. Ein Forschungsbericht [Diss.], University of Nebraska 1972; Buck, August: „Romanische Literaturen (ihr Einfluß auf die deutsche)", in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Walter de Gruyter, Berlin-New York 1977, Bd. III, S. 519-554; Gerhart: Spanien und Deutschland. Geschichte und Dokumentation der literarischen Beziehungen, Erich Schmidt, Berlin 1976. 91

Daher reicht dem Erzähler auch ein „Así", „Con esto", „Entonces" aus, um eine Brücke zwischen dem vorhergehenden Dialog und seiner eigenen Erzählung zu schlagen.

92

„ - Como te conozco, Sancho - respondió Don Quijote - , no hago caso de tus palabras. - Ni yo tampoco de las de vuestra merced - replicó Sancho - , siquiera me hiera, siquiera me mate por las que he dicho, o por las que pienso decir si en las suyas no se corrige o enmienda", II, 23, 357. „ - ¿Cómo, traidor [exclama Don Quijote, A.P.] ¿Contra tu amo y señor natural te desmandas? ¿Con quien te da tu pan te atreves? - Ni quito rey, ni pongo rey - respondió Sancho, sino ayúdome a mí, que soy mi señor", II, 60, 841. Daß diese Worte, die ein Erbe der Romanze über Bernard de Duglescan darstellen (vgl. Ascunce Arrieta, Jo-

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sentliche Unterschied zum Schelmenroman, v. a. zum nachtridentinischen, in dem der Erzähler seine Geschichte bis in alle Winkel hinein kennt und beherrscht, der weiß, was er von seinen Figuren zu halten hat und seine eigene Meinung dem Leser als geschlossene und auf jeden Fall richtige Interpretation anbietet93. Die Aufsplitterung der Perspektiven im Quijote, die fragende Relativität des Wortes, der Fakten und der Handlungen, der auch Cide Hamete nicht entweichen kann, ermöglicht das fast 'nebrijanische' Lachen, welches das Dogma auf die ihm gebührende Höhe schrumpfen läßt. Es ist aber noch nicht das Lachen oder der Humor an sich. Denn dies wird nicht durch eine bestimmte Technik hervorgerufen94, die an sich weder lustig noch ernst sein kann, sondern durch die Freiheit des Wortes und der ihr so zukommenden Fähigkeit, andere Worte zu ergänzen oder in Konkurrenz zu ihnen zu treten. Wirklicher Humor entsteht und verwirklicht sich einzig im freien Dialog, und eine seiner liebsten Zielscheiben ist der wichtigtuerische dünkelhafte Diskurs95. In diesem Sinne ist die Episode der Montesinos-Höhle zu interpretieren. sé Angel: „Los discursos en el Quijote: el hallazgo de una búsqueda narrativa", en Actas del Segundo Coloquio Internacional de la Asociación de Cervantistas, Anthropos, Barcelona 1991, S. 397-410), einen für die Zeit durchaus subversiven Charakter hatten, läßt sich im Kontrast in Fernández Álvarez, La sociedad española en el Siglo de Oro, Bd. 1, S. 153 f. nachlesen. Ein letztes, aber bezeichnendes Beispiel sei hier noch hinzugefugt, denn es zeigt, daß über dem 'cargo' die Person steht: „ - Y a vuestra merced, ¿quién le fia, señor cura? - dijo Don Quijote. - Mi profesión - respondió el cura que es de guardar secreto" (II, 1, 34). 93

Es ist daher nicht verwunderlich, daß es gerade der spanische Schelmenroman war, der auf deutschsprachigem katholischen Boden sofort rezipiert wurde, um ihn in den Dienst der antireformatorischen Bewegung zu stellen. Vgl. Reinhardstöttner, Karl von: Aegidius Albertinus, der Vater des deutschen Schelmenromans, in: Jahrbuch für Münchener Geschichte, 2. Jahrgang, 1888, S. 13-86; Rausse, Hubert: Zur Geschichte des spanischen Schelmenromans in Deutschland, Heinrich Schöningh, Münster 1908.

94

Welches Weich S. 233 anzudeuten scheint.

95

Vgl. Bachtin: Esthétique et théorie du román, S. 215. Ein gutes Beispiel aus dem Quijote findet sich in I, 12, 236 ff.

62

Wie gezeigt sind im ersten Teil des Romans die Eingriffe des Erzählers, die eine Rechtfertigung thematischer oder technischer Aspekte zum Ziel haben, sehr zahlreich, so daß diese Funktion sogar auf die Romanfiguren selbst übergeht96. Sobald ein Fakt den Hauch vom Wunderbaren oder Phantastischen annehmen kann, beeilt sich der Erzähler, das Geheimnis - das keins ist - zu lüften97. Nur ein einziges Mal scheint dies anders zu sein, und der Erzähler sieht sich genötigt zu gestehen: „Tú, letor, pues eres prudente, juzga lo que te pareciere, que yo no puedo ni debo más" (II, 24, 361-362). Schon der Titel des Kapitels, der auf dieses Eingeständnis von Schwäche und Glauben an den Leser verweist, lautete: „De las admirables cosas que el estremado Don Quijote contó que había visto en la profunda cueva de Montesinos, cuya imposibilidad y grandeza hace que se tenga esta aventura por apócrifa" (II, 23, 340). Auf die Cueva de Montesinos wird der Erzähler im zweiten Teil des Romans nicht weniger als bei fünf Gelegenheiten zu sprechen kommen98: Er betont zwar immer wieder, daß es wohl sehr unwahrscheinlich sei, daß sich dies wirklich zugetragen habe, läßt aber immer auch eine Tür für Zweifel offen. Von einer sinnlich-spielerischen Perspektive aus, die sich auf den Gefallen der Figuren am Erzählen und Zuhören konzentriert, ist es völlig unwichtig, zu eruieren, ob Don Quijote geträumt oder gelogen hat, auch wenn er Sancho, der, wohl um das Prinzip der Bipolarität zu wahren, eine ähnliche Geschichte nun über die 'Höhen' offeriert, letzteres zugesteht99. In Anbetracht der transitiven und rezeptiven Beteiligung, die der Erzählstoff der Cueva de Montesinos bietet, benötigt diese Geschichte keine weitere Rechtfertigung. Merkwürdig ist nur die Beharrlichkeit des Erzählers, immer wieder auf sie zu sprechen zu kommen, und die Standhaftigkeit, die Sancho den Absichten des Hidalgo entgegenbringt, sie als Tatsache gelten

96

Vgl. II, 27, 409, wo gerade Sancho Don Quijote aufklärt.

97

Vgl. II, 27 (voraussagender Affe von Maese Pedro) oder II, 62, 886 („cabeza encantada"); schon im Quijote finden sich Angriffe gegen die 'superchería' und den Aberglauben (II; 7, 111 und II, 8, 127), der aber trotzdem am Ende des Romans gerade durch die aufgeklärte Figur Don Quijotes nochmals Genugtuung erfährt.

98

II, 24, 361-362 und 371-372; II, 25, 386; II, 41, 577 und in II, 62, 885.

99

11,41,577.

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zu lassen. Uneingeschränkte Zustimmung findet Don Qijote aber bei dem pedantisch-penibeln Studenten, der sie begleitet: „muy aficionado a leer libros de caballerías" (II, 22, 330) und Verfasser absurder Traktate, in denen er sehr darauf achtet, keine Behauptung aufzustellen, die nicht zumindest von z. T. „más de veinte y cinco autores" (II, 22, 332) untermauert wäre100. Da es im Quijote bei keiner einzigen Gelegenheit vorkommt, daß etwas im Dunst des Magischen verborgen bleibt, muß der Aufruf Cide Hametes an den „prudente letor" nicht als Ausdruck von Resignation, sondern als Einladung zum Humor und gesunden Menschenverstand gegen die eitlen Wissenschaften verstanden werden, „que hay algunos que se cansan en saber y averiguar cosas que después de sabidas y averiguadas no importan un ardite al entendimiento ni a la memoria" (II, 22, 333)101. Sanchos 'sentido común' siegt bei dieser Gelegenheit über die groteske Haarspalterei, die Don Quijote und den Studenten eint. Im Märchen/Traum Don Quijotes tauchen immer wieder Elemente auf, die lexikalisch oder thematisch aus dem Rahmen fallen, da sie entweder zu modern sind oder der primären, sogar vulgären Realität angehören, die an sich wenig - möchte man denken - mit der ritterlich-magischen Welt Montesinos gemein zu haben scheint102. Als eine erneute Parodie der Ritterbücher103 nimmt die Episode über die Cueva de Montesinos Themen auf wie die Armut und die unumgängliche Notwendigkeit des Geldes, das „adondequiera se usa, y por todo se estiende, y a todos alcanza, y aun hasta los en100

Im Prolog zum ersten Teil heißt es dagegen: „...soy poltrón y perezoso de andarme buscando autores que digan lo que yo me sé decir sin ellos", S. 22.

101

Den Prolog zu den Novelas ejemplares schließt Cervantes mit der Hoffnung auf „paciencia para llevar bien el mal que han de decir de mí más de cuatro sutiles y almidonados. Vale". Obras completas Bd. 2, S. 10.

102

Eine Verbindung, die einen Präzedenzfall in I, 1, 58-59 und in der Lektüre des 'ventero', in der sich die Grenzen des RitterlichImaginären und des Historischen verwischen, aufzuweisen hat. Über die Mischung des hohen und des niedrigen Stils, der besonders in Spanien auf eine lange Tradition hinzuweisen hat, vgl. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Francke, Bern 19827, S. 156, 163 und 258.

103

Vgl. II, 23, 340, Anm. 4 in der hier benutzten Ausgabe.

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cantados no perdona" (II, 23, 358), die ganz dem Jahrhundert angehören. Im Sinne dieser Dualität läßt sich auch die Antwort der immer sehr exakt und klug antwortenden „cabeza encantada" auf Don Quijotes Frage „¿fue verdad o fue sueno lo que yo cuento que me paso en la cueva de Montesinos?" (II, 62, 885) verstehen: „de todo tiene" (II, 62, 885). Die Geschichte der Cueva de Montesinos rechtfertigt sich als Text durch ihre Schönheit, als Geschichte durch die erneute Gelegenheit, die sie zum Erzählen und Zuhören bietet, als Thema durch die Möglichkeit, mittels einer Parodie der Ritterbücher auf die zunehmende Kraft der immer nüchterner werdenden Realität hinzuweisen, eine 'Entzauberung der Welt', die Cervantes, seine relativistische Position nicht aufgebend, weder befürwortet noch ablehnt, sondern 'nur' darstellt. Letztlich, aber nicht zuletzt, stellt die Cueva de Montesinos einen zwar humoristischen, aber doch scharfen Angriff auf die Eitelkeit, dessen sich die 'Wissenschaften' schuldig machen können, dar. Daß der Erzähler einen Appell an den Menschenverstand des Lesers richtet - „pues eres prudente" - , folgt konsequenterweise aus der offenen dialogischen Struktur und Erzählhaltung des Werks. Wollte man eine 'Lehre' aus der Montesinos-Episode ziehen, so wäre diese doch, daß es notwendig ist, die Lust an Kommunikation und Schönheit mit praktischem Lebenssinn zu vereinbaren104. 104

In der Linie Foucaults bewegt sich Teuber, Bernhard: Sprache - Körper — Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit [Diss. München], Max Niemeyer, Tübingen 1989, der den Konflikt, den jener auf einer v. a. linguistischen Ebene ansiedelte, auf „Wahrnehmung, Versprachlichung und Sinngebung von Wirklichkeit" (S. 233) ausweitet und auch ganz allgemein auf die verschiedenen Erzähler im Quijote angewandt wissen will. Dies hindert Teuber aber nicht daran, die Montesinos-Episode einzig durch Lust am Erzählen und am ästhetischen Wort zu rechtfertigen, eine Lösung, die nur möglich ist, wenn über das Wort Konsens besteht, es also gerade keine grundlegende Problematik darstellt. Teuber gibt sich nicht damit zufrieden, aus Cervantes einen anticartesianischen Schriftsteller lange vor Descartes zu machen, sondern er verwandelt ihn dazu in einen der Ästhetik huldigenden Dichter, der ängstlich in der Poetik des Aristoteles und des Pinciano nachschlägt, um eine wirklich „hochgradig ästhetische Komik" (S. 276) zu fabrizieren. Teubers These läuft darauf hinaus, daß Cervantes die MontesinosEpisode einbaut, um sowohl dem Wahrscheinlichkeitspostulat wie auch der von den Poetiken geforderten Notwendigkeit nach Wunderbarem gerecht zu werden „und so beim Publikum Staunen zu erregen" (S.

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Biographische Spekulationen und die Behauptung von der Einmaligkeit des 'Genies' außer acht gelassen, lautet die Frage, die man sich zwingend zu stellen hat: Woher nimmt Cervantes diese innere Freiheit, die es ihm ermöglicht, darzustellen ohne zu verurteilen, zu reden und das Wort abzugeben, der Großzügigkeit ein Denkmal zu setzen und den modernen Roman unter dem Geist der Toleranz, die sich formal in einer 'Revolution' und inhaltlich in der größten Herausforderung an jegliche dogmatische oder autoritäre Diskurse ausdrückt, ins Leben zu rufen - und dies gerade im Spanien der Gegenreformation? Zu den wenigen nicht angefochtenen Behauptungen über die katholische Kirche, die Inquisition und die ab dem 15. Jahrhundert von ihnen ausgeübte Gewalt und praktizierte ideologische Repression gehört, daß die Inquisition den „oscuro instinto igualitario" und die „piedad gregaria"105 der breiten Bevölkerung ausgenützt und verstärkt hat, um so viele Kollaborateure wie möglich zu gewinnen106. Wenn die Repression im Prinzip die ganze spani280) - als würden die Chimären Don Quijotes nicht ausreichen, als hätte sich, man lese es im Prolog nach, Cervantes um Poetiken gekümmert. Doch er geht noch weiter. Die rationalistischen Tendenzen des Zeitalters, die Teuber ohne jegliche Differenzierung auch für Spanien als selbstverständlich annimmt, fanden in Cervantes einen entschiedenen Gegner, der, hierin einem ersten Psychoanalytiker gleich, eine Rückforderung des Traums gegenüber der kalten Vernunft äußert. Es ist wohl der großen Anzahl an Werken, die Teuber in seine Arbeit aufnimmt, zuzuschreiben, daß der Verfasser die Montesinos-Episode behandelt, ohne sie in der Gesamtheit des Werks zu betrachten. Überhaupt nähert sich der Verfasser dem Quijote von einer pragmatischutilitaristischen Warte des 'wahr und gut' - das 'Schöne' hält er von vornherein für gegeben - , die wohl für das deutsche 18. und auch für die nachfolgenden Jahrhunderte angebracht sein kann, von der aus aber wenig von der Halbinsel des 16. und 17. Jhs. zu sehen ist: Es darf nicht vergessen werden, daß der 'arbitrismo' eine spanische 'Erfindung' der Zeit ist. Es sei schließlich noch auf die wahrhaftige „Zerstückelung" bis zur Unkenntlichkeit hingewiesen, die Teuber anhand von Foucault in seinem Quevedo-Kapitel „Der zerstückelte Körper bei Quevedo" vornimmt. Für diese offensichtliche gewaltige Fehlinterpretation mögen wohl in erster Linie semantische Fehldeutungen des Spanischen verantwortlich sein. 105

Bataillon: Erasmo en España, S. 491.

106

Bataillon, loc. cit. und Netanyahu, Benzion: „¿Motivos o pretextos? La razón de la Inquisición", in: Alcalá, Angel u. a. (eds.): Inquisición

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sehe Bevölkerung und jede Art von Abweichungen und Dissidenten innerhalb der katholischen Kirche umfaßte, richtete sich doch die Verfolgung vorwiegend gegen die Gruppen, die aufgrund ihrer Rasse, ihres Ursprungs, ihrer Religion, ihrer Neigungen, ihres Standes oder ihres Wissens herausragten: Es wurde die religiöse und allgemein die geistige und gewohnheitsmäßige - natürlich nicht die ständische - Gleichförmigkeit gesucht und gefördert, die zum Ziel die gesellschaftliche Gleichschaltung hatte . Weder die katholische Kirche noch die Inquisition, und besonders ihre spanischen Varianten, die eine große Unabhängigkeit gegenüber der Staatsgewalt und sogar gegenüber Rom bewahrten, konnten daran interessiert sein, die alten traditionellen Gesellschaftsstrukturen, in denen sich die katholische Kirche mehr als zurechtgefunden hatte, zu verändern oder gar zu zerstören. Es ging darum, alle Mittel in Gang zu setzen, um die Autorität der religiösen und administrativen Machtstrukturen zu bewahren, ohne die herkömmlichen Umgangsformen der Gemeinschaft, in welche die Kirche wie ein natürlicher Bestandteil einfließen sollte, wesentlich zu berühren108. Die Kirche und das ganze Land waren vor und nach dem Konzil zu Triest weiterhin von einer Volkstümlichkeit geprägt, in die zunehmend eine z. T. irrationale auslandsfeindliche Komponente einfloß109.

española y mentalidad hier S. 32.

inquisitorial,

Ariel, Barcelona 1984, S. 23-66,

107

Benassar, S. 126-170, und Caro Baroja, Julio: Las formas complejas de la vida religiosa. Religión, sociedad y carácter en la España de los siglosXVIy XVII, Akal, Madrid 1978, S. 209-213.

108

Dülmen, Richard van: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 15501648, Fischer, Frankfurt/Main 1982, S. 204. Dülmen unterstreicht dies als wesentlichen Unterschied zu den reformierten Kirchen.

109

Eine Tatsache, die in Zeiten völliger Orientierungslosigkeit für Deutschland Vossler dazu geführt hat, diesen spanischen Gemeinschaftssinn zu verklären und im 'ritterlichen' Spanien eine „Ergänzung des preußischen Soldaten" zu suchen: Nicht wenige deutsche Hispanisten haben zu dem Bild von Spanien als 'salvaguarda de occidente' und zu anderem mehr beigetragen. Vossler, Karl: „Die Bedeutung der spanischen Kultur für Europa", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. Jahrgang, 1930, S. 33-60 u. 402-417 (Zitat S. 44-45).

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Auf dem Gebiet der Kultur und der Ideen sah der Santo Oficio die Autorität der Katholischen Kirche v. a. von Seiten der Humanisten (Philologen, Theologen, Philosophen, Ärzte usw.) in Frage gestellt, gegen die auch besonders hart und hartnäckig vorgegangen wurde110. Auf literarischem Gebiet aber hielt sich die Verfolgung anscheinend sehr in Grenzen. Die heutzutage geläufige Erklärung für dieses Phänomen weist darauf hin, daß die große Anzahl von klassischen griechischen und lateinischen Werken, die im ersten großen Index von 1559, dem Indice de libros prohibidos y expurgados des Inquisidor General Valdés, Eingang fanden, und v. a. die Aufnahme des Lazarillo hierin, der erst wieder 1573 in einer sehr gesäuberten Ausgabe erscheinen durfte, die Schriftsteller vor eine dreifache Wahl gestellt haben muß: sich der Verdrängungsliteratur zu widmen, die Selbstzensur zu praktizieren oder sich entschieden in den Dienst der Gegenreformation zu stellen111. Da es praktisch unmöglich ist, mit Sicherheit auszusagen, ob und inwiefern sich Cervantes im Quijote Selbstzensur auferlegt hat oder nicht, kann wohl keine der drei genannten Möglichkeiten hier in Betracht gezogen werden112. 110

Einer der ersten, der die Macht der Inquisition zu spüren bekam, war gerade Nebrija. Vgl. Alcalá, Angel: „Control inquisitorial de humanistas y escritores", in: Ders. u. a.: Inquisición española, S. 288-327. Rodrigo Manrique, Sohn des Inquisidor General, schreibt schon 1533 von Paris aus an Luis Vives über die Festnahme von Juan de Vergara: „Dices muy bien: nuestra patria es una tierra de envidia y soberbia; y puedes agregar: de barbarie. En efecto, cada vez resulta más evidente que ya nadie podrá cultivar medianamente las buenas letras en España sin que al punto se descubra en él un cúmulo de herejías, de errores, de taras judaicas. De tal manera es esto, que se ha impuesto silencio a los doctos; y a aquellos que corrían al llamado de la erudición, se les ha inspirado, como tú dices, un terror enorme", Bataillon, S. 490.

111

Alcalá, Control inquisitorial; Hoffmeister, Gerhart: Deutsche und europäische Barockliteratur, Metzler, Stuttgart 1987, S. 84.

112

Die Zuweisung Cervantes' zur Gegenreformation ist nicht ernst zu nehmen. Die Inanspruchnahme spanischer Autoren für gegenreformatorische Zwecke, wie auch die heute noch in Ländern wie Deutschland durchaus aktive 'leyenda negra', hat zu kuriosen Zuschreibungen geführt. Von Aegidius Albertinus' 'Bearbeitungen' abgesehen kann die Historie von Isaac Winckelfelder und Jobs von der Schneid, ein 1617 in München veröffentlichtes Plagiat von Rinconete y Cortadillo, als gutes Beispiel dienen. Der Historie vorangestellt war eine anonyme

68

Rein spekulativ könnte man natürlich so weit gehen, die These aufzustellen, daß Cervantes bewußt die dargestellte Erzählform zum Zwecke eines vorsätzlichen Protestaktes gewählt hat. Obwohl diese Hypothese schwerlich hundertprozentig zu beweisen wäre, spricht Sancho bei einer Gelegenheit eindeutig mit einer Stimme, die ihm nicht gehört: „Luz da el fuego y claridad las hogueras, como lo vemos en las que nos cercan, y bien podría ser que nos abrasasen; pero la música siempre es indicio de regocijos y de fiestas" (II, 34, 506). Eng mit dem Konzept des 'popularismo' verwandt ist die verbreitete und verwurzelte Vorstellung der Ehre und/oder des „señorío de la persona", von dem Américo Castro spricht113, ein häufiges Thema der spanischen Literatur des Siglo de Oro, das der nationalen - Cervantes z. B. - und mehr noch der fremdländischen Schriftstellerei Veranlassung zum Karikieren gegeben hat114. In der Übersetzung des Lazarillo ins Deutsche. Der Autor, Niclaus Ulenhart, ist ein überzeugter Katholik, der nach eigenem Gutdünken streicht und ergänzt, um vermeintlich Katholisches zu verstärken oder einzuführen. Dreihundert Jahre nach dieser Veröffentlichung schreibt Hubert Rausse über den Rinconete y Cortadillo von Cervantes [!], daß sich diese „ganze Novelle mit ihrem lächerlichen religiösen Fanatismus [...] nur lebenswahr abspielen kann vor einem romanisch-katholischen Hintergrund", womit Rausse eine fanatische antikatholische Verblendung an den Tag legt, die noch Ulenharts Änderungen übertrifft. Vgl. die Einfuhrung von Gerhart Hofimeister zu seiner Ausgabe der Historie, Reclam, Leipzig 1983; Rausse, Zur Geschichte, S. 64 (Zitat) und ders.: „La novela picaresca und die Gegenreformation", in: Euphorion, 8. Ergänzungsheft, 1909, S. 6-10. 113

Castro, Amörico: Espana en su historia. Cristianos, moros y judios, Critica, Barcelona, 1983, S. 557.

114

Für Deutschland vgl. Walz, Georg Herbert: Spanien und der spanische Mensch in der deutschen Literatur vom Barock zur Romantik [Diss.], Erlangen - Nuernberg 1965. Eine der ersten spanischen stolzen und prahlerischen literarischen Figuren findet sich in der von Martin Opitz angefertigten Übersetzung der Argenis von Johann Barclay aus dem Französischen, konkret im Kapitel Archombrotus verreiset heimlich Elisen zu suchen. Hochtrabender Auffzug eines Iberiers den er antrifft, (1626 und 1631 erschienen). Steiner, Arpad: „Zum Thema des Don Quijote in Deutschland im 17. Jahrhundert", in: Archiv fllr das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Bd. 158, Neue Serie 58, 1930, S. 101-104, behauptet, daß es sich hier um eine der ersten Nachahmungen der Figur Don Quijotes in der europäischen Literatur hande-

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Entstehung und Verankerung dieses lebensweltlich umgesetzten Begriffs sind zumindest drei Faktoren deutlich auszumachen. Ein gewisses Maß an Gleichheitsempfinden dürften die Kämpfe der (Re-)Conquista mit sich gebracht haben, da der Gegner für alle gleich und deutlich auszumachen war. Einerseits wurden die militärischen Heldentaten mit Adelstiteln und Land belohnt, andererseits wurden die wieder zurückeroberten Landstriche sehr oft in die Hände freier Bauern und Kolonisten gegeben. Um die Macht der Feudalherren einzuschränken, sahen sich die Könige der neuen Monarchien außerdem gezwungen, mit den gerade zum Pakt bereitwilligen Sozialklassen und Ständen Bündnisse einzugehen, in denen sie juristische Garantien gewährten: Noch Ende des 16. Jahrhunderts hat der 'Municipio' eine gewisse, wenn auch schwindende Entscheidungsgewalt der Krone gegenüber"5. Die spanische Literatur spiegelt diese sozialen Konflikte zwischen Ritter und König zuerst, dann die Empörung des ersten gegen den zweiten seit ihren Anfängen aufs beste wider: beim Cid Ruy Díaz angefangen über Bernando del Carpió bis Fernán González, der „mantovo siempre guerra con los reys de España;/ non dava más por ellos que por una castaña"116. Und auch die spätere Allianz zwischen Volk und König gegen den arroganten Adel erfahrt ihren literarischen Ausdruck: Ein Satz wie „tiranos son. ¡A la venganza le. Da die Charakterisierung aber mit vielen anderen übereinstimmt, die vom prahlerischen Spanier im Zuge der antispanischen Propaganda des 17. Jhs. gezeichnet werden, ist diese Auffassung nicht aufrechtzuerhalten. Don Quijote hat zweifellos als Modell für die Figur des Sausewind aus Das Friedejauchtzende Teutschland (1653) von Johann Rist gedient. Vgl. Schweitzer, Christoph Eugen: Spanien in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts [Diss.], Yale 1954, S. 117 f. 115

García Puertas, Manuel: Cervantes y la crisis del renacimiento español [Diss.], Universidad de la República, Montevideo 1962, S. 86 f. Die 'revuelta de los Comuneros' 1520-1521 ist u. a. ein Versuch, diese Macht nicht aus den Händen zu geben: doch der „contrato callado" zwischen dem König und dem Volk wird im 18. Jh. einseitig aufgelöst. Vgl. Tuñón de Lara, Manuel (ed.): Historia de España, Bd. V: Le Flem, Jean-Paul/Pérez, Joseph u. a.: La frustración de un imperio (1476-1714), Labor, Barcelona 1982, S. 178 f. und besonders S. 180181, wo es heißt, daß die „revuelta de las Comunidades" als eine „tentativa para limitar los poderes de la realeza y de la aristocracia en beneficio de las Cortes" zu interpretieren sei.

116

Zitat nach García Puertas, S. 86.

70

vamos!", den Lope de Vega in seinem Fuenteovejuna aufnimmt117 - und ähnliche auch im Peribähez oder im El mejor alcalde, el rey - , muß sich im absolutistischen vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts oder in den deutschen Landen, und in einer Zeitspanne, die von der mißglückten Bauernrevolte bis weit über das 18. Jahrhundert hinausgeht, ungeheuerlich revolutionär anhören. Doch auch der König erfahrt, daß seine Macht nicht schrankenlos ist: Eine große Anzahl zeitgenössischer Autoren wie Fray Alonso de Castrillejo, der berühmte Padre Mariana"8, Padre Suärez oder Juan de Valdes bezweifeln nicht, daß sogar die physische Beseitigung des Königs - muß sie denn nun sein - unter gewissen Umständen durchaus gerechtfertigt sei119. Ein gewisses Gefühl und Bewußtsein der persönlichen Unabhängigkeit gegenüber der weltlichen staatlichen Macht wird also nie aufgegeben. Dieses Empfinden wurde religiös verstärkt. Die metaphysische Gleichheit der Seelen war ein alter allgemeiner Glaubensgrundsatz der katholischen Kirche, der auf den Evangelien, dem Paulinismus und dem christlich uminterpretierten Stoizismus beruhte. Die Schriften des Boez verbreiteten diese Auffassung in ganz Europa. Schon Thomas von Aquin stellte die göttliche Gleichheit der Seelen über die irdischen Hierarchien und gestand infolgedessen dem Knecht das Recht zu, sich gegen seinen Herrn aufzulehnen. Diese Auffassung wird im spanischen 17. Jahrhundert mit dem Begriff der 'Ehre' in Einklang gebracht120. 117

Lope de Vega: Fuente Ovejuna, (hrsg. von Francisco López Estrada), Castalia, Madrid 1985, S. 136.

118

Vgl. die Ausfuhrungen zu Milton in Kapitel 2.

119

„el príncipe, pues, jamás debe creer que es señor de la república y de cada uno de sus subditos, por más que sus aduladores se lo digan, sino que debe juzgarse como un gobernador de la república, que recibe cierta merced de los ciudadanos, la cual no le es permitido aumentar contra la voluntad de ellos", schreibt der Padre Mariana in seiner De rege et regís institutione (Zitat nach García Puertas, S. 86).

120

So heißt es z. B. in Fray Luis de Leóns La perfecta

casada:

Y el pecar los señores en esto con sus criados ordinariamente nasce de soberbia y de desconocerse a sí mismos los amos. Porque, si considerasen que así ellos como sus criados son de un mismo metal, y que la fortuna que es ciega y no la naturaleza proveyda, es quien los diferencia, y que nascieron de unos mismos principios, y que han de tener un mismo fin, y que caminan llamados para unos mismos bienes; y si

71

Das religiöse Empfinden der Gleichwertigkeit und der unantastbaren Würde der menschlichen Seele war in allen sozialen Schichten im 16. und 17. Jahrhundert präsent121 und muß einiges dazu beigetragen haben, daß sich der Begriff der Ehre, nun eng verknüpft mit dem Vorurteil des 'cristiano viejo', auch auf die nicht aristokratischen Schichten ausweitete, so daß durch die Definition der Juden als gemeinsamem Gegner in großem Maß das Gefühl einer gleichgestellten (und arroganten) Gemeinschaft unter den nicht religiös oder ethnisch ausgegrenzten Individuen gestärkt wurde: „Sea por Dios - dijo Sancho - , que yo cristiano viejo soy, y para ser conde esto me basta" (1,21,426). Von einem religiösen Standpunkt aus wurde diese Gleichheit durch die Triester Entscheidung für den Liber Arbitrium und gegen die lutherische Vorstellung der Prädestination nochmals gefestigt, zwei theologische Einstellungen, die zu einem heftigen Disput, bis zur definitiven Trennung, zwischen Erasmus und Luther, zwischen dem christlichen Humanismus des ersten und dem religiösen Determinismus des zweiten gefuhrt hatten122. Darüber, daß Cervantes - wie Lope auch123 - ein entschiedener Verfechter des Gedankens des 'libre albedrio' ist, ohne den sich kaum der prometheische Wille Don Quijotes oder der unfolgsame Eigenwille Sanchos erklären ließe, läßt Cervantes von Anfang an keinen Zweifel aufkommen:

considerasen que se puede bolver ei ayre mañana, y a los que sirven agora servirlos ellos después [...] Porque han de entender los señores que son como parte de su cuerpo sus gentes, y que es como un com puesto su casa, adonde ellos son la cabe9a, a la familia los miembros, y que por el mismo caso que los tratan bien, tratan bien y honradamente a su misma persona. Fray Luis de León: La perfecta casada, (hrsg. von Javier San José Lera), Espasa Calpe, Madrid 1992, S. 135-136. Vgl. auch Tuñón de Lara, S. 329 ff. 121

Wenn auch manchmal wohl rein theoretisch, wie uns bezeugte Beispiele von willkürlichem und grausamem Verhalten der Herren gegenüber den Knechten zeigen. Vgl. Fernández Álvarez, La sociedad española, Bd. 1,S. 140 ff.

122

Bataillon, S. 147-152; Caro Baroja, S. 223-245.

123

Vgl. 1,22,438, Anm. 127.

72

y tienes tu alma en el cuerpo - sagt Cervantes dem Leser y tu libre albedrío como el más pintado, y estás en tu casa, donde eres señor della, como el rey de sus alcabalas, y sabes lo que comúnmente se dice, que debajo de mi manto, al rey mato. Todo lo cual te esenta y hace libre de todo respecto y obligación, y así, puedes decir de la historia todo aquello que te pareciere... (I, Prolog, S. 16).124 Wenn auch im spanischen 16. und 17. Jahrhundert eine Tendenz des Staates, der andererseits im 17. Jahrhundert völlig zusammenbricht125, und der Kirche - der Systemwelt also - deutlich wurde, sich immer größere Bereiche der Lebenswelt - persönliche und soziale Beziehungen, Gewohnheiten, Traditionen usw. - anzueignen, so wurden diese Absichten durch die Wahrung eines Raums der unantastbaren Würde des Menschen entschieden gebremst. Tradition, kohäsive Behauptung und weltliche, religiöse, ausländische und innere Humanitätsideale bildeten letztendlich eine schwer zu durchdringende Mauer126. Der Quijote teilt und spiegelt diesen Unabhängigkeitssinn wider, der mit den dogmatischen und repressiven Strömungen der Zeit parallel verlief. Dieser Dualismus wird auf sehr anschauliche Weise durch ein Portrait Erasmus' ausgedrückt, das in einer Ausgabe der Cosmographia Sebastian Münsters von der Inquisition durchgestrichen wurde und neben dem ein spanischer Humanist des 17. Jahrhunderts auf der einen Seite „Sancho Panza", auf der anderen „y su 124

Der Widerspruch der Zeit ergibt sich natürlich aus der Behauptung dieser Gleichheit und den zur gleichen Zeit waltenden Vorurteilen anderen Religionen gegenüber.

125

Mousnier, S. 267 f.

126

Die auch durch keine Zaubertränke zu überwinden waren: „Aunque bien sé que no hay hechizos en el mundo que puedan mover y forzar la voluntad, como algunos simples piensan; que es libre nuestro albedrío, y no hay yerba ni encanto que lo fuerce", I, 22, 438. Noch zu Zeiten Felipes III schrieb sein Rat, P. Fernández de Navarrete: „Ha enseñado la experiencia que en España dura poquísimo tiempo la observancia de pragmáticas y leyes reformatorias, porque cualquier hombre particular hace pundonor de contravenirlas, juzgando por acto positivo de nobleza el no sujetarse a leyes", Zitat nach Américo Castro, S. 583.

73

amigo Don Quijote" schrieb: ein vielsagendes frühes Gleichnis, das dem Quijote eine Tiefsinnigkeit verleiht, in die die späteren (ernsten) europäischen Interpreten des Werks kaum einzudringen imstande sind - oder nicht eindringen wollen. Die Reformation spielt in dieser Hinsicht keine geringe Rolle. 1.2 Dritte Abschweifung: Erste Kontraste oder die Systemwelt setzt sich im Norden durch In den europäischen Ländern, in denen sich die Reformation durchsetzt, geht die radikale Veränderung der sozialen Strukturen mit einer gewaltigen antispanischen Propagandawelle einher, die ihren Höhepunkt während des dreißigjährigen Krieges erreicht127 und die selbstverständlich auch die Aufnahme der spanischen Literatur entscheidend bestimmt. Der Graben, der in diesem Jahrhundert zwischen den protestantischen nördlichen und den katholischen südlichen Ländern entsteht, macht sich noch heute deutlich bemerkbar:

127

74

Harms, Wolfgang: Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, (4 Bde.), Kraus International Publications, München 1980.

„católico: (del lat. catholicus, y este del gr. kazolikós, adj. universal, que comprende y es común a todos; y por esta calidad se ha dado este nombre a la Iglesia Romana [...] 3. Verdadero, cierto, infalible./ [...] 6. fig. y fam. Sano y perfecto. U. por lo común en la fr. no estar muy católico. catolicismo. (De católico.) m. Comunidad y gremio universal de los que viven en la religión católica. // 2. Creencia de la Iglesia católica. protestante, p. a. de protestar. Que protesta// 2. Adj. Que sigue el luteranismo o cualquiera de sus sectas. U. t. c. s. // 3. Perteneciente a estos sectarios. // 4. Perteneciente a algunas de las iglesias cristianas formadas como consecuencia de la Reforma." Diccionario de la Lengua española, Real Academia Española, Vigésima primera edición 1992.

„katholisch

[kirchenlat. catholicus < griech. katholikös = das Ganze, alle betreffend; allgemein] (christ. Rel.): sich zu derjenigen christlichen Kirche u. ihrem Glauben bekennend, die beansprucht, alleinseligmachend zu sein, u. die das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, ihres als Stellvertreter Christi eingesetzten Oberhauptes, vertritt Protestantismus, der; -: aus der kirchlichen Reformation des 16. Jhs. hervorgegangene Glaubensbewegung, die die verschiedenen evangelischen Kirchengemeinschaften umfaßt."

Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Dudenverlag, Mannheim / Wien / Zürich, 19892.

Die Reformation wird sich nicht damit begnügen, alte kirchliche Hierarchiestrukturen aufzubrechen, indem sie dem Individuum eine transzendentale Interpretationsfahigkeit zugesteht, welche die katholische Kirche den Gläubigen immer verweigert hatte, sondern wird sogar in Zusammenarbeit mit den weltlichen Autori-

75

täts- und Machtinstitutionen128 die individuellen, familiären und sozialen zwischenmenschlichen Beziehungen regeln wollen. Die Familie hat nun als „zentrale christliche Erziehungsinstitution" zu fungieren129. Aber die wichtige Rolle, die nun der Familie zukommt, hat nicht nur einen religiösen Ursprung, sondern steht in direkter Beziehung zum Aufkommen der absolutistischen Staaten. Während sich der europäische Adel immer mehr vom Volk distanziert, verwandelt sich das Volk selbst in den Augen der anderen sozialen Klassen in eine Gefahr, die es auf jeden Fall zu bändigen gilt, bevor es zu spät ist: Im 16. Jahrhundert beginnt eine systematische Unterdrückung und Ausmerzung der Lebensgewohnheiten des Volkes und ein Kampf v. a. „gegen dessen kulturelle Autonomie"130. Der Versuch, die traditionellen Formen von Gemeinschaft zu vernichten, kommt einem Versuch, soziale Kontrolle auszuüben, gleich: Ziele (Ordnung, Autoritätsprinzip) und Methoden des Systems (Kontrolle, Strafe und Belohnung) werden von diesem in die Familiensphäre verlegt. Da die lutherische Theologie von Anfang an zur Akzeptanz jeglicher weltlichen Autorität mahnte131, konnte das Luthertum schwerlich zum Zwecke der Verhinderung wachsender Sozialkontrolle seitens der absolutistischen Staaten dienen. Ganz im Gegenteil verwandelte sich die lutherische Kirche in eine neue Kontrollinstanz. Dies wird gerade in der Familiensphäre deutlich, in der die Reformation nicht nur die patriarchalische Rolle des Hausvaters festigte, sondern sogar noch erweiterte und auf eine theologische 128

„Die Reformation stärkte auf jeden Fall die Machtkompetenz des Staates", Dülmen, Richard van: Religion und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit, Fischer, Frankfurt/Main 1989, S. 17.

129

Dülmen, Entstehung, S. 204.

130

Dülmen, Entstehung, S. 253.

131

Weber, Die protestantische Ethik, S. 324: „gottgewollt aber die rationale Niederhaltung und Züchtigung der Sünde und Widerspenstigkeit im zweckvoll geordneten Staate [...] gottgewollt die Herrschaft der rationalen Ordnung des Gesetzes."; Dülmen, Richard van: Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, Fischer, Frankfurt/Main 1987, S. 35.

76

Grundlage stellte132. Auch für die Knechte brachte die Reformation keine Besserung ihres Standes im Hauswesen: Ihre Abhängigkeit und „moralische Unterwerfimg" dem Herrn gegenüber nahm eher noch zu133. Es handelt sich also um eine „Sozialdisziplinierung", bei der die reformierte Kirche den Anspruch erhebt, sich als einen regulierenden Zentralpunkt des alltäglichen Zusammenlebens zu konstituieren. Hierfür wird mit zwei Konzepten gearbeitet: Zucht und Ordnung134. „Zucht" bezieht sich auf das Subjekt und wird mit dem lateinischen 'decorum", „was schicklich ist, was sich geziemt", in Beziehung gesetzt135. Die Anforderung ist: Jeder hat in der Gesellschaft nach seiner beruflichen Stellung - der weltlichen oder religiösen - zu handeln. „Ordnung" dagegen bezieht sich auf das Ganze, in welches das Individuum sich einfügt: diese Ordnung ist - Leibniz vorwegnehmend - perfekt, weil sie die göttliche Ordnung widerspiegelt136. Weder theoretisch und noch viel weniger praktisch blieb somit ein Raum für 'demokratische' Bestrebungen offen. Obwohl die neue Glaubensrichtung in jedem Gläubigen einen selbständigen Interpreten der Bibel sehen zu wollen vorgab und diesen zu aktiver sozialer Teilnahme anspornte, war

132

„die Gehorsamspflicht der Kinder wurde nun nicht nur traditionell, sondern auch religiös begründet. Ungehorsam wurde zur Sünde gegen die göttliche Ordnung", Dülmen, Entstehung, S. 198. Senft, die vernünftigste der Figuren in Johann Gottlieb Schummeis Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert (1779), stellt die Erziehungsmethoden seiner Frau zur Nachahmung dar: „Erstlich muß ich Ihnen sagen, gewöhnt sie ihre Kinder beinah von der Wiege an zum strengsten Gehorsam. Was sie sagt, ist wie ein Evangelium gesprochen. Es fällt den Kindern gar nicht ein, dagegen zu murren, weder mit dem Munde noch im Herzen", C. H. Beck, München 1983, S. 71.

133

Dülmen, Entstehung, S. 199.

134

Münch, Paul: Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhundert (Nassau - Dillenburg, Kurpfalz, Hessen Kassel) [Diss.], Klett-Cotta, Stuttgart 1978.

135

Münch, S. 187. Auf den Erzähler im mittelalterlichen deutschen Roman braucht hier wohl nicht explizit aufmerksam gemacht zu werden.

136

Münch, S. 186-189.

77

doch die Bevormundung seitens der Machteliten wohl die üblichste Gesellschaftsfuhrung137. Die Libri exemplorum, so wie der exemplarische Promptuarium exemplorum des Pastors Hondorff, zeigen, wie der Aberglaube der ungebildeten Bevölkerung ausgenutzt wurde, um durch Einschüchterung die neue lutherische Doktrin zu verbreiten138. Den Einfluß, den diese Sammlungen auf die deutsche religiöse protestantische Literatur ausgeübt haben, läßt sich dokumentarisch über das ganze 17. Jahrhundert hinweg verfolgen. Nach sukzessiven Änderungen dienen diese Beispielbücher nicht nur der Kanzel, sondern auch der Familie als Vorbild, wo sie vom Hausvater, der sich in einen Priester und Verwalter der göttlichen Wahrheit ver-

137

Dülmen, Religion u. Gesellschaft, S. 25.

138

Brückner, Wolfgang (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Erich Schmidt, Berlin 1974, und hier besonders der Artikel von Schade, Heidemarie: Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum, S. 646-703, wo es zusammenfassend heißt: „Das Exempel, mit dem Aufkommen der Reformation auf katholischer Seite vernachlässigt, wird jetzt ganz bewußt zum Hilfsmittel der protestantischen Predigt und Literatur. [...] Schon die Anlage des Buches [Hondorffs Promptuarium, A.P.] nach Ordnung der Zehn Gebote läßt erkennen, daß es als Mittel zur Kirchenzucht gedacht war. Neben den zwei wesentlichen Funktionen des protestantischen Pfarrers, das Evangelium im öffentlichen Gottesdienst zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, stand zu Hondorffs Zeit die pragmatische Aufgabe ordnender Obrigkeit: er hatte sich besonders der Kirchenzucht zu widmen. Das bedeutete, daß Sünden und Schäden in allen Ständen aufgedeckt, angeprangert und gestraft werden sollten; das hieß: immer wieder belehren, warnen, mahnen, drohen, zur Buße treiben, die reine Lehre bewahren. Das Promptuarium exemplorum weist daher den Gott, in dessen Auftrag der Prediger zu wachen hat, als einen zürnenden, strafenden und rächenden Gott, einen unbarmherzigen Richter aus, dessen Handeln nur selten gütige Züge zeigt; die Verkündigung seiner Gnade und Barmherzigkeit ist ganz in den Hintergrund gerückt. So sind die Mehrzahl der Beispielerzählungen Strafexempel. [...] [Hondorff, A.P.] bleibt aber doch ganz im Denken seiner Zeit, wenn er sie [die Bauernunruhen, A.P.] verurteilt und die vorhandene Sozialordnung als gottgegeben und unumstößlich ansieht." S. 689-690 (meine Hervorhebungen).

78

wandelt, als eine Art Handbuch des guten Protestanten verwendet werden139. Die Hierarchien waren rigoroser als je zuvor. Der neue Gläubige stand weltlich unter dem Gesetz und religiös vor der vollkommenen Einsamkeit140. „Disziplinierung, nicht Demokratisierung", das war das Ziel und letztendlich auch das Ergebnis der Reformation141. So wie der intolerante ernste Rigorismus den humanistisch lächelnden und menschenfreundlichen Anschauungen innerhalb der katholischen Kirche ein Ende setzte, so pflanzte die Reformation dem Individuum die Ernsthaftigkeit und die Ehrfurcht ein, denn nun galt: Maß zu halten, eine „wache methodische Beherrschung der eigenen Lebensführung"142 zum Exempel an den Tag zu legen, die Obrigkeit zu respektieren und die Begriffe Beruf und Berufspflicht als wahre Lebensprinzipien umzusetzen. Hiermit ist ein erster Schritt in Richtung einer sozialen Funktionalisierung getan, von der natürlich die absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts profitieren werden, insofern ein (immer punktuell beschränkter) Raum geschaffen worden ist, in den der einzelne einfließt, ohne aus ihm hinausschauen oder -gelangen zu können. Dies wird den im ganzen a- und unpolitischen Charakter der deutschen Aufklärung, des 18. Jahrhunderts bestimmen143, in dem trotz allem ein of139

„Mit diesem veränderten Promptuarium [Ausgabe von 1623, A.P.] wurde dem Geistlichen und dem christlichen Hausvater ein noch bequemeres Mittel an die Hand gegeben, die Gemeinde in den Zehn Geboten zu unterweisen und in der Familie das in der Predigt Gehörte zu vertiefen und zu festigen", Schade, S. 692. Trotzdem wurden diese Bücher nicht immer im eigentlichen Sinne verwendet: „Es wurde schließlich selbst zu einer Quelle späterer Unterhaltungsliteratur", welches ja nur auf den Mangel an letzterer in Deutschland hinweist.

140

Vgl. Weber, Die protestantische Ethik, S. 122-123; Hauser - in anderem Zusammenhang - Manierismus, S. 103.

141

Münch, S. 192 (seine Hervorhebung).

142

Weber, Die protestantische

143

„Andererseits freilich behielt die deutsche Aufklärung - besonders wo sie, wie in der Freimaurerei, schwärmerische Bundesformen annahm bei allem Tätigkeitswillen ausgesprochenen Hang zum spekulativen Leben und betonte entschieden die sittlich-religiöse, opferwilligresignierte Reinigung des einzelnen von jedem politisch-sozialen Gel-

Ethik, S. 324, (seine Hervorhebung).

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fener Markt überhaupt, der literarische Markt im besonderen und der Beruf des Schriftstellers entsteht. Zwischen politisch-sozialer Unmündigkeit, Säkularisierung und der Etablierung eines bildungsliterarischen Sozialsystems Literatur, das sich notwendigerweise mit der (alten) Unfreiheit und mit den (neuen) Zwängen, aber auch den Möglichkeiten des Marktes auseinanderzusetzen hat, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Ruf nach dem deutschen Roman immer lauter. Den Gegebenheiten entsprechend wird dieser zwischen geschlossenen und offenen Systemen, zwischen Gegebenem und Potentiellem zu lavieren haben.

tungs- oder gar Umsturzwillen", schreibt Minder, Robert: Glaube, Skepsis und Rationalismus, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1974, S. 174.

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2. UNIFORMITÄT UND PLURALITÄT UM DEN QUIJOTE AUS GESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE 2.1 Allgemeines zur Einschätzung Spaniens und des Quijote im 18. Jahrhundert Das deutsche 18. Jahrhundert steht in Bezug auf das Einströmen und die Nachahmung fremdländischer - im Sinne von fremdsprachiger - Literatur kulturell unter dem gleichen Vorzeichen wie das 17. Jahrhundert. Waren im 17. Jahrhundert jedoch sprachliche Interessen ausschlaggebend144, wird jetzt vor allem nach Motiven, nach 'Stoff Ausschau gehalten145. Dies gilt insbesondere für das 144

Barthold, F. W.: Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft, Alexander Duncker, Berlin 1848; Melz, Christian Fritz: „An evaluation of the earliest german translation of 'Don Quixote' 'Juncker Harnisch aus Fleckenland'", in: Publications in Modern Philology, vol. 27, 1947, S. 301-342; In der Smitten, Theo: Don Quixote (der „richtige" und der „falsche") und sieben deutsche Leser. Rezeptionsästhetische leseaktorientierte vergleichende Analysen an spanischen Ur-QuixoteAusgaben von 1604/1605 bis 1615 und sechs deutschen Übersetzungen von 1648 bis 1883, (2 Bde.), Peter Lang, Bern 1986, Bd. 1, S. 7477.

145

Zum Thema Nachahmung ruft Friedrich Nicolai 1759 aus: „Die Nachahmer sind in Deutschland zu Hause! das ist wohl bekannt." (58. Literaturbrief). Zitat in Wood, Augustus: Fieldings Einfluß auf die deutsche Literatur [Diss.], Heidelberg, Yokohama 1895, S. 15. Noch 1790 ließ sich im Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes, 10. Theil, S. 89-90, folgendes lesen (der Briefschreiber gibt ein Gespräch mit einer Engländerin wieder): Ich fing bald an, mich auf ihre Schriftsteller einzulassen, und so sehr sie meine Bekanntschaft mit denselben zu vergnügen schien; so gestand sie mir doch, wie sie sich wundere, da sie Deutschland näher kennen lernte, und so viele Gelehrsamkeit, Kraft und Geist in manchem unserer Schriftsteller fände, daß wir so sehr auf ausländische Litteratur Jagd machten, die französischen und englischen Dichter größtenteils mehr als unsere eigenen kennten, durch die Nachahmungssucht unserm eigenen Genie, das uns ganz neue Wege hätte zeigen sollen, Fes-

81

Theater und für den Roman, wobei bei letzterem erschwerend hinzukommt, daß er noch bis um die Mitte des Jahrhunderts unter einem außerordentlich starken sozialen Rechtfertigungsdruck steht146, der in Europa seinesgleichen sucht und auf den noch einzugehen sein wird. Wurde der Roman vorwiegend seitens der reformierten Geistlichkeit verworfen, wird doch auch auf literarischem Gebiet eine allmähliche Säkularisierung der Gesellschaft deutlich, die sich in einer ab 1740 rapid ansteigenden Romanproduktion bemerkbar macht147. Die Entdeckung der Literatur als ein rentabler Marktzweig spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle148. An der Schwelle zum 18. Jahrhundert vollzieht sich in Deutschland ein Werte- und Geschmackswandel, der die kulturelle Abhängigkeit Deutschlands gegenüber Frankreich erneut intensiviert. Das politische und geistige Gewicht Frankreichs in Europa wächst im 17. Jahrhundert in dem Maße, in dem Spanien an Beselns anlegten, immer hinter jenen herliefen, und Zuschnitt und Stoff von ihnen erborgten. «Statt daß sie die Natur und das menschlische Herz studiren sollten», sagte sie, «um Original» zu werden, studiren sie Voltären, oder Shakespearn: und wenn ich ächte deutsche Münze suche, bezahlen sie mich mit englischer oder französischer, sowohl dem Gehalte, als Gepräge nach, die ich, wenn ich sie brauche, am gültigsten in ihrer Heimath finde. 146

Forschungsstelle fiir Buchwissenschaft an der Universitätsbibliothek Bonn: Der Leser als Teil des literarischen Lebens. (Eine Vortragsreihe mit Marion Beaujean, Hans Norbert Fügen, Wolfgang R. Langenbucher, Wolfgang Strauß), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1971, hier hervorzuheben vor allem der Beitrag von Beaujean, S. 5-32; von Beaujean auch: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts [Diss.], Bonn 1969.

147

Spiegel, Marianne: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert, 1700-1767 [Diss.], Bouvier, Bonn 1967; Kimpel, Dieter: Der Roman der Aufklärung, Metzler, Stuttgart 1967; Ward, Albert: Book Production Fiction and the German reading Public, Oxford at the Clarendon Press 1974; Weber, Ernst/Mithal, Christine: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780: eine Bibliographie mit Besitznachweisen, Erich Schmidt, Berlin 1983.

148

Zu literarischem Markt, Schriftsteller, Verlagswesen usw. grundlegend: Kiesel, Helmuth/Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, Beck, München 1977.

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deutung verliert, wobei paradoxerweise - direkt oder indirekt, eingestanden oder nicht - die französischen Autoren literarisch großzügig aus spanischen Quellen schöpfen. Als unmittelbares Kulturmodell hatte Spanien aber am Anfang des 18. Jahrhunderts im ganzen ausgedient, und Spanisch, das einst Vorbildcharakter gehabt hatte, wirkte nun affektiert, schwulstig, typisch barock149. Das Französische konnte - indem es sich auch im Gegensatz zum Spanischen definierte - den Status einer einfachen und klaren Sprache erlangen, aus der in Eintracht von Vernunft und Phantasie der „Bei esprit" quoll. Da unter den gebildeteren und gereisteren Deutschen die Empfindung eines deutschen 'Charaktermangels' der sich am besten mit dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Begriff des 'Grobianismus' beschreiben läßt und der Fischart zu seiner Übersetzung des Rabelais veranlaßte - , durchaus verbreitet war, wurde der Wunsch wach, so vornehm und elegant, so weltgewandt wie der südländische „homme galant" zu sein. Französische Gegenliebe war jedoch nicht zu erwarten, denn Frankreichs kulturelles Überlegenheitsgefühl nährte sich auch aus einer scharfen Abgrenzung zum „tölpelhaften" Deutschen150. Die Voraussetzungen für die von nun an problematischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren somit gegeben, denn der Unmut über diese herabwürdigende Haltung der südlichen Nachbarn führte auf deutscher Seite bald zu einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex151, der das Nachahmen noch zusätzlich förderte. Die 'leyenda negra' erlebte im 18. Jahrhundert einen erneuten Höhepunkt, wodurch ein erzkatholisches und nun auch fortschrittsfeindliches Spanien in Erinnerung gerufen wurde: „Que doit-on à l'Espagne? Et depuis deux siècles, depuis quatre, depuis dix, qu'a-t-elle fait pour l'Europe?", fragte sich ein gewisser Mas-

149

Brüggemann, Werner: Cervantes und die Figur des Don Quijote in Kunstanschauung und Dichtung der deutschen Romantik, Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Aschendorff 1958, S. 2 f.

150

Best, Otto F.: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, senschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, S. 17.

151

Ebd. S. 17-18.

Wis-

83

son de Morvilliers noch 1782 in der Encyclopédie méthodique152. Auch der europäische Rationalismus wies die im 17. und 18. Jahrhundert fast zur europäischen geschichtlichen Konstante gewordene Tendenz auf, sich durch Absonderung zu definieren, denn das „abenteuerliche" Spanien spielte politisch spätestens seit dem Pyrenäenfrieden von 1659 in Europa eine sehr geringe Rolle: Spanien konnte jetzt nur noch als Kontrastfolie dienen. Trotz allem fanden sich vereinzelt Stimmen, die an Spanien noch etwas zu retten wußten. Der Bibliothekar Friedrichs des Großen, der gelehrte Abbé Giacomo Carlo Denina (1731-1813)153, antwortete Masson, Spanien habe zu Europa den Quijote beigetragen, und ein anonymer Mitarbeiter der Olla Potrida rief aus: „Unglückliches Volk, wenn du den Ausspruch des Hrn. Masson verdientest!"154. Der Quijote wurde in Frankreich zwar gern und viel gelesen, doch galt er als die rühmliche Ausnahme unter den spanischen Büchern, weil er, einer weit verbreiteten Auffassung nach, die närrischen Merkwürdigkeiten des Spaniers widerspiegelte: eine Ansicht, die im aufstrebenden Frankreich schon vor Montesquieus geflügeltem Wort „Le seul de leurs livres qui soit bon est celui qui a fait voir le ridicule de tous les autres" geläufig war155.

152

Neumann, Max-Hellmut: Cervantes in Frankreich, in: Revue Hispanique, Tome LXXVIII - Numéro 173, Février 1930, S. 3-309; auch Brüggemann, Cervantes, S. 29-34.

153

Vgl. Bertrand, J. J. A.: Cervantes et le romantisme allemand, Alcan, Paris 1914, S. 64 f.

154

Olla Potrida, 1785, 1. Stück, Berlin, S. 148-160, „Charakter der Spanier", Zit. S. 148. Zu erwähnen wären natürlich auch einzelne Gelehrte und die sich im 18. Jahrhundert bildenden Hispanistischen Zentren in Hamburg, Göttingen, Weimar, vgl. hierzu allgemein: Farinelli, Arturo: Spanien und die spanische Literatur im Lichte der deutschen Kritik und Poesie, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, 1892, Neue Folge 5 (Teile I-II) und 1895, 8. Band (Teile III und IV); Tiemann, Hermann: Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance bis zur Romantik, Ibero-Amerikanische Studien 6, Hamburg 1936, S. 119-131; Hoffmeister: Spanien und Deutschland. Geschichte und Dokumentation der literarischen Beziehungen, Erich Schmidt, Berlin 1976, S. 87-89; Brüggemann, Cervantes, Einleitung.

155

Montesquieu, Charles de: „Lettres persanes", Nr. 78, in: Ders.: Oeuvres Complètes, Éditions du Seuil, Paris 1964, S. 104. Die Lettres persanes erschienen 1721.

84

Die Aufnahme des Quijote, der Novelas ejemplares und des Persiles hatte in Frankreich in einem Jahrzehnt stattgefunden (1608-1618)156. René Rapins Kritik des Quijote in seinen Réflexions sur le Poétique d'Aristote (1674) sollte sich als folgenreich erweisen. Laut Rapin, der den Roman fur eine der besten Satiren hielt, die jemals geschrieben worden waren, machte sich Cervantes aus gekränktem Ehrgefühl über den spanischen Adel lustig157. Die Einschätzung Rapins wurde bereits 1681 fast wörtlich in der zweiten Auflage des Grand Dictionnaire Historique wiedergegeben, und sie wird in den verschiedensten Variationen - Cervantes z. B. als Henker der spanischen Ehre: eine Interpretation, die u. a. Lord Byron vertreten wird158 - immer wieder auftauchen159. Zu der 'adligen' gesellte sich bald die 'religiöse' Interpretation. In der Bibliothèque Universelle et Historique de l'année 1688 (Bd. 11, S. 107-112) wurden Don Quijote und Ignatio de Loyola auf die gleiche Stufe gestellt, denn letzterer sei von dem gleichen Drang wie der unzeitgemäße Ritter besessen, nur daß Loyola statt der Helden der von ihm gern gelesenen Ritterromane den heiligen Franziskus von Assisi nachgeahmt und den Jesuitenorden gegründet habe160. Wurde in dem zur Hegemonialmacht strebenden Frankreich der Rückgriff auf Don Quijote zu einer üblichen Strategie in der Polemik gegen die Religion im allgemeinen und gegen die Jesuiten im besonderen, so ließ sich nicht leugnen, daß der Quijote selbst zuweilen eine solche Gedankenanalogie nahelegte: 156

Vgl. Neumann: Cervantes in

Frankreich.

157

„Ce grand homme [Cervantes] ayant esté traité avec quelque mépris par le Duc de Lerme, premier Ministre de Philipp III qui n'avoit nulle consideration pour les Çavans, écrivit le Roman de Dom Quijot, qui est une Satire très fine de sa nation: parce que toute la Noblesse d'Espagne qu'il rend ridicule par cet ouvrage, s'estoit entesté de Chevalerie." Ausgabe Amsterdam, 1709, S. 205, Zit. bei Brüggemann, Cervantes, S. 30.

158

„the greatest satire against human enthusiasm", Zit. bei Bergel, Lienhard: „Cervantes in Germany", in: Flores, Angel/Benardete, J. J. (Hgg.): Cervantes across the centuries, The Dryden Press, N e w York 1947, S. 305-342, hier S. 331.

159

Brüggemann, Cervantes,

160

Ebd.

S. 30 f.

85

Así que, señor mío [sagt Sancho zu Don Quijote, A.P.], más vale ser humilde frailecito de cualquier orden que sea, que valiente y andante caballero; más alcanzan con Dios dos docenas de disciplinas que dos mil lanzadas, ora las den a gigantes, ora a vestiglos o a endrigos. - Todo eso es así - respondió Don Quijote pero no todos podemos ser frailes, y muchos son los caminos por donde lleva Dios a los suyos al cielo: religión es la caballería; caballeros santos hay en la gloria.161 1734 erschien in Leipzig bei Gaspar Fritsch: Des berühmten Ritters,/ DON QUIXOTE/ von Mancha,/ Lustige und sinnreiche Geschichte,/ abgefasset von/ Migvel Cervantes Saavedra. Diese zweite vollständige deutsche Übertragung eines anonymen Übersetzers folgte der sehr unpräzisen und hinzudichtenden von Filleau de Saint Martin162. Das Vorwort faßt die verschiedenen Varianten der französischen Interpretation zusammen, und der Quijote ist nun eine Satire auf die Ritterromane, Spanien, die spanische Literatur, den Herzog von Lerma und Ignacio de Loyola und überhaupt auf die wunderliche und abenteuerliche Eigenart der Spanier. Den kritischen, fast schon voraufklärerischen Ton, den man im Quijote zu sehen glaubte, machte das Werk im Zeitalter des Rationalismus auf einseitige Weise besonders nachahmenswert. So entstanden eine ganze Anzahl von sich als aufgeklärt und aufklärerisch gebenden Romanen, unter denen einige sehr bald ins Deutsche übersetzt, andere auf französisch in Deutschland gelesen wurden. Wenn also die französischen Aufklärer einerseits an der Verbreitung der 'leyenda negra' wesentlich beteiligt waren163, so 161

II, 8, 139.

162

Unter anderem läßt Saint Martin in einem von ihm hinzugefügten fünften Teil Don Quijote als warnendes Beispiel am Leben.

163

Walz, S. 57. Noch 1780 erscheint in Olla Potrida, Bd. 3, 1. St., S. 7083, ein Bericht über die „Gesetze und Rechte des heiligen Gerichts in Spanien und Portugal", der, nachdem eine detaillierte und offensichtlich auf Sensationsbedürfnisse zielende Schilderung der Autodafés geliefert worden ist, mit dem dramatischen Ausruf schließt:

86

fand andererseits ihre positive, wenn auch beschränkte QuijoteBeurteilung auch in Deutschland Aufnahme. Zu einem tieferen Verständnis des Werks konnte man in Frankreich nicht gelangen, weil der Blick durch nationale - Abgrenzung als Selbstbestätigung - und radikal rationale Tendenzen getrübt war: Die ganze spanische Kultur der vorangegangenen Jahrhunderte wurde über einen Kamm geschert und verworfen164. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Frankreich als kulturelle Orientierungs- und Leitnation von England abgelöst. Die Gründe hierfür mögen in der Konsolidierung einer bürgerlichdemokratischen Gesellschaft in England liegen, die dem auch in Frankreich und Deutschland aufstrebenden Bürgertum als beneidenswert erscheinen mußte. Der große zentralistische französische Staat, dessen Widersprüche, Spannungen und Versagen im 18. Jahrhundert in einem immer größeren Ausmaß zu Tage traten, war nicht nach Deutschland zu importieren; der englische Parlamentarismus auch nicht, aber die Freiheiten, die die Engländer genossen, erschienen doch als wünschenswerter und greifbarer. Die 'Niederlage' Gottscheds, das Aufkommen der Moralischen Wochenschriften, die kontinuierlichen Hinweise auf die Freiheit in England seitens der deutschen Schriftsteller, der außerordentlich nachhaltige Erfolg Shakespeares, die sehr starke Präsenz des englischen Romans in Deutschland, die Wahl englischer Namen für die Titel von Theaterstücken und Romanen, dies alles zeigt die außerordentlich starke Präsenz des Englischen in Deutschland, besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Goethe, schon ahnend, daß sich die europäische Literatur ohne die Berücksichtigung ihrer Wechselbeziehungen kaum würde begreifen lassen, faßte dies im hohen Alter in einer rhetorischen Frage zusammen:

„Leser! weine! Und wenn Du Protestant und Deutscher bist, So fall auf Deine Knie, und danke Gott, daß Deine Geburtsstadt nicht in diesen Ländern ist!" S. 83; ich gebe die graphische Hervorhebung des Originals wieder. 164

Was Lesage nicht daran hinderte, gerade das vielleicht spanischste literarische Produkt - den Schelmenroman - aufzunehmen und zu verarbeiten.

87

„Unsere Romane, unsere Trauerspiele, woher haben wir sie denn als von Goldsmith, Fielding und Shakespeare?"165 Karl Philipp Moritz, der 1782 mehrere Monate durch England reiste und ein Jahr später seine Eindrücke und Erfahrungen in seinen Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782, in Briefen an Herrn Direktor Gedike niederschrieb und veröffentlichte, erwähnt in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser an französischen Büchern, sieht man vom umfangreichen Werk der Madame Guion ab, nur Les aventures de Telemaque (1699), die Dialogues des morts (1700) und die Contes et fables (1690) von Fenelon, und außerdem noch die Zaire (1732, dt. 1740) von Voltaire166, an englischen Werken oder Autoren aber Youngs Night Thoughts (1742-1745) und seine Tragödie The Revenge (1721), Miltons Paradise Lost (1667/1674), Fieldings Tom Jones (1749), Sternes Yoriks Empfindsame Reise (1768), John Bunyans Pilgrims progress (1678), die Werke von Alexander Pope, The Vicar of Wakefield von Oliver Goldsmith (1766) und immer wieder Shakespeare. Eine kurze Nachricht im Hannoverischen Magazin, 104. Stück, II. Theil, Jahrgang 1764, „Von dem Zustande der Gelehrsamkeit in Spanien", die als „Aus dem Universal Magazine de mese Jul. 1763" entnommen angegeben wird167, erhellt auf prägnante Weise, wie das Lamento über die spanischen Zustände einhergeht mit dem Lob, und besonders im Land Hannover, das seit 1714 in Personalunion mit dem Königreich Großbritannien stand (bis 1837), auch mit dem Anspruch auf die englischen Freiheiten: Es finden sich 2 wichtige Stücke, welche der Gelehrsamkeit und den schönen Wissenschaften in Spanien im Wege 165

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (hrsg. von Fritz Bergemann) (2 Bde.), Insel, 1981, Bd. 1,S. 118 (3. Dezember 1824).

166

Voltaires 1734 erschienene französische Ausgabe der Letters concerning the English Nation (entstanden im Exil, veröffentlicht in London 1733) werden noch im gleichen Jahr vom französischen Parlament als staats- und religionsfeindlich eingestuft, beschlagnahmt und öffentlich verbrannt; gegen den Autor wird Haftbefehl erlassen.

167

Es handelt sich um The Universal Magazine of knowledge and pleasure, erschienen in London 1747-1803.

88

stehen. Das eine ist die grosse Einschränkung der Freyheit, seine Gedanken durch den Druck bekannt zu machen; das andere die Censur der Inquisition. [...] Was würde aus dem Witze und den Scherzen des Dr. Swift, aus den vortreflichen Betrachtungen des Addison, und aus den artigen Aufsätzen des Richard Steele geworden seyn, wenn ihre freyen und ungezwungenen Geister, gleich wie die Spanier, mit Ketten gefesselt worden wären? Wo würden die vielen vergnügenden und lehrreichen Schriften geblieben seyn, welche zu verschiedenen Zeiten täglich, durch diese Freyheit an das Licht gebracht, und in den Federkriegen, die wir wegen der Partheylichkeit, der Politik, der Gelehrsamkeit und der Religion selbst, gefuhret haben, gewechselt worden sind?168 Zur gleichen Zeit aber, in der die inthronisierte Unwissenheit, der Aberglaube, die Mönche und die von ihnen betriebene Scholastik als 'Fortschrittssaboteure' dargestellt werden, wird jenes spanische Kulturgut wiederentdeckt und gefördert, das man glaubt, in Einklang mit den Begriffen des (wissenschaflichen) Fortschrittes und der Freiheit bringen zu können: Wenn man die Sache aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, so ist es zu bewundern, daß es die Spanier noch so weit in Künsten und Wissenschaften gebracht haben, zumal wenn man an die Gewalt und ungezämte Freyheit der Inquisitoren oder der Dominicaner zurück denkt, welche alle daselbst gedruckte Schriften censiren, und die Verfasser nach Gutbefinden bestrafen. [...] Michael Cervantes, der unnachahmliche Autor des Don Quixote, mußte harte Stürme ausstehen [...] Joh. de Mariana, der sich und seinem Vaterlande durch seine Studien eine dauerhafte Ehre erworben hat, mußte 20 Jahre in einem Gefängnis zubringen. [...] Selbst in den 2 oder 3 letzteren Jahren, hat die Inquisition den Dr. Isla [...] zum stillschweigen gebracht.

168

Hannoverisches Magazin,

104. Stück, II. Theil, 1764, Sp. 1647-1658.

89

Bey so bewandten Umständen, ist man gewiß den grossen Geistern in Spanien, nicht wenig Dank schuldig, die Muth genug gehabt, alle diese Hindernisse zu überwinden, und solche Werke geliefert haben, die ihnen bey ihren Landesleuten und bey Fremden zum Ruhm gereichen.169 Diese kurze Nachricht, in der soviel von Freiheit die Rede ist und in der bei aller Kritik an den spanischen Zuständen die englischen Freiheiten in Beziehung zu einer spanischen Tradition gesetzt werden, müßte - eigentlich - im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht anders als vor dem Hintergrund einer Anweisung und Klarstellung Friedrichs II. aus dem Jahre 1784 gelesen werden: Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche, sogar tadelnde Urteile zu fallen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekanntzumachen oder durch den Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.170 Der entscheidende Antrieb für eine weitgehendere Rezeption des Quijote in Deutschland und für die Entstehung des deutschen 'Romans' im 18. Jahrhundert sollte nicht aus Frankreich, sondern aus England kommen.

169

Es folgt eine lange Aufzählung, die unter nicht rein wissenschaflichen oder literarischen Aspekten zusammengestellt ist und die zur gleichen Zeit Kenntnis und Unwissenheit verrät: „Cervantes, Covarrubias, Faxardo, Zurita, Cabrera, Sandoval, Mariana, Antonio Perez, Garcilaso de la Vega, Lope de Vega, Carpio [zwei Autoren!, A.P.], Antonio de Guevara, Calderoni, Ant. de Solis, Herera&c." Zitate Sp. 1647-1653.

170

Zit. bei Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990 19 , S. 84.

90

2.2 Vierte Abschweifung: Spanien/England/Deutschland oder wie die 'Albiött' den Quijote nach Deutschland schleuste Im Jahre 1612 erschien in London die englische Übersetzung des ersten Teils des Quijote. Es sollte die erste Übertragung von Cervantes' Meisterwerk sein. Zwei Jahre später wurde auch in Frankreich der erste Teil des Romans ins Französische übersetzt. Zwischen diesen beiden Jahren tauchte der Manchaner auch in Deutschland auf, allerdings nicht gedruckt, sondern leibhaftig171: 1613 fand in Heidelberg zum Vergnügen von Volk und Adel eine Maskerade aus Anlaß der Vermählung der Tochter Jacobs I. von England, Elisabeth, mit Friedrich V. von der Pfalz statt172. Unter den allegorischen Figuren befand sich auch ein Don Quijote, der in einem „Cartell" zum Wettkampf im „Kübelrennen"173 aufrief 74 . Anspielungen auf den Quijote tauchten in der englischen Literatur schon um 1610-1611 bei Ben Jonson auf; und 1613 entstand ein Theaterstück, das sich an den Quijote anlehnte, und zwar Francis Beaumonts (und Fletchers) The Knight of the Burning

171

Weiss, Joseph: „Don Quijote am Kurpfälzischen Hofe 1613, sein öffentlicher Einzug in Deutschland", in: Das Bayerland, XXVII (1916), S. 253-255.

172

Beschreibung der Reiss: Empfahung dess Ritterlichen Ordens: Volbringung des Heyraths: vnd glücklicher Heimführung... des Durchleuchtigsten, Hochgebornen Fürsten vnd Herrn, Herrn Friederichen dess Fünften, u.s.w., In Gotthardt Vögelins Verlag, 1613, 4, S. 205 u. 99 ff. Bibliographischer Hinweis bei Fischer, Hermann: „Don Quixote in Deutschland", in: Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte, V, 1892, S. 331-332.

173

Anstelle von Helmen trugen die fingierten Ritter Kübel.

174

Der Inhalt des Cartells läßt Hermann Fischer vermuten, daß die Geschichte des Don Quijote in Deutschland schon vor diesen Feierlichkeiten bekannt war. Doch woher sollte das allgemeine deutsche Publikum 1613 den Quijote kennen? Der Verfasser des Cartells gab eine so ausführliche Charakterisierung des Manchaners, daß man den Eindruck gewinnen muß, er wollte ihn den Gästen erst einmal vorstellen. Die Annahme Neumanns, Don Quijote sei mit der englischen Braut nach Deutschland gekommen, scheint da eher berechtigt. Neumann, Max-Hellmut: „Cervantes in Deutschland", in: Die Neueren Sprachen, XXV, 1917, S. 146-213.

91

Pestle115. Dies zeugt von der Schnelligkeit, mit der die englischen Schriftsteller Cervantes' Werk literarisch verwertet haben. Die Nachahmungen und Anlehnungen brachen im ganzen 17. und 18. Jahrhundert nicht ab176. In der ersten Epoche der Quijote-Rezeption in England, bis um 1700, wurde der Roman vorwiegend satirisch interpretiert. In diesem Sinne wiesen auch die von dieser Auslegung ausgehenden Werke einen scharfen kritischen Ton auf 77 . Samuel Butlers gegen den Puritanismus gerichteter Hudibras (1663-1678), der wesentlich zur Popularisierung des Quijote in Großbritannien beigetragen hat178, war in dieser Beziehung das bekannteste und erfolgreichste Werk. Gegen Ende des Jahrhunderts war der Quijote in England schon so beliebt, daß Alexander Pope für die Novelas ejemplares warb, indem er darauf hinwies, daß sie von dem „author of that Famous History Don Quixote de la Mancha" stammten179. Die positiven Besprechungen des Quijote - zuerst in der von Richard Steele (1672-1729) und Joseph Addison herausgegebenen moralischen Wochenschrift The Tatler (1709-1711) und vor allem in Addisons The Spectator (1711-1712)- verbreiteten das Interesse für den Quijote unter dem immer stärker aufkommenden englischen Bürgertum180, und es verbreitete sich allmählich eine Interpretation des Romans, die über das rein Satirische hinausging, indem der Blickpunkt mehr auf Alonso Quijano als auf Don Quijote gerichtet wurde: „Every man has something of Don Quixote in his Humour, some darling Dulcinea of his Thoughts, that sets him 175

Becker, Gustav: Die Aufnahme des Don Quixote in der englischen Literatur (1605 - c. 1700) [Diss.], Berlin 1902 (u. Palaestra XIII, Berlin 1906); Knowles, Edwin B.: „Cervantes and English Literature", in: Flores, Angel/Bernardete, M. J. (Hgg.), S. 267-293; Peers, Allison E.: Cervantes in England, in: Bulletin of Spanish Studies, XXIV, 1947, S. 226-238; Brüggemann, Cervantes, S. 3-41.

176

Die bekanntesten im 17. Jahrhundert sind: Edmund Gayton: Pleasant Notes upon Don Quixot, 1654 und Thomas D'Urfey: The comical History ofDon Quixote (Comedy in three parts), 1694.

177

Becker, S. 33.

178

Knowles, S. 274 f. und Brüggemann, Cervantes,

179

Zitat nach Knowles, S. 277.

180

Die tägliche Auflage des The Spectator schätzt. Berger, S. 27.

92

S. 36.

wird auf 14 000 Exemplare ge-

very often upon mad Adventures", hieß es in der Einleitung zur im Jahre 1700 erschienenen Übersetzung des Quijote von Peter Antoni Motteux181. 2.3 Die 'Theoretiker' äußern sich zum Quijote 2.3.1 Gottscheds Einstellung zu Aristophanes, zum Quijote und zum Humor überhaupt Die englischen Wochenschriften lieferten das Muster für die deutschen Moralischen Wochenschriften. Sowohl Johann Jakob Bodmers Diskurse der Malern (1721-1723) als auch Johann Christoph Gottscheds Die vernünftigen Tadlerinnen (1725-1727) stimmten in Gestaltung und Ziel mit den englischen Wochenschriften überein182. 1725 stellte Gottsched in seinen Tadlerinnen eine Frauenbibliothek zusammen, die, seinen ästhetischen Einstellungen getreu, zwar vorwiegend aus französischen Büchern bestand, aber in die zum ersten Mal der Quijote mit aufgenommen wurde183. Auch empfahl Gottsched den Roman im Biedermann184 und übersetzte sogar aus ihm, sich auf Joachim Caesar stützend, für den Neuen Büchersaal1*5. Seine Interpretation des Romans kommt aber, wie das schon bei Harsdörffer im vorigen Jahrhundert der Fall war, über einige - eher literaturimmanente - allgemeine Aussagen nicht hinaus: Der Quijote sei geschrieben worden, um die schlechten Ritterbücher zu verdrängen, was ihm nicht nur in „Spanien, ja in ganz Europa" gelungen sei186. Nicht übernommen 181

Zitat nach Knowles, S. 280, wo auf den folgenden Seiten weitere Belege für eine solche Einstellung aufgeführt werden; vgl. auch Becker, S. 44.

182

Berger, S. 25 f.

183

Leipzig 1725, Bd. 1,S. 200.

184

Der Biedermann,

185

Neuer Büchersaal,

186

Gottsched, Johann Christoph: „Versuch einer critischen Dichtkunst; anderer besonderer Theil", in: Ausgewählte Werke (hrsg. von Birke, Joachim/Birke, Brigitte/Mitchell, P. M.), Bd. VI/2, Walter de Gruyter,

63. Blatt, 1728, S. 49. Leipzig 1745-54, Bd. 4, S. 295.

93

oder vorgebracht wird die französische Auffassung, der Quijote sei eine Satire auf die verstiegene Narrheit der Spanier. Gottsched geht es ja auch vor allem um 'Dichtkunst', worunter bei ihm rein 'literarische', d. h. ästhetische Aspekte zu verstehen sind. Kunst ist schön, vornehm, erhaben, nach dem Uz'sehen Vers „Die hohe Muse weiß/ was ihrem Ernst gebühre"187: Als kritische, aufwühlerische, mehrstimmige, 'demokratische' Kunst wird sie erst gar nicht in Betracht gezogen. Dies stimmt mit der politischen und sozialen Angepaßtheit Gottscheds überein, die der Literatur hier und da notwendigerweise Schranken setzen muß. Solches gilt für die Satire, weil sie sich leicht in eine persönliche Schmähschrift verwandeln und die Oberen beleidigen kann: 802. §. Doch da es in einem gemeinen Wesen, gar leicht mehr geschickte und wohlverdiente Leute geben kann, als man zu oeffentlichen Aemtern brauchet: so ist es auch billig dieselben nicht ungeehret zu lassen. Man muß ihnen also solche Titularwuerden geben, die da vermoegend sind, dem gemeinen Manne anzuzeigen, was fuer Arten der Vollkommenheiten sie besitzen, und was fuer Ehrerbiethung sie verdienen. Dahin gehoeren nicht nur die akademischen Magister- und Doctortitel, sondern auch die Titularbediengungen bey Hofe.

[...]

803. §. Weil nun der Ehre die Schande, und den Ehrentiteln die Schimpf- und Schmaehworte entgegen gesetzet sind; dadurch auch die wackersten Leute im gemeinen Wesen, oft gekraenket werden: so muß die Oberkeit solche gar nicht dulden. Man muß also aus dem gemeinen Wesen, den Gebrauch aller solcher Schmaehworte und Beschimpfungen ganz verbannen, und diejeBerlin, New York 1973, S. 287. Seine genaue Kenntnis des Romans beweist Gottsched, indem er auf einzelne Stellen hinweist, die ihm zur Untermauerung seiner Verteidigung der drei Einheiten dienen, vgl. S. 320 f. 187

94

Johann Peter Uz, An Herrn Hofrath C (1754) (Zitat in Promies, Wolfgang: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie, Fischer, Frankfurt/Main 1987 (Carl Hanser 1966) S. 205).

nigen bestrafen, die andern beschwerlich fallen. Vielweniger muß es erlaubet seyn, in Schriften, Liedern, oder Bildern, andere zu beschimpfen; das ist, ihnen UnVollkommenheiten oder Laster vorzuruecken. [...] Es muß also eine große Strafe auf solche Schmaehschriften gesetzet werden; worunter doch Satiren ueber allgemeine herrschende Laster nicht zu rechnen sind.188 Es gilt aber auch für die Komödie, da gewisse Stände - und somit die Ständeklausel - respektiert werden müssen: Die Personen, die zur Comoedie gehoeren, sind ordentliche Buerger, oder doch Leute von maeßigem Stande, dergleichen auch wohl zur Noth Barons, Marquis und Grafen sind: nicht, als wenn die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die laecherlich waeren; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung laeuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswuerdig vorzustellen.189 Aristophanes, der sich nichts daraus machte, „den Xerxes mit einer Armee von 40 000 Mann auf einen ganz gueldenen Berg marschieren, und ihn also in einer koeniglichen Pracht seine Nothdurft verrichten zu lassen" 19°, hätte sich so etwas erlauben können, weil er „ein republikanischer Kopf gewesen sei - hier wohl im Sinne von Freidenker - , „der wohl wußte, daß die Griechen am liebsten ueber die Koenige lachten: zu geschweigen, daß er auch die Thorheit des Xerxes auf eine unnatuerliche Weise vergroeßert hat"191, sie also nicht wörtlich und auf bestimmte Personen bezogen, sondern eher gleichnishaft und allgemein zu verste188

Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke, Bd. 5, 2. Teil („Die Staatslehre", 2. Abschnitt: „Von der Herrschsucht"), hrsg. von P. M. Mitchell, Walter de Gruyter, Berlin, New York 1983, S. 494-495. Und hier zeigt sich Gottsched in Übereinstimmung mit Piaton (vgl. Kraus, Aristophanes'politische Komödien, S. 11).

189

Versuch einer critischen Dichtkunst (2. Teil), S. 351 (über Peter Antoni Motteux).

190

Versuch einer critischen Dichtkunst (2. Teil), S. 351.

191

Ebd.

95

hen sei. Wird aus heutiger Perspektive die antike griechische Komödie zuweilen als Ausdruck höchster „Bildungsreife" verstanden192, setzt sie Gottsched - sich auf Horaz, den Abbé Bruemois (Le Théâtre des Grecs /-///, Paris 1730) und die Mémoires de L'Académie des Belles Lettres193 stützend - absichtsvoll allgemein mit dem 'Lästerlichen' gleich und billigt denn auch ihre Zensur seitens der Obrigkeit, weil ja sogar: die vornehmsten Leute in Athen vor den Poeten nicht sicher gewesen: selbst Sokrates ist von ihnen oeffentlich verspottet worden; da ihn Aristophanes in dem Stuecke, 192

So bei Burckhardt: Die Parodie des Feierlichen und Erhabenen, welche uns hier [in einem 'karnevalesken' Umzug im vatikanischen Hof, A.P.] in Gestalt eines Aufzuges entgegentritt, hatte damals bereits eine mächtige Stellung in der Poesie eingenommen. Freilich mußte sie sich ein anderes Opfer suchen, als z. B. Aristophanes durfte, da er die großen Tragiker in seiner Komödie auftreten ließ. Aber dieselbe Bildungsreife, welche bei den Griechen zu einer bestimmten Zeit die Parodie hervortrieb, brachte sie auch hier zur Blüte. Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Alfred Kröner, Stuttgart 1958, S. 148. Ähnlich Gervinus, der m. W. zum ersten Mal eine so deutliche Linie zwischen Aristophanes und Cervantes zieht: Es ist thöricht zu sagen, daß Cervantes im Don Quixote die Ritterromane und das Ritterthum nicht hätte verspotten wollen; nichts anderes war seine Absicht, wenn er auch diese Absicht mit wahrer Genialität überflog und den Kampf des Wirklichen mit der Idee, der das große Thema aller komischen Dichtung so ist, wie der des Schicksals mit der menschlichen Freiheit das der tragischen, in einer Vollendung darstellte, daß man ihn nur dicht neben Aristophanes, und neben beiden keinen dritten nennen kann. Gervinus, Georg Gottfried: Geschichte der deutschen Dichtung, Wilhelm Engelmann, Bd. 3, Leipzig 18725, S. 206-207.

193

96

Aufgenommen in die ersten 13 Bände der Histoire de l'Académie royale des Inscriptions et belles lettres, Depuis son Establissement jusqu 'à présent. Die einzelnen Arbeiten zum griechischen Theater sind angeführt im Kommentarband von Mitchell zur Dichtkunst, Bd. VI/4, Walter de Gruyter, Berlin, New York 1978, S. 174-175.

das er die Wolken nennet, als einen wunderlichen Naturforscher und gottlosen Atheisten vorgestellet. Sonderlich sungen die Choere dieser Comoedien nichts als ehrenruehrige Schmaehlieder, dadurch die Unschuldigsten angegriffen wurden. Daher kam es denn, daß die Obrigkeit dieser Frechheit Einhalt that, und die Choere abzuschaffen, auch keine Person mehr mit Namen zu nennen geboth.194 Die gleichen Argumente hatten schon gleich zu Anfang der Reformation dazu gedient, Aristophanes aus dem deutschen evangelischen Schulbetrieb zu verbannen, wie es sich im 30. Kapitel von Johannes Sturms Straßburger Lehrplan von 1538, der bis zum 17. Jahrhundert als Vorbild für die protestantischen Schulprogramme ganz Deutschlands diente, nachlesen läßt: Necessaria magis est Comicorum et Tragicorum Graecorum explicatio, sed non omnium vel Tragoediarum, vel Comoediarum, sed Comicorum et Tragicorium omnium. Sunt enim insignes, ut Euripides, Sophocles, Aeschylus. Aristophanem propter nubes et calumnias adversus Optimum philosophum Socratem fictas atque conflatas de ludo eiicerem, nisi utilitas in eo tanta esset, ut cum optimis comparetur.195 Gottsched gab folgerichtig der mittleren Komödie Menanders vor der alten den Vorzug, nicht - und hier verläßt Gottsched sein übliches literarisches Terrain - weil Menander größere künstlerische Leistungen hervorgebracht hätte, sondern weil er seine Figu194

Versuch einer critischen Dichtkunst (2. Teil), S. 351.

195

Empfohlen wurden: Euripides, Sophocles, Aeschylus, Pindar und Horaz, weiterhin Vergil, Hesiod, Dyonisus, Homer, Lucretius usw., da man aus ihnen allen nicht nur die antiken Sprachen lernen - sie sollten zu formal-drillhaften Übungen dienen sondern auch etwas „Nützliches" („et quoniam [Vergil und Homer, A.P.] multa sunt Poetarum genera, ab utilioribus est incipiendum") - im Sinne von Sachwissen - ziehen könne. Vgl. Grimm, Gunter E.: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Max Niemeyer, Tübingen 1983, S. 108 f., Zitate S. 109-110.

97

ren erfand und somit weder mit dem Glauben - Helden - noch mit seinen Zeitgenossen - Politik - in Konflikt geriet: Dieser [Menander, A.P.] fing nunmehro an, rechte Fabeln zu erdenken, die sich auf die comische Schaubuehne schickten. Er gab denenselben weder von lebendigen Leuten, noch von den Helden in Geschichten, die Namen; sondern er taufte sie selbst, wie es ihm gut duenkte. Seine Spiele aber blieben deswegen doch eben so angenehm und erbaulich, als sie vorher gewesen waren.196 Eine ähnliche Komödie wünschte sich Gottsched auch für seine Zeit, da die zeitgenössische (italienische) Komödie nichts als „unnatuerliche Kuensteleyen" und (die französische) nichts als „Liebesstreiche" hervorbrächte. Zu warten sei auf ein Tractact von dem Herrn Riccoboni197, darinn er zu einer gaenzlichen Verbesserung der Schaubuehne, Vorschlaege thun, und Mittel an die Hand geben wird, sie mit der Vernunft, Politik und Religion in eine voellige Uebereinstimmung zu bringen.198 196

Versuch einer critischen Dichtkunst (2. Teil), S. 339.

197

De la Réformation du Théâtre, Paris 1743.

198

Versuch einer critischen Dichtkunst (2. Teil), S. 351. In der letzten Hälfte des Jahrhunderts finden sich Gottscheds Meinungen über Aristophanes bei den meisten deutschen und auch französischen Kommentatoren wieder; meistens schreiben die deutschen von den französischen Kritikern, die - wie konnte es anders sein! - Aristophanes mangelndes Kunstbewußtsein und -wollen vorwerfen, ab. Voltaire dagegen tadelt - im Zuge des aufklärerischen Sokrates-'revivals' - Aristophanes wegen seiner Angriffe gegen Sokrates: „Voilà l'homme qui prépara de loin le poison, dont des luges infames firent périr l'homme le plus vertueux de la Grèce". Im 1. Supplementband zu Jöchers Gelehrtenlexikon (1750 ff.) tritt im Artikel „Aristophanes", der auf französische Kommentatoren basiert, die schon dargestellte Ideologie zutage, die Kunst als Erhabenheit und das Volk als rohe, zu wahrem Kunstgenuß unfähige Masse abqualifiziert: „Ueber die Sittlichkeit seiner Lustspiele hat man in den älteren und neueren Zeiten häufig gestritten. Allein man wird den vielen Schmutz, die niedrigen Zoten, und die unanständigen persönlichen Angriffe verdienter Männer wohl schwerlich mit etwas anderem entschuldigen können, als mit dem noch sehr rohen Geschmacke des atheniensichen Volkes und mit seiner Absicht, den nied-

98

2.3.2 Bodmers und Breitingers Antwort auf Gottsched Ein Wandel im Literaturverständnis, der Auswirkungen auf die Interpretation des Quijote in Deutschland hätte haben können, war von Gottsched nicht zu erwarten, sondern setzte z. T. erst mit seinen Schweizer Widersachern Breitinger und Bodmer ein, welche gegen den französischen Klassizismus für eine spontanere, der menschlichen Natur nähere und angemessenere, weil wahrhaftere Kunst, in der aber auch „das Wunderbare" seinen Platz haben sollte, plädierten. Dank der Schrift Von dem Character des Don Quixote und des Sancho Pansa199 gilt heute Bodmer, der 1746 den spanischen Roman in seine Damenbibliothek aufnahm200, als der Begründer der deutschen Cervantes-Kritik, denn er habe über die Engländer hinaus auf das allgemein Menschliche im Quijote aufrigen Pöbel zu belustigen, welche denn doch wieder einer neuen Entschuldigung bedarf." Zitate nach Hilsenbeck, Fritz: Aristophanes und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, Emil Ebering, Berlin 1908, S. 18 und 21. Lessing wird, wie in so vielem anderen, einer der ersten sein, die zu einem besseren Verständnis und einer tieferen Würdigung von Aristophanes gelangen: „Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; so daß Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht treffende Züge für nichts als muthwillige Verleumdungen erklärt und sie durchaus dafür nicht erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen des einzelnen Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum Allgemeinen". G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Alfred Kröner, Stuttgart 1958, 91. Stück, S. 353 (vgl. hierzu auch 90. Stück, in dem sich Lessing gleichfalls mit dem Konkreten und Allgemeinen bei Aristoteles und in der Alten Komödie beschäftigt). 199

Bodmer, Johann Jacob: „Von dem Character des Don Quixote und Sancho Pansa", in: Ders.: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, Zürich 1741, 18. Abschnitt, (Faksimileausgabe, Athenäum, Frankfurt am Main 1971, S. 518-547).

200

Bodmer, Johann Jakob/Breitinger, Johann Jakob: Der Mahler der Sitten, 2. Bd., 76. Blatt, Zürich 1746, S. 282. (Faksimileausgabe, Georg Olms, Hildesheim - New York 1972).

99

merksam gemacht201. Doch seine grundlegendste Erkenntnis, nämlich: „Don Quixote ist in einem vornehmen Stücke ein Narre, in andern ist er weise; und so sind alle Menschen"202, schöpft er aus englischen Quellen203. Und auch er kommt nicht vom französischen Vorurteil los, Don Quijote repräsentiere in seiner Narrheit typische spanische Charaktereigenschaften: Denn Don Quixote ist nichts anders, als eine symbolische Person, welche erfunden worden, eine besondere und merckwürdige Eigenschaft in dem Charakter der Spanischen Nation vor den Augen aller Welt zu spielen.204 201

Neumann, Cervantes in Deutschland, S. 158; Auch bei Bergel, S. 313: „Bodmer [...] is probably the first German critic to make himself independent of the English interpretation of Don Quixote [...] For Bodmer, Don Quixote is not so much a satire as a representation of complicated psychological states." Diese Auffassung wurde auch schon in Flögeis Geschichte der komischen Literatur aufgenommen, wo es heißt: „Von dem Charakter des Don Quixote und des Sancho Pansa hat Bodmer eine eigne Abhandlung geschrieben, worinn er einen seiner Freunde zurechtweißt, der nicht begreifen konnte, wie sich Narrheit und Weisheit in einem einzigen Subject vertragen können. Die Besuchung der Irrhäuser würde ihm deutlich gezeigt haben, daß ein Mensch in einem Punkte ein Narr, und in allen andern klug seyn kann." Georg Olms, Hildesheim - New York 1976 (Faksimile der Ausgabe Liegnitz und Leipzig 1784), Bd. 1, S. 286. Auch bei Flögel hält sich also die 'psychologische' Erkenntnis in Grenzen. Interessanter ist da schon folgende scharfsinnige Aussage, weil sie erstens das Absichtsvolle und Tiefgehende des Lustigen hervorhebt und sich - vor dem soziohistorischen deutschen Hintergrund in seiner protestantischen Ernsthaftigkeit - , in ihr zweitens eine implizite Kritik verbirgt: „Die ungemein lustige Schreibart, derer sich Cervantes bedient, ist das wahre Gepräge des Genies, und unter allen Schreibarten gewiß am schwersten zu erreichen. Daher sagt er selbst im zweiten Capitel des zweiten Theils durch den Don Quixote: es ist keine Schreibart schwerer zu erreichen als die lustige; wer sie recht treffen und annehmlich scherzen will, der muß überaus verständig seyn.", Bd. 1, S. 286-287.

202

Bodmer, Critische Betrachtungen, S. 524-525.

203

Bodmer selbst gibt uns darüber in seinen Persönlichen Anekdoten Auskunft: „In der französischen Übersetzung des englischen Spectator und in Montaignes Essays sandte ich meine ersten Blicke in das menschliche Herz" (Zitat nach Berger, S. 28).

204

Critische Betrachtungen, S. 518.

100

Bodmer ging es hauptsächlich darum, weniger den Quijote als den Roman vor dem Vorwurf der "Unwahrscheinlichkeit" zu bewahren, d. h., das Erzeugen von Wirklichkeit durch psychologische Verwechslung derselben zu rechtfertigen. In dieser Absicht rückte er den Helden und seinen Betrachtungswinkel in den Mittelpunkt des Geschehens, wodurch eine Art von künstlerischer Wirklichkeit entstand, bei der der Leser nicht auf getreue Abbildung der Realität hoffen durfte, sondern sich aktiv beteiligen mußte, indem er sich in die Figur hineinversetzte. Da aber der Betrachtungspunkt dieser Figur „symbolisch", d. h. allgemein bleibt, kann bei Bodmer von Psychologie des Individuums keine Rede sein. In keinem Moment stellte Bodmer die 'faßbare' Realität in Frage, und Don Quijote wurde weiterhin als ein ,,hirnverrückte[r] Junker" aufgefaßt, der einen „Betrug der Sinnen" erleide205. Trotz allem blieb Bodmers Auffassung von der Gattung Roman, die in puncto subjektiver Wahrheit unmittelbar vom Quijote ausgeht206, im deutschsprachigen Raum eine Ausnahme. Welche Faktoren auch könnten das Verständnis für den cervantinischen Roman im deutschsprachigen Raum begüngstigt haben? Wie konnte der spanische Junker, der trotz seines Alters noch den Willen aufbringt, um sich mit der Vergangenheit gerüstet in eine verschwommene Welt der Potentialität zu begeben, auf Sympathie bei einem vermeintlich selbstsicheren, aufgeklärten und in die Zukunft schauenden (deutschen) Lesepublikum stoßen? Um diese Frage zu beantworten, soll im folgenden auf die intensiven europäischen Wechselbeziehungen, die zur Entstehung des Romans führten, eingegangen werden. Es muß zuerst geklärt werden, welche Faktoren es ermöglichten, daß im 18. Jahrhundert England, auf dessen Gemeinsamkeiten mit Spanien in der Erhaltung einer humanistischen Tradition verschiedentlich aufmerksam gemacht worden ist, Vermittlerfunktionen zwischen der romanischen und der germanischen Welt ausüben konnte207; es muß ge-

205

Critische Betrachtungen,

S. 531.

206

Die Figuren selbst weisen auf die Möglichkeiten der Gattung hin: „y pintóla [a Dulcinea, A.P.] en mi imaginación como la deseo, así en la belleza como en la principalidad." I, 25, 514.

207

Vgl. Alcalá, Control inquisitorial

de humanistas y escritores,

S. 297:

101

klärt werden, warum der Quijote in England eine so günstige Aufnahme erfahren und gerade dort der moderne, mit Sterne der modernste und weitgespannteste Roman, auf denkbar reduziertestem Raum - zwei, drei Zimmer - , der europäischen Literatur der Neuzeit enstehen konnte, um dann fast gleichzeitig mit der Literatur, gegen die sich die englischen Nachfolger Cervantes' abgrenzten und gegen die sie z. T. anschrieben, in Deutschland Modellcharakter anzunehmen. 2.4 Zur Geschichte der 'humorvollen' Quijote-Rezeption in England und Deutschland 2.4.1 Allgemeines zur Pluralität in England: Die Wilkins/Ward Webster Debatte Blickt man auf die englischen vorrevolutionären Gesellschaftsstrukturen des 17. Jahrhunderts zurück, stechen im Vergleich zu den kontinentalen Staaten der Versuch einerseits der Eindämmung der königlichen Gewalt durch ein Parlament, in dem die Führungsschicht - Peers, Gentry und Londoner Großbürger - ihre alten Rechte und Freiheiten behauptet, andererseits die bereits starken Nivellierungstendenzen zwischen Adel und Bürgertum hervor, wobei die allgemein auf Produktion und auf Förderung des (ökonomischen) Gemeinschaftswesens ausgerichtete Einstellung des Adels im kontinentalen Vergleich hervorzuheben ist208. Überhaupt kommt es zu einer gegenseitigen Durchdringung der Klas[...] se puede, sin embargo, realizar una comparación estadística de la situación española con la inglesa, país que tiene sorprendentes analogías con España. Estriban éstas en que Inglaterra y España disponen de una base tradicionalista que les llevó a no realizar reformas religiosas de ruptura, como en el continente, a conservar unas formas culturales romanas que revistieron el profundo nacionalismo de su religiosidad oficial, a envolver su represión religiosa e intelectual en fórmulas y motivaciones jurídicas paralelas. 208

102

„Die Stärke des englischen Adels war seine relative Unabhängigkeit vom König und seine partielle Interessengemeinschaft mit dem Bürgertum". Dülmen, Entstehung, S. 388.

sen oder Stände, die in allen Lebensbereichen, vor allem aber im ökonomischen und, in der geteilten Abneigung der immer anspruchsvolleren Krone gegenüber, im politischen Bereich ihren Ausdruck findet209. An der 1648er bzw. der 1688er Revolution ist nun hervorzuheben, daß sie erstens eine Reaktion der gehobenen Schichten, die sich ihrer traditionellen Rechte sehr bewußt waren und die sie nun zu erweitern suchten, auf die Absichten der Krone darstellte, nicht nur in die Lokalverwaltungen einzugreifen, sondern auch Kompetenzen des Parlaments an sich zu reißen; daß sie zweitens eine Bewegung ausmachte, die, zuerst von den sozial privilegierten Gruppen ausgehend, bald das ganze Volk umfaßte; und daß sie drittens sehr bald den Charakter einer Revolution zur Emanzipation des Volkes und zur Volkssouveranität annahm: „The commons of England" - hieß es in einer Resolution des Parlaments, als der zweite Bürgerkrieg schon entschieden war - , „in Parliament assembled, do declare, that the people are, under God, the original of all just power"210. Die Puritaner sind mit ihrer 209

„La monarquía [Stuarts, A.P.] se enfrenta con una sociedad aburguesada y hostil. Los miembros de las grandes Compañías de Comercio facilitaban el ingreso en las mismas, en calidad de empleados, a los segundones de los gentilhombres y a los hijos de los burgueses ricos. Los nobles intervienen en el gran comercio. Los grandes propietarios aristocráticos y la gentry producen tanto para la exportación directa cuanto para la industria. Los aprendices londinenses son, a menudo, hijos de squires. Se realiza la unión entre la ciudad y el campo. En la escuela del pueblo o en la de gramática de la ciudad vecina, los hijos de las familias dirigentes del condado se sientan al lado de los hijos de labradores, comerciantes y artesanos. Los hijos de los squires pobres buscan con frecuencia las dotes de las hijas de los yeomen. Los descendientes de los hijos de mercaderes o de yeomen casados con las hijas de los squires ingresan en la gentry.", Mousnier, S. 288-289. Während sich auch die großen Adeligen an der sogenannten Agrarrevolution beteiligen, lassen sich wohlhabende Kaufleute auf dem Land nieder, da ja Landerwerb rechtlich jedem freisteht und, wie Uberall in Europa, die durch Handel bereicherten Familien versuchen, den Lebensstil des Adels nachzuahmen.

210

Dülmen, Entstehung, S. 388-398, Zitat S. 397. Peter Wende beschäftigt sich in seinem Artikel Kontinuität oder Revolution? mit den Revisionsthesen der neueren englischen Geschichtsforschung zum 17. Jahrhundert, die dahin tendieren, die „klassische liberale These vom Aufstieg eines gegen die Krone opponierenden Parlaments in das Reich der Fabel" zu verweisen. Wende kommt zu dem Schluß, daß sich trotz aller angesichts der neueren Quellenlage gebotenen Einschränkungen

103

Unterstreichung der Freiheit des Gewissens des Individuums, der Verflechtung von Religiosität und praktischer weltlicher Tätigkeit, von Religion und Politik, und ihrer bekannten Abneigung den maßregelnden öffentlichen - zivilen und religiösen - Institutionen gegenüber, als ein entscheidender und prägender Faktor der Revolution zu betrachten, der wohl diese erst definitiv auslöste. Die oder eine „revolutionäre Ideologie" stellte der Puritanismus jedoch nicht: Er reagierte vielmehr auf einen seit den 1630er Jahren wachsenden kirchenpolitischen Exklusivitäts- und Representationsanspruch der anglikanischen Kirche211. Trotz der weitgehend rechtlichen Gleichstellung des größten (männlichen) Anteils der Bevölkerung mit den höheren Klassen blieb die unterste und zahlenmäßig breiteste Schicht ökonomisch, und d. h. im 18. Jahrhundert sozial, von der Annäherung bzw. der Nivellierung zwischen Adel und Bürgertum ausgeschlossen. John Locke erklärt ja „the Regulating and Preserving of Property" zur hauptsächlichen Aufgabe der Gemeinschaft. Da er in seinen Two Treatises of Government (1689/90) Staat und Eigentum gleichsetzt, schließt er folgerichtig die Besitzlosen von aktiver politischer Aktivität aus212. Diese werden von den höher gestellten Klassen ökonomisch ausgebeutet, bleiben in den ärmlichsten Zuund Präzisierungen die historischen Tatsachen nicht leugnen lassen, welche die - ökonomische, rechtliche, politische - Abhängigkeit des Königs vom Parlament eindeutig belegen, denn „gerade die moderne Forschung hat bekräftigt, daß an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert das Parlament zu einem integralen Bestandteil der Verfassung des englischen Staates geworden war"; Artikel in: Garber, Klaus (Hg.): Europäische Barockrezeption (2 Bde.), Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Wiesbaden 1991, Bd. 2, S. 973-979 (Zitate S. 974 u. 976). Volk und führende protestantische Aufständische waren sich durchaus nicht immer einig: Die zweiteren, die einen göttlichen Auftrag zu erfüllen glaubten, scheuten sich nicht, mit Waffengewalt das Volk zu seinem 'Glück' zu zwingen. Von Cromwell ist der Satz überliefert: „What's for their good, not what pleases them". Vgl. Hill, Christopher: Milton and the English Revolution, Faber and Faber, London 1977, S.165 ff. (Zitat S. 169). 211

Dülmen, Entstehung, S. 390.

212

Habermas, S. 121: „Locke's Basisformel der preservation of property subsumiert unter dem Titel «Eigentum» unbefangen life, liberty and estate in einem Atemzug".

104

ständen - vor allem in den Londonder Außenbezirken - sich selbst überlassen, dienen der öffentlich zur Schau getragenen Ausübung von 'Nächstenliebe'213 oder werden - 'faule und nicht von Gott begünstigte Kreaturen' - so weit wie möglich diszipliniert214. Die in der Londoner City bekannten und gefürchteten 'Ausschreitungen' und 'Stadtrebellionen' der untersten Schichten zeigen jedoch, daß ein Keim des Aufbegehrens seine Sprossen trieb215, wobei religiös geprägte Privatinitiativen zum Wohle der Ärmsten wesentlich zur Stabilisierung des Systems beigetragen haben216. Habermas gibt drei Ereignisse aus den Jahren 1694/95 an, die zur Schaffung in England des ersten modernen europäischen Staates führten: 1.- Die Gründung der Bank von England; 2.- Die Aufhebung der Vorzensur; 3.- Die Bildung der ersten Kabinetts-

213

Bezeichnende Beispiele in Weber, Die protestantische Ethik (S. 202, A. 35). Von „Nächstenliebe" im klassischen Sinn kann nicht die Rede sein: Es geht immer um die Vermehrung von Gottes Ruhm.

214

„Während die Epoche der STUARTS, insbesondere das Regime LAUDS unter KARL i., das Prinzip der behördlichen Armenunterstützung und Arbeitszuweisung an Arbeitslose systematisch ausgebildet hatte, war das Feldgeschrei der Puritaner: «Giving alms is no charity» (Titel der späteren bekannten Schrift DEFOES) und begann gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Abschreckungssystem der «Workhouses» für Arbeitslose." Weber, Die protestantische Ethik, S. 257, Anmerkung 239.

215

Trotz der materiellen Misere fällt den ausländischen Besuchern - etwa einem Voltaire - die Ungezwungenheit und Selbstsicherheit im Reden und Handeln der einfachsten Leute auf, die als „people" in den Bewegungen des 17. Jahrhunderts eingebunden gewesen waren und denen ja zumindest die verbürgerten Grundrechte zustanden. Müllenbrock, Heinz-Joachim (Hg.): Europäische Aufklärung II, Bd. 12 von: See, Klaus von (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, AulaVerlag, Wiesbaden 1984, S. 18.

216

„Neben den Gesetzgebern wurden auch die Kirchen frühzeitig aufmerksam. Namentlich soweit sie politisch machtlos waren, entwickelten sie eine zum Teil enthusiastische gesellschaftliche Aktivität. Das gilt vor allem für die methodistische Bewegung und ihren Führer John Wesley. [...] Mit Recht ist gesagt worden, daß Wesley mit seinen enthusiastischen und volkstümlichen [und entpolitisierenden, A.P.] Bekehrungsmethoden der Notleidenden eine große politische und soziale Revolution in England verhindert hat." Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1969, S. 54-55.

105

regierung217. Handelt es sich hierbei um institutionelle Vorkommnisse, die besonders in ihren letzten zwei Punkten zur Bildung einer kritikfahigen Öffentlichkeit und zur „Unbotmäßigkeit" als einer vor allem Frankreich gegenüber - zumindest bis zur 1789er Revolution - hervorstechenden 'Nationalcharaktereigenschaft' beigetragen haben218, kommt im hier untersuchten Zusammenhang ein besonders interessanter, nicht institutioneller Faktor hinzu: die Eröffnung, geradezu Erfindung der Kaffeehäuser um die Mitte des 17. Jahrhunderts219. Das Kaffeehaus gestaltet sich bald zur Stätte des Dialogs: Hier trifft sich die gebildete Schicht mit der Aristokratie, treffen sich Handwerker und Krämer. Im Laufe der Zeit sollte jedes Kaffeehaus als ein Treffpunkt für ein spezifisches Publikum dienen, wo frei Kritik betrieben wurde. Die Auswirkungen sind nicht nur individueller Natur, insofern diese Art von Interaktivität z. T. das Bedürfnis an persönlicher Bestätigung und Gesellschaftseingebundenheit befriedigte, sondern sie zeitigten in Anbetracht des auch sozial gehobenen, d. h. einflußreichen Publikums allgemein gesellschaftliche Konsequenzen. Daß diese Art von Zusammenkünften eine durchaus größere sozial-politische Transzendenz hatte, als man heute geneigt wäre anzunehmen, geht schon daraus hervor, daß, kaum waren die Kaffeehäuser gegründet, die Obrigkeit den Versuch unternahm, den in ihnen stattfindenden gesellschaftlichen Austausch zu unterbinden220. 217

Habermas, Strukturwandel, S. 123. Hält man sich an diese drei Faktoren, wäre Spanien durchaus die Chance zugekommen, Vorbildcharakter auch noch im 17. und 18. Jahrhundert für die anderen europäischen Staaten zu haben: 'Parlamentarische Tradition' konnte das Land seit Ende des 12. Jahrhunderts aufweisen, und ein Versuch, eine Nationalbank zu gründen, wurde schon im 16. Jahrhundert unternommen. Warum es für Spanien nach seinem Niedergang keinen Neuanfang geben konnte, läßt sich intern - validos, Zensur, Bildungsmisere, absolute Machtkontrolle und -exklusivität der Oligarchien, Verbleiben in Agrarstrukturen usw. - und im Vergleich zu den Strukturen, die im folgenden für England aufzuzeigen sein werden, erklären.

218

Müllenbrock, Europäische Aufklärung, S. 18.

219

Um 1710 gibt es in London bereits 3 000 Kaffehäuser. Habermas, Strukturwandel, S. 92 ff. und 122 ff.

220

„Schon in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts" - schreibt Habermas - „hatte sich die Regierung zu Proklamationen genötigt gesehen, die sich gegen die Gefahren der Kaffeehausgespräche wenden; die Kaffee-

106

Die Schaffung von räumlichen, nicht kontrollierten Zusammenkunftsgelegenheiten bildet aber per se keine freien kritischen Geister aus221. Vielmehr mußte eine Disposition vorhanden gewesen sein, die es ermöglichte, daß England im 18. Jahrhundert als freiestes Land innerhalb Europas erscheinen konnte. Dies gilt auch für die Herausbildung des politischen Parteiensystems, welche einer Übereinkunft von Hochadel (Tories) und Handelsbürgertum (Whigs) gleichkam, die jeweiligen Interessen zur Institution zu erheben und die Freiheit, die die erste und die Glorious Revolution mit sich gebracht hatte, zu konsolidieren und zu erweitern222. Als dies getan war, gingen die Partein daran, ihre jeweiligen Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Unter dem Druck dieser politischen Streitigkeiten entsteht nun auch der moderne Journalismus, und es greifen nun Journalisten vom Schlage eines Daniel Defoe zur - politisch spitzen - Feder. Die Dialogform einzelner erster Artikel wie auch der Dialog, in den der Leser durch die Zeitung mittels der sich jetzt fest etablierenden Rubrik des Leserbriefes tritt, geben Zeugnis davon, wie eng das Aufkommen der Zeitungen mit dem Kaffeehausleben verbunden ist223. Die vornehmlichste Waffe der im Dienste der öffentlichen Meinung agierenden Presse wird die Satire sein224, eine defensivhäuser gelten als Brutstätten politischer Unrast: «Men have assumed to themselves a liberty, not onely in coffeehouses, but in other places and meetings, both public and private, to censure and defame the proceedings of State, by speaking evil of things they understand not, and endeavouring to create and nourish an universal jealousie and dissastisfaction in the minds of all His Majesties good subjects»", Habermas, S. 124. 221

Habermas legt hier eine Art Automatisierung (Kaffeehaus = Dialog und Kritikbereitschaft) nahe.

222

Neues Handbuch, S. 7.

223

„Gleichzeitig ist die neue Zeitschrift [The Tatler, A.P.] so innig mit dem Kaffeehausleben verwoben, daß man es selbst aus den einzelnen Nummern geradezu hat rekonstruieren können [...] Die Leserbriefe erhalten, als der Spectator vom Guardian abgelöst wird, eine eigene Institution: an der Westseite von Button's Kaffeehaus wird ein Löwenkopf angebracht, durch dessen Rachen der Leser seine Briefe einwirft", Habermas, S. 105-106. Noch heute ist der Leserbrief in England eine Institution für sich.

224

Die sogenannten Juniusbriefe, die über vier Jahre lang (1768-1772) im „Public Advertiser" erscheinen, gelten als das ursprünglichste Modell,

107

offensive Waffe, die sich - wie auch die frühe Aufnahme, Interpretation und Wirkung des Quijote belegt - in England traditioneller Beliebheit erfreute. Im Rückgriff auf die Satire zur direkten und gezielten Anprangerung sozialer Mißstände225 zeigt sich schon im 17. Jahrhundert ein wesentlicher sozio-literarischer Unterschied zwischen England und Deutschland, den wir anhand zweier akademischer Fehden, die um das gleiche Thema kreisen und bei denen der Quijote eine Rolle spielt, skizzieren wollen und der einer nachträglichen Erklärung bedarf 226 . Um die Mitte des 17. Jahrhunderts kam es in England zu einem wissenschaftlich-religiösen Disput zwischen den in Oxford tätigen Gelehrten John Wilkins und Seth Ward einerseits und John Webster andererseits. Webster hatte in seinem 1653 erschienenen Academiarum Examen nicht nur den gängigen Aristotelismus in Frage gestellt, sondern eine allgemeine Kritik des seiner Meinung nach verkrusteten akademischen Betriebs vorgenommen. Wilkins und Ward mußten sich durch die Behauptung Websters, die Universitäten seien zu einer vernunftmäßigen Ergründung der christlichen Religion überhaupt nicht fähig, besonders herausgefordert fühlen, zumal diese Feststellung an den Grundlagen ihrer akademischen Tätigkeit, sprich an ihrer Existenzgrundlage rüttelte. Ein Jahr darvon dem aus sich der kritische und unabhängige Journalismus entwickelt. Es handelt sich um satirische Artikel, in denen „der König, Minister, hohe Militärs und Juristen öffentlich politischer Machenschaften beschuldigt und geheimgehaltene Zusammenhänge von politischer Bedeutung" aufgedeckt werden. Habermas, S. 126. 225

Und in dieser Hinsicht könnte man ja auch Aristophanes als den ersten Journalisten bezeichnen.

226

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, hier einen auf größeren literarischen Werken basierenden Vergleich zwischen England/Spanien/Deutschland im 17. Jahrhundert vorzunehmen, um zu beweisen, daß in England im Gegensatz zu den deutschen Landen schon um 1600 geistige Voraussetzungen für eine Aufnahme des Quijote gegeben waren, nämlich das Vorhandensein einer 'pluri- und multiverbalen Kultur', von der nicht nur die schnelle Aufnahme des cervantinischen Romans selbst, sondern auch die Entstehung neuer Gattungen (Verssatire, Tragikomödie, domestic tragedy), die Werke Shakespeares und - nach neuesten Forschungen - auch die Komödien Ben Jonsons zeugen (Womack, P.: BenJonson, Oxford 1986). Mahler, S. 1006-1007.

108

auf, 1654, veröffentlichen Wilkins und Ward - unter Pseudonym ihre Entgegnung auf Webster: das Vindiciae Academiarum, ein höchst scharfes, aber durchgehend in einem satirisch-ironischen und dialogischen Ton gehaltenes Pamphlet, in dem Webster u. a. mangelnde Bildung vorgeworfen und ein Prahlhans genannt wird, der Don Quijote in nichts nachstehe: His predecessor in the Military way the famous [1654!, A.P.] Hero of the Mancha mistooke a windmill for an inchanted Castle [hier Irrtum, A.P.], and this man (man did I say, this Hero) lyes under the same delusion, relieve him I cannot, lament him I must, O Webster Webster que te dementia cepit[l, A.P.]. 227 Die Reaktion der Angegriffenenen hielt sich also im Rahmen der Attacken. Dem Pamphlet folgte ein Gegenpamphlet, der 'Kampf wurde mit gleichen Waffen ausgetragen, denn es wurde auf das gleiche Recht zurückgegriffen, das der Angreifer für sich beanspruchte: [...] he won't be Cinicall but say, That Hercules is easily known by his foot, and the Lyon by his paw, his Treatise shall shew that he is a free borne Englishman (of the house of the Websters) and thats enough for modest inquirers.22* Diese Streitschriften reihten sich in eine größere Anzahl von Schriften ein, die in die Diskussion, welche um die Mitte des 17. Jahrhunderts in England - aber nicht nur dort - um Bildung und Bildungsstätten ausgetragen wurde, eingreifen und ihren Beitrag leisten wollten. Hierbei zeigte sich „that the medieval tradition of 227

Faksimileausgabe der Schriften und nützliche Einführung: Debus, Allen G.: Science and Education in the Seventeenth Century. The Webster - Ward Debate, Macdonald, London 1970 (American Elsevier Inc., New York), Zitat S. 204 (S. 10 der Originalausgabe; alle Hervorhebungen von Ward/Wilkins); vgl. auch Mertner, Edgar: „Vom Nutzen der Satire, am Beispiel eines Wissenschaftsstreits im 17. Jahrhundert", in: Eders, Jan Eden/Stein, Thomas Michael (Hgg.): Scholastic Midwifery, Gunter Narr, Tübingen 1989, S. 57-65.

228

The Webster - Ward Debate, S. 204.

109

self-criticism continued to exist within the Aristotelian-Galenic tradition"229. Der Refutatio Websters folgt - da der Verfasser aus Vorhergehendem weder Nutzen noch Vergnügen gezogen zu haben meint ein Appendix Concerning what Mr. Hobbes and Mr. Dell have written touching the Universities23°. Der erste Teil ist Hobbes' Leviathan gewidmet, der gänzlich verrissen wird: Hinter der Kritik an den Universitäten verberge sich einzig Hobbes' Geltungssucht; Hobbes wolle aus seinem Leviathan das einzig verbindliche Lehrbuch und aus sich den Philosophen der neuen Ära machen: From whence it is manifest, that the only thing which paines him is the desire that Aristotelity may be changed into Hobbeity, & insteed of the Stagyrite, the world may adore the great Malmesburian Phylosopher. (S. 252/58) Dem Vorwurf Hobbes', die englischen Universitäten werden von Rom aus regiert, wird wiederholt der Hinweis entgegengestellt, daß „our Universities have bin Modelled by commission from the Civill Power" (S. 248/54). Eine Anklage nach der anderen wird nun zurückgewiesen: Es treffe auch keineswegs zu, daß die Universitäten für folgende „Morall Errours" einstünden: 1. That one makes things Incongruent, another the Incongruity. 2. That private appetite ist the rule of publick good. 3. Lawfull Marriage is unchastiry. 4. That all Government but Popular is Tyranny. 5. That not Men but Law Governes. 6. That humane Lawes ought to extend to the inquisition of mens Thoughts and Consciences, notwithstanding the conformity of their Speches and Actions. 7. That private men way interpret the Law, and restraine where the Soveraigne hath left a liberty.

229

Debus in seiner Conclusion,

230

An Appendix,

110

S. 57.

S. 245-259 (51-65 der Originalausgabe), Zitat S. 245.

Aus den angeführten Thesen wird ersichtlich, daß es mittlerweile zu einer Art 'Tischtennisspiel' zwischen den Gelehrten und dem Verfechter des absoluten Staates Hobbes, der sich in die Tradition Jean Bodins (Six livres de la république, 1577) und Justus Lipsius' enreiht und dem zumindest die Aufrechterhaltung der Thesen 2, 5, 6 und 7 zustünde, gekommen war: „Concerning all which Positions, I am perswaded he [Hobbes, A.P.] cannot instance in one University man, who hath published such an opinion, as he would put upon the whole Universities" (S. 254/60). Nur jemandem, der, gleich Hobbes, derartige Anklagen und Ansichten zu Papier bringe, sei zuzutrauen, daß er vor der amtlichen Denunziation nicht halt mache. Hierauf sei nur mit der Affirmation der Unsterblichkeit der menschlichen Seele - womit die Autoren Hobbes' Schrift den Renaissancehumanismus wie ein Schild entgegenhalten - und dem Verweis auf das Prinzip der Selbstverantwortung zu reagieren: Or is it such a Crime to Assert the Attributes of God, and the Naturall Immortality of The Soules of Men, that it shall exempt our Adversaries from the Common Lawes, Honesty, and Ingenuity, and excuse the most grosse and palpable Calumniations of us? Nay, the delation of us to the Civill Magistrate, and the Endeavours for our Extirpation? But he hath done what becomes a man of his judgment and Principles, let us be answerable to ours, not returning railing for railing, or scorne for scorne, but making an end of this contention, let us release the Reader from farther trouble. (S. 254-255/60-61)231

231

Zur Behauptung der „Unsterblichkeit der Seele" als wesentliches Merkmal des Humanismus vgl. Steppich, Christoph J.: Die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter in der humanistischen Dichtungstheorie und Renaissancephilosophie Italiens und in der Dichtungspraxis des deutschen Humanismus [Diss.], State University of New York, Albany 1987, S. 156 ff. „I am positive I have a soul;" - heißt es bei Sterne - „nor can all the books with which materialists have pester'd the world ever convince me of the contrary." Sterne, Laurence: A Sentimental Journey through France and Italy, by Mr. Yorick, Harvard University Press, Massachusetts 1970, S. 621.

Ill

2.4.2 Die vergeblichen Mühen des 'Humanisten' Thomasius um Erasmus, den Quijote und den „heiteren Vortrag" 1688 rief in Leipzig der 32jährige Privatgelehrte Christian Thomasius die erste deutschsprachige wissenschaftlich-literarische Zeitschrift ins Leben, die notwendigerweise mit der orthodox-akademischen Acta eruditorum232 seiner Zeit kollidieren mußte. In den Freimütigen, lustigen und ernsthaften, jedoch vernunfft= und Gesetz=mässigen Gedancken oder Monatsgesprächen über allerhand, führnehmlich aber neue Bücher233 sollten Satire, Ironie und Vernunft im Dienste des Vergnüglichen und Nützlichen stehen. Wie aus dem Titel schon z. T. zu erkennen ist, griff Thomasius bezeichnenderweise auf die geistige humanistische Tradition des Erasmus, konkret auf seine Colloquia familiaria zurück, die er nun mit frühaufklärerischen Tendenzen zu harmonisieren suchte234, um die autoritären scholastischen Gelehrten seiner Zeit herauszufordern235. 232

Die Acta eruditorum erschien zwischen 1682 und 1731 in Leipzig. Ab 1732 wurde sie unter dem Titel Nova acta eruditorum fortgesetzt.

233

Halle 1688-1690.

234

Nachwort von Peter von Düffel zu Thomasius, Christian: Deutsche Schriften, Reclam, Stuttgart 1970, S. 195. Johann Rist war ebenfalls Erasmus' Spuren in seinen Monatsgesprächen (1663) gefolgt.

235

Im gleichen Sinne auch der von Thomasius gegen die Gewohnheit auf Deutsch und nicht auf Latein verfaßte Kommentar für das Wintersemester 1687/88 (auch Webster, der mit Thomasius in keiner Weise gleichzusetzen ist, hat die Aufgabe des Lateinischen zugunsten des Englischen im akademischen Betrieb befürwortet). Vgl. Thomasius, Christian: Christian Thomas eroeffnet der Studirenden Jugend zu Leipzig in einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund=RegulnJ Vernuenfftig/ klug und artig zu leben, in Deutsche Schriften, S. 8-49; hierzu auch: Fikentscher-Schubart, Gertrud: Christian Thomasius. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung, Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse, Bd. 119, Heft 4, Akademie Verlag, Berlin 1977; Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 375 f.. Wer Thomasius, u. a., in dieser Hinsicht als Beispiel hat dienen können, dies sei hier nur als Möglichkeit angedeutet: „Y a lo que decís, señor," - wendet sich Don Quijote an den 'Caballero del Verde Gabán', don Diego de Miranda - „que vuestro hijo no estima mucho la poesía de romance,

112

Schon im ersten Monatsgespräch „Januarius" stellte Thomasius in Anspielung auf die geringen sozialpraktischen Auswirkungen des Akademiewesens236 die Gesellschaft der Müßigen vor, die nur aus drei Mitgliedern bestand: einem Literaten, einem Juristen und einem Rentner. Zum Auftakt erzählen sie die Geschichte von vier Reisenden, die sich auf den Weg zur Leipziger Neujahrsmesse mit Disputationen über Bücher im allgemeinen und den Roman als religiös-bürgerlichem Moralproblem der Zeit im besonderen ob denn das Lesen von Romanen nicht schädlich sei, vor allem bei 'Frauenzimmern' - die Reise zu verkürzen suchen. Herr David, dankbarer Leser der abwechselnd humorvollen, dann wieder bitteren Zeitsatire von Johann Philipp Moscheroschs Wunderliche und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald121, weiß hier Abhilfe: Wenn man Amadiese, Ritter Pontus, Melusinen, Adriatische Rosemunden, Dianen, und andere Schaeffereyen lesen wil/ und solches continuiren/ so kan einer der nicht wohl unter den Hut verwahret ist/ leichte vollends fertig werden/ zu dem Ende albereit zwey Satyrische Schrifften verfertiget worden/ deren eines den Don Quixote de la Mancha, (der sich eingebildet/ er sey ein umbschweiffender Ritter) mit seinen Diener Sancho Panscha recht lustig einfuehret/ doyme a entender que no anda muy acertado en ello, y la razón es ésta: el grande Homero no escribió en latín, porque era griego, ni Virgilio no escribió en griego, porque era latino. En resolución todos los poetas antiguos escribieron en la lengua que mamaron en la leche, y no fueron a buscar las estranjeras para declarar la alteza de sus conceptos. Y siendo esto así, razón sería se estendiese esta costumbre por todas las naciones, y que no se desestimase el poeta alemán porque escribe en su lengua, ni el castellano, ni aun el vizcaíno, que escribe en la suya." II, 16, 243-244. Desgleichen Lope de Vega in seiner Dorotea, III, IV. 236

Schnelle, Kurt: Zur Wirkungsgeschichte der Literatur des Siglo de Oro in der deutschen Frühaufklärung, in: Cervantes-Sonderheft. Vorträge und Diskussionen des internationalen Kolloquiums der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin über „Das literarische Werk von Miguel de Cervantes" (29. September - 1. Oktober 1966), Deutsche Akademie der Wissenschaften, Berlin (Ost) 1966, S. 137-147, hier S. 142.

237

Eine 1640 und 1643 erschienene Nachahmung, zum Teil Übersetzung von Francisco de Quevedos Sueños.

113

das andere aber/ so der Herrn Sorell gemacht/ unter den Titul Le Berger extravagant [...]238 Diese Worte geben Anlaß zu einer ausfuhrlichen Diskussion über die Beziehungen zwischen moralischem Inhalt und ästhetischer Form in der Kategorie Satire, und alsbald wird die als heikel eingeschätzte Frage gestellt, ob von der Satire in Deutschland denn überhaupt Gebrauch zu machen sei. Hierauf wird der Versuch einer satirisch-parodistischen 'Behandlung' der Acta eruditorum und der mit ihr verbundenen, namentlich genannten Gelehrten unternommen. Aber das kaum begonnene Unternehmen findet ein abruptes Ende, als die Kutsche umschlägt. Im Gasthaus, wohin sich die vier Herren begeben, um sich von dem Unfall zu erholen, flüchtet sich die verfolgte Katze der Wirtin auf den Kopf eines eben genau dort verletzten Reisenden. Diese Anekdote, die aus Quijote II, 46 stammt und in der auch auf Sancho angespielt wird239, hat auffälligerweise gerade den Herrn David, Advokat der satirischen Romane, zum Opfer, der sich nach den Neckereien seiner Mitreisenden auch prompt bekehrt. denn ich bin in meinen Gewissen nunmehro gantz feste versichert/ daß die satyrischen Schrifften unrecht seyn/ und daß ich in defendirung derselben eine grosse Suende begangen/ welche ich in meinem Hertzen allbereit bereuet habe f...].240 Auf ironische Weise setzt Thomasius die Befürwortung der Satire mit einer religiösen Übertretung gleich und weist damit auf den weiterhin unversöhnlichen Gegensatz zwischen humanistischsatirischer Tradition und religiösem Rigorismus hin. Das sich hierin durchaus die Lage spiegelte, zeigen die Reaktionen der religiösen und weltlichen Autoritäten, der universitären und der extrauniversitären 'Orthodoxie' auf die Monatsgespräche: Unmittel238

Thomasius: Freimütige, Lustige und Ernsthafte jedoch Vernunft= und Gesetz=maeßige Gedancken oder Monats=Gespräche usw., Athenäum-Reprints, Frankfurt am Main 1972, (5 Bde.), hier: Bd. I, Januar-Juni 1688, S. 58.

239

Monatsgespräche

240

Ebd., S. 219.

114

I, S. 214 ff.

bar nach dem Erscheinen der Zeitschrift, am 16. Januar 1688, wurde gegen Thomasius Anzeige bei der Leipziger Zensurbehörde erstattet, die ihm infolgedessen jeden Angriff auf eine öffentliche Person untersagte; als sich Thomasius schon eine weitgehende Selbstzensur auferlegt hatte, wurde er von der Leipziger Universität beim Oberkonsistorium in Dresden verklagt; schließlich, als er Aristoteles zum Helden eines satirischen Romans machte, griff die Theologische Fakultät ein und bezichtigte ihn eines hochverrätischen Verbrechens gegen das Gottesgnadentum, weil er den dänischen Hofprediger Masius, der den Fürsten das Luthertum als den einzigen Glauben empfahl, der den Gehorsam der Untertanen garantiere, kritisiert habe241. Nach öffentlicher Verbrennung der Monatsgespräche in Kopenhagen durch den Henker - Autodafé, das an die Verbrennung der Werke Marianas und Voltaires englandfreundlicher Schrift in Paris erinnert - wurde Thomasius die Vorzensur durch die Theologische Fakultät auferlegt. Diese 'Züchtigung' und pietistischer Einfluß242 sind wohl die ausschlaggebenden Gründe dafür, daß sich Thomasius der Satire über Jahre enthält. Erst als er sich vom zunehmend intoleranten Pietismus vollkommen distanziert hat243, findet er zur Satire in einer sehr gemäßigten Form zurück und setzt sie im pädagogischwissenschaftlichen Bereich ein. Bezeichnenderweise fixiert Thomasius die Spannung zwischen den zwei (transzendenten) Welt- und Lebensanschauungen auf der Diskursebene. Gegen die Larmoyance und Heuchelei - worauf das „ungezwungene" des folgenden Zitats anspielt - des pietistischen Vortrages setzt er sich dafür ein, daß „die Erkäntnis der Wahrheit an und vor sich selbst von dem Vortrag derselben nicht dependirte", denn es schade nicht der muntere und lebhafte Vortrag nebst einen ungezwungenen und sinnreichen Schertz (wenn derselbe nur nicht

241

von Duffel, S. 198.

242

Grimm, S. 392-395, 720 f.; von DUffel, S. 200-201.

243

Grimm, S. 347-348.

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allzubeissend, anzüglich, grob oder schändlich sey) der Erkäntniß und Fortflantzung der Warheit.244 Es kann nicht unbemerkt bleiben, daß Thomasius selbst letztlich eine Einschränkung des satirischen Diskurses, der in Anlehnung an den französischen „esprit" durch „sinnreich" charakterisiert wird, vornimmt, die das definitive Stadium der biederen Humorlosigkeit, welches das deutsche Bürgertum des 18. Jahrhunderts erreichen wird, zu antizipieren scheint245: Es gilt so viele Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, daß kaum Raum für die Spontaneität und somit für den „Schertz" übrigbleiben kann, es sei denn, er äußert sich als ein bedächtiger und domestizierter Einfall. Von „ungezwungen" kann keine Rede mehr sein, und es ist nicht genau zu ermessen, ob nun ein 'eleganterer', ein nicht so 244

Emsthaffte/aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedanken und Erinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel. Erster Theil, Halle 1720, Vorrede S. 2r (Zitat nach von Düffel, S. 201).

245

Promies, besonders S. 54-76. Zur progressiven Abgrenzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts des 'ernsten, sittlichen' Deutschen gegenüber dem 'frivolen, oberflächlichen' Franzosen im 18. Jahrhundert vgl. auch Woesler, Winfried: „Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts", in: Garber: Nation und Literatur, S. 716-733. Auf S. 729 bringt Woesler folgendes Zitat aus dem Siegwart, eine Klostergeschichte, Leipzig 1776, von Johann Martin Miller, das ich hier wiedergeben möchte, weil es ja eine Mischung aus allgemein gehaltenen Vorwürfen, die insgesamt die mediterrane Welt betreffen, vor allem Spanien, da Italien als Sehnsuchtsland eine Art von 'Narrenfreiheit' genießt, und eine durch nationales Pathos verschleierte Projektion der eigenen Unfreiheit darstellt: „Er [Siegwart, A.P.] entdeckte mit Verwunderung in dem Gemähide der alten Gallier die Grundzüge, die noch jetzt den Charakter der neuern Franzosen ausmachen: den Wankelmut in ihren schnell, oft übereilt, gefaßten Anschlägen; die Begierde, immer etwas Neues auszuhecken und zu erfahren; [...] die Grausamkeit, die sich noch jetzt in ihren Todesstrafen äußert. [...] Den sklavischen Gehorsam des Volkes gegen seine Obrigkeit [...] u. s. w. Dagegen schlug sein Herz laut bey der Schilderung der männlichem und freyergesinnten Deutschen, und besonders der nervichten Sueven; ihrer patriarchalischen Lebensart, die sich blos von der Viehzucht und Jagd nährte [...]". Sehr richtig weist Woesler erstens darauf hin, daß es in der französischen Literatur im ungekehrten Sinne nicht viel anders aussieht (z. B. in Voltaires Candide) und daß zweitens ein gesamteuropäischer Wandlungsprozeß auf Krücken nationaler Absonderungen voranging.

116

'bissiger', weil weniger verletzend oder politisch-religiös bedenklich, oder ein eher spielerischer und nicht so langweiliger Diskurs gemeint ist. Betrieben und befürwortet wird ja hiermit außer einem Gebrauch des „Schertzes", der sich im Allgemeinen zu halten hat, weiterhin die Absonderung vom 'Pöbel', zu der die Gelehrten und Poeten (Stichwort „poeta eruditus") schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts neigen und die Hand in Hand geht mit einem formal-schulischen, zunehmend erstarrten und im protestantischen Sinne 'theologisierten' deutschen Humanismus. Daß hierbei der Versuch einer sozialen Plazierung nach oben, nämlich zum Adel und zum - in Umfang und Macht - immer stärkeren Beamtentum deutlich erkennbar wird - auch wenn in diesem Streben nicht immer (Über-)Lebensnotwendigkeit und Geltungssucht, sondern zuweilen auch der Wille, gesellschaftlich nützlich zu sein, im Vordergrund steht - , mag die Intensität und relative Schnelligkeit, mit der sich dieser Prozeß entwickelte und durchsetzte, erklären246. In der zweiten, wohl der 'rebellischsten' Lebensphase des Thomasius (1684-1692)247 zeigt sich dieser noch als ein unbeding246

Vgl. zum Ganzen: Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 66-346; zusammenfassend Liebing, Heinz: „Die Ausgänge des europäischen Humanismus", in: Ders.: Humanismus. Reformation. Konfession. Beiträge zur Kirchengeschichte, N. G. Elwert, Marburg 1986, S. 147-162: Die Kehrseite jener konzentrierten und breiten Wirkung des konfessionellen Humanismus ist eben darin begründet, daß er in Deutschland den einzigen Ausgang darstellte. Seit dem Sieg der melanchthonischen Lösung hat das deutsche Geistesleben eine eigene Geschichte gehabt, die es von Westeuropa tiefgehend unterschied und zeitweise abschloß. Charakteristisch dafür ist neben manchem anderen das Fehlen eines politischen Humanismus und die vergleichsweise späte Entwicklung einer selbständigen, kontinuierlichen Nationalliteratur und deutschen Poetik. [...] Etwa gleichzeitig [zu Christian Wolffs Arbeiten, A.P.] begann die Flut der deutschen Übersetzungen englischer deistischer Literatur - ein weiteres Indiz dafür, daß der konfessionelle Humanismus jetzt nur noch in der Schule lebte und sich überlebte. (S. 159)

247

Die Schwierigkeiten, den 'Aufbegehrensmodus' des Thomasius näher zu bestimmen, lassen sich an den eckigen Klammern und der gequälten Wortwahl z. B. Grimms erkennen: „Naturgemäß stehen die >politischen< Schriften der zweiten Phase wegen ihres revolutionierenden Habitus [!] im Zentrum der Betrachtung", S. 348. Also: nicht ganz politisch und auch nicht vollkommen revolutionär. Zur Phasen-

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ter Befürworter des „satirischen" Romans, den er, in einer Mischung aus belehrender humanistischer Tradition und frühaufklärerischem Vernunftoptimismus, in seinen pädagogisch-didaktischen Möglichkeiten ausgenutzt wissen will, denn: Diese machen uns zu der Tugend und Wissenschafft umb destomehr begierig/ je deutlicher und anmuthiger sie uns die Thorheiten und Laster der Menschen fuerzustellen wissen. Hierher gehören der Spanische Don Quipote de la Mancha [sie!], des Scarron sein Romant Comique, des Sorels sein Francion, und Berger Extravagant.24*

einteilung von Thomasius' Leben und Werk vgl. ebenfalls Grimm, S. 347-348. 248

Monatsgespräche I, S. 661. Aus dieser didaktischen Interpretation, die dem Quijote natürlich keineswegs gerecht wird, erklärt sich wohl auch die eigentümlich starke Rezeption in deutschen Landen eines so schwachen und langatmigen Romans wie dem von Sorel, vornehmlich des Berger Extravagant, der schon bei Rist und Harsdörffer stets in Verbindung mit dem Quijote genannt wird. Hier wird nochmals der kulturelle Sog, den Frankreich auf Deutschland ausübte, deutlich: So erläuterte Thomasius zwar im Wintersemester 1687/88 ein spanisches Werk, nämlich Baltasar Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia (1647), doch die Absichten, die er damit verband, waren ganz an Frankreichs finesse orientiert, nämlich aus seinen Studenten „beaux esprits, hommes de bon goüt et galands" zwecks gesellschaftlicher Karriere zu machen. Vgl. Thomasius: Christian Thomas eroeffnet der Studirenden Jugend, S. 8-49, Zitat S. 47. Harsdörffer, der sich der Schäferdichtung widmete, verwarf vollkommen den spanischen Roman des 16. und 17. Jahrhunderts - Cervantes z. T. inbegriffen - , lobte aber übermäßig den Roman Sorels, weil sich dieser ja gegen die Ausartungen der Schäferdichtung wende: „Unter den Spaniern ist Diego Agrada, Eslava Cervantes und Obregon welche solche Lehrgeschichte (novelas morales) verfasst/ unter welchen der erste mit vielen müssigen Umständen/ der zweyte mit unnöhtiger Weitläuffigkeit/ der dritte aber/ (den eine gute Feder Frantzösisch gedolmetsch) ist mit etlichen ärgerlichen Possen angefüllet/ daß er nicht viel höher zu achten/ als «Gusman», «Lazarillo», oder die «Picara Justina» deß Ubeda", in Harsdörffer, Georg Philipp: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte, Hamburg M. DC. LVI, Paragraph sieben, Seite 2 des Vorworts - Nachdruck in Georg Olms, Hildesheim - New York

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1975 (mit dem „dritten" ist Obregón, nicht (Eslava) Cervantes gemeint!). Und: Unter den Völkern insgemein/ werden die Spanier für die sinnreichsten gehalten; und gewiß sind sie die ersten gewesen/ welche das Liebsgedicht/ und Rittergeschicht zu Papier gesetzt; weil aber andere nachgefolgt/ und abendteurliche Reden/ auch mehrmals gantz unverantwortliche Händel mit eingemischt/ hat sich einer gefunden/ der den Pigote della Mancha [sie!] mit seinem Sancho Pansa ausgerüstet/ solche Fantzendichter zu Schanden zu machen. [...] Keiner aber hat/ meines Erachtens die Thorheit solcher Scribenten besser an den Pranger gestellt/ als Jean de la Lande, mit seinem wahnwitzigen Schäfer; nachahmend des Cervantes Gigote de la Mancha, dessen ich erst gedacht. S. 139-40, Bd. VII. (1647) der Frauenzimmer Gesprächsspiele, (hrsg. von Irmgard Böttcher), Max Niemeyer, Tübingen 1969 (Hervorhebung vom H.). Harsdörffer kam also über eine ästhetisch-literaturimmanente Sicht nicht hinaus. Ähnlich bei Rist: Was sonst die beyde Zwischenspiele betrifft/ so hat man in Auffsetzung derselben etlicher massen ein Absehen gehabt auf den Spanischen Don Kichote, in welchem gar artigbeschriebenem Buechlein viele wunderliche Fratzen und seltene Erfindunge/ den allergroessesten Auffschneideren der Welt sehr dienlich/ sind zu lesen/ wie man sich denn auch dess Frantzoesischen Buches/ welches Titul ist: Le Berger Extravagant, oder der Naerrische Schaeffer/ welchem unser verliebter Sausewind in vielen Dingen sich gantz gleich haelt/ etlicher massen hat bedienen wollen/ gestalt solches die jenige/ welchen obgemeldete Buecher bekant sind/ leicht ersehen werden. Rist, Johann: Vorrede zu Das Friedejauchtzende Teuschland, in: Ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Eberhard Mannack, Walter de Gruyter, Berlin - New York 1972, Bd. II, S. 227-228. Harsdörffer übte sich sprachlich an Cervantes in: Gesprächsspiele, Bd. IV, 1644 (Übersetzung von dem Gedicht aus dem Quijote ¿Quién menoscaba...?) und in: Der mathematischen und philosophischen Erquickstunden zweyter (und dritter) Theil, Nürnberg 1651-53, Bd. II (Übersetzung von Es de vidrio...). Vgl. Schweitzer, Christoph Eugen: Spanien in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts [Diss.], Yale 1954; Ders.: „Harsdörffer and Don Quixote", in: Philological Quarterly, 37, 1958, S. 87-94; Weydt, Gün-

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Hinter dem Versuch Thomasius', von der humanistischen Satire und dem humanistischen Diskurs in Deutschland Gebrauch zu machen, wofür angesichts der öffentlichen Reaktionen wohl erstmal theoretische Erörterungen und Grundsatzbestimmungen nötig schienen, steht nicht die ästhetische Verteidigung eines literarischen Genre, sondern die Notwendigkeit und der Aufruf, eine gewisse 'Courage' an den Tag zu legen: man solle - so Thomasius - nicht satirische Schriften mit Schmähschriften verwechseln, und wenn es auch gefahrlich sei, sich der Satire zu bedienen, weil man sich ja damit gezwungenermaßen Feinde mache, „so folget doch aus dieser raison noch nicht/ daß dieselbe unrecht sey", wie Erasmus' Encomium Moriae beispielhaft belege249. Im Sinne eines frühaufklärerischen, vorwiegend auf die Reform der Universitäten ausgerichteten Eifers wurde also erneut auf eine geistigkünstlerische Tradition zurückgegriffen, welche eine Linie zwischen Erasmus und Cervantes zog, die den (anscheinend) verther: „Don Quijote Teutsch. Studien zur Herkunft des simplicianischen Jupiter", in: Euphorion, Folge 3, 51, 1957, S. 250-270. Einer der ersten, wenn nicht der erste, der Original (Quijote) und Nachahmung (Berger) auf eine Stufe stellte und bezeichnenderweise noch Rabelais mit hinzunahm, war Gotthard Heidegger, ein Schweizer reformierter Pastor, der sich aufgrund seines geistlichen Amtes verpflichtet glaubte, den Roman allgemein als ein zu freizügig mit der Phantasie waltendes und infolgedessen von Gottes Schöpfung ablenkendes Genre verurteilen zu müssen (die Gründe, die er selbst angibt, sind vollkommen sekundär), was er auch in seiner 1698 in Zürich erschienenen Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans, (Faksimileausgabe Gehlen, Bad Homburg - Berlin - Zürich 1969, hgg. von Ernst Schäfer) mit religiösem Eifer, gewaltigen Worten und gleichfalls geringem Kunstverstand unternahm: „[...] offt [ist] ein Roman nichts anders [...]/ als eine Satyre oder Stachel=Schrift wider den andern/ als wie Rabelais, Quixote, le Berger extravagant & c:": Hier zeigt sich erneut die Unversöhnlichkeit zwischen religiösem Ernst und dem Humor als Lebenseinstellung; hierzu: Schäfer, Ernst: Nachwort zur Mithoskopia. Auf das seiner Meinung nach satirische Element im Quijote mag Heidegger durch den Traité de l'origine des romans (Paris 1670, deutsch 1682) von Daniel Huet - dessen begrenzter Begriff des Genres sich am Thema Liebe und am hellenistischen Liebesroman orientiert, der die Vollendung des Genre im französischen Roman seiner Zeit sah und der dem Quijote das Prädikat „satirisch" aufstempelte - aufmerksam geworden sein. Jedenfalls griff Heidegger in seiner Mythoscopia Romantica immer wieder auf Huet zurück. 249

120

Monatsgespräche I, S. 663.

harmlosenden Interpretationen (Stichwort „Possenreisser") des Quijote entgegenstand250, wobei der grundlegende Ausgangspunkt der Glaube an die Besserungsfähigkeit des Menschen war251. Thomasius legte sich weiterhin mit der städtischen Geistlichkeit in Leipzig an und verfaßte 1689 eine Schrift, die nicht mit den politischen Interessen des kursächsischen Hofes übereinstimmte: Am 10. März 1690 wurde ihm verboten zu veröffentlichen und jedwede Lehrtätigkeit - öffentliche oder private - auszuüben. Um für den Unterhalt seiner Familie sorgen zu können, sah er sich gezwungen, sie in Leipzig zurückzulassen und nach Brandenburg zu flüchten252. Thomasius, der seine Kämpfe von nun an v. a. im juristischen Lager bestritt und sich besonders in der Bekämpfung der hartnäkkig anhaltenden Hexenprozesse hervortat, gelangte schließlich doch noch zu hohen Ehren, weil nun „seine Kritik gerade den Teil der deutschen Mißstände traf, den der protestantische Absolutismus reformieren mußte", um weiterhin den Bruch mit einer mittelalterlich-katholisch-romanischen Glaubens- und Machtsphäre 250

Selbst der Übersetzer der ersten vollständigen Übertragung des Quijote ins Deutsche empfiehlt eine tiefergehende Lektüre, die aber nicht über die antiritterliche Deutung hinausgeht: „so wurde ihm [Don Quijote, A.P.] doch unrecht geschehen/ wann es vor nichts als vor einen ledigen Possen=//reisser solte gehalten werden", weil er mit seinem Beispiel davor warne „wie schaedlich es seye/ solche [Ritterbücher] mit Begierde zu lesen". Vorrede vom anonymen Übersetzer J. R. B. zu Don Qvixote von Mancha, Abentheurliche Geschichte. Erster Theil und Geschichte des Selßamen Don QUIXOTE aus der Landschaft Mancha. Anderer Theil. Basel und Franckfurt/ Verlegt// Von Johann Ludwig du Four, von Genff, 1683. Zitat in S. 2 der Vorrede. Die Übertragung folgt der französischen von Filleau de Saint-Martin, 1677-1678 erschienen. Saint Martin hatte einen fünften Teil erfunden, in dem Don Quijote als warnendes Beispiel am Leben bleibt, der von J. R. B. mit übersetzt wurde.

251

„Kein Mensch will gerne fuer einen Narren gehalten werden. Wenn er nun in dergleichen Schrifften die Narrheit der Welt so durchdringend vorgestellet siehet/ daß er selbst mit darüber lachen muß/ kan es so genau nicht abgehen/ daß er sich nicht vornehmen solte/ etliche dergleichen Thorheiten/ die er bey sich befindet/ abzuschaffen/ oder sich kuenfftig desto genauer fuer denenselben zu hueten." Monatsgespräche I, S. 661.

252

Nachwort in der Reclam-Ausgabe, S. 198.

121

voranzutreiben253, die einer Entzauberung der Welt im Sinne einer Rückgewinnung weltlicher Autorität aus dem religiös-magischen Bereich gleichkam254, wobei die Absicht, „die fortschrittlicheren westeuropäischen Staaten einzuholen"255, wohl kaum auf dem Gebiet geistiger Errungenschaften als eher im Bereich machtpolitischer und ökonomischer Ansprüche anzusiedeln ist, die nur sehr bedingt mit 'Fortschritt' gleichzusetzen sind. Angesichts der privaten - womit sich schon eine extreme Verinnerlichung der Systemwelt des Rechtssystems seitens der Pri-

253

Zu den 'zwei literarischen Kulturen' in Deutschland, dem Sieg nicht nur der protestantischen Literatur, sondern der protestantischen Bildungsidee überhaupt über die volkstümlichere und volkssprachliche Literatur des katholischen Deutschland vgl. Breuer, Dieter: „Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis", in: Garber, Klaus (Hg.): Nation und Literatur, S. 701-715. Breuer behandelt somit ein für die deutsche Kulturlandschaft und für die Rezeption besonders spanischer Literatur grundlegendes Problem, daß in der in dieser Arbeit zu berücksichtigenden Periode besonders zum Tragen kommen wird: „Von «Rückständigkeit», «geistiger Borniertheit» (Goethe), ja «unglaublicher Dummheit» (F. Nicolai) der katholischen Autoren im frühneuzeitlichen Deutschland zu sprechen, wie es nach 1750 bei den Aufklärern im Schutze bzw. im Banne der siegreichen preußischen Vormacht üblich wurde, besteht jedenfalls kein Anlaß, auch nicht wegen ihres wohlbegründeten Desinteresses am poetologischen Diskurs" (S. 714). Natürlich formuliert hier Breuer überspitzt (man denke etwa an die Calderön-Rezeption Goethes). Vgl. kurz auch: Körner, Elisabeth: „Das Renaissancebild der Aufklärung", in: Toellner, Richard (Hg.): Auflclärung und Humanismus, Lambert Schneider, Heidelberg 1980, S. 23-33. Der Student Joachim Heinrich Campe hörte im Sommersemester 1766 im Collegium Carolinum in Brauschweig eine Vorlesung über Kirchengeschichte, in der auch über Päpste und deren «schreckliche Ausschreitungen und liederliches Leben» wie auch über die Ketzerbewegung und ihre grausame Ausrottung berichtet wurde. Vgl. Schmitt, Hanno: „Philantropismus und Volksaufklärung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts", in Vierhaus, Rudolf (Hg.): Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns, Max Niemeyer, Tübingen 1992, S. 171-195.

254

„Der Preußische König Friedrich Wilhelm I. unterzeichnete 1714 einen Erlaß, der zwar die abergläubischen Untertanen über den Hexenglauben nicht aufklärte, aber den üblichen Prozeß verbot", von Düffel, S. 203.

255

von Düffel, S. 204.

122

vatpersonen kundtut256 - und der institutionellen juristischen Schritte, die gegen Thomasius aufgrund seiner satirischen Schriften unternommen wurden, mußte aus seiner Sicht wohl die Frage, ob die Satire zur Bekämpfung unzeitgemäßer Ansichten und Strukturen im Lande angebracht sei, verneint werden, denn Das deutsche Publikum wisse keinen Unterschied zwischen Satire und Pasquill zu machen, denn hier nehme jeder alles persönlich oder er nütze es wenigstens so.257 Dies läßt sich ja auch erneut an dem Streit, den Thomasius mit dem Gelehrten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus führte, dessen Medicina mentis er einer scharfen Kritik unterzog, ablesen258. Tschirnhaus' Entgegnung - in den Monatsgesprächen abgedruckt - schließt erneut mit Androhung staatlicher Gewalt: Wie ich dann hiermit protestiren/ daß wenn ich hin fuhro klar erkennen werde/ das einer mich so elende assequiret/ ich nicht die geringste Antwort geben will/ (wiewohl ich auch diese nicht öffentlich/ sondern nur vor etliche gute Freude und Patronen ausgefertiget) so fern ich aber evident ersehe/ daß es nicht aus blosser ignorantz: sondern auch aus einer sonderbaren malice, wie ietzo/ geschiehet/ so werde mich der Mittel gebrauchen/ die mir GOTT/ Stand und Geburth an die Hand gegeben.259 Worauf Thomasius zwar gelassen antwortet, sich aber auch auf die fürstliche Autorität, die durch die übliche Bezeichnung „Vater" einen gottesähnlichen Zug annimmt, beruft:

256

Hierzu lassen sich auch hervorragend die Seiten in Schummeis Roman Spitzbart heranziehen, in denen die rechtlich-juristische Sphäre vollkommen die private Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Elternteilen um einen Kinderstreit durchzieht; S. 91-100 der angegebenen Ausgabe.

257

Zitat in Schnelle, S. 143.

258

Monatsgespräche,

I, S. 419-426.

259

Monatsgespräche,

I, S. 792 (meine Hervorhebung).

123

Da ihm [Tschirnhaus, A.P.] ja solche sonderliche Gedancken in den Sinn kommen sollen/ sich so denn gefallen lassen zu erwegen/ daß GOTT uns beyde/ so wohl auch unser Stand und unsere Geburt zu Unterthanen eines Durchlauchtigsten Landes-Vaters gemacht hat/ der sowohl den gnädigsten Willen/ als großmächtigstes Vermögen hat/ seine Unterthanen ohne Ansehen des Standes oder Geburt wieder alles irraisonnables beginnen zuschützen. Daß ich also/ so viel dieses Compliment betrifft/ das mir der Hr. T. zuletzt gemacht/ künfftig ja so ruhig schlaffen will als zuVergleicht man die grundsätzlichen Welt- und Lebenseinstellungen des Protestanten Thomasius mit den gleichen, im Quijote eindeutig als positiv belegten 'Werten', muß dennoch geschlußfolgert werden, daß im ganzen ein Gedankengut weitergetragen wird, das sich in seiner stärksten Ausprägung - und trotz der entsprechenden zeitgeschichtlichen und persönlichen 'Einfarbungen' - über räumlich-zeitliche, nationale oder konfessionelle Zusammenhänge hinwegsetzt. Da Thomasius' ausgeprägter Hang zu einer allgemeineren gesellschaftlichen Aktivität im absolutistischen, die Lebenswelt juristisch durchdringenden Staatsgebilde bald auf ihre Grenzen stoßen mußte, konzentrierte sich sein Wirken auf den akademischen Bereich. Er unterstrich die Notwendigkeit, daß jegliche wissenschaftlichen Anstregungen soziale Relevanz zu zeitigen hätten, wobei er sich vom 'rhetorischen', im Grammatischen befangenen und für Deutschland „abgewirtschafteten Humanismus"261 ent260

Monatsgespräche, I, S. 797. Zur 'landesväterlichen' „patriarchal bureaucracy" im Weimar des 18. Jahrhunderts vgl. die noch immer grundlegende Arbeit von Bruford, W. H.: Germany in the Eighteenth Century: The Social Background of the Literary Revival, University Press, Cambridge 1935, S. 35 f.

261

Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, der eine hervorragende Synthese von Thomasius' Denken und Handeln bietet, S. 346425, wenn auch m. E. Grimm zu wenig die geistige humanistische Tradition berücksichtigt, in die sich Thomasius einreiht (Erasmus, Petrus Ramus), um dafür die in Richtung „bürgerlicher Schriftsteller" mit der Betonung auf „bürgerlich" - weisenden Aspekte bei Thomasius hervorzuheben: Grimm zeigt sich hierin in einer noch linearen geistesgeschichtlichen Konzeption befangen.

124

schieden distanzierte, sich aber zur gleichen Zeit humanistisch gab, wenn er gegenüber den naturwissenschaftlichen Disziplinen oder der erstarrten Logik und Rhetorik jenen Wissenschaften eine Vorrangstellung einräumte, welche die „Tugend", das Gute im Menschen befördern, er also in der Ausbildung des Menschen ethisch-moralische und vornehmlich religiöse Aspekte („Erlangung seiner ewigen Seeligkeit"262) reinem (Fach-)Wissen gegenüber bevorzugte. Seine Idee des gebildeten Menschen wird von den Begriffen der Weltkenntnis - die viel eher durch Erfahrung als durch Studium zu erlangen sei - und der geistigen Freiheit oder Unabhängigkeit im Gebrauch der (praktischen) Vernunft des Individuums geleitet. Weltkenntnis ist nötig, um gesellschaftlich tätig zu werden, nicht der Welt zu entrücken und sich in den verschiedensten Situationen ohne Beklommenheit verhalten zu können: Hier scheint erneut die Bewunderung einerseits für den französischen Typ des Hof- und Weltmannes, andererseits die Figur des unbeholfenen und bei aller Gelehrsamkeit plumpen deutschen Akademikers durch263. Aber es ist auch eine allgemeine Kritik an die pedantischen - Thomasius benutzt das Adjektiv im spanischen Sinn - , vor allem scholastischen Gelehrten, die sich im Elfenbeinturm mit chimärischen Disputationen aufhalten, sich in der Wiedergabe der Autoritäten gefallen und ihre eigenen Schriften mit 262

Grimm, S. 401.

263

In seinem Discours an die „Studirenden Jugend zu Leipzig" fragte sich Thomasius: „Denn wie kommts doch/ daß wan von uns Teutschen iemand in Franckreich reiset/ ohnerachtet er propre gekleidet ist/ und sehr geschickt von einen Frantzösischen Braten oder fricassée raisonniren kann/ auch perfect parliret und seinen Reverentz so gut als ein leibhafftiger Frantzoß zumachen weiß/ er dennoch gemeiniglich als ein einfältiges Schaff ausgelacht wird/ da hingegen die Frantzosen/ so zu uns herausser kommen durchgehends Liebe und Verwunderung an sich ziehen? Es kan nicht fehlen/ wir müssen mit unserer Nachahmung das recht pflöckgen nicht getroffen haben...", Deutsche Schriften, S. 12-13. Desgleichen Johann Georg von Zimmermann, der hundert Jahre später in seinem Über Friedrich den Großen und meine Unterredung mit ihm kurz vor seinem Tode (erschienen in Leipzig 1788) schreibt: „Sulzer liebte und verehrte die Deutschen; aber er glaubte doch, daß mancher deutsche Magister und Professor mit Schneidermanieren dort im Marmorsaal zu Sanssouci an der Tafel des Königs zwischen dem König, Voltaire, Algarotti und d'Argens sehr verlegen, sehr trocken und sehr peinlich gesessen hätte, und wahrlich eher geneigt zu Diarrhoe als zu witzigen Einfällen!", Promies, S. 94.

125

Zitaten derselben spicken264. Ihnen stellt Thomasius die Vernunft entgegen, die zumindest - und hier nimmt er eine bezeichnende Einschränkung vor - in allem, was nicht das Staatswesen, d. h. die Politik betrifft, frei sei und keine Autorität kenne und dulde: Die Respublica literaria hat mit denen andern Rebuspublicis wenig Gemeinschaft/ sondern sie ist der Societati ma264

Und hier ist erneut auf den Quijote aufmerksam zu machen, in dem die Thematik des „pedantismo" nicht nur gleich zu Anfang - im 'Prólogo' zum ersten Teil - ausfuhrliche Aufmerksamkeit verdient, sondern sowohl im 1. (1605) als auch im 2. Teil (1615) mit ironischer Insistenz behandelt wird, also lange vor Ulrich Hubers „Oratio de Pedantismo" von 1688, den Grimm, S. 59-60, als eine der Quellen für Thomasius' Kritik an diesem Gelehrtentum angibt, aber Cervantes in seinem über 700 Seiten umfassenden Werk unbegreiflicherweise kein einziges Mal erwähnt. -Porque, ¿cómo queréis vos que no me tenga confuso el qué dirá el antiguo legislador que llaman vulgo cuando vea que, al cabo de tantos años como ha que duermo en el silencio del olvido, salgo ahora, con todos mis años a cuestas, con una leyenda seca como un esparto, ajena de invención, menguada de estilo, pobre de concetos y falta de toda erudición y doctrina, sin acotaciones en las márgenes y sin anotaciones en el fin del libro, como veo que están otros libros, aunque sean fabulosos y profanos, tan llenos de sentencias de Aristóteles, de Platón y de toda la caterva de filósofos, que admiran a los leyentes y tienen a sus autores por hombres leídos, eruditos y elocuentes? ¡Pues qué, cuando citan la Divina Escritura! No dirán sino que son unos santos Tomases y otros doctores de la Iglesia; [...] Lo primero [sagt Cervantes' 'Freund', A.P.] en que reparáis de los sonetos, epigramas o elogios que os faltan para el principio, y que sean de personajes graves y de título, se puede remediar en que vos mesmo toméis algún trabajo en hacerlos, y después los podéis bautizar y poner el nombre que quisiéredes, ahijándolos al Preste Juan de las Indias o al Emperador de Trapisonda, de quien yo sé que hay noticia que fueron famosos poetas; y cuando no lo hayan sido y hubiere algunos pedantes y bachilleres que por detrás os muerdan y murmuren desta verdad, no se os dé dos maravedís; porque ya que os averigüen la mentira, no os han de cortar la mano con que lo escribistes... usw., Prólogo (1605), S. 19-20 und S. 24.

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ximae gentium qua talium nicht ungleich. Sie erkennet kein Oberhaupt/ also die gesunde Vernunft/ und alle diejenigen/ die darinnen leben/ sind einander gleich/ sie mögen von was Nationen oder Stande seyn was sie wollen.265 Schon bei Thomasius selbst zeigt sich also eine deutliche Tendenz, durch eine Kasuistik der Freiheiten gewisse Freiräume zu schaffen, die nicht mit der Staatsmacht kollidieren. Dies läßt sich auch an der Auseinandersetzung mit August Hermann Franckes pietistischem Schulkonzept erkennen266. Thomasius wendet sich gegen eine Schuldisziplin, die seiner Meinung nach auf Arbeitsethos und Gottesfurcht beruhe und den Menschen zum Sklavengemüt und zur Heuchelei erziehe. Er plädiert hingegen für einen freien, heiteren Unterricht, der sich - anstelle von einer an Lektüre, Diktat und Nachschrift orientierten Unterrichtsmethode, wie sie Francke befürwortet - durch Frage und Antwort und, indem dem Schüler zugestanden wird, Zweifel an den Worten des Lehrers zu hegen und diese vorzubringen, durch einen Dialog charakterisiere267. Hinter dem Vergleich, den Thomasius zwischen dem franckischen Schulsystem und dem repressiven „Papismus" zieht268, zeigt sich, inwiefern Erasmus' Aufruf zur eigenständigen Bibelauslegung269 und das lutherische individuelle Priestertum in Thomasius' 'Bildungsdemokratie' zusammenfallen, wobei hinter beidem das Wort Paulus' (2 Kor. 3: 6) steht: Der Buchstabe tötet, der Geist aber schafft Leben.

265

Monatsgespräche, IV, S. 1148. An anderer Stelle - Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften, Halle 1701 - erläutert Thomasius den Grund dafür, daß die Holländer den ersten Platz unter den europäischen Gelehrten einnähmen: „Es ist ungebundene Freyheit/ ja die Freyheit ist es/ die allem Geiste das rechte Leben giebet/ und ohne welche der menschliche Verstand/ er möge sonsten noch so viel Vortheil haben als er wolle/ gleichsam todt und entseelet zu seyn scheinet." Grimm, S. 370.

266

Vgl. Grimm, S. 392 ff.

267

Grimm, S. 395.

268

Grimm, S. 393.

269

Steppich, S. 68-69.

127

Wenn der Katholizismus, den Thomasius verabscheute, aber auch der Pietismus als unduldsame Religionen dargestellt werden, sich aber der überzeugte Lutheraner Thomasius zur gleichen Zeit auf die humanistisch-liberale Tradition innerhalb des Katholizismus stützt und beruft, so stellt diese persönliche Aneignung und Verarbeitung einen Eklektizismus dar, der als Maxime auch dem Druck der 'geistigen Zeitmoden' widerstand und Thomasius' herausragende Rolle ausmacht(e)270. Thomasius' Grenzen liegen da, wo er an eine Bildungstradition und eine politische Macht stößt, die sich gegenseitig unterstützen und von denen er zuweilen absorbiert wird. Er erkennt zwar die soziale Ungerechtigkeit, weiß oder kann aber nichts Besseres zu ihrer Milderung vorschlagen als eine umfassende Bildung - welche auch den Frauen gewährt wird - , die einerseits im geistigen Bereich dem Menschen philosophisch-ethische Prinzipien an die Hand geben muß, um 'weiser' und damit selbstzufriedener leben zu können, andererseits praktisch materielles Wissen vermitteln soll, das dem Menschen eine größere ökonomische Unabhängigkeit erlaubt, wobei Thomasius so weit geht, eine Art handwerkliche Selbstbedarfsdeckung zu propagieren271. Wenn das Problem erkannt, die sozial- und machtpolitische Einflußnahme oder Umstrukturierung nicht erwünscht oder ausgeschlossen und das eigene, noch mit gewissen Freiheiten verbundene Betätigungsfeld die 'Kultur' im allgemeinsten Sinne ist, bleiben die unsinnigen 'Reformvorschläge' - die am eindeutigsten die tatsächliche Di-

270

Vgl. Grimm, S. 402, der zwar auf diesen Eklektizismus aufmerksam macht, aber die vorreformatorischen liberalen Strömungen beiseite läßt, um die 'Modernität' (hier mit Rationalismus identifiziert) Thomasius' besser hervorheben zu können. Da, wo Thomasius den Sinnen und dem Sinnlichen - der Erfahrung - im Menschen einen größere Erkenntnisfähigkeit als der Ratio zugesteht, spricht Grimm von einer Reaktion gegen die Scholastik. Insofern Thomasius aber vom Menschen und vom Menschlichem ausgeht - und dies erlaubt Grimm, den „psychologischen", wenn auch pragmatischen Aspekt bei Thomasius hervorzuheben (S. 320 und 352-353) - , was schon seine Konzeption und Handhabung der Satire genügend bezeugt, lassen sich Thomasius' Vorbehalte als Bedenken gegen eine Verabsolutierung der Ratio und des Cartesianismus verstehen.

271

Grimm, S. 396-397.

128

stanz zur 'Macht', d. h. die Machtlosigkeit signalisieren - nicht aus272. Da Thomasius in seiner humanistischen Weltoffenheit und in seiner Lektüre Cervantes' mit einem erasmischen Geist der Heiterkeit, des Dialogs und der Toleranz im Deutschland des 17. Jahrhunderts wohl eher eine Ausnahme darstellt, derer er sich wohl selbst bewußt war, bleibt zu fragen, warum der Quijote in England, im Gegensatz zu Deutschland, eine so baldige und günstige Aufnahme erfahren konnte273. 2.5 Fünfte Abschweifung: Warum der Quijote in England gern gelesen wurde. Zur 'dialogischen' Tradition Englands Das antike Humanitätsideal, d. h. „die Anerkennung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und die Forderung «humaner», nämlich menschenwürdiger Behandlung des 272

Folgt man einer Auslegung des Quijote, die Don Quijotes rastloses Umherirren als eine Unfähigkeit der Gesellschaft und des Staates zu einer sozial tätigen Integration interpretiert, läßt sich Don Quijotes Vorschlag, die „caballería andante" im Kampf gegen den „turco" wieder ins Leben zu rufen (II, 1, 30 ff.), im gleichen Sinne verstehen (womit der spanische 'arbitrismo' in ein übergeordnetes Konzept des sozial-politischen Mangels integriert wäre).

273

Ob der Quijote den Simplicissimus beeinflußt hat, ist eine Frage, die für unser Vorhaben im Prinzip belanglos ist, da Grimmelshausens Roman auf die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt hat. Nach den Forschungen Weydts zu urteilen, scheint es sehr wahrscheinlich, daß Grimmelshausen den Quijote zumindest gelesen hat. Vgl. außer dem schon angegebenen Artikel v. a. Weydt, Günther: „Zur Entstehung Barocker Erzählkunst. Harsdörffer und Grimmelshausen", in: Ders.: Der Simplicissimusdichter und sein Werk, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1969, S. 351369; Ernst, Fritz: „Grimmelshausens Simplizissimus und seine spanischen Verwandten", in: Merkur, VII. Jahrgang, 1953, S. 753-764; McQueen, Marian: „Narrative structure and reader response in Simplicissimus and Don Quixote", in: Argenis. Internationale Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Bd. 1, 1977, S. 229-256, die auf den durch den Erzähler motivierten „Illusionsbruch" - der m. E. im Quijote so nicht zu finden ist - aufmerksam macht; ferner: Dimler, Richard G.: „Alienation in Don Quixote and Simplicius Simplicissimus", in: Thought, Bd. 49, Nr. 192, 1974, S. 72-80.

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Einzelmenschen, sei dieser Römer, Grieche oder Barbar, Freier oder Sklave, Mann oder Frau" erlebt in der englischen Aufklärung eine in diesem Maße nie dagewesene Blütezeit274. Historisch betrachtet wird in England im 18. Jahrhundert der Humanitätsgedanke der Literatur der Fürstenspiegel, und vornehmlich der in Johann von Salisburys Hauptwerk Policraticus (um 1159) reflektierte, weitergeführt und ausgebildet. Für Salisbury ist Freiheit die Voraussetzung aller Tugenden, wobei unter Freiheit v. a. Geistes- und somit Meinungs- und Redefreiheit verstanden wird. Salisbury geht aber noch weiter, indem er jede Art von Tyranei verdammt und den Monarchen unter das Gesetz stellt275. Die ideale Staatsform Salisburys ist die Wahlmonarchie, die nur dann die öffentliche Gewalt repräsentiert, insofern sie sich auf Bürgerfreiheit stützt. König und Gerichte haben dafür zu sorgen, daß die wirtschaftlich Schwachen vor „Unterdrückern] und Abenteurer[n]" geschützt

274

Borinski, Ludwig: Das Humanitätsideal der englischen Aufklärung, in: Handbuch, S. 31 -54, Zitat S. 31.

275

„Est ergo tyranni et principis haec differentia sola, quod hic legi obtemperat, et eius arbitrio populum regit, cuius se credit ministrum, et in reipublicae muneribus exercendis, et oneribus subeundis, legis beneficio sibi primum vindicat locum, in eoque praefertur caeteris, quod cum singuli teneantur ad singula, principi onera imminent universa.", schreibt Salisbury in seinem Policraticus. Zitat nach Ynduráin, Domingo: Humanismo y Renacimiento en España, Cátedra, Madrid 1994, S. 81, A. 9. Vgl. hier zu Salisbury S. 81-85, wo das von Borinski zu schillernd gezeichnete Bild Salisburys die notwendigen grauen 'Tupfer' bekommt - denn Salisbury geht es auch darum, die Macht der Kirche zu festigen, indem er sie ausweitet: „Ahora bien" - faßt Ynduráin zusammen - , „el príncipe puede saltarse las leyes cuando ello redunde en beneficio de la comunidad. [...] la espada de la justicia la recibe el soberano de la Iglesia. La Iglesia manda en lo temporal y lo espiritual: en lo espiritual, directamente; en lo temporal, por medio del brazo secular, porque la espada de la Iglesia no conviene que esté manchada de sangre; de ello encarga al príncipe que, si realiza con fidelidad el mandato recibido, merece ser honrado y reverenciado por todos, sobre todo si él mismo se somete a las leyes que emanan de la ley de Dios." (S. 82)

130

werden276. Zudem fordert Salisbury religiöse Toleranz und verbindet immer wieder die Begriffe „humanitas" und „natura"277. Schon im Rosenroman, in dem der Policratus zitiert wird und in dem sich der im Werk Salisburys enthaltene Gedanke der ritterlichen Barmherzigkeit und des Rittertums als Dienst zum Schutz der Schwachen wiederfindet, aber auch bei Thomas von Aquin, Thomas Morus und Erasmus läßt sich Salisburys Einfluß nachweisen, der in England über John Fortescue im 15. Jahrhundert bis zum Aufklärungszeitalter weitergetragen wird278. Im England des 18. Jahrhunderts aber stehen sich gesellschaftspolitisch zwei im Prinzip entgegengesetzte, doch komplementäre Tendenzen gegenüber. Wie zum einen die neuen ökonomischen Verhältnisse die Individualisierung fordern, die sich gesellschaftlich in einen Rückzug auf die Kleinsphäre der Familie bemerkbar macht279, wird zum anderen der Mensch, dessen 'Unzulänglichkeit' von einem philosophischen Standpunkt aus erkannt und akzeptiert wird, als ein grundsätzlich für die Gemeinschaft bestimmtes Wesen verstanden, so daß der Begriff der Gesellschaft (society) zu einem Schlagwort der Zeit werden kann. Bei Shaftesbury läßt sich Gesellschaft als grundlegendes Element seines Menschenverständnisses ausmachen, da er alle Moral aus der Gesellschaft ableitet und jegliche individuelle Handlung sozial, d. h. gemeinschaftlich versteht: „Selbst sinnliche Genüsse wie Essen und Trinken befriedigen nur in Gesellschaft"280. Man lebt intim für alle. Tritt in diesen Gedan276

Borinski, S. 35.

277

„Somit erscheint der ebenfalls stoische Gedanke des Naturrechts im Zusammenhang mit „societas humana" und „civilitas", die als „society" und „civilization" bis heute das angelsächsische Gesellschaftsdenken beherrschen", schreibt Borinski, S. 35.

278

Ebd.

279

„Die Vereinsamung des Familienmitglieds selbst im Innern des Hauses gilt für vornehm", Habermas, S. 109; „Denn wie die ökonomische Revolution um die Jahrhundertmitte beginnt, so auch die Neuordnung des Bereichs des bürgerlichen Privatlebens, wie die Expansion nach außen, so die nach innen", Dörner, S. 79.

280

Borinski, S. 42.

131

ken und Erscheinungen der Geist Salisburys hervor, so kommt jetzt ein Novum hinzu, das die Epoche von allen vorangegangenen Zeitaltern unterscheidet: die Geburt der Psychologie und Psychiatrie. Die Entstehung der zwei neuen medizinischen Fachrichtungen ergibt sich einerseits aus dem nun erneuerten, positiven Interesse für den Menschen, andererseits aus der Notwendigkeit, den 'Störungen' entgegenzutreten, die durch die ökonomischen Verhältnisse und die neue Gesellschaftsordnung allgemein verursacht sind. Hier hinzuzufügen wären diejenigen, die den strengen religiösen Vorgaben - soweit diese noch wirksam sind281 - entspringen. Medizinische psychiatrische Betreuung als humanitärer Dienst und rein pragmatische Aspekte - Heilung als 'Instandsetzung' einer Arbeitskraft - lassen sich im England des 18. Jahrhunderts nicht trennen282. Der Ausgangspunkt ist dabei immer, daß das Problem im Subjekt, nicht in seiner Umwelt liegt. Thomas Arnold stellt seinem 1782 und 1786 erschienenen psychiatrischen Lehrbuch einen Satz des Epiktet voran: „Men are not disturbed by things themselves, but by the opinions which they form concer-

281

Während der Anglikanismus von vornherein der Askese nicht besonders zugeneigt war, führen Dissenters und Nonjurors noch im späten 18. Jahrhundert eine asketische Lebenshaltung. Schöffler, Herbert: Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Bernhard Tauchnitz, Leipzig 1922, S. 53-54.

282

Ein bezeichnendes Beispiel findet sich in Dörner, S. 85-86: die 'Heilung' 1787 einer Massenhysterie unter Fabrikarbeiterinnen „by electric shocks". Diese 'doppelte Motivation' oder doppelte Moral (humanitär-pragmatisch/ökonomisch) ist als ein wesentliches und kennzeichnendes Merkmal der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Der Psychiater Thomas Arnold (1742-1816) plädiert einerseits für Humanität und „mild and indulgent treatment" in der Behandlung der Irren, rechtfertig andererseits, daß die besitzlosen Wahnsinnigen in Ketten geworfen werden: „Chains should never be used but in the case of poor patients, whose pecuniary circumstances will not admit of such attendance as is necessary to procure safety without them", Dörner, S. 75. Politisch wurde der Humanitätsgedanke in England schon frühzeitig (Morus, Sidney, Milton) als Rechtfertigung zur militärisch-ökonomischen Intervention und Expansion - Imperialismus - herangezogen. Borinski, S. 47 ff.

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ning them"283. Konnte sich die Institution Irrenhaus, in denen oft die brutalsten körperlichen und psychischen 'Behandlungsmethoden' walteten, in eine staatliche Repressions- und Züchtigungsanstalt verwandeln284, spiegelt dieses Phänomen unter anderem auch eine Resignation gegenüber den sozio-politischen Gegebenheiten wider: Das Physische wird durch das Geistige ersetzt, die Welt der Gegebenheiten akzeptiert, um in die Welt der Vorstellungen vorzudringen285. Dies um so mehr, als ja mit dem Irrenhaus eine neue züchtigende und ordnende - und nicht zuletzt persönliche macht- und einkommensspendende - Institution zur immer stärker institutionalisierten Gesellschaft hinzugefugt werden konnte. Insofern es sich aber um eine nicht von oben geleitete Gesellschaft handelt, sondern um eine auf Markt und Mitbestimmung basierende, die sich ihre Wert- und Moralvorstellungen im Einklang mit den ökonomischen Zwängen erarbeiten und als verbindlich darstellen muß, dient das Studium der psychischen 'Abweichungen' auch zur Bestimmung des eigenen Standorts, und hier wiederum bedeutet dies: Abgrenzung als Selbstbestätigung. Was sich auf geistiger Ebene in der Absonderung zum Irren äußert, findet auf ökonomischer Ebene seine Entsprechung in der Distanzierung vom Armen. Der nicht zu einer von diesen beiden Kategorien Gehörende, d. h. der moralisch befähigte und ökonomisch abgesicherte Bürger leistet seinen Beitrag zur Erhaltung des Staats, den er in breitem Maße ausmacht, indem er die bürgerliche Ordnung „mit den Mitteln der Fürsorge und des sozialen Zwangs" schützt286.

283

Dörner, 71.

284

Wovon wir ein hervorragendes literarisches Zeugnis in Prévosts Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut (1731) finden.

285

„Es deutet sich hier die eigenartige Beziehung an zwischen Entpolitisierung und der Neigung, die naturwissenschaftliche körperliche Fundierung einer Krankheit aufzugeben. Seither hat es sich häufig genug gezeigt, wie leicht die rein psychische Erklärung einer Krankheit die Medizin in integrative Bewegungen einer Gesellschaft zu verstricken vermag", Dörner, S. 55. „naturwissenschaftlich-körperliche Fundierung" kann hier im weitesten Sinne verstanden werden: z. B. 'soziologisch-gesellschaftlich'.

286

Dörner, S. 72.

133

Dies muß beachtet werden, wenn von der Verherrlichung des Menschen im England des 18. Jahrhunderts die Rede ist. Letztlich läßt sich noch eine dritte Variante feststellen, bei der Menschenliebe und Grausamkeit eng miteinander verknüpft sind. Dies wird z. B. in dem therapeutischen Versuch deutlich, Geistesgestörte durch aufgezwungene Selbstachtung zu heilen - ein Schein der Normalität, der sich diktiert in die (normierte) Normalität selbst zu verwandeln hat287. Der Fortbestand eines sozio-politischen und kulturellen Humanismus im 18. Jahrhundert in England läßt sich jedoch nicht denken, wäre es nicht zu einer Abkehr vom furchterregenden Gott der ersten reformierten Kirche und vom Gedanken der absoluten Nichtigkeit des Menschen gekommen. Da sich aber die humanistische Tradition mit dem christlichen, und das hieß bis zur Reformation, und besonders in dieser, mit dem katholischen Glauben verbunden sah (Erasmus, Morus), mußte es zu einer Harmonisierung zwischen Humanismus und Reformation englischer Prägung kommen. Dies geschah in zwei verschiedenen, sich ergänzenden Richtungen. Zum einen ist die Idee der Toleranz, der Gewissensfreiheit, der Selbstverantwortung des Menschen seinem persönlichen Glauben gegenüber eine wesentliche konsequente Schlußfolgerung der reformierten Glaubensbekenntnisse Englands, die auf einer freien, eigenständigen und persönlichen Auslegung der Bibel fußen, also jedwede interpretatorische Autorität verwerfen und auf das Individuum setzen. Die neuen Kirchen und Sekten sind es, die den Renaissancegedanken einer unantastbaren Freiheit und Unabhängigkeit weiterzutragen scheinen, in dessen Verteidigung im 17. Jahr287

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„Der zweite Weg [zur Heilung; der erste basiert auf der traditionellen „Erregung eines heilsamen Furchtgefllhls", Dörner] ist der Appell an «self-esteem». Dieser wird praktiziert, indem die Anwesenheit fremder Besucher mit der Aufforderung an die Patienten verbunden ist, sich besonders zusammenzunehmen: vor allem aber wird er in das einfache freundliche Gespräch zwischen Superintendent und Patient gekleidet, das auch in der Form regelmäßiger tea-parties organisiert wird. Hier erscheinen die Patienten in ihren besten Kleidern und haben sich in formvollendeter Konversation zu ergehen, d. h., auch den letzten Rest ihrer «deviations» durch Mobilisierung ihrer feinsten «moral feelings» zu überwinden - «to streng-then the power of self-Restraint»", Dörner 107. Die Vernunft gestaltet den Irrsinn, um zu sich zurückzufinden!

hundert tagespolitische - Kampf gegen die (katholische) Politik der Stuarts - , ökonomische - Verfechtung eines ersten Wirtschafitsliberalismus - und, da es sich um stark an diesseitigen Belangen interessierte religiöse Gemeinschaften handelt, allgemein gesellschaftlich relevante Aspekte mit einfließen. 2.5.1 John Miltons Apologie der Gewissensfreiheit Die Toleranzgedanken, die um den Versuch der Wahrung persönlicher Frei(heits)räume gegenüber Staat und Kirche kreisen und auf die für das spanische 16. und noch 17. Jahrhundert in dieser Arbeit hingewiesen worden ist, lassen sich alle - vermehrt und erweitert - beim Puritaner John Milton (wieder-)finden288, der als überragendes Beispiel eines sich in England zunehmend verbreitenden religiös-sozialen, nicht standesgebundenen, doch - und hier liegt das Neue - den Schwachen (und den Katholiken, also den Parteigängern der Stuarts) keinen Schutz bietenden Toleranzgedankens dienen kann289. Schon in seinen ersten Schriften aus den 1640er Jahren - Of Reformation in England and the causes, that hitherto hindered it und The Reason of Church-goverment urg'd against Prelaty - lassen sich zwei Grundbegriffe ausmachen, die zwar religiös gerechtfertigt werden, sich aber auf die Gesamtheit seiner sozial-religiöspolitischen Anschauungen, also auf seine Welt- und Lebensan288

„Noch Miltons (nicht eingestandene) Hauptautorität war der spanische Jesuit Juan de Mariana; seine Gegner haben ihn daher groteskerweise als Agenten der Jesuiten verdächtigt", Borinski, S. 48.

289

„Unlike Winstanley or Hobbes or Harrington, Milton was not an original political theorist. He took nearly all his ideas at second hand from his radical contemporaries. Thus he accepted many of the Levellers' arguments against monarchy - so much that Professor Wolfe supposed that Regall Tyrannie and perhaps The Peoples Right lay on his desk as he wrote The Tenure and A Defence of the People of England." Hill, S. 170. Die Gedankenoriginalität Miltons hat uns hier nicht zu beschäftigen. Wichtig ist, daß Milton nicht nur diese Gedanken und Empfindungen repräsentativ am besten zum Ausdruck gebracht hat, sondern daß er sowohl mit seinen Schriften als durch seine politische Aktivität - er war 1649-1660 unter Cromwell Staatssekretär im außenpolitischen Amt - entscheidenden Einfluß in England und auch auf dem Kontinent ausgeübt hat (vgl. Hill, S. 180 ff.).

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schauung auswirken, insofern der Gedanken- und Redefreiheit die Freiheit des Individuums an sich zugrunde liegt: For me I have determin'd to lay up as the best treasure, and solace of a good old age if God vontsafe it me, the honest liberty of free speech from my youth, where I shall think it available in so dear a concernment ast the Churches good.290 Sehr deutlich tritt der Anspruch auf Gewissensfreiheit in der 1659 publizierten Schrift^ treatise of Civil power in Ecclesiastical causes hervor. Schon in seiner Vorrede 'To the Parlament' schreibt Milton: [...] next, in regard that your power being but for a time, and having in your selves a Christian libertie of your own, which at one time or other may be oppressd, therof truly sensible, it will concern you while you are in power, so to regard other mens consciences, as you would your own should be regarded in the power of others; and to consider that any law against conscience is alike in force against any conscience, and so may one way or other justly redound upon your selves.291 Von diesen zwei wesentlichen, von Milton radikal gefaßten Begriffen der Gedanken- und Redefreiheit aus, welche in ihm die Symbiose von humanistischer Tradition und Puritanismus ausmachen, die sich auf I. Korinther 2. 15. beruft: „the spiritual man judgeth all things, but he himself is judgd of no man"292, lassen 290

Milton, John: „The Reason of Church-government", in: The Works of John Milton, (20 Bde.) Columbia University Press, N e w York 19311938, Bd. III, S. 232 (alle weiteren Textangaben zu Milton beziehen sich auf diese Ausgabe). Vgl. zum Konzept der Freiheit und der Toleranz bei Milton auch: Freund, Michael: Die Idee der Toleranz im England der Großen Revolution, Max Niemeyer, Halle 1927, S. 145202.

291

Bd. 6, S. 1-2.

292

A Treatise of Civil power in Ecclesiastical causes shewing that it is not lawfull for any power of earth to compell in matters of Religion, Bd. VI, S. 7-8.

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sich seine weiteren Anschauungen und Aussagen zur Sozialordnung verstehen: das Plädoyer gegen die Zensur und für die Pressefreiheit293; die Gesetze Gottes - „the only lawgiver and judge Christ"294 - und der Natur als Maß aller menschlichen Dinge; die unbedingte innere Freiheit des Menschen: „daß niemals die innersten Neigungen und letzten Antriebe der Menschen vergewaltigt werden dürfen. [...] Das Recht der freien Selbstbestimmung des Menschen in allen Dingen"295; die Einschränkung der Macht des Monarchen - vom Volk eingesetzt, vom Volk wieder absetzbar 2% ; die Trennung zwischen Staat und Kirche297; der Entwurf des 293

„...because no vulgar tongue was worthy to expresse the pure conceit of an Imprimatur, but rather, as I hope, for that our English, the langue of men ever famous, and formost in the atchievements of liberty, will not easily finde servile letters anow to spell such a dictatorie presumption English." Aeropagitica for the Liberty of Unlicenc'd Printing, Bd. IV, S. 304-305.

294

A treatise of Civil power in Ecclesiastical causes, S. 8.

295

Freund, S. 164 (seine Hervorhebung). Die Nähe zur Idee des ' libre albedrio' bzw. der Unmöglichkeit „de forzar la voluntad" bei Cervantes ist hier frappant. Milton drückt es in The Doctrine and Discipline of Divorce (Bd. III/2, S. 373) folgendermaßen aus (meine Hervorhebung): In the Gospel we shall read a supercilious crew of masters, whose holinesse, or rather whose evill eye, grieving that God should be so facil to man, was to set straiter limits to obedience, then God hat set; to inslave the dignity of man, to put a garrison upon his neck of empty and overdignifi 'd precepts'. And we shall read our Saviour never more greev'd and troubl'd, then to meet with such a peevish madnesse among men against their own freedome. How can we expect him to be lesse offended with us, when much of the same folly shall be found yet remaining where it lest ought, to the perishing of thousands. The greatest burden in the world is superstition; not onely of Ceremonies in the Church, but of imanginary and scarcrow sins at home.

296

„Not unlike was the speech of Trajan the worthy Emperor, to one whom he made General of his Praetorian Forces. Take this drawn sword, saith he, to use for me, if I reigne well, if not, to use against me." The tenure of Kings and Magistrates, Bd. V, S. 13. Das Volk soll mündig, eigenständig sein: It were a Nation miserable indeed, not worth the name of a Nation, but a race of Idiots, whose happiness and welfare de-

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pended upon one Man. The happiness of a Nation consists in true Religion, Piety, Justice, Prudence, Temperance, Fortitude, and the contempt of Avarice and Ambition. They in whomsoever these vertues dwell eminently, need not Kings to make them happy, but are the architects of thir own happiness; and whether to themselves or others are not less then Kings. Eikonoklastes, Bd. V, S. 254. In der Pro populo anglicano Defensio aus dem Jahre 1651 wird Milton in seiner Antwort auf den das Königstum verehrenden Salmatius („Galium et errabundum") noch deutlicher (Bd. VII, S. 44-46), und seine Worte erscheinen im Vergleich zu der in den deutschen Landen im 17. und im 18. Jahrhundert, und darüber hinaus, üblichen, auf den Prinzen bezogenen Bezeichnung „Landesvater" besonders signifikant, da sie für die Zeit einmalig in ihrem Freiheitsempfinden und -anspruch sind: At hercle etiam in tenebris es, qui jus patrium à regio non distinguís; et cùm reges Patriae Patres nominaveris, eä statim metaphorä persuasisse credis, ut quicquid de patre non negaverim, id continuò de rege verum esse concedam. Pater et rex diversissima sunt. Pater nos genuit; at non rex nos, sed nos regem creavimus. Patrem natura dedit populo, regem ipse populus dedit sibi; non ergo propter regem populus, sed propter populum rex est; ferimus patrem, morosum etiam et durum, ferimus et regem; sed ne patrem quidem ferimus tyrannum. Pater si filium interficit, capite poenas dabit: cur non item rex eadem justissima lege tenebitur, si populum, id est fílios suos, perdiderit? praesertim cùm pater, ut ne pater sit, efficere non possit, rex facilè possit, ut neque pater sit ñeque rex. Es folgt nun der historische Kontext (Hervorhebungen von M.): Quod si de facti qualitate, quod ai's, inde aestimandum est, tibi dico, peregrine, et rebus nostris alienissime, textis oculatus et indigena tibi dico; nos regem neque bonum, neque justum, neque dementem, neque religiosum, neque pium, neque paciflcum\ fed hostem prope decennalem; nec parentem patriae, sed vastatorem de medio sustulisse. Doch ist die Qualität des Königs nicht von seinem Glauben abhängig, denn „In tanta autem regum reformatorum paucitate, nihil hujusmodi accidisse, ut eorum aliquis morte plecteretur, non est quod miremur." Man vergleiche dagegen, wie noch in der deutschen Aufklärung - und im Jahr der Französischen Revolution - unter größter Aufbietung der 'intellektiven' Möglichkeiten, der Versuch unternommen wird, die Gleichung König = Vater aufrechtzuerhalten: im Braunschweigischen Journal, 2. Bd., 1789, 7. Stück, S. 257-283, „Eine kleine Logik, oder

138

Staates als Gebilde, das dem Recht untergeordnet ist; die Verteidigung einer Privatheit, die dem Staat entzogen ist, und überhaupt die Weigerung, institutionelle Macht in private Lebensbereiche eindringen zu lassen, da: Now when as not only men, but good men doe stand upon their right, their estimation, their dignity in all other actions and deportments with warrant anough and good conscience, as having the image of God in them, it will not be difficult to determin what is unworthy and unseemly for a Vernunft=Anwendungs=Lehre, nach dem Französischen des Herrn d'E... sehr frei übersetzt, in einem Brief an eine Dame", wird die französische Dame belehrt, S. 265-266: „Wollen Sie zum Beispiel nach unsrer Regel beweisen, daß folgender Schluß unrichtig sey, weil er nicht daraus folgt: Man soll seine Eltern ehren: Die Könige sind nicht unsre Eltern; Also soll man die Könige nicht ehren. So bemerken Sie, daß keiner der Vordersätze den Schluß enthält. Zuerst dieser Vordersatz: Man soll seine Eltern ehren. 1st ein bejahender Satz, und der Schluß ist verneinend. Nun enthält aber das Ja kein Nein. Der andere Satz: Die Könige sind aber nicht unsre Eltern. faßt wieder nicht den Schluß=Satz in sich. Denn was man seinen Eltern schuldig ist, schließt die Pflicht gegen die Könige nicht aus. Und daraus, daß die Könige nicht unsere Eltern sind, folgt keineswegs, daß man sie nicht ehren müsse. Laßt uns also stets unsre Aufmerksamkeit auf den Schluß richten, und wir werden finden, daß, wenn dieser nicht in den Vordersätzen liegt, er fehlerhaft sey." 297

Vgl. A treatise of Civil power in Ecclesiastical causes, S. 19 f.: „...it is unlawfull for the civil magistrate to use force in matters of religion; which is, because to judge in those things, though we should grant him able, which is prov'd he is not, yet as a civil magistrate he hath no right." (S. 20).

139

man to do or suffer in wedlock; and the like proportionally may be found for woman: if we love not to stand disputing below the principles of humanity.298 Das Recht und die Freiheit stehen jedem zu, ob arm oder reich, ob Herr oder Knecht, denn auch Chnstus - so Milton in seiner Defensio pro populo anglicano - sei als Knecht in die Welt gekommen299. Ähnliches gilt für die dem ungebildeten Volk zugestandene Fähigkeit der Erkenntnis, die nicht - wie Salmatius behauptete - von Bildung abhängig ist, sondern vor allem auf dem 298

Vgl. auch Freund, S. 183 f., der zusammenfaßt: „Die Gesellschaft erhebt sich als eigene Lebensmacht gegenüber dem Staat". Hieraus erklärt sich der Verzicht Miltons, und schließlich Großbritanniens, auf eine geschriebene Verfassung, die zwar Rechte garantiert, aber auch die willkürliche, nicht plebiszitäre Festlegung neuer Gesetze ermöglichen kann. And that Parlaments were not to be dissolv'd, till all Petitions were heard, all greevances redrest, is not onely the assertion of this Parlament, but of our ancient Law Books, which averr it to be an unwritt'n Law of common Right, so ingrav'n in the hearts of our Ancestors, and by them so constantly enjoy'd and claim'd, as that it needed not enrouling. Eikonoklastes, Bd. V, S. 120. Da die Menschen - laut Milton - sich seit dem Sündenfall immer wieder Gewalt und Unrecht antun, stellten sie Recht und Vernunft - nicht Menschen - über sich, da diese Begriffe frei von negativ subjektiver Belastung sind (natürlich im transzendent-religiösen Sinn zu begreifen, der jedoch das Irdische mit einschließt!). Der Staat sorgt dafilr, daß sich das Individuum an Recht und Vernunft hält, aber auch der Staat selbst unterliegt diesen Prinzipien. Zum Scheitern der Kodifikationsbestrebungen in England mögen aber nicht nur diese menschenfreundlichen Gedanken, sondern auch rein pragmatische Aspekte beigetragen haben, und zwar der „Widerstand der großen einheitlich organisierten Anwaltszünfte, einer monopolistischen Honoratiorenschicht, aus deren Mitte die Richter der großen Gerichtshöfe hervorgingen. [...] Der Kampf der Common-LawAdvokaten gegen das römische und kirchliche Recht und gegen die Machtstellung der Kirche überhaupt war dabei zum erheblichen Teil ökonomisch: durch ihr Sportelinteresse verursacht, wie die Art der Eingriffe des Königs in diesen Kampf deutlich zeigt.", Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 563-564.

299

140

Hill, S. 169; Freund, S. 182.

Gefühl innerer Freiheit beruht: „Denn solch ein Mann ist gelehrt ohne gelehrte Bildung"300. Die Befürchtung, daß sich eine intellektuelle Schicht herausbilden könnte, um eine Art weltliches 'Priestertum' auszuüben, weckt in Milton den Gedanken, allgemeine Bildung durch Staatsschulen zu vermitteln und die aus ihnen hervorgegangenen herausragenden Köpfe an ihre gewohnte Umgebung zu binden, „ohne sich über die Niedrigkeit zu erheben, in der sie geboren wurden": ein Versuch, der Entfremdung zwischen Intellektuellen und Volk vorzubeugen und die Ausübung von 'Wissensmacht' zu verhindern301. Diese ohne Zweifel äußerst demokratischen Gedanken, die ungeachtet der politisch-pragmatischen 'Auslöser, die sie z. T. motivieren - die Eroberung und Erhaltung der Würde des Menschen zum Ziel haben, stehen bei Milton neben der Notwendigkeit der persönlichen Disziplin und der Härte den Schwachen gegenüber - „For God sure esteems the growth and compleating of one virtuous person more than the restraint of ten unvirtuous"302 - , der 300

Zitat nach Freund, S. 184.

301

Freund, S. 195. Schon Aristophanes hatte in seinen Wolken die intellektuelle Arroganz am Beispiel Sokrates', den er als Sophist einstufte, gegeißelt. Vgl. hierzu auch Kraus, Walther: „Aristophanes - Spiegel einer Zeitwende", in: Newiger, S. 435-458, besonders S. 448-50: „[...] die Kluft zwischen dem Volk und den Intellektuellen hat sich damals aufgetan. [...] Als lächerlich empfunden wird ferner die intellektuelle Arroganz, die Autorität, die der Gelehrte sich anmaßt und der seine Schüler sich in knechtischer Weise unterwerfen, indem sie von ihm [Sokrates, A.P.] wie Sklaven von ihrem Herrn nur mit 'er' sprechen was bekanntlich auch die Pythagoreer taten."

302

Freund, S. 168. Vgl. auch Hill, der sein 20. Kapitel The Dialectic of Discipline and Liberty betitelt (S. 253-267): „The polarity between individual liberty (essential for the elect) and discipline (essential for society as a whole) appears very early in Milton's published works." (S. 253). Und hält sich noch in Miltons letztem Werk: With hard contest: at length that grounded maxim So rife and celebrated in the mouths Of wisest men; that to the public good Private respects must yield; with grave authority Took full possession of me and prevail'd; Vertue, as I thought, truth, duty so enjoyning. Samson Agonistes, (1671) 1/2, S. 368.

141

positiven Einstellung zu den kriegerischen Tugenden und allgemein zum Kampf, aus dem in der dynamischen Konzeption Miltons der Geschichte die Wahrheit immer wieder erneuert hervorgehen muß, neben der Rechtfertigung des Rechts des Siegers und des Schwertes, der unbedingten Befürwortung der Erfolgsethik und des Leistungsprinzips und schließlich neben einem religiösen Aristokratismus der Erwählten303: In diesen Gedanken lassen sich unschwer protestantische religiöse Zerknirschtheit und Bewährungsdrang erkennen, die bei aller Beteuerung der persönlichen Freiheit im ersten Fall gedämpft, im zweiten gefördert werden vom Glauben an eine persönliche 'Heilsmission'304; weiterhin das Aufkommen einer den ökonomischen Zwängen immer stärker ausgesetzten Gesellschaft und den mit dieser radikalen Umgestaltung der Lebenswelt verbundenen Anforderungen; schließlich bietet Milton auch den 'Rechtfertigungsapparat' für imperialistisch-expansionistische Abenteuer des Inselstaates305. Aus dem Lobgesang an die Härte und die Disziplin spricht immer wieder das eine: die Angst des Versagens, das, weil es immer ein absolutes Versagen sein muß - vor sich, vor Gott und vor den Mitmenschen - einer absoluten Verdammung gleichkommt306. Die menschliche Würde im dargestellten Sinn wird also auf Kosten von anderen, in der christlichen Tradition ebenso wichtigen Begriffen gerettet: dem der Nächstenliebe und dem des Mitleids, denn bei Milton wird deutlich, daß jeder nun auf sich selbst gestellt und für sich verantwortlich ist und in direkter Beziehung oder eben nicht - zu Gott steht307. 303

Freund gebraucht - 1927! - des öfteren den Begriff „Herrenmenschentum", um die sich aus dieser Heilsgewißheit ergebende Arroganz zu fassen.

304

So will Milton die Blasphemie vom Staat, den er sonst in seine Schranken weist, verfolgt wissen: „as far as it is a crime belonging to civil judicature", A treatise of Civil power in Ecclesiastical causes, S. 11

305

Nach dem Motto „God is English", vgl. Hill, S. 279-284 (The Millennium and the Chosen Nation).

306

Bezeichnende Beispiele in Weber, Die protestantische

307

„Es bedeutet im Grunde eine Ablehnung" - schreibt Freund, S. 201 - , „sich um das seelische Geschehen des Mitmenschen zu kümmern und eine Auflehnung gegen die christliche Solidarität: Bin ich denn der Hüter meines Bruders?"

142

Ethik, S. 115 f.

Den vollkommenen Bruch aber mit der Linie, die Toleranz und den humanistischen liberalen Katholizismus verband, erscheint schon bei Milton als irreversibel, denn Duldungsgedanke und Katholizismus sind für ihn zwei entgegengesetzte Prinzipien, da nur in den reformierten Glaubensbekenntnissen ein freier Gedankenaustausch möglich ist: To protestants therfore whose common rule and touchstone is the scripture, nothing can with more conscience, more equitie, nothing more protestantly can be permitted then a free and lawful debate at all times by writing, conference or disputation of what opinion soever, disputable by scripture: concluding, that no man in religion is properly a heretic at this day, but he who maintains traditions or opinions not probable by scripture; who, for aught I know, is the papist only; he the only heretic, who counts all heretics but himself.308 Zum anderen näherten sich Reformation und Humanismus an, indem in einer zweiten Phase humanistisch-aufklärerisches Gedankengut in die rigiden und strengen Satzungen der reformierten Kirchen und Sekten eindrang und im Laufe des 18. Jahrhunderts die Konzeption der protestantischen Askese liquidierte309. Im Zuge der Zurückdrängung der puritanischen Vorherrschaft - einer Art 'Korrektur' zum Gleichgewicht der Kräfte - und der geschilderten Wiederentdeckung des Menschen fand die Anschauung einer auch auf Erden zu erreichenden individuellen Glückseligkeit in Gemeinschaft immer breiteren Raum. Der strafende Gott wurde durch einen Gott der Güte ersetzt, und Lebensfreude galt nicht mehr als verpönt, sondern konnte geradezu als ein Zeichen inniger Frömmigkeit, als Ausdruck der Freude an Gottes Schöpfung verstanden werden. Lawrence Sterne, wenn er auch auf ein idealisiertes Frankreich blickte, brachte diese Stimmung zum Ausdruck, als er 1768 schrieb:

308

A treatise of Civil power in Ecclesiastical causes, S. 13-14.

309

Schöffler, S. 52 ff.

143

It was not till the middle of the second dance, when, from some pauses in the movement wherein they all seemed to look up, I fancied I could distinguish an elevation of spirit different from that which is the cause or the effect of simple jollity - In a word, I thought I beheld Religion mixing in the dance - but as I had never seen her so engaged, I should have look'd upon it now, as one of the illusions of an imagination which is eternally misleading me, had not the old man, as soon as the dance ended, said, that this was their constant way; and that all his life long he had made it a rule, after supper was over, to call out his family to dance and rejoice, believing, he said, that a chearful and contented mind was the best sort of thanks to heaven that an illiterate peasant could pay. - Or a learned prelate either, said I.310

2.5.2 Der englische 'Dualismus' des 18. Jahrhunderts Diese sich gegenseitig ausbalancierenden Tendenzen und Kräfte ermöglichten nicht nur eine Identifizierung von Protestantismus und humanistischem Liberalismus, sondern drängten sich gegenüber dem Katholizismus - von dem aus Frankreich genügend aktuelle Beispiele der Unduldsamkeit nach England hinüberdrangen, vom Ruf des spanischen Katholizismus ganz zu schweigen - ge310

144

Lawrence Sterne: A Sentimental Journey S. 625. Eine interessante und ebenfalls aussagekräftige Anekdote schildert Schöffler, S. 55: „Als im Frühsommer 1784 die berühmte Shakespeare-Darstellerin Siddons in Edinburg einen Abend um den andern als Gast spielte, mußte die gerade tagende General Assembly ihre wichtigen Sitzungen an den gastspielfreien Tagen abhalten, da an den anderen die jüngeren Mitglieder, auch die jüngeren Geistlichen, vom frühen Nachmittag an im Theater saßen, um einen guten Platz zu haben." (Hervorhebung von S.) Man vergleiche dieses mit den warnenden Lehrerzählungen, die sich in Hondorffs Promptuarium finden lassen: „Der Teufel als Anstifter des Bösen tritt häufig in den Erzählungen auf, ja eine ganze Reihe von ihnen kann man geradezu als Teufelssagen bezeichnen. [...] Auf den Rat des Teufels hin haben auch die Tänzer zu Kölbigk gegen Gottes Gebot verstoßen, den Feiertag zu heiligen, als sie während der Messe anfangen zu tanzen. Die Sage ist seit dem 11. Jahrhundert belegt und hier [im Promptuarium, A.P.] nach FINCEL erzählt." Artikel von Schade in Brückner, S. 682.

radezu auf. Im gleichen Maße, in dem der englische Mittelstand an Einfluß und somit Selbstvertrauen gewann, fand jedoch eine Veränderung und Verlagerung des Humanitätsgedankens statt, die die berechtigte Frage aufkommen läßt, inwieweit hier noch von Humanismus gesprochen werden darf. Die endgültige Verankerung der Familie als zentrale und tragende Einheit von Gesellschaft und Staat läßt sie als maßgebende Instanz in puncto Festlegung der bürgerlichen 'Tugendenden' erscheinen311. Der Dualismus, der sich außerhalb der Privatsphäre in eine Bipolarität zwischen dem Glauben an eine individuelle Tätigkeit im Dienste der society und der Wahrung eigener Interessen ausdrückt, wird auch in die Familie hineingetragen: Großzügiger Idealismus und egoistischer Pragmatismus setzen sich gegenseitig Schranken. Der Zwang, die ökonomischen und sozialen Regeln von denen kein Lebensbereich verschont bleibt - zu akzeptieren, tritt in der Ambiguität zum Sexuellen vielleicht am auffälligsten hervor312. In dieser bewußten Selbsttäuschung liegt der Ursprung der im England des 18. Jahrhunderts zum Schlagwort der Zeit gewordenen Heuchelei des Bürgertums. Retten wir aber von der Humanität den Begriff „Würde" ins 18. Jahrhundert hinüber, so läßt er sich kaum noch mit bürgerlichem Pragmatismus, mit verstelltem Sprechen und Handeln - geschehe dieses auch unfreiwillig oder unbewußt - vereinbaren. Vielmehr wäre hier von Moral und Moralismus als Form der Verabsolutierung ethischer, d. h. sittlicher Normen zu sprechen, die das Individuum zwar vor Willkür schützen, zur gleichen Zeit aber von ihm fordern, auf Entwürfe, die zum Gesellschaftssystem in wesentlichem Widerspruch stehen, und auf 'romanhafte' Vorstellungen - zumindest vordergründig - zu verzichten. Dieser Doppeldeutigkeit in Gedanken und Handlungen, die das England des 18. Jahrhunderts ausmacht, entspricht auch im politi-

311

Ein aufschlußreiches Schema über die ökonomisch-rechtliche Abhängigkeit der ganzen Familie (plus Hausdiener, 'Gesinde' und noch nachfolgender Generationen) vom deutschen Familienvater findet sich in Kiesel/Münch, S. 61.

312

Wovon John Clelands Memoirs of a Women of Pleasure (1749; 1750 unter dem Titel Memoirs of Fanny Hilt) bestes literarisches Zeugnis liefern.

145

sehen Bereich ein Dualismus, der aufeinander aufbaut, ineinander greift und doch jeweils die eigenen Interessen zu wahren weiß313. Dies spiegelt sich auf eine außerordentlich eindeutige Weise in der Literatur. Wie noch nie zuvor in der Geschichte der abendländischen Literatur - einige Epochen der Antike ausgenommen - ist im 18. Jahrhundert in England Literatur aufs innigste mit Politik verbunden, so daß man zu der Erkenntnis gelangen konnte, daß sich das Aufklärungsschrifttum im 18. Jahrhundert zwei Hauptströmungen mit konträren weltanschaulichen Positionen zuordnen läßt, die in grundlegenden Auffassungsunterschieden zwischen Whigs und Tories wurzeln314. An dieser Stelle, an der nun von Defoe/Richardson auf der einen Seite und Fielding/Sterne auf der anderen zu schreiben wäre, mag ein Wort von Carlos Fuentes ausreichen, um auf die Duplizität hinzuweisen, aus der der Roman der Moderne geboren wird: Robinson Crusoe, el primer héroe capitalista, es un selfmade man, que acepta la realidad objetiva y en seguida la adapta a sus necesidades mediante la ética protestante del trabajo, el sentido común, la disciplina, la tecnología y, de

313

Bei aller Demokratisierung ist nicht zu vergessen, daß die Aristokratie bis zur Wahlrechtreform von 1832 die rein politische Macht in Händen behielt.

314

Schon Hauser schrieb - überzogen - über die Politik betreibenden Schrifsteller (oder die Literatur betreibenden Politiker): Der Gedanke des l'artpour l'art hätte für sie, wenn sie einen solchen Gedanken zu fassen überhaupt fähig wären, etwas Verantwortungsloses und Unmoralisches an sich. Robinson ist eine sozialpädagogische Tendenzschrift und Gulliver eine aktuelle sozialkritische Satire; beide sind im strengsten Sinne des Wortes politische Propaganda und fast nichts als Propaganda. Sozialgeschichte,

S. 560.

Vgl. auch Müllenbrock, Heinz-Joachim: Whigs kontra Tories. Studien zum Einfluß der Politik auf die englische Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1974, der jedoch den Roman nicht behandelt.

146

ser necesario, el racismo y el imperialismo. Don Quijote es el polo opuesto de Robinson.315 Daß Don Quijote vor allem in England, und noch im gleichen 18. Jahrhundert, Fortsetzer fand, die sich auf Cervantes berufend der biederen 'Einstimmigkeit' Defoes und Richardsons eine schillernde Pluralität der Erzählinstanzen entgegenzusetzen wußten, widerspricht Fuentes' sentenziösem Satz, Robinson und Don Quijote seien die „símbolos antitéticos de los mundos anglosajón e hispánico"316. Es handelt sich nicht um zwei national bedingte, sondern um zwei sich an verschiedenen Maßstäben orientierende Lebenseinstellungen: Während die eine sich am 'Gesetz' - im weitesten Sinn - orientiert, hält sich die andere weiterhin an die Unberechenbarkeit des Menschen - Macht und Humor stehen sich gegenüber. 2.6 Die verbreitete Rezeption des Quijote im absolutistischen Deutschland Von der hier dargestellten - sich gegenseitig ergänzenden - Bipolarität läßt sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den deutschen Landen kaum eine Spur finden. Das Bild, das z. B. der schon erwähnte Bruford in seiner Studie zu den Gesellschaftsstrukturen des 18. Jahrhunderts in Deutschland zeichnet, könnte kaum düsterer sein. Die schon im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert sich abzeichnende Sozialdisziplinierung, die „Form" an sich, scheint nun den Zenit ihrer Macht erreicht zu haben, und es verankert sich ein Bewußtsein und Gefühl der Unfreiheit, das jegliches wahrhafte Gemeinschaftsleben unmöglich macht und im Gegenteil die Zersplitterung weiterhin fordert, die sich im 17. Jahrhundert schon in der sozialen Spaltung durch Absonderung anbahnte317. Es bestätigt sich weiterhin die Regel der Selbstbehauptung durch Absonderung318. 315

Fuentes, Carlos: Cervantes o la critica de la lectura, Centro de Estudios Cervantinos, Alcalá de Henares, 1994, S. 86.

316

Fuentes, S. 86.

317

„Der durchgängige «Druck der äußeren Formen» und «Mangel an jeder freien Bewegung» erstickten alle Ansätze zu einem öffentlichen Ge-

147

Vor diesem Hintergrund werden auch folgende Klagen in Moritz' AR verständlich: Wie traurig ist doch das Dasein der Menschen - und dieses nichtige Dasein, machen wir uns noch selbst einander unerträglich, statt daß wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wüste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten.— [...] Wie öde, wie traurig ist hier alles um mich her! - Und ich muß verlassen und einsam hier herumirren! - keine Stütze, kein Führer! Wohl mir! einen Haufen erblick ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wüste durchirrend«O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich auf, daß ich mit euch diese Wüste durchziehe; und sie wird mir zur grünenden Aue werden!» Sie nehmen mich auf - wohl mir! — Weh mir! - was seh ich? - Sind das noch die Menschen, meine Brüder? Ach, ihre Larve fällt ab - und Teufel sind's - und zur Hölle wird mir nun die Wüste - (AR, S. 272-73)

meinschaftsleben". Engelsing, Rolf: Die literarische Gesellschaft, in: Drechsel, Ulrike Wiltrud/Gerstenberger, Heide/Marzahn, Christian (Hgg.): Schöne Künste und ihr Publikum im 18. und 19. Jahrhundert (Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, Heft 10), Universität Bremen, Bremen 1987, S. 146-170, S. 148. 318

148

„Man mußte über anderen stehen und exklusive Vorrechte besitzen, um vornehm zu sein. Folglich beruhte die soziale Ordnung darauf, daß man sich trennte. Das war nicht nur in einer Stadt so, das war auch von Stadt zu Stadt, Staat zu Staat, Dialekt zu Dialekt, Konfession zu Konfession so, die ergänzende Trennungen zur Trennung von Stand und Beruf bildeten und in dem Land der kleinen und mittleren Staaten, das Deutschland war, kein Gegengewicht in einer Metropole hatten, die diesen Trennungen entgegenwirkte und eine öffentliche Geselligkeit und private Zirkel von öffentlichem Interesse ausbildete, ohne sich durch die feudalen Hindernisse einschränken zu lassen..." usw. Vgl. Engelsing, Die literarische Gesellschaft, S. 149 f. Auch bei Engelsing also wieder das Argument, der Mangel an einer zentralen Instanz, an einer Hauptstadt sozusagen, läge dieser Entwicklung zu Grunde.

Läßt man bei diesem Zitat das Jugendlich-Gelegenheitsdichterische beiseite, so bleibt doch die echte Empfindung einer sozialen Einsamkeit erhalten, die in Anbetracht der Forschungsergebnisse als strukturell, d. h., als sozial bestimmt und verankert zu betrachten ist. In dieser Hinsicht ist es ja bezeichnend, daß sich im Zuge der Säkularisierung neue gesellschaftliche Zirkel formieren, die eine Zusammenkunft zwecks Austausch und - zuerst - politisch-gesellschaftlicher Einflußnahme intendieren, denen aber in Anbetracht politischer Unfreiheit nur ein kurzes Leben beschieden war. Literatur und Bildung bot sich hier nun als Zuflucht an319. Hält man sich die ungeheuerliche Durchdringung der Lebenswelt durch die - zunehmend patriarchalische - Systemwelt im Deutschland des 18. Jahrhunderts vor Augen320, die humorlose Biederkeit des Bürgertums, das mittlerweile die religiösen Maximen, die jegliche spontanen Gemütsäußerungen sofort unter den Verdacht der mangelnden Charakterfestigkeit und Würde stellte, verinnerlicht hatte, und fugt man hinzu, daß die Tyrannei der Mittelmäßigkeit321 die 'Einbildungskraft', d. h. die Phantasie mit dem Kindesalter der Menschheit gleichsetzte, wobei auf die Italiener als Musterbeispiel desselben verwiesen wurde322, so muß doch 319

„Samt und sonders" - schreibt Engelsing, Die literarische Gesellschaft, S. 153 über die ersten Versuche, in Bremen Disputierzirkel zu schaffen - „gingen diese Organisationen nach kurzer Zeit wieder ein. Statt dessen setzten sich Lesegesellschaften, literarische Zirkel und Bildungsklubs durch."

320

„A good 'Landesvater' like Karl Friedrich von Baden really considered it to be the duty of his Hofkammer 'to teach his subjects even against their will how to order their domestic affairs', or, as he expressed the ideal again with unconscious humour, 'to make them, whether they liked it or not, into free, opulent and law-abiding citizens'. The administrative machinery that had been evolved by the eighteenth century was of considerable complexity even in small states. Everywhere routine business and minor matters were left in the hands of properly constitued authorities, 'Behörden', which generally decided differences of opinion among their members by a vote. But the veins of government were still in the hands of the prince, who received advice from these boards of officials, but acted as he thought best, without being effectively controlled, except in a very few states, by assemblies representative of his subjects." Bruford, S. 18.

321

Vgl. Bruford, S. 224-225.

322

Vgl. Promies, S. 195.

149

verwundern, daß - bei aller aufklärerischer Interpretation - der Quijote im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht nur eine so günstige Aufnahme erfuhr, sondern sogar als eine Art Bestseller einen Beliebtheitsgrad erreicht hat, dessen sich kaum ein anderes ausländisches Werk rühmen konnte. Und auch die Kritiker waren sich in ihrer positiven Einschätzung dieses spanischen Romans einig. Die übliche Erklärung, die für diese erstaunliche Rezeption angeboten wird, weist daraufhin, daß bis um 1750 der Quijote als abschreckende Spiegelung der Unvernunft, dann als Ausdruck einer großen Seele gelesen wurde323. Dies wird auch durch die Daten und Fakten, die zur Verfugung stehen, bestätigt324. Mechthild Raabe hat nun eine präzise Untersuchung über Ausleihe und Ausleiher in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vorgelegt, die Aufschluß über das Lektüreverhalten des deutschen Lesepublikums des 18. Jahrhunderts gibt325. Zwischen 1714 und 1799 werden in den Ausleihbüchern 1 648 Leser registriert, die sich insgesamt 21 848 Bücher ausleihen326. 323

So z. B. bei Bergel, Cervantes in Germany, S. 309: „Don Quixote is used as an instrument in the hands of enlightened and rationalistic writers and critics of society, but at the same time, new ways of evaluating Cervantes begin to outline themselves which prepare for the criticism of the romanticists."

324

Vgl. Marianne Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert. 1700-1767, die den Quijote in den meisten von ihr untersuchten Privatbibliotheken ausmachen kann.

325

Raabe, Mechthild: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799, (4 Bde.), K.G. Saur, München - London - New York - Paris 1989. Raabe warnt: „Der Rückblick auf die Geschichte der Bibliothek und ihre Benutzung im 18. Jahrhundert und die Veränderungen im Leseverhalten ihrer Benutzer lassen erkennen, daß die Ergebnisse dieser Quellenpublikation in erster Linie durch die örtlichen Verhältnisse bedingt sind und - ehe nicht ähnliche Untersuchungen von anderen Orten und Bibliotheken vorliegen - , nur mit großer Vorsicht auf die allgemeinen Lesegewohnheiten im 18. Jahrhundert übertragen werden können". Bd. 1, Einleitung, S. XXXIV. Wenn auch Raabes Worte zu berücksichtigen sind, dürften sie im Fall des Quijote kaum in die Waagschale fallen, da die Zeitspanne, die Raabe untersucht, groß genug ist und die Ergebnisse - die sich durch andere Quellen und Studien bestätigt finden - zu eindeutig sind.

326

Raabe, Bd. 1, Einleitung, S. I.

150

Den Quijote leihen sich 60 verschiedene Leser aus (es wiederholen sich sieben Namen)327: das ergibt 3,6% von der Gesamtheit der Leser. Eine Zahl, die nicht so gering ist, wie sie scheinen mag, denn erstens liehen sich nur 76 Leser die Hälfte aller in den Ausleihbüchern genannten Titel aus328 - d. h., daß sich sehr viele Leser nur ein, zwei Bücher ausgeliehen haben - und zweitens befinden sich vor Cervantes, der mit insgesamt 71 Ausleihen vertreten ist, in der 'Buch-Hitparade' nur329: Ausleihen Anton Ulrich 227 Cicero

169

Happel, E. W.

122

Holberg, L.

115

Ovidius

95

Rollin C.

91

Scudery, M. de

90

Imhof, A. L. v.

84

Rost, J. L.

82

La Calprenede, G. de Costes de

79

Livius

78

Siebmacher, J.

76

Marivaux, P. C. de

76

Merian, M./Zeiller, M.

75

327

Eine detallierte Auflistung befindet sich im Anhang bei Raabe.

328

Raabe, Bd. 1, Einleitung, S. II.

329

Raabe, Bd. 4, S. 605

151

Vergilius Maro

73

Prévost d'Exilés, A. F.

73

Das bedeutet, daß der Spitzenreiter, Anton Ulrich, der mit seiner Die Römische Oktavia und der Syrerin Aramena vertreten war und dessen dominanter Platz „sicherlich eine Wolfenbütteler Besonderheit" darstellt330, es auch nur auf 13,8% bringt. Die Spitzenposition, die der Quijote einnimmt, wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß die Romanlektüre mit 13,3% bei 2 898 verschiedenen Titeln an erster Stelle steht331 und daß in der Rubrik „Die am häufigsten entliehenen Titel"332 der Quijote auf Platz 10 rangiert, und zwar nach: Anton Ulrich: Römische Octavia Allgemeine Welthistorie Anton Ulrich: Aramena Das Reich der Natur und Sitten Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande Cicero: De officiis Imhof, A. L. v.: Historischer Bildersaal Siebmacher, J.: Wappenbuch Merian, M./Zeiller, M.: Topographie und unmittelbar vor - und das ist in Anbetracht des bis jetzt Dargestellten äußerst interessant - Defoes Robinson Crusoe (57 Ausleihen). Ist die Vorliebe für Anton Ulrich tatsächlich ein Wolfenbütteler Phänomen, so läßt sich schließen, daß der Quijote bei weitem der beliebteste und bekannteste der Romane unter dem Wolfenbütteler Lesepublikum des 18. Jahrhunderts war - und das schon vor Fielding und Sterne, die in keiner Rubrik vertreten sind. Die These, daß der Einzug Fieldings in Deutschland zu einer größeren Verbreitung des Quijote geführt hat, müßte in Anbetracht dieser Daten wahrscheinlich umformuliert werden: Der Bekanntheitsgrad des Quijote mag den Erfolg Fieldings, der sich in seinen 330

Raabe, Bd. 1, Einleitung, S. III.

331

Ebd.

332

Bd. 4, S. 606.

152

Romanen schon in den ersten Zeilen auf Cervantes berief, gefördert haben333. Was die Entleihungen des Quijote nach Sprachen betrifft, bietet sich folgendes Bild: Französisch: 14 (20,9%), Deutsch: 51 (76,1%), Spanisch: 2 (3%) Nach näheren Personenbezeichnungen und/oder Berufen:

%

Anzahl Frauen

5

8,3

Beamte334

14

23,3

Akademiker

1

1,6

Geistliche

2

3,3

Militär

7

11,6

Schüler & Studenten

12

20

Volk allgemein335

12

20

Freie Berufe336

5

8,3

Nicht näher bezeichnet

2

3,3

333

Bei Bergel kann man noch lesen: „Don Quixote would have been unable to perform this all-embracing function in Germany without an impetus from the English novel literature, which had taken its inspiration from Cervantes. The history of Don Quixote in Germany in the 18th century is intimately interwoven with the reception of Fielding". (S. 309)

334

Hierzu zähle ich u. a. die Berufsbezeichnungen Assesor, Intendant, Informator, Kanzlist, Kanzleiadvokat, Sekretär.

335

Koch, Tapezierer, Mundschenk usw.

336

Hierzu rechne ich die zwei Fabrikanten, den Hauslehrer, den Ökonom und den Kaufmann.

153

Es ist natürlich nicht möglich, diese Daten für das gesamte Lektüreverhalten des 18. Jahrhunderts zu verallgemeinern. Aber doch bestätigen die Leser des Quijote hinsichtlich ihrer Anzahl und ihres sozialen Ursprungs die wesentlichtsten Schlußfolgerungen, die Raabe auf das Ganze bezieht. Ich hebe hier nun hervor: 1.- „In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, nach dem Fortgang des Hofes, verwandelte sich die Augusta in eine Bürgerbibliothek. Durch eine neue, dem Gedankengut der Aufklärung offene Bibliothekfuhrung wurden die Privilegien des Adels und der angesehenen Gesellschafitsschichten auf breite Bürgerkreise übertragen, eine einmalige Chance, die lebhaft aufgegriffen wurde."337 Dies bedingt auch, daß: 2.- 75% der Leser dem „Volk" oder dem Bürgertum angehören. 3.- 61,2% der Leser Nicht-Akademiker sind.338 Tatsächlich nehmen die Ausleihen des Quijote ab 1754 rapide zu. Das hat aber nicht nur lokale Aspekte zum Grund - Fortgang des Hofes - , sondern muß vor allem im Rahmen des sich vollziehenden Prozesses der Säkularisierung und der allgemeinen Hinwendung zur Schönen Literatur - und zum Deutschen - betrachtet werden339.

337

Einleitung, S. I.

338

Auffallend ist der geringe Anteil an Frauen, die sich Cervantes' Roman ausleihen - 2,28% der Gesamtzahl an lesenden Frauen wo sie doch praktisch die stärkste Adressatengruppe des Romans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellen.

339

In dem von Raabe untersuchten Zeitraum verlieren die politischen und neulateinischen Werke allmählich ihre privilegierte Stellung - von 22,5% auf 9,3%, von 30,8% auf 11% - zugunsten der Schönen Literatur - von 12,2% auf 36,2% - , der Philosophie - von 12,6% auf 37,2% - , der Naturwissenschaft - von 15,4% auf 21,8% - und der Oeconomica: von 10,5% auf 43,2%. Vgl. Einleitung von Raabe zu Bd. 1.

154

Um 1750 tritt in Deutschland ein Dualismus auf, der in der bekannten Diskussion um das Theater, die sich um die Jahrhundertwende auch auf den Roman ausweitet, seinen künstlerischen Ausdruck findet340. Es handelt sich um einen allmählichen Wertewandel, der sich aus der Infragestellung der ersten, radikalen Epoche der Aufklärung entwickelt. Wie bekannt spielt hierbei England als kulturell-geistiger Orientierungspunkt eine kaum zu überschätzende Rolle. Vor diesem zu genüge untersuchten Rahmen stelle ich nun folgende Hypothesen auf: 1.- Inhaltlich bestach der Quijote durch seine Humanität, formell durch den toleranten, fern von jedem Belehrungseifer sich gebenden Erzähler. 2.- Im Quijote kam durch die Dialogform eine 'Geselligkeit' zum Ausdruck, gegen die seit der Reformation systematisch angegangen wurde und die nun eine Art Sehnsuchtsmoment darstellte. 3.- Die Figur des Don Quijote stieß zur gleichen Zeit durch seine Verrücktheit ab und zog durch seinen Mut und seine Ehrbarkeit an: Er stellte einen negativen Helden dar, der sich aber auf den Leser in jeder Hinsicht positiv auswirkte, da sich dieser abwechselnd von seinem Wahn distanzieren oder sich mit seiner Utopie identifizieren konnte: Mal bestätigte das Drama Don Quijotes die eigene vernünftige Lebensführung, mal bot er sich als Zuflucht vor der langweiligen lebensfeindlichen Räson an.

340

„Die einen, wie Dähnert [...] oder Troeltsch, der [...] den englischen gegen den französischen Roman hält und sich für Marivaux, Mouhy, d'Argens und andere [...] entscheidet, engagieren sich für die französische Literatur. Die anderen, wie Haller oder Verfasser der moralischen Wochenschriften polemisieren gegen die Frankophilie. Englische Literatur schien ihnen 'bürgernäher' zu sein." Vgl. Weber, Ernst/Mitahl, Christine: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780: eine Bibliographie mit Besitznachweisen, Erich Schmidt, Berlin 1983, Zitat S. 74.

155

Der pädagogische Missionarseifer Samuel Richardsons drang sehr bald in Deutschland ein und verstärkte die Wogen der Empfindsamkeit, auf denen jene große Schar der Anhänger Gellerts des 'geistigen Vaters der Nation' - ritt341. Inmitten dieses literarisch-sozialen Tugendüberschwangs, der sogar noch seine englischen Vorbilder weit hinter sich ließ342, trauten sich die mit größerem Sinn für Ironie und Humor begabteren Leser kaum, sich zu Wort zu melden, da sie furchten mußten, daß ihre Kritik als Mangel an Moral und Ehrfurcht ausgelegt werden konnte343. Richardsons Romane setzen ja die von Defoe begründete Linie fort: inhaltlich eine Mischung aus rührigster Tugend und eiskaltem Kalkül, formell eine kaum verschleierte Monologizität, die in Einklang mit den bekannten Schreibmotivationen beider Schriftsteller steht. Im Zuge der Säkularisierung bildet sich eine bürgerliche Gesinnung, die eine Art von 'Gemeinschaftsgefühl' zu entdecken glaubt, das, weil es auf einer „selbstgenußhaften Tugendsentimentalität"344 beruht, ihr beabsichtigtes Ziel: „Mensch, schaffe dein und deiner Brüder Glück!"345, verfehlen muß. Sei es aus überstiegenem Vernunftglauben, sei es aus dem Glauben an eine persönlich verstandene pädagogisch-prophetische Heilsmission, die v. a. unter dem Bildungsbürgertum Führer entstehen läßt, die in der Belehrung des Nächsten einen Ausgleich für soziale, und d. h. auch persönliche, Bedeutungslosigkeit suchen, Tatsache ist, daß 341

Die Pamela erschien auf deutsch schon 1742 in Leipzig, die Clarissa 1748-50 in Göttingen in einer Übersetzung von J. D. Michaelis, der Charles Grandison in einer anonymen Übersetzung 1754-59 in Leipzig.

342

„[...] die deutschen Romane übertrafen an Moralgetränkheit, Tugendglanz, Edelmut und Kanzelton noch beträchlich ihre englischen Vorbilder". Gebhardt, Walther: Religionssoziologische Probleme im Roman der deutschen Aufklärung [Diss.], Gießen 1931, S. 37.

343

Vgl. Wood, Fieldings Einfluß, S. 4 ff.

344

Gebhardt, S. 53. Im AR selbst lassen sich ja noch Spuren hiervon finden: „Er [Reiser, A.P.] zwang sich also nicht gleichgültig, sondern gerührt und ernsthaft zu sein, bei diesem wichtigen Schritte, und war mit sich selber unzufrieden, daß er nicht noch weit gerührter war;" (S. 139, Hervorhebungen von Moritz).

345

Gebhardt, S. 52.

156

die vermeintlich beglückende Tugendhaftigkeit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts damit einsetzt, daß das Objekt der Anstrengungen - der Mensch - außer acht gelassen wird346. Dieser „lebensfeindliche Formalismus" der Aufklärung hat aber - wie gezeigt - seinen Ursprung in den Machtverteilungskämpfen der vorangegangenen Jahrhunderte, ist also nicht aus der Aufklärung selbst hervorgegangen, wird aber in ihr weitergeführt und funktionalisiert. Die Verabsolutierung der Vernunft selbst ist ja letzte konsequente Folge der Säkularisierung: Ein letzter Halt, aber auch ein letztes Mittel, das, von oben nach unten eingesetzt und in die entsprechende Richtung geleitet, die Einfuhrung allgemeiner Verbesserungen ermöglichte, ohne jedoch an den hierarchischen Machtstrukturen zu rütteln. Anders gesagt: In England war eine wirkliche soziale Revolution auch ohne Aufklärung möglich gewesen. In Deutschland faßte die Aufklärung sehr stark Fuß, doch es kam keine soziale Umwälzung zustande, und das Volk sollte noch über lange Zeit hinaus als „Pöbel" unter den Gebildeteren behandelt werden. Die Empfindsamkeit selbst tat das ihrige daran, Kontrolle auszuüben und Machtsphären zu behaupten347. Seit der wichtigen Arbeit von Gebhardt über die Säkularisierung der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts im Spiegel der Romanproduktion ist die literaturwissenschaftliche und soziologische Forschung zu dem Ergebnis gekommen, daß politische Unterdrückung und ein Geist des Sicheinfugens, die Herabsetzung des Bürgers zu einem 'Kind', das der kontinuierlichen Belehrung bedürfe, und der notgedrungene Zwiespalt der Persönlichkeit in einen belehrenden und einen zu belehrenden Teil das deutsche Aufklärungszeitalter im wesentlichsten ausmachen. 346

„Dieser Stärke der Gellertschen Sittenlehre [die Pflicht, das Gute zu wollen, A.P.]" - schreibt Gebhardt - „entspricht aber andererseits eine empfindliche Schwäche, die allerdings der ganzen Aufklärergeneration gemeinsam ist: es fehlt das individualpsychologische Verständnis sowie der Blick für historische Bedingheiten. Hier kommt diese ganze Zeit über einen lebensfernen, ja -feindlichen Formalismus nicht hinaus." Gebhardt, S. 53.

347

„[•••] wem es versagt bleibt, angesichts einer tugendhaften Handlung tränenden Auges die Wollust des Wohltuns zu empfinden und auszudrücken, dessen moralischer Sinn ist stumpf und verhärtet, der kann kein wahrer Tugendfreund sein." Gebhardt, S. 89.

157

Spanien dagegen bot sich nun als ein anderes, 'freieres' oder zumindest lebensnäheres Land an348. Das negative Spanienbild dürfte mit der Vorherrschaft Frankreichs auf dem europäischen Kontinent - d. h. vom Pyrenäenfrieden 1659 bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1714 - und mit dem Höhepunkt der Aufklärung bis um 1750 korrelieren. Die Ablösung Frankreichs durch England als bestimmendem Kulturorientierungspunkt geht mit einer Wiederentdeckung Spaniens einher, welche einer Betonung einer insgesamt sensitiveren und - zumindest in der Absicht - lebensweltlicheren Anschauungsweise gleichkommt. Der Kampf um das naturgemäßere lebensnähere Theater, der um die Mitte des Jahrhunderts einer Entscheidung entgegenzugehen scheint, drückt sich im Bereich des Romans durch eine Reaktion gegen Richardson aus, der eine literarische parodistische Behandlung erfahrt und gegen den offen Stellung genommen wird zugunsten seines Rivalen Fielding und somit - so wird argumentiert - zugunsten der Authentizität349. Daß aber die ästhetischen Diskussionen sehr eng mit der Sozialpolitik verbunden waren und daß erstere eine Art Zuflucht vor den Konsequenzen, die sich aus der Kritik an zweiterer ergeben konnten, darstellten, soll im folgenden veranschaulicht werden. Eine der frühesten längeren Äußerungen zum Quijote findet sich im Hannoverischen Magazin aus dem Jahre 1763350. Der Autor des Schreibens, A. G. K. aus Göttingen, setzt mit einer kleinen Zusammenfassung ein, die seine Sympathien von vornherein deutlich machen: „Don Quijote ist ein ehrlicher Landjunker, dem

348

Nicht alle Aufklärer - das wird hier im folgenden zu zeigen sein - haben in Spanien eine rückständige, von Aberglauben beherrschte Nation gesehen. Zum - traditionellen - Bild Spaniens in der deutschen Aufklärung vgl. Hoffmeister: Spanien und Deutschland, S. 86-87.

349

Vgl. Wood, S. 4 und das Vorwort in Pamela oder die entdeckte falsche Unschuld in den Begebenheiten der Syrene, Frankfurt und Berlin 1743-1744, Übersetzung von Claude Villarels Anti-Paméla, ou mémoires de M. D. London [Paris] 1742.

350

61. Stück, Freytag, den 2. August 1763, Sp. 961-968: „Über die Zeit, in welche Don Quijote gehört". Der Autor zeichnet A. G. K. (wohl August Gotthelf Kästner).

158

das Lesen der Ritterbücher den Kopf eingenommen hat" (Sp. 961, meine Hervorhebung). Dann folgt die obligate Huldigung: Der arme Cervantes sei zu bemitleiden, da er nicht in diesen Kästners - aufgeklärten Zeiten und Landen gelebt habe, „wo jeder Fürst ein August, und jeder Minister ein Maecen ist" (Sp. 963). Doch unmittelbar nach diesem patriotischen Lobgesang bricht das Lamento ein bißchen verschämt durch: „Das begreife ich aber freylich wol, daß die Erdichtung des Cervantes für unsere Zeiten in Deutschland völlig unwahrscheinlich wäre" (Sp. 963). Der Grund aber läge nicht - wie man meinen möchte - in der 'Erdichtung' selbst, sondern in der Trägheit und Angepaßtheit der Deutschen, vornehmlich des deutschen selbtsgefalligen und egoistischen Adels, der kurz zuvor von A. G. K. noch gelobt worden war, jetzt aber - ein wenig in Cervantes' Manier - eine humoristische Behandlung erfahrt: Denn, obgleich sein Held nicht vollkommen bey Verstände seyn soll, so überstiege es doch gänzlich allen Glauben, einen jetzigen vornehmen und grossen Deutschen, für so wahnwitzig anzunehmen, daß er seine Bequemlichkeit verliesse, Wälder durchirrte, Nächte unterm freyen Himmel zubrächte, und sich Gefahren aussetzte, um Notleidenden beyzustehen, Beraubten zu dem Ihrigen zu verhelfen, Unterdrückte wieder zu erheben. (Sp. 963) Zwanzig Jahre später kommt im folgenden Romananfang eine Kritik auch an eine bürgerlich unheroische, gemaßregelten Welt die, vorsichtshalber, ins 17. Jahrhundert verlegt wird - zum Ausdruck: In den alten fabelhaften Zeiten konnte eine einzige, oft auch nur gemeine That einen zum König, Helden, ja selbst zu einem Gott erheben; aber in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit wo die Kraft der Gesetze, eingeschränkte Rechte, gesetzte Pflichten, das Ansehen der Oberherrschaft den Muth in Zaum halten und die Bahn zu großen Unternehmungen versperren...351 351

Roman oder Biographie. Thomas Anello, in: Olla Potrida, 1. Stück, Berlin 1785, S. 94-95, Verfasser unbekannt. Der Titel dieses wohl nie zu Ende ausgeführten Romanprojekts spricht wiederum Moritz' AR an.

159

Kästner, dem zu Unrecht die strikt aufklärerische Interpretation zugeschrieben und der Vorwurf gemacht wird, er sei nie über diese hinausgekommen352, profitiert auch da vom cervantinischen Geist, wo er dem natürlichen Talent den Vorzug gibt: „Grosse Leute fehlen auch; ein Quentchen Mutterwitz gilt mehr, als ein Centner Schulwitz" (Sp. 966), und er - ganz ungewohnt für die deutsche Tradition - don Gregorio Mayans i Siscar, den Vermittler im 18. Jahrhundert zwischen Spanien und Deutschland in puncto spanischen Schrifttums, für seine Pedanterie schilt: „man muß nicht alle Worte zu Bolzen drehen; das heißt wol Mücken feigen und Kameele verschlucken, das Reuherchen sehen, und den vollen Mond nicht. Nein, Don Mayans, sie machen einen ärgern Antichristen, als alle Antichristen sind, die sie an Cervantes tadeln; umgewandt wird ein Schuh daraus" (Sp. 966-968). Die Kritik an einer selbstgefälligen Bürgerlichkeit, der Hinweis auf vorhandene Mißstände, ein für die deutsche Tradition ganz ungewöhnliches Lob der volkstümlichen Natürlichkeit und eine sich anschließende Kritik an einer versponnenen Gelehrsamkeit, die keine ist, lassen Kästner durchaus als einen frühen cervantinischen Erben erscheinen. Daß dies auch in Deutschland möglich ist, läßt sich dadurch erklären, daß weder das Spanienbild so schlecht war, wie es häufig dargestellt wird, noch der - protestantische - Rationalismus und die mit ihm immer in Verbindung gebrachte Aufklärung endgültig die Welt entzauberten. Meistens aber wurde der 'Zauber' nüchtern instrumentalisiert: Der Zynismus, der sich hierin kundtut, findet seine Heimatstätte im Pragmatismus des machiavellistischen Leitsatzes 'Der Zweck heiligt die Mittel', dessen Befolgung - wie nun zu zeigen sein wird - die Perversion und somit Entleerung der Mittel wie auch der Zwecke so mancher Aufklärungsbestrebungen mit sich brachte.

352

160

Vgl. Neumann, Cervantes in Deutschland, S. 159; Brüggemann, S. 175.

2.6.1 Selbstbestätigung durch Absonderung, lehren und belehren: Das Spanienbild im Lichte der Moralischen Wochenschriften, die Moralischen Wochenschriften als 'Narkotikum' Drei Jahre vor Kästners Apologie des Quijote - 1762 also - erscheint in den Hannoverischen Beyträgen ein Bericht Von dem Handel der Spanier nach Westindien, und von dem Schleichhandel anderer europäischer Völker353. Nachdem kurz auf die „Fehler der politischen Verwaltung" eingegangen wird, „durch welche die unsäglichsten Summen von den Zeiten der Entdeckung von Indien an, bis auf den heutigen Tag in auswärtigen Kriegen verschwendet worden, anstatt daß sie zum Nutzen des Reichs hätten sollen angewendet werden" (Sp. 1487), heißt es doch, Spaniens Armut sei auch durch den unzulässigen Wettbewerb der Engländer und Holländer - „welche als ein Volk beschrieben sind, das allzeit munter, aufmerksam und nicht zu eckelhaft in der Wahl seiner Mittel ist" (Sp. 1483) - , und dadurch „daß alle handelnde Nationen bey der Nachlässigkeit der Spanier einen großen Antheil an den Schätzen von Indien nehmen können, wenn sie nur wollen" (Sp. 1488) verursacht. Da es den spanischen Kaufleuten an Barem fehle, betrieben außerdem Franzosen, Engländer und Holländer „gegen eine kleine Erkenntlichkeit" (Sp. 1489) Handel unter dem Namen spanischer Kaufleute, die, „was die Handlung nach Westindien betrifft, keine eigentlichen Kaufleute, sondern nur Factoren der Auswärtigen" seien (Sp. 1489). Daß sich also die spanische Krone jetzt dazu entschlossen habe „Küstenbewahrer" einzuführen, dies sei nur recht und billig, wie ja auch, daß sechzehn spanische Kaufleute, die auf „Schleichhändlerschiffen" (Interlogers) unerlaubten Handel trieben, „ohne Barmherzigkeit gehenket" worden seien: „In so weit war dieses nicht unrecht gethan, denn ausser dem König von Spanien, thaten diese Schleichhändler auch den redlichen Kaufleuten ihrer eigenen Nationen den größten Schaden, durch den heimlichen Handel, den sie trieben" (Sp. 1484). Dieser Bericht, der eindeutig von einem Gefühl des Abseitsstehens durchdrungen ist, macht die erbitterten Kämpfe der europäischen Nationen um die Kontrolle des Seehandels in der zweiten 353

Hannoverische Beyträge, 1762, 4. T.

161

Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich354, und das definitiv angeschlagene Spanien kommt hier im Vergleich zu England und den Niederlanden, von denen ja wirklich machtökonomische Gefahr ausging, und welche auch einen Anspruch darauf erhoben, noch verhältnismäßig gut davon. Ganz anders aber, wenn vom religiös-geistigen Bereich die Rede ist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gestaltet sich die Inquisition zu einem der beliebtesten Themen in den deutschen Wochenschriften, womit ein wenig Morbid-Schauerhafit-Prickelndes in die bürgerlichen Stuben eindringt. In den Mannigfaltigkeiten von 1772, 3. Jahrgang, schildert O. den inquisitorischen Prozeß im Detail, beschreibt er Versammlungsort, Ausschmückung und Sitzordung: Nachdem nun der Prozeß wider die Gefangenen eingeleitet und geendigt worden, so werden sie entweder gestraft, oder unter gewissen Bedingungen auf freyen Fuß gesetzt. Das letztere geschieht selten, und die Strafen werden mit aller unter den Barbaren üblichen Grausamkeit vollzogen. Gewöhnlicher Weise verbrennt man die Ueberführten lebendig, oder schmiedet sie auf die Galeeren. (S. 776) Nachdem das Bild des Grauens ausgemalt worden ist, traut sich nun O., der seine Informationen aus den schon veröffentlichten Briefen des Herrn Clarkes bezieht355, zu prophezeien: „Dieses grausame Tribunal scheinet nunmehro seinem Untergang nahe zu seyn" (S. 777). Diese optimistische Vorhersage, die ein aufgeklärtes Zeitalter auch für Spanien nahen sieht, nährt sich nun aus folgendem zu berichtenden Ereignis: Ein Jude ward mit seiner Frau und Tochter zum Scheiterhaufen verurtheilt. Indem der Vater und die Mutter noch brannten, nahm man dem Kinde, einem Mädchen, die Fesseln ab, und die Mönche versammelten sich um dasselbe 354

Im Kontext des Seehandelkriegs ist auch das Auftreten der Spanier in Defoes Robinson Crusoe zu betrachten.

355

Es handelt sich um: Clarke, Eduard: Briefe von dem gegenwärtigen Zustande des Königreichs Spanien geschrieben zu Madrid in den Jahren 1760 und 1761, Lemgo 1765.

162

her, in der Absicht, es durch ihre Beredsamkeit und die Vorstellung des ihm bevorstehenden Todes zur Abschwörung der jüdischen Religion zu bewegen. Es schien ihren Reden eine Zeitlang mit Aufmerksamkeit zuzuhören: aber vielleicht nur um die Abscheulichkeit der ihm gethanen Zumuthung sich desto lebhafter vorzustellen. Was geschah? Dieses Mädchen, von einem bewunderungswürdigen Heldenmuth beseelt, sprang mit einem plötzlichen Schwung ins Feuer und beschloß ruhmvoll ihr junges Leben. (S. 777) Der Chronist - sei es O., sei es Clarke - kümmert sich offensichtlich wenig darum, ob es dem Leser suspekt werden könnte, daß ja die Geschichte um die Standhafitigkeit des jüdischen Mädchens den alten katholischen Märtyrergeschichten doch sehr ähnelt. Ganz im Gegenteil läßt er am Ende dieses knappen Berichts, in dem Spanien eine zunehmend sekundäre Rolle spielt, eine weitere Schauergeschichte um die Inquisition folgen. Eine ganz ähnliche Struktur der Anekdote - nun mit einem starken 'magischen' Element - läßt sich in der Bunzlauischen Monathsschrift zum Nutzen und Vergnügen, 3. Stück, März 1776 finden. Der vermeintliche Brief aus Lissabon „von einem protestantischen Kaufmann aus Deutschland, welcher sich daselbst etabliret hat" (S. 118), ist in seinem der Zeit entsprechenden katholikenfeindlichen Protestantismus so auffallend klischeehaft, daß hier kurz auf ihn eingegangen werden soll. Nur der 'wahre' Glauben bewahrt den Protestanten davor, samt seiner Familie in dem das Jahrhundert - und den Fortschrittsglauben - erschütternden Erdbeben von Lissabon umzukommen - ein wahrlich protestantisches Wunder, „eine besondre Probe der Aufsicht Gottes über die Seinen bey solchem Unglück in sich fasset" (S. 188). Als das Erdbeben einsetzte, befand sich der Kaufmann allein in seiner Kammer „und las eine Predigt" (S. 188): „Die Angst meines Herzens war groß; doch hatte ich mich dem Willen Gottes völlig ergeben, und beschlossen, lieber bey meiner Frau und kleinen Kindern zu sterben, als zu fliehen" (S. 119). Die Figur ist also auf den protestantischen nordeuropäischen Leser der Zeit zugeschnitten: fromm, tugendhaft, ergeben und dabei doch entschlossen und nüchtern. Die Identifikation mit der Figur wird ja auch durch die Briefform sehr begünstigt, da es sich um etwas

163

nicht Fiktives, sondern um einen Tatsachenbericht aus erster Hand handelt. Unmerklich wird nun das Wunder-Motiv übernommen: Wir gingen mit Gott getroßt und beherzt über verfallene Häuser, todte und bleßirte Menschen weg, und hatten durch Gottes sonderbare Gnaden das Glück, ohne den geringsten Schaden und Verletzung auf den großen Platz, die Rocio genannt, zu kommen. (S. 199) Das Erdbeben war aber nicht das Schlimmste, denn nun tritt das mediterrane Element hinzu: Ein jeder lief mit seinem Heiligen herum, und hierdurch wurden wir in noch größere Angst und Schrecken gesetzet, als wir ausgestanden hatten. Wir sollten diese Heiligenbilder mit küssen, wollten wir nicht vom Pöbel [die Oberen werden also auch im Ausland entlastet! A.P.] gesteiniget und getödtet werden. (S. 120) Die Familie, die in Portugal - das ist wohl diesem Bericht nach zu vermuten - auf religiöse Exklusivität und Absonderung baute, findet durch einen gemeinsamen Gott und ein 'merkantilistisches' Erkennungszeichen wieder zur Heimat: Wir danken Gott, daß er uns noch das Leben gelassen, damit wir seinen heiligen Namen preisen, und auch andere dazu mit auffordern können: Gebt unserm Gott die Ehre! Wir haben alles verloren. Das einzige, so wir von unsern Effekten gerettet, sind unsre Handlungsbücher. (S. 121) Nicht nur Max Webers Thesen finden in diesen kurzen Zeilen Bestätigung, sondern auch die Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts scheinen durch diese harte Trennlinie, die hier zwischen den Religionen gezogen wird, nochmals aufzuleben. Im Fazit des briefschreibenden ehrfurchtigen Familienvaters schimmert das protestantische „Traue dem Menschen nicht" und - als Drohgebärde - auch die Hölle durch:

164

Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut im Himmel und auf Erden: und selbst die Pforten der Höllen sollen diese Gebäude nicht überwältigen. (S.121) Der narrative Erzählstil dieser Geschichten, die Inkongruenz der Erzählung, der Widerspruch sogar zu den protestantischen Glaubenssätzen, die sich nun plötzlich mirakulös-katholisch gefärbt geben, machen aber deutlich, daß es hier im ganzen weder um Spanien noch um Katholizismus oder Protestantismus geht, sondern vorwiegend um Absatzstrategien, die auf Unterhaltung setzen. In der Vorrede, welche der Herausgeber der Bunzlauischen Monatsschrift 1766 seinem 3. Jahrgang vorausschickt, kommt dies eindeutig zum Ausdruck: Vielen ist alles, was nicht Geschichte und Erzählungen enthällt kaum des Ansehens werth. Sie wünschen nur Historien zu lesen, und je unbedeutender oft die Geschichtgen sind, desto lieber scheinen sie ihnen zu sein. Mancher Leser klagt gleich über Trokenheit des Vortrages, und über Sachen, die für ihn zu hoch und also nach seiner Meinung auch unnütze sind, wenn er nur das geringste Nachdenken beim Lesen anwenden soll. Die strenge Scheidung, die zwischen der Inquisition als solcher - als Systemelement - und Spanien und der spanischen Bevölkerung vorgenommen wird, kommt ganz deutlich in einer späteren Chronik, die sich mit dem gleichen Gegenstand befaßt, zum Vorschein: im Historisch-Politischen Magazin, 1789, 6. Band, S. 633638, werden "Einige Nachrichten von der spanischen Inquisition" mitgeteilt, unter anderem: Die Spanier des jetzigen Zeitalters sind weit von jener kaltblütigen Grausamkeit entfernt, welche das Herz den Mitleiden verschleußt, und es steht ihnen frey, die unglücklichen Schlachtopfer zu bedauern, welche unter der Strenge des heiligen Officium leiden. [...] Der berühmte Don Pablo Olavide, dieser wohltätige Bevölkerer der Sierra Morena, ward ein wiewohl nicht blutendes Opfer dieses abscheulichen Gerichts. Möchte er

165

doch das letzte seyn! Möchte es doch wahr seyn, was neulich in öffentlichen Blättern gemeldet ward, daß der König Willens sey, dieß verfluchte Gericht, diese Brut der Hölle völlig abzuschaffen. (S. 638) Während man aber mit dem Finger nach Spanien zeigt, wird weiterhin die soziale Scheidung betrieben, die sich in der schon traditionellen Verachtung des Pöbels ausdrückt. Der Rezensent der Neueren Staatskunde von Spanien fragt sich: Was der Verfasser von dem dummen Aberglauben des gemeinen Volks in Spanien sagt, mag völlig gegründet seyn. Aber wo ist der Pöbel aufgeklärt? Es gibt nur Stufen der Blindheit unter demselben.356 Die schärfsten Töne, die sich z. B. 1778 in der Rezension von Don Pedro Rodriguez Campomanes Abhandlung von der Unterstützung der gemeinen Industrie in Spanien, auf königlichen Befehl zum Druck befördert, hören lassen357 - neben Sätzen, die von „Spaniens politische[r] Wiedergeburt" und dem „Wiederaufblühen seines inneren Wohlstandes, das einem aufmerksamen Beobachter jetzt so sehr in die Augen fallt" - berichten, zielen auf den „den Spaniern insgeheim bisher mit Recht vorgeworfenen Müßiggang" und auf die immer wieder in allen Berichten über Spanien betonte „Schädlichkeit des Mönchswesens". Selbst wenn es darum geht, über die nicht gerade glücklich begonnene Kolonisierung der Sierra Morena durch die von Thürriegel angeführten deutschen Kolonnen zu berichten, treten die Meinungen über Land und Leute völlig in den Hintergrund: Nur die Kirche und die Inquisition entgehen der Geißelung nicht358. So auch in einer kurzen Nachricht, in der über das Verbot, französische Bücher nach Spanien zu importieren, und über die Zensur berichtet und das Aufkommen ei-

356

Niedereibisches historisches - politisches 1787,2. Bd., S. 182.

357

Der Teutsche Merkur, 1779, 1. Bd., S. 92-94, Zitate S. 92 und 93.

358

Vgl. Hannoverisches Magazin, 24. Jg., 1786, Sp. 835-842, „Deutsche Colonisten in Spanien".

166

- litterarisches

Magazin,

ner Freiheitsära auch für Spanien heraufbeschworen wird359. Doch daß hier 'welsche' Kompensationsversuche die Feder geführt haben, macht das im gleichen Jahr 1792 an Oberhauptmann von Knigge in Bremen ergangene offizielle Schreiben deutlich, in dem ihm u. a. mittgeteilt wird: Wir finden für jetzt nöthig, euch auf das im Jahre 1731 erneuerte Edict wegen der Censur der Bücher zu verweisen und befehlen nach dessen Inhalt euch hierdurch namentlich: hinführo, weder inner- noch außerhalb Landes, irgend etwas, mithin auch nicht ohne Namen oder unter einem andern Namen, drucken zu lassen, was nicht vorher gehörigen Ortes zur Censur eingereicht worden und selbige passiret ist, bei der in dem Edict ausgedrückten Strafe und nach Befinden weiterer Ahndung. Wir sind euch zu freundlichen Diensten geneigt.360 Unabhängig von sensationslustigen, den Verkauf fördernden 'Geschitchen' um die Inquisition tritt deutlich hervor, daß Spanien als eine Art Ablenkungs- und Selbstbestätigunsland zur Verfugung stand. Die inneren Spannungen waren in Deutschland groß genug, um sich über die schon seit zweihundert Jahren in Spanien tätige Inquisition oder den spanischen Katholizismus, der ja für den nordischen Protestantismus keine Gefahr mehr darstellen konnte, noch aufregen zu müssen. Nicht ein 'Aufklärungsrausch', der als oberflächlicher Erklärungsversuch herangezogen werden 359

„Nach langen Conferenzen soll endlich eine allgemeine Reform des Kartheuser Ordens (warum nicht lieber aller Orden, die so viele faule Bäuche nähren?) beschlossen worden seyn, und man erwartet nächstens eine Bekanntmachung in dieser Rücksicht. - Das Einfuhren aller neuen französischen Büchern und Schriften, und namentlich auch das Journal physique de Paris, sind durch ein königliches Decret verboten worden; vermutlich um die so nöthige Aufklärung und die Verbreitung des Freyheitsgeistes zu hemmen. Man wird aber gewiß diesen dadurch so wenig aufhalten, als man dem Ausbruche des Sonnenlichts wehren kann, wenn gleich alle Schirache in allen Welttheilen dieß zu hindern suchen sollten. Von gedachtem Decrete sind bloß diejenigen französischen Bücher ausgenommen, die von den dazu verordneten königlichen Censoren vorher geprüft worden sind." Historisch-Politisches Magazin, Bd. 11, 1792, S. 200-201.

360

Zitat nach Kiesel/Münch, S. 105.

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könnte, sondern eine Art von kollektiver Bewußtseinsspaltung ermöglicht die Kompatibilität zwischen Ankläger und Angeklagtem. Diese neue Dualität kommt auch in den vordergründig antidogmatischen Stellungnahmen zum Vorschein. Am 9.7.1788 war das Wöllnersche Religionsedikt in Kraft getreten, das einerseits zwar im Vergleich zu der vollkommen intoleranten spanischen Kirche als fortschrittlich gelten mußte, da es die Glaubenstoleranz und -freiheit gesetzlich verankerte, das aber andererseits für Preußen auch einen lutherischen Dogmatismus festsetzte. Im Braunschweigischen Journal, 1789, 10. Stück, erscheint ein langer Artikel (S. 129-147), der die Frage behandelt: „Sollte das preußische Religionsedict für die Verbreitung der wahren Aufklärung wirklich so gefarhlich seyen als man glaubt?" Zuerst wird der „Landesvater" in Sicherheit gebracht: Ferner sind uns die menschenfreundlichen Gesinnungen des Königes Bürge dafür, daß dieses Edict in seiner bisherigen Form, nicht lange Gültigkeit haben werde. Allenthalben leuchten die landesväterlichen Absichten hervor, die doch durch die Form des Edicts selbst vereitelt zu werden scheinen. Friedrich Wilhelm will die Tugend, Zufriedenheit und Gemüthsruhe seiner Unterthanen gesichert wissen; will es daher nicht dulden, daß die bisher geglaubten Grundsätze, auf welchen die Tugend, Zufriedenheit und Ruhe vieler seiner Unterthanen gegründet war, von der Kanzel bestritten würden! Wer erkennt hierinne nicht die zärtliche Liebe des Landesvaters? (S. 130-131) Dann werden die Gewissenszwänge und -kämpfe geschildert, die solch ein Edikt mit sich bringen muß, vornehmlich für den belehrenden Teil der Nation: Der dissentierende Lehrer wird dadurch in die Nothwendigkeit gesetzt, entweder sein Amt niederzulegen, oder, welches entsetzlich ist, Meinungen vorzutragen, die er selbst nicht glaubt, und ein großer Theil der Zuhörer wird verwirrt und erbittert. (S. 132)

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Schließlich werden eine Anzahl rhetorischer Fragen aneinandergereiht, die wir schon von dem Disput Ward - Wilkins/Webster kennen: Ists denn etwa ein elender, längst widerlegter Irrthum, daß Gott die Welt regiere? daß der menschliche Geist unsterblich sey, daß man seine Feinde lieben müsse? (S. 140) Trotz verschiedener Rückfälle in die Huldigungsrhetorik „Mann kann es nicht ohne Rührung lesen, wie sehr der König S. 5 wünscht, daß drei verschiedene christliche Religionspartheien in seinem Lande verträglich und brüderlich bei einander leben sollen..." (S. 141) - scheint sich der anonyme Autor des Artikels tatsächlich über jegliche Orthodoxie - staatliche oder religiöse hinwegzusetzen, um auf Grundlegendstes hinzuweisen: Dies waren die Eigenschaften, auf welche unser Herr und Meister, bei Annehmung seiner Schüler, allein Rücksicht nahm. Ohne ihnen ein Glaubensbekenntniß abzusondern, sähe er bloß auf ihren Wahrheitssinn und ihres Herzens Rechtschaffenheit. (S. 144) Daß hierbei eine Analogie zwischen Gottes Sohn und Friedrich Wilhelm nahegelegt wird, dürfte als fast selbstverständlich empfunden und daher bewußt gar nicht wahrgenommen worden sein. Doch in einem nächsten Schritt klammert der Autor des Artikels sogar den König aus, denn „die Wahrheit ist weit über Fürstlichen Schutz erhaben, sie besteht und verbreitet sich durch ihre eigne Kraft" (S. 145). Es wird aber sehr bald deutlich, daß hier nicht gegen den Fürsten angeschrieben wird: Die sogenannte Orthodoxie solle sich vorsehen, daß der „aufgeklärte Theil der Nation", durch das Religionsedikt herausgefordert, sich daran mache, „die sogenannten Grundsäulen etwas genauer zu untersuchen", denn dann „könnten trübselige Zeiten für die Orthodoxie entstehen, gegen welche auch die Macht des größten Monarchen nichts ausrichten würde" (S. 146-147). Ja, der Autor geht noch weiter, indem er das Evangelium, das „von den Bischöfen durch allerhand schwer zu glaubende Zusätze war verunstaltet und so seine Glaubwürdigkeit und Annehmlichkeit war gemindert worden" (S. 146), als einzig verbindliches Wort hinstellt:

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Denn der menschliche Geist ist frei, und behauptet seine Freiheit dann am nachdrücklichsten, wenn er merkt, daß er eingeschränkt werden soll. (S. 147) Man hat sich - angesichts dieser dezidierten Worte - zu fragen, ob der humanistisch geprägte Freiheitswille in Deutschland endlich Einzug hält oder es sich aber um pietistisch angehauchte Sozialplazierungskämpfe handelt, in denen es nicht nur am Podest der kirchlichen Autoritäten bröckelt. Denn auch der Philosophenstand zeigt deutliche Anzeichen von Existenzangst, da auch ihre schon an sich sehr schwache gesellschaftliche Rolle angezweifelt wird361. Auf die - v. a. intellektuellen - Finten, die geschlagen werden, um geistig-materielle Macht zu bewahren oder zu erlangen, soll hier vorerst nicht eingegangen werden, doch war sie natürlich auch schon den Zeitgenossen - wohl mehr als den späteren Studiosi - bewußt. Gerade am 18. Juli 1789 schreibt ein gewisser Fischer aus Halberstadt „Auch etwas über die Einmischung des Staats in Erziehungssachen", ein Artikel, der noch im gleichen Jahr im Braunschweigischen Journal erscheint (S. 215-227). Hier wird deutlich, welche sozio-politische Tragweite die oben dargestellte Warnung an die Orthodoxie haben könnte: Die Meinungen wechseln wunderlich. Man hat lange genug geklagt, daß Fürsten und Staat sich um das Erziehungswesen nicht bekümmerten; und kaum scheinen diese Klagen einige Aufmerksamkeit erweckt zu haben, so kommen da schon wieder von der anderen Seite Stimmen her: 'Sie sollen sich bei Leibe nicht darum bekümmern; weil das pur lauterer Eingriff in die Freiheit ihrer Unterthanen sey u. s. w.' Es ist doch wahrlich recht gut, daß die Fürsten nicht Zeit haben, alles zu lesen! Meine Absicht ist nichts weniger; als mich in den Streit zu mischen. Es wird hoffentlich hier gehn, wie in tausend anderen Fällen; indeß daß geschrieben wird, was geschrieben werden kann, geschieht, was geschehen soll, und, wo die rechten thätigen Leute an der Spitze sind, geht alles - be-

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Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 194 f.; Gartier, 32 f.; Bruford, S. 250-252; Dörner, S. 236 f. (zu Kant).

merkt oder unbemerkt - seine gewiesenen Wege fort. (S. 215-216) Ließe sich das Vorhergehende noch als blanker Zynismus oder als resignierter Abgesang an jegliches Partizipationsstreben interpretieren, wird im Folgenden ganz im Gegenteil ersichtlich, daß es sich hier um eine Naivität handelt, die sich in der größten Unmündigkeit autoritären Strukturen unterwirft, ohne auch nur einen Hauch von Zweifeln zu hegen. Ein tiefer grundlegender Widerspruch, nämlich die Unterbewertung des Ich und des Du zugunsten eines Super-Ich und Super-Du als Weg zur kollektiven Glückseligkeit wird verinnerlicht und als kollektives Gerüst gesellschaftlich projiziert. Als Ergebnis: ein seelisches und auch physisch-wörtliches Stammeln, das an Cervantes' „razón de la sinrazón" erinnert und nicht aus der Beklemmnis herauszufinden weiß: Wir leben Einer für Alle, und Alle für Einen; daher entstehen allgemeine gesellschaftliche Pflichten, Rechte, Bedürfnisse. Nicht Jeder ist in der Lage, diese zu übersehen, sie für sich kennen zu lernen, oder sie seine Kinder zu lehren. Und wer sie nicht kennen lernt, stößt doch hernach überall an und befindet sich übel dabei; weiß Wesentliches und Unwesentliches, Nothwendiges und Entbehrliches, Gutes und Fehlerhaftes nicht zu unterscheiden, und, wenn er etwas bessern oder gebessert haben will, fangt er es auf eine Art an, daß man ihn eben so wenig, als Kassandra ehedem mit ihren Prophezeihungen, zu hören Lust hat. Wenige wissen frühzeitig genug, was sie einmal zu wissen wünschen werden; wenige wissen, wie wohl ihnen selbst seyn würde, wenn sie dies oder jenes mehr oder besser wüßten. Aber andre, die mehr in der Lage sind, das Ganze der menschlichen Angelegenheiten zu übersehen, wissen's; und können, und, weil sie können, müssen sie den Schwächern zu Hilfe kommen. Solche Pflicht fallt unwidersprechlich auf den Vater des Volks; die Ausfuhrung aber, da er doch nicht alles selbst thun kann, auf die, denen dieser Theil des gemeinen Wohls anvertrauet ist. (S. 216-217)

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Dieser Absatz, in dem schon in den ersten Worten der Glaube an eine naive, kindlich-musketierhafite Gemeinschaft durchbricht, erhellt auf prägnante Weise, wie fortgeschritten das Abhängigkeitsverhältnis und wie groß der Wunsch und der Wille ist, einen Konsens zu etablieren, der auf einer Einbindung ins Staatswesen, d. h. auf einer pragmatischen Objektivierung des Menschlichen im Nützlichkeitsprinzip fußt. Das ist der „unwidersprechliche" Ausgangspunkt, von dem aus ein 'Gedankenaustausch' über das 'Wie' vonstatten gehen soll. Die Menschheit teilt sich hiernach in Wissende und Unwissende, in Lehrende und Lernende; die ersten erfüllen eine Art von säkularisierter Heilsmission - deren Ziele und Inhalte in ihrer weitreichendsten Bedeutung und Wirkung wiederum nur dem für seine Untertanen das Beste wollenden Landesvater bekannt sind - ; die zweiten haben sich demütig das fehlende Wissen anzueignen. Zeigte sich die Welt in Cervantes' Quijote des öfteren als 'verhext', aber im ganzen doch noch durchdringbar, so läßt der deutsche Bürger des 18. Jahrhunderts den Anspruch auf allgemeine(s) Sozialerkenntnis und -Verständnis fallen, um sich mit dem ihm zugeteilten Raum, den er als Auszuführender - nicht als Entwerfender - einnimmt, zufrieden zu geben: Die pflichtgemäße Ausübung seines Amtes, die jegliche Infragestellung ausklammert, ist Garant des Gemeinwohls, also auch des eigenen Wohlstandes, um so mehr als sich neben Rechten und Pflichten ein neuer Terminus zum Gemeinvokabular gesellt: Bedürfnisse. Hierin wird sich Anton Reiser, beziehungsweise Moritz, als Dissident zeigen. Zur Befriedigung der Bedürfnisse sind rechtlich-ökonomische Grundsätze vonnöten, die als solche naturgemäß vom negativen Fall - dem Rechtsbruch - auszugehen haben und in dieser Hinsicht das traditionelle Mißtrauen der lutherisch-reformierten Kirchen dem Menschen gegenüber verstärken. Dies steht in Verbindung mit der fortschreitenden Etablierung eines offenen, das Kammeralsystem ersetzenden Marktes, der sich unabhängig vom staatlichen Interventionismus zu entwickeln hat, wofür allgemein verbindliche und nachzuvollziehende Kriterien und Bestimmungen unerläßlich sind. Das sich definitiv durchsetzende Bewußtsein der Unvollkommenheit des Individuums führt nicht - wie in Eng-

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land - zu einem relativistisch-ironisch-humoristischen Denken, das der Gefühlswelt einen breiten Raum gewährt, sondern zu dem Versuch, das Unwägbare durch gesetzlich-rechtliche Durchdringung unter Kontrolle zu bringen, denn es ist der Mensch selbst, der einer zu erreichenden vollkommenen Gesellschaft im Wege steht. Im erwähnten Artikel heißt es: So lange noch nicht alles Gesetz und Ordnung für Despotismus erklärt ist, (welches vor zehn bis zwanzig Jahren einigen jungen Kraftmännern beinahe gelungen wäre), wüßt' ich nicht, warum Schulordnung, Despotismus seyn sollte. Daß aber, auch bei den billigsten und natürlichsten Gesetzen, durch Schikane, Verdrehungen, Leidenschaften und Nebenabsichten in der Ausführung manche Gewaltsamkeit vorfallen und Despotismus verübt werden kann, will ich dadurch gar nicht geläugnet haben. Aber abusus usum, exceptio regulam, et fraus legem non tollit. Die Gesetze sind daher verpflichtende, ordnende Lebensnorm, das Debattieren aber eine Art ästhetische Übung, bei der es nicht darauf ankommt, den Gegner zu überzeugen, sondern Bildung und rhetorische Gewandheit zu beweisen. Die Diskussion und der Gedankenaustausch werden zum Zeitvertreib der Besseren, d. h. der Gebildeteren, so daß Herr Fischer aus Halberstadt aufgeräumt schreiben kann: Ich kenne den Verfasser der angeführten Aufsätze nicht; [...] ich freue mich sogar, wenn eine Sache von allen möglichen Seiten beleuchtet, und ernstlich debattiert wird. Die debatting societies würden eins von den ersten seyn, was ich in London aufsuchte. Immer mag er also das Gegentheil von dem, was ich glaube, ausführen und vertheidigen, so weit er will; wenn er's gut macht, ich werde ihm meinen Beifall mitzuklatschen. (S. 225) Dieses 'Dialogkonstrukt' ist Surrogat des Dialogs, veredelte Alternative zur Schwatzhafitigkeit und dem Geplapper, das die strengen lutherischen Kirchenleute und der biedere Bürger verdammen. Die Tugendprinzipien des deutschen Bürgers und auch des deutschen Adels, der sich zunehmend den bürgerlichen geho-

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benen Schichten anpaßte362, waren mit der unbekümmert plaudernden Geselligkeit nicht zu vereinbaren. Die Dialoge im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts - fast gleichgültig, welchen man betrachtet - spiegeln also auf ihre Weise, und wohl eher unbeabsichtigt, in ihrer Künstlichkeit dieses Phänomen der Beklommenheit, vor der man sich mittels des 'Schönen' zu retten versucht, wider363. 362

Vgl. Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Königshausen & Neumann, Würzburg 1990, S. 13 und 15, A. 22.

363

Ein Beispiel für alle: Agathon antwortet auf die Frage Hippias', mit welchen Gedanken er sich denn die Zeit vertreibe, folgendermaßen und bar jeglicher Ironie: Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung, worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir auftat, es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte. H. Ch. M. Wieland, Geschichte des Agathon, Reclam, Stuttgart 1979, S. 55-56. In Kapitel 13, 1. Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahre wird wiederholt auf Unterhaltungen hingewiesen - wiedergegeben werden sie aber nicht, und der Leser muß sich meistens mit einer Zusammenfassung begnügen. Auf die Künstlichkeit der Welt, des „Gemodelt-Seins" der Begegenheiten im Agathon und in den Lehrjahren als 'Haken', an denen sich der Protagonist in seiner Entwicklung zu dem ihm zugedachten Ende weiterangelt, weist Fürnkäs, Josef: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz' «Anton Reiser», Metzler, Stuttgart 1977, S. 50 hin. Jürgen Jacobs, in seiner Prosa der Aufklärung, Winkler, München 1976, S. 42, gewährt zwar den Autoren der Aufklärung ein „dialogisches Stilprinzip", hinzuweisen weiß er aber nur auf Werke oder Autoren zweiter und dritter Reihe, nämlich auf Wielands Peregrinus Probens (1791), auf A. G. Meißners Alcibiades und auf F. T. Hases Gustav Aldermann.

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Engelsing hat recht, wenn er auf das gedruckte Wort und auf das 'Literarische' in der Entstehung einer Art von öffentlicher Meinung aufmerksam macht, und unrecht, wenn er darin eine gesellschaftliche gemeinschaftsstiftende Umwälzung sehen will364. Die schon bekannte Aporie, die sich aus dem immer wieder als einfaches und stets zur Verfugung stehendes Erklärungsmoment des 'Nationalitätsmangels' ergeben muß, insofern es immer wieder für allerlei anscheinend in ihrem Ursprung unbewußte und nicht reflektierte (Volks/Massen/Gesellschafts...?-)Handlungen und (?-)Bewegungen herhalten muß, wird bei Engelsing wieder aktualisiert. Das Aufkommen von Publikationen und die parallel sich intensivierende Lektüre als Voraussetzung der Entstehung einer öffentlichen Meinung soll laut Engelsing im 18. Jahrhundert erneut als „Ersatz für den Mangel einer Metropole und einer Einheit von Staat, Glauben, Sprache usw." dienen365, würde also auf Die Forderung Blankenburgs nach dem Dialog im Roman ist als Desiderátum anzusehen. Zum Vergleich sei hier eine Passage aus Cervantes' La cueva de Salamanca angeführt (Obras Completas, Aguilar, Madrid 1990", S. 718): „Sacristán- ¡Oh, que enhorabuena estén los automedontes y guías de los carros de nuestros gustos, las luces de nuestras tinieblas y las dos recíprocas voluntades que sirven de basas y columnas a la amorosa fábrica de nuestros deseos. Leonarda- Eso solo me enfada de él. Reponce mío, habla, por tu vida, a lo moderno y de modo que te entienda, y no te encarames donde no te alcance. Barbero- Eso tengo yo bueno, que hablo más llano que una suela de zapato: pan por vino y vino por pan, o como suele decirse. Sacristán - Sí; que diferencia ha de haber de un sacristán gramático a un beilero romancista. Cristina- Para lo que yo he menester a mi barbero, tanto latín sabe, y aún más, que supo Antonio de Nebrija. Y no se dispute ahora de ciencia ni de modos de hablar, que cada uno habla, si no como debe, a lo menos como sabe. Y entrémonos, y manos a labor, que hay mucho que hacer." 364

„Wie wirkte sich die öffentliche Meinung" - fragt sich Engelsing, Die literarische Gesellschaft - „in der Gesellschaft aus, worin bestand die Umwälzung im Einzelnen? Hauptsächlich darin, daß das Aufkommen der Zeitschriften und der schönen Literatur und die Zunahme der Lektüre die altbürgerliche hausherrschaftliche Gesellschaftsordnung sprengten." (S. 150)

365

Engelsing, Die literarische Gesellschaft, S. 149.

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jeden Fall Ersatzcharakter haben. Wie soll - muß man sich fragen - auf dieser Grundlage das gedruckte Wort sich nun zur „sozialisierenden Macht" (Engelsing, S. 152) gestalten? Nur wenn man diese Aussage auf eine mittelhohe soziale Schicht von bürgerlichen Lesern und, v. a., Leserinnen beschränkt, mag ihr ein gewisser Wahrheitsgehalt anhaften366. Es trifft vielmehr zu, daß Bildung definitiv zu einem „Wertmesser sozialen Ansehens" (Engelsing, S. 153) wurde und somit bald ein neues Element und Symbol der Scheidung zwischen arm und reich, zwischen gebildet und ungebildet, zwischen dem 'Pöbel', der nichts oder nur 'Triviales' las, und dem nun kultivierten Teil der Gesellschaft darstellte. Es muß daher nicht verwundern, daß schließlich die soziale Revolution zugunsten der ästhetischen Revolution - wenn man überhaupt so weit gehen darf - aufgegeben wurde367, eine sicher z. T. forcierte Entscheidung368, die sich sozioliterarisch in der Scheidung zwischen 'Höherem' und 'Niedererem' manifestierte 366

„Der Prozeß der Bildung und Vergrößerung eines Lesepublikums erfaßte nicht alle Schichten der Gesellschaft gleichmäßig, sondern blieb hauptsächlich auf die Schicht des gehobenen Bürgertums beschränkt. Die zahlenmäßig viel stärkeren Unterschichten stellten nur wenige Leser." Kiesel/Münch, S. 166.

367

Vgl. Haferkorn, Hans J.: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800 [Diss.], aufgenommen in: Lutz, Bernd (Hg.): Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800, Metzler, Stuttgart 1974, S. 113-239, S. 146 ff; Cocalis, Susan L.: „Prophete rechts, Prophete links, Ästhetik in der Mitten. Die amerikanische und die französische Revolution in ihrem Einfluß auf die Romanform der deutschen Klassik und Romantik", in: Paulsen, Wolfgang (Hg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, Francke, Bern und München 1977, S. 73-86.

368

Lessing schreibt 1769 an Fr. Nicolai: „Sonst sagen Sie mir von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will. Und dieser Freiheit muß sich der rechtliche Man nun bald zu bedienen schämen. Lassen Sie... aber doch einmal einen in Berlin... auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es jetzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist." Zitat nach Haferkorn, S. 183.

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und die mit sich brachte, daß der echten oder vermeintlichen Banalität oft eine 'ausgestopfte' Gelehrsamkeit entgegengestellt wurde. Die seit dem 16. Jahrhundert immer dringender werdende Versöhnung zwischen den verschiedenen Volksschichten wurde also durch das Aufkommen dieses neuen Schrifttums und des literarischen Marktes und das weiterhin sehr unpolitisch gehaltene 'Bildungskonzept' nicht gefördert, sondern sogar als Möglichkeit nochmals erschwert. Es gab weiterhin nichts Verbindliches, woraus ein Gefühl von Gemeinschaft hätte entstehen können, und J. G. Zimmermanns Betrachtungen über die Einsamkeit (1756, überarbeitete Versionen von 1773 und 1784) und Christian Garves Über Gesellschaft und Einsamkeit (1797 und 1800) liefern ein gelehrtes Zeugnis, der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts ein künstlerisches Zeugnis hiervon369. Die Entstehung des Romans an sich ist ja - auch schon bei Cervantes - ein Zeichen für die gesellschaftliche Auflösung der mittelalterlichen Stände zugunsten eines neuen Begriffs von Individualität. Vor Cervantes war das Lesen oder überhaupt die Kunst ein gesellschaftlicher, ein sozialer Akt, den Cervantes selbst immer wieder im Quijote widerspiegelt und der auch noch im Deutschland des 18. Jahrhunderts besonders unter den 'Frauenzimmern' gepflegt wird370. Der fast blitzartige Aufschwung des Romans ab den 1740er Jahren läßt sich aber allgemein als Suche nach einem Trostmittel für die sich zunehmend verbreitende und verstärkende Krankheit der Entfremdung und der Selbstentfremdung deuten. Da diese dann wiederum als literarischer Stoff diente, entsteht ein sich selbst ernährender Kreis, aus dem Goethe glaubt, durch Verzicht und Verweilen herausfinden zu können. 369

Martin Greiner spricht vom „Leiden an der Individuation"; Greiner, Martin: „Vom Gattungsroman zum Entwicklungsroman. Die Entfaltung und Ausbreitung der Banalität im bürgerlichen Roman des 18. Jhs.", in: Pütz, Peter (Hg.): Erforschung der deutschen Aufklärung, Athenaeum, Königstein/Ts. 1980, S. 218-225.

370

Zum Quijote sei hier erneut auf die gemeinsame Amadis-Lektüre der „segadores" hingewiesen. Über Lesegewohnheiten im Deutschland des 18. Jahrhunderts weiß ein Zeitgenosse zu berichten: „Wo sich jüngere Frauenzimmer versammeln, da wird viel vorgelesen bei der Handarbeit, und zwar meistenteils ausgesuchte Leetüre." Zitat nach Engelsing, Die literarische Gesellschaft S. 161.

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2.7 Sechste Abschweifung: Aristophanes und seine deutschen Interpreten und Übersetzer Das Dargestellte ist konsequente Entwicklung der im Protestantismus angelegten Neigung zum Individualismus, der sich mit der Auflösung der Stände und der Säkularisierung ungehemmt weiterentwickelt. Erwerb von Macht und Ansehen durch Bildung und/ oder Geld bieten sich im neu entstandenen Macht- und Marktraum als seelische Rettungsringe an. Dies wird auch sehr deutlich im Falle der Aristhopanes-Rezeption des 18. Jahrhunderts, die sich extrem bildungsaufklärerisch, doch dogmatisch und zur gleichen Zeit weiterhin politisch 'bedacht' gibt. Im Lausitzischen Magazin, 1790, 23. Jg., S. 185-188, wird die Rede des Rect. hr. M. Karl Aug. Böttiger anläßlich einer Abschiedsfeier, „da einige studirende Jünglinge Abschied genommen, und die Universität bezogen haben" zusammengefaßt. Der Rektor behandelte zum Anlaß die Frage: „Quam vim ad religionis cultum habuerit Homeri lectio apud Grascos, puerorum institutionem ab hoc poeta auspicari solitos"371. Auf Homer geht der Herr Rektor in seiner Rede aber kaum ein, sondern beschäftigt sich viel lieber mit Aristophanes, dessen Pluto er mit seinen Schülern durchgegangen ist. Pädagogische Rechtfertigung schöpft er aus der Interpretation des Werks als einem Stück, in dem der Autor „die Albernheit der heidnischen Götter u. den blinden Aberglauben der Athener recht beißend durchzieht". Doch zu seinem Bedauern mußte der dozierende Rektor feststellen, daß seine „Zöglinge des Aristoph. Spöttereyen - «les Railleries, qu'Aristophane fait des dieux», wie sich der Jesuit P. Brumon ausdrückt nicht verdauen können" (S. 186), so daß sich ihm nun die Frage aufdränge, worauf dieses Unverständnis beruhe. Der Rektor sichtet die verschiedenen Autoren, die sich zu Aristophanes geäußert haben (so Herr Wieland) und schlußfolgert sogleich, sie alle verwerfend, es sei Homer anzulasten, daß die griechischen Schüler der Zeit den Kopf voller Götterlegenden hätten. Das Unheil, das Homer in der antiken Welt stiftete, wird nun vom Katholizismus verursacht: 371

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„Was das Lesen des Homers, mit welchem die Griechen den Unterricht ihrer Jugend anzufangen pflegten, für einen Einfluß u. Eindruck auf die Religions-Uebung gehabt habe".

Man sehe - schreibt der Rektor - , nur unsere heutige Jugend und insonderheit diejenige Jugend an, welche von Aeltern entsprossen, die der römisch kathol. Religion zugethan sind. Welche ungereimte Wunder so genannter Heiligen werden da in ihren Schulen aus den Legenden der Jugend nicht, heutzutage noch, bey gebracht u. aufgeheftet! Wie viel mögen ihrer wohl seyn, die, wenn ihnen nicht anders woher ein Licht aufgeht u. der Verstand erleuchtet wird, an solchen Legenden zu zweifeln sich erkühnen? Sie sind vielmehr recht begierig darnach u. nehmen alles für lauter Wahrheit an, was ihnen ihr Lehrer vorsagt oder vorließt. So geschieht es heutiges Tages; so geschah es auch vor diesem. (S. 187) Aus dieser exklusiv religiös-magischen Konfliktbetonung geht eindeutig hervor, wie sich Intoleranz hinter einem vermeintlich rationalistischen Aufklärungswillen zur Förderung der geistigen Unabhängigkeit zu verbergen wußte, zumal die eindeutige Dogmen- und Legendentradition der katholischen Kirche kaum zu einer Gegenoffensive einlud und kaum einer auf den Gedanken kam, die eigene lutherische Mythen- und Heroenbildung, wie sie z. T. in den Moralischen Wochenschriften gepflegt wurde, kritisch zu durchleuchten372. 372

Auf den Unterschied zwischen der magischen nordischen und romanischen Welt macht Moritz aufmerksam: Es ist merkwürdig, dass unter jenem heitern Himmel [hier ist von Italien die Rede, A.P.] die Ideen von Hexen, Gespenstern, Geistererscheinungen u. s. w. selbst bey dem gemeinsten Volke, dessen Einbildungskraft doch so sehr mit religiösem Schreckbildern angefüllt ist, nicht haben empor kommen können. Die italiänischen Volkslieder haben nicht das mindeste Aehnliche mit den Balladen der nordischen Völker, wo die Erscheinungen von Geistern der Verstorbenen und anderen schreckenvolle Gegenstände immer ein Lieblingsthema sind, um welches die Phantasie sich drehet. Hier hingegen athmet alles Lebenslust, und Ruhe, und frohen Genuss der fliehenden Tage; selbst die Legenden der Heiligen und die biblischen Geschichten, welche das Volk auf den Strassen singt, legen ihren feyerlichen Ernst ab, und sind häufig mit naiven und launichten Einfällen durchwebt. [...]

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Selbst der Übersetzer des Aristophanes geht mit den alten Griechen hart ins Gericht373. Die Werke seines Autors seien zwar „voller Witz und Laune", doch blieben sie dessen ungeachtet „Possenspiele" - das altbekannte Prädikat, das vornehmlich dem Quijote im 17. Jahrhundert zukam. Dem Aristophanes seien nämlich zwar „die wahren Lineamente der menschlichen Natur bekannt", doch ginge er über „Karikaturen" nicht hinaus, es fehle ihm also an tiefgründigerer Psychologie. Und hiermit, und in den Zoten und Vulgaritäten, reflektiere er den Kinderzustand, in dem das Volk der Griechen sich befunden habe, denn „das Lächerliche sowohl als die Art, wie man es belacht" hänge doch ab von dem „Grade der Kultur, der Sitten, den herrschenden Begriffen und Maximen, und selbst von der politischen, religiösen und ökonomischen Verfassung eines Volks" (S. 425). Das athenische Volk sei nun aber eins der „lebhaftesten, leichtsinnigsten, frivolsten, inkonsequentesten" und zugleich „klügsten und albernsten, liebens-

Hier wird freylich auch die Phantasie nicht so, wie bei den nordischen Völkern, durch die Ungemächlichkeiten des Klima und der Witterung aus den Regionen des Lebens hinweggedrängt, sondern sie kann ruhig auf den Gegenständen der wirklichen Welt verweilen, und findet reichen Stoff sich zu beschäftigen. Diejenigen Völker, welche unter einem glücklicheren Klima wohnten, suchten von jeher die Ideen des Aufhörens, der Verwesung, des Chaos und der ewigen Nacht, so leise wie möglich zu berühren, und wenn sie dieselben berührten, sie doch immer mit einem mildernden Schleyer zu verdecken. Moritz, Karl Philipp: Italien und Deutschland in Rücksicht auf Sitten, Gebräuche, Litteratur und Kunst. Eine Zeitschrift, Berlin 1789, XI. Stück: „Volksaberglaube der Italiäner und Deutschen", S. 93-96, Zitat S. 93, 94, 95. Wie bekannt wird die 'Geographie- und Klimatheorie', die dem warmen Süden das Vitale, Lebensfrohe, Unmittelbare usw. und dem Norden das Trübsinnige, Melancholische, Grüblerische etc. zuschreibt, ernsthaft sogar noch im 20. Jahrhundert verteidigt. Wie dargestellt und hervorgehoben ist hier als erster (Teil-)Ansatz auf die mittels der schauerlichen Steigerung und Indienstnahme von religiösen und heidnischen Legenden und Sagen betriebene Sozialdisziplinierung, zu der im lutherischen Raum eine zweite Phase der Entzauberung kam, hinzuweisen, um das Moment der Divergenz zu fassen. 373

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Der Neue Teutsche Merkur, 1793, 3. Bd., S. 421-432.

würdigsten und unartigsten aller Völker, die jemahls gewesen sind" (S. 425). Diese optimistisch-biedere Geschichtsauffassung einer geradlinig sich zum besten entwickelnden Humanität, deren höchste (vorläufige?) Stufe die Gegenwart dieses deutschen Übersetzers des Aristophanes wäre, geht von Geschichte als einem Absoluten aus, das unabhängig vom Menschen von einem nicht identifizierten Motor vorangetrieben wird. Der Lebenszyklus des Menschen wird auf die Geschichte übertragen: Kindheit ist Minus, Erwachsenenalter Plus, so daß die entsprechenden ganz oberflächlich und restriktiv gehandhabten Altersmerkmale sich praktisch gegenseitig ausschließen. Nicht zufrieden damit, die Griechen auf eines der ersten Stadien in der Menschenentwicklung reduziert zu haben, werden sie noch als ein Volk bezeichnet, das wohl „suverän", aber „ungewöhnlich überspannt, und dabey in einem hohen Grade sittlich verdorben war". (S. 425) Sollte nun dies nicht ausreichen, kommt nun die altbekannte Sozialdifferenzierung zum Tragen: Nehmen Sie noch dazu, daß die Komödienschreiber mehr für die rohern Volksklassen, für die Bewohner des Piräos, Handwerker, Seeleute und Matrosen, als für den aristokratischen, d. i. (selbst nach der Bedeutung dieses Wortes bey den Athenern) für den gebildeten und edlern Theil ihrer kleinen Nazion arbeiteten, und sich eben darum Einfalle, Einkleidungen und Wendungen, Ausdrücke und Darstellungen nicht nur erlauben durften, sondern erlauben mußten, die selbst den undelikatesten Theil unsers lesenden Publikums nicht präsentiert werden dürften. (S. 425-426) Nach diesen Tiraden muß es natürlich dem Übersetzer schwerfallen, seine Arbeit zu rechtfertigen. Also geht er zum Ästhetischen über: Ihn habe die Aufgabe gereizt, die schwierigen griechischen Verse mit der größtmöglichen Exaktheit ins Deutsche zu übersetzen, denn: „Ich habe von Jugend auf eine natürliche Anmuthung zu schweren litterarischen Abenteuern gehabt." (S. 427) Die lavierende Rolle des Übersetzers läßt sich nicht so recht begreifen, wenn man nicht marktstrategische Aspekte ins Auge faßt. Erstens bedeuten seine Einwände - im Umkehrungsprinzip ein permanentes, auf Komplizität beruhendes Lob an sein Publi-

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kum. Zweitens achtet er sehr darauf, die Kritik an den Griechen im Allgemeinen zu halten und die 'besseren' Stände nicht mit hineinzuziehen. Die Leser können sich also amüsieren und sich in ihrem erreichten höheren Kultur- und Sittlichkeitsgrad gefallen, ohne auf die Lektüre eines - immerhin - griechischen Klassikers verzichten zu müssen, der, bei aller Zurückhaltung, doch einem „von allen Musen und Grazien begünstigten Attischen Scurra" (S. 424) in nichts nachstehe. Auf Aristophanes im deutschen biederen Aufklärungszeitalter zurückzugreifen, mußte ein riskantes Unternehmen bleiben. Ihn pädagogisch zu instrumentalisieren gleichfalls, denn die humorvolle Relativität des Griechen vertrug sich kaum mit dem dogmatisch humorlosen Belehrungseifer der domestizierten Schulmänner. Verkaufen ließ er sich gerade noch, da Bildung gefragt war und es sich hier immerhin um einen Griechen handelte, der sein Körnchen zum gebildeten Jahrhundert beitrug. Aber der Mann der Stunde war Aristophanes sicher nicht, und hoffähig konnte er nur werden, indem seine Zoten und v. a. seine Kritik am 'Vater' Sokrates außer acht gelassen wurde. Ende der sechsten Abschweifung. Der Quijote hatte es in dieser Hinsicht schon das ganze Jahrhundert über leichter gehabt: in der ersten Phase der Aufklärung - bis um 1740 - weil er mit Sorels Berger extravagant in einen Topf geworfen und als Antiroman weiterempfohlen wurde, eine Auffassung, die mittels der Moralischen Wochenschriften größere Verbreitung unter dem bürgerlichen Publikum fand374. 374

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Vgl. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Metzler, Stuttgart 1968/1971, S. 492 ff. Die fünf Hauptanschuldigungen, die gegen den Roman bis um die Jahrhundertmitte hervorgebracht wurden, sind: 1. Romane geben sich mit Liebessachen ab und verführen zur Wollust; 2. Romane verwirren den Kopf mit Chimären und absonderlichem Fabelwerk; 3. Romane sind eine Schule der Eitelkeit und der Galanterie; 4. Romane sind Beschäftigung von Müßiggängern; 5. Romane verderben den guten Geschmack. Gleichzeitig werden die alten Volksbücher als Lektüre des Pöbels abgetan. Vgl. Maertens, S. 503.

Diese Auffassung muß in Verbindung gebracht werden mit der Tatsache, daß bis um ca. 1750 ein eindimensionales, von religiösem Eifer, bürgerlicher Tugendhaftigkeit und politisch-kulturellem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Frankreich bestimmtes Weltbild vorherrscht, das zur Wesensbestimmung einer 'deutschen Eingenart' drängt. Es ist die Epoche, in der grundsätzliche Identifikationsmerkmale herausgearbeitet und als den Deutschen eigen und zugehörig weitervermittelt (und verinnerlicht?) werden: Nüchternheit, Ehrlichkeit, Schlichtheit, Tugendhaftigkeit, Fleiß usw. Wie in jeder Konstituierungs- und Affirmationsphase werden auch hier die Werte absolut gesetzt, um die Möglichkeit eines Risses in dem sich emporhebenden Gebäude zu vermeiden. Die Grundmauern bestehen aus Machterhalt im Einverständnis der Machtträger. Das Volk hat den Part der gehorchenden und der vom aufgeklärten Bürger zu belehrenden Masse zu übernehmen: In dieser Hinsicht ist das, was in den Moralischen Wochenschriften vermittelt wird, als 'Lehrstoff zu betrachten375. Die Einwände, die gegen den Roman vorgebracht werden, zielen natürlich alle auf die Möglichkeit einer alternativen Welt. So heißt es etwa in Der Biedermann: „Da sind nur wenige so gescheit, daß sie dergleichen Erzählungen vor Fabeln halten sollten: sondern man glaubt alle das wundersame Zeug so diese Schwärmer in ihren eigenen Gehirne ausgehecket."376 Oder - in der gleichen Wochenschrift - : „so verfallen sie aufs Wunderbare, und erdichten so seltsame Dinge, so allen Glauben übersteigen."377 Darin 375

„Entweder «kindliche Liebe» oder «knechtische Furcht» vor Strafe bahne den Weg zur Vernunft, sagten Wolff und Gottsched, später zieht man beides zum «freudigen Gehorsam» zusammen. Die Allianz der Einheitsvernunft mit der Macht reicht bis in die höchste Ebene: Die rationalistische Aufklärung ist die theoretische Stütze des aufgeklärten Absolutismus gewesen." Grimminger, Rolf: Die Ordnung, das Chaos und die Kunst. Für eine Dialektik der Aufklärung, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1986, S. 39.

376

Zitat in Martens, S. 503.

377

Martens, S. 503, A. 215"; Die Anmerkung Martens zu den von ihm untersuchten und zitierten Texten kann nur verwundern: „Auch ein radikales Mißtrauen gegen die Phantasie überhaupt [...] ist in den Wochenschriften nicht zu beobachten." S. 502, A. 215, zumal diese romanfeindlichen Äußerungen auf Argumentationsstränge aus dem 17. Jahrhundert verweisen!

183

liegt auch der Grund, weshalb die Moralischen Wochenschriften das Studium der Geschichte empfehlen, denn diese lenkt nicht vom Transzendentalen ab, sondern zeigt ganz im Gegenteil, daß sich Tugend lohnt und daß sich in der Menschheitsgeschichte der Heilsplan Gottes widerspiegelt. Wie auch schon im 17. Jahrhundert sollte es sich sehr bald zeigen, daß die religiös-theologischen Bedenken durchaus gerechtfertigt waren. In der Renaissance hatte sich der Dichter zwar auch schon als 'göttlich' verstanden, doch beließ er es im allgemeinen bei einem Priestertum, das ihm die Aufgabe stellte, das Wort Gottes weiterzugeben - im Mittelalter hatte er es sogar noch verkünden dürfen. In zunehmendem Maße aber erhob sich der Dichter zum Schöpfer, zum Prometheus, der sein eigenes Wort - das Ursprünglichste und somit seine eigenen Welten setzte378. Da, wo die asketischen und religiös-dogmatischen Strömungen sich in England zugunsten einer offeneren Welt und einer Wiederentdeckung des Menschen zurückzogen, konnte Shafitesbury den Dichter als einen „second master, a just Prometheus" feiern, „who can just imitate the Creator".379 Während aber in England die Verherrlichung des Individuums durch individuelle und gesellschaftliche Selbstironie, die sich als gemeinschaftsstiftend erweist, gebremst wird, so daß autoritäre Neigungen und Bestrebungen entsprechend gelenkt werden können, verstärkt in Deutschland der 378

Es ließe sich die Hypothese aufstellen, daß die Auffassung von Bildung, die dem Humanismus und z. T. auch noch der Reformation zu eigen war, zu bröckeln anfing, sobald sich der Gedanke von Frömmigkeit, der säkularisiert dem Mitleid entspricht, von ihr schied. Dieser schon veränderte Bildungsbegriff mündete nun in die Individualitätsbestrebungen der reformierten Kirchen und leistete somit einen Beitrag zur Ausdifferenzierung eines neuen, 'reformierten' Bildungskonzepts, das auf Individualität setzt. In einer dritten Phase geht dann auch der religiöse Aspekt verloren, so daß eine ganz neue Beurteilung von Bildung, vom Autor und vom Leser erfolgen kann. Vgl. Böhme, Günther: Wirkungsgeschichte des Humanismus im Zeitalter des Rationalismus, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, S. 70 f.

379

Zitat in Michelsen, Peter: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 19722 (Palaestra Bd. 232, 1962 ), S. 173, A. 36.

184

ebenfalls vorhandene und z. T. aus England kommende SchöpferGedanke die pädagogisch-patriarchalen und zugleich kompensatorischen Machtansprüche380. Der Dichter als Lehrer, Führer und Lenker, der schon aus dem mittelalterlichen Roman bekannt ist, oder als Schöpfer in seiner 'rebellischen' Variante - und hier sind auch 'gemischte' Formen möglich - , projiziert sich als solcher im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, indem er eine gleichgestimmte Erzählinstanz schafft381. 380

Lessing zitiert 1751 in der Berlinischen Privilegierten Staats- und Gelehrtenzeitung den Verfasser des Wurmsamen, Daniel Wilhelm Triller: „Schöpferisch schreiben, schöpferisch dichten sind strafbare und unchristliche Ausdrücke... Wir wissen aus der Schrift, Vernunft und Natur, daß nur ein einziger Schöpfer ist... Die Weltweisen, ja Gottesgelehrte selbst hätten es besser überlegen sollen, ehe sie die Schöpferwürde einem ohnmächtigen Geschöpfe zugeeignet hätten". Zitat nach Michelsen, Der unruhige Bürger, S. 301, A. 69; siehe da auch ff. Seiten.

381

Vgl. Fürnkäs, Josef: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz ' «Anton Reiser», Metzler, Stuttgart 1977., S. 20 f. u. 40 f.; Haferkorn, S. 218 ff.; Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1989, S. 307 ff. In den Bearbeitungen von ausländischen Romanen, die zur Expansion und Konsolidierung des jetzt entstehenden Zweiges der Kinder- und Jugendbuchliteratur beitragen, kommt dieses Phänomen sehr deutlich zum Vorschein. Elke Liebs hat die Bearbeitungen des Robinson Crusoe untersucht - Liebs, Elke: Die pädagogische Insel. Studien zur Rezeption des „Robinson Crusoe" in deutschen Jugendbearbeitungen [Diss.], Metzler, Stuttgart 1977 - und festgestellt, daß Campe z. B. keine Bedenken hat, den Ich-Erzähler durch einen auktorialen VaterGott Erzähler zu ersetzen. Einzig Wenzel, der sich an Rousseau orientiert, scheint sich von solch einer Erzählerrolle zu distanzieren, allerdings: „Um Anpassung geht es gewiß beiden." (Liebs, S. 105). Zusammenfassend schreibt Liebs: „Es spricht genügend für sich, daß nicht Wenzels Maxime von der Veränderung der Welt durch Not, Zufall, Leidenschaft und Witz die breiteste Rezeptionsebene fand, sondern Campes kompensatorische Schonkost, deren Nutzeffekt darauf zielt, Konflikte durch Gehorsam zu vermeiden." (S. 134) Daß Wenzel umnachtet starb im Glauben, er sei Gott, mag als tragische Ironie des Schicksals gelten. Die erste Quijote-Bearbeitung für Kinder, von Christian Karl André unternommen, fällt gleichermaßen aus. Sie erschien 1787 und 1789 in Marburg als ein Band der „Lustigen Kinderbibliothek". André streicht die Dialoge wesentlich zusammen und macht aus Don Quijote einen

185

In Blankenburgs Versuch über den Roman finden sich die Befürchtungen Heideggers endgültig bestätigt, denn der Romantheoretiker fordert tatsächlich, daß der Autor seine Figuren erschaffe und mit ihnen die Welt, in der sie sich zu bewegen haben382. Da die Kausalzusammenhänge in der tatsächlichen Welt nicht mehr zu übersehen sind, soll der Romanautor den ordnenden und gemeinschafitsstiftenden Weltsinn liefern, indem er den Bildungsprozeß, also den Werde- und Einfugungsprozeß, an einem Individuum exemplarisch darstellt. Verlangt wird ein positives, optimistisches Ende, das unweigerlich die erreichte Harmonie zwischen Ich und Welt zu zeigen hat. War das nur Theorie, so konnte Blankenburg auf ein Werk verweisen, das seiner Meinung nach diesen Anforderungen entsprach: Wielands Agathon. Von Blankenburg übersehen oder ignoriert wurde aber, daß die Staats- und Bürgeridylle von Tarent, in die sich Agathon am Ende seines Bildungsweges schließlich einreiht, nicht viel mehr als eine ironischresignierte Notlösung zu einem ungelösten Konflikt zwischen Subjektivität und Wirklichkeit darstellt.

albernen Ritter, der für seine unvernünftige Lesewut Lehrgeld zahlt. Dem höchst verklemmten André waren die 'heiklen Liebespassagen' ein so großer Dorn im Auge, daß das Unternehmen beinahe daran gescheitert wäre: „Der Hauptanstoss war mir hierbei der verliebte Ton, der oft durch ganze Kapitel allein herrscht, und dann die Schilderungen verliebter und wolluestiger Abentheuer. So wie der Don Quijote im Original geschrieben (...) war, durfte ich ihn also nicht brauchen. Ich mußte umformen, ausmerzen, weglassen." Zitat nach Ewers, HansHeino: „Der Don Quijote als Jugendlektüre im 18. Jh.", in: Die Schiefertafel, Jahrg. 3, Heft 1, 1980, S. 3-29, S. 15. 382

186

„Denn nicht Abbildung der ewigen Ordnung" - schreibt Michelsen, L. Sterne, S. 174 - „ist für Blankenburg das dichterische Tun, sondern Schaffung der Ordnung im ewigen Chaos mechanischer Abläufe. In Wahrheit löst also der Dichter Gott in seinem Amte ab. Von /ji^irjais wäre hier nur noch in dem Sinne zu sprechen, daß nicht mehr die Schöpfung, sondern der Schöpfungsprozeß - im Akt des Dichtens nachgeahmt werden soll."

2.8 Der deutsche 'Dualismus' in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Sehnsuchtsmoment Quijote, Sehnsuchtsmoment Spanien Der Dualismus, der sich sehr bald in England zeigte, sollte ab den 1740er Jahren auch in den deutschen Landen bestimmend werden. Die zunehmende Funktionalisierung des alltäglichen Lebens - der Lebenswelt also - mit ihren bekannten Begleiterscheinungen, welche zur gleichen Zeit auch Voraussetzungen darstellen, lassen die überzogenen optimistischen Erwartungen der frühen Aufklärung bald unter einem trüberen Licht erscheinen. Die Ernüchterung tritt auch in dem im Prinzip aufklärerischsten und aufgeklärtesten Marktzweig auf, denn auch das Buch erweist sich zunehmend als ein Geschäft, das sich ausschließlich nach wirtschaftlichen Prinzipien richtet: Gewinn steht über Qualität, verlegt wird, was verlangt wird, die Honorarzahlungen richten sich nach Verkaufszahlen usw.383 Die Divergenz zwischen Soll und Sein, zwischen Ideal und Realität, die in den 1770er Jahren eine 'rebellische' Bewegung innerhalb der Aufklärung motiviert, welche gegen Ende des Jahrhunderts in die vollkommene Resignation mündet384, bringt einen Augenblick von Potentialität mit sich, die als solche auch in Spanien im ausgehenden 16. Jahrhundert zu finden ist. Auf literarischem Gebiet bot sich der Quijote natürlich wie von selbst an, denn dieser Roman vereinigte nicht nur in sich alle 383

„Er [der Markt, A.P.] produzierte für den tatsächlichen Käufer. Und dieser war im 18. Jahrhundert eben nicht der autonome, kritisch wählende und rezipierende Leser, den die Aufklärer als Resultat ihrer Bemühungen intendierten, sondern - vor allem seit den 80er Jahren - der Konsument von sogenannter Unterhaltungs- oder Massenliteratur, deren Produktion seit 1770 sprunghaft anstieg." Schmidt, Die Selbstorganisation, S. 344-345, vgl. auch A. 197.

384

Schillers die Antike verklärende Worte von 1791 sind bekannt: „Unsere Welt ist die Homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft in Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen begegnen konnten. Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben ein großer Abstand sichtbar." Zitat aus Haferkorn, S. 150. Auch die Befürchtungen Miltons, daß sich die Intelligenz von der Gemeinschaft entfremde, beweisen sich also für Deutschland als gerechtfertigt.

187

„binären Schematismen"385 - den der Literatur und der Selbstreferenzialität der Literatur eingeschlossen - , die für das 18. Jahrhundert relevant waren, sondern trat auch der Dominanz von Zweckrationalität und zunehmender Isolierung durch Menschlichkeit im Inhalt und durch Dialog in der Form entgegen. Cervantes hatte in die Zukunft geschaut und bei aller Nüchternheit einen Helden des Trostes, ein 'Reservoir' der Träume und des Magischen geschaffen386. Das dies auch von den deutschen Lesern geschätzt und nicht 385

Terminus von Schmidt, Selbstorganisation, S. 66; vgl. hier auch S. 73.

386

„[...] Merlin, aquel francés encantador que dicen que fue hijo del diablo; y lo que yo creo es que no fue hijo del diablo, sino que supo, como dicen, un punto más que el diablo. El cómo o para qué nos encantó nadie lo sabe, y ello dirá andando los tiempos, que no están muy lejos, según imagino." (Quijote, II, 23, S. 345-346). „An S-s den ältern, mit Bertuchs Don Quischott zugeschickt", in: Der Teutsche Merkur, 1777, 3. Bd., S. 21-24. Dergleichen Fehler im Sehn sind weisern Leuten begegnet. Es ließe zur Apologie der [sie!, A.P.] Don Quischotte sich mehr als eine Geschichte erzählen; wie sehr die besten Augen oft fehlen, und daß, trotz allen Lorgnetten und aller Philosophie, die hocherleuchteten Herrn für Körper Schatten wählen. [...] Gutherzig war der Mann, und menschenfreundlich sein Plan, dem Unrecht zu steuern auf Erden, die Unterdrückten zu schützen; und hätt er seinen Heldenroman dreytausend Jahr früher gespielt, er würde oben an bey Herkules und Alexander sitzen: Denn war er nicht bereit, entflammt von rühmlichen Wahn, der Welt durch seinen Arm und seine Lanze zu nützen, den lezten Tropfen Bluts mit Lächeln zu versprützen, und welcher Held hats ihm hierinn zuvorgethan? [...] Wohl uns! - wenn wir in nackter Menschheit blos nun wieder dastehn - Helm oder Kragen in Winkel werfen, die Brillengläser zerschlagen, und, optischen Betruges satt, ein jedes Ding so sehn wie's Gott geschaffen hat. Dann lachen wir der hohen Schwärmerey, des hitzigen Gefechts mit Riesen oder - Systemen, durch Zeit und Erfahrung gelehrt zum Grundsatz anzunehmen: daß alles eitel sey!

188

nur aufklärerisch gelesen wurde, beweisen die mitgeteilten Ausleihziffern der Herzog-August-Bibliothek einerseits, die oben geschilderten Schwierigkeiten, eine belehrende Interpretation des Aristophanes durchzusetzen, andererseits. Neben emotionsgeladenen Versen, die Don Quijote feiern, finden sich aber noch 1784 'nüchterne' Einschätzungen wie die von Professor Flögel387. Diese kritische Romantisierung Spaniens388 dient Flögel, um in Abgrenzung zum impulsiven Süden eine Brücke zwischen der klassischen Antike und dem Norden zu schlagen und somit eigene 387

„Es war zu den Zeiten Cervantes Spanien mit einer ungeheuren Menge von den abentheuerlichsten Ritterbüchen überschwemmt. In den Zeiten dieser ritterlichen Unwissenheit hielt man sogar Ryrie eleison, Deureronomion und Paralipomenon für Namen großer und berühmter Heiligen; man mischte Christus und Apollo, Cupido und den heiligen Geist, Maria und Venus zusammen. Die spanische Nation war in diese Poßen ganz vernarrt, und in der romantischen Galanterie ersoffen, die den aufgeklärten Griechen und Römer nie bekannt gewesen war. [...] Daher entstanden die Ausschweifungen von Liebhabern, die ins Tollhaus gehörten." Flögel, Carl Friedrich: Geschichte der komischen Literatur (vier Bände in zwei Bänden), Georg Olms, Hildesheim - New York 1976 (Facsimile der Ausgabe Liegnitz und Leipzig 1784), Bd. 1, S. 285. Flögel, wie auch André, hat es v. a. auf die Galanterie abgesehen: „Man glaubte, es wäre Tugend, sich dem Eigensinn einer trotzigen Infantin zu unterwerfen. [...] andre stiegen in die Löwengrube, um den Handschuh einer Dame mit Lebensgefahr zu holen. Diese fantastische Denkungsart hat nun Cervantes mit unnachahmlicher Laune und Geistesstärke an den berühmten Ritter Don Quixote von Mancha abgemahlt..." usw. S. 285-286. Daß hier nicht die besten Meinungen über Spanien gehegt werden, zeigt sich nochmals in der von Friederich W. Ebeling herausgegebenen fünften Auflage von Flögeis Geschichte, Leipzig 1888, in der es auf S. 48 heißt: „Und, noch eines anderen zu gedenken, «die Höhle von Salamanca» ist einer jener derben Spässe auf Kosten der Ehemänner, welche auf der spanischen Bühne so häufig sind und gewiss nicht minder häufig in dem Leben und den Sitten Spaniens." Aus der Abneigung gegen das Land läßt sich unzweifelhaft eine betonte Misogynie und ein allgemeines Lustentbehren ablesen.

388

„Der Einfältige, das ist der größte Theil ihrer Leser [der Romane, A.P.] liebt was ungewöhnliches und unerhörtes. [...] Wahrscheinlich genug vor sie, wenn der Scribent nur saget, daß es sich in Spanien, Africa, Türckey, Arabien oder Pegu zugetragen habe [...] Ein solcher Roman geht ab, und der Verleger kann nicht Bände genug fertig kriegen, die unersättliche Begierde der Liebhaber zu vergnügen." Zitat nach Martens, S. 503-504, A. 215* aus Der Biedermann.

189

gesetzte Werte zu behaupten. Der abstrakte allgemeine Dualismus Ideal - Realität wird somit auf das subjektiv-individuelle Paar Gefühl - Vernunft übertragen389. Herder stellt in Puncto Spanien und Quijote das Zwischenglied zwischen Aufklärung und Frühromantik dar390. Sein Spanienbild ist so unrealistisch wie das von Flögel, jedoch nun positiv besetzt, da sich seiner Meinung nach in Spanien noch Gemeinschaft erhalte und frei ausdrücke. Der Quijote sei, wie Mythologie, Volkssagen und Romanzen auch, „gewissermaßen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe."391 Es fällt nicht schwer, in dieser Beheimatung in Spanien von Sinnlichkeit, Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, Kulturpessimismus und -Verdrossenheit, die kompensatorische Wunschprojektion eines tief empfundenen Mangels festzustellen. Die Entzauberung der Welt, die den Verlust des Abenteuers mit sich brachte, hatte für Herder in Spanien noch nicht stattgefunden. Dem spanischen Roman kam, da Ausdruck eines 'Volkscharakters', dokumentarische Beweiskraft zu392. Bei aller 'Wunschinterpretation' konnte Cervantes jedoch nicht zum Dichter des Sturm und Drang aufsteigen. Dazu war sein Roman zu nüchtern, zu ausgeglichen, zu unbestimmt, zu versöhnlich der Schluß. 389

„Es geht um die Macht der Moral, unabhängig von seinem Stand regiert in jedermann die Majestät der Vernunft über den Untertan der Natur." Grimminger, Die Ordnung, das Chaos und die Kunst, S. 178.

390

Vgl. Brüggemann, Cervantes und die Kunstanschauung, S. 256 ff.; 1771-1772 erscheint aus dem Englischen ins Deutsche die Reisebeschreibung des Italieners Baretti: A journey from London to Genua, London 1770, 4 Bde., aus der Herder sein Spanienbild schöpft. Vgl. Brüggemann, ebd.

391

Zitat nach Brüggemann, S. 257.

392

„Wie das Mährchen den Morgenländern, so [...] gehört der eigentliche Roman den Spaniern. Ihr Land und Charakter, ihre Verwandschaft mit den Arabern, ihre Verfassung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in Manchen, worauf die Europäische Cultur treibt, macht sie gewissermaßen zu Europäischen Asiaten. Die Verwicklungen, das Abentheuerleben, von dem ihre Romane voll sind, macht ihr Land hinter dem Gebürge, die schöne Wüste, unsrer Phantasie zu einem Zauberlande. Ruhe sanft, Cervantes." Zitat nach Brüggemann, Cervantes, S. 257.

190

Und Spanien war doch zu entfernt, zu exotisch, zu katholisch, zu sehr von den geistigen, sozialen, ökonomischen Strömungen, die auf Mitteleuropa bestimmend wirkten, isoliert. Hinzu kam, daß der Roman in Deutschland noch im 18. Jahrhundert um Akzeptanz zu kämpfen hatte, während er in anderen Ländern zur hochgeachteten Kunst der neuen Zeit aufstieg, ein Phänomen, das von den kulturell um Offenheit sich bemühenden Deutschen mit Neid und Besorgnis registriert wurde. Als Lösung bot sich Shakespeare an. Er war berühmt, er kam aus England, dem Land der Freiheit, er hatte sich dem Drama und dem Vers gewidmet, und er hatte eine beträchliche Anzahl heroisch-schauriger Individuen verewigt, die sich zerstörerisch gegen die Welt auflehnten. Shakespeare konnte helfen, von den rigiden Denkmustern der in eine Sackgasse geratenen Aufklärung loszukommen und einen ersten vorsichtigen Schritt aus einer pragmatisch-moralisch-bieder infizierten Gesellschaft zu wagen, 'auszusteigen'393. Das Pendel scheint von der Vernunft weg in die genau entgegengesetzte Richtung zu schlagen, um dort erstmal zu verweilen in der: -

Freisetzung der Affekte ('Recht des Herzens') Dominanz der Subjektivität Forderung nach vollständiger (geistiger) Freiheit Originalität und Regellosigkeit als Stigmata des Genies Betonung subjektiver künstlerischer Wahrheit (in Form von Schönheit) gegenüber gelehrter Wahrheit (in Form von Vernunft)

Diese Überreaktion auf fehlende Gemeinschaft mußte natürlich zu einer noch größeren Isolierung des 'künstlerischen' Menschen fuhren394. Der 'erhabene' Schriftsteller entfernt sich endgültig von 393

„Diese Transformation wurde durch zwei Faktoren in Gang gesetzt: durch die weitgehende politische Folgenlosigkeit der aufklärerischen Kritik und Bildung sowie durch die Widersprüche, die im Vernunftmonopol, im Fortschrittsoptimismus und im moralischen Dogmatismus der Mentalität des aufgeklärten Bürgertums lagen." Schmidt, Selbstorganisation, S. 305.

394

„Aber schon bald mußten die Literaten einsehen" - schreibt Schmidt, Selbstorganisation, S. 306 - „daß diese Ideale bestenfalls von einer Elite - eben von ihnen selbst - erreichbar sein konnten."

191

der großen Masse, welche jenen wiederum für ein nichtsnutziges Subjekt hält. Literatur als einigendes, sozialisierendes Moment war somit unmöglich geworden, vergessen das prodesse und delectare. 2.9 Siebente Abschweifung: Das 'Hinaustreten' Neugebauers und Wielands, mit einem kleinen Exkurs zu Sterne Neugebauers Hinaustreten als Erzähler aus seiner Romanwelt in die Welt des Lesers erlaubt vor diesem diachronisch und synchronisch herausgearbeiteten sozialgeschichtlichen und literarischen Hintergrund eine völlig neue Interpretation. Neugebauer, noch im gemeinsamen Vernunftoptimismus und im Glauben an eine gemeinsame Lesesozietät befangen, in der dem Schriftsteller die Rolle des 'Pöbelerziehers' zukam, versuchte mit seinem Werk, Kritik am höfisch-historischen und galanten Roman zu üben, indem er mit einem Publikum Kontakt aufnahm, das sich - wie er wußte - in dieser Frage einig war. Neugebauer spricht zu Gleichgesinnten, die alles Unvernünftige zurückweisen. Darauf zielt auch das Wahrheitspostulat, die Verteidigung der „Natürlichkeit" gegenüber dem „Unwahrscheinlichen", auf die Neugebauer immer wieder theoretisch oder praktisch aufmerksam macht395. Wenn Neugebauer dann auch noch Anspruch auf Naturschilderung in der Charakterzeichnung erhebt396, muß in Anbetracht dessen, daß er nichts von seinem Programm erfüllt und die größte Künstlichkeit den Roman durchzieht, geschlußfolgert werden, daß sich hinter der mißverstandenen, Fielding und Cervantes abgeschauten humorvollen Unbekümmertheit das genaue Gegenteil verbirgt: Der anscheinend offenen plaudernden Form ent395

Ein Beispiel: „Hier werden mir einige meiner aufmerksamen Leser die Unbegreiflichkeit dieser Sache vorwerfen; der Räuber hätte ja schüssen können, ehe ihm der Marggraf auf dem Hals kommen: aber es ist ganz begreiflich, daß der arme Teufel nicht schüssen können, wenn er gleich gewollt hätte, weil er, weiß nicht durch was vor einen Zufall, sein Gewehr so wenig als der andere geladen gehabt." Der teutsche Don Quichotte, S. 13.

396

„ein Roman muß den Menschen und seine Leidenschaftzen zum Original haben: er schildere ihn nach der Natur, oder so wie er ist, allezeit sich selbst gleich, er sey tugend= oder lasterhaft." Ebd.

192

spricht eine geschlossene konformistische Biederkeit, die dem Leser Argumente an die Hand liefert, um eine nüchterne bürgerlichmonologische Welt zu behaupten397. Wie der Roman sich hier gegen den Roman richtet, so wirkt die Parodie auf sich selbst - sich in dem Maße entwertend und zersetzend, wie sie an der Welt der Tatsachen erprobt wird. Alle angeführten Interpretationen zum Erzähler im teutschen Don Quichotte erweisen sich somit als partiell zutreffend: Es ist ein Spiel (Kurth), aber nur der Schein eines Spiels; es ist der Versuch, sich als Romanautor - als Produzent (Malte Fues) - über das Werk zu stellen, um sich als Pädagoge, mehr denn als Interpret, zu beweisen und gesellschaftlich zu legitimieren, ein Versuch, der zur gleichen Zeit die prekäre reale Lage des Autors deutlich macht (Habel); und es stellt zuletzt einen Versuch dar, einen Roman zu schreiben: etwas, das zum Scheitern verurteilt war, weil die ausgewählten Mittel nicht der Tradition des Landes zu diesem Zeitpunkt, nicht dem Geist des Autors und seinen Absichten entsprachen, und die Phantasie von vornherein als eine potentielle Quelle der Verwirrung und Unordnung denunziert wird (Neil). Etwas ähnliches läßt sich für Wielands Don Sylvio sagen, der dem Autor nicht nur dazu diente, seine Kasse aufzubessern398, sondern auch, sich von seiner schwärmerischen Vergangenheit endgültig zu trennen. Weder die Figuren noch ihre Handlungen noch der Raum, in dem sie sich bewegen - ein fiktives Spanien erweisen sich auf irgendeiner Ebene als konsistent: es ist eine Welt aus 'cartón-piedra' vor der sich schemenhaft der Literatur abgeschriebene Figuren bewegen. Auch Wielands Roman antizipiert die spätere philosophische Distanz zur - unerträglichen - Wirklichkeit399. Aus der Not eine 397

„Die Chimere hatte nun dieser Ehe = Leute erhabene Seelen verlassen, und sie folgten immer mehr und mehr nachdem sich ihre Einsichten in die Sachen vergrößerten, dem wahren Mittelwege der gesunden Vernunft." Der teutsche Don Quichotte, S. 307.

398

Vgl. Tropsch, Stephan: „Wielands Don Sylvio und Cervantes' Don Quixote", in: Euphorion, Ergänzungsheft 4, 1899, S. 32-61, S. 32.

399

„Kunst verspricht in der Kunstphilosophie Kants, Fichtes, Schillers und Schellings die Überwindung des Dualismus von Subjekt und Objekt, Vernunft und Sinnlichkeit, Form und Stoff, Zufall und Notwendigkeit - um den Preis einer «Entfremdung» von der unmittelbaren Lebenspraxis.

193

Tugend machen zu wollen und den Don Sylvio in die Nähe des Tristram Shandy zu rücken400, hilft hier auch nicht weiter, denn hier wird um mindestens 30 Jahre vorgegriffen: Bei Jean Paul, in dem sich tatsächlich „alle Tendenzen des Humors zusammenzufassen"401 scheinen und bei dem ganz in Sternescher Manier die „Welt [...] zu einem Marionettentheater des spielenden Humoristen geworden" ist402, läßt sich vielleicht so eine Nähe beweisen. Denn das, was Sterne, dieser große Cervantes-Bewunderer403, der seinen sterbenden Yorick nach quijoteskem Zuschnitt schneidert und ihn an Mangel an Weltkenntnis, d. h. an Verschlagenheit, und an Überschuß an gutem Herzen sterben läßt, mit seinem vor sexuellen, religiösen und politischen Spitzen protzenden404, an die ganze Menschheit gerichteten Roman405 mittels der als Methode dienenden Abschweifung an geistiger und künstlerischer Freiheit Die von Madame de Stael gelieferte Beschreibung der unpolitischen und z. T. weltfremd naiven Gelehrtenrepublik der Deutschen, in der «das Interesse an den Ereignissen durch das Interesse an den Ideen ersetzt» worden sei, zieht das Fazit aus der gesellschaftlichen wie politischen Isolierung der freien Schriftsteller im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts." Schmidt, Selbstorganisation, S. 309-310. 400

Wie dies Wilson, Daniel W.: The narrative strategy of Wielands Don Sylvio von Rosalva, Peter Lang, Bern 1981, auf schier aberwitzige Weise tut.

401

Mann, Otto: „Die kulturgeschichtlichen Grundlagen des Jean Paulschen Humors", in: Vierteljahrsschrift, VIII, 1930, S. 660-671, S. 679.

402

Ebd., S. 664.

403

„... des unvergleichlichen Ritters von la Mancha, den ich, nebenbei gesagt, mit allen seinen Narrheiten mehr liebe und den ich viel lieber besucht hätte - dazu wäre mir keine Reise zu weit gewesen - als den größten Helden des Altertums." Sterne, Tristram Shandy, Erstes Buch, Kap. 10, S. 28.

404

Worauf Boothwell del Toro, Frances Margaret in ihrer nichtssagenden und überflüssigen Dissertation The Quixotic and the Shandean: A Study of the Influence of Cervantes' „Don Quixote" on Sterne's „Tristram Shandy", Florida, State University 1980, mit keinem einzigen Wort eingeht.

405

„Da mein Leben und meine Meinungen vermutlich einiges Aufsehen in der Welt erregen und, wenn ich richtig vermute, alle Stände, Berufe und Menschen, sie mögen heißen, wie sie wollen, interessieren werden..." I, 4, S. 12.

194

an den Tag legt, war in Deutschland unter keinen Umständen nachzuahmen, weder im sexuellen, im politischen noch im kulturellen Bereich. Im Falle Sternes läßt sich mit Michelsen sagen: „die 'Moral', die sein Werk dennoch besitzt, folgt aus dem Dasein seiner Gestalten, und nicht deren Dasein irgendeiner MorallehWollen wir jetzt einen Kreis schließen und zum Erzähler im Quijote zurückkehren, muß Gerstenberg zitiert werden, der weit über seine Zeit hinausging, als er rückblickend schrieb: Damals hielt ich den Don Quixote für eine der artigsten Erfindungen, für eine sehr sinnreiche Satyre, für einen so amüsanten Roman, als ich je einen gelesen hatte: itz lese ich ihn, als eine der wenigen claßischen Compositionen unter den neuern, die dem Geschmacke, der Urbanität und der Weisheit des feinsten Atheniensers Ehre machen würden. Daß mein Begriff durch das Unvermögen der Nachahmer, und durch das Paradox, ein solches Original gerade in Spanien auftreten zu sehen, noch mehr erhöht worden, will ich nicht in Abrede sehen.407 Könnte man denken, daß Gerstenberg hier wie Flögel vermeintlich griechische Erhabenheit ins Auge faßt und lobend hervorhebt, so läßt er in seinem 24. Brief keine Zweifel darüber offen, was er an den deutschen Nachahmern vermißt: Ich kenne nur einen, den ich Sancho mit Fug an die Seite setzen dürfte: - Meister Sterne, den Verfasser des Tristram Shandy, der gerade so schreibt, wie jener spricht, das ist, Alles, was in sein Herz und seine Sinne kömmt. Wenn die Gedanken, bey allen Schriftstellern oder Gesellschaftern so los sässen; welch ein Schatz für die Weltkenner!408 406

Michelsen, Peter: Laurence Sterne und der deutsche Roman, S. 179. Zum Erzähler im Don Sylvio vgl. ebd. S. 195-199.

407

Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von: Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur, G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1890, 22. Brief, S. 258.

408

Brief 24, S. 267.

195

Diese Einschätzung Gerstenbergs, die hier auf Gervinus verweist, mußte in den deutschen Landen eine Ausnahme bleiben. In die Welten, die Cervantes öffnete, indem er vorgab, gegen die „fingidas y disparatadas historias" zu schreiben, hatten Neugebauer, aber auch Wieland und Goethe keinen Einblick, denn während im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts die 'Verrückten' noch durchs Land ziehen und von ihren trauernden Freunden umgeben in ihrem eigenen Bett sterben konnten, werden sie hundert Jahre später anderenorts der ökonomischen Rationalität nutzbar gemacht409. Der Quijote konnte nur ein Trostpflaster sein - die Sehnsucht nach Menschlichkeit blieb erhalten, nahm progessiv zu: Nach Sevilla, nach Sevilla!/ Wo die hohen Prachtgebäude/ In den breiten Straßen stehen,/ Aus den Fenstern reiche Leute,/ Schön geputzte Frauen sehen,/ Dahin sehnt mein Herz sich nicht./ Nach Sevilla, nach Sevilla!/ Wo die letzten Häuser stehen,/ Sich die Nachbarn freundlich grüßen,/ Mädchen aus dem Fenster sehen,/ Ihre Blumen zu begießen,/ Ach da sehnt mein Herz sich hin.410

409

„Die Manufaktur [...] tritt in Fortbildung der früher entwickelten Ansätze im 17. und 18. Jahrhundert als besondere Organisationsform des Gewerbes neben das Handwerk und erfreut sich einer betonten Förderung durch die kameralistischen Fürsten. [...] Die meisten fassen neben qualifizierten, meist handwerklich ausgebildeten Fachkräften, mehr oder weniger unqualifizierte Arbeitskräfte zusammen, und es ist durchaus kennzeichnend, daß sie in zahlreichen Fällen mit Waisen-, Zucht-, Arbeits- und Irrenhäusern verbunden werden und Landstreicher, Bettler, Waisenkinder, Verbrecher usw. als Arbeitskräfte verwenden, besonders für Spinnen und Weben." Lütge, Friedrich: Deutsche Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Springer, Berlin - Heidelberg 19663, S. 365. 1790 weist Graf Rumford sämtliche Bettler Münchens - über 2 600 - ins Arbeitshaus ein. Auf dem Land wird z. T. wieder die Realleibeigenschaft eingeführt. Ebd. S. 384. Bezeichnend ist, daß ökonomische Überlegungen Lütge zu einer breiten Toleranzspanne in der Inanspruchnahme von Arbeitskräften bewegen. Die geschlossene Welt der 'Normalität', die die Inquisition im Namen der Religion zu errichten versucht hatte, soll nun im Namen der Produktivität erhalten werden.

410

Clemens Brentano, zitiert nach Brüggemann, Cervantes, S. 267.

196

Als Don Quijote den Löwen aus seinem Käfig befreien und sich ihm entgegenstellen will und der Caballero del Verde Gabán - wohl die maßvollste und vernünftigste Figur im ganzen Roman - ihn davon abhalten will, „porque la valentía que se entra en la juridición de la temeridad, más tiene de locura que de fortaleza. Cuanto más que estos leones no vienen contra vuesa merced, ni lo sueñan: van presentados a su Majestad, y no será bien detenerlos ni impedirles su viaje", erhält er als Antwort: „ - Váyase vuesa merced, señor hidalgo - respondió Don Quijote - , a entender con su perdigón manso y con su hurón atrevido, y deje a cada uno hacer su oficio. Éste es el mío, y yo sé si vienen a mí o no estos señores leones." (II, 17, 253-254) Und als dann Don Quijote sein Abenteuer erfolgreich beendet hat, und don Diego de Miranda überlegt, daß der 'Caballero Andante' „un cuerdo loco y un loco que tiraba a cuerdo" (II, 17, 261) sei, und er auch noch von Don Quijote, der seine Heldentat mit den vernünftigsten Worten zu rechtfertigen weiß, gefragt wird: „ - ¿Quién duda, señor Don Diego de Miranda, que vuestra merced no me tenga en su opinión por un hombre disparatado y loco?" (II, 17, 261), spätestens dann stehen für den Leser - der mittlerweile weiß, daß er vom Erzähler keine Lösung für seine Zweifel zu erwarten hat - zwei Möglichkeiten offen, zwei Welten, das Dyonisische und das Apollinische, und alles, was sich dazwischen befindet, stehen zur Auswahl.

197

3. DIE UNHALTBARKEIT DER GEMEINSAMEN WELTEN DON QUIJOTES UND ANTON REISERS: INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT Der Wunsch und der Wille, in der Gesellschaft zu wirken, 'etwas zu sein' und gebraucht zu werden, sich zu behaupten, die Suche nach Anerkennung, die Sehnsucht nach Bestätigung durch den anderen, der Mangel an Selbstwertgefühl, dies eint über Zeit und Raum, über Konfessionen und über Traditionen, über Sprache und über die Gesellschaft hinweg den alten Manchaner mit dem jungen strebenden Protestanten aus Norddeutschland. Und doch ist diese gleiche geistige Haltung und dieser empfundene seelische Mangel notwendigerweise anders geartet, wobei auch die 'Sättigungsmanöver' eine andere Gestalt annehmen. Was treibt Don Quijote dazu, fünfzigjährig sein Dorf zu verlassen? Der unmittelbare Grund ist wohl der gleiche, der Cervantes aus Esquivias hinaustrieb: Untätigkeit, Langeweile, die Unzufriedenheit mit einem Leben, das in sich selbst ruht und doch langsam verfließt und vergeht, ohne sich als erfüllt zu betrachten411. Don Quijote baut sich also ein Zukunftsprojekt auf: zu einem Ritter ohne Furcht und Tadel zu werden, Anerkennung als solcher zu finden und seiner Geliebten zu Füßen liegen zu können, indem er immer wieder seinen Mut unter Beweis stellt. Da Don Quijote es vorzieht, sich gleich für den zu halten, der er eigentlich noch werden möchte, und er Alter oder Alltäglichkeit, welches den Gedanken des Lebens als Abenteuer trüben würde, ausblendet, fallen somit Zukunftsprojekt und Gegenwart zusammen: ein immerwährender Zustand der Verzückung und Entzückung, da das zu Erreichende auch gleichzeitig das Erreichte ist. Gesellschaftliche Wirkungslosigkeit des Einzelnen, die Unmöglichkeit in einer zunehmend dogmatischeren Welt, soziales Leben zu gestalten, durch politische Unfreiheit und Intoleranz erkauftes Zusammengehörigkeitsgefühl, dies waren aber die Erscheinungen, die Ende des 16. Jahrhunderts deutlich am Horizont 411

Friedrich Schürr schreibt von der „spießigen Umwelt von Esquivias und der neuen Verwandten"; Schürr, Friedrich: Cervantes, Dr. Hans v. Chamier, Essen 1947, S. 28.

199

auftauchten und die in den nächsten Jahrhunderten in Spanien zur unwiderlegbaren Realität werden würden. Besonders betroffen davon waren die „hidalgos": Schon Ende des 16. Jahrhunderts kamen sie, trotz aller Versuche, sich als Klassenstand noch zu überleben, indem sie auf ihre überlieferten Standesrechte pochten, jegliche Arbeit als entwürdigend verachteten und weiterhin keine Steuern zahlten, dem alten Leitsatz folgend: „mayor riqueza sería crescer reinos que thesoros amontonar"412, einem Anachronismus gleich. Ruhm und Glorie, 'fama y honra' waren aber durch Soldatenmut kaum noch zu gewinnen413, und mit dem Ende der 'alten Zeiten' mußte allmählich wohl auch der Gedanke verblassen, der einzige Beruf, den der Mensch haben und ausüben könne, wäre eigentlich der, Mensch zu sein414. Die Lektüre „los ratos que estaba ocioso (que eran los más del año)" (1,1, 54) als Abenteuer- und 412

Américo Castro gibt die Worte von Juan de Lucena von 1463 wieder, S. 583 (Hervorhebung von C.).

413

Mit der Verbesserung der Artillerie im 17. Jahrhundert verliert die Infanterie allgemein an Bedeutung. Die spanische Armee, deren Stoßkraft weiterhin vorwiegend auf den berühmt-berüchtigten „tercios viejos" basiert, veraltet zusehends, da sich die spanische Monarchie die neuen teuren Waffen nicht leisten kann. Vgl. ganz allgemein Fernández Álvarez, Manuel/Díaz Medina, Ana: Los austrias mayores y la culminación del imperio (1516-1598), Gredos, Madrid 1987, S. 243-251. Trotz der gegenteiligen Meinung von Fernández/Díaz dürfte schon manchen genauen und soldatisch geschulten Beobachtern im 16. Jahrhundert der zukünftige Untergang der spanischen Armee - wie mit der Armada schon geschehen - vorgeschwebt haben, als sich die Moderne in diesem Sinn dem ritterlichen Zweitkampf widersetzte: „...aquestos endemoniados instrumentos" - schimpft Don Quijote - „de la artillería, a cuyo inventor tengo para mí que en el infierno se le está dando el premio de su diabólica invención, con la cual dio causa que un infame y cobarde brazo quite la vida a un valeroso caballero..." usw., I, 38, 759. Ähnlich der Tod des Caballero de Olmedo durch eine feige und hinterhältige Kugel in Lopes gleichnamigem Stück.

414

Im Kapitel „Sobre el hidalguismo", S. 588-600 von España en su historia schreibt Américo Castro: „El español fue el único ejemplo en la historia occidental de un propósito de vida, consciente y sostenido, fundado en la idea de que el único posible y digno oficio para un hombre es ser hombre, y nada más", S. 590. Dies stellt eine Geisteshaltung dar, die mangels praktisch-utilitaristischer Auswirkungen auf Unverständnis und strikte Ablehnung in Europa stoßen wird, insbesondere in den Epochen, in denen rationalistische Tendenzen vollkommen die Oberhand gewinnen. Vgl. Brüggemann, S. 29-34.

200

allgemeiner Tätigkeitsersatz ist für Don Quijote zur gleichen Zeit Symptom für und Therapie gegen eine drohende Resignation und den endgültigen Wahnsinn, Kompensation für seine nicht verwendbare und verwertete Intelligenz, Energie und Lebenserfahrung, nicht aber der Ursprung von seinem Leiden, seiner „locura", der er einen Teil seiner von sich aus schon dürftigen Existenzgrundlage opfert415. Empfundener Mangel an 'Lebenssubstanz' und Lebenssinn, die die Kirche allein nicht mehr bereitstellen kann, treiben den alten Manchaner zuerst in eine Papierwelt, dann hinaus in die reale Welt, die nur deshalb abenteuerlich erscheint, weil ihr die Fiktionalität der Bücher mittels Don Quijotes Verzauberungs- und Veredelungskraft - aus der Verzweiflung, aber auch aus der imaginativen Intelligenz hervorgegangen - übergestülpt wird: 'aburrimiento, tedio, monotonía, saciedad, hastío, tedium vitae' sind Begriffe, die gerade deshalb im Quijote nicht vorkommen416, die als explizites Thema im Zusammenhang mit dem Stillstand und der Banalität des Lebens anscheinend nicht vorhanden sind, aber doch als eine determinierende Triebkraft seines Hinausziehens in die Welt aus dem Fleck irgendwo in La Mancha vorausgesetzt werden müssen: y fue que le pareció convenible y necesario, así para el aumento de su honra como para el servicio de su república, hacerse caballero andante, y irse por todo el mundo con sus armas y caballo a buscar las aventuras y a ejercitarse en todo aquello que él había leído que los caballeros andantes se ejercitaban, deshaciendo todo género de agravio, y poniéndose en ocasiones y peligros donde, acabándolos, cobrase eterno nombre y fama. (1,1, 59-60) Ein anderes Motiv, ein im wahrsten Sinne den Roman tragendes Leitmotiv fügt sich hier hinzu - „cobrar fama" - und ergänzt perfekt das u. a. auch aus der Literatur entstandene Ritterbild und 415

„que vendió muchas hanegas de tierra de sembradura para comprar libros de caballerías en que leer, y así, llevó a su casa todos cuantos pudo haber dellos.", I, 1,54-55.

416

Es findet sich kein einziger Eintrag dieser Stichwörter in dem durchaus ausführlichen und detaillierten „Indice de materias y voces" des dritten Bandes in der hier verwendeten Ausgabe des Quijote.

201

-ideal des späten Mittelalters: eine Fiktion der Vollkommenheit, die nicht nur die grobe, häßliche und gewaltsame Realität zierte und verschleierte, sondern den Schriftstellern auch „als Korrektiv für die Unbegreiflichkeiten ihrer eigenen Zeit diente"417. Cervantes greift das Thema auf, aber nun in seiner absoluten Unvollkommenheit, wodurch das Leben in die Fiktionalität des Scheins einströmt und es vernichtet: Der Mensch in seiner ganzen Würde und in seiner ganzen Lächerlichkeit - eine offene Welt der Empfindungen und Gefühle - zerbricht die geschlossene, eindeutig definierte Welt der Begriffe. Selbst- und Ruhmsucht, persönlicher Ehrgeiz, Hochmut und Stolz, das „leidenschaftliche Verlangen, von der Nachwelt gepriesen zu werden"418 und, vor allem, das Nachleben, die Nachahmung von literarisch-klassischen Vorbildern - Artuskreis oder antike Helden - nicht nur als schwärmerische Heldenverehrung oder feierliche Maskerade, sondern auch als handlungsbestimmende Gesinnung, die Faktizität erlangte, waren schon im 14. und 15. Jahrhundert bezeichnende Merkmale des europäischen Adels Englands und Frankreichs419. Diese Inszenierung des Lebens, „ein ungeheurer Selbstbetrug, dessen schmerzende Unwahrheit nur dadurch ertragen werden kann, daß leiser Spott die eigene Lüge verleugnet"420, gestaltet sich Ende des 15. Jahrhunderts in dem Land, in dem am frühesten eine neue Ära sichtbar wird, zu offener Parodie: in den Werken Luigi Pulcis (II Morgante), Boiardos (Orlando innamorato) und, Anfang des 16. Jahrhunderts, in Ariosts Orlando furioso. Mit Cervantes, dessen tiefgehende Kenntnis der italienischen Literatur der Renaissance bekannt ist, schien sich 417

Huizinga: Herbst des Mittelalters, S. 87.

418

Huizinga, S. 89.

419

Siehe hierzu insgesamt Huizinga, S. 85-147, der auf Karl den Kühnen (1433-1477) als Paradebeispiel näher eingeht (S. 91-92): „Von Jugend an hatte er sich die Heldentaten Gawains und Lancelots vorlesen lassen; später gewann die Antike die Oberhand. [...] Seine ausgesprochene Vorliebe galt besonders Cäsar, Hannibal und Alexander, «les quelz il vouloit ensuyre et contrefaire»", und: „«Il désiroit grand gloire - sagt Commynes [Philippe van den Clyte, Seigneur de, in seinen Mémoires, A.P.]- qui estoit ce qui plus le mettoit en ses guerres que nulle autre chose; et eust bien voulu ressembler à ces anciens princes dont il a esté tant parlé après leur mort»."

420

Huizinga, S. 103.

202

dann vorerst ein Kreis zu schließen, der von der Literatur über das Leben zur Literatur, einer ihrer Quellen, zurückfloß. Sowohl im Quijote als auch in Moritz' AR findet sich eine für den Leser unmittelbar nachvollziehbare 'Welt', eine Welt, in die Don Quijote und Anton Reiser hinausziehen, um an ihr zu verzweifeln, da ihnen wenig Halt geboten wird und das Verweilen im Bestehenden ihnen nicht gewährt ist. Die Unrast, von der sie umhergetrieben werden, ist sowohl in ihnen angelegt als auch sozial bedingt. Don Quijote greift zu den - erfundenen und verrosteten Waffen, weil er sich nicht mit der Enge seiner Existenz zufriedengeben mag: Der Geist erweist sich in ihm als zu schöpferisch und nicht genügend anpassungsfähig, und er wird zum Schauspieler und inszeniert das und sein Leben. Reiser geht es nicht anders: sind in ihm genügend Anlagen vorhanden, die notgedrungen zu einer Infragestellung von Welt führen müssen, so wird immer wieder auf die „engsten Verhältnisse, worin er sich befand" (S. 209) hingewiesen, wenn dann auch meistenteils auf eine tiefergehende gesellschaftliche Untersuchung zugunsten einer introspektiven Analyse verzichtet wird. Was wir im Quijote, der ja zumindest vordergründig als Parodie und nicht als biographische Schilderung angelegt ist - wenn auch natürlich zu fragen wäre, warum Cervantes einen ihm in Stand, Alter und Physiognomie ähnelnden Hidalgo zum Protagonisten wählt - nur erahnen können, nämlich Don Quijotes Vorleben, wird uns von Moritz von Anfang an offeriert: die biographischen Hintergründe der quijotesken Veranlagung seines Protagonisten, eine „wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens"421, die mit der Kindheit des Protagonisten ansetzt422. 421

Vorbemerkung zum zweiten Teil, S. 122.

422

Die wenigen Seiten, die Günter Niggl in seiner Habilitationsschrift: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlagen und literarische Entfaltung, Metzler, Stuttgart 1977, S. 62-72, dem Anton Reiser widmet, verwirren mehr, als daß sie klärend wirkten: um das Buch Moritz' in die Nähe der Autobiographie rücken zu können, spricht Niggl zum einen davon, daß hiermit ein letzter „Schritt zur völligen Säkularisation des pietistischen Tagebuchs" erfolgt sei (S. 68) und daß die Wahl der Er-Form „aus der begreiflichen Scheu [...], auf dem noch ungewohnten Terrain der psychologischen Selbstbiographie das innere Labyrinth in einem unmittelbaren Ich-Bekenntnis preiszugeben" ruhe (S. 72), zum anderen aber wird

203

Schenkt man dem Erzähler Glauben, ließen sich sehr viele, zumindest die hervorstechendsten Charaktermerkmale des jugendlichen und fast schon erwachsenen Anton Reiser aus seiner im ganzen mißglückten Kindheit erklären. Seine Geltungssucht wäre aus einem Versuch der Kompensation des Liebesmangels zu erklären: In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln. (S. 13). Der Erzähler erweist sich aber in seiner psychosozialen Analyse schon hier insofern als unzuverlässig, als er sich gleich zu Beginn des Romans in einer Weise über die natürlichsten Bedürfnisse verwundert zeigt, die auf eine größere Einschränkung der Spontaneität, als vom Erzähler reflektiert, in dem von den Guionschen Schriften durchtränkten familiären und außerfamiliären Milieu - „Ertötung und Verleugnung, und in allen Handlungen Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts" (S. 8) - schließen läßt: Da er noch nicht acht Jahre alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so daß er nun fast ganz vernachlässiget wurde, und sich, sooft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung nennen hörte, die ihm durch die Seele ging. zugegeben, daß diese Art von psychologischer Autobiographie ,jede der versuchsweise übernommenen tradierten Formen sprengen muß" (S. 72) und daß sich daher „die wenn auch junge, so doch in Deutschland schon wirksame Tradition des psychologischen Romans (Agathon, Werther) als ein naheliegendes Asyl [!] anbot." (S. 72) Davon abgesehen, daß Niggl hier völlig banal argumentiert - Moritz' „Scheu" kann nicht so groß gewesen sein, wenn er sich als Anton Reiser zu erkennen gegeben hat: Es hätten sich viele anderen Varianten finden lassen, wollte man sich verbergen: fiktives Tagebuch, Erzählung durch einen „Freund" usw. - und daß es wohl doch zu weit geht, die genannten Werke als „psychologische Romane" zu bezeichnen, läßt sich aus Niggls Blickpunkt fragen, warum Moritz gerade die Romanform anstatt der moralisch völlig unbedenklichen und akzeptierten Tradition autobiographischer Schilderung in Ich-Form gewählt hat.

204

Woher mochte wohl dies sehnliche Verlangen nach einer liebreichen Behandlung bei ihm entstehen, da er doch derselben nie gewohnt gewesen war, und also kaum einige Begriffe davon haben konnte? (S. 14). Das Scheitern des optimistisch-ehrgeizigen Programms, ein Leben zu schildern, damit die vorausgesetzte Notwendigkeit der Ordnung und Harmonie zum Vorschein käme423, deutet sich in dieser Vergeistigung von Gefuhlssphären schon an. Wie Cervantes, der aus seinem fortgeschrittenen Lebensalter in die unmittelbare Vergangenheit („no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo...") zurückschaut, um die Gegenwart, in der der Roman ausnahmslos spielt - „Muchos años ha que es grande amigo mío ese Cervantes, y sé que es más versado en desdichas que en versos." (I, 6, 147) - , verstehen und deuten zu können, auf die Linearität und somit auf die Mitteilung der Vorgeschichte im Leben seines Helden verzichtet, so kann der junge Moritz - der versucht, sich mit der Vergangenheit über die Gegenwart zu retten, um die Zukunft gestalten zu können - seinen Roman zu keinem Ende führen, womit er also auch auf eine forcierte Harmonisierung verzichtet. Im Quijote fehlt - im Gegensatz zu den Schelmenromanen der Anfang, im AR das Ende: Ein vollständiges, abgeschlossenes und in seinem Werden zur Harmonie gelangendes Ziel wird in keinem von beiden Romanen angeboten. Es ist aber ein Leichtes, einen Katalog der Gemeinsamkeiten aufzustellen, in dem die verblüffende Ähnlichkeit der Charaktere zwischen dem betagten spanischen Hidalgo und dem jungen Anton Reiser deutlich zum Ausdruck kommt:

423

„Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich - und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. - " (AR, S. 122).

205



Lektüre und Romanwelt als Zuflucht und Handlungsanweisung; Verzauberung und Inszenierung der Wirklichkeit424: „denn was er las, das suchte er auch gleich auszuüben" (S. 20); „Er fühlte sich aus dem umschränkten Zirkel seines Daseins in die große weite Welt versetzt, wo alle wunderbaren Ereignisse, die er je in Romanen, gelesen hatte, möglich waren...", (S. 185); „so übte er sich wieder in den edlen Gesinnungen der Großmut, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit, sooft er irgendeinen Roman, oder heroisches Drama durchlas oder durchdachte" (S. 195); „Nun war ihm aber sein Schicksal nicht romanhaft genug [...] er mußte irgendein Verbrechen begangen haben, das ihn in der Irre umhertrieb" (S. 431).



Einbildungskraft als bestimmende schaft425:

Charaktereigen-

„Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe Person auf dem Schiebkar424

Ich verweise, von einigen Ausnahmen abgesehen, auf keine Textstellen im Quijote, da es sich ja um allgemein bekannte Charakteristika handelt. Die Textstellen aus Anton Reiser sollen nur als Beispiele der motivlichen Charakter-istischen Hauptstränge des Romans dienen. (Moritz hat eine z. T. eigentümliche Art der Kommasetzung, auf die ich hiermit generell aufmerksam mache).

425

„Y para concluir con todo [sagt entschlossen Don Quijote, A.P.], yo imagino que todo lo que digo es así, sin que sobre ni falte nada, y pintóla [a Dulcinea, A.P.] en mi imaginación como la deseo, así en la belleza como en la principalidad, y ni la llega Elena, ni la alcanza Lucrecia, ni otra alguna de las famosas mujeres de las edades pretéritas, griega, bárbara o latina", I, 25, 514.

206

ren herumfahren zu können, und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte...", (S. 25); „So machte seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit", (S. 34). •

Ruhmsucht: „Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum ersten Male in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sähe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte", (S. 44); „Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein höchster Wunsch gewesen", (S. 350-351).



Doppelgängertum, Zwiespalt der Persönlichkeit: „Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben...", (S. 246); „Er lebte auf die Weise gleichsam ein doppeltes Leben, eins in der Einbildung und eins in der Wirklichkeit", (S. 390).

207



Künstlichkeit der Gefühle und Empfindungen426: „Er zwang sich also nicht gleichgültig, sondern gerührt und ernsthaft zu sein, bei diesem wichtigen Schritte..." (S. 139); „Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand", (S. 310).



Eitelkeit: „...daß durch dies öftere Zum-Abendmahl-Gehen der Pastor P[aulmann]427 ihn vielleicht am Ende bemerken würde [...] So lag auch hier die Eitelkeit im Hinterhalt verborgen, wo sie mancher vielleicht am wenigsten vermutet hätte", (S. 84).



Machtwille: „Nichts war für Anton reizender, als der Anblick eines öffentlichen Redners, der das Herz von Tausenden in seiner Hand hat", (S. 75).

426

„Tú me harás desesperar, Sancho - dijo Don Quijote - . Ven acá, hereje: ¿no te he dicho mil veces que en todos los días de mi vida no he visto a la sin par Dulcinea, ni jamás atravesé los umbrales de su palacio, y que sólo estoy enamorado de oídas y de la gran fama que tiene de hermosa y discreta?", II, 9, 145.

427

Ich übernehme die vervollständigten Erläuterungen in Klammern, die Martens seiner Ausgabe hinzufügt.

208



Soziale Aufstiegswünsche428: „Denn in dem kleinen Buche war das Fortrücken in der Frömmigkeit gleichsam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie man etwa sich freuet, aus einer Klasse in die andere immer höher gestiegen zu sein" (S. 20); „In dem Stande, worin sich Reiser begeben, war er nun einmal ganz zurückgesetzt, und es schien ihm unmöglich, sich je wieder darin emporzuarbeiten" (226); „...so viele glänzende Ziele für einen ehrgeizigen Jüngling, welche ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auffrischten, sobald er verlöschen wollte" (S. 184).

Die Gemeinsamkeiten sind hiermit keineswegs erschöpft: Don Quijote und Anton Reiser ähneln sich auch in ihrer Empfänglichkeit für die Rhetorik (Don Quijote als Ausübender, Anton Reiser als Bewunderer und Ausübender, vgl. AR S. 113 und S. 240), in ihrem vorübergehenden Wunsch, ihr Glück im Landleben zu suchen (Don Quijote als „pastor Quijotiz", Reiser als „gesitteter

428

Auch dieser pragmatische Gedanke ist Teil der 'Ritterromantik' Ende des 15. Jahrhunderts, vgl. Huizinga: Diese primitive asketische Gefühlswelt ist die Basis, auf der das Ritterideal ausgebaut wurde [...] und auch die Maske, hinter der sich eine Welt von Gewinnsucht und Gewalt verbergen konnte. (S. 98) Und: Aber außer den unmittelbaren Vorteilen des Krieges spielen auch die Pensionen, Renten und Statthalterposten im Leben des Ritters eine große Rolle. Das Vorwärtskommen wird offen als Ziel angestrebt. (S. 142) Im Quijote heißt es gleich zu Anfang: Imaginábase el pobre [Don Quijote, A.P.] ya coronado por el valor de su brazo, por lo menos, del imperio de Trapisonda, I, 1,60.

209

Bauer"429), in ihrer Vorliebe für Ritterschlachten (vgl. AR S. 28 ff. und 229 ff.), in ihrer mystisch-religiösen Erhebung der Frau430, in ihren immer neuen Niederlagen und Enttäuschungen431, im mittelbaren Ursprung ihres Leidens - der Rückgriff zu einer optionalen, durcheinandergewürfelten und bunt zusammengefügten (Bücher-) Welt - , das in der Beschreibung seiner pathologischen Auswirkungen - praktisch wortwörtlich - übereinstimmt: Quijote

Anton Reiser

„En efeto, rematado ya su juicio, vino a dar en el más estraflo pensamiento que jamás dio loco en el mundo..." (I, 1, 59, meine Hervorhebung)

„Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel, machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl ie in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben" (S. 27, meine Hervorhebung).432

429

Im Quijote dienen die 'novelas pastoriles' als Anregung und Vorlage, im Anton Reiser ist es die Operette Klarissa oder das unbekannte Dienstmädchen, vgl. AR, S. 225.

430

„Ein sehr junges Frauenzimmer, die schwarz gekleidet, mit blassen Wangen, und einer Miene voll himmlischer Andacht zum Altar hinzutrat, machte zuerst auf Antons Herz einen Eindruck, den er bisher noch nicht gekannt hatte. Er hat dies junge Frauenzimmer nie wieder gesehen, aber ihr Bild ist nie in seiner Seele verloschen", AR, S. 83. Wie auch Don Quijote zeigt Anton Reiser eine Keuschheit, die der mittelalterlichen Ritterromantik nahekommt: „...sondern nahm sich nur fest vor, wenn böse Lüste in ihm erwachen sollten, sie möchten auch sein von welcher Art sie wollten, ritterlich dagegen anzukämpfen", S. 149.

431

„...als ob ein feindseliges Schicksal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte, und ordentlich wie mit Absicht alle seine Hoffnungen vereitelte." (S. 175) Hier auch besonders anzuführen sind Reisers wiederholte Anläufe zum Schauspieler, die in ihrer Unbedingtheit, Substitutionsfunktion und im endgültigen Scheitern den 'militärischen Niederlagen' Don Quijotes nicht unähnlich sind.

432

Das war ja exakt der Vorwurf Flögeis an die Spanier des 17. Jahrhunderts, „Zeiten dieser ritterlichen Unwissenheit": „man mischte Christus

210

Das Bild des Manchaners vervollständigt sich schließlich durch die Figur des auf Liebesaffaren spezialisierten Philipp Reiser, eine Projektion des keuschen Anton, in der auch unübersehbar Züge des 'guten und edlen' Tom Jones enthalten sind: Dabei hatte er [Philipp Reiser, A.P.] den Kopf beständig voll romanhafter Ideen, und war immer in irgendein Frauenzimmer sterblich verliebt; wenn er auf diesen Punkt kam, so war es immer, als hörte man einen Liebhaber aus den Ritterzeiten. - Seine Treue in der Freundschaft, seine Begierde, den Notleidenden zu helfen, und selbst seine Gastfreiheit, kam auf diesen Schlag heraus, und gründete sich zum Teil auf die romanhaften Begriffe, womit seine Phantasie genährt war, obgleich sein gutes Herz der eigentliche Grund davon war - denn nur auf dem Boden eines guten Herzens können dergleichen Auswüchse von romanhaften Tugenden emporkeimen, und Wurzel fassen. In einer eigennützigen Seele, und zusammengeschrumpften Herzen wird die häufigste Romanenlektüre nie dergleichen Wirkungen hervorbringen. (S. 174)433 Es ist nicht nötig, Statistiken über Lektüreverhalten heranzuziehen, um die Ende des Jahrhunderts schon sehr weit fortgeschrittene Säkularisierung zu belegen: Die unsentimentale (i. e. nicht „rührende") und doch das Gefühl gegenüber der Ratio betonende Verherrlichung des Menschen, die aus dem zitierten Absatz spricht und die im krassen Gegensatz zu den reformierten protestantischen oder calvinistischen Kirchen steht, dürfte ausreichen. und Apollo, Cupido und den heiligen Geist, Maria und Venus zusammen." 433

Erst in letzter Zeit ist man auf die europäischen literarischen Wechselbeziehungen in den Charakterzeichnungen aufmerksam geworden. Fürnkäs, S. 85 ff., ist einer der wenigen, der die unübersehbare Nähe Anton Reisers zu Don Quijote unterstreicht; in neuester Zeit ebenfalls Wilhelm Gartier, auch wenn dieser sich darauf beschränkt, auf die Ähnlichkeit der Gestalten vor allem im unterdrückten libidinösamourösen Feld aufmerksam zu machen. Vgl. Gartier, Walter: Unglückliche Bücher oder die Marginalität des Realen: eine Untersuchung im Vorfeld des deutschen Idealismus, Turia u. Kant, Wien 1988, S. 79.

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Man verfiele in die Denkmuster der Feinde des Romans des 17. und 18. Jahrhunderts, wollte man im AR die Romanlektüre für die Spaltung der Persönlichkeit, für das Zutagetreten des Machtwillens, der Ruhmsucht usw. verantwortlich machen. Moritz läßt keinen Zweifel aufkommen, daß im Falle Reisers nicht nur die Veranlagung gewissermaßen vor dem Stoff vorhanden ist, da auch eine Zeit lang die „Altväter", konkret der Heilige Antonius, als nachzuahmende 'Helden' dienen können434, sondern daß auch und vor allem der familiäre, und übergeordnet, der soziale Lebensraum, in den Anton hineingeboren wird, eine die Persönlichkeit determinierende und endgültig prägende Macht ausübt. Die Fiktion der Literatur ist als auslösendes Element der 'Verstörung und Verwirrtheit' gar nicht notwendig, denn das aus kühler Distanz dargestellte soziale Umfeld ist ja in seiner Entmenschlichung so unwahrscheinlich wie die fiktiven Papierwelten, die sich Anton und sein späteres Alter ego Philipp zum Vorbild nehmen: Die Wirklichkeit hat keinen anderen Realitätsanspruch als den, der sich aus ihrer Tatsächlichkeit ergibt, und alle verzweifelten Versuche des Erzählers, einen höheren Sinn in diese Wirklichkeit hineinzutragen und diese somit zu rechtfertigen, werden einzig dazu fuhren, daß sich progressiv Schärfe und Breite der Darstellung einerseits und Dürftigkeit der Erklärungen andererseits gegenseitig akzentuieren. Schon ein Vergleich der ersten fünfzehn Seiten des Romans mit den im Vorwort festgelegten Absichten macht nicht nur dies in weitem Umfang deutlich, sondern auch das, worauf sich das Bestreben, „die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen" bezieht und daß sich „die innere Geschichte des Menschen" nur mit Rückbezug auf die Gesellschaft verstehen läßt435. 434

Vgl. AR, 18-19.

435

„Nicht das erhabene" - schreibt Filrnkäs, S. 92 - „wie abstrakte Schicksal einer inneren Menschennatur schlechthin zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Neigung und Pflicht, das sich im Pathos des Todes erst rein erfüllen kann, kommt im psychologischen Roman zum Vorschein: In ihm findet sich im Gegenteil der progressive, empirische Verkettungszusammenhang von Poesie, Psyche und Milieu analysiert, der den gesellschaftlich produzierten Zufälligkeiten des prosaischen Lebens geschuldet ist." Was Filrnkäs „Zufälligkeiten" nennt, läßt sich auf einen sehr konkreten sozialgeschichtlichen Ursprung zurückführen,

212

Der Anfang des Romans ist noch wie im Quijote angelegt: En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo... In Pfyrmont], einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahr 1756 ein Edelmann auf seinem Gute... (S. 7) Die Abweichungen liegen auf der Hand: unverbindliche Allgemeinheit im ersten Fall, Benennung des Ortes, der kaum verschleiert erscheint, und genaue Jahresangabe, die, nun auch wie bei Cervantes, den Roman in die unmittelbare Vergangenheit, welche für den Leser ja praktisch zugleich Gegenwart ist, setzt, im Falle Moritz'436. Wenn dies auch zu der Schlußfolgerung verleiten könnte, daß es sich bei Cervantes eben um einen Roman handele, Moritz dagegen eine Autobiographie vorgelegt habe, und letzterer daher an einer genauen Orts- und Zeitbestimmung interessiert sei, so ist doch auf die Zeitenfolge Präsens (no quiero; ist) - Imperfekt (vivía; lebte noch) zu achten, die in beiden Fällen auf eine Ver-

stellt also nicht etwa eine Notwendigkeit, doch schon eine Konsequenz dar. Gartier, in seinem Bestreben, in betonter Absonderung zu jeglicher sozialwissenschaftlichen, geschichtlichen und wohl auch literarischen Annäherung an Moritz' Roman die eigene strikt philosophischpsychologisch gehaltene Arbeit zu legitimieren und zu nobilitieren, beliebt es wohl, gegen besseres Wissen, das 'Milieu' im AR zu übersehen. 436

In der weiteren genaueren Angabe von Umständen und Namen nimmt der Roman zuweilen durchaus den Charakter einer „anachoretischen Vergeltungsaktion", wie Gartier, S. 110, es nennt, an. Gartier faßt diese Rachegelüste als Reaktion gegen die „despotische Präsenz von sakrosankten Büchern, die eine lächelnde Miene nicht tolerieren können" (S. 109) auf, vergißt aber, daß Reiser selbst an sich nicht ein widerstrebender, sondern ein nach oben strebender Schüler ist und daß Moritz sein Werk auch aus einer psychologischen, pädagogisch-utilitaristischen Warte gelesen haben will. Es sind ja auch nicht „die sakrosankten Bücher", sondern deren Besitzer oder Erläuterer, die Bildung als Macht verstehen und als solche ausüben.

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Schmelzung von Aufzeichnung437 und Erzählung ('Es war einmal') hinzielt: Cervantes wird immer wieder, wenn auch ironisch, auf die „anales" und „documentos" hinweisen und seinen Roman als eine „verdadera historia" hinstellen; Moritz, in ernsterer Gebärde, bewilligt, daß man sein Werk durchaus als Biographie auffaßt438, läßt aber keine Gelegenheit aus, auf das künstlerische Moment aufmerksam zu machen: sei es durch die Verwendung schon im Frontispiz der Bezeichnung „Roman", sei es gleich im ersten Satz des Vorwortes zum ersten Teil („Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden..."), sei es, indem er im Vorwort zum zweiten Teil sein Werk als ein „künstlich verflochtnes Gewebe eines Menschenlebens" definiert oder in der Einführung zum dritten Teil verspricht: „Mit dem Schluß dieses Teils heben sich Anton Reisers Wanderungen, und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an." (S. 238) Wichtiger also als der Grad der räumlich-zeitlichen Determinierung ist auch bei Moritz zuerst das Allgemeine: irgendwo in Deutschland, vor dreißig Jahren: „In {P[yrmont],} einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte {noch im Jahr 1756} ein Edelmann auf seinem Gute...". Die Folge von Präsens Imperfekt schlägt in beiden Fällen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die gleichzeitig eine Verbindung zwischen Fiktion und Wirklichkeit herstellt. Das Gewicht kann mehr auf dem Erzählerischen oder auf dem Dokumentarischen liegen, aber Anspruch auf beides wird von der ersten Zeile an erhoben: Beide Verbformen entsprechen in ihrer Funktion der des Knaben im „Entierro del Conde de Orgaz" des Greco, der in der unteren Bildhälfte zum Betrachter schaut und auf das Bild weist439 und somit eine räumlich-zeitliche Beziehung zwischen Innen - Außen, Vergangenheit - Gegenwart herstellt. Die Analyse der Erzählhaltung im AR wird bestätigen, was hier schon angedeutet erscheint: Moritz unternimmt den schwierigen Versuch, den Roman durch die Betonung des Psychologisch-Biographischen zu nobilitieren, 437

Dieses „no quiero acordarme" weckt ja überhaupt erst den Verdacht, daß es den Ort tatsächlich geben könnte.

438

Vgl. Vorworte zu den drei Teilen.

439

„Betonung des schmalen Grates zwischen Einbildung und Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit, Traum und Leben, auf dem sich der Manierismus bewegt." Hauser, Manierismus, S. 259.

214

ohne dabei auf das im weitesten Sinne Schöpferische verzichten zu müssen440 441. 440

Was natürlich im Rahmen der deutschen Gesamtdiskussion um das Genre, die praktisch mit dem Erscheinen der Amadis-Reihe im 16. Jahrhundert beginnt, und der Forderung Blankenburgs nach einem Roman, der sich auf das Innere des Menschen konzentriere und, m. E. viel wichtiger und von der Forschung wenig hervorgehoben, in dem die kosmische - praktisch leibnizsche - Interrelation und zur gleichen Zeit Abgesondertheit des Kleinsten zum Ganzen zum Vorschein käme: Die Reduktion der Welt um ihrer Verständlichkeit willen und die Darstellung der Kausalzusammenhänge im Kleinsten als ein Abbild des Größten zielt im Künstlerischen auf die Notwendigkeit der Detailtreue, damit die auch durch kleinste Umstände bedingte Charakterbildung des Menschen, der schließlich doch zu der ihm - auch hier wieder Leibniz spürbar - größtmöglichen Vollkommenheit gelangt, sichtbar werde. Jede kleinere Begebenheit macht für sich schon ein Ganzes aus. Sie hat ihre Ursache, und kann der folgenden Begebenheit, wenn sie nicht die letzte ist, wieder zur Ursache werden. Bleibt sie aber auch ohne Folgen: so hat sie dem ohngeachtet einen Anfang, Mittel [sie/] und E n d e Wenn also der Dichter mit seinem großen Ganzen billig den Endzweck haben soll, den er mit dem kleinern Ganzen einer Begebenheit hat; - wenn er mit dem kleinern Ganzen seinen Endzweck nicht ohne jene Behandlung erreichen kann; wenn dies kleinere Ganze im Grunde eben das ist, was jenes größere seyn kann: - so folgt sehr natürlich, daß der Romanendichter bey Anordnung dieses größern Ganzen eben die Maaßregeln haben solle, die er bey Anordnung seines kleinern Ganzen gehabt h a t Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz, bey David Siegerts Wittwe 1774, S. 312; zu Blanckenburg in unserem Zusammenhang vgl. auch Michelsen, Laurence Sterne und der deutsche Roman, S. 157-160. Blanckenburgs Buch ist als Ausdruck einer Gegenreaktion auf die Familienromane in Richardsonscher Manier zu sehen und als solches Zeugnis einer Zeitstimmung. Es gibt aber fast keine Studie zum Roman im 18. Jahrhundert, die nicht einen mehr oder weniger langen Exkurs zu dem Versuch enthielte, und dies obwohl - wie bekannt - der Versuch praktisch keinerlei Einfluß auf seine Zeit ausgeübt hat, und das Buch nicht Uber die erste Auflage hinauskam. Blanckenburgs Insistieren auf dem Detail leitet sich von Sterne ab, der es wiederum wohl von Cervantes genommen haben dürfte, in dessen Quijote der Erzähler immer wieder wegen seiner Genauigkeit Lob erntet:

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Real y verdaderamente todos los que gustan de semejantes historias como ésta deben de mostrarse agradecidos a Cide Hamete, su autor primero, por la curiosidad que tuvo en contarnos las seminimas della, sin dejar cosa, por menuda que fuese, que no la sacase a luz distintamente. Pinta los pensa mientos, resuelve los argumentos; finalmente los átomos del más curioso deseo manifiesta. (II, 40, 551) Gegen wen sich dieses Lob richtet - nämlich die „historiadores graves" - wird - bei aller Ironie - deutlich in folgender Textstelle: Fuera de que Cide Mahamate Benengeli fue historiador muy curioso y muy puntual en todas las cosas, y échase bien de ver, pues las que quedan referidas, con ser tan mínimas y tan rateras, no las quiso pasar en silencio; de donde podrán tomar ejemplo los historiadores graves, que nos cuentan las acciones tan corta y sucintamente, que apenas nos llegan a los labios, dejándose en el tintero, ya por descuido, por malicia o ignorancia, lo más sustancial de la obra. ¡Bien haya mil veces el autor de Tablante de Ricamonte, y aquel del otro libro donde se cuenta los hechos del conde Tomillas, y con qué puntualidad lo describen todo!" (I, 16, 313) Vgl. auch den Simplicissimus, I, 11: „derohalben sihet mich vor gut an/ dem curiosen Leser/ der auch offt das geringste wissen will/ unser Thun/ Handel und Wandel/ und wie wir unser Leben durch gebracht/ zu erzehlen." Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (Hg. v. J. H. Schölte), Max Niemeyer, Tübingen 1954, S. 31. Auf diesen - noch erforschungswürdigen - Aspekt kann hier nicht weiter eingegangen werden, doch liegt die Vermutung nahe, daß es Cervantes wiederum um eine Aufwertung der Lebenswelt geht. 441

Das Thema des Autors als (Welt-)Schöpfer - eine primäre Frage der deutschen Romanliteratur seit ihrem Entstehen - findet wiederum bei Blanckenburg, der den Romanautor mit dem Weltschöpfer im Verfahren gleichsetzt - nämlich als deus absconditus, der hinter seinem Werk verborgen bleibt - , theoretische Erörterung. Vgl. hierzu Fürnkäs, S. 20 f. Auch der wesentlichste, doch hinter moralischen Bedenken verborgene Vorwurf, den der Schweizer Pastor Gotthard Heidegger in seiner Mythoscopia gegen den Roman vorbrachte, bezog sich auf die Konkurrenzbeziehung, in die der Autor zu Gott trat: fälschen und erstücken sie auß eignem Stör-Kopff die Eventus und Verläuffe/ die der Höchste der in dem Himmel ist/ und schaffet was er will/ auß geheimen Raht-Schluß/ zu seiner Ehr/ auff seine Weise geordnet.

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Als alter Hidalgo, der standesgemäß keiner Arbeit nachgeht, vertreibt sich Don Quijote die Zeit mit Jagen, Lesen und freundschaftlichen Disputationen mit dem Dorfpfarrer und dem Barbier über die verschiedenen Qualitäten der fahrenden (Papier-)Ritter. Bei ihm zu Hause leben noch eine für die Zeit schon betagte, über vierzig Jahre alte Haushälterin („ama"), Don Quijotes noch nicht zwanzig Jahre alte Nichte und schließlich „un mozo de campo y plaza, que así ensillaba el rocín como tomaba la podadera" (I, 1, 52). Das Wesentliche in Bezug auf die sozialen Umstände, in denen Don Quijote sich bewegt, scheint hiermit gesagt worden zu sein, und alles wird verständlich, obwohl doch alles offen bleibt: Die Zeit verstreicht, jeder verrichtet seine täglichen Arbeiten, man plaudert, die Unordnung der Welt dringt nicht in das kleine Dorf ein, das wohl frei von größeren Spannungen ist, da uns ja vom Gegenteil keine Nachricht gegeben wird. Nirgends werden Inhalte zu den Konturen sichtbar, nirgends eine Substanz oder Singularität: das Dorf ist ein Schattenriß, von der gesellschaftlichen Strukturierung erfahren wir nichts, obwohl auf fünf verschiedene Schichten angespielt wird (hidalgo, cura, barbero, mozo, und, indirekt - „vendió muchas hanegas de tierra de sembradura" - auch auf den Bauernstand), die Figuren scheinen nur dazu da zu sein, diese Struktur anzudeuten, die zwischenmenschlichen Beziehungen sind wohl so normal, daß man nicht auf sie einzugehen braucht, alles ist typisiert, alles auf die Lebenskenntnis des damaligen Lesers zugeschnitten: ein typisches Dorf mitten in der typischen ausgedehnten Einöde, der typische Dorfpfarrer, der typische Barbier usw. Selbst Don Quijote ist ein Muster, das dem schönrednerischen, untätigen, verarmten und harmlosen Hidalgo, der den alten heroischen Zeiten nachtrauert, entspricht. Dies ist die Ausgangssituation: Alles ist, wie es ist, wie man es kennt, nichts Besonderes. Der einzige, der aus dem Rahmen zu fallen scheint und als 'Dorfspinner' somit die Normalität bestätigt - , ist Don Quijote. In dem Moment aber, wo er zur Tat schreitet und mit seinen alten Waffen gerüstet in die Welt hinauszieht, wird er die Welt der Normalität in ihrer Selbstverständlichkeit und Einmaligkeit sprengen oder zumindest als fragwürdig erscheinen lassen, so

Zitat im Nachwort von Emst Schäfer zu Heidegger: Mythoscopia mantica, S. 351. (Hervorhebung von Schäfer).

Ro-

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daß eine (Werte-)Umkehrung als Möglichkeit am Horizont erscheint. Bei Moritz aber läßt sich von vornherein keine 'normale' Welt erkennen. Herr v. F[leischbein], Edelmann und Haupt der deutschen Quietisten, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, ebenso abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab. Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiß eine ganz andre Verfassimg, als rund umher im ganzen Lande herrschte. (S. 7-8) Der Erzähler im AR referiert mit anscheinend besonnener Nüchternheit soziale Umstände, die wohl als soziale Mißstände aufzufassen sind: An erster Stelle steht Kommunikationslosigkeit, soziale Trennung, Scheidung, Bruch der Zwischenmenschlichkeit. Der adlige Herr von F[leischbein] ist durch Geburt, Stand und Vermögen ziviles Oberhaupt, das sich nun auch die religiöse Sphäre seiner abgesonderten „Republik" angeeignet hat: Richter und Prophet zugleich, der die ihm praktisch angeborene Autorität durch einen „unsträflichen Lebenswandel" (S. 9) noch steigert und seinen Untergebenen, deren „mittlem Stand" - Verwalter H., eine Haushälterin mit ihrer Tochter - dem des gesamten Haushalts don Alonso Quijanos in Anzahl und Geschlecht nicht unähnlich ist, „eine unbegrenzte Ehrfurcht" (S. 9) einflößt, wenn auch „die Einwohner des Orts sich mit den ärgerlichsten Geschichten von ihm trugen" (S. 9). Im Hause selber herrscht eine lebensfeindliche Stimmung des „Ertötens", „Ausrottens", „Verleugnens", des „Eingehen ins Nichts" (S. 8). Die Quelle dieses Abtötungseifers wird zwar vom Erzähler nicht direkt, aber doch sprachlich-syntaktisch eindeutig auf das Oberhaupt zurückgeführt: „Alle diese Personen mußten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen...", „Der Herr v. F[leischbein] bestimmte auch die Lektüre seiner Leute, und wer von den Knechten oder Mägden eine müßige Viertelstunde hatte, den sähe man nicht anders, als mit einer von den Mad. Guion Schriften, vom innern Gebet, oder dergleichen, in der Hand, in ei-

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ner nachdenkenden Stellung sitzen und lesen." (S. 8, meine Unterstreichung) Es genügten die ersten zwei Seiten des AR, um die im zweiten Kapitel dieser Arbeit dargestellte, seit dem 16. Jahrhundert zu konstatierende Absonderung des Adels vom Volk, die Sozialdisziplinierung der Gesellschaft, die sich in einer immer stärker hierarchisierten Gesellschaftsstruktur ausdrückt, die Verabsolutierung des Autoritäts- und Gehorsamsgedankes, die Bevormundung des Volkes usw., ohne Mühe zu belegen442 443. Denn wieder erweist sich der Erzähler als unzuverlässig oder zumindest als zwiespältig, wenn er behauptet, daß Herr von Fleischbeins Gut als eine Art von Insel inmmitten eines ganz anders gearteten Meeres zu betrachten sei: Abgesehen vom tatsächlich Geschilderten, läßt im Falle des Hauspersonals auch der Erzähler die Frage offen, ob ein wirkliches Bestreben vorhanden war oder ob es nur „zu gehen schien, in ihr Nichts (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen" (S. 442

Vgl. Bruford: Germany in the Eighteenth Century, S. 65-67, 71-90, Haferkorn S. 183-184; Kiesel/Münch, die noch von Ständen sprechen, schreiben zur Gesellschaftstruktur und zu den zwischenmenschlichen Beziehungen in Deutschland im 18. Jahrhundert (S. 44): Das Verhältnis der Stände zueinander war ebenso wie das der Individuen untereinander durch die Prinzipien von Autorität und Subordination geregelt. In der Geistlichkeit aller Konfessionen, die den Gehorsam gegen 'Obrigkeiten' jeder Stufe (vom Familienvater bis zum Landesherrn) mit biblischer Begründung (vor allem Römer 13) als eines der wesentlichen Momente christlicher Lebensführung predigte, besaß die ständische Gesellschaft ihre einflußreichen 'konservativen' Ideologen.

443

Zu der allmählichen Verdrängung und Umwandlung der Volkskultur in der Neuzeit in Europa grundlegend: Burke, Peter: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, aus dem Englischen von Susanne Schenda, Klett-Cotta, Stuttgart 1981. Burke weist wiederholt auf die Sonderstellung Spaniens in diesem Prozeß hin: „In Spanien kann man im achtzehnten Jahrhundert die zweite Reformphase besonders gut beobachten, vielleicht deshalb, weil die spanische Volkskultur von der ersten Phase relativ unberührt blieb, ungeachtet der Anstregungen Marianas und Alcocers." (S. 255) Auch die zweite Phase - und hierauf geht Burke nicht ein - hat nicht die Intensität, die sie in anderen europäischen Ländern aufweist (man bräuchte nur auf die Vielzahl der noch bis heute vorwiegend unter der Landbevölkerung erhaltenenen 'magisch-religiösen' Riten hinzuweisen).

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8). Bei dem von Fleischbein veranstalteten 'Gottesdienst' sitzen alle der Stimme Gottes harrend als anscheinend gleichberechtigte potentielle 'Medien' um den Tisch, doch deutet das „mußten" deutlich auf das Obligatorisch-Hierarchische dieser Zusammenkünfte hin. Und das gleiche läßt sich für den Leseeifer der Hausangestellten, der Knechte und Mägde sagen. Diese pyramidenförmige „Republik" und der zur Schau getragene religiöse Eifer des Hauspersonales wird nicht wenig durch die rapide Verarmung der Bevölkerung im 18. Jahrhundert, die sich territorial am stärksten in Nordwestdeutschland bemerkbar machte und natürlich v. a. die mittleren und untersten Schichten der Bevölkerung traf444, gefördert worden sein. Ließe sich in der spanischen Literatur des 16. oder 17. Jahrhunderts eine solche Szene kaum ohne eine humoristische 'schelmische' Behandlung vorstellen - wozu ja auch der leicht ironische Unterton des Erzählers im AR einzuladen scheint - , so war das im Deutschland des 18. Jahrhunderts weder in der Wirklichkeit noch in der Literatur möglich, denn dazu gehört Humor, die Möglichkeit des Lachens, das von der Agelastenkultur endgültig besiegt schien. Was die soziale Absonderung betrifft, bewirkt die sozioökonomische Zwischenstellung, die Antons Familie weit unter den Wohlhabenden und leicht über den ganz Armen einnimmt, daß Anton von vornherein zum Außenseiter wird, da er keine Gruppe zu finden vermag, die sein Empfinden einer sozialen Bedrückung und Deplazierung teilen könnte - ein Empfinden, das sich auch aus einem Stolz speist, der sich durch Gekränkheit ausdrücken wird und der wohl z. T. als Muttererbe zu betrachten ist445. 444

Vgl. Kiesel/Münch, S. 56 ff.

445

„Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gegangen, wenn Antons Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben, und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand. Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat." (S. 32) Die Figur der Mutter hebt in seiner Analyse des Romans besonders Gartier hervor, wenn er auch m. E. zuviel hineininterpretiert, indem er

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Kaum hat hingegen Don Quijote beschlossen, „caballero andante" zu werden, kaum hat er sich gerüstet, ist aufs Pferd gestiegen und in die Welt gezogen, sich am zukünftigen Ruhm labend, ob seiner „famosas hazañas mías, dignas de entallarse en bronces, esculpirse en mármoles y pintarse en tablas para memoria en lo futuro" (I, 2, 72), als er sich schon mit der für jeglichen Erhabenheitsanspruch zerstörerischsten Kraft konfrontiert sieht: Mirábanle las mozas, y andaban con los ojos buscándole el rostro, que la mala visera le encubría; mas como se oyeron llamar doncellas, cosa tan fuera de su profesión, no pudieron tener la risa, y fue de manera que Don Quijote vino a correrse y a decirles:

der Mutterfigur und der von Anton/Moritz nicht überwundenen Enttäuschung, die mit dem Bewußtsein der verlorenen Unschuld der Mutter auftritt, die auschlaggebende Auslöserrolle für Moritz' - Gartier nimmt hier eine absolute Identifikation zwischen Moritz und Reiser vor Schreibtätigkeit zugesteht, ohne die gesellschaftlichen Quellen zu beachten, aus denen sich ja auch das Ressentiment von Antons Mutter speist. Die Intensität, mit der Reiser seine späteren Frauenrollen spielt, eine Intensität, die sich aus einem Flucht- und Kompensationsversuch speist, gibt Gartier Anlaß zum Kommentar: „Armer Moritz - arme Mutter. Sich selbst vergessend spielt der Sohn der Mutter jene Rolle vor, die sie nur um den Preis des ewigen Verzichts auf ihn hätte bewähren können. Als nichtgebärende Mutter bleibt Reiser nichts anderes übrig, als sein Leben von Anfang an zu schreiben zu versuchen. In dieser sadistischen Wendung gegen die gebärende Mutter fällt der Lebensbeschreibung die literarische Funktion zu, das Wirkliche an jedem einzelnen Punkt seines Daseins buchstäblich unberührt zu lassen. Mit dieser sadistischen Intention, in der Reiser «eine großartige Ichverarmung» inszeniert, hängt aber der quietistische Eindruck von Anton Reisers Lebensgeschichte intim zusammen." Gartier, S. 96-97. Dieser Kommentar übersieht, daß „Reinheit" - es sei denn in ihrer absoluten Verkümmerung - im AR von Anfang an ausgeschaltet ist. Wie im Quijote wird die Unschuld nur noch durch Verdrängung, als Wahnvorstellung oder als Inszenierung möglich. Wenn auch die innig-enge Verknüpfung zwischen Anton und seiner Mutter im Roman selbst nicht als ein zu erläuternder Erzählstrang behandelt wird, so weist der Erzähler doch ausdrücklich auf die Intensität der Beziehung hin: „Es war ihm, als ob er in seiner Mutter sich selbst absterben würde, so innig war sein Dasein mit dem ihrigen verwebt." (S. 106), denn: „So nahe, wie seine Mutter, nahm doch niemand in der Welt an seinem Schicksal teil", (S. 186).

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- Bien parece la mesura en las fermosas, y es mucha sandez a demás la risa que de leve causa procede; pero non vos lo digo porque os acuitedes ni mostredes mal talante, que el mío non es de ál que de serviros. El lenguaje, no entendido de las señoras, y el mal talle de nuestro caballero acrecentaba en ellas la risa y en él el enojo, y pasara muy adelante si a aquel punto no saliera el ventero... (I, 2, 77) Die Kraft des Lachens, die selbst Don Quijote davor bewahren kann, in die vollkomene Lächerlichkeit und Würdelosigkeit zu fallen446, ist im AR von vornherein neutralisiert, denn auch die humorlose Strenge, die im Fleischbeinschen Haus waltet: Alles, bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen, hatte in diesem Haus ein ernstes, strenges, und feierliches Ansehn. (S. 8) wird nicht auf diese Umgebung beschränkt bleiben, sondern vielmehr eine grundsätzliche, den Roman durchziehende Grundstimmung darstellen, die mit der ausgeprägten - bürgerlichbiederen, patriotischen, philosophischen, politischen, religiösen und sogar ökonomischen - Agelastenkultur des deutschen 18. Jahrhunderts übereinstimmt, deren Ursprung - wie sich im religiösen und im Bereich des Gelehrtentums hervorragend nachweisen läßt - wohl in den sozialen Machtverteilungs- und Plazierungskämpfen des 16. und 17 Jahrhunderts anzusiedeln wäre, die letztlich dazu fuhren sollten, daß schon im 18. Jahrhundert das Ernste überhaupt als eine v. a. gegenüber der gallischen Frivolität typische Eigenschaft des Deutschen, in der sich zur gleichen Zeit 446

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„Cuando Don Quijote vio lo que era [mazos de batán, A.P.], enmudeció y pasmóse de arriba abajo. Miróle Sancho, y vio que tenía la cabeza inclinada sobre el pechó, con muestras de estar corrido. Miró también Don Quijote a Sancho, y viole que tenía los carrillos hinchados y la boca llena de risa, con evidentes señales de querer reventar con ella, y no pudo su melancolía tanto con él, que a la vista de Sancho pudiese dejar de reírse..." (I, 20, 398). Jean Paul schreibt in seiner Vorschule der Ästhetik (§ 26/27): „Der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche"; 'lächerlich' hat aber im Deutschen - auch schon Anfang des 19. Jahrhunderts - eine dermaßen negative Bedeutung, daß sich beide Begriffe gegenseitig zu disqualifizieren scheinen.

Gottesfurchtigkeit, Würde, Anstand, Wohlstand usw. ausdrückte, angesehen und akzeptiert wurde447. Reiser als Romanfigur - die die Gesellschaft 'aufbricht' und spiegelt - ist ja selbst in einer Ernsthaftigkeit befangen, die er mit einem (selbst-)zerstörerischen Lachen des Irrsinns und der Verachtung vornehmlich gegen sich selbst richtet448. Die vollkommene Humorlosigkeit erscheint als Notwendigkeit zum Rigorismus, zum religiösen Absolutismus, der per definitionem eines Oberhauptes bedarf49. So wie Fleischbein sein Priestertum über die ihm Untergebenen ausübt, versucht Reisers Vater der es nur zu einem verschwommenen Begriff der Lehren bringen kann - , seine Frau zu 'bekehren'450. Als diese sich jedoch als resi447

Lobensteins Höllenvisionen, die er seinem in Erstarrung lauschenden Lehrling Anton Reiser warnend mitteilt, tragen den Rest zur Verdammung jeglicher lebensbejahender Impulsivität bei: „[...] denn ihm [Anton Reiser, A.P.] fiel ein, daß er mehr als zwanzigmal auf der Straße gelaufen, gesprungen, und mutwillig gelacht hatte - und nun lagen alle die Qualen der Hölle auf ihm, welche er dafür ewig würde erdulden müssen. - «Hüte, ach, hüte dich vor der Hölle!» gellte noch immer in seinen Ohren, als ob ein Geist aus dem Grabe ihm diese Worte zugerufen hätte..." usw. (S. 88).

448

„Nicht so sehr krankhaft ist Antons Tun, sondern töricht, weil es aus einem Zuviel an Ernst gegenüber Poesie und Leben gleichermaßen geboren ist." Fürnkäs, S. 90. Fürnkäs läßt hier - wie üblich - auf unzulässige Weise die sozialen Aspekte außer acht - wo sollte Anton Humor schon 'gelernt' haben? - , so daß dem Protagonisten erneut eine Bürde aufgeladen und ein Mangel angekreidet wird, welche ihm nicht zukommen. An dieser Stelle wird erneut deutlich, daß es im AR nicht möglich ist, Figur und Erzähler zu trennen, da erstere viel mehr 'trägt' als ihr Charakter oder Leben ausmacht.

449

Dies mag als Antwort zu Promies' Verwunderung gelten: „Es ist merkwürdig, daß dem Rationalismus die Einbildungskraft vorzüglich in Verbindung mit dem Komischen heikel wurde." (S. 206).

450

In der 'captatio' und Bekehrung von 'Jüngern' erweist sich Fleischbein somit als erfolgreicher als der 'clérigo' im Haus der Duques. Den wirklichen 'Schaden' richtet ja auch die überaus strenge, in den Schriften der Madame Guion durchaus nicht enthaltene Negierung aller Lebensfreude: „Sie forderte" - teilt uns Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 11-12, mit - „im Gegenteil zu «freudiger Gelassenheit auf», zu aktiver Liebe als einer «ruhigen, kraft- und saftvollen Empfindung» und dazu, daß «der Mensch, welcher zur Freyheit, aber nicht zu einem ingebundenen Wesen geboren ist [...] in dem Innern eine gewisse angenehme Aufgeräumheit» erlange (Diskurse II)." Es geht hier im

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Stent erweist, wendet sich ihr Ehemann voller Verachtung von ihr ab: Sie versprach sich von ihrem Manne noch mehr Liebe und Achtung, als sie vorher bei ihren Anverwandten genossen hatte, aber wie entsetzlich fand sie sich betrogen. [...] Ihr Mann fing an, ihre Einsichten zu verachten, weil sie die hohen Geheimnisse nicht fassen wollte, die die Madam Guion lehrte. Diese Verachtung erstreckte sich nachher auch auf ihre übrigen Einsichten, und je mehr sie dies empfand, je stärker mußte notwendig die eheliche Liebe sich vermindern, und das wechselseitige Mißvergnügen aneinander mit jedem Tage zunehmen. (11-12) Hier wiederum wird ersichtlich, in welchem Maße der Erzähler um Objektivität bemüht scheint oder es zumindest auf sprachlicher Ebene vortäuscht. Denn Stellung wird ja von Anfang an bezogen, und es reicht ein einziges ironisches, aber in Kontrast und Ergänzung zum „entsetzlich" auch 'beißendes' Adjektiv, um die „hohen Geheimnisse" als Makulatur auszuweisen. Da im AR auf die Wiedergabe von Dialog von vornherein verzichtet wird, muß der Erzähler die Aufgabe übernehmen, die im Gespräch im Haus Grunde um einen Ataraxie-Begriff, der wohl „spanisch-katholischer Provenienz" sein mag, aber dann in Verbindung mit dem spanischen Mystizismus des 17. Jahrhunderts zu setzen wäre, in dem von Abtötung und Vernichtung wenig, von sinnlicher 'exaltatio' aber sehr viel die Rede ist. Hier wäre Schrimpf beizupflichten, wenn er auf den ursprünglichen aristokratischen - und von seinem Ursprung her auch ritterlichen - Quietismus hinweist und dann anmerkt: „In seiner Vergröberung und Entstellung mußte dieser in der Enge, wirtschaftlichen Not und sozialen Hilflosigkeit des kleinbürgerlich-protestantischen Familienkreises verheerende Auswirkungen haben." S. 12. Wie aber aus dem vorhergehenden Kapitel deutlich geworden sein mag, war seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland ein wie auch immer gearteter 'Aristokratismus' unter den nicht privilegierten Schichten von vornherein ausgeklammert. Auf die Schriften der Madame Guion wäre aber Reisers Vater aus eigener Initiative wohl kaum gekommen, hätten sie ihm der Verwalter und Herr von Fleischbein selbst - „von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt" (S. 10) - nicht in die Hand gedrückt.

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der Duques Sancho und seinen Ausschweifungen zufiel. Die Reaktion auf die Verweigerung gegen den priesterlichen Machtanspruch ist die gleiche: Verachtung des Unwissenden, der in seiner gefühlsgetränkten Naivität und Spontaneität den Geist nicht oder kaum zu schätzen und deswegen auch nicht zu respektieren weiß. Und in beiden Fällen trägt die Gefühls- und Lebenswelt gegenüber der Ratio und der Systemwelt den Sieg davon: Sancho mag sich die Blöße geben, doch die vorangehende beißende Charakterisierung des Pfarrers durch den Erzähler ist nicht aus der Welt zu schaffen, und daß die Duques, die sich ja im Grunde auf die Seite ihres Kaplans zu stellen hätten, der Szene amüsiert und mit Genugtuung beiwohnen, und sich Don Quijote schließlich selbst genötigt sieht, den Pfarrer in seine Schranken zu weisen, macht dessen Niederlage vollständig. Im AR gibt der Erzähler zu verstehen, daß es bei Antons Vater am Wesentlichsten fehlt: an menschlichem Einfühlungsvermögen, an Sensibilität, Zärtlichkeit, aber auch an Respekt vor dem anderen, im Grunde also vornehmlich an dem, welches sich unter dem Begriff der Humanität subsumieren läßt. Eine rein feministische Interpretation wird hier durchaus zu der Schlußfolgerung kommen, daß der Erzähler Geschlechtsmerkmale festzulegen versucht, und daß er sich eindeutig auf die Seite der Frau schlägt, denn Reisers Mutter stellt das Leben in seiner Vitalität dar, ohne daß der Geist zu kurz kommt451. Sie erscheint als der freiere, ausgebildetere Mensch, der seinem Partner gegenüber nur eine 'Schwachstelle' zeigt: die Selbstzweifel, die Angst, im „rechten Glauben irregemacht [zu] werden" (S. 12) eine 'Schwäche', die in Anbetracht der europäischen monologischen Tradition der religiösen Intoleranz als eine Tugend zu bezeichnen wäre, insofern der Mangel an dogmatischer Erstarrung im Prinzip den Zugang zu neuen Welten überhaupt erst ermöglicht.

451

Hierzu merkt der Erzähler an: „Antons Mutter hatte eine starke Belesenheit in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Erkenntnis von ihrem Religionssystem, sie wußte z. E. sehr erbaulich davon zu reden, daß der Glaube ohne Werke tot sei, usw." (S. 12) Ähnlich im Quijote II, 36, 520: „y advierte Sancho que las obras de caridad que se hacen tibia y flojamente no tienen mérito ni valen nada", einziger Satz im Quijote, der 1632 von der Zensur der Inquisition gestrichen wurde (Indice expurgatorio des Kardinal Zapata, Sevilla 1632)

225

Das Bild, das der Erzähler von den Familienverhältnissen liefert, ist trostlos, und es käme erschwerend hinzu, daß der Auslöser der ununterbrochenen Familienstreitigkeiten ein Wahn ist: So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig, wie der andere verstehen mochte. (S. 12) wenn die Bücher nicht mehr als nur ein oberflächliches Zeichen prinzipieller psychosozialer Spannungen und Auseinandersetzungen darstellen würden. Diese anscheinend von den Büchern verursachte Problematik wird vom Erzähler zwar zuerst an Antons Eltern, dann an Anton selbst fixiert, der sich erniedrigt der Romanlektüre wie dem betäubenden Opium als bewußt durchgeführte, rachesüchtige Grenzüberschreitung hingeben wird452, doch versäumt der Erzähler zugleich nicht, den Leser immer wieder auf die gesamtgesellschaftliche Exemplarität der im AR skizzierten Konflikte aufmerksam zu machen453. In der Romanwelt des Quijote konnte die literarische Vorlage keine allgemein sozialen tragischen Konsequenzen zeitigen - also nicht entscheidend in die Lebenswelt eingreifen - , weil die Ritterbücher ja auf Exemplarität im Individuellen zielen: Der Ritter kann eine allgemeine Ausbreitung des Ritterwesens nicht gebrauchen, da er ja somit gleichzeitig die Funktionen seines Standes einbüßen würde; der Ritter ist auf asketische Exklusivität bedacht, 452

„Von seinen Lehrern sowohl als von seinen Mitschülern verachtet, und hintangesetzt - und wegen seines immerwährenden Mißmuts und menschenscheuen Wesens bei niemand beliebt, gab er sich gleichsam selber in Rücksicht der menschlichen Gesellschaft auf - und suchte sich nun vollends ganz in sich zurückzuziehen. Er ging zu einem Antiquarius und holte sich einen Roman, eine Komödie nach der andern, und fing nun mit einer Art von Wut an, zu lesen." S. 201.

453

Worauf Schrimpf energisch hinweist: „Es wäre aber grundfalsch, die komplizierte seelische Verfassung Moritzens vorwiegend individualpsychologisch zu verstehen. Er leidet auf extreme Weise an den gleichen Erfahrungen wie viele seiner Generationsgenossen, bedrängt von der politischen, sozialen und geistigen Situation der Zeit.", Karl Philipp Moritz, S. 5. Auch Spitzbart und seine Familie gehen in Schummeis Roman am Bücherwahn und 'Bildungsehrgeiz' zugrunde.

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und seine Welt gehört im strengen Sinne nicht zur Alltagswelt. Die Ritterbücher dienten der„evasiön", um ein spanisches aussagekräftiges Wort zu gebrauchen, das die Funktionen bestens auf den Punkt bringt, Unterhaltung und 'Flucht' zugleich. Die Ritterbücher setzen die Unzulänglichkeit der tatsächlichen Welt voraus, kümmern sich nicht um diese, sondern spinnen neue Welten, in denen die nie vollkommenen Tugenden und Laster des Menschen ihre Verabsolutierung durch einen vorübergehenden Konflikt im Zustand des Ungenügenden erreichen: dann erst leuchtet die Tugend in ihrem wahren Glanz, zeigt die Bosheit ihr unerbittlichstes Gesicht. Anders geartet ist jedoch die 'imitatio' oder der Versuch einer Übertragung des Buchstabens in das Leben, die Antons Vater vornimmt: Religion wird zur individuellen Behauptung instrumentalisiert, ein prophetisch-interpretatorischer Machtanspruch angestrebt, der sich letztlich nicht durchsetzen kann, weil es an Authentizität und an intellektueller und menschlicher Solidität mangelt. Der Erzähler legt die sich hinter den Büchern versteckenden 'niederen' menschlichen Wünsche und Absichten frei, die gerade dann besonders zum Vorschein kommen, wenn beharrlich auf einer Lehre insistiert wird, die gar nicht verstanden und schon gar nicht erschlossen worden ist noch werden kann, denn auch die Köpfe der Bewegung - Herr von Fleischbein, der Verwalter scheinen eher an Proselyten denn an überzeugten und kritischen Gläubigen interessiert. Die Macht der Bücher und des geschriebenen Wortes, die bei Cervantes dadurch relativiert wurde, daß sie einen einzelnen von sich aus schon komischen 'Kauz' traf, der - für Spanien und für die Zeit sicherlich kein häufiges Vorkommnis - trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht verheiratet ist und in dem sich ein kindlich-gutmütiges Gemüt mit einem ausgeprägten Scharfsinn für das Menschliche paart - und es ist auf diesem Gebiet, wo er dem „ingenioso" des Titels gerecht wird - , der, wie Sternes Yorick, kaum praktisch-pragmatischen Lebenssinn, also keine „Weltkenntnis" im Sinne Wolfgang Kaysers aufweist, und der noch dazu einer heruntergekommenen sozialen Schicht angehört, einen Mann also, von dem man sich von einer personellen und sozial geregelten und gesicherten Warte aus nach Belieben distanzieren und dem man sich auch wieder annähern kann, dringt bei Moritz schon in die durchschnittliche Familie ein und zerstört sie regel-

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recht. Was im Quijote, und erst recht in den künstlichen Romanen Neugebauers, Wielands etc., letztlich doch im Bereich des höchst Unwahrscheinlichen und damit in größerer Nähe zur literarischen Fiktion als zur reproduzierten oder abgebildeten Wirklichkeit liegt454, nämlich die Möglichkeit der Nacheiferung von Literatur im wirklichen Leben, wird im AR als aus dem Leben entnommene Tatsache angegeben. Und wenn sich auch der Quijote und der AR in diesem Punkt voneinander unterscheiden, so gleichen sie sich doch im Grundlegendsten: Das literarische Moment steht kaum in Beziehung zur Literatur - die selbst im Quijote als Vorwand dient - ist aber dagegen aufs innigste mit dem tatsächlichen Leben - der sozialgeschichtlichen Synchronie - verknüpft455. In diesem Sinn werden schließlich vom Erzähler im AR die sozialen bzw. zwischenmenschlichen Kausalzusammenhänge in ihrer selbstverständlichen Gültigkeit auch für die früheste Charakterentwicklung der Hauptfigur unterstrichen: Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. (S. 12)

454

So erklärt sich ja auch das Befremden aller, die mit Don Quijote zusammenstoßen.

455

Deshalb wird Don Quijote auch nicht Schriftsteller, sondern er überführt das Gelesene in die Realität, an der er sich nun zu reiben hat. Die Ritterromane werden dagegen in ihrer Konsistenz und Gültigkeit nicht hinterfragt oder angezweifelt. Zum sozialen Aspekt im AR merkt Bezold - der andererseits einen ausgeprägten Hang aufweist, Anton Reiser in die Verantwortung zu ziehen - an: „Das soziale Problem ist als bitterer Hintergrund allgegenwärtig. [...] Der kommentierende Erzähler hämmert dem Leser die Bedeutung der sozialen Umstände wieder und wieder ein." Bezold, Raimund: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Königshausen und Neumann, Würzburg 1984, S. 177.

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Somit ist der Erzähler im AR einer vierstufigen Erzählstruktur gefolgt: a) Zeit und Ort b) Gesellschaft c) Familie d) Individuum, die vom Allgemeinsten zum Konkretesten geht, um im Letzten schließlich zu verweilen. Die Wahl ist getroffen: Das Subjekt wird als Fokus, der seine Zeit beleuchtet, und Spiegel, in dem sich seine Zeit reflektiert, dienen. Ob es darüber hinaus auch als aktives Gesellschaftsmitglied seinen Platz findet, ist die Frage, die im AR vor dem Hintergrund der reformiert-religiös gefärbten 'Berufungsergründung'456 immer offen mitschwebt und die im Quijote von vornherein mit einem Nein entschieden zu sein scheint. Im deutschen Roman haben wir es mit einem 'reinen' Individuum zu tun, das aufgrund der sozialen Schicht, der es entstammt, es zwar schwer hat, bestimmte Positionen einzunehmen, in dem aber andererseits schon die Potentialität im Funktionellen deutlich wird457: 456

Berufung und Berufssinn in dem von Max Weber für die reformierten Glaubensbekenntnisse eruierten Sinn. Wie noch näher zu zeigen sein wird, ist die Biographie des AR eine Suche und eine Verweigerung zugleich.

457

Zum Begriff der „funktionalen Differenzierung" vgl. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Westdeutscher Verlag, Opladen 1987, besonders 2. Teil, „Politik". Funktionale Differenzierung geht für Luhmann einher mit einer scharfen Trennung von Staat und Gesellschaft, die wiederum auf eine effektiv eingetretene, gültige und akzeptierte „Differenz von Politik und Wirtschaft, von Gewalt und Eigentum" aufbaut (S. 68), deren unabdingbare Ausgangsvoraussetzungen für das Spanien um die Jahrhundertwende zum 17. Jahrhundert in vielfacher Weise, wie bei anderen europäischen Ländern und Staaten natürlich auch, entweder noch nicht eingetreten waren oder - und hier steht Spanien durchaus allein - schon ausprobiert und letztlich verworfen und verhindert worden waren, aber auch gescheitert waren (z. B. die Schaffung einer Nationalbank). Für das Jahrhundert des aufgeklärten Absolutismus läßt sich natürlich in keiner Weise von einer Trennung zwischen Staat und Gesellschaft sprechen; dies schließt nicht die Schaffung von Subsystemen, die einer eigenen Dynamik gehorchen, aus (Stichwort 'literarischer Markt').

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die durch Aufbrechung der Stände notwendig gewordene Suche nach Ersetzbarkeit, die sich nun nach Kapazität, die in der Suche selbst erprobt wird und die auch vielseitig sein kann, richtet. Im Quijote aber sehen wir noch Standeskategorien walten - „vivia un hidalgo"-, deren eine, die des Hidalgo, einen - mit vollem Bewußtsein wahrgenommenen - endgültig unteren und kaum austauschbaren Platz einnimmt. Hiernach stünden wir im Falle des Quijote vor der Schilderung einer unumkehrbaren Enttäuschung, im Falle des AR vor einer in die Zukunft gerichteten Rückbesinnung, vielleicht auch Abrechnung. Sowohl der Ausgang beider Romane wie auch der uns bekannte zurückgelegte Lebensweg beider Autoren - ihre Biographie - und ihr Alter zur Zeit der Niederschrift würden diese allgemeine Aussage stützen. Das ungelöste Problem Juan Haldudo, um ein einfaches Beispiel heranzuziehen, zeigt aber, daß, wenn auch der unzeitgemäße Hidalgo nicht die Lösung ist, doch wohl Lösungen benötigt werden und nach ihnen verlangt wird. Die Befreiung der für die Galeeren bestimmten Gefangenen durch Don Quijote, das positive Bild, das vom gesetzlosen Roque Guinart gezeichnet wird, können als Sympathiebekundung mit den außerhalb des Gesetzes Stehenden verstanden und in diesem Sinn als Gesellschaftskritik interpretiert werden458. Im Quijote läßt sich wohl Enttäuschung, vielleicht auch ein Hauch von Resignation feststellen, nicht aber, und dies in keinster Weise, Gleichgültigkeit. Umgekehrt findet sich im AR nicht die leiseste Andeutung einer Lösung, welche zur positiven Entspannung des Konfliktes zwischen einer Gesellschaft, in der das autoritäre/einschüchternde Wort - meistens zur Erhaltung des Status eingesetzt - sich roh über die Gefühlswelt des Einzelnen hinwegsetzt und damit die Oberhand behält und dem ehrgeizigen Individuum, das einen ausgezeichneten Platz in dieser hierarchisch heratischen Ordnung anstrebt und diese, sich ihr verweigernd, zur gleichen Zeit von Grund auf in Frage stellt, beitragen könnte459. Das offene Ende vom AR muß in dieser Hinsicht auch als Ratlosigkeit gedeutet werden. 458

Von Systemkritik zu sprechen wäre hier wohl überzogen.

459

Die Zweifel über die Wahrhaftigkeit der geschilderten gesellschaftlichen Zustände, die das subjektive Moment, das dem deutschen Roman notgedrungen innewohnt, beim heutigen Leser wecken könnte, heben sich bei Heranziehung moderner sozialgeschichtlicher Untersuchungen zur Zeit weitgehend auf.

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Da sich im AR schon auf den ersten Seiten sowohl Gesellschaft als auch Familie als völlig unzulänglich und die zwischenmenschlichen Beziehungen als vollkommen gestört oder nicht vorhanden erweisen, es für das sich nicht einfügende und anpassende Individuum nicht möglich und auch sinnlos wäre, eine Stufe zu umgehen, um sich entweder in die Familie oder in die Gesellschaft flüchten zu wollen, da ja die Kontinuität der Störungen durch das ganze soziale Geflecht bis hin zum wiederum betroffenen, aber auch 'angesteckten' Individuum hindurch gewährleistet ist460, entsteht ein geschlossenes Feld der negativen, sich selbst erhaltenden und ernährenden Potenz, das Reiser versucht, durch fünf verschiedene, zeitlich aufeinanderfolgende, z. T. sich gegenseitig ablösende oder vermischende Strategien aufzuheben:

460

1.

Die poetische Sublimierung der Wirklichkeit: Verklärung.

2.

Die Zuflucht in den Versuch der analytischen (Selbst-) Reflexion, die darauf hinzielt, Welt und Subjekt zum Betrachtungsgegenstand zu entvitalisieren: Vergeistigung.

3.

Die Natur, und präziser die Weite als Hort der Freiheit, aber auch der Zuflucht in die 'Rahmenlosigkeit': Isolation.

4.

Die Einsamkeit als eine trotzende und sich zur gleichen Zeit selbstbemitleidende Gebärde: Selbstmitleid.

5.

Der Entschluß, Macht und Ansehen zu erwerben, wozu der vorzeitige oder gleichzeitige 'Aufbau' von Stolz und das Bewußtsein, zu Höheren berufen zu

Und Don Quijote und Anton Reiser fallen ja nur als Ausnahme aus dem Rahmen, weil sie versuchen, sich diesem Zirkel zu entziehen.

231

sein, eine unabdingbare Notwendigkeit darstellt461: Führer tum. Alle fünf Strategien finden sich gebündelt auf den ersten Seiten des AR462. Der Ausgangspunkt oder 'Auslöser' aber - schenkt man

461

Die den Roman durchziehende Todessehnsucht - plus mißglücktem Selbstmordversuch - wird hier nicht gesondert aufgeführt, da sie ja im wirklichen Sinne keine 'Überlebensstrategie' darstellt, wenn auch die Beschäftigung mit dem Todesgedanken im AR eine kompensierende Funktion ausübt: Der Tod bleibt als letzte Zuflucht vor der Verzweiflung erhalten. Eine weitere, hier nicht berücksichtigte, doch in Betracht zu ziehende Möglichkeit ist die physische Flucht in andere Gefilde, z. B. nach Italien.

462

Es werden Textbelege angeführt: zu 1: „Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplätze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte." (S. 13) In der zeitweiligen späteren Beschäftigung des pubertären Reiser „mit den Vorstellungen von Raum und Zeit, von der höchsten vorstellenden Kraft, usw." (S. 254) fließt eine philosophisch verbrämte Todessehnsucht ein, die sich durch den geistigen Versuch, die Sprache abzulegen, andeutet; der Erzähler selbst gibt hierüber verschleiert Aufschluß: „Manchmal quälte er [Anton, A.P.] sich stundenlang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Worte zu denken. - Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf - da wurde ihm alles dunkel und öde - da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtsein, erschütterte seine Seele..." usw. (S. 254-255) Die Bedenklichkeit solcher philosophischen Versuche wird dadurch unterstrichen, daß sich - wie im AR durchgängig üblich - eine somatische Reaktion einstellt: „Er hatte von dieser Zeit an unaufhörliches Kopfweh, welches ein ganzes Jahr anhielt, so daß fast kein Tag und keine Stunde dazwischen ausfiel, wo er sich von diesem fortdaurenden Schmerz befreit gefühlt hätte.-" (S. 258) Zu 2: „Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sähe, von dem Kornfelde [...] mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken, und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus, die oft seine Phantasie sich ausmalt." (S. 13) Zu 3 und auch 4: „So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher, und besser, wie er, gekleidet waren, und nicht mit ihm umgehen wollten, und die es nicht waren, mit denen mochte er wieder, wegen ihrer Liederlichkeit, und auch vielleicht aus einem gewissen Stolz, keinen Umgang haben." (S. 14-15)

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dem Erzähler Glauben - bleibt konstant, u. zw. ein Mangel an menschlicher Wärme, an Beachtung und letztlich an Liebe. Von den fünf Selbsterhaltungsstrategien wird sich keine als endgültiges lebensbewältigendes und sehnsuchtserfullendes Rezept bewähren. Als Kontinuum bleibt der Wunsch erhalten, sich vor den Augen der Mitmenschen - und immer wieder vor den eigenen - zu behaupten, um aus der Fremdbestätigung Selbstbewußtsein und, schließlich, Selbstachtung zu schöpfen. Glaubte Don Quijote noch daran, daß ihm zwei Wege offenstanden, um aus der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit herauszufinden, so wird für den Leser doch offensichtlich, daß schon im noch 'kriegerischen' Spanien der Jahrhundertwende die „armas" die schlechtere Wahl gegenüber den „letras" darstellen463. Zu 5: „Überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein, oder in diesem Zirkel, bei seinem Vetter, dem Perückenmacher zu, wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister fuhren, und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte - denn hier wurde er gehört - hier konnte er vorlesen, deklamieren, erzählen und lehren [...]". (S. 210) Die Nähe dieser 'Auftritte' zu den „discursos" von Don Quijote ist deutlich. Zu jedem Punkt ließen sich die Textstellen nach Belieben vermehren. 463

Die Verkennung dieser Tatsache nährt das tragisch-utopische Moment im Quijote: „y muchas veces le vino deseo [a Don Quijote, A.P.] de tomar la pluma y dalle fin al pie de la letra [den Belianis-Roman, A.P.] como allí se promete; y sin duda alguna lo hiciera, y aun saliera con ello, si otros mayores y continuos pensamientos no se lo estorbaran" (I, 1,56), denn „Quítenme delante los que dijeren que las letras hacen ven.taja a las armas" (I, 37, 749-750), da es ja diese sind, die den Frieden sichern und, in ihrer klassisch-männlichen ehrenhaften Form, zu Ruhm verhelfen: „porque aunque a mí ningún peligro me pone miedo, todavía me pone recelo pensar si la pólvora y el estaño me han de quitar la ocasión de hacerme famoso y conocido por el valor de mi brazo y filos de mi espada, por todo lo descubierto de la tierra." (I, 38, 759-760) Hätte Don Quijote die „letras" gewählt, hätte er die Lebensgeschichte Cervantes' niedergeschrieben, die ja im Hintergrund - oft auch im Vordergrund - immer präsent ist. Dieses Recht stand aber Cervantes zu, der, glückloser Soldat, zwanzig Jahre nach seinen ersten Schreibversuchen erneut zur Feder greift, um als armer vereinsamter Schriftsteller vielleicht doch noch Eingang in den „Parnaso" zu finden: Dije entre mí: „Si yo viniere a verme en la difícil cumbre de este monte, y una guirnalda de laurel ponerme,

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Die progressive Durchdringung der Lebenswelt durch die Systemwelt seit dem 16. Jahrhundert findet ihren unmittelbaren Ausdruck in der immer größer werdenden Anzahl der Verordnungen, Rechtschriften usw., d. h. des geschriebenen anweisenden und verbindlichen Wortes. In 'Deutschland' war - wie zuerst aus der frühen Regelung von Lebensweltbereichen und deren schriftlichen Ausformulierungen in den Kirchenordonanzen und später aus den schulischen Drill-Übungsmethoden hervorgeht - die Form und das Formelle seit dem 16. Jahrhundert deutlich auf dem Vormarsch464. Diese Tendenz wurde durch die Zerstörung der Selbstverwaltungsorganisationen und die Schaffung der zentralen Konno envidiaría el bien decir de Aponte, ni del muerto Galarza la agudeza, en manos blando, en lengua Rodomonte." El Viaje al Parnaso, in Obras completas, Bd. 1, S. 73. 464

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Am 18.7.1529 schreibt Luther an den Markgrafen Georg von Brandenberg, daß er der Empfehlung Melanchtons folgen und eine Hohe Schule einrichten möge, „wo man nicht allein die heilige Schrift, sondern die Rechte und allerlei Künste lehrte, aus welchen Schulen man gelehrte Leute nehmen könnte zu Predigern, Pfarrhern, Schreibern, Räten usw. fiir das ganze Fürstentum [...] daß in allen Städten und Flecken gute Kinder-Schulen eingerichtet werden, aus welchen man nehmen könne und erwählen, die zur hohen Schule tüchtig sind, woraus man Männer für Land und Leute ziehen mag." Zitat aus Böhme, S. 62, A. 22. Böhmes Studie erhellt auf prägnante, anschauliche und präzise Weise, inwiefern das Aufkommen eines Bildungseifers mit der Etablierung und Konsolidierung einer nicht hinterfragten Gesellschaftsordnung einhergeht: Bacer und Melanchton versuchen, die Reformation in Köln durchzusetzen, und schreiben in diesem Sinne an der Erzbischof: „So wissen wir durch Gottes Gnade, daß ein jeder in seinem Beruf bleiben und darinnen treulich dienen soll und nicht ohne Beruf sich in andere Stände oder Regierung eindringe. Wir sind in Kirchen und Schulämtern und finden darin alle Hände voll zu schaffen und bitten Gott, daß wir nützlich darin arbeiten. Denn wir wissen, daß Gott in diesen Amtern vornehmlich Fleiß und Treue erfordert, der der Seele Seligkeit darauf steht." Zitat bei Böhme, S. 93-94. Zwischen den religiösen dogmatischen Fronten mußte das eirenische Toleranzangebot des alten Humanismus scheitern: „Von einer Bewegung der Empörung zugunsten der Menschen" - schreibt Böhme, S. 88 - „als welche der Humanismus seine ursprüngliche Kraft entwickelt, ist ein humanistisches Lehrgebäude zurückgeblieben, dessen Totalitätsanspruch die Säkularisierung nicht rückgängig machen kann - und wohl auch nicht mehr will."

trollinstanzen, ohne die der Kameralismus nicht auskam, im 17. Jahrhundert verstärkt. Überhaupt verband sich das dem Protestantismus innewohnende schriftlich-rationale Element aufs Beste mit der Verkomplizierung einer progressiv atomisierten465, ökonomisch-juristisch durchdrungenen und bestimmten, aber auch funktionalen466 und zur gleichen Zeit hierarchischen und das heißt disziplinierten Gesellschaft467. Als schließlich um die 1730er Jahre ein literarischer Markt zu entstehen begann, wurde Bildung - im 'technischen' Sinn als instrumentale Beherrschung verstanden definitiv zu einem an Wert steigendem Tauschgut, das sich für die nicht privilegierten Schichten zu einer - praktisch zur einzigen Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gestaltete. 465

Lütge, S. 367.

466

Gegenüber der nach Ständen geregelten Sozialordnung.

467

Zur Bürokratisierung allgemein weiterhin Max Weber, Abschnitt „Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung der bürokratischen Herrschaft" in Wirtschaft und Gesellschaft, S. 551-579 ([650-678]); die Bürokratisierung hat natürlich als Fortschrittszeichen, nicht aber unbedingt als Zeichen des Fortschritts zu gelten. Ansätze zu einer umfassenden Bürokratisierung können wohl im felipinischen Verwaltungsstaat im 17. Jahrhundert und in der Art der Beweisaufnahme und Gerichtsfiihrung der Inquisition, wie in der Kirche überhaupt, ausgemacht werden. Das irrationale Element, das den spanischen monarchischen Bestrebungen wie ja auch der Inquisition selber anhaftete, zusammen mit dem schon bekannten und allgemein verbreiteten Widerstand gegen Verordnungen, lassen die Bürokratisierung in Spanien sowohl in ihrer Wirkung als auch in ihrer zeitlichen Ausdehnung als ein im Vergleich zu den rationalistischen europäischen Strömungen merklich schwächeres Phänomen erscheinen. Weber schreibt (S. 578-579): „Die bürokratische Struktur ist überall spätes Entwicklungsprodukt. Je weiter wir in der Entwicklung zurückgehen, desto typischer wird für die Herrschaftsformen das Fehlen der Bürokratie und des Beamtentums überhaupt. Die Bürokratie ist „rationalen" Charakters: Regel, Zweck, Mittel, «sachliche» Unpersönlichkeit beherrschen ihr Gebaren. Ihre Entstehung und Ausbreitung hat daher überall in jenem besonderen, [...] Sinne «revolutionär» gewirkt, wie dies der Vormarsch des R a t i o n a l i s m u s überhaupt auf allen Gebieten zu tun pflegt. Sie vernichtete dabei Strukturformen der Herrschaft, welche einen, in diesem speziellen Sinn, rationalen Charakter nicht hatten." Es läßt sich also sagen, daß Bürokratie und Bürokratisierung im wirklichen Sinne, und alle mit ihr verbundenen Begleit- und Nebenerscheinungen, zu einer vornehmlich von Ratio und Systemwelt geregelten Gesellschaftsordnung gehören.

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Form und Zweck verselbständigen sich, stehen also vor den Inhalten, auch bei der Auswahl der ersten Lektüre für Anton: Im achten Jahre fing denn doch sein Vater an, ihn selber etwas lesen zu lehren, und kaufite ihm zu dem Ende zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren, und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt. (S. 15) Das Buch hat für den kleinen Anton eine doppelte Funktion: Zum einen und zuerst gewährt es Trost in der Einsamkeit, ist also Therapie, zum anderen verhilft es ihm zum ersten Erfolgserlebnis, indem es ihm einen Weg weist, ein wenig Achtung - wenn schon nicht Zuneigung - zu erlangen, die ihm sonst verwährt bliebe. Auch schien ihn dieses bei seinen Eltern, noch mehr aber bei seinen Anverwandten in einige Achtung zu setzen, welches von ihm zwar nicht unbemerkt blieb, aber doch nie die eigentliche Ursache ward, die ihn zum Fleiß anspornte. (S. 16) Das Lesen-Lernen und das Lesen-Können ist der erste, aufgrund der elterlichen Geringachtung des Kindes notgedrungen individuelle und auch gelungene Akt zukünftiger Emanzipationsbestrebungen vom Negativen, der aber als einziger sich anbietender und angepeilter Ausweg Gefahr läuft, sich zu verabsolutieren und als Kompensationsfunktion nicht mehr über sich hinaus zu gelangen: Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. (S. 16) Den Schluß, den Don Quijote auf seinem Sterbelager zieht, nämlich einem Trug im wahrsten Sinne erlegen zu sein, einem Trug, der nicht unbedingt darin bestanden hat, die Ritterbücher für bare Münze zu halten, sondern zu glauben, daß in der Welt die Ehrhaftigkeit, die Treue, diese - romantisch-jugendliche - Intensität der Gefühle, die die Welt verzaubert, walten und er somit noch

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Platz für seine Farce finden könnte468, den scheint der Erzähler im AR rückblickend gleich zu Anfang zu ziehen: So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können. (S. 16-17) Die positive Bewertung der tatsächlichen Welt bildet einen nur vermeintlichen Gegensatz zum Quijote, da sie sich ja auf die 'verzauberte', vom Verstellungs- und Verschleierungsapparat der Erwachsenen noch freie Kinderwelt - eine Art 'Goldenes Zeitalter' - bezieht. Die „Unnatürlichkeit", die den Papierwelten zugeschrieben wird, steht somit nicht im Kontrast zum Schein des Seins oder zum Sein im Schein, um dessen Wissen man von Weltkenntnis spricht, sondern zur Erhaltung der Lebensfreude, wofür Unmittelbarkeit und somit Authentizität benötigt wird469. Der Konflikt, in den der Erzähler sich und den Leser hinein manövriert, da er ja genau den gleichen Weg einschlägt, den er an den gelesenen Büchern kritisiert, indem er der „idealen" Welt die Vorstellung einer nicht minder „idealen", weil vermißten, da im Grunde nicht durchlebten Kinderwelt gegenüberstellt, hält sich da das Ideelle immer erhalten bleibt als Folie, vor der sich die Realität in ihrer Unzulänglichkeit abspielt - konstant. Somit wird die Aufgabe, die im Quijote den Ritterbüchern zufallt, im AR erstmal vom Erzähler übernommen. An den Papierwelten wird das ideelle 'Falsche' kritisiert, ohne den Begriff vom Ideellen überhaupt in Frage zu stellen. Die 'Desillusionierungsreise' im Quijote und die Spannung zwischen Aufbegehren und dem Wunsch, sich einzufügen, die den deutschen Roman durchzieht, sind möglich, weil die Vorstellung einer anderen, besseren Welt vom Protago468

Diesen schönen Schein zerstört der Erzähler noch einmal und definitiv am Ende des Romans, das uns einen ganz nüchternen Don Quijote beim mündlichen Aufsetzen seines Testaments zeigt: „Andaba la casa alborotada; pero con todo comía la sobrina, brindaba el ama y se regocijaba Sancho Panza, que esto del heredar algo borra o templa en el heredero la memoria de la pena que es razón que deje el muerto." (II, 74, 1039)

469

Das in der damaligen Zeit viel beachtete und behandelte Thema des Naiven und Sentimentalen wird somit erneut angerissen.

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nisten nicht aufgegeben und vom Erzähler nicht endgültig verworfen oder negiert wird. Schon auf den ersten Seiten des AR wird deutlich, daß der Weg, den der Erzähler mit dem Leser zurücklegt, sich dem, auf dem der Protagonist schreitet, abwechselnd nähert und wieder von ihm entfernt - eine Wanderung zwischen Utopie und Wirklichkeit. Die frommen Märtyrergeschichten, die Antons erste Lektüre ausmachen, sind grausam, denn sie handeln von Tod und Qual, doch auch „idealisch", weil ihre Protagonisten als selbstlose Helden dargestellt werden, die für ihren Glauben bereit sind zu sterben - auch sie sind auf ihre Art „Ritter" in einer noch religiösen Welt. Der Schritt zum Sonderling scheint hiermit gemacht worden zu sein, denn von nun an wird sich Anton - wie sein spanischer Vorgänger und nicht erwähnter Lehrmeister - mehr in der Welt seiner Phantasie als in der tatsächlichen - die ihm jede Geborgenheit verweigert - zu Hause fühlen. Wir stehen somit sowohl im spanischen als auch im deutschen Roman vor zwei Ausgestoßenen aus einer Gemeinschaft, auf die die Protagonisten gleichermaßen und doch zeit- und landesgemäß, i. e. vor einem sozialgeschichtlichen und kulturellen Hintergrund der Nationen, der natürlich auch europäisch ist, insofern er übergeordneten religiösen, sozialen und politischen Konflikten entspringt, reagieren: Im ersten Fall rebelliert Don Quijote gegen die absolute Gleichschaltung und - wenn man so will - Plattheit der Existenz470, im zweiten Fall wehrt sich Anton durch 'exzentrische', das heißt Aufmerksamkeit heischende Handlungen gegen die 'Entgesellschafitung', gegen die Entwertung der menschlichen Beziehungen und des Menschen im allgemeinen. Hier wie dort liegt eine Rückforderung des Individuums vor, das bei Cervantes sein Wesentliches im Ganzen, im deutschen Roman im Fragmentarischen verloren sieht: und zwar den Anspruch auf wahre, authentische Individualität in einer wahren, authentischen Gemeinschaft. Die Reaktion ist Suche und Flucht zugleich, eine Reaktion, die sich in der Tat der Reise konkretisiert und somit zum erneuten Aufblühen des Motivs im 18. Jahrhundert

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Auch Sancho zieht hinaus, um emporzukommen (vgl. II, 5, wo Sancho seine Ansprüche vor seiner Frau zu rechtfertigen sucht).

beiträgt471. Man wird an Don Quijote in der „Peña Pobre" erinnert, wenn im AR, wo schon der Name des Protagonisten auf das Reisemotiv hinweist, zu lesen ist: Die Altväter, so abgeschmackt und abenteuerlich oft ihre Geschichte sein mochte, waren für Anton die würdigsten Muster zur Nachahmung, und er kannte eine Zeitlang keinen höhern Wunsch, als seinem großen Namensgenossen, dem heiligen Antonius, ähnlich zu werden, und wie dieser Vater und Mutter zu verlassen und in eine Wüste zu fliehen, die er nicht weit vom Tore zu finden hoffte, und wohin er einmal wirklich eine Reise antrat, indem er sich über hundert Schritte weit von der Wohnung seiner Eltern entfernte, und vielleicht noch weiter gegangen wäre, wenn die Schmerzen an seinem Fuße ihn nicht genötiget hätten, 471

Man denke an Defoes Crusoe, an das Hinausziehen und Umherirren von Tom Jones, an Voltaires Candide, an Münchhausens Abenteuer usw. In Deutschland reicht allein der Hinweis auf die Nachahmungen des Quijote, um das Motiv Reise als ein literarisches Phänomen des Jahrhunderts auszuweisen (so z. B.: Johann Timotheus Hermes: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, Schaffhausen 1769-1773; J. K. A. Musäus: Physiognomische Reisen, Altenburg 1781; A. von Göchhausen: Freimaurerische Wanderungen des weisen Junkers Don Quixote von Mancha und des grossen Schildknappen, Herren Sancho Pansa; eine Jahrmarktsposse. Deutschland ohne Erlaubnis der Oberen, (ohne Ortsangabe) 1787; Theodor Gottlieb Hippel: Kreuz und Querzüge des Ritters A bis Z, (ohne Ortsangabe) 1793-1794; Adolf von Knigge: Reise nach Fritzlar, (ohne Ortsangabe) 1794; A. Freiherr von Knigge: Die Reise nach Braunschweig, (ohne Ortsangabe) 1802, usw.). Daß auch dieses Motiv in Deutschland ein wohl eher nachgeahmtes und sehnsuchterfülltes denn ein dem Leben abgeschautes Faktum darstellt, geht schon aus Jean Pauls geflügeltem Wort hervor, daß man in Deutschland nicht in die Welt hinausziehe, sondern höchstens spazierengehe. Die kleinbürgerliche Welt bleibt auch noch im „Reiseromanfieber", das sich v. a. mit Sternes Sentimental Journey ausbreitete, erhalten: „Titel wie Empfindsame Reise nach Schiida, Empfindsame Reise von Oldenburg nach Bremen oder Meine Reise vom Städtchen H. zum Dörfchen H2 zum Trotz stellen Werke dieser Art sehr oft keineswegs echte Reiseberichte dar, sondern bedienen sich dieser Form nur noch als Aufhänger und reißerische Anpreisung und sind in Wirklichkeit sogenannte «empfindsame» Betrachtungen, denen man sich überall mit Inbrunst hingab." Allerdissen, Rolf: „Der Empfindsame Roman des 18. Jahrhunderts", in: Koopmann, Helmut (Hg.): Handbuch des deutschen Romans, Schwam-Bagel, Düsseldorf 1983, S. 184-203, Zitat S. 184.

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wieder zurückzukehren. Auch fing er wirklich zuweilen an, sich mit Nadeln zu pricken, und sonst zu peinigen, um dadurch den heiligen Altvätern einigermaßen ähnlich zu werden, da es ihm ohnedem an Schmerzen nicht fehlte.472 (S. 18-19) In diesem von masochistischen Vorstellungen durchdrungenen Absatz, in dem die 'Eingriffe' des Erzählers deutlich hervortreten473, wird aber auch schon ein wesentlicher Unterschied zwischen dem alten Hidalgo und dem jungen Reiser deutlich: Während Don Quijote noch auf ein positives Handeln setzt und glaubt, „fama y honra" durch Ausübung der alten Rittertugenden erwerben zu können: „no quiso aguardar más tiempo a poner en efeto su pensamiento, apretándole a ello la falta que él pensaba que hacía en el mundo su tardanza, según eran los agravios que pensaba deshacer, tuertos que enderezar, sinrazones que emendar, y abusos que mejorar, y deudas que satisfacer" (I, 2, 68), sieht sich Reiser gar nicht in der Lage, menschenfreundliche Gedanken zu entwikkeln, so daß sein eindeutiges und eingestandenes Ziel der Erwerb von Macht und Ruhm sein wird, ohne daß er einen Gedanken an die soziale Notwendigkeit und positive Auswirkung seines Strebens und Handelns verschwendete474. Es ist ein Verlangen nach Anerkennung, das nach Sättigung zuerst in der einsamen Machtausübung über fiktive Heere sucht und das in bedenklicher und 472

Das Motiv kehrt in reflektierter Weise wieder: „und so stellte er mit seinen Brüdern in einem Bezirk von wenigen hundert Schritten, oft viele meilenweite Reisen an - er verlor sich und verirrte sich mit ihnen in Wäldern, erstieg hohe Klippen, und kam auf unbewohnte Inseln, kurz, er realisierte sich mit ihnen, seine ganze idealische Romanwelt, so gut er konnte. - " (S. 108)

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Es wird nicht nur rückblickend erzählt, sondern auch erklärt, und das bedeutet: interpretiert. Lassen sich die ersten zwei Adjektive dieses Absatzes mit Mühe noch als Bezeichung einer nicht bewußt empfundenen Wirkung auf Anton verstehen, so stammt das Verb „fliehen" („in eine Wüste zu fliehen") und der letzte Satz - „da es ihm doch ohnedem an Schmerzen nicht fehlte" - eindeutig vom Erzähler, ist von ihm sozusagen unter dem Vorwand, zum besseren Verständnis beitragen zu wollen, hinzugefügt worden.

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Dies ist ein Begleitphänomen der Säkularisierung des in seinem Ursprung religiös bestimmten Heilsversicherungs- und Berufungsgedankens, das Aufmerksamkeit verdient.

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unmittelbarer Nähe zu Verwüstung, Zerstörung und Tod steht. Der abwechselnd Unbeachtete oder Geschundene, der Ungeliebte hebt sich über den Menschen hinaus und wird zum Helden, mehr noch, zum strafenden Gott, der an seinen Kreaturen fürchterliche Rache übt. Aus einem Nichts wird ein Alles, und da, wo Zutrauen und Wärme walten sollten, steht nun der Haß, der an der Verzweiflung des 'Verlassen-Seins' emporsteigt475. Die Bilder, die Reiser im Kopf vorschweben, nehmen so manch europäisches Desaster späterer Jahrhunderte vorweg: Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung, und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte 475

„Die Erhöhung des Selbst zur omnipotenten Größe bedeutet einmal die absolute Entschädigung für seine in der Wirklichkeit erfahrene Ohnmacht, Unbedeutendheit und soziale Nicht-Existenz; wenn die absolute Tiefe in ihrer vollständigen Kompensation nur die absolute Höhe zuläßt, so ist sie hier gegeben. Zum anderen wird die metaphysische Verlängerung der sozialen Nicht-Existenz, das Nichts und dessen Instrument der 'blinde Zufall' in dieser Entschädigung fiktional außer Kraft gesetzt: der absolut Verfugende ist vor jedem Zufall gefeit, denn er ist selbst der Zufall; nichts anderes kann die nichtige Existenz, die sich ausschließlich als Opfer des 'blinden Zufalls' versteht, so vollkommen von ihrem Schicksal erlösen als die fiktionale Identifikation mit dem Schicksal selbst. «Wo es keine Möglichkeit gab» - zitiert Allkemper Catholy - «neben der Allmacht Gottes zu bestehen, blieb nur die Wahl, entweder zu verjöschen oder sich selbst zu Gott zu machen»." Allkemper, Alo: Ästhetische Lösungen: Studien zu K. Ph. Moritz, Wilhelm Fink, München 1990, S. 151. Die Bedrohung geht nicht von der Allmacht Gottes, sondern vom sozialen - nicht unbedingt religiös bestimmten - Bewährungs-, eher Anpassungssdruck aus. In der im AR dargestellten religiösen Glaubensrichtung paart sich ja die Allmacht Gottes mit der Verachtung des Menschlichen. Allkemper läßt hier außer acht, daß sehr wohl auf die Ursprünge oder Gründe fiir diese „nichtige Existenz" hingewiesen wird; AR muß Kompensation in der Ausübung des „blinden Zufalls" suchen, weil ihm ja jeder andere tatsächliche, d. h. auf seine Mitmenschen zielende Akt nicht möglich ist: Er hat keine Machtsphäre. Fürnkäs' Interpretation von Antons Zerstörungswut bleibt zu sehr im Literarischen der Homerischen Welt befangen, denn Literatur ist ja wie Fürnkäs selbst hervorhebt - bei Anton immer Ersatz, hat also Ursprung und Funktion. Vgl. Fürnkäs, S. 90 f.

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er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf. Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen. [...] Als er von P[yrmont] wieder nach Hause gereist war, schnitzte er sich alle Helden aus dem Telemach von Papier, bemalte sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer, und ließ sie einige Tage lang in Schlachtordnung stehen, bis er endlich ihr Schicksal entschied, und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm, jenem den Schädel zerspaltete, und rund um sich her nichts als Tod und Verderben sähe. [...] Das allergrößte Vergnügen machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen, und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte. (S. 28-29)476 Die unter dem Begriff Führertum zusammengefaßte fünfte Bewältigunsgstrategie trifft partiell auch auf das Theaterwesen zu: Nicht nur sich genügende kompensatorische Aufmerksamkeit und Beachtung, sondern Macht und Erhabenheit, die er als höchste soziale, sich gegenseitig ernährende Werte zu erkennen gelernt hat, erhofft sich der angehende Schauspieler Anton von der Schaubühne.

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An Jean Paul schreibt Moritz rückblickend: „Da wir nicht Schöpfer werden konnten, um Gott gleich zu sein, wurden wir Zernichter; wir schufen rückwärts, da wir nicht vorwärts schaffen konnten. Wir schufen uns eine Welt der Zerstörung, und betrachteten nun in der Geschichte, im Trauerspiel und in Gedichten unser Werk mit Wohlgefallen." Zitat nach Minder, Robert: Glaube, Skepsis und Rationalismus, S. 151.

Er spielte nun im Mann nach der Uhr, worin I[ffland] den Mann nach der Uhr machte, die Rolle des Magister Blasius mit allem Beifall. - Aber dies war nicht der rechte Beifall, den er sich gewünscht hatte. - Er wollte nicht zum Lachen reizen, sondern durch sein Spiel die Seele erschüttern. - (S. 363) Die durchaus 'erschütterte Seele' Reiser will somit das, dem sie selbst ausgesetzt worden war und noch ist, auf die Bühne projizieren und an die Zuschauer weitergeben. Dem Drang, sich auf 'den Brettern, die die Welt bedeuten', zu erfahren und zu behaupten, liegt somit auch eine 'Entladungsstrategie' zugrunde477. Wenn auch Don Quijote und Anton Reiser eine Welt der Sehnsüchte teilen, lassen doch der spanische und der deutsche Roman ihre Protagonisten unter verschiedenen Bedingungen agieren, u. zw. mit und ohne Netz. Denn da, wo sich Don Quijote an seinen Mitmenschen reibt, von ihnen zurückgewiesen oder aufgefangen wird, da bleibt Anton vorerst nur die Einsamkeit: Antons dreimonatlicher Aufenthalt in Pfyrmont] war ihm in vieler Rücksicht sehr vorteilhaft, weil er fast immer sich selbst überlassen war, und das Glück hatte, diese kurze Zeit wieder von seinen Eltern entfernt zu sein [...] (S. 3031) Diese tief empfundene, weil z. T. gezwungenermaßen herbeigesehnte frühe Einsamkeit wird sich, trotz einer ersten kurzlebigen Freundschaft, die Anton Reiser mit einem - bezeichnenderweise Engländer schließt, einem Mann also aus dem Land der 'Freiheit'

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Von der Reiser zuerst als Zuschauer Gebrauch macht: „Das war wieder the Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte. Dies ging so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten, als z. B. bei der Jagd, mehr weinte, als lachte." (S. 221)

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und des 'Dialogs'478, zu einer wiederkehrenden lebensbestimmenden Erfahrung und Sehnsucht entwickeln479. Diese erste, nicht weit ausholende Gegenüberstellung zwischen beiden Romanen dürfte gezeigt haben, daß die Protagonisten zwar eine innere Welt teilen, in die sie die Bedrohung der Vernichtung und Abtötung zurückgedrängt hat, jedoch im Falle Don Quijotes ein Ausbruch aus einer im Prinzip nicht explizit problematisch dargestellten Gemeinschaft erfolgt, während im AR zuerst überhaupt keine oder höchstens eine sehr defizitäre Gemeinschaft soziale und familiäre - gegeben ist480. Dies bedingt auch, daß bei 478

„O lieber Freund," - beschreibt Moritz den Covent Garden - „wenn man hier siehet, wie der geringste Karrenschieber an dem was vorgeht seine Teilnehmung bezeigt, (...) wie ein jeder sein Gefühl zu erkennen gibt, daß er auch ein Mensch und ein Engländer sei, so gut wie sein König und sein Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu Mute, als wenn wir bei uns in Berlin die Soldaten exerzieren sehen." Zitat nach Grams, Wolfgang: Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklärung und Romantik, Westdeutscher Verlag, Opladen 1992, S. 171.

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Vgl. S. 272, 276,282.

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Grundlegend zur Bestimmung der Gemeinschaft ist das Vorhandensein oder nicht eines 'Zusammengehörigkeitsgefühls', das eine Empfindung - nicht ein rationelles Moment - darstellt, die sich wohl in einem historisch langwierigen Prozeß entwickeln mag und deren Vorhandensein - oder nicht - nicht von der Änderung dieser oder jener Gegebenheiten abhängen kann, wie Woesler es in seinem schon erwähnten Artikel anzudeuten scheint: „Die Mobilität der Gebildeten wurde größer, de facto breitete sich unter den Deutschsprechenden ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl aus: zunehmend bildete z. B. der Kleinstaat auf seiner Landesanstalt nicht mehr höhere Beamte für den eigenen Bedarf aus, sondern Juristen konnten z. B. in verschiedenen deutschsprachigen Territorien Beamte werden". (S. 719) Folgt man dieser Argumentation, wird sogar das Zusammengehörigkeitsgefühl institutionalisiert. Woesler schreibt noch: „Der wohl wichtigste Faktor für das wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl war aber das Schrifttum der Zeit." (S. 719) Hier werden Marktentwicklungen mit geistiggefühlsmäßigen Strömungen verwechselt. Im völligen Gegensatz hierzu vgl. Haferkorn, Zur Entstehung der bürgerlich literarischen Intelligenz, S. 151, der über Goethes Scheitern, mit dem Götz Gemeinschaft zu stiften, d.h. ein „Bündnis zwischen bürgerlich fühlendem, adeligem Volksheld und dem plebejischen und aufrührerisch agierendem Volk" (Hafernkorn) zu schließen, Fritz Martini zitierend auf die Atomisierung der Gesellschaft hinweist: „...die

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gleicher Charakterstruktur im oben angeführten Sinn die Reibung Individuum - Gesellschaft einerseits konstant zwischen den Polen Aufbegehren - Anpassung schwankt, andererseits die Gewichtung in beiden Romanen notwendigerweise anders gelagert sein muß, da die beschriebenen sozio-geschichtlichen Aspekte zum Tragen kommen, die dort eine Nivellierung fördern und hier eher Individualisierung bedingen, so daß AR - will er denn (seelisch) überleben - von Kindheit an dazu verurteilt ist, zu versuchen, so schnell wie möglich sein Ich zu setzen, um es als Waffe gegen eine von vornherein feindlich empfundene Umwelt zu gebrauchen. Somit tritt eine defensive Entzweiung oder Spaltung der Persönlichkeit auf - welche natürlich zur gleichen Zeit eine partielle Selbstverneinung darstellt - , die Reiser versucht, durch Selbstmord zu verhindern. Von einer mehr gefühlsgeleiteten mitleidigen als die Gefahren der Unberechenbarkeit kalkulierenden Warte aus bestätigen die kalten egoistischen und/oder fanatischen Reaktionen der Figuren, die ihn umgeben, nicht nur noch einmal die Gründe, die Anton zu dieser Tat geführt haben, sondern sie zeigen auch erneut, daß die reelle Welt der Papierwelt in ihrer sehr zweifelhaften nun negativen - Wahrscheinlichkeit kaum in etwas nachsteht481:

gesellschaftliche Wirklichkeit, die das Stück widerspiegelt und durch das Geschichtliche hindurch zur gesellschaftspolitischen Krise des 18. Jahrhunderts transparent macht, als ein «Zustand der Zersplitterungen, der Vereinzelungen [erscheint, Haferkorn], in dem jeder gegen jeden steht und in dem nur isloierte [sie!, A.P.] Zellen der humanen Gemeinsamkeit bleiben»." Der Kontrast zwischen der Beziehung Autor - Gemeinschaft, die in den Werken Aristophanes' zum Tragen kommt und derjenigen, die im deutschen 18. Jahrhundert bestimmend bleibt, tritt prägnant in den bekannten Empfehlungen Goethes, der in seiner zweiten Fassung des Götz sozialkritische Momente streicht, an F. W. Gotter zutage: „...Und bring, da hast Du meinen Dank,/ mich vor die Weiblein ohne Gestank./ Mußt alle garstgen Worte lindem,/ aus Scheißkerl Schurken, aus Arsch mach Hintern,/ Und gleich das alles so fortan,/ Wie Du's wohl ehmals schon getan...." (Zitat nach Haferkorn, S. 151). 481

Hier ist natürlich auch auf die von Max Weber erforschte Angst der Reformierten, sich der Menschenverherrlichung schuldig zu machen, hinzuweisen, die notgedrungen zu einer Distanz jeglichen v. a. nicht kalkulierbaren Gefühlsregungen gegenüber führen mußte. Die Steigerung des Gefiihlsausdruckes verläuft wohl proportional zur Angstintensität, da nicht die Fähigkeit vorhanden ist, sich auf menschliche Schwächen einzulassen und mit ihnen umzugehen.

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das ganze Haus lief zusammen, und Anton wurde von dem Augenblick an, als ein gefahrlicher Mensch betrachtet, den man, so bald, wie möglich, aus dem Hause fortschaffen müsse. - L[obenstein] schrieb den Vorfall sogleich an Antons Vater, und dieser kam vierzehn Tage darauf mit unmutsvoller Seele, nach B[raunschweig], um seinen mißratenen Sohn, in dessen Herzen sich, nach dem Urteil des Herrn v. F[leischbein], der Satan einen unzerstörbaren Tempel aufgebauet hatte, nach H[annover] wieder abzuholen. [...] Das Herz seines Vaters war gegen ihn kalt und verschlossen; denn dieser betrachtete ihn völlig mit den Augen des Hutmacher L[obenstein], und des Herrn von F[leischbein], als einen in dessen Herzen der Satan einmal seinen Tempel errichtet habe (...) (S. 103,104) Somit wird das Subjekt vorerst nicht für die Gesellschaft, die ihn in den Solipsismus getrieben hat und die des Mitgefühls - so wie es die cervantinischen Helden noch erleben konnten482 - entbehrt, sondern nur für sich selbst zu einer Gefahr483. Reisers Selbstmordversuch sagt zweierlei aus: auf ihn bezogen, daß er nur sehr bedingt ansteckungs- und anpassungsfähig ist und daß sein Egoismus nicht zur Abstumpfung ausreicht, obwohl er die ihm vorgegaukelte Religiosität längst als heuchlerisch, ökonomisch bestimmt und menschenfeindlich durchschaut hat484. Sein 482

„Y la compasiva de Maritornes, viéndole [a Sancho, A.P.] tan fatigado, le pareció ser bien socorrelle con un jarro de agua, y así, se lo trajo del pozo, por ser más frío." (I, 17, 337)

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Daß aber auch für die Gesellschaft eine zumindest potentielle Gefahr besteht, zeigen die kindlichen-gewalttätigen Spiele Antons. In diesem Zusammenhang schreibt Allkemper: „Reisers hypertropher Egoismus ist gesellschaftlich vermittelt, er ist aber unfähig, sich den gesellschaftlichen Zwängen der Selbsterhaltung von Ich und Ich-Identität zu unterwerfen, sein Egoismus, obwohl gesellschaftlich entsprungen, wird, weil bis ins Extrem verfolgt, der Gesellschaft schon wieder gefährlich." (S. 158-159)

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„Die Nutzanwendung lief denn immer, politisch genug, darauf hinaus, daß er [Lobenstein, A.P.] seine Leute zum Eifer und zur Treue - in seinem Dienste ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten." (S. 62-63)

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Hilferuf muß ungehört bleiben, weil er nicht Symptom einer „kranken Seele", sondern einer kranken Gesellschaft ist, die starre, aber überschaubare und v. a. voraussehbare Gesellschaftsstrukturen absolut setzt - und mit ihnen Begriffe wie Ruhe, Ordnung, Arbeitsamkeit485. Hierin macht sich die seit dem 16. Jahrhundert fortschreitende Aufgabe humanistischer Werte bemerkbar, denn die Begriffe scheinen endgültig über Geist und Gefühl, die Form über die Inhalte gesiegt zu haben. Das fremde, störende Element ist das haltlose, weil zu 'menschliche', dem Rigorismus einer 485

Das beste Beispiel hierfür liefern wohl der Oboist Ffilter] und seine Frau, die Reiser neun Monate - ob diese Zahl einen symbolischen Wert hat, mag dahingestellt sein - bei sich aufnehmen: „Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo stattfinden kann. [...] Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innre Zufriedenheit, die größtenteils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte. [...] Anton merkte dies bald, und der Gedanke, lästig zu sein, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich oft kaum zu husten getrauete, wenn er an den Blicken seiner Wohltäter sähe, daß er ihnen im Grunde zur Last war." (S. 135-136) Die Ordnungshuldigung kennt nichts von den physiologischen Bedürfnissen des heranwachsenden Anton, denn die Disziplinierung des Körpers steht im Dienste der Nobilitierung des Geistes: „Reiser hatte damals, da er in seinem vollen Wachstum war, würklich sehr guten Appetit, allein mit Zittern steckte er jeden Bissen in den Mund, wenn er dergleichen Anspielungen hörte. Bei der Frau F[ilter] geschähe es nun wirklich nicht sowohl aus Geiz oder Neid, daß sie dergleichen Anspielungen machte, sondern aus dem feinen Gefühl von Ordnung, welches dadurch beleidiget wurde, wenn jemand, ihrer Meinung nach, zu viel aß. - " (S. 144) Es kommt nicht deutlich zum Ausdruck, ob sich hinter dem „feinen Gefühl" eine gleichwohl 'feine' Ironie des Erzählers verbirgt; im Falle Lfobensteins] aber können keine Zweifel über die rein ökonomische Natur seiner strengen Lebensmittelhaushaltung aufkommen: „Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten - und er machte ein Kreuz über das Brot und die Butter, wenn er ausging." (S. 63) Die Butter - ein wahrlich deutsches Lebensmittel wird so quasi zu einem Prüfstein, an dem man sich zu bewähren hat und seine Portion Macht mißt: „Dieser Mann [Antons Klavierlehrer, A.P.] mußte denn auch oft bei Herrn Lfobenstein] speisen, verdarb es aber am Ende dadurch, daß er sich zu viel Butter auf das Brot schmierte; auf diesen Umstand machte die Haushälterin Herrn L[obenstein] aufmerksam, um dadurch ihren Zweck zu erreichen, dem Klavierspielen Antons ein Ende zu machen, damit er nicht mehr über die andern Hausgenossen erhoben wäre." (S. 69)

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'entfuhlten' Gesellschaft nicht gewachsene Subjekt486. Die Usurpation kann nur vonstatten gehen, weil erstens Form und Macht aufeinander aufbauen, sich gegenseitig stützen und schließlich ineinandergehen und weil zweitens ein gesellschaftliches Einverständnis über Nicht-Mitteilung, Beschränkung und Vorenthaltung der Affekte vorherrscht487. Der Aufstieg und schließlich Sieg des Erhabenen aber wird nur möglich, weil in den Jahrhunderten zuvor die dem Schein feindlichste Kraft niedergedrückt worden ist: der Humor, der Sancho, Don Quijote und selbst die Duques davor bewahrt, zu unmündigen 'Jüngern' des Priesters herabgesetzt zu werden, Humor, der dem gottesfurchtigen Robinson Crusoe und Pamela völlig fehlt, sich aber reichlich in Fieldings Romanen und Sternes Texten - und mehr beim Erzähler als bei den Protagonisten selbst - finden läßt. Reisers Gang durch die deutschen Lande erhellt in dieser Hinsicht nicht nur ein gutes Stück deutscher, sondern auch europäischer Kultur- und somit Sozialgeschichte. Humor aber ist ein 'geselliger' Begriff. Ironie kann sich selbst genügen, kann zu bitterer Selbstironie, zu selbstgerechter Ironie der Abgeschiedenheit werden. Humor nicht: Er geht davon aus, 486

Reiser und Don Quijote tragen bis zuletzt eine menschliche (gefühlsmäßige, seelische), räumlich und zeitlich bestimmte Unordnung in sich: Gegen Ende des Romans verfällt Reiser der vermeintlichen Tiefgründigkeit des deutschen Idealismus, die sich zuerst im Versuch ausdrückt, das Chaos zu beschreiben, „wo sein Innres selber ein Chaos war, in welchem der Strahl des ruhigens Denkens nicht leuchtete, wo die Kräfte der Seele ihr Gleichgewicht verloren, und das Gemüt sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit. Und alle diese Erscheinungen gründeten sich gewissermaßen wieder in dem Idealismus, wozu er sich schon natürlich neigte, und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in H[annover] studierte sich noch mehr bestärkt fand." (S. 483)

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„Reiser potenziert nur das, was gesellschaftlich ohnehin herrscht. Das gesellschaftliche Leben mit seinen durchhierarchisierten Standes- und Höflichkeitsformen verbietet jede Unmittelbarkeit, 'wahres Gefühl' und direkte Spontaneität [sie! A.P.] Die Regelung der Affekte, die Disziplinierung der Triebe, die gesellschaftliche und individuelle Selbsterhaltung setzt den Schein Uber das Sein. Auf diese Konventionalisierung des Lebens im Schein reagiert Reiser ebenfalls mit Schein, nur rigoroser." Allkemper, S. 164.

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daß sich die Dialogpartner - hierin hat Wolfgang Kayser recht über die Unzulänglichkeit des Menschen, der Natur, der Welt einig sind488. Das Einverständnis im Humor setzt voraus, daß begriffen und akzeptiert wird, daß sich die 'Welt' aus einströmiger Quelle des Lebens und des Todes, des Erhabenen und des Lächerlichen, des Würdevollen und des Komischen speist. Aus dem Dialog - mehr als aus der Spannung - zwischen den sich ergänzenden Gegensätzlichkeiten wächst das freie Wort, daß frei ist, weil es kein Absolutes - außer der Verneinung des Absoluten, also seine eigene Freiheit - zu rechtfertigen hat. Dieses Wort braucht - seinem Ursprung gemäß - den Anderen, das Gegenüber, um zu entstehen und sich behaupten zu können. Das Problem, das hiermit angerissen ist, läßt sich mit dem Begriff der - vermißten Gemeinschaft fassen489. Der Versuch Reisers, eine Gemeinschaft zu finden, ohne daß er jemals eine gekannt noch zu einer gehört hätte490, aber an deren 488

Im AR findet sich eine in dieser Hinsicht bezeichnende Stelle: „Der Rektor, der Konrektor, der Kantor, und ein paar Kandidaten der Theologie, fuhren auf einem Wagen mit Extrapost, wo Reiser auch ein Plätzchen erhielt. - Nun hörte er, diese ehrwürdigen Männer, die durch das Aneinanderschließen, welches gemeiniglich bei einer kleinen Reisegesellschaft stattzufinden pflegt, vertraulich gemacht waren, sehr lebhaft miteinander scherzen; und dies tat eine ganz besondere Wirkung auf Reisern. - Der Nimbus um ihre Köpfe verschwand allmählich, und er sähe an ihnen zum ersten Male Menschen, wie andre Menschen sind. - Denn noch nie hatte er eine Gesellschaft von Schwarzröcken zusammen gesehen, die sich ohne Zwang miteinander besprachen, und alle das steife zeremonienmäßige Wesen, was ihnen sonst von ihrem Stande anklebt, auf eine Zeitlang gegeneinander ablegten." (S. 191)

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Ein wahrlich deutsches Problem, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den fünfzehn Jahren Weimarer Republik zu einer gewaltsamen - Lösung drängen wird.

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Der Erzähler selbst spricht in einer Art von erlebter Rede die wiederholten Enttäuschungen Reisers in dieser Hinsicht aus: „Übrigens bekümmerte man sich doch im Hause [des Herrn von F.(leischbein), A.P.] lange nicht so viel um ihn, wie er erwartet hatte", S. 24; „Das war ihm unmöglich zu glauben, daß er immer so, wie jetzt, würde verkannt, und vernachlässiget werden", S. 84. Ich schreibe hier gegen Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus, der m. E. eine unzulässige Reduktion auf das Ich Reisers vornimmt, da

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Existenz er glauben muß, weil er ja erstens 'Gemeinschaften' vor sich sieht - religiöse, zwischen Altersgenossen und er zweitens den - nicht reflektierten - Drang nach Aufnahme und Geborgenheit verspürt, wird sich zu einer, vielleicht zur ersten überhaupt in der Geschichte der abendländlischen Literatur, Entdeckungs- und Entlarvungsreise des seine seelischen Wunden offen zur Schau tragenden Individuums durch eine schon funktionale, aber noch nicht vollständig säkularisierte Gesellschaft gestalten, d. h. durch eine Gesellschaft, die dermaßen von der Systemwelt durchdrungen ist, daß sie kaum noch fähig ist, entsprechende Gewichtungen festund durchzusetzen, welche der Form gegenüber die Übermacht des Menschen und des Menschlichen überhaupt garantieren. Reisers Streben gleicht also einer Ulyssesreise des modernen, in seinem Selbstvertrauen erschütterten und daher narzißtisch Aufmerksamkeit heischenden Individuums, das nun, oder noch, dort nach Gemeinsamkeit - nach Zugehörigkeitsgefuhl im Humanen - sucht und strebt, wo das Humane schon längst durch das ÖkonomischRepräsentative ersetzt worden ist.

Minder viel zu sehr auf den Pietismus und die pietistische Autobiographie fixiert ist, ohne weder das Vorwort - das allgemein und völlig 'säkularisiert' gehalten ist - noch - und das ist schlimmer - den Fortgang des Romans, ja des öfteren sogar den Roman überhaupt zu beachten: Der Bruch mit der religiösen Sphäre, die Ironie des Erzählers z. B. werden völlig übersehen zugunsten theoretisch-historischer Konstrukte, an die die Literatur sich nun zu halten und gegen die sie sich zu behaupten hat - und dies trotz Sätzen wie: „Allein, da nun der Hunger anfing, ihm unausstehlich zu werden, so wollten auch die Tröstungen der Madam Guion nichts mehr helfen..." (S. 22, also gleich am Anfang des Romans!), oder „So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre, durch die besondre Führung, die ihm die göttliche Gnade, durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstände sagen konnte, daß er in jedem Augenblick lebend starb." (S. 90) (vgl. ebenfalls Reisers Unfähigkeit zur pietistischen Selbstbeobachtung: "...daß er nicht recht zur Erkenntnis seines Sündenlebens kommen konnte", S. 148). Es mag dann auch nicht mehr verwundern, daß Minder von einer „echten Gemeinschaft" im AR reden kann, aus der der Jüngling nach Minders Meinung mehr oder weniger freiwillig ausscheidet, (vgl. Minder, S. 177)

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3.1 Ich-Welt: Annäherungen und Abstoßungen Unabhängig davon, ob man dazu neigt, den - nicht zu leugnenden - Konfliktherd unter einem individualpsychologischen Standpunkt bei Reiser anzusetzen, oder aber eine sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtungsweise heranzieht, um auf die von der 'Gemeinschaft' akzeptierten, aber das Individuum in seinem Projektionsstreben einschränkenden Elemente hinzuweisen, Ausgangspunkt im deutschen Roman bleibt inhaltlich immer die für Anton Reiser früh stattgefundene und sich ständig erneuernde Entzauberung der Welt, „wo alles so kahl so armselig zuging" (sie!, S. 182). In gleichem Maße wie sich in Fieldings Tom Jones die Landszenen mit den Stadtszenen abwechseln, findet im AR die - reale - Stadt Eingang. Braunschweig und Hannover sind selbst im 18. Jahrhundert nicht mit einer Großstadt wie London zu vergleichen, machen aber auf Reiser hinsichtlich der Größe den nämlichen Eindruck, ohne daß - wie sich bald herausstellen wird - der räumlichen Weite eine entsprechend geistige entspräche491. Die beim Anblick der Stadt Braunschweig wahrlich dunkle Vorahnung - ein zur gleichen Zeit erhellender Rückblick des Erzählers - wird durch das Äußere des L[obensteinschen] Hauses bestärkt: „Nun 491

„Braunschweig schien ihm länglicht von dunklerm Ansehen und größer zu sein, und Paris stellte er sich, nach eben einem solchen dunklen Gefühle bei dem Namen, vorzüglich voll heller weißlichter Häuser vor." (S. 56) Und auch Hannover wird nach einigen Jahren als beklemmend empfunden: „Es fing an, ihm wieder so enge in Hfannover] zu werden, beinahe, wie damals, da ihm die Reise nach B[raunschweig] zu dem Hutmacher bevorstand." (S. 330) In Bremen angekommen tritt sofort das Gefühl des Verlassenseins und der Hilflosigkeit auf: „Er fand sich also auf einmal wieder in dem Bezirk einer volkreichen Stadt, wo ihn aber niemand kannte, und er so verlassen und allein, indem er traurig über das Geländer in die Weser hinabsahe, auf der Straße dastand, als wenn er auf einer unbewohnten wüsten Insel gewesen wäre. - " (S. 335) Daß die Bevölkerungsballung Stadt nicht einhergeht mit menschlicher Nähe, wird endgültig deutlich im Falle des Dr. Sauer: „Da ihn von außen das Glück ein wenig anlächelte, waren seine innern Kräfte zerstört; und er blieb unbemerkt und unbekannt bis an seinen Tod; so daß in der kleinen Gasse, wo er wohnte, seine nächsten Nachbaren, als man den Sarg hinaustrug, fragten: wer denn da begraben würde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens, der in einer so unbevölkerten Stadt, wie Erfurt, höchst auffallend ist." (S. 464)

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standen sie vor dem Hause. Es hatte eine schwärzliche Außenseite, und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war" (S. 56). Wie das Haus, dessen Eingangstür einem Sargdeckel gleicht, so der Herr, über den uns der Erzähler z. T. Reisers zukünftige Erfahrungen vorwegnehmend - Kunde gibt: „auch hatte er einen unerträglich intoleranten Blick, wenn sich seine schwarzen Augenbrauen über die Ruchlosigkeit und Bosheit der Menschenkinder, und insbesondre seiner Nachbaren, oder seiner eignen Leute, zusammenzogen" (S. 57). Vom Hutmacher L[obenstein] darf kein auf Humanem fußendes Vertrauensverhältnis erwartet werden: Antons „vorgefaßte innige Liebe verlosch, als wenn Wasser auf einen Funken geschüttet wäre, da ihn die erste kalte, trockne, gebieterische Miene seines vermeinten Wohltäters ahnden ließ, daß er nichts weiter, wie sein Lehijunge sein werde" (S. 57). In Anbetracht dieser ausweglosen Lage reagiert Reiser wiederum sofort, indem er auf seine Phantasie zurückgreift und die von ihm in ihrer ganzen heuchlerischen Niederträchtigkeit bewußt erfahrene Lebenssphäre und -Situation auf eine höhere Stufe stellt, um diese, und somit sich, überstehen zu können: Die Werkstatt wird zum Tempel, er selbst stilisiert sich zu einer Mischung aus Priester - der des morgens das „heilig belebende Feuer" anfacht (S. 58) - , Zauberer und Schöpfer: „seine immer geschäftige Einbildungskraft belebte das Leblose um ihn her, und machte es zu wirklichen Wesen, mit denen er umging, und sprach" (S. 58). Somit greift er zur ersten und, in Anbetracht der Macht, die er sich zukommen läßt, zur fünften von den oben aufgelisteten 'Bewältigungsstrategien', welche mit Don Quijotes Verfahrensweisen der Verklärung des 'Außer mir' und der Erhöhung des 'In mir' übereinstimmen, ohne jedoch zuerst des vermeintlich exzentrisch-quijotesken Austritts aus der Gesellschaft, der ja im Gegenteil einen Versuch der Eingliederung darstellt, zu bedürfen. Denn in der Arbeit und in der Ordnung - „Der Hutmacher L [obenstein] hielt wirklich sehr auf Ordnung in seinem Hause, und alles ging hier auf den Glockenschlag: Arbeiten, Essen, und Schlafen." (S. 59) - scheint Anton endlich Zugehörigkeitsgefühl, 'Unentbehrlichkeit', Gemeinschaft gefunden zu haben, „daß er gern ein Rad in dieser Maschine mit war, die sich so ordentlich bewegte: denn zu Hause hatte er nichts dergleichen gekannt." (S. 59) In Übereinstimmung mit dieser frühen 'mechanischen' Auffassung des sozialen Gefuges wird sich nun für Reiser vorerst al-

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les um Dingliches und materiell Körperliches drehen: „Und er fand wirklich eine Art von Vergnügen, selbst beim Auskehren, Holzspalten und Wassertragen" (S. 58). Um den Körper kreisen auch die Ruhepausen, die zum Essen und zum Schlafen ausgenützt werden müssen und an denen - so stellt es uns der Erzähler dar - die Arbeiter sich weiterangeln, um über den Tag zu kommen. Dem Körper und dem Körperlichen wird an dieser Stelle eine wenn nicht positive, so doch zumindest nicht durchweg negative Rolle gewährt, wie es ja im Verlaufe des Romans größtenteils der Fall ist492. Bachtin hat uns daran erinnert, daß sich der volkstümlichzersetzende Karneval, der die Welt auf den Kopf stellt, um zwischen den Polen der ernsthaften, würdevollen und distanzierten Erhabenheit und der vulgären Nichtigkeit des Lebens einen Lebenskern der Relativität zu setzen, nicht ohne die Unterstreichung des Körperlichen in seinen primären, d. h. lebenserhaltenden Funktionen denken läßt493. Natürlich zielt diese Hervorhebung zuerst und vor allem auf das Erhabene, das ja nur zu solchem sich gestalten kann, sofern es ihm gelingt, das Körperliche auszublenden; es kann kein Absolutsheitsanspruch494 vor einem Satz, wie ihn die spanische volkstümliche Tradition kennt, bestehen: „caga el Rey, caga el Papa, de cagar nadie se escapa". Doch auch das Primär-Körperlich-Skatologische wird in seinem auch in ihm implizit enthaltenen Machtstreben insofern relativiert, als die humoristische Wirkung einzig im Kontrast, in der bewußten oder unbewußten Gegendarstellung zum Erhabenen, erzielt werden kann. Der Quijote als volkstümliches Buch betrachtet mag sich im 492

Zum Folgenden vgl. auch: Grolimund, Josef: Das Menschenbild in den autobiographischen Schriften Karl Philipp Moritz'. Eine Untersuchung zum Selbstverständnis des Menschen in der Goethezeit [Diss. Freiburg], Juris Druck, Zürich 1967, S. 50-53; Minder, Glaube, Skepsis, S. 144 ff.; Müller, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Athenäum, Frankfurt/Main 1987, S. 286-289; Saine, Thomas P.: Die ästhetische Theodizee Moritz 's und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Wilhelm Fink, München 1971, S. 83-84.

493

Vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, Kapitel 5 und 6 und die Einführung von Renate Lachmann, S. 38-40.

494

Und hier ist natürlich nicht politische, sondern geistige Herrschaft gemeint.

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Vergleich zu Rabelais' Roman, wie überhaupt zur mittelalterlichen Vorliebe für Körpermotive, 'gezierter' geben, da er ja ein Stadium darstellt, in dem die italienische Renaissance in ihren der ästhetischen Schönheit huldigenden Erscheinungen mit aufgenommen ist (ein Schönheitsideal, das z. B. in den Liebesgedichten zum Ausdruck kommt). Vom Anfang bis zum Ende aber ist Cervantes' Roman auf Körperlichkeit angelegt495: Rocinante ist ein Knochengerüst, der entsprechende Reiter ein „Caballero de la Triste Figura", Sancho, der vom Körperlichen einiges weiß, sieht sich durch die Luft geschleudert, Don Quijote schlägt Purzelbäume und zeigt seine Scham, Schläge, Hiebe und Tritte stellen, nolens volens, immer wieder das Körperhafte in den Vordergrund, welches auch skatologisch in I, 20, bezeichnenderweise in Verbindung mit der Rüge Don Quijotes, Sancho wisse wohl nicht mehr die Distanz zu wahren, vertreten ist. Natürlich versucht Don Quijote immer wieder, durch Geißelung des Körpers den gehobenen, heroischen Zustand zu erreichen, sich nach Vorbild der Asketen und Mystiker von den Fesseln der Unmittelbarkeit zu lösen. Trotzdem ist es nicht so, daß Don Quijote das spirituelle und Sancho das sozusagen somatische Prinzip vertritt. Voraussetzung für die bekannte „quijotización" von Sancho und „sanchificación" von Don Quijote ist, daß in ihnen von vornherein ein Dualismus angelegt ist, der, zu Beginn des Romans noch durch einseitige Akzentuierung verschleiert, im Zusammenspiel der Charaktere hervorbricht, um eine relativistische und somit stabilere Position zu behaupten. Das Körperliche ist im Quijote - sieht man von I, 20 ab - nicht bewußt akzentuiert. Es wird vielmehr hingenommen, mal verherrlicht, so wenn es gilt, die Schönheit der Damen zu preisen, mal verlacht, so wenn von Sanchos halt „panza" oder seinen „entrambas posaderas, que no eran muy pequeñas" (I, 20, 394) die Rede ist. Die Physiognomie der Figuren, wenn sie uns nun mitgeteilt wird, stimmt im Quijote meistens mit ihren Charaktereigenschaften überein, so daß hier noch nicht einmal als methodologisches Verfahren eine Trennung zwischen Körper und Psyche erlaubt scheint. Wenn sich Anton Reiser am Anfang des Romans dank seiner Lebensgeister, die sich im Magen melden, noch effektiv gegen die 495

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In Bezug auf den Quijote stimme ich nur z. T. mit Bachtin tiberein; vgl. Bachtin, Esthétique et théorie du roman, S. 219 ff.

Vernichtung wehren kann, so wünscht er bereits sieben Seiten später die eigene totale Austilgung: Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte. (S. 29) Der Wunsch nach Zerstörung des eigenen Körpers hält sich konstant im Verlaufe des Romans, wird sogar an Intensität noch zunehmen und besonders in den Augenblicken, in denen die Nichtigkeitsgefühle am stärksten über Reiser herfallen, hervortreten: „denn es war sehr natürlich," - teilt uns der Erzähler mit „daß Reiser keine Lust zu seinem Körper hatte, da er doch niemanden in der Welt gefiel." (S. 202) Die Sehnsucht, zerstückelt zu werden496, deckt sich nicht mit der im Roman z. T. zur Schau getragenen Todessehnsucht. Reiser geht es nicht darum, aus dem Leben zu scheiden, sondern sich - Buße und Anklage - 'bonzogleich' der Vernichtung zur Verfugung zu stellen. Der Druck wird allmählich so groß, daß Reiser zur zweiten von den oben angeführten Erhaltungsstrategien greifen muß, um zu überleben. Dazu bedient er sich zuerst der sozial zur Verfügung stehenden offensiven und defensiven Erhabenheits- und/oder 'Entrückungsmotivik', deren sozialgeschichtlicher Werdegang im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit geschildert worden ist. Indem Reiser die ihm vermittelte soziale Bedeutungslosigkeit auf den Menschen schlechthin verallgemeinert und Gesellschaft und Mensch - und somit sich selbst - vergeistigt oder, anders betrachtet, zum Gegenstand herabsetzt, strebt er im Grunde die vollkommene Gleichgültigkeit, die sich nicht mit Ataraxie deckt, an. Diese wäre jedoch nur mit der Aufgabe des Geistig-Analytischen zu erreichen, und die letzte Abstraktion würde einhergehen mit dem Erlöschen dessen, das sie hervorgebracht hat: der Sprache, und letztendlich: des Menschen. Reiser wohnt zwar einer körperlichen Zerstückelung bei, doch was da in Stücke gerissen wird, ist 496

Der Gedanke der „Zerstückelung" des Körpers in der europäischen Kultur läßt sich also wohl eher im deutschen AR des 18. Jahrhunderts, und nicht beim spanischen Quevedo des 17. Jhs., wie Teuber behauptet, ansetzen.

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das humanistische verherrlichte Bild des Menschen, an dem zuerst Ficino gemalt hatte: Einmal da vier Missetäter auf dem Rabensteine vor H[annover] geköpft wurden, ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus, und sähe nun vier darunter, welche aus der Zahl der übrigen ausgetilget und zerstückt werden sollten - Dies kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war als ob ein Baum im Walde umgehauen, oder ein Ochse gefallt werden sollte. - Und da nun die Stücken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden, und er sich selbst, und die um ihn her stehenden Menschen ebenso zerstückbar dachte - so wurde ihm der Mensch so nichtswert und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von tierischer Zerstückbarkeit begrub - und sogar mit einem gewissen Vergnügen wieder zu Hause ging, und seinen Haarteig auf dem Wege verzehrte - denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er manche Tage bloß von diesem Teige lebte. - Nahrung und Kleidung war ihm gleichgültig, so wie Tod und Leben - ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Zahl gibt, auf der Welt mehr umhergeht, oder nicht! - Denn er konnte sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missetäter zu stellen - und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: Der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch- (S. 262) Die Frage, die in der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte endgültig geklärt schien, muß sich hier natürlich nochmals aufdrängen: „es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Tiere zu wissen" (S. 263). Da der Mensch als Ganzes nichts mehr wert zu sein scheint und „das einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde" (S. 264), außerdem Reiser zu der Einsicht gelangt, daß „er nun unabänderlich er selbst sein mußte, und kein anderer sein konnte; daß er in sich selbst eingeengt und eingebannt war" (S. 265), er also weiterhin „bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte" (S.

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265), werden in ihm erneut Selbstmordgedanken wach. An diesem kritischen Punkt wieder angelangt, rettet ihn aber zum Leben, was er hätte zerstört wissen wollen. Das, was Reiser verneint, triumphiert über das, was Reiser in seiner angsterfüllten jugendlichen Verwirrung und der Erzähler in seiner sozialen Verbundenheit bejahen: die ironische Natürlichkeit des Körpers behält die Oberhand über die tödliche Abstraktion - das Nichts - des Geistes; hier könnte auch Sancho Don Quijote zurechtweisen: Hier stand er zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß, und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er endlich ermattet, auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl einer fieberhaften Kälte, und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte, und ihm zufälligerweise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirt dem Fleischer, frische Wurst zu essen bekommen würde - und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an - er vergaß sich, so wie er sich nach der Hinrichtung der Missetäter vergessen hatte, ganz als Mensch, und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier wieder heim. - (S. 265) Und nun wandelt sich - dem Erzähler nach - Reisers Begehren ins Umgekehrte: wünschte er eben noch die Austilgung des Körpers, so will er jetzt die Vernichtung des Geistes, da Reiser nur in Extremen denken kann: Als Tier wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen.497 (S. 265)

497

Lothar Müllers Anmerkung „Der Körper ist eine schmerzende Last, die es zu ertragen gilt" (S. 286) trifft also nur z. T. zu.

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Da Reiser ein asexuelles, also ein in keiner Weise sinnliches Wesen ist, scheidet der Körper als Möglichkeit der Kommunikation aus. Dafür konstruiert sich Reiser auf der Suche nach Gemeinschaft einen platonischen Raum, den er - als ob es die hörbare und mündlich mitteilende Sprache nicht gäbe - erst im Tod: Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? - Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren, und nur durch die Bewegung einiger Teile dieser Scheidewand einander wieder mitgeteilt wurden, schienen ihm nach dem Tode der Menschen in eins zusammenzufließen - da war nichts mehr, das sie absonderte und voneinander trennte - (S. 263) und dann bei Shakespeare - „denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespear mit durchempfunden" - (S. 267) glaubt finden zu können. Die Körperthematik, die im Roman durchgängig präsent ist, da Reiser kontinuierlich körperlichen Beschwerden ausgeliefert ist, die durchaus sehr oft psychisch bedingt erscheinen, wird anläßlich der Werther-Lektüre des Jünglings vom Erzähler noch einmal in größerem Umfang behandelt. Die Szene, in der Werther mit einem Marionettenspiel hantiert, „seinen Nachbar bei der hölzernen Hand ergreift, und zurückschaudert - erweckte bei Reisern die Erinnerung an ein ähnliches Gefühl, das er oft gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab." (S. 293) Bringt der Erzähler zuerst die schon bekannte Zerstückelungsmetaphorik zur Sprache498, so schimmert doch durch seine angestrengten Erklärungsversuche eindeutig ein neues Argument gegen den Körper hervor: Das Körperliche erinnert daran, daß dem Menschen nicht die Unsterblichkeit gegeben ist, daran, daß er vergänglich ist, nicht Geist ohne Körper, nichts Absolutes sein noch zum Absoluten streben kann; 498

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„Durch die tägliche Gewohnheit vergißt man am Ende, daß man einen Körper hat, der ebensowohl allen Gesetzen der Zerstörung in der Körperwelt unterworfen ist, als ein Stück Holz, das wir zersägen oder zerschneiden, und daß er sich nach eben den Gesetzen, wie jede andere von Menschen zusammengesetzte körperliche Maschine bewegt." (S. 293)

der Körper zwingt den Helden, den Magier, den Priester und den irdischen 'Schöpfer', auf die großen Phrasen zu verzichten, sich der Unmittelbarkeit des Materiellen und der 'Anfälligkeit' des Menschlichen zu stellen: Diese Zerstörbarkeit und Körperlichkeit unseres Körpers wird uns nur bei gewissen Anlässen lebhaft - und macht daß wir vor uns selbst erschrecken, indem wir plötzlich fühlen, daß wir etwas zu sein glaubten, was wir wirklich nicht sind, und statt dessen etwas sind, was wir zu sein uns fürchten. - (S. 293) Die Sehnsucht, dem Körper zu entfliehen, muß also nicht nur mit Reisers Selbstmordgedanken oder seiner Suche nach Gemeinschaft im Spirituellen in Verbindung gebracht werden, sondern auch mit seinen kompensatorischen Machtansprüchen, die er über den Weg der Bildung - des Geistigen also - zu realisieren suchen wird, ohne jedoch erneut den Konflikt Individuum - Gesellschaft meiden und bewältigen zu können. Exemplarisch wird das an Reisers schnellem Aufstieg und Niedergang im Schulbetrieb deutlich. Es ist hier schon darauf aufmerksam gemacht worden, muß aber an dieser Stelle erneut unterstrichen werden, daß Reiser, wohl die Zeichen der Zeit richtig deutend, vor allem in der Bildung seine Aufstiegschance erblickt: „er hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte und einen schwarzen Rock trug, so daß er diese Leute beinahe für eine Art übermenschlicher Wesen hielt" (S. 54), heißt es an einer Stelle, die für viele andere im Roman stehen könnte499. Daher auch die jeglicher Kritik und Selbst499

Es handelt sich also um die gleiche Wendung - „unbegrenzte Ehrfurcht" - , die zur Schilderung der hierarchischen Strukturierung der Sozialbeziehungen im Hause des Herrn v. F[leischbein] gedient hatte. Der kritisch-ironische Ton aber, der dieser Beschreibung anhaftete, erscheint nun in der Beschreibung von Reisers vollständiger Hingabe an den wortgewandten Seelenfuhrer stark gemildert: „Mit einer Art von Ehrfurcht trat er auf den Fleck, wo er wußte, daß der Pastor P[aulmann] gegangen war [...] Wenn er nun den Pastor P[aulmann] sähe, wie er mit der Gemeinde, die ihn von allen Seiten umwallte, über die Straße ging [...], so war es, als ob er um sein Haupt einen gewissen Schimmer erblickte, und unter den übrigen Sterblichen ein übermenschliches Wesen dahinwandeln sähe [...]." (S. 81) Diese Vergötterung des Menschen muß natürlich im deutschen protestantischen Kon-

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kritik in Bezug auf einen womöglichen Beitrag zur Konsolidierung hierarchischer Strukturen entbehrende Freude, die Reiser beseelt, wenn er sich vorstellt, vor Direktor oder Rektor, vor Königin oder König, vor Prinz oder Minister, vor den Honoratioren der Stadt „Etwa einmal einer der Anfuhrer bei dem Zuge der mit Fakkeln zu sein, oder die lateinische Rede bei Überreichung des Geschenks zu halten, oder eine Hauptrolle in einem der aufgeführten Stücke zu bekommen, oder gar eine Rede an des Königs oder der Königen Geburtstage zu halten" (S. 184). Reisers 'Sündenfall' ist aber nahe und beginnt mit einer Lappalie: Als er nämlich gerade „aus des Cicero Buche von den Pflichten [!] etwas aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen sollte [...], in dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, unglücklicherweise ein Blatt mit solcher Ungeschicklichkeit umschlug, daß er es beinahe zerissen hätte." (S. 187) In der darauf folgenden Reaktion des Direktors zeigen sich nun dreihundert Jahre deutscher progressiver Absonderung und Inanspruchnahme von 'Kultur' - den Blick immer nach Frankreich gerichtet - : Durch so etwas konnte nun die Empfindlichkeit des Direktors, der in allem stets die äußerste Delikatesse suchte, gerade am stärksten beleidigt werden - Reiser verlor unendlich bei ihm durch diesen Zug von anscheinendem Mangel an feiner Empfindung und feiner Lebensart. (S. 187) Zum anscheinenden Mangel an Ehrfurcht vor dem - traditionsreichen und Eleganz und Ehrwürdigkeit verbreitenden - Buch text des 18. Jahrhunderts um so auffallender wirken, da sie - vom theoretisch-theologischen Standpunkt betrachtet - der protestantischen Ethik, aber auch dem Vernunftsanspruch der Ratio, zuwiderläuft. Bezeichnend für Reiser als Protagonist des Romans und als Suchender ist aber, daß er Werte - oder Sehnsüchte - zu setzten vermag, die über dem Erhabenen als solchem stehen. Galt einst Latein als das Vornehme gegenüber dem Deutschen, so übernimmt Hochdeutsch diese Rolle dem Plattdeutsch gegenüber. Als Reiser daher den Pastor „zuerst plattdeutsch, wie der simpelste Handwerksmann mit dem Küster, über eine so feierliche Sache, als die Taufe war" (S. 85) sprechen hört, reagiert er systemgemäß: „wurde Antons Abgötterei gegen den Pastor P[aulmann] einigermaßen herabgestimmt", doch auch gleich wieder individuell: „Er betete ihn etwas weniger an, und liebte ihn desto mehr." (S. 85-86)

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braucht sich nur noch eine zu unpassender Zeit lächelnde Miene zu gesellen (vgl. S. 193), um Reisers Fall in die 'akademische' Bedeutungslosigkeit vollständig zu machen: „denn der Direktor rief ihn niemals a u f . (S. 193) Wäre man nun geneigt, den Bann, der über Reiser fallt, teils als selbstverschuldet zu betrachten, weil es ja auch Antons Ehrgeiz und Ansprüche sind, die ihn so verwundbar machen, und ihn teils in den Bereich der - bei allem Erziehungsreformeifer des Jahrhunderts - pädagogischen Verirrungen anzusiedeln, so fußt eines wie das andere doch auf den gleichen Erscheinungen und Absichten: dem Wunsch - und somit dem Willen - , Persönlichkeits- und Gesellschaftsvakuen durch Bildungsaneignimg offiziell, d. h. für jeden sichtbar zu füllen. Dies grenzt den Handlungsspielraum des Würdenträgers außerordentlich ein, da seine Autorität nicht auf im Leben errungenem Charisma, sondern nur auf erarbeiteter (Bücher-)Formalität beruht - ein Makel, den auch der Erzähler festzustellen und zu kritisieren weiß: Das Betragen des Direktors gegen Reisern war eine Folge von dessen schüchternem und mißtrauischem Wesen, das eine niedrige Seele zu verraten schien; allein der Direktor erwog nicht, daß eben dies schüchterne und mißtrauische Wesen wieder eine Folge von seinem ersten Betragen gegen Reisern war. (S. 194) Trotz aller Anläufe wird es Reiser nicht gelingen, wirklichen, d. h. humanen Kontakt zu der Bildungsschicht, zu der er zuerst emporstrebt, herzustellen und sein Kommunikationsbedürfnis zu stillen: Seine Sehnsucht und seine Scheu einerseits, die Formelhaftigkeit und Arroganz der Bildungsträger andererseits sind zu groß, um einen Dialog zu ermöglichen. Die wesentliche Erfahrung Reisers bleibt daher Isolation und Abgeschiedenheit - Vereinsamung, die er aber als allgemein zu erkennen weiß: Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksalen er ebensowenig, als sie von den seinigen wußte, hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt - die Einge-

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schränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich. (S. 260) Verbundenheit und Dialog im wahren Sinne kann Reiser nur im Hause des Schuhmachers Schantz finden, wo er „sich mit völligem Zutrauen gewissermaßen, wie zu Hause fühlte", und er mit dem Hausherrn „Gedanken gegen Gedanken wechseln konnte" (S. 143). Die Gesprächsthemen behalten aber doch einen erhabenen Zug: ein tiefgründiger Gesprächsstoff - es geht um „Raum und Zeit", „subjektivistische[r] und objektivistische^] Welt, usw." (S. 143) - , der jeden Bezug zum konkret Gegenwärtigen vermeidet und in Anbetracht der gesellschaftlichen Mißstände als eskapistisch einzustufen wäre. Läßt man Reisers Verzweiflung am Leben außer acht, findet Reiser beim Schuhmacher Schantz und seiner Familie einen Hort des Humanismus - hier wurde er stets „mit freundlichen Blicken empfangen" (S. 209), hier wurde die „Sprache des gemeinen Lebens" (S. 143) gesprochen - , findet und übt er diese wahre humanistische Spontaneität, die in der Freiheit des Wortes ihren Ausdruck findet: Hier fand er Menschen, hier wurde auf einige Augenblicke sein Herz erweicht, mit der Sättigung seines Körpers erhielt seine Denkkraft und seine Phantasie wieder einen neuen Schwung, und mit dem Schuster Sfchantz] kam wieder ein philosophisches Gespräch auf die Bahn, welches oft stundenlang dauerte, und wobei Reiser wieder an zu atmen fing, und sein Geist wieder Luft schöpfte - dann sprach er oft in der Hitze des Disputierens über einen Gegenstand so heiter und unbefangen, als ob nichts in der Welt ihn niedergedrückt hätte. - Von seinem Zustande ließ er sich nicht eine Silbe merken. (S. 228-229) Dieses Denkmal, das der Erzähler Schantz setzt, scheint auch generell dem Handwerker zu gelten, da es sich ähnlich im Falle des philosophischen und witzig-ironischen Essigbrauers - „Es mochte wohl keine menschenfreundliche Tugend geben, welche ihm in seiner Lage auszuüben möglich war, und die er nicht ausgeübt hätte" (S. 314) - wiederholt, der mit „Sternischer Laune" (S. 313) ausgestattet und dem Tom Jones zugetan mit seinen jungen

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Zuhörern „sokratische Gespräche" (S. 313) in katakombenähnlicher Atmosphäre führt500. Bewußt oder unbewußt wandelt hier der Erzähler in den Fußstapfen Nebrijas, des späten Thomasius' und natürlich Cervantes', und wenn auch zutrifft, daß Moritz nirgendwo in seinem autobiographischen Roman - wie ja auch nicht in seinen anderen Schriften - nahelegt, daß, wie Saine formuliert, „der Mensch berechtigt wäre, die sozialen Mißstände auf radikale Weise zu beseitigen"501, so beinhaltet doch diese Ehrung und Rettung der gesprächigen Geselligkeit nicht nur in synchronischer Perspektive, sondern auch in Anbetracht der deutschen Tradition der bürgerlich-protestantischen Nüchternheit, Ernsthaftigkeit und Feindschaft der 'nutzlosen Geschwätzigkeit' gegenüber, einen größeren sozialpolitischen Sprengstoff, als es den Anschein haben könnte502. Tatsächlich findet Moritz in seiner kurz nach dem Erscheinen des 1. Teils des Romans unternommenen Italienreise seine Vorstellung vom Gespräch als freiem und befreiendem Akt in die Realität umgesetzt - wenn auch schon nicht mehr frei von ökonomisch motiviertem Zwang. In Italien beobachtet er, wie sich das Wort tagtäglich als das Verbindende und Gemeinschaftstiftende zu behaupten weiß, indem er sich dabei über jegliche sozialen Schranken hinwegsetzt503. Im italienischen Karneval erfahrt Moritz, daß die Möglichkeit „einer einzigen vertraulichen Gesellschaft"504 nicht notgedrungen in das Reich der Utopie zu verweisen ist: Seine Schilderung der fröhlichen Karnevalszeit wird - in 500

Es bleibt ein Rätsel, wie Lothar Müller vom Essigbrauer als einer ,,ideale[n] Verkörperung der Resignation" reden kann - Die kranke Seele, S. 207 - wo es sich ja auch - schenkt man Müllers Argumenten Beachtung - von einer 'ideellen Verkörperung des Widerstandes' reden ließ. Müller, der von dem im Roman positiv Gezeichneten ins negative Extrem fällt, baut hier ein 'resignatives Konstrukt', das ihm als Ubergang zu Andreas Hartknopf dient.

501

Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 85.

502

Zum Folgenden vgl. Grams, S. 168-178.

503

„In der Italienreise erzählt Moritz von einem der bekanntesten Bettler in der Straße, der «wie ein Nachbar angesehen wird». Den Beweis dafür sieht er darin, daß man sich mit ihm «unterredet»". Grams, S. 169.

504

Zitat nach Grams, S. 170.

263

Grams Worten - zu „individueller und politischer Hoffnung auf eine Form der Gesellschaftlichkeit, in der der eine im anderen nicht mehr die Grenzen seiner Freiheit findet, sondern das Ziel: eine «zutrauliche Volksassemblee»"505. Ist das Herumirren Don Quijotes die Darstellung eines Leerlaufs, der nur im Tod zum Stillstand kommt, so verzichtet Moritz als Autor - und in Anbetracht seiner tatsächlichen Biographie wohl auch als Mensch - im AR darauf, den Preis der Instrumentalisierung durch den Staat oder die „gesitteten Stände" für die 'Eingliederung' des Individuums zu zahlen. Was im AR - romanhaft - dargestellt, aber im Grunde unausgesprochen bleibt, findet sich in Moritz' Denkwürdigkeiten. Hier gelangt Moritz mittels einer eindeutigen Verurteilung der politischen Unfreiheit, der Bildungsmacht und der Instrumentalisierung der Person zu einer dezidierten Verteidigung des Geistes und der Würde des Menschen: Der Staat kann eine Weile seine [des Menschen, A. P.] Arme, seine Hände brauchen, daß sie wie ein untergeordnetes Rad in diese Maschine eingreifen - aber der Geist des Menschen kann durch nichts untergeordnet werden, er ist ein in sich selbst vollendetes Ganzes.506 Hiermit ist eine Brücke zu den europäischen Humanisten vorangegangener Jahrhunderte geschlagen worden.

505

Grams, S. 170-171.

506

Zitat nach Grams, S. 175.

264

4. DIE POTENTIALITÄT DES ANTON REISER: ERZÄHLER UND...? Als geflügeltes Wort hat mittlerweile zu gelten, daß sich Inhalt und Form eines jedweden Textes zur Untersuchung zwar trennen, doch nur in ihrer gegenseitigen Verbundenheit erklären lassen: Form ist zur gleichen Zeit Inhalt und umgekehrt. Deshalb bietet sich auch der Erzähler im modernen Roman in seinen europäischen synchronischen und diachronischen Wechselbeziehungen als Treff- und Kristallisationspunkt vortrefflich an, da in ihm notgedrungen praktisch alle sozio-literarischen Möglichkeiten und Konditionierungen zusammenfließen. Dies bedeutet, weiterhin den hier gewählten Ansatz anzuwenden und nun für Moritz' AR den Versuch zu unternehmen, Literatur „in ihrer mehrdeutigen Beziehung zur historischen Lebenspraxis zu erschließen".507 An einem Absatz soll hier zuerst die auch im AR von vornherein nicht eindeutige, unentschiedene Perspektivität des Erzählerischen deutlich gemacht werden: Wie weit, dachte er, werde ich nun nicht mehr schon in fünf Jahren sein, wenn ich hierbei bleibe. Denn in dem kleinen Buche war das Fortrücken in der Frömmigkeit gleichsam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie man etwa sich freuet, aus einer Klasse in die andere immer höher gestiegen zu sein. (S. 20; meine Hervorhebungen) In diesem kleinen Absatz, in dem sich Zeiten - Vergangenheit (dachte er), Gegenwart der Vergangenheit (war), immerwährende Gegenwart (wie man etwa sich freuet) und Zukunft zur Gegenwart (gestiegen zu sein) - und Erzählinstanzen oder -figuren vermischen, heben sich zumindest vier Erzählperspektiven hervor, die sich aus Zeit- und (un-?)bewußter Figurenwahl ergeben:

507

Rolf Grimminger in seiner Vorbemerkung zu Hansers der deutschen Literatur, S. 7.

Sozialgeschichte

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1. Ein allwissender Er-Erzähler gibt uns im ersten Satz die Gedanken des kleinen Anton kommentarlos wieder. 2. Zur gleichen Zeit kommt ja auch das Kind in erster Person zur (nicht wörtlichen) Rede. 3. In dem Teil bis zum ersten Komma des zweiten Satzes taucht aber nun nicht ein Erzähler, sondern ein anscheinend nüchterner 'Erklärer' auf: Der Gedankengang des Kindes folgt dem Stoff, den es kritiklos aus dem Buch zieht. 4. Zuletzt tritt ein anscheinend erhabener, an Lebenserfahrung reicher Lehrer hervor, der die nicht gerade bedeutungsvolle Schlußfolgerung des Kindes auf eine höhere Ebene zu stellen und somit zu transzendieren weiß. Dieser Absatz ist 'rund', d. h., er läßt offenbar keine Frage unbeantwortet, keinen Raum für Zweifel. Und doch verbirgt sich hinter dieser vermeintlichen Besonnenheit des Wissenden und der Interpretation des psychologisch geschulten Pädagogen mehr als eine Kritik und Anklage nebst einer guten Portion Verzweiflung, die sich gerade aus der Unbestimmtheit nicht nur der Erzählinstanz, sondern auch des Adressaten bei überdeutlicher Instabilität des viergliedrigen Erzählverfahrens ablesen läßt. Die Solidarität des Erzählers mit dem Kind ist offensichtlich, nicht nur weil der Erzähler das Wort an das Kind selbst weitergibt, sondern auch weil der kindlich-naive Ehrgeiz des kleinen Anton nichts Verdammungswürdiges an sich hat, insofern es sich um ein „Fortrücken in der Frömmigkeit" handelt, das, angesichts der Verachtung, die ihm selbst im Elternhaus zuteil wird, um so lobenswerter erscheint. Anders sieht es da schon mit dem „kleinen Buche" aus, denn Frömmigkeit als solche läßt sich ja schlecht mit Ehrgeiz vereinbaren, es sei denn, man setzt dieses religiöse Konzept der Innerlichkeit, das keiner Fremdbeschauung und -bestätigung bedürfen sollte, mit einem Ansehen spendenden Konzept der Weltlichkeit, etwa einem Adelstitel oder einem akademischen Titel, gleich. Dieses offensichtlich 'verdorbene', säkularisierte und auf Ansehen erpichte Verständnis von Frömmigkeit nimmt der kleine Anton also aus einem Buch, das belehrend tugendhaft sein möchte. Der Erzähler beläßt es aber nicht dabei, sondern er wagt auch noch den Schritt, dieses Phänomen der versetzten Werte gesell-

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schaftlich einzubetten und somit zu verallgemeinern, indem er in einem durchaus ambivalenten und hiermit 'scheuen' Satz eine Beziehung zwischen der kompensatorischen Projektion des an Liebesmangel leidenden Kindes und dem allgemein verbindlichen sozialen 'Treppensystem' herstellt. Letzte Schlußfolgerung muß sein: Jegliches Streben und Bestreben geht aus der Negativität hervor, Eifer muß erhaschen, was selbstverständlich Menschliches - Präsenz, Permanenz und Entwicklung - nicht bekommt, nämlich Beachtung und Anerkennung. Die oben dem Erzähler zugeschriebene Ambiguität erweist sich somit als nur teilweise zutreffend, denn wenn auf den ersten Blick auch das Individuelle als Erklärungsmoment in den Vordergrund geschoben wird508, so weist doch die Hinzunahme eines gesellschaftlich hergestellten und in der Gesellschaft vertriebenen Produkts, welches im 18. Jahrhundert ein zunehmendes Ansehen genießt, das Buch, als Erklärungsmotiv darauf hin, daß einseitige Akzentuierung hier fehl am Platze ist. Eingeräumt werden muß aber doch, daß die Tendenz, die sich im Verlaufe des Romans bestätigt, weder soziale Unterdrückung und Ungerechtigkeit deutlich zu kennzeichnen noch näher auf sie einzugehen, offensichtlich ist, als solle es dem Leser überlassen bleiben, das Erzählte zu scheiden und nach eigenem Gutdünken zu beurteilen, denn selbst wenn der Erzähler von „Enge der Verhältnisse" oder „Unterdrückung" spricht - was ja immer wieder geschieht - , setzt er es in Bezug zu Antons Empfinden und entschärft es anscheinend, indem er es subjektiviert. Da sich aber andererseits die Hinweise auf das gesellschaftliche negative Moment häufen, und es - wie gesehen - dem Leser durchaus keine Mühe bereitet, mit oder ohne sozialgeschichtliches Hintergrundwissen, Antons negative Potentialität in eine soziale Kausalkette einzuordnen, entspricht die erzählerische Zurückhaltung einerseits sicherlich dem politischen, andererseits dem soziokulturellen Status quo. Als Ausweg wird - wie an der bekannten Stelle, an der Sancho auf die Freuden und Gefahren des Feuers hinweist - hier vielmehr der spanische Spruch des „a buen entendedor pocas palabras bastan" angeboten.

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Und die Sekundärliteratur ist in ihrer Mehrheit auf dieses erste Angebot eingegangen.

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Gültig bleibt die Unentschiedenheit, die im oben behandelten Exempel schon notgedrungen aus der Tatsache folgen muß, daß der Erzähler konsekutiv, und fast gleichzeitig, die Perspektive und somit die Haltung eines Kindes, eines Interpreten, eines Pädagogen und Volkserziehers annimmt. Wenn dies noch einigermaßen miteinander zu vereinbaren wäre, sozusagen in einer Kette von Einfühlung, Analyse, Erklärung Abhilfe wird explizit im AR nie angeboten so wird es schon sehr problematisch, wenn der Erzähler bei alledem auch eben erzählen, einen Roman erzählen möchte, und er es nicht unterlassen kann oder will, sich immer wieder auf die Seite seines doch so kritikwürdigen 'Helden' zu schlagen, indem er, das obige Muster immer von neuem wiederholend und variierend, stets auf ein allgemein gesellschaftliches einengendes oder gar unterdrückendes Phänomen aufmerksam zu machen weiß, um somit der im Vorwort deutlich mitgeteilten Intention gerecht zu werden, „die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selber zu heften". Dies hat auch mit Selbsterhaltungstrieb zu tun, da Erzähler und Romanfigur Anton Reiser dermaßen voneinander abhängig sind, daß sich der eine ohne den anderen nicht denken läßt: Anton Reiser käme überhaupt nicht zu Wort - von Personen und Gegebenheiten überwältigt und, wie das Scheitern seiner Versuche, den Ursprung des Lebens poetisch zu fassen oder sich als Theaterdarsteller zu behaupten, zu erkennen gibt, sprachlos - , der Erzähler müßte seinem Werk und somit sich eine völlig veränderte Absicht, Funktion und ästhetische Form zugrunde legen, da sich ja seine oben angeführten Rollen und Haltungen am Handlungs- und Denkprozeß seiner Figur einerseits, am sozialgeschichtlichen Raum, in dem sich Moritz, Erzähler und Anton Reiser bewegen andererseits, definieren. Figur und Erzähler können sich gemeinsam zwar einigermaßen gegen die Widrigkeiten der Welt behaupten, aber sie sind somit nicht nur in der eigenen, sondern auch in der Person des jeweils anderen be- und gefangen. Der Erzähler kann nicht zu Ende erzählen, weil Anton Reiser nicht weiter 'auslebt', und Anton Reiser kann nicht weiter leben, weil der Erzähler nicht 'aus-denkt'. Im Hintergrund bleibt immer die Möglichkeit offen, daß der Roman ganz unerwartet zu Ende geht, weil Moritz und Anton Reiser, Don Quijote - der ja nur, und hier hat Thomas

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Mann recht, ob der Zweckmäßigkeit, „para la galería" stirbt - und Cervantes schließlich doch zusammenfallen. Der Erzähler im AR ist aber auch in dem Maße Autor, in dem der Rekonstruktion der Geschehnisse aus Antons Vergangenheit eine Stellungnahme zugunsten des Menschen und gegen die Form zugrundeliegt, welche eine Interpretation und somit eine im weitesten Sinne 'Erfindung' voraussetzt. Und die Linie, die somit zum Prolog des ersten Teils des Quijote gezogen wird, wo der Mensch das Maß darstellt, an dem das Werk sich mißt, und es heißt: „el melancólico se mueva a risa, el risueño la acreciente, el simple no se enfade, el discreto se admire de la invención, el grave no la desprecie, ni el prudente deje de alabarla", wird nicht nur in der Absicht deutlich. Doch die deutsche Welt des 18. Jahrhunderts war in der Tat die homerische nicht mehr. Man muß sich fragen: Wuchs Cervantes' 'verrückter' Held und die der Fixierung sich widerstrebende Multiperspektivität der Erzählinstanz aus dem Klima ideologischer Unterdrückung hervor, behauptet sich also die eingeengte Lebenswelt gegen die Durchdisziplinierung durch vermeintlichen Irrsinn und Vervielfältigung, oder setzt die Lebenswelt ihre eigene, in diesem Fall auch ästhetische Wahrheit, indem sie wie selbstverständlich zu der ihr innewohnendsten Potentialität des Geistes und der Form greift? Der Roman AR nimmt sich dieser Frage an. Konnte sich Don Quijote dank seiner (rhetorischen, zur Not auch handgreiflichen) Schlagfertigkeit gegen die 'Ratgeber' zur Wehr setzen, die ihn auf die rechte Bahn (zurück)fuhren wollten, so steht sein genauso lebenshungriger und in die Welt hinausziehender deutscher Mitstreiter auf eher einsamem Posten: Er hat nicht das Alter und auch nicht die Erfahrung, keine günstige soziale Ausgangsposition - Don Quijote gehört immerhin dem Adel an - , und er bewegt sich nicht in der Rahmenlosigkeit, d. h. in einer nicht genormten Welt, welche die 'Verzauberung', die Zurückfuhrung also in das geistig Entwerfende noch zum Teil ermöglicht. Nur durch Angelesenes, und gegen Schiller, kann Anton dem 'ventero' und der Unterredung mit ihm einen Hauch von sinnlichem Reiz abgewinnen:

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Alle dergleichen Unterredungen, die an sich unbedeutend gewesen wären, erhielten in Reisers Idee einen poetischen Anstrich, durch das Bild von dem homerischen Wanderer, welches ihm immer vor der Seele schwebte, und selbst die Unwahrheiten in seinen Reden hatten etwas Übereinstimmendes mit seinem poetischen Vorbilde, dem Minerva zur Seite steht und wegen seiner wohlüberdachten Lüge ihm Beifall zulächelt. (S. 394) Die Forderung nach und die Verteidigung von Leben der Form gegenüber, die Anton nicht leisten kann und die von ihm verlangen würde, daß er sich gegen eine deutsche Tradition der Zurückdrängung der Volkskultur und der Sozialdisziplinierung auflehnt, welche durch den Absolutismus des 18. Jahrhunderts nochmals gestärkt wird509, übernimmt der Erzähler als ein kritisch denkender, selbstbewußter und intelligenter „padastro", den Reiser auch als Vater nie gehabt hat - das unten in der Anmerkung angegebene Zitat heißt weiter: Eine Sache, die Reiser für sehr etwas Unschuldiges und auch nicht für erniedrigend hielt, die ihm aber jetzt als die größte Niederträchtigkeit ausgelegt wurde, und worüber ihn der Direktor einen schlechten Buben schalt, der weder Ehre noch Scham hatte, und mit dem er sich nicht weiter befassen wollte. - (S. 250) Und indem der Erzähler seine Figur rechtfertigt, fordert er für die Einbildungskraft, die er immer wieder zu schelten weiß, und letztendlich auch für sich die gleichen Rechte, ohne sich jedoch wie auch Reiser selbst vollständig der Phantasie510, also vollstän509

„Reiser ging zu dem Konrektor hin, und bat ihn flehentlich, ihm nur die Hälfte von dem Chorgelde zu lassen; allein dieser war unerbittlich; und da Reiser wieder zum Direktor kam, so machte ihm auch der die bittersten Vorwürfe, daß er aufs neue in die Komödie bei den Luftspringern gewesen wäre, und sich sogar auf dem Markte vor der Schule Honig und Brot gekauft, und das auf der Straße gegessen habe." (S. 250)

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„Eine Weile gefiel er sich gewissermaßen in diesem verlaßnen Zustande, der doch so etwas Sonderbares Romanhaftes hatte. - Da aber das

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dig dem Roman hingeben zu können, den Karl Philipp Moritz nur zu schreiben weiß, indem er ihn in seinen Absichten entlarvt, ihn in das 'wirkliche' Leben als komplementäre Wunschprojektion seines Helden zurückfuhrt und ihm schließlich seine Selbstrechtfertigung als gesellschaftliches Korrektiv zur absoluten Funktionalisierung aufdrängt, in der das Genre Roman selbst ein Teil dieser wäre: Dasjenige, was durch die menschlichen Einrichtungen und Verbindungen gleichsam aus dem Gebiete der Aufmerksamkeit herausgedrängt, gemein und unbedeutend geworden ist [in diesem Fall, die oben erwähnten Unterredungen mit dem Wirt, A.P.], trat, durch die Macht der Poesie, wieder in seine Rechte, wurde wieder menschlich, und erhielt wieder seine ursprüngliche Erhabenheit und Würde. (S. 395) Dies ist die Antwort des psychologischen Romans AR auf die oben gestellte Frage bezüglich des Quijote: Dem dichterischen schöpferischen Geiste kommt es zu, die entmenschlichenden Sozialsysteme zu hinterfragen und zu sprengen, indem er ihre sich als pragmatisch (funktionell), konkret (definierbar), tatsächlich (wahrnehmbar nicht nur mit den Sinnen, sondern auch als Konsequenz oder Reaktion) und allgemeingültig gebenden Erscheinungen verneint und diese verzaubert, d. h. verändert, indem er sie als selbstlos, virtuell (aber als solche doch konkret und tatsächlich) und einmalig betrachtet: Reiser dachte sich seinen Wirt nicht bloß als den Wirt einer Dorfschenke, sondern als einen Menschen, den er nie gekannt, nie gesehen hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm zusammentraf, an einem Tische mit ihm saß, und Worte mit ihm wechselte. (S. 394) An dieser Stelle ist es nicht mehr nötig, näher darauf einzugehen, daß Anton Reiser somit den Versuch unternimmt, sich vernünftige Nachdenken über die Phantasie wieder den Sieg erhielt; so war freilich seine erste Sorge, von seinem Briefe an den Kaufmannsdiener Gebrauch zu machen." (S. 336)

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(deutscher Kultur-)Geschichte entgegenzustellen, indem er die lebensverneinende Erstarrung leugnet, die aus der Festlegung der immer mehr zur Verankerung tendierenden Kategorien der höheren (wahr, bedeutend, vernünftig) und der niedrigen (pöbelhaft, lästig, kindisch) Werte und Auffassungen spricht. Er stellt aber nicht dem Erhabenen das Vulgäre und dem Nichtigen das Erhabene als Korrektiv gegenüber, sondern versucht, das synthetische Kulturgemisch eines zum Erhabenen-Erklärtem (griechische Kultur plus englische 'Stürmer' plus philosophisch-metaphysische Betrachtungen plus Genie...), an dem sich Gelehrte und Schriftsteller, Verleger und Publikum berauschen und von dem sie sich ernähren, in die hoffnungslose Landschaft der geistigen, seelischen und kulturellen Unfreiheit, über die der Landesvater wacht, 'hineinzupumpen'. Die (gut gemeinte) Kunst- und Lebenslüge, die daraus folgt, daß nicht nur ein Hinaustreten aus der eigenen Person erforderlich wird, bei dem man sich in einen Zuschauer seiner selbst verwandelt, sondern auch die Übersteigerung und zugleich Herabsetzung der individuellen, an eine Person gebundenen Wirklicheit zugunsten des tatsächlich Romanhaft-Literarischen511, geht natürlich einher mit einem doch relativ baldigen Verlust des ErzählerHumors, der in cervantinischer Manier auch bei homerischer Verwandlungsstrategie in Bezug auf Wirt und Schenke nicht unangebracht schiene, der aber natürlich den psychologischen Roman AR aus der Bahn der inneren Geschichte des Jünglings Anton Reiser werfen würde, da ja dieser - ganz im Gegenteil zu dem sich nüchtern gebenden Erzähler - den bekannten deutschen Weg der exaltierten Innerlichkeit geht, über dem nicht gerade das schmunzelnde Lächeln eines Cervantes, Fielding oder Sterne, nicht das Lachen Don Quijotes und Sanchos vor den „batanes", 511

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„Nun traten auf einmal die Extreme auf, ein Bauer oder Soldat zu werden, und auf einmal war das poetische und theatralische wieder da, denn seine Ideen vom Bauer und Soldat wurden wieder zu einer theatralischen Rolle, die er in seinen Gedanken spielte" (S. 395) und in denen er angesichts eines offensichtlichen sozialen Mankos eine lehrendbelehrende, auf jeden Fall hervorragende Rolle einnimmt: „die Bauern horchten ihm aufmerksam zu, die Sitten verfeinerten sich allmählich, die Menschen um ihn her wurden gebildet. [...] die rohen Soldaten fingen an, auf seine Lehren zu horchen: das Gefühl der höhern Menschheit entwickelte sich bei ihnen; die Wachtstube ward zum Hörsaale der Weisheit." (S. 395)

nicht das Lachen Falstaffs oder des „armen Yorick", sondern das schauderhafte schmerzesverzerrte Gesicht der Shakespearschen Tragödienhelden, des an sich selbst leidenden Werther steht. Wie oben schon angedeutet, liegt hier ein bedeutender Unterschied zum Erzähler nicht nur im Quijote, sondern auch in den englischen, nach dem Vorbild des Quijote konstruierten Romanen, in denen, bei aller nicht zu leugnenden Sympathie für Helden und Heldinnen, der Erzähler stets eine gewisse humorvolle Distanz zu bewahren weiß, die in sich selbstverständlich eine Lehre des Maßes einschließt. Um so mehr aber sich die literarische Figur des Anton an die Gegenwart von Autor und Erzähler im wahrsten Sinne herantastet, um so mehr Anton anfängt, selbständig zu denken und zu handeln, um so unvernehmbarer wird diese Distanz, leiser der humoristische Ton des Erzählers, der von vornherein überhaupt mehr zur - manchmal bitteren - Ironie greift. Daß bei alledem doch noch ein 'erhabener' Zug erhalten bleibt und sich der Erzähler weder von seiner Hauptfigur noch von den gesellschaftlichen Richtlinien und Denkmustern vereinnahmen läßt, spiegelt die konsequente Weiterfuhrung des Schreibansatzes und Konzepts wider: Hier sollen eine Biographie - das, was gewesen ist - und ein Roman - das, was nicht hätte sein dürfen oder hätte anders werden sollen - verfaßt werden, die dem Individuum, der der Gesellschaft kritisch gegenüberstehen. Dahingestellt muß hier bleiben, ob Moritz ironisch auf die sehr junge Tradition des Bildungswegs ä la Agathon weist, oder er aber ganz unabhängig davon einen neuen Weg beschreitet. Blickt man auf den Anfang der Schilderung von Antons 'Bildungs-/Ernüchterungsweg' zurück, so läßt sich in der Behandlung der im Fleischbeinschen Hause gepflegten Religiosität noch ein schmunzelndes Nachsehen erkennen. Da werden einmal 'großartige' Wörter kursiv gesetzt: „In allen Mienen glaubte man Ertötung und Verleugnung, und in allen Handlungen Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts zu lesen", (S. 8), die wenig später vor eher körperlichen Gelüsten weichen müssen: „da nun der Hunger anfing, ihm unausstehlich zu werden, so wollten auch die Tröstungen der Madam Guion nichts mehr helfen" (S. 22). Mit Gott geht der kleine Anton „auf einem ziemlich vertraulichen Fuß" um (S. 23), wirft ihm dies oder jenes vor, „denn obgleich davon nichts in der Madam Guion Schriften stand, so

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glaubte er doch, es gehöre mit zum vertraulichen Umgange" (S. 24), wie es ja überhaupt dem Erzähler nach - eine nicht nur mit seiner Hauptfigur, sondern auch mit religiösen Dingen nicht gerade zimperlich umgehende 'Autorität'512 - dem Jüngling insgesamt zwar am nötigen Nimbus mangelt: „seine Miene blieb nicht ernsthaft, sein Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweiften in irdischen weltlichen Dingen aus" (S. 51), er aber dafür an Theatralischem um so mehr zu bieten hat: „und sogar, wann er etwa, um Bier zu holen, über die Straßen ging, und ein paar Jungen sich balgen sähe, nicht unterlassen konnte, im Geiste die Worte des Pastor P [aulmann] zu wiederholen, und die ruchlose Stadt vor ihrem Verderben zu warnen, wobei er zugleich den Arm drohend in die Höhe hob." (S. 86) Daß sich der Erzähler sowohl über seine Hauptfigur als auch über die eigene Aneinanderreihung von Bier und Pastor, über die alttestamentarischen Adjektive, die klassische Untergangsprophezeiung und den bildhaften Gestus noch so zu amüsieren weiß, mag wohl im Zusammentreffen von nicht mehr ganz echter Naivität und krankhaftem, z. T. heuchlerischem Pathos liegen, wovon z. B. Antons Schauern vor L[obensteins] gewaltigen und fieberhaften Höllenvisionen Zeugnis gibt: „denn ihm [Anton, A.P.] fiel ein, daß er mehr als zwanzigmal auf der Straße gelaufen, gesprungen, und mutwillig gelacht hatte - und nun lagen alle die Qualen der Hölle auf ihm, welche er dafür ewig würde erdulden müssen", Qualen, vor denen sich der Erzähler, der gelernt hat und lehrt: „die Teufel werden ausgetrieben durch Beelzebub" (S. 88), aus der zeitlichen Entfernung sicher und über die er sich erhaben weiß. Im gleichen Maße wie die falsche Religiosität traktiert der Erzähler mittels der Ironie auch die aufwärtsstrebende Eitelkeit des nun in die Pubertät eintretenden Anton, der mal als „römischer Feldherr" erwacht (S. 138), mal sich „schon im Geiste den gelehrten und berühmten Reiserus nennen hörte" (S. 141), denn auf die 512

„Er ward ein Heuchler gegen Gott, gegen andre, und gegen sich selbst. [...] Bei der Buße mußten Tränen, Reue, Traurigkeit und Mißvergnügen sein: dies alles war bei ihm da. Bei dem Glauben mußte eine ungewohnte Heiterkeit und Zuversicht zu Gott in der Seele sein: dies kam auch. Und nun mußte sich drittens das gottselige Leben von selber finden: aber dies fand sich nicht so leicht." (S. 50-51)

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religiöse Laufbahn hat Anton endgültig verzichtet, weil es ihm doch nicht gelingen wollte, vor den Altar „mit einem freudigen Zittern" (S. 148) zu treten. Kommentar des Erzählers hierzu: „Endlich fing er vor Kälte an zu zittern, und dies beruhigte ihn einigermaßen". (S. 148) Die Leser der Richardsonschen, der Gellertschen oder auch der späteren Goetheschen Schreibkunst, welche die vor Schmalz triefendsten Absätze ins literarische (Schein-)Leben zu rufen vermag513, die den ad nauseam im Quijote wiederholten und penibel eingefädelten und dargestellten Tragödienliebesgeschichten in nichts nachstehen, waren und wurden durch solche Ironie bestimmt nicht angesprochen, denn hier, wie in folgendem Absatz, in dem von Reisers Chorgängen die Rede ist, waltet durchaus trotz Goethes Wort, daß sie dem Deutschen nicht gegeben sei Sternsche Laune: Das Singen dauerte bis fast in die Nacht, und die Erleuchtung des Abends machte dann die Szene noch feierlicher. Unter anderem wurde auch in einem Hospital für alte Frauen zum Neujahr gesungen, wo sich die Chorschüler mit den alten Müttern in einen Kreis zusammensetzen, und mit gefaltenen Händen singen mußten: „Bis hieher hat mich Gott gebracht." usw. (S. 177) Und der Erzähler möchte gleich hinzusetzen, daß dieser Humor nicht aus Verbitterung oder mangelndem Mitgefühl seinen Mitmenschen gegenüber seine Sprossen treibt, sondern daß er möglich wird, weil, wie im Falle der akademischen und adligpolitischen Honoratioren auch514, hierarchische oder physische 513

Z.B.: „Die alte Barbara trat einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele, als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld als sonst, wenn sie ihr nur ein mäßiges Abendessen vorzusetzen hatte; diesmal sollte sie mit einem Paket überrascht werden, das Norberg, ein junger reicher Kaufmann, mit der Post geschickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in der Entfernung seiner Geliebten gedenke." (S. 9 von Wilhelm Meisters Lehrjahre, Beck, München 198912, Hamburger Ausgabe).

514

„[...] er [Anton Reiser, A.P.] sähe, daß die Minister, Grafen, und Edelleute, mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren

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Schranken, die menschliche Annäherung verhinderten, aufgehoben worden sind: Bei diesem Neujahrsingen schien alles freundschaftlicher gegeneinander zu sein. Man sähe nicht so sehr auf die Rangordnung, die Primaner sprachen mit den Sekundanern, und eine ungewöhnliche Heiterkeit verbreitete sich über die Gemüter. (S. 177) Da dies jedoch nur einen Ausnahmefall darstellen kann und Anton ganz im Gegenteil immer deutlicher zu spüren bekommt, wie die Welt um ihn herum eigentlich beschaffen ist und daß ihm als Kindheitsgeschädigtem, Forderndem und sich nicht Einfügendem nur die Rolle des Opfers gewährt bleibt, verzichtet er endgültig auf das religiöse Element515 und entwickelt im nun luftleeren Raum die in Kapitel 3 dieser Arbeit geschilderten Bewältigungsstrategien. Von diesem Augenblick an bleibt dem Erzähler, der, es muß erneut betont werden, immer mit-fühlend, mit-leidend ist, das Lachen im Halse stecken, so daß er, vom Essigbrauer berichtend, noch nicht einmal über solche Konstruktionen stolpert: „Von seinem sauer erworbenen Verdienst ersparte er immer so viel..." usw. (S. 314) Es ist kein Zufall, daß der Erzähler Reiser am meisten Respekt zollt, wenn dieser seinen düstersten Stunden entgegensieht und er „sich als ein höchst verächtliches Wesen zum Spott der Welt geschaffen glaubte" (S. 214). Den tiefen Graben der Selbstverachtung, in den Reiser fällt und an dem der gesellschaftliche Spaten nicht zum geringsten Teil mitgräbt, haben weder Don Quijote noch Yorick, weder Tom Jones noch Agathon, noch irgendeine andere Romanfigur vor ihm in dem Maße kennengelernt. Angesichts der verzweifelten und immer wieder scheiternden Anstrengungen des Romanhelden, aus diesem Graben herauszuÄußerungen, ebenso wie die gemeinsten Leute, manchmal etwas Sonderbares und Komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hörte, und sich in der Nähe mit ihnen unterhielt." (S. 354) 515

„[•••] aber mit dem eigentlichen Frommsein oder dem beständigen Denken an Gott wollte es demohngeachtet nicht mehr recht fort." (S.

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finden, stellt der seine pädagogisch-belehrende Seite außerordentlich betonende516 und auf seine zurückhaltende Art keine gesellschaftliche Kritik aussparende Erzähler517 nun erstens seine Humanität und zweitens die Ernsthaftigkeit seines von Anfang an gesellschaftlich angelegten und dargestellten Projektes unter Beweis: Der sich als psychologischer Scharfsinn gebenden Sensibilität und Einfühlungskraft folgen auf dem Fuß die Anmerkungen „vorzüglich in pädagogischer Rücksicht". Dies setzt voraus, daß sich der Erzähler sowohl der absoluten Ernsthaftigkeit der Lage seines von Leben und Leuten zu belehrenden Subjekts wie auch der strengen Miene seines erwägbaren, eher belehrenden Publikums bewußt zu sein hat. Die Potentialität, die der Roman trotz eindeutiger Rücksichtnahme auf diese zwei Faktoren in sich birgt, nährt sich - vom völligen Verzicht auf ein harmonisierendes Ende abgesehen - daraus, daß sich der Erzähler auf die Seite des Individuums zu stellen weiß, ohne mit Kritik an diesem zu sparen. Die Fehler des Protagonisten werden offen zur Schau gestellt, ohne daß der Erzähler die Takt- und Geschmacklosigkeit der belehrenden ironisierenden Überheblichkeit beginge und sich sogar auf radikale Weise über zweihundert Seiten hinweg jeglichen Humors enthält518. Und da der Erzähler Gesellschaft allgemein die gleiche Behandlung wie seinem Protagonisten zukommen läßt, insofern er kontinuierlich 516

Vgl. z. B. S. 215: „Man siehet aus diesem allen, daß die Achtung, worin ein junger Mensch bei seinen Mitschülern steht, eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung ist, worauf man bei öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit gewandt hat. - " Ferner, S. 223, 235, 273, 284 usw.

517

„er [Anton Reiser, A.P.] hatte Gefühle für Freundschaft, für Dankbarkeit, für Großmut, und edle Entschlossenheit, welche alle ungenutzt in ihm schlummerten; denn durch seine äußere Lage schrumpfte sein Herz zusammen. - Was Wunder, daß es sich in einer idealischen Welt wieder zu erweitern, und seinen natürlichen Empfindungen nachzuhängen suchte!" (S. 182)

518

Ausnahme auf S. 362: Philipp Reiser will Anton „totschießen, ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm würde, wie jetzt der Fall wäre."; mit Philipp, „dessen Begriffe ebenfalls romanhaft und überspannt waren, war in solchen Fällen nicht zu spaßen. - Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch für jetzt, und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Erschlaffung wieder erholen würde."

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auf die übelsten Mißstände aufmerksam macht, ohne Gesellschaft als solche zu verwerfen, läßt sich nirgends eine tatsächlich sich selbst genügende, weil vollkommene Warte finden, von der aus eine Grundlage für einen Pakt der 'Besseren' sichtbar wäre. Zur ironischen Arroganz ist kein Anlaß gegeben. Somit ist der Erzähler zu einer radikalen Auffassung von Aufklärung gelangt, die sich mit der 'Offenheit', die den Grundton in Cervantes' Quijote bildet, deckt. Dies ist der Vorzug und die Last der Luzidität: nirgendwo wird eine fertige Welt angeboten, nirgendwo findet sich eine Doktrin, ein 'Lehrer' oder „Führer", der dem Individuum die persönliche Verantwortung der Entscheidungen, der Worte und Handlungen, der Aus-formung, Aus- und Selbstbildung abnehmen könnte. Wenn Don Quijote zu den verstaubten Büchern und den verrosteten Waffen greift, um dem Dahindarben als Konsequenz der völligen Haltlosigkeit, um der absoluten persönlichen Verantwortung zu entkommen, so versucht sich Anton ebenfalls mit der Kunst, mit der Literatur, mit der Bühne519. Und genau in diesem Augenblick setzt erneut die Ironie des Erzählers ein520, der noch da Humor und Distanz zu seiner Figur und der Gesellschaft, in der sich seine Figur bewegt, zu bewahren vermag, wo Reiser z. T. schon eingegliedert als gesellschaftliche Spiegelung des Ersatz-Ehrgeizes und der seelenlosen, doch Ansehen genießenden Perfektion, den Humor schon längst verloren hat. Und dieser fordert gerade nun in dem rührseligen, erfolgreichsten deutschen Theaterstück des Jahrhunderts, im Werther, seine Rechte ein: die Pistole, mit der sich Werther zu erschießen hat, funktioniert nicht, gibt keinen Laut von sich, und der in Verlegenheit geratene Schauspieler muß zum Dolch greifen, sich erstechen, und Indem er nun fiel, stürtzte sein Freund Wilhelm herein, und rief: - „Gott! Ich hörte einen Schuß fallen!"

519

„Wissen ist sich entfremden, sich entfremden ist wahnsinnig werden, sein eigenes Sein verlieren und ein fremdes Sein annehmen", wußte schon der Verfasser des Sonnenstaates (1602) Thomas Campanella. (Zitat nach Hauser, Manierismus, S. 96).

520

Vgl. S. 457, 4 7 0 , 4 8 9 - 4 9 4 .

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Schwerlich kann wohl eine Tragödie sich komischer wie diese schließen. - Dies brachte aber Reisern nicht aus seiner hochschwebenden Phantasie, vielmehr bestärkte es ihn darin, weil er so etwas Unvollkommenes vor sich sähe, das durch etwas Vollkommenes ersetzt werden mußte. (S. 495) Im spanischen Roman stirbt Don Quijote, dem man 'ernüchtert und entzaubert' durchaus noch viele Jahre in seinem Dorf hätte gönnen können, einzig zu dem Zweck, zu zeigen, daß sich die ihm Nahestehenden und die Hinterbliebenen über seinen Tod hinwegzutrösten vermögen - wozu das ihnen zugesprochene Erbe, wie uns der Erzähler mitteilt, eben nicht wenig beiträgt. Don Quijote muß sterben, weil letztendlich das unmittelbare, unberechenbare, sich selbst relativierende und doch immer erhaltende Leben, das unbarmherzig und doch mitleidend Vitale und Spontane über die Form, die Konstruktion und die Berechnung, über das Absolute aber doch Vergängliche im Totalitätsanspruch des Todes triumphieren muß. Der Tod ist die bittere Niederlage und das große Lachen, weil er das Leben verneint und bejaht: Der Tod, das sind die zwei Masken des Welttheaters. Im deutschen Roman stirbt Anton Reiser zwar nicht, er ist selbst am Ende des Romans noch nicht annähernd 'ernüchtert oder entzaubert', sondern wandert „ohne irgendeine Bürde zu tragen, mit reizenden Aussichten auf Ruhm und Beifall seine Straße fort" (S. 498). Doch obwohl dieses Lebensgefühl mit seinem Lebensalter übereinstimmt, eilt der seine Figur an Weisheit überragende Erzähler voraus, indem er, wie der cervantinische Erzähler auch, dem Hochtrabenden, dem Absoluten nochmals und endgültig 'die Maske vom Gesicht zerrt'. Das Mittel hierfür setzt sich, wie könnte es anders sein, aus Humor und Ironie zusammen. Der rührendsten Abschiedsszene, bei der sich die Freunde „zum erstenmal Bruder" nennen, Reiser sich fortreißen muß und dem Freund aus der Entfernung „Nun reit zurück!" zuschreit, folgt ein wahrhaft merkwürdiges „Gute Nachtl", das er dem Hinwegreitenden noch mit auf den Weg gibt, und das Reiser noch eine ganze Weile beschäftigen wird, weil ihm unentwegt „das komische gute Nacht einfiel, welches er gar nicht in den Zusammenhang dieser rührenden Erinnerung mit zu bringen wußte" (S. 498). Und wenn Reiser dies nicht einordnen kann, hält es der Erzähler nach vierhundert Seiten biographisch-psychologisch-pädagogischen Romans wohl

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auch nicht mehr für nötig, seine Attitüde des Erklärenden beizubehalten und seinem, Dank ihm, an Einsicht und Weisheit nun reicheren Publikum Näheres darzulegen. Am Ende oder Schluß des Romans - eine Differenzierung, die angesichts des Mitgeteilten nicht mehr tragend ist - wird nochmals Wolfgang Kaysers Wort von der „Kenntnis der Welt" sehr aktuell. Es geht nämlich wiederum um Schein - der aus den ironischen Begleitadjektiven des Erzählers spricht - und Sein, das sich durch Handlungen kundtut. Und wie ja im Laufe des AR so manch vermeintlicher 'Heiligenschein' seinen Glanz eingebüßt, aber im Gegenzug an Wahrheit und/oder Menschlichkeit gewonnen hat, so darf es auch nicht mehr verwundern, wenn dem Ideal, dem Ruhm, dem Beifall, der härteste und egozentrischste Pragmatismus entgegenstellt wird - denn daß nun, gleichgültig ob Wahrheit oder Dichtung, künstlerisch er- oder zusammengestellt wird, mag wohl schon einzig daran zu erkennen sein, daß die gleichen Mitglieder der Sp[eich]schen Truppe, die dem herangeeilten Reiser die „tröstliche Nachricht" geben, „daß der würdige Prinzipal dieser Truppe gleich bei seiner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe verkauft habe, und mit dem Gelde davongegangen sei" (S. 499), im Gasthofe Zum goldenen Herzen Trübsal blasen: eine Schlußpointe, die im wesentlichsten Don Quijotes, Yoricks und Reisers Weg durch die Gesellschaft zusammenfaßt. Der Schein des Seins steht somit tatsächlich und im wahrsten Sinne auf den Brettern, die die Welt bedeuten - und umgekehrt!

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5. SCHLUSS Wahrer Humor spricht aus der Weisheit des gereiften Don Quijote, aus seiner Erkenntnis, daß er nur im Dienste der Gemeinschaft und durch diese sich verwirklichen kann, daß er nur wirklich werden kann, indem er sich aufgibt und sich der Liebe zum Menschen hingibt: „Mis intenciones siempre las enderezo a buenos fines, que son de hacer bien a todos y mal a ninguno: si el que esto entiende, si el que esto obra, si el que desto trata merece ser llamado bobo, díganlo vuestras grandezas, duque y duquesa excelentes" (II, 32, 462). Aristophanes hat früh gezeigt, daß Gemeinschaft stets der Gefahr ausgesetzt ist, entmündigt zu werden, daß sich das große Abstrakte gegen den Menschen richtet, wie ja auch Don Quijote selbst an seiner 'honra', an seinem Geltungswillen zu leiden hat und andere darunter leiden läßt, weil sein Streben doch unbedingte Anerkennung sucht und auf Machtausübung angelegt ist. Sinnstiftendes Potential wird im Quijote aber durch das Zusammen- und Wechselspiel der frei agierenden Figuren und vornehmlich durch Dialog aktiviert, so daß sich dieser letztendlich als stets 'rettender' Halt zu behaupten weiß: Bei aller Brüchigkeit der Welt stellen das spontane Wort und der mit ihm verbundene Humor im Quijote weiterhin die verbindenden gemeinschaftlichen und unverwüstlichen Elemente dar. Der Veränderung/Anzweiflung/Brechung der Realität nicht nur durch Don Quijote entspricht romantechnisch die Aufsplitterung der Erzählinstanzen oder, besser, der Verzicht auf einen zentralen sinngebenden und definitiv (be-)urteilenden titanischen 'Kontrolleur', wie ihn die Geschichte der europäischen Romanliteratur schon kannte. Hiermit ist nach Aristophanes Cervantes der erste, der für die abendländische Kultur das Prinzip des Humors als relativierende, ausgleichende und versöhnende Kraft zwischen Realität und Ideal, zwischen Individuum und Gemeinschaft, schöpferisch ein- und im Roman literarisch umgesetzt hat. In England kann Cervantes' weltanschaulicher und ästhetischer Vorschlag weiterentwickelt werden, weil Tradition und soziale Umwälzungen des 17. Jahrhunderts den nötigen Freiraum bieten. Sternes ungebundene Digressionen vereinigen in sich die arrogan-

281

te rhetorische Überlegenheit bzw. Überheblichkeit Don Quijotes und die intelligent-naive Spontaneität Sanchos, die Selbstsicherheit eines souveränen Erzählers und das freie Bekenntnis, jeglichem Zweifel ausgesetzt zu sein521. Wie in England entwickelt sich auch in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Komplex von ökonomischen und sozio-kulturellen Phänomenen, welche mit den Termini 'soziale Differenzierung' oder 'Funktionalisierung' benannt werden, so daß auch für Deutschland mit dem 18. Jahrhundert eine spezifische Art von Modernität einsetzt. Spezifisch daher, weil bei aller Aufklärung - die deutschen Lande in diese neue Modernität eintreten, ohne die strikt hierarchischen, den neuen ökonomischen Verhältnissen im Grunde nicht mehr angemessenen Denkund Verhaltensweisen hinter sich lassen zu können. In diesem Sinne bewährte sich die lutherisch inspirierte Sozialdisziplinierung vergangener Jahrhunderte. Der Preis aber, der für die Anerkennung und Befolgung absolutistischer autoritärer Strukturen gezahlt wurde, war sehr hoch und drückte sich aus „als Entfremdung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft, als Einsamkeit und Orientierungsmangel sowie als Entfremdung im Individuum durch die Disjunktion von Vernunft und Triebstruktur".522 Dies bedeutet aber zugleich: Es kann für Deutschland im 18. Jahrhundert nicht von Gemeinschaft gesprochen werden, da nirgends ein als solches positiv empfundenes Verbindendes auszumachen ist. Ganz im Gegenteil charakterisieren sich im 18. Jahrhundert gesellschaftliche Beziehungen sehr stark durch Druckverlagerung und -Weitergabe. Das humanistische Erbe verworfen oder bis zur Unkenntlichkeit abgeändert, erfolgt nun unter dem Druck des Marktes und des Erwerbslebens etwas, das in der deutschen Tradition schon deutlich angelegt war: Die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, die bloße Existenz reicht tatsächlich nicht mehr als Le521

Schmidt, Die Selbstorganisation, S. 402, verwechselt relativistischen Humor mit selbstherrlicher Ironie, wenn er schreibt: „Bei Sterne wird die Diskrepanz zwischen Erzähler und Leser dann unüberbrückbar. Seine monologischen Romane drücken einen totalen Herrschaftsanspruch des Erzählers aus, der allein die Regeln des Erzählens und Lesens bestimmt". Gründlicher kann man Sterne und die Tradition, zu der er sich bekennt, nicht mißverstehen.

522

Schmidt, Die Selbstorganisation,

282

S. 415.

bensrechtfertigung aus. Vielmehr hat sich die Person hauptsächlich als Träger und Repräsentant des Berufs, dem sie nachgeht, zu bewähren523: Hiermit ist ein Schritt in Richtung einer neuen Art von Enthumanisierung getan, gegen die sich der autobiographische Roman AR von Anfang an wendet und wehrt: „die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften, und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen." Der Scheinlösung der Klassiker, vor dem politisch-sozialen Druck zu weichen524 und „den Autor und den Literaturkritiker aus allen lebenspraktischen gesellschaftlichen Bezügen" zu lösen525 und sich in „Bildung, Überzeitlichkeitsanspruch und Autonomie" zu retten526, womit die Systemwelt in Bereiche eindringt, die der Lebenswelt vorbehalten bleiben (müssen), kann und mag Karl Philipp Moritz nicht folgen. So wie der vielbewundertste und gelesenste fremdländische Autor der Zeit, Cervantes, im Gegensatz zu den „fingidas y disparatadas historias" der Ritterromane das wirkliche Leben in seinen Roman einströmen läßt, so 'rettet' auch Moritz sein Zeitalter, indem er es von Grund auf in Frage stellt. Dies geschieht auf recht subtile Weise durch den Erzähler oder die Erzählhaltung. Indem der pädagogisch erklärende Erzähler im AR die extremste Art von Aufklärung betreibt, die ihn als logische Konsequenz von der Pädagogik entfernen muß, weil diese an sich von einem ehemals erreichten oder zukünftig zu erreichenden optimalen Zustand ausgehen muß, jedoch im AR kein Vergangenheits-, Gegenwarts- oder Zukunftshorizont sichtbar wird, findet ein Stillstand im Potentiellen als solchem statt. Der Versuch Moritz', seinem Leben Sinn und Richtung zu verleihen, und das allgemeine Streben der v. a. deutschen Aufklärung, eine (entpolitisierte) Uto-

523

Vgl. ebenfalls Schmidt, der Schiller zitiert: „entwickelt er [der Mensch, A.P.] nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft". S. 415

524

Vgl. hierzu auch Michelsen, L. Sterne, S. 176.

525

Schmidt, Die Selbstorganisation,

S. 369.

526

Schmidt, Die Selbstorganisation,

S. 417.

283

pie der Vernunft und des Gefühls527 ins (zumindest geistige) Leben zu rufen, fallen somit zusammen - auch in ihrem Scheitern. Die soziopolitische Entwicklung in Europa seit dem Mittelalter, durch das Stichwort Entzauberung gekennzeichnet, geht hier weiterhin konsequent ihren Weg, bis sie sogar den ältesten und im Grunde größten Verzauberungskern, den des europäischen Adels, zur Seite fegt. Von „Desillusionsromantik"528 in Bezuf auf den Quijote oder den AR kann, wenn überhaupt, nur gesprochen werden, wenn die Aufgabe eines abstrakten unfruchtbaren 'Idealimus', hinter dem sich oft genug ohne größere Schwierigkeiten entweder gesellschaftliche Zurücksetzung und/oder sehr pragmatische Gedankengänge ausfindig machen lassen, gemeint ist, der nur fruchtbar wird, wenn es einen 'Helden' gibt, der über dem Individuum und über der Gesellschaft steht, aber für das Individuum in der Gesellschaft arbeitet: der humane, humorvolle Erzähler. Weder die im Prolog mitgeteilte Absicht, Harmonie in einen unzusammenhängenden Lebenslauf durch detailgetreue dichte Beschreibung zu bringen - „die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen", heißt es im Prolog zum ersten Teil (S. 6), „und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. - " im Prolog zum zweiten Teil (S. 122) - , noch die sich aufdrängende Charakterisierung des Erzählers als einfühlsamer Psychologe und belehrender Lehrmeister und die damit zusammenhängende 'medizinisch-therapeutische' Distanz, die er sich auferlegt, indem er u. a. seinen Protagonisten kein einziges Mal zu Wort kommen läßt, können letztendlich über die Tatsache hinwegtäuschen, daß im AR wenn auch nicht ein zotiger, direkt angreifender und aus seinem Werk hervorschauender Aristophanes, und auch nicht ein lebenserfahrener, mit allen Wassern gewaschener Cervantes am Werke sind, doch ein ihnen ebenbürtiger deutscher Nachkomme zur Seite steht, der nur insofern

527

Vgl. zur Aufklärung allgemein die hervorragende Einführung von Rolf Grimminger zu Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, S. 15-103.

528

So Fürnkäs, S. 93.

284

Konzessionen zu machen bereit ist, als diese nicht dem Prinzip des Relativen, nicht dem Prinzip des Maßes zuwiderlaufen529. Die erklärte Intention des Erzählers, in Antons Leben geordneten und ordnenden Sinn hineinzutragen, indem sich der Erzähler einer um das psychologische Moment erweiterten Aufklärungsattitüde bedient, die - gegen den Prolog zum ersten Teil, aber in Einverständnis mit dem Prolog zum dritten und vierten Teil: „vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann." (Prolog zum 3. Teil, S. 288) - vortäuscht, sich in den Dienst und somit in die Tradition der Eingliederungsdiskurse zugunsten gesellschaftlicher Durchstrukturierung und Funktionalisierung zu stellen, als ob es um die - hierin England vergleichbare - Entstehung der Psychiatrie als Nutzbarmachung des Individuums ginge, muß sich in Anbetracht der Tatsache, daß dem Erzähler tatsächlich der Mensch als Individuum, der Mensch also als 'Seele'530 - „I am positive I have a soul" - durchgängig wichtiger ist, als der persönliche oder allgemein gesellschaftliche Nutzen, der sich aus ihm ergeben könnte531, als Mimikry erweisen. So wie Anton selbst zeigt sich auch der Erzähler, der - unabhängig davon, welche Gestalt er annimmt - im Prinzip Anton überlegen ist, nicht bereit, den Menschen zu instrumentalisieren und zur Funktion herabzusetzen. Die bei aller Objektivität des Erzählerischen nicht zu übersehende Zersplitterung in quantitativ und an 'Gefuhlsbeteiligung' qualitativ unterschiedlich teilnehmende Erzählinstanzen532 fugen 529

Von hier ausgehend ließe sich in der Entwicklung der europäischen Literatur seit dem Mittelalter die Arbeitshypothese aufstellen, daß die den epischen Ritterhelden anhaftende Charaktereigenschaft des Maßhaltens vom Ritter auf den Erzähler übergegangen ist.

530

„Seele" ist ein wahres Lieblingswort des Erzählers, vgl. S. 16, 24, 32, 6 1 , 7 0 usw.

531

Die Institution Erziehung bedarf der - einfühlsamen! - Besserung: „Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche, nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer, und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein!", Prolog zum 3. Teil, S. 238.

532

Diese Splitterung des Erzählerischen kommt zur Scheidung zwischen analytischem und analysiertem Subjekt und zur komplexen, sich ändernden Charakterstruktur von Anton Reiser hinzu. Fürnkäs schränkt seine Analyse auf die Duplizität Erzähler - Subjekt ein. Vgl. Fürnkäs S. 40 ff. und besonders S. 43 ff..

285

ein entscheidendes Element der Vielschichtigkeit in die Darstellung ein, das einerseits Tiecks Wünschen nach Schilderung deutscher Realität um etwa zehn Jahre vorausgeht533, andererseits ein Element der Potentialität in ein wahrhaft modernes unheroisches Zeitalter weiterträgt, insofern sich keine einzige der Erzählinstanzen durchzusetzen vermag, also verworfen, aber nicht entschieden wird. Man darf sich aber nicht täuschen: Gerade im AR und auch am psychologischen oder biographischen Roman AR wird deutlich, daß Leben v. a. als Berufs- oder Bildungskonstrukt gehandhabt wird, dem nur eine bedingte Eigendynamik zukommt, da die Linien deutlich vorgezeichnet sind. Das bedeutet, daß Lebenswelt nicht so sehr 'In mir', sondern 'Außer mir' steht: erstes ist Problemquelle, zweites bietet die Sicherheit der Norm, den kalten, doch voraussehbaren und voraussagbaren Rhythmus des Systems534. Eines macht der Erzähler aber im AR, wie im Quijote auch, durchaus deutlich: Keine Bewältigungsstrategie, der eine Verklärung, Verschleierung oder Verdrängung zugrunde liegt, kann auf Dauer Erfolg haben. Denn das Maß aller, jeglicher Realität und der 'Wahrheit' selbst ist der gebrechliche, unvollkommene, lie533

„Der Wunsch, klare und bestimmte Ausschnitte unsers echten deutschen Lebens, seiner Verhältnisse und Aussichten wahrhaft zu zeichnen, regte sich lebthaft in mir. Cervantes Novellen hatten mich schon damals [Frühjahr 1795, A.P.] begeistert." Vorwort zu Der junge Tischlermeister, in: Tieck, Ludwig: Romane, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, S. 207. Dieser stete Verweis auf Soziales setzt, nebenbei gesagt, Fürnkäs' Affirmation einer 'Immanenz' des Werks AR deutliche Schranken (vgl. Fürnkäs, S. 41: „Der psychologische Roman, der in seiner Erzählung keine konstitutive Transzendenz zuläßt, sieht sich gezwungen, sich in seiner eigenen Immanenz zu verschanzen"). Hier soll keine weitere Auseinandersetzung mit Fürnkäs' Ansatz stattfinden, der, dies sei angemerkt, m. E. sehr problematisch und z. T. widersprüchlich ausfällt, und Fürnkäs selber sieht sich immer wieder gezwungen, seine eigenen Aussagen einzuschränken oder zu revidieren).

534

„Nach einer allgütigen und weisen Einrichtung der Dinge hat auch das mühevolle, einförmige Leben des Handwerksmannes, seine Einschnitte und Perioden, wodurch ein gewisser Takt und Harmonie hereingebracht wird, welcher macht, daß es unbemerkt abläuft, ohne seinem Besitzer eben Langeweile gemacht zu haben". AR, S. 61.

286

besbedürftige und gefährliche Mensch. Nach ihm hat sich jegliches soziale Projekt zu richten und an ihm hat es sich zu bewähren. Das Individuum aber lebt nicht für sich allein, sondern - Aristophanes hat es in seinen Theaterstücken deutlich gezeigt - in Gesellschaft: zu ihr hat die Kunst unweigerlich und bewußt kritisch Stellung zu nehmen, will sie nicht der Verklärung, der Verschleierung, der Verdrängung, letztendlich der Lüge bezichtigt werden. Die Potentialiät im Quijotet wie auch die Potentialität im AR, die an sich Kunst ausmacht, weil sie gerade da offene bewegliche Welten schafft, wo zuvor geschlossene verkrustete Systeme walteten, geht letztendlich darauf zurück, daß der Erzähler auf eher unauffällige, doch sinnreiche Weise deutlich zu machen weiß, daß der ZeöeHswiderspruch von Ideal und Wirklichkeit „sozialpsychologisch objektiviert und auf seine lebensweltlichen Ursachen zurückgeführt werden" muß535. Es handelt sich hier um eine Auffassung, die im politisch unterdrückten und sozial funktionalisierten Deutschland des 18. Jahrhunderts den Erzähler im AR, den Autor Moritz, den Schriftsteller überhaupt in die Isolation und in die Einsamkeit trieb: ein Schicksal, das auch schon Cervantes vorleben mußte. Im Scheitern der verschiedenen Erzähl(er)rollen, die Moritz ausprobiert, um vielleicht doch einen ganzheitlichen verbindenden Sinn in die unstete und ruhelose Lebensgeschichte, in das Fragen und Leiden seines Protagonisten bringen zu können - und der 'Leerlauf des Erzählers ähnelt hier dem Treiben Don Quijotes - , liegt die Größe des autobiographischen Romans AR: Er schafft offene Welten, wo zuvor geschlossene Anschauungen und Systeme walteten, er gibt der Literatur zurück, was der Literatur gehört, er setzt auf seine Weise und für Deutschland die kommunizierende, dialogische, demokratische Literatur fort, die in Aristophanes den ersten _?_ hat: „matar al padre que me engendrö"536.

535

Fürnkäs, S. 92.

536

Das Individuum hat aus eigenem Antrieb den entstandenen Leerraum zu füllen.

287

BIBLIOGRAPHIE: Verzeichnis

PRIMÄRLITERATUR UND QUELLEN

289

UMFASSEND

293

ARISTOPHANES, KLASSISCHES ALTERTUM

295

CERVANTES, SPANIEN

296

ENGLAND UND D O N QUIJOTE

298

BEZIEHUNGEN SPANIEN -

DEUTSCHLAND, DER QUIJOTE

IN

DEUTSCHLAND

300

DEUTSCHLAND UND DEUTSCHE LITERATUR

305

K A R L PHILIPP M O R I T Z UND ANTON REJSER

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Hier aufgenommen sind alle in den Anmerkungen zitierten Arbeiten und ferner diejenigen, die dem Verfasser im Rahmen der hier untersuchten Zusammenhänge beachtenswert erscheinen.

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