Oedipus und Echnaton

War Oedipus, der seinen Vater erschlug und mit seiner Mutter Kinder zeugte, ein Produkt des Unterbewusstseins? War er ei

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German Pages 234 Year 1966

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Oedipus und Echnaton

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War Oedipus, der seinen Vater erschlug und mit seiner Mutter Kinder zeugte, ein Produkt des Unterbewusstseins? War er eine mythologische Figur oder eine wirkliche, historische Gestalt? Seit Jahrhunderten haben diese Fragen unzählige Menschen beschäftigt. Erst die Ausgrabungen des 20. Jahrhunderts in Tell el-Amarna und im Tal der Könige haben den Weg zu ihrer Lösung gewiesen. Gestützt auf die Ausgrabungsergebnisse und auf den Text der Oedipus-Dramen von Sophokles und Euripides kommt Dr. Velikovsky in seinem neuen Buch zu einem verblüffenden Ergebnis: das Urbild des Oedipus sei niemand anderer als der Pharao Amenophis IV., der sich den Namen Echnaton gab, bekannt als der erste Monotheist und Vater des berühmten Königs Tutanchamûn in einer der glanzvollsten Epochen der ägyptischen Geschichte. Das erstaunliche Wissen und die Scharfsinnigkeit des Autors machen aus dieser tiefdringenden Analyse weit mehr als eine archäologische Studie. Sein Buch wirft neues Licht auf das Wesen der klassischen Tragödie, zwingt zur Auseinandersetzung mit der Lehre Freuds und bringt uns eines der wichtigsten Kapitel der alten Geschichte als Erlebnis nahe. Es ist so spannend geschrieben, dass es den Leser auf jeder Seite in seinen Bann zwingt.

Immanuel Velikovsky

Oedipus und Echnaton Mythos und Geschichte

Europa – Verlag

Ins Deutsche übertragen von Ilse Fuhr und Dr. Albert Fuhr Titel der Originalausgabe: »Oedipus and Akhnaton«

Gescannt und bearbeitet von Jothas (2020). Nicht seitenkonkordante Scanversion der Originalausgabe. Überführt in die Neue Deutsche Rechtschreibung.

© 1960 by Immanuel Velikovsky. Alle Rechte in deutscher Sprache Europa Verlag A.G. Zürich 1966. Printed in Germany

Inhalt Vorwort

Erster Teil Die Sage – Die Sphinx – Das Siebentorige Theben und das Hunderttorige Theben – Amenophis III. und Teje (42) – Ein Fremdling auf dem Thron – »Der König, der in der Wahrheit lebt« – Die Stadt der Sonne – Der Bruder der Königin – Des Königs Mutter und Gattin – Inzest – Nofretete – Der König gestürzt – Der blinde Seher – Der blinde König

Zweiter Teil »Ein grausiger, schmachvoller Anblick« – »Geehrt nach allen Riten« – »Eine Höhle im Fels als Grab« – »Nur eine Schwester über seiner Bahre« – Tejes Ende – »Dies war Ödipus« – König Eje und ein »Ausbruch von Hass« – Der Fluch – Spuren über das Meer – Der Seher unserer Zeit – Schluss Abbildungen auf dem Schutzumschlag: Vorne: Echnaton als junger König (Museum Berlin). – Rückseite: Echnaton führt Teje und Beketaton zum Tempel (Hujas Grab).

Für Horace M. Rallen

Vorwort An den Gestaden des Mittelmeeres, irgendwo zwischen Ägypten und Griechenland, las ich vor zwanzig Jahren Freuds letztes Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Durch den Inhalt fühlte ich mich veranlasst, mehr über Echnaton, den eigentlichen Helden jenes Buches, in Erfahrung zu bringen. Schon bald fielen mir einige deutliche Parallelen zwischen dem ägyptischen König und dem Ödipus der Legende auf. Wenige Monate danach befand ich mich in den Bibliotheken der Neuen Welt, umgeben von vielen mächtigen Bänden über die Ausgrabungen in Theben und El-Amarna. Diese Studien führten mich auf das weite Feld der ägyptischen Geschichte und zu dem Konzept von Zeitalter im Chaos, einer Rekonstruktion von zwölf hundert Jahren der Geschichte des Altertums: eine sehr mühevolle Arbeit, die mich zwölf Jahre in Anspruch nahm. Während dieser ganzen Zeit und noch darüber hinaus ruhte mein Werk über Ödipus und Echnaton, das die Form vieler Notizen und eines kurzen Entwurfs angenommen hatte. Somit war ich dem Rat des Horaz, ein Manuskript vor seiner Veröffentlichung neun Jahre liegen zu lassen, nachgekommen, und zwar um das Doppelte; denn achtzehn Jahre vergingen zwischen der Konzipierung dieses Werkes, dem ersten Entwurf bis zur bereinigten Niederschrift und zur Vorbereitung für den Druck. Diese Verzögerung wirkte sich sehr zugunsten meines Vorhabens aus. In den dazwischenliegenden Jahren erschienen mehrere wichtige Veröffentlichungen über den Pharao Echnaton und seine Familie. Aus diesen Arbeiten konnte ich anhand der durch sie bekannt gewordenen archäologischen Tatsachen weiteren Rückhalt für meine Theorie gewinnen. Die Geschichte warf neues Licht auf die alte Sage, aber auch die alte Sage warf neues Licht auf die Geschichte. »Echnatons siebzehn Jahre währende Herrschaft als Pharao von Ägypten ragt aus der langen Zeitfolge der ägyptischen Geschichte als die

weitaus interessanteste Epoche heraus«, schrieb Arthur Weigall und fügte hinzu: »Es gibt wahrscheinlich in der Geschichte des Altertums keine Periode, die eine weitere Aufhellung so sehr verdient1.« Soviel ist bekannt: Echnatons religiöse Reform wurde gänzlich abgeschafft, sein Geschlecht starb aus und seine Stadt und seine Paläste wurden verlassen. Die Geschichtsschreibung aber beteuert, von den Ursachen all dieser Ereignisse nichts zu wissen, weder vom persönlichen Schicksal Echnatons noch von dem, was während der Zeit der Anarchie geschah, die auf das Ende dieser ruhmreichen Dynastie folgte – oder ihm vielleicht vorausging. Echnatons Tod, das Los seiner beiden jugendlichen Nachfolger, Semenchkaré und Tutanchamûn, der Verfall des Reiches und das Schicksal Thebens – all das wird verständlich mit Hilfe eines Sagenzyklus, der sich im östlichen Mittelmeer und auf griechischem Boden erhalten hat. Die geheimnisvollen Beziehungen, die unverständlichen Funde in den Gräbern, der rätselhafte Ablauf der Ereignisse bleiben nicht dunkel und geheimnisvoll, wenn sie im Lichte der Sage betrachtet werden. Fehlt aber die Aufhellung durch die Sage, so leuchten die historischen Tatsachen und Funde in ihrem eigenen Licht und ihre geheimen Beziehungen werden verständlich vermöge der ihnen innewohnenden Beweiskraft. Das Buch Ödipus und Echnaton kann völlig unabhängig von meinen anderen Werken gelesen werden, schließt aber genau an den ersten Band von Zeitalter im Chaos an, der die Epoche behandelt, welche zwischen dem großen Aufruhr, der das Ende des Mittleren Reiches herbeiführte, und der des Pharaos Echnaton liegt. Das vorliegende Buch erzählt seine Geschichte und die der tragischen Geschehnisse am Ende der XVIII. Dynastie. Ein weiterer, leider schon allzu lange hinausgeschobener Band von Zeitalter im Chaos soll meine historische Rekonstruktion bis zu Alexander dem Großen fortführen. 1

»The Life and Times of Akhnaton« (1922), Vorwort.

Es ist eine der Ironie nicht entbehrende Nebenerscheinung der vorliegenden Arbeit, dass sowohl Ödipus als auch Echnaton die Helden Freuds waren. Ihre große Ähnlichkeit, ja sogar Identität erkannte er nicht; in dem einen sah er die symbolische Gestalt eines Frevlers, der Qualen litt unter den sündigen, aber nur allzu menschlichen Trieben, denen er sich hingab, und im andern einen Heiligen, den »ersten Monotheisten« und Vorläufer Moses, des Gesetzgebers. Dieser Bericht muss unvermeidlich einen wichtigen Punkt der Religionsgeschichte berühren. Der Weg zum Monotheismus war gewunden und voller Dornen. Echnaton jedoch war nicht »der erste Monotheist«; dass spätere Pharaonen ihn »der Verbrecher« nannten, ist nicht so sehr das Ergebnis seiner religiösen Reform, als vielmehr das Ergebnis anderer Umstände, deren Geschichte der Inhalt dieser Seiten sein wird. * Während der Arbeit an der endgültigen Fertigstellung des Manuskripts (September 1958 bis November 1959) war mir Dr. Walter Federn, Ägyptologe und Bibliograph, in einzigartiger Weise behilflich als Informationsquelle und Führer durch die umfangreiche Literatur der Ägyptologie. Mein Manuskript, das ich schon als nahezu fertig betrachtete, wurde durch einige wichtige Beweisstücke bereichert; sie stammten aus der Masse des ägyptischen archäologischen Materials sowie aus der nie verstummenden Debatte in Zeitschriften, die sich mit einer Reihe ungelöster Probleme dieses Gebiets befassen. Dr. Federn leistete seine großzügige Hilfe im Geist einer konstruktiven Kritik, unabhängig davon, ob er in irgendeinem Punkte mit mir übereinstimmte oder nicht. Die Grundidee und Planung des Buches, seine Einzelheiten und die Schlussfolgerungen stammen von mir und ich übernehme die alleinige Verantwortung dafür. Immanuel Velikovsky

Erster Teil

Die Sage Die griechische Sage von dem Vatermörder, der seine Mutter heiratet und im Inzest mit ihr Kinder zeugt, ist mehr als 27 Jahrhunderte alt. Etliche hundert Jahre lang ging sie von Mund zu Mund und wurde als Dichtung vorgetragen, von der aber mm wenige Zeilen erhalten geblieben sind. Dann eroberte sie in der Form von Theaterstücken, die Aischylos, Sophokles und Euripides und in deren Gefolge auch weniger bedeutende Autoren verfassten, einen hervorragenden Platz in der Literatur der klassischen Zeit, des Mittelalters und auch der Neuzeit. Die Erzählung bemächtigte sich der menschlichen Phantasie und hat sie selbst nach fast drei Jahrtausenden immer noch nicht losgelassen. Sigmund Freud erklärte, die Ödipussage sei entstanden aus dem unbewussten Wunsch eines Sohnes, seine Mutter zu besitzen und seinen Vater durch Mord aus dem Weg zu räumen. Sir James Frazer sammelte aus der Folklore primitiver Stämme viele Einzelheiten, die Freud dazu benutzte, seine Theorie zu erhärten: in der Steinzeit pflegten die erwachsenen Söhne des Höhlenmenschen, des unbestrittenen Despoten in der Höhle, ihn zu ermorden, um seine Weiber, ihre Mütter, besitzen zu können. Nach der psychoanalytischen Theorie spielt in der neurotischen Situation des modernen Mannes der Ödipuskomplex eine entscheidende Rolle. Das Verhalten der Neurotiker und der Inhalt ihrer Träume, die in unzähligen medizinischen Berichten festgehalten wurden, bestätigt nach Ansicht der Analytiker Freuds Theorie. Der unterbewusste Trieb, die Mutter zu besitzen, in Träumen verborgen oder durch sie enthüllt, war den Alten nicht unbekannt. Sophokles lässt in seinem Oidipus Rex Iokaste, die noch nicht weiß, dass Ödipus ihr Sohn ist, zu ihm sagen: »Ängstige dich nicht wegen dieser Heirat mit deiner Mutter; von solchen Dingen träumen Männer oft;

doch wer sich am wenigsten darum kümmert, lebt am glücklichsten1.« Die Verfasser des Talmud, die Rabbis der Frühzeit, verstanden es gut, den Ödipuskomplex durch geschickte Interpretation aufzuspüren. In dem Kapitel über die Traumdeutung aus dem Traktat Brachot des Babylonischen Talmud wird im Namen des Rabbi Ismael gesagt, wenn jemand träume, er gieße Öl an einen Ölbaum, so sei er von dem Wunsch nach blutschänderischen Beziehungen zu seiner Mutter besessen2. Ist nun die Ödipussage ein Mythos, eine dichterische Schöpfung, die aus den Tiefen des Unterbewusstseins emporstieg, ohne auf wirkliche und bestimmte historische Tatsachen gegründet zu sein? Gab es also keinen geschichtlichen König Ödipus, keine Iokaste, seine Mutter, die er heiratete, und keinen Laios, seinen Vater, den er erschlug? Oder basiert die Ödipussage doch auf historischem Geschehen? Wenn das letztere richtig ist, dann könnte der beherrschende, Jahrhunderte überdauernde Eindruck auf die Phantasie der Schriftkundigen als ein wirkliches Erleben gedeutet werden, das seinen Widerhall in dunklen Tiefen vieler Menschenseelen gefunden hat. Diese Frage nach dem historischen Hintergrund der Erzählung von Ödipus hat die Gelehrten der klassischen Wissenschaften lange Zeit beschäftigt, doch wurde nie ein Anhalts-

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In »The Complete Greek Drama«, übersetzt von R. G. Jebb, herausgegeben von Whitney J. Oates und Eugene O’Neill, jr. (1958). Das Thema wird behandelt bei Plato, »Der Staat«, Buch IX. Julius Cäsar hatte in der Nacht, ehe er den Rubikon überschritt, einen blutschänderischen Traum in Bezug auf seine Mutter, der als Vorzeichen für Sieg und Eroberung gedeutet wurde. Sueton, »Julius Caesar«, 7; Plutarch, »Vitae«, Caesar, 32. Siehe meinen Artikel »Psychoanalytische Ahnungen in der Traumdeutungskunst der alten Hebräer nach dem Traktat Brachot«, Psychoanalytische Bewegung, V (1935). Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien.

punkt dafür gefunden. Zwar erwähnten zahlreiche Dichter3 und nicht wenige Historiker Griechenlands und Roms Ödipus und sein tragisches Schicksal4; sie bezogen sich aber offensichtlich auf die Darstellungen, die von den großen Dichtern Aischylos, Sophokles und Euripides geschaffen wurden. In der nachklassischen Zeit, im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wurden Pausanias, einem reisenden Historiker, an mehreren Orten bei Theben und Kolonos in Griechenland Grabstätten als die der Helden des Ödipuszyklus gezeigt. Jedoch sind »drei von den dem Ödipus zugeschriebenen Gräbern und Kultstätten bestimmt jüngeren Datums5«. Nur vom Grab des Eteonus in Böotien kann behauptet werden, es stamme aus sehr alter Zeit, doch deutet nichts auf eine Beziehung zu Ödipus hin. »Wo er begraben liegt, wusste in späterer Zeit niemand mehr6.« Keiner der bei Ausgrabungen in Griechenland und auf den griechischen Inseln gemachten Funde liefert einen Beweis für die Historizität des Königs Ödipus oder des königlichen Hauses des Laios überhaupt. »Ich bin überzeugt, dass der Ursprung des Ödipus nicht in der Geschichte, sondern in Volkserzählungen zu finden ist«, schrieb ein Fachgelehrter; die Legende geht zwar zurück bis in die mykenische Zeit, doch handelt es sich nur um eine Volkssage7. Nicht alle Gelehrten sind jedoch mit der Ansicht einver3

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Von den Dichtern der Frühzeit haben Homer, Hesiod und Pindar die Tragödie in Theben erwähnt. Antimachus von Teos schrieb eine »Thebaide«; ebenso Antagoras von Rhodos, Menelaos von Aigai und Nikander von Kolophon. Unter ihnen Pherekeides, Hellenikos, Diodorus, Nikolas von Damaskus, Apollodorus, Hyginus, Palaiphatos, Malalas, Johannes von Antiochien. M. P. Nilsson, »The Mycenean Origin of Greek Mythology« (California University Press, 1932), S. 103. H. J. Rose, »Modem Methods in Classical Mythology« (1930), S. 27. Nilsson, »The Mycenean Origin of Greek Mythology«, S. 103.

standen, die Erzählung habe mythologischen Charakter. H. J. Rose sagt in Modern Methods in Classical Mythology: »Wenn eines Tages einem Ausgräber ein einwandfrei identifizierbares Fundstück des echten Ödipus als Lohn seiner Bemühungen zufiele, wie die Entdeckung von Priamus’ Stadt (Troja) Schliemanns festen Glauben belohnte, wäre ich erfreut, aber keineswegs überrascht8.« Die früheste Erwähnung der Ödipussage findet sich in Homers Odyssee. Das Epos wurde sehr wahrscheinlich im frühen 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung schriftlich auf gezeichnet; es beschreibt die Irrfahrten des Odysseus nach dem Fall Trojas, an dessen Belagerung er teilgenommen hatte. Auf seiner Wanderung stieg er auch in den Hades hinab, den Aufenthaltsort der Abgeschiedenen, wo er die unglückliche Frau und Mutter des Ödipus sah, die von Homer Epikaste genannt wird. Ödipus’ Mutter sah ich sodann, Epikaste, die schöne, Welche so große Tat unwissenden Herzens begangen, Da sie dem Sohn sich vermählte, der seinen Vater erschlagen, Und sie zum Weib nahm. Aber die Götter machten’s den Menschen kund … Da sie ans hohe Gebälk sich knüpfte die tödliche Schlinge, Als sie dem Jammer erlag9. Es wird allgemein anerkannt, dass der Sagenzyklus um Ödipus älter ist als der sogenannte homerische Zyklus um die Belagerung Trojas durch die Griechen oder Achäer unter der Führung Agamemnons, ja sogar noch älter als die Zeit der Tyrannen Thyestes und seines Bruders Atreus, des Vaters von Agamemnon. Die kurze Erwähnung der Ödipustragödie in der Odyssee 8 9

Rose, »Modern Methods in Classical Mythology«, S. 28. Homer, »Odyssee«, XI, 271 ff. (nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voss).

erlaubt uns lediglich die Schlussfolgerung, dass die Sage vor dem 7. Jahrhundert entstanden sein muss, da in dieser Zeit die Epen Homers niedergeschrieben wurden. Mit der Feststellung der Entstehungszeit der Sage wird aber noch nicht das Problem gelöst, ob sie auf historischen Ereignissen beruht oder nicht. Damit wir uns eingehender mit dieser Frage befassen können, wollen wir sie so erzählen, wie sie uns aus den griechischen Tragödien bekannt ist und auch von anderen Dichtern überliefert wurde. Laios, der König von Theben, und seine Gemahlin Iokaste blieben lange kinderlos. Als die Königin schließlich schwanger wurde, prophezeite das Orakel, dem Sohn, den sie gebären würde, sei es bestimmt, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Nach der Geburt wurde das Kind einem Diener des Königs übergeben mit der Weisung, es in der Wildnis mit durchstochenen Füßen auszusetzen, damit es dort umkomme. Das Kind wurde aber einem Hirten überlassen oder von ihm gefunden, und seine Frau und er nahmen sich seiner an. Später brachte er das Kind nach Korinth in den Königspalast des Polybos und der Merope, die den Knaben adoptierten und ihn seiner geschwollenen Füße wegen Ödipus nannten. Dort wuchs er auf im Glauben, er sei der leibliche Sohn des Königspaares. Nach der Bemerkung eines Gastes während eines Festessens im Palast begann der Jüngling sich Gedanken über seine Herkunft zu machen; er wanderte zum Orakel in Delphi, wo er erfuhr, er sei dazu verdammt, ein Vatermörder zu werden. Voller Entsetzen kehrte er nicht in den Palast des Polybos zurück, um seinem vorausbestimmten Schicksal zu entgehen. Auf seinen einsamen Wanderungen begegnete er an einer Gabelung von drei Straßen seinem leiblichen Vater Laios, der in einem Wagen unterwegs war. Als der junge Mann den Weg nicht schnell genug freigab, traf ihn der Wagenlenker mit der Peitsche, worauf der Jüngling den Lenker und dessen Herrn erschlug. Unbekümmert setzte er seinen Weg fort und gelangte nach Theben. Der Zugang zur Stadt war von der Sphinx, einem

geflügelten weiblichen Ungeheuer, bewacht. Jeden, der in die Stadt wollte, hielt die Sphinx an und gab dem Ankömmling ein Rätsel auf; wurde, was gewöhnlich der Fall war, das Rätsel nicht gelöst, fand der Fremdling den Tod durch das weibliche Untier. Die Sphinx stellte Ödipus folgende Frage: Wer ist es, der des Morgens auf vier, am Tage auf zwei, am Abend aber auf drei Beinen einher geht? Ödipus löste das Rätsel: Es ist der Mensch – denn als Kind kriecht er auf allen Vieren, als Mann wandelt er auf zwei Beinen und im Alter stützt er sich beim Gehen auf einen Stock. Aus Verzweiflung über die richtige Antwort stürzte sich die Sphinx über die Felsen hinab in den Tod. Ödipus betrat Theben, und die Einwohner, zum Dank für die Befreiung der Stadt von dem Ungeheuer, boten ihm an, ihre erst kürzlich verwitwete Königin zu heiraten und zugleich das Königreich zu übernehmen. Ohne zu wissen, dass sie seine Mutter war, lebte Ödipus glücklich mit Iokaste; sie gebar ihm zwei Söhne, Polyneikes und Eteokles, und zwei Töchter, Antigone und Ismene. Seine Untertanen achteten und liebten ihn, und man hielt ihn für einen gerechten und weisen Mann. Dann aber kam ein Zeichen des Himmels – eine Seuche, eine Hungersnot oder ein anderes Unglück. Als das Orakel darüber befragt wurde, was wohl den Zorn der Götter herauf beschworen habe, war die Antwort, in ihrer Mitte sei ein Verbrechen begangen worden: ein Sohn habe seinen Vater getötet und lebe ungestraft weiter unter ihnen. Um die Götter zu versöhnen, müsse der Verbrecher getötet oder in die Verbannung geschickt werden. In ständig wachsender Unruhe befragte Ödipus verschiedene Zeugen – den Diener, welcher den Säugling in die Wildnis gebracht, den Hirten, der ihn gerettet hatte – und schließlich ahnte er die Wahrheit. Iokaste erhängte sich voller Verzweiflung, Ödipus aber in seiner Seelenqual blendete sich selbst und verließ kurz danach als Verbannter Thron und Stadt. Kreon, der Bruder Iokastes, spielte bei allen diesen Ereignissen eine bedeutsame Rolle. Er trat Ödipus feindselig entgegen

und bestand hartnäckig auf dessen Bestrafung. Antigone, eine der beiden Töchter des Ödipus, begleitete ihren blinden, heimatlosen Vater auf seinen Wanderungen. In Theben bestieg der ältere Sohn, Polyneikes, den Thron seines Vaters mit der Verpflichtung, ihn nach Jahresfrist dem jüngeren Eteokles einzuräumen und die Herrschaft nach einem weiteren Jahr wieder zu übernehmen, sodass also die zwei Brüder abwechselnd regieren sollten. Kreon war es, der diese Regelung veranlasste. Als aber die Zeit herannahte, da Eteokles seinem Bruder wieder den Thron abtreten sollte, weigerte er sich dies zu tim und fand dabei die Unterstützung Kreons, der in Wirklichkeit die Herrschaft über das Land innehatte. Mit einem Heer fremder Söldner, die sein Schwiegervater Adrastos, der König von Argos, für ihn zusammengezogen hatte, belagerte Polyneikes die Stadt Theben. An den sieben Toren des Siebentorigen Theben trafen von jeder Seite sieben Anführer im Zweikampf aufeinander; Polyneikes und Eteokles töteten sich gegenseitig im Kampf, und so erfüllte sich ihres Vaters Fluch, den er voll Erbitterung gegen seine Söhne ausgestoßen hatte, als sie ihn aus der Stadt vertrieben. Kreon verbot, Polyneikes zu begraben, weil er die Stadt und ihre Bürger bekämpft habe. Er ließ verkünden, dass jeder, der es wage, dieses Verbot zu missachten, sterben müsse. Den Vögeln und Hunden zum Fraß solle der Leichnam des Polyneikes liegen bleiben, wo der Unglückliche gefallen war. Für Eteokles aber ordnete er Staatstrauer und Feierlichkeiten an und stattete ein prächtiges Grab mit Beigaben für den Toten aus; er selbst, nunmehr König, leitete die Trauerveranstaltungen. Antigone vermochte es nicht zu ertragen, dass ihr Bruder unbestattet bleiben sollte; sie übertrat Kreons Verbot, wurde aber dabei ergriffen und von Kreon zu einem langsamen Tod durch Einmauern in einer Grabhöhle verurteilt. Als eine neue Generation herangewachsen war, kamen die Söhne der sieben gefallenen Helden, um die Belagerung Thebens wiederaufzunehmen. Und diesen als »Epigonen« bekann-

ten Nachfahren gelang, woran ihre Väter gescheitert waren: sie eroberten die Stadt. Des Laios Geschlecht war verflucht, und jeder Versuch, das vorausbestimmte Schicksal abzuwenden, war vergeblich. Die Sage berichtet noch, dass dieser Fluch über Laios und die Seinen verhängt worden sei, weil er als erster die widernatürliche Liebe auf griechischem Boden eingeführt habe: Er verführte den Jüngling Chrysippos. Was hier erzählt wurde, gibt im Wesentlichen die Version des Sophokles wieder, wie er sie in seiner Trilogie Oidipus Hex, Oidipus auf Kolonos und Antigone gestaltet hat. /,wischen den Fassungen von Sophokles, Euripides und Aischylos bestehen viele Unterschiede. Aischylos schrieb ebenfalls eine Trilogie, von der nur noch ein Teil, Die Sieben gegen Theben, vorhanden ist; Laios und Oidipus sind nicht erhalten geblieben. Auch Euripides schrieb einige Stücke über den Sagenzyklus, von denen aber nur Die Phönizierinnen auf uns gekommen sind10. In Abweichung von Sophokles machten Aischylos und Euripides Eteokles zum älteren der Brüder, und während sich Euripides auf die Seite des Polyneikes schlug, nahm Aischylos für Eteokles Partei. Es gibt jedoch in der Sage, wie sie aus anderen Quellen bekannt ist, noch größere Unterschiede. Nach der einen Fassung erschlägt Ödipus Laios nicht bei einem zufälligen Zusammentreffen, sondern als Verteidiger oder Rächer des Chrysippos. Eine im Altertum weitverbreitete Version berichtet, die Kinder des Ödipus seien nicht von seiner Frau und Mutter Iokaste, sondern von Euryganeia, einer anderen Gemahlin des Ödipus, geboren worden. Eine weitere Version besagt, dass einige der Kinder von Iokaste, und die anderen von Euryganeia stammten, und dann wieder heißt es, er habe eine dritte Ehe mit einer Jungfrau, Astymedusa11, geschlossen. Auch soll er, nach einigen Varian10

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Außer in diesem Stück behandelt Euripides in »Die Bittsteller« ein Ereignis, das in enger Beziehung zu dem thebanischen Drama steht. E. Bethe, »Thebanische Heldenlieder« (1891), S. 25, 26.

ten, nicht in die Verbannung gegangen sein, sondern in Theben in einem Palast als Gefangener weitergelebt haben, oder er wurde, jedoch nicht gleich nach dem Verlust seines Thrones, von dem zuerst regierenden Polyneikes verbannt. Diese Angabe findet sich auch in der von Sophokles stammenden Version, und zwar in Oidipus auf Kolonos (»Verruchter, als Du noch das Szepter trugst, mit dem dein Bruder jetzt die Stadt regiert, da triebst du deinen eigenen Vater aus, dass heimatlos er Bettlerkleider trägt …«)11a. Euripides ließ Iokaste weiterleben bis zu dem Zweikampf der Brüder Polyneikes und Eteokles, nachdem sie vergeblich versucht hatte, diesen Kampf zu verhindern. Bei den Tragikern wie den anderen Dichtern gibt es noch viele Abweichungen. Nach der legendären Zeitordnung begann der Krieg der Sieben gegen Theben zwanzig Jahre vor dem Trojanischen Krieg und dreißig Jahre vor der Eroberung dieser Feste. Der Krieg der Epigonen gegen Theben wurde zehn oder vierzehn Jahre nach dem der Sieben gegen Theben angesetzt, also nur wenige Jahre vor dem Aufbruch der Streitmacht unter Agamemnons Führung. Mehrere Gelehrte12 nahmen an, »dieser Mythos sei eine historische Reminiszenz an eine kriegerische Unternehmung verbündeter argivischer Fürsten gegen Theben«13. Selbst darüber, ob der Trojanische Krieg historisch sei, traten Zweifel auf und die Helden der homerischen und thebanischen Sagenkreise wurden sogar noch häufiger als mythische Persönlichkeiten bezeichnet. Lord Raglan ist noch weit skeptischer als andere in Beziehung auf die Geschichtlichkeit legendärer Gestalten im Allgemeinen, besonders aber gegenüber der Überlieferung solcher Völker, die es zu keiner eigenen Literatur gebracht haben. In seinem Buch The Hero14 zitiert er einen anderen Autor: »Das 11a 12 13 14

Übersetzung von Ernst Buschor. Wilamowitz, Eduard Meyer, C. Robert. Nilsson, »The Mycenean Origin of Greek Mythology«, S. 109. Oxford University Press, 1957.

einfache Volk hat keinen Geschichtssinn; es würde nichts Unwahrscheinliches darin sehen, wenn in der gleichen Ballade St. Georg und Napoleon zusammenträfen.« Im »Volksgedächtnis« oder in der »Volksüberlieferung« werden nicht nur Orte und Ereignisse entstellt und verschoben, sie sind sogar in ihrer Mehrzahl reine Erfindungen. »Die Schnelligkeit, mit der historische Ereignisse vergessen werden, beweist, wie unwahrscheinlich es ist, dass alles, was in Form von Tradition im Gedächtnis haftet, auch Geschichte sein muss.« Häufiger als über alles andere erzählen Überlieferungen von Königen, Königinnen und dem Königshaus. »Nun sind aber auch heute die Berichte, die über das Leben am Hof umlaufen, immer ungenau, ja oft unwahr, und wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass die Sachlage vor tausend oder fünftausend Jahren anders gewesen wäre.« Nach Lord Raglans Ansicht kann nur in den Fällen etwas der historischen Wahrheit Nahekommendes erwartet werden, in denen schriftliche Aufzeichnungen von Zeitgenossen vorliegen, die das Vorkommnis selbst erlebt oder als Augenzeugen gesehen haben. Von alten Sagen, die in ihrer Mehrzahl von Ungebildeten übermittelt wurden, kann nicht behauptet werden, sie enthielten Material für die Geschichtsschreibung. »Ausdrücke wie ›Rassen- oder Volksgedächtnis‹ erwecken die Vorstellung, es gäbe in jeder des Lesens und Schreibens unkundigen Gemeinschaft so etwas wie unser Staatsarchiv, und verwischen die Tatsache, dass jede nichtschriftliche Überlieferung in jeder Generation eine mindestens einmalige, von einer bestimmten Person bewusst gewollte Übermittlung voraussetzt15.« Die legendären Helden sind nach Lord Raglans Meinung erfundene Personen, die einem bestimmten Vorbild entsprechen. Dieses Vorstellungsbild vereinigt in sich folgende Merkmale: »Die Mutter des Helden ist eine Jungfrau königlichen Blutes, sein Vater ein König und oft ein naher Verwandter der Mutter, aber die Umstände bei seiner Empfängnis sind ungewöhnlich; 15

Ebenda, S. 13-17.

daneben gilt er auch als Sohn eines Gottes. Bei seiner Geburt wird auf ihn ein Anschlag verübt, gewöhnlich von seinem Vater oder Großvater mütterlicherseits (oder dem Oberherrn des Gebietes), um ihn zu töten, er verschwindet jedoch auf geheimnisvolle Weise und wird in einem fernen Land von Pflegeeltern aufgezogen. Von seiner Kindheit erfahren wir nichts, wenn er aber das Mannesalter erreicht hat, kehrt er zurück oder begibt sich in sein zukünftiges Königreich. Nach einem Sieg über den König und/oder einen Riesen, einen Drachen oder ein wildes Tier, heiratet er eine Prinzessin, oft die Tochter seines Vorgängers, und wird selbst König. Eine Zeitlang regiert er ohne besondere Ereignisse, erlässt Gesetze, verliert aber später die Gunst der Götter und/oder seiner Untertanen, wird vom Thron und aus der Stadt vertrieben und stirbt dann, oft auf dem Gipfel eines Berges, eines geheimnisvollen Todes. Seine Kinder, sofern er solche hat, treten nicht seine Nachfolge an. Sein Leichnam wird nicht begraben, er besitzt aber trotzdem eine oder mehrere geweihte Grabstätten16.« Dieses Leitbild hat Lord Raglan auf verschiedene Heroen angewandt, angefangen mit Ödipus und weiter bei Theseus, Kumulus, Herakles, Perseus, Jason, Asklepios, Dionysos, Apollo, Zeus, Joseph, Mose, Siegfried, Artus, Robin Hood und vielen anderen. Er untersuchte dabei, in wie vielen Punkten jede dieser Sagen seinem Musterbeispiel entspricht. In höchster Übereinstimmung mit diesem Leitbild steht Ödipus an der Spitze von Lord Raglans Liste. Ödipus ist demnach mehr noch als Dionysos oder Apollo eine mythologische Gestalt, eine Ausgeburt der Phantasie fahrender Sänger. Ist vielleicht der Vatermord des Ödipus ein Nachklang vom Sturze des Kronos durch Zeus? So fragte Eduard Meyer, ein hervorragender Historiker. Er sah in Ödipus eine Transfiguration des Herakles, eines Halbgottes, dessen Leben nichts weiter ist als die symbolische Darstellung des alljährlichen Zyklus der 16

Ebenda, S. 179-180.

Natur; Ödipus vermählt sich mit seiner eigenen Mutter, der Mutter Erde. Einige Forscher auf dem Gebiet der klassischen Mythologie wollten in Iokaste eine Personifikation der Erdgöttin Hera sehen17, andere eine Mondgöttin18, und wieder andere wiesen solche Schlussfolgerungen als Irrwege der vergleichenden Mythologie entschieden zurück. Können wir zum Beispiel der Deutung einer so verwickelten Erzählung, wie sie die Thebanische Tragödie darstellt, zustimmen, die annimmt, diese Fabel sei nichts weiter, als ein in der Volkssage sich spiegelndes Bild des scheinbaren Tageslaufs der Sonne am Himmel vom Aufgang bis zum Niedergang? Im neunzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter, das der psychoanalytischen Bearbeitung der Folklore vorausging, war es Mode, mythologisches oder legendäres Material jeglicher Art stets nur so auszulegen, als symbolisiere es die tägliche und jährliche Bewegung der Sonne inmitten anderer jahreszeitlicher Veränderungen. In Wirklichkeit kann die überwiegend solare Erklärungsweise von Mythen auf den lateinischen Autor Macrobius aus dem vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückgeführt werden. Friedrich August Wolf (1759–1824), ein enger Freund Goethes, entwickelte die Theorie, dass die Sagen und Mythen des klassischen Griechenland und Rom ihren Ursprung nicht in wirklichen Ereignissen, sondern in Naturphänomenen hätten. Diese Theorie fand beträchtliche Gefolgschaft und wurde von Max Mueller, dem gelehrten Verfasser zahlreicher Bücher über die Folklore der Hindu, weiter ausgebaut. Die solare Deutung war weitaus vorherrschend und die Vielzahl anderer Naturerscheinungen wurde übergangen. So wandte man diese Methode auch auf die Ödipussage an: »Oedipus mordet seinen Vater, heiratet seine Mutter und stirbt als blinder Greis. Der Sonnenheld mordet den Vater, der ihn gezeugt, die Finsternis; er teilt sein Bett mit seiner Mutter, 17 18

O. Gruppe, »Griechische Mythologie« (1906), S. 504. K. Kunst, »Die Frauengestalten im attischen Drama« (1922).

mit der Abendröte, aus deren Schoß (Morgenröte) er hervorgegangen; er stirbt geblendet: die Sonne geht unter.«19 Es ist richtig, dass viele Mythen und Sagen Geschehnisse in der Natur widerspiegeln – aber nicht solche, die alltäglich eintreten, sondern solche, die den normalen Ablauf der Tage und Jahre gewaltsam unterbrechen. Zum Beweis hierfür habe ich in Welten im Zusammenstoß eine stattliche Sammlung folkloristischen Materials vorgelegt. Die Ödipussage gehört jedoch nicht in diese Kategorie: der menschliche Charakter des Dramas ist allzu deutlich erkennbar; das seelische Ringen in dem Konflikt zwischen »Müssen« und »Nicht dürfen« kommt zu deutlich zum Ausdruck, als dass man den Ursprung dieser Tragödie im Wirken entfesselter Elemente, noch viel weniger aber in täglichen Vorgängen am Himmel und auf der Erde suchen dürfte. Nicht die Elementarkräfte der Natur, sondern das menschliche Schicksal ist Gegenstand und Grundriss der Tragödie, und es ist menschlich – viel zu menschlich –, tan als Anspielung auf ein kosmisches Drama gelten zu können, wie dies zum Beispiel bei den Sagen von Phaeton, Typhon oder Pallas Athene der Fall ist. Der Inhalt des thebanischen Sagenzyklus erweist sich jedoch als uneinheitlich: politische Vorgänge in einem Staat – ob im Frieden oder im Krieg – sind doch etwas ganz anderes, als eine aus Schicksal und Verhängnis entstehende menschliche Tragödie, obgleich die ersteren sehr wohl als Schauplatz für die letztere dienen konnten. Diese politischen und persönlichen Elemente unterscheiden sich jedoch ihrer Natur nach wiederum von einigen deutlich als mythologisch erkennbaren Themen. So scheint es, dass wir auf falschem Wege wären, wenn wir dieses Drama seinen einzelnen Bestandteilen nach in eine bestimmte Klasse einzuordnen versuchten. Es muss aber irgendeinen (i rund dafür geben, weshalb im Ablauf einer einzigen Handlung so heterogene Elemente politischer, persönlicher und mythologischer Natur Anwendung fanden. 19

Ignaz Goldziher, »Der Mythos bei den Hebräern« (1876), S. 215.

Wenn mm auf Grund der Vermutung, die Sage enthalte einige historische Vorgänge, die einzelnen Teile daraufhin überprüft werden, welche von ihnen ihrer Art nach historisch sein könnten und welche als mythisch betrachtet werden müssen, so wäre in die letzte Kategorie die Erzählung von der Sphinx einzureihen, die den Weg nach Theben bewachte, den Reisenden, die in die Stadt wollten, Rätsel auf gab und sich selbst tötete, als Ödipus die richtige Antwort fand. Dieser Teil scheint unbestreitbar mythisch zu sein.

Die Sphinx Ein Ungeheuer belagert eine Stadt oder ein Schloss, bewacht eine gefangene Jungfrau oder einen verborgenen Schatz und verschlingt diejenigen, welche in das Schloss eindringen, den Schatz heben oder die Jungfrau befreien wollen. Ein Fremdling, nicht selten der jüngste von mehreren Brüdern, oder jemand, den man für einen Narren hält, erschlägt, gewöhnlich unter Anwendung einer List, das Ungeheuer und gewinnt das Königreich, die Jungfrau – die meist eine Prinzessin ist – und obendrein auch noch den Schatz. Das ist ein weitverbreitetes uraltes Sagenmotiv. Allen Bewerbern wird ein Rätsel auf gegeben; wer es zu lösen versucht und dabei versagt, muss dies mit seinem Leben oder der Freiheit bezahlen. Der Held aber löst das Rätsel allein durch seine Klugheit, oder er findet auf nicht ganz ehrenhafte Weise die richtige Antwort und erhält seine Belohnung. Auch dies ist ein altes legendäres Motiv, auf das man immer wieder in den Märchen vieler Völker stößt. In der Geschichte von der Sphinx, welche die Stadt Theben in Böotien bewacht, sind beide Motive gekoppelt. Das Ungeheuer, die Sphinx, bringt sich um, als der Held, ein armer Abenteurer, der allerdings fürstlicher Abstammung ist, das Rätsel richtig löst, worauf dieser in die Stadt geht und die Hand der verwitweten Königin erringt. In der stereotypen Fassung des Motivs regiert der Prinz nun als König mit seiner Gemahlin für alle Zeit in Glück und Zufriedenheit – und damit schließt die Geschichte1. Die Ödipussage endet jedoch nicht glücklich: an der Stelle, wo man den Beginn höchster Seligkeit erwarten dürfte, fängt hier die Tragödie an. Gelehrte, die sich mit der Ödipussage befassten, nahmen an, dass die Erzählung von dem Ungeheuer ursprünglich nicht 1

Vgl. jedoch die oben dargelegte Ansicht von Raglan.

zur Sage gehört habe, sondern eine Hinzufügung, eine spätere Interpolation sei2. Andere wollten dagegen die Vernichtung des Ungeheuers als Teil der Urfassung des Mythos ansehen und alles übrige als Einschiebung oder spätere Ausschmückung betrachtet wissen3. Welches von beiden auch richtig sein mag, zweifellos scheint die Episode mit der Sphinx rein mythologischer Art zu sein. Ihn Psychoanalytiker würde dazu neigen, den Vorfall mit der Sphinx, also die Überwindung eines weiblichen Ungeheuers, als Selbstbefreiung eines Sohnes von der Tyrannei einer allzu beherrschenden Mutter zu interpretieren. O. Rank deutete die Sphinx als Inkarnation der abstoßenden Charaktereigenschaften der Mutter; Theodor Reik verwies außerdem auf das gleichartige Ende Iokastes und der Sphinx – nämlich durch Selbstmord4. Der Sieg über die Sphinx oder die Überwältigung der Mutter ist als wirkliche oder symbolische Tat ein notwendiges Gegenstück zu dem Vatermord eines Sohnes. Diese Aufspaltung des Charakterbildes der Mutter in hassens- und liebenswerte Komponenten konnte auch die psychologische Begründung für die zum übrigen nicht recht passende Hinzufügung sein: Ein Prinz, der einen König erschlagen hat, nimmt sich dessen Königin; weshalb sollte er obendrein noch mit den Rätselfragen eines weiblichen Untiers belastet werden, da er doch schon die heroische Tat der Beseitigung des Königs begangen hatte? Wir wollen aber doch nicht wie ein unachtsamer Wanderer an dem Ungeheuer auf dem Felsen Vorbeigehen. Das Wesen, das Theben in Böotien bewachte, war nicht eine der wohlbekannten griechischen Gestalten wie der Gigant Pallas, der Minotaurus, ein Kentaur, die Gorgone Medusa, eine Furie oder ein Kyklop, sondern die Sphinx, und genauso wird sie auch von 2

3 4

W. Christ, »Geschichte der Griechischen Literatur« (6. Aufl. 1912), S. 75; L. Laistner, »Das Rätsel der Sphinx« (1889). M. Breal, in L. Constans, »La Legende d’Oedipe« (1881), S. 4. Theodor Reik, »Ödipus und die Sphinx«. Imago, VI (1920), 95-131.

den griechischen Tragödiendichtern genannt. Ihr Ursprungsland aber war Ägypten5. Darstellungen von ihr wurden zwar in vielen Ländern, auch auf Kreta und im griechischen Mykenä, gefunden, sie waren aber entweder aus Ägypten importiert oder, wie angenommen wird, Nachschöpfungen oder Entlehnungen eines Ebenbildes, dessen Geburtsstätte Ägypten war. Weder Griechenland noch Kleinasien, weder die ägäischen Inseln noch Assyrien, Babylonien oder Palästina erhoben den Anspruch, die Sphinx sei bei ihnen bodenständig; nach dem Bericht des Pisander kam die Sphinx aus Äthiopien nach Theben in Böotien6. Die Große Sphinx in Gise bei Kairo, die größte und berühmteste seit dem Altertum, hat zu allen Zeiten die Aufmerksamkeit und Wissbegierde der Reisenden, wie überhaupt nahezu aller Menschen auf der Welt erregt. Schon immer dachte man, es habe ein Mysterium, ein Geheimnis oder ein Rätsel in ihr Gestalt gewonnen, und ihr Antlitz, mit weit offenen Augen gen Osten blickend, trägt ein Lächeln zur Schau, das beredt einen ewig rätselvollen Gedanken andeutet. Diese Sphinx, aus dem gewachsenen Fels herausgehauen, ist am längsten erhalten geblieben und auch die älteste: sie stammt aus dem Alten Reich. Wie alle Sphingen hat sie das Gesicht eines Menschen und den Körper eines Tieres; in dieser Beziehung unterscheidet sich eine Sphinx von den Bildnissen anderer ägyptischer Gottheiten, die auf menschlichen Körpern Tierköpfe tragen. Das Antlitz der Sphinx von Gise ist das des Pharaos Chephren, des Nachfolgers von Cheops; Chephrens Pyramide, nur wenig kleiner als die des Cheops, liegt ganz in der Nähe. Der Tierkörper ist der eines Löwen oder einer Löwin, wodurch der Pharao als mächtiger Gott erscheinen sollte. In späterer Zeit wurden als Skulpturen oder auf Reliefs viele Sphinxdarstellungen geschaffen, allerdings von kleinerem For5 6

A. Dessenne, »Le Sphinx, étude iconographique« (1957). Bethe, »Thebanische Heldenlieder«, S. 21.

mat bis herab zu Miniaturbildern auf Kameen; das Gesicht der Sphingen war oft das des derzeitigen Herrschers. Zumeist wurde die Sphinx in ruhender Stellung wiedergegeben, doch sieht man ihre Gestalt mitunter auch drohend aufgerichtet. Während des Neuen Reichs, zurzeit der XVIII. Dynastie, wurde die Sphinx von Gise Harmachis, auch wohl Hor-em-achet, »Horus des Horizonts«, oder »Horus der Nekropole«, genannt7. Der Mann, welcher der Lösung des »Geheimnisses« der Sphinx näher kam als irgendjemand zuvor, war der erfahrene Ägyptologe Professor Edouard Naville. Im Verlauf von nahezu fünf Jahrzehnten (1875–1924) veröffentlichte er eine Reihe von Aufsätzen, in denen er sich mit dem Problem befasste. Die Vernichtung der Menschen durch die Götter war eine auf das Thema bezogene frühe Arbeit Navilles, die auf einer mythologischen Erzählung im Grabe des Pharaos Sethos in Theben beruhte8. Die Götter entsandten die Göttin Hathor in ihrer Erscheinungsform als Tefnut oder Sachmet, mit dem Auftrag, das aufsässige Volk, welches sich dem Willen der Götter nicht fügen wollte, gnadenlos zu strafen. Im Text heißt es: »Diese Göttin [Hathor] zog aus und tötete die Menschen auf der Erde … Und siehe! Sachmet watete viele Nächte hindurch mit ihren Füßen in deren Blut, bis hinab zur Stadt Herakleopolis.« Naville fragte: Müssen wir annehmen, dass »Vernichtung der Menschen« sich auf »die ganze Menschheit« bezog? Und er folgerte: »Dies scheint eindeutig der Fall zu sein, denn die Inschriften sprechen nicht von einigen Menschen, sondern von Menschen ganz allgemein.«

7

8

S. Hassan, »The Sphinx« (1949), S. 132; idem, »The Great Sphinx and its Secrets« (1953), S. 240; Dessenne, »Le Sphinx, étude iconographique«, S. 176. Edouard Naville, »La Destruction des hommes par les dieux. D’après une inscription mythologique du tombeau de Seti I. à Thèbes.« Transactions of the Society of Biblical Archaeology, IV (1876), Teil I, S. 1-19.

Naville, der in der Zwischenzeit in Ägypten umfangreiche Ausgrabungen durchgeführt hatte, brachte in den Jahren 1902– 1906 starke Argumente vor, dass auf Grund alter Texte die Sphinx ein Bildnis der Göttin Tefnut oder Hathor in ihrem mörderischen Aspekt und der Tierkörper der einer Löwin sei9. Hathor war die weibliche Personifikation des Horus und ihr Name bedeutet »Das Haus des Horus«. Im Jahre 1924 behandelte Naville dieses Thema erneut10. Andere Gelehrte jedoch glauben, die weibliche Sphinx sei während der Regierungszeit Amenophis’ III., bekannt als der Prächtige, und seiner Königin Teje (XVIII. Dynastie) ziemlich unvermittelt in Erscheinung getreten11. Gise war die königliche Nekropole von Memphis, Memphis selbst war die alte Hauptstadt Unterägyptens; die Hauptstadt von Oberägypten war Theben, das heutige Luxor und Karnak, mehr als 300 Meilen weiter südlich. Während der XVIII. Dynastie – einer der glanzvollsten Perioden der ägyptischen Geschichte – war Theben die Hauptstadt des ganzen Landes, Ober- und Unterägyptens. Auf den Felsen, welche die Stadt überragten und den Zugang von Westen her beherrschten, stand ein Heiligtum der Hathor, jener Göttin geweiht, die einstmals die Menschheit vernichtet hatte. »Hathor herrschte über die Klippen westlich von Theben12.« Dort auf den steilen Klippen, hinter denen die Nekropole von Theben, das Tal der Könige, lag, übte die Würgerin aller Menschenwesen, die verehrt und versöhnt werden musste, damit sie ihr blutiges Werk nicht wiederhole, ihre Herrschaft aus. Es gab dort auch einen Tempel oder eine der Hathor geweihte Kapelle. Die Hathor von Der el-Medine war die »Hathor9

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Sphinx, V (1902), 193–199; ebenda, X (1906), 138-140; vgl. Gardiner, in »Journal of Egyptian Archaeology«, XXXIX (1953), 14, Anm. 2. »Sphinx«, XXI (1924), 12-23. Dessenne, »Le Sphinx, étude iconographique«, S. 107. F. L. Griffith, »Thebes«. Encyclopaedia Britannica, 14. Auflage.

die-ist-in-der-Mitte-von-Theben, die Herrin des Westens«13. Sie war auch »die Göttin der Wüsten, und eine ihrer Erscheinungsformen, die Schlange Meretseger, beschützte in Theben die Gräber in der Wüste14«. Aus bildlichen Darstellungen auf Reliefs wissen wir, dass zur Zeit der XVIII. Dynastie einer Sphinx in Theben Menschenopfer dargebracht wurden. Der mythologische Teil der Ödipussage könnte als Wegweiser zu dem Lande dienen, in welchem aus historischen Ereignissen möglicherweise das legendäre Motiv der Sage entstanden ist. Tatsächlich ist es nicht die Frage, welche die Sphinx den Wanderern stellte, sondern das Rätsel, das sie den Gelehrten auf gab, das uns vielleicht vor die Tore der Stadt führen wird, wo Unglück den König befiel, der seine Mutter geheiratet hatte.

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14

W. G. Hayes, in: »Journal of Egyptian Archaeology«, XXXIV (1948), 114, Anm. 3; P. M. Frazer, ebenda XLII (1956), 97. H. R. Hall (Britisch Museum), »Egypt: Religion.« Encyclopaedia Britannica, 14. Auflage. Der Tempel Mentuhoteps V., dem Horus geweiht, befand sich »auf der Spitze der Klippen, etwas nördlich des Eingangs zum Tal der Königsgräber«. C. F. Nims, »Places about Thebes«. Journal of Near Eastern Studies, XIV (1955), 111 ff.

Das Siebentorige Theben und das Hunderttorige Theben Theben, die alte Hauptstadt von Böotien in Griechenland, in welligem Gelände gelegen, war einstmals eine der berühmtesten Städte der Hellenen. Nach der Überlieferung war es von Kadmos gegründet, der, von der phönizischen Küste kommend, den Griechen die Kunst des Schreibens mitbrachte. Mit kaum einer anderen Stadt in Griechenland verbanden sich so viele Sagen wie mit Theben. Viele Jahrhunderte lang blickte es voller Stolz auf seine Vergangenheit, an der alle Hellenen teilhatten. Selbst der Geburtsort des Herakles wurde mitunter nach Theben verlegt. Herakles hütete seine Herden auf dem Berg Kithairon, dem gleichen einsamen und hochgelegenen Weideland zwischen Böotien und Korinth, wo der Sage nach der neugeborene Ödipus mit durchbohrten Füßen ausgesetzt wurde. Später, in historischer Zeit, führte Theben Krieg mit Athen und Sparta. Seine Bevölkerung stand auf Seiten der Perser und kämpfte mit ihnen an den Thermopylen (480 v. Chr.). Nachdem eine der Städte Böotiens, Platää, ihre Unabhängigkeit erklärte und Athen die Abtrünnigen unterstützte, wurden die Thebaner zu erbitterten Feinden Athens. Und als sich dann im darauffolgenden Peloponnesischen Krieg Athen den Spartanern unterwarf (404 v. Chr.), forderten die Thebaner lärmend die Zerstörung Athens. Nach dem Peloponnesischen Krieg kam für Theben und Sparta eine Zeit des Kampfes um die Vorherrschaft in Griechenland. Theben verbündete sich mit Argos und Athen, tun Sparta im Korinthischen Krieg (587 v. Chr.) niederzuwerfen, gewann für einige Zeit die Hegemonie und demütigte Sparta. Seine Macht griff auch nach Mazedonien im Norden über, und Philipp, der jüngste Sohn des mazedonischen Königs, wurde in Theben als Geisel gehalten und dort erzogen. Später forderten die Thebaner Philipp auf, an den inneren Kämpfen zwischen

den griechischen Staaten teilzunehmen – als er sich aber anschickte, Athen zu erobern, verbündete sich Theben mit Athen aus Sorge, der mazedonische Staat könne sich diese Nachbarstadt einverleiben; gemeinsam erlitten sie eine Niederlage bei Chaironeia. Der Bund der Böotier wurde aufgelöst und die Zitadelle in Theben von einer mazedonischen Garnison besetzt. Der achtzehnjährige Alexander erwarb sich frühen Lorbeer, als er Theben, das sich nach Philipps Tod erhoben hatte, erstürmte und einnahm. Bei einer Zusammenkunft in Korinth wurde dann beschlossen, Theben als die Ursache so vieler innerer Kriege dem Erdboden gleichzumachen, nur das Haus, in welchem zwei Jahrhunderte zuvor der große Dichter Pindar geboren worden war, blieb auf Alexanders Befehl verschont. Um sie vom »Hunderttorigen« Theben in Ägypten zu unterscheiden, und weil ihre äußere Umfassungsmauer sieben Tore besaß, wurde die böotische Stadt das »Siebentorige« Theben genannt. Die ägyptische Stadt, die im Ägyptischen Nê oder Nô (»Wohnsitz«, »Residenz«) hieß oder auch Nô Amon (»Wohnsitz des Amon« – so auch im hebräischen Text im Buch des Propheten Nahum Kap. 3,8)1 hatte zwar keine Außenmauer mit hundert Toren, wohl aber konnten in Kriegszeiten und bei Belagerungen ihre gewaltigen Tempelbezirke unzählige Bastionen mit Toren bilden2. Ebenso wie Luxor und Karnak sind Dêr el-Bahari mit dem Tempel der Königin Hatschepsut, das Ramesseum von Ramses II. und Medinet Habu mit dem Tempel Ramses’ III. Teile dieser alten Hauptstadt am Nil. Diese Totentempel wurden in der Ebene des westlichen Nilufers errichtet, dicht unter den ragenden Felswänden, welche das Tal der Könige verbergen. Dort lagen in geheimen Höhlenkammern die sterblichen Überreste der Könige, um sie vor Entweihung, und die mit ihnen begrabe1 2

Sie wurde auch »Der südliche Wohnsitz« und Weset genannt. Vgl. Diodorus, 1.45.7.

nen Schätze vor Plünderung zu schützen. Diese Totentempel wurden zwar erbaut, tun die Namen der großen Pharaonen für alle Zeiten zu bewahren, sie konnten jedoch den Zerstörungen durch Krieg und Zeit nicht entgehen. Vom Totentempel Amenophis’ III., der von allen Inhabern des ägyptischen Throns die höchste Pracht entfaltete, ist nichts übrig geblieben als zwei ungeheure Monumente des sitzenden Königs – so gewaltig, dass jeder der Finger drei Fuß lang ist. Griechische und römische Reisende haben berichtet, dass eine dieser Statuen bei Sonnenaufgang einen klingenden Ton von sich gab. Ursache für das Aufhören dieser klagenden Seufzer sollen die Wiederherstellungsarbeiten gewesen sein, die auf Befehl des Kaisers Septimius Severus ausgeführt wurden. Die Griechen nannten diese beiden Statuen die Memnonskolosse, weil sie glaubten, sie wären Standbilder Memnons, des dunkelhäutigen Kriegers, der den Trojanern während der Belagerung durch die Achäer aus einem Lande im Süden zu Hilfe geeilt war. Memnon wurde von Achilles getötet, und die Seufzer, die zu hören waren, wenn die ersten Strahlen der Sonne die Statue trafen, hielten die Griechen für Grüße Memnons an seine Mutter, die Morgendämmerung. Die Standbilder sind jedoch Darstellungen Amenophis’ III., der nie als Sohn der Dämmerung galt. Ramses II. aus der XIX. Dynastie versuchte, Amenophis III. an Pracht und Größe seiner Bauten noch zu übertreffen. Vor seinem Totentempel ließ er ein ebenso gewaltiges Denkmal seiner selbst aufstellen – etwa tausend Tonnen schwer und nahezu sechzig Fuß hoch. Seit dem Altertum liegt es, das Gesicht im Staub, zerbrochen am Boden und musste seither Tag um Tag die ungereimten Geschichten der Fremdenführer über sich ergehen lassen. Die Stadt Theben selbst befand sich auf dem östlichen Nilufer. Ihre Anfänge – rund um das Heiligtum des Amon – verlieren sich im Altertum. Im Alten Reich war Theben eine Tempelstadt in der Provinz; während des Mittleren Reiches errichtete ein Pharao seinen Totentempel auf dem westlichen Nilufer; in

den Tagen des Neuen Reiches jedoch, zurzeit jener Dynastie, welche die der Hirtenkönige ablöste, wurde aus Theben eine Hauptstadt, die durch die Pracht ihrer Bauten alle Hauptstädte ihrer Zeit übertraf. Die ersten Könige der XVIII. Dynastie, besonders der große Eroberer Thutmosis III., errichteten für Amon den Tempel zu Karnak. Drei Generationen später ließ Amenophis III. für die Götter Month, Mut und Amon drei neue große Tempel erbauen. Im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung plünderte Assurbanipal, der König von Assyrien, Theben, legte die Stadt in Trümmer und stürzte ihre Statuen; nur wenige Jahrzehnte später wurde Ninive, die Hauptstadt Assyriens, von den Babyloniern und Medern erstürmt und verbrannt, und der Prophet Nahum brach in die Worte aus: »Zerstört ist Ninive! Wer hat Mitleid mit ihr? … Bist du besser als Nô Amon, die an den Nilarmen lag … ?« Ninive erhob sich nie wieder aus der Asche, wohl aber Theben. Die Perser überrannten die Babylonier, eroberten Babylon, und drangen eine Generation später in Ägypten ein. Theben wurde aufs neue erbarmungslos zerstört3; die Perser besaßen weder Furcht noch Achtung vor den ägyptischen Göttern. Unter der Führung Alexanders von Mazedonien triumphierten die Griechen nach langen harten Kämpfen über die Perser. Auf seinem Weiterzug nach Ägypten ließ Alexander dort nichts zerstören, wohl aber Bauten errichten; bis Theben kam er nicht, weil er zu sehr mit den Planungen für eine neue Hauptstadt beschäftigt war, die seinen Namen tragen sollte. Nach dem Tode Alexanders wurde Ptolemäus, einer von seinen Generalen und sein Statthalter in Ägypten, König dieses Landes. Dreihundert Jahre später starb seine Linie aus; als Rom im Osten die Griechen ersetzte, nahm sich Kleopatra, die letzte aus dem Hause der Ptolemäer, im Jahre 30 v. Chr. das Leben, weil sie zu tief 3

Strabo, XVII, 1.46. Vgl. jedoch Posener, »La Première Domination perse en Egypte« (1936), S. 171.

verstrickt war in die Intrigen und kriegerischen Unternehmungen um die Nachfolge in der Macht nach Cäsars gewaltsamen Tod. Während der zweitausend Jahre seit dem Ende des Königtums in Ägypten dienten die gewaltigen Bauten von Theben »als Steinbrüche für Mühlsteine und für die Kalkbrenner«; aber immer noch ist Theben »das größte Beispiel monumentaler Ruinen, das aus alten Zeiten übriggeblieben ist«. Die Ödipussage steht im Zusammenhang mit dem Theben in Böotien. Das Theben in Ägypten, den Griechen unter diesem Namen mindestens seit der Zeit Homers bekannt, war die größere und auch wesentlich ältere der beiden Städte. Das Neue Reich verdankte sein Aufblühen den Taten folgender Pharaonen: Kamose und Amosis, zwei Brüdern, welche gegen die dahinschwindende Macht der Hirtenkönige kämpften; Thutmosis I., der in Asien eindrang, und seiner Tochter Hatschepsut, die das Reich durch friedliche Beziehungen zu benachbarten Völkern vergrößerte und bereicherte Thutmosis III., der eine Reihe kriegerischer Vorstöße bis tief in den Nahen Osten unternahm und Ägypten größer machte, als es je zuvor oder danach gewesen ist. Auf Thutmosis III. folgte Amenophis II., ein Mann von großer Körperkraft, grausam und eitel, als Feldherr aber weit schwächer als sein Vorgänger. Als er von einem erfolglosen Kriegszug nach Syrien-Palästina zurückkehrte, wohin er mit einem Heer, viel zu groß, um mit ihm manövrieren oder es hinreichend versorgen zu können, gezogen war, ließ er die gefangenen Stammesführer kopfunter an den Masten des königlichen Schiffes aufhängen, das ihn auf seiner Triumphfahrt nilaufwärts trug. Wie aus seinen Inschriften hervorgeht, brachte Amenophis II. in Theben Amon Menschenopfer dar, indem er angesichts des Gottes Gefangene mit der Keule erschlug. Es kann mit gutem Grund angenommen werden, dass diese Handlung vor der Statue einer Sphinx stattfand, denn Amenophis ließ sich vor einer Sphinx abbilden, deren Inschrift besagt, sie stelle

Amon dar. Amenophis II. übernahm selbst die Rolle des Vollstreckers. In dem Grabe, das er für sich im Tal der Könige bauen ließ, wurde bei der Mumie dieses Pharaos auch sein Bogen gefunden, und wir wissen aus seinen Inschriften von seinem großen Stolz, dass kein anderer Fürst oder Heerführer die Kraft besaß, seinen Bogen zu spannen. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde im Sand bei der Sphinx von Gise eine große Stele gefunden, auf der Amenophis II. beschrieben hat, wie er durch das Orakel der Sphinx zum König erwählt wurde und aus Dankbarkeit eine Andachtsstätte für das Orakel errichtet habe. Aus dieser Tafel wird offenbar, dass die Priester im Heiligtum der Sphinx in Fragen der Nachfolgerschaft als Orakel fungierten. Der zukünftige Herrscher hatte einige sportliche Leistungen zu vollbringen, etwa beim Jagen oder Wagenlenken, nach denen er sich im Heiligtum niederlegte. »Durch ein geheimnisvolles Zeichen oder eine wundersame Stimme, über deren Quelle der Große Seher von Heliopolis wahrscheinlich nicht im unklaren war, erteilte der Göttervater dem neuen Monarchen seine Verhaltungsmaßregeln4.« B. Bruyère nahm an, dass die Priester von Karnak aus Rivalität gegenüber den Priestern von Heliopolis in Theben eine Kapelle erbauten, in der zu Füßen der Sphinx orakelhafte Prophezeiungen ergingen; in Bezug auf die Orakel trat hier die Sphinx an die Stelle des Göttervaters Amon. Thutmosis IV. folgte Amenophis II. auf dem Throne Ägyptens; er war keineswegs der älteste Sohn des Königs, dafür aber der vom Orakel Auserwählte, einer der Prinzen des königlichen Haushaltes und an sich nicht zur Erbfolge berechtigt. In jungen Jahren hatte er einen prophetischen Traum. Auf einem Jagdzug in die Wüste, nahe bei der Sphinx von Gise, hielt er an, um im Schatten der Sphinx zu rasten. Er schlief ein und hörte, wie ihm 4

B. Bruyère, »Le Sphinx de Gizeh et les épreuves sportives du sacre«. Chronique d’Egypte, XIX (1944), 194-206.

die Sphinx bedeutete, dass er König werden, und dann zum Dank für das Orakel die Statue der Sphinx vom Sande der vordringenden Wüste freilegen würde; darauf legte er ein Gelübde ah. Als er König wurde, stellte er zwischen den Pranken der Sphinx eine Stele auf, auf der er beschrieb, was ihm zugestoßen war. Die Stele wurde in neuerer Zeit aufgefunden, als wieder einmal die Sphinx vom Wüstensande befreit werden sollte, den der das ganze Jahr hindurch wehende Wind in Jahrhunderten aufgehäuft hatte. Die Art und Weise, in der das Orakel mit Thutmosis in Verbindung trat, war bei den berühmten Orakeln der alten Zeit nicht ungewöhnlich. So offenbarte in Epidaurus in Griechenland Asklepios den Heilungsuchenden während ihres Schlafes seinen Rat. Thutmosis wurde Pharao, doch hatte das Orakel ihm nicht vorausgesagt, dass er in jungen Jahren sterben würde. Ihm folgte sein Sohn Amenophis III. auf dem Thron. Der Kult der Sphinx erfreute sich großer Beliebtheit in den Tagen Amenophis’ II. und Thutmosis’ IV., die ihre Thronbesteigung dem Wohlwollen der Sphinx verdankten, welche ihnen diese ihre Bestimmung in Träumen geoffenbart hatte. Auch zurzeit ihres Nachfolgers blieb dieser Kult volkstümlich: er behielt nicht nur seine Beliebtheit, sondern gewann sogar noch an Bedeutung, und die Verehrung der Sphinx lebte in einem Ausmaß wieder auf, wie sie seit dem Alten Reich nicht mehr bestanden hatte. In seiner Monographie Le Sphinx, étude iconographique beschreibt A. Dessenne die Umwandlung des Bildes der Sphinx zurzeit Amenophis’ und seiner Gemahlin Teje. In früheren Zeiten ließ sich der regierende Herrscher gelegentlich als Sphinx darstellen, doch jetzt war es gewöhnlich nicht Amenophis, sondern Teje, die in Gestalt einer Sphinx abgebildet wurde. Entsprechend der lange bestellenden Tradition, der Sphinx ein männliches Gesicht zu geben, wurde die Königin Hatschepsut von den Bildhauern als Sphinx mit einem Bart unter dem Kinn wiedergegeben, Teje dagegen ließ ihre Sphinx mit einem Frauengesicht versehen. Außerdem fügte man dem Löwenkörper

der Sphinx zum ersten Mal weibliche Brüste hinzu: es besteht also kein Zweifel, dass sie zu einem weiblichen Wesen wurde. Sie erhielt auch Flügel, wogegen die Sphinx von Gise und andere Sphingen der Frühzeit in der Regel flügellos waren. In der Vergangenheit war die Sphinx liegend oder stehend, also bewegungslos, dargestellt worden, dies wurde jedoch in den Tagen Amenophis’ III. und Tejes geändert. Dessenne gab seiner Verwunderung Ausdruck: Mit der Verweiblichung der Sphinx hätte man eigentlich kaum erwartet, dass aus ihr ein grausames Geschöpf werden würde, aber gerade dieses trat ein5. Teje wird in Gestalt einer geflügelten Sphinx mit weiblichen Brüsten gezeigt, wie sie ihr Opfer zerreißt oder erwürgt. Dies war eine neue Vorstellung in der Kunst, die »plötzlich und übergangslos auf trat«. Die grausame, geflügelte weibliche Sphinx des böotischen Theben kam nicht nur als Gast aus dem Lande am Nil, wie es Pisander in seinen Erläuterungen zu Euripides beschrieb, sondern es handelt sich, genauer gesagt, um eine Erscheinungsform, die erstmals in den Tagen der Königin Teje zu Theben in Ägypten auftrat.

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Dessenne, »Le Sphinx, étude iconographique«, S. 109, 186.

Amenophis III. und Teje Königin Teje war eine bemerkenswerte Frau. Der junge Amenophis heiratete sie am Anfang seiner Regierungszeit. Sie war weder von königlichem Geblüt, noch eine ausländische Prinzessin, sondern die Tochter eines Verwaltungsbeamten und Priesters namens Juja aus der Provinz. Sie stand auch nicht wie andere Königinnen vor ihr völlig im Schatten ihres königlichen Gatten. Wohl hatte es in der Vergangenheit – etwa hundert Jahre zuvor – eine Frau auf dem Thron Ägyptens gegeben, die Königin Hatschepsut, aber keine der königlichen Gemahlinnen war eine so überragende Persönlichkeit wie Teje. Die Vermählung des Königs mit seiner Königin wurde zu einem Ereignis von historischem Ausmaß. Zahlreiche prächtige »Hochzeitssiegel« oder Skarabäen von ungewöhnlicher Größe, auf denen die Namen von Amenophis und Teje eingraviert waren, wurden in ganz Ägypten und im Ausland verteilt; auch die Namen von Tejes Eltern waren auf den Siegeln angebracht, und so sicher war sie sich ihrer Stellung und Bedeutung, dass gar nicht erst der Versuch gemacht wurde, ihr göttliche oder königliche Abstammung zuzuschreiben. Andere große Siegel mit den Namen von Amenophis und Teje wurden in den Fundamenten öffentlicher Bauten gefunden, beispielsweise in Palästina in den Grundmauern des Tempels von Beth-Semes, und Schliemann entdeckte bei seinen Ausgrabungen auf der Suche nach dem Grabe Agamemnons in Mykenä einen kleinen Teje-Skarabäus. Amenophis’ königliche Dekrete wurden in seinem und im Namen seiner Königin veröffentlicht, ein Vorgang, der in Ägyptens Vergangenheit nicht seinesgleichen hatte. Von Teje gibt es, sei es als Statuen oder als Basreliefs, zahlreiche Porträtdarstellungen} sie zeigen ein entschlossenes Gesicht, das eines gewissen Charmes nicht entbehrt. Ihr Aufstieg ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass sie die Tochter einfacher Eltern war.

Sie sorgte auch dafür, dass ihre Eltern eine gehobene Stellung erhielten, und als sie starben, wurden sie sorgfältig einbalsamiert und im Tal der Könige in reich ausgestatteten Gräbern beigesetzt. Das unberührt gebliebene Grab von Juja und seiner Frau Tuja1 bildete bis zur Entdeckung der Grabstätte Tutanchamûns einen einzigartigen Fund in den Nekropolen Ägypten. Die Gesichter der beiden Toten sind so ungewöhnlich gut erhalten, dass jeder ihrer Gesichtszüge, und fast möchte man sagen, sogar ihr Charakter erkennbar sind. Von allen Erbauern Thebens zeichnete sich Amenophis III. durch seine berühmten Bauten in Karnak und Luxor, den beiden großen Tempelbezirken, besonders aus. Im Karnaktempel des Amon (Amen), der höchsten Gottheit Ägyptens, errichtete er den dritten Pylon, der »den Glanz und die Pracht des königlichen Theben zur Schau stellte«. Amenophis schilderte die Ausschmückungen, welche das Bauwerk verschönerten. Zwei Stelen aus Lapislazuli, einem tiefblauen Stein, wurden auf gestellt, je eine zu jeder Seite des gewaltigen Toreingangs. Das Tor selbst war mit Gold überzogen und mit Lapislazuli und wertvollen Steinen eingelegt, und der Fußboden bestand aus Silber. Die Fahnenstangen an den Türmen waren goldbeschlagen, sodass sie »mehr als die Himmel glänzten«. Vor dem Pylon wurde eine zwanzig Ellen hohe Kolossalstatue des Königs auf gestellt. Eine Sphinxallee führte vom Fluss herauf zum Torbau und eine weitere verband den Karnaktempel mit dem eineinhalb Meilen entfernten Luxortempel; Teile dieser Allee sind bis in unsere Tage erhalten geblieben. Der Luxortempel wurde von Amenophis III. begonnen und erbaut. Der gleichfalls dem Hauptgott geweihte Tempel war den Ägyptern als »Südlicher Hiram des Amon« bekannt. Seine herrlichen Proportionen wirken auch heute noch majestätisch und schön zugleich. Dieses Heiligtum ist nahezu in seiner vollen Ausdehnung das Werk Amenophis’ 1

Die Schmuckstücke waren jedoch gestohlen, wahrscheinlich von den Priestern, welche die Mumien in Binden einhüllten.

III., »des Ludwigs XIV. des antiken Ägyptens2«. Vor diesem Bauwerk errichtete der König eine Säulenhalle und ließ Kolonnaden um einen Vorhof anlegen, »den schönsten in ganz Ägypten«. »Selbst noch im Zustand des Verfalls beeindrucken uns die Kolonnaden durch ihre Schönheit, sie sind eine der lichtesten Visionen, die je der Phantasie eines Architekten entsprangen und die er in unvergänglichem Stein Form werden ließ3«. Von oben einfallendes Licht ließ im Dämmerschein des Heiligtums ein Spiel gleitender Schatten auf den mit Skulpturen bedeckten Säulen entstehen; Weihrauch wurde verbrannt vor Amon und seinem Gefolge, Beschwörungsformeln waren zu vernehmen sowie die gedämpften Töne von Flöte, Laute und Harfe. Rund um das Hauptheiligtum befanden sich die Heiligtümer der niederen Gottheiten, Räume für besondere Zeremonien und andere zur Aufbewahrung der kultischen Gefäße und Gewänder. Das Hauptfest fand im Monat Paophi statt. Von etwa zwanzig Priestern wurde das Standbild Amons auf der heiligen Barke inmitten der jubelnden Menge von Karnak nach Luxor gebracht und der Pharao nahm in eigener Person an der feierlichen Handlung teil. Er wurde als Abkömmling, ja als Sohn des Gottes Amon selbst angesehen, und nach seiner Ankunft in Luxor bestand eine seiner Aufgaben darin, einen weiteren Sohn des Gottes zu zeugen, indem er in der Rolle seines Vaters Amon die Königin aufsuchte. Die Malereien auf den Wänden des Luxortempels stellen dar, wie der Pharao durch seinen Vater Amon gezeugt und als Sohn des Amon geboren wurde. Teje wurde mehrere Male Mutter. Sie gebar einen Sohn, doch von ihm ist nichts bekannt – nie wurde er abgebildet oder erwähnt –, bis er nach seines Vaters Tod erschien und seine Ansprüche auf den Thron geltend machte. Drei Töchter von Amenophis und Teje lebten bei ihren Eltern und erscheinen 2 3

A. M. Blackman, »Luxor and Its Temples« (1923), S. 64. Ebenda.

auch auf Darstellungen der Familie. Amenophis war ein passionierter Jäger, er liebte die Löwenjagd und war stolz auf seine Erfolge; im Verlauf von zehn Jahren erlegte er einhundertundzwei Löwen. Diese Raubtiere gab es jedoch nicht im Tale des Nils, um das königliche Wild zu jagen, verließ der König wiederholt seine Hauptstadt und begab sich auf ausgedehnten Zügen in die Wüsten und Einöden an den äußersten Grenzen seines Reichs, weitab von menschlichen Behausungen. Die Jagd wurde von einem Streitwagen aus betrieben, Pfeil und Bogen sowie lange Lanzen waren die Waffen. Es handelte sich um ein gefährliches Unternehmen, denn das Raubtier, doppelt angriffslüstern, wenn es verwundet war, pflegte Pferde und Jäger anzufallen. Es konnte geschehen, dass die erschreckten Rosse sich aufbäumten oder, scheu geworden, vom Pfade weg und über Felsen in eine Schlucht rasten, der Wagen umstürzte und Jäger und Wagenlenker umkamen. Dieser Löwenjäger fand jedoch in seiner Frau Teje seinen Meister. Als die Königin ihrem Missfallen Ausdruck gab, weil die Amonpriester sie nicht aufgefordert hatten, bei einem Festspiel auf dem heiligen See neben dem Tempel die Göttin Mut darzustellen, hetzte der König hunderttausend Mann Tag und Nacht an die Arbeit4. In nur vierzehn Tagen wurde ein künstlicher See ausgehoben, zwölf hundert Fuß breit und über eine Meile lang, mit Wasser gefüllt, mit Lilien bepflanzt, mit Fischen versehen und mit blühenden Pflanzen umsäumt, und Teje übertraf die Göttin Mut der Priester durch Entfaltung übergroßer Pracht und königlichen Charmes. Dies war der Höhepunkt des Ägyptens der Königszeit. »Die Reichtümer der bekannten Welt flössen nach Ägypten. Die Häfen des Nildeltas waren voll von Schiffen aller Nationalitäten, 4

Schätzung von R. Engelbach; W. C. Hayes in »The Scepter of Egypt«, II, 252, schätzt, dass hierfür zweihundertfünfzigtausend Arbeiter notwendig wären. Vgl. auch eine neuere Arbeit von J. Yoyotte in »Kêmi«, XV (1959), 23-33.

beladen mit Handelswaren, Tributen und Geschenken von unterworfenen und befreundeten Staaten. Es scheint, als wären die Schiffe auch häufig geradewegs den Nil hinauf bis zu den Hafenanlagen von Theben gesegelt, um dort ihre Ladungen zu löschen. Mit Gold überzogene oder aus wertvollen Hölzern hergestellte und mit Elfenbein eingelegte Möbel, gold- und silberbeschlagene Streitwagen, Pferde aus edelster Zucht, mit Gold eingelegte Bronzewaffen und -rüstungen, besonders schön geformte Gold- und Silbergefäße, vielfarbige, mit ausgesuchten Mustern versehene Gewebe, auserwählte Produkte der Felder, Gärten, Weinberge, Obstgärten und Weiden Palästinas und Syriens, Weihrauch, wohlriechende Hölzer, duftende Essenzen, Gold und Silber aus Asien und dem Sudan – all dies wurde über See mit Schiffen und über Land von Karawanen nach Ägypten gebracht5.« Diese Beschreibung erwähnt aber noch nicht alles. Mächtige hohe Zedernstämme aus den Bergen des Libanon, Keramik aus Mykenä und wilde Tiere von den Küsten und dem Innern Afrikas, und noch vieles andere mehr hätte dieser Liste hinzugefügt werden können. Diese Überfülle an Reichtümern erlaubte es Amenophis III., Tempel und Paläste zu erbauen und viele Statuen aufzustellen. Mit zunehmendem Alter wurde der Charakter des Despoten immer labiler. In einem Anfall von Zügellosigkeit und Begierde »heiratete« er eine seiner Töchter, oder – was das gleiche bedeutet – nahm sie in seinen Harem6. Dies geschah wohl kaum mit der Zustimmung Tejes, der Mutter des Kindes; war sie doch eine Frau voll Eifersucht und Rachegelüsten. Bei dem König zeigten sich aber auch noch andere seltsame Charakterzüge. Amenophis, der Prächtige, dem Luxus und übermäßiger Genusssucht verfallen, war der einzige Pharao, der sich in Weiberkleidern darstellen ließ. Die Pharaonen wurden nie in bürgerli5 6

Blackman, »Luxor and Its Temples«, S. 79-80. (1941), 651-57. Engelbach, in: »Annales du Service«, XL (1940), 153-57; Varille, ebenda

cher, geschweige denn in Frauenkleidung abgebildet. Im Rahmen einer Abhandlung im Bulletin of the Metropolitan Museum of Art (Februar 1957), veröffentlichte Cyril Aldred die Reproduktion solch einer Skulptur Amenophis’ III. und beschrieb sie folgendermaßen: »Amenophis III. im Alter; er trägt ein Gewand, das üblicherweise nur von Frauen getragen wurde.« Amenophis III. war verheiratet mit – oder richtiger gesagt, geheiratet worden von – einer willensstarken Frau, die trotz ihrer Abstammung von einer Familie aus den Reihen der Verwaltungsbeamten auf den Thron gelangte und mehr königliche Vorrechte in ihren Händen vereinigte, als irgendeine königliche Gemahlin, die vor oder nach ihr auf den Thron Ägyptens kam. Ihr jagdliebender Gemahl aber wandte sein Interesse dem zu, was später »griechische Liebe« genannt wurde$ ein Schluss, der aus der Tatsache gezogen wird, dass er seinem Künstler gestattete, ihn in weiblicher Kleidung darzustellen. Schon mehr als einmal ist der Thron eines großen Reichs von einem abseitig Veranlagten eingenommen worden. Der römische Kaiser Hadrian ließ alle Welt um seine Zuneigung zu dem jungen Bithynier Antinous wissen. Hadrian reiste nilaufwärts, um zu Füßen der Memnonskolosse zu meditieren, ohne zu ahnen, wie sehr er dem Urbild der Statuen in dieser seiner Neigung glich. Nebenbei bemerkt verlor Kaiser Hadrian auf dieser Reise den Jüngling. Eines Tages verließ Antinous das kaiserliche Schiff, ließ sich von einem Ruderknecht an eine Stelle am Nil bringen, wo er aus dem Boot stieg, davonschwamm und ertrank. Offenbar nahm er sich das Leben, ähnlich dem jungen Chrysippos, nachdem dieser von Laios missbraucht worden war. Hadrian war untröstlich, er ließ dem toten Jüngling Tempel bauen und erhob ihn zum Gott, der verehrt, durch Feste gefeiert, und in Elegien betrauert werden musste. Nach den Auffassungen im damaligen Griechenland hört sich der Bericht über die Schandtat des Laios seltsam an. Andere Völker der Antike waren zwar nicht frei von der ihm zugeschriebenen Gefühlsverirrung, aber in Persien, Babylonien, Ju-

däa und Ägypten wurde Homosexualität als schimpflich betrachtet. Die Erzählung von den Einwohnern der Stadt Sodom, die unter Missachtung der Gesetze der Gastfreundschaft mit den nächtlichen Gästen Lots ihren Willen haben wollten, und das furchtbare Strafgericht, das über diese und andere Städte jener Ebene kam, spricht ebenso für das Vorhandensein dieses Triebes und seiner Befriedigung in der Antike, wie auch für die moralische Haltung des hebräischen Berichterstatters und seiner Leser. Sie übermittelt wohl, wenn auch zugegebenermaßen in starker Übertreibung, die Einstellung des alten Orients gegenüber dieser Verirrung. Im Griechenland des Perikles dagegen, und zurzeit von Aischylos, Sophokles und Euripides – im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – war die Knabenliebe weit verbreitet und wurde nicht mit Abscheu betrachtet. »… wenn man bedenkt, wie die Literatur des fünften Jahrhunderts von der Knabenliebe durchsetzt ist, in welchem sie so angesehen wurde, wie das nach Welckers Ansicht auch für jene ältere Periode vorauszusetzen wäre7.« Vor dieser Zeit, am Ende des siebten und zu Beginn des sechsten Jahrhunderts, waren in Athen sexuelle Beziehungen eines Mannes zu einem Jüngling so allgemein üblich und die Bevölkerung Athens empfand dies so wenig als Skandal, dass Solon, einer der sieben Weisen des alten Griechenlands, die Päderastie als ein Privileg des freien Mannes bezeichnete8. Ihren Göttern schrieben die Griechen diesen unnatürlichen Trieb erst dann zu, nachdem sie selbst dahin gelangt waren, ihn als ehrenhaft zu betrachten. Es ist richtig, dass Homer den Kriegern der achäischen Streitmacht keine Beziehungen zuschrieb, die man später als »griechische Liebe« bezeichnete. Wohl aber erzählt er davon, wie die Götter den Jüngling Ganymedes entführten, in den sich, wie viele Quellen berichten, 7 8

Bethe, »Thebanische Heldenlieder«, S. 144. Plutarch, »Vitae«, Solon, 1.

Zeus verliebt hatte. Was war dann der griechischen Auffassung nach an Laios, der den jungen Chrysippos in seinen Palast bringen ließ, so abwegig, dass über den König, seine Frau und seine Nachkommenschaft ein Fluch verhängt wurde? Selbst wenn angenommen wird, die Sage sei zu einer Zeit entstanden, in der die griechische Liebe noch nicht landesüblich war, ist es doch seltsam, dass die Schriftsteller späterer Jahrhunderte einem antiken Helden eine Schuld zur Last legen sollten, so schwer, dass durch sie das Missfallen der Götter in so hohem Maße erregt wurde. Demnach besteht eine gewisse Unstimmigkeit bei den griechischen Tragödiendichtem, welche die Tat des Laios für eine Sünde hielten und furchtbare Vergeltung über ihn kommen ließen, weil er die Liebe zwischen männlichen Wesen in Theben einführte. Dies ist ein weiteres Argument für die Annahme, das Land, in dem die Ödipussage entstand, wäre nicht Griechenland, und das Volk, aus dem sie erwuchs, seien nicht die Hellenen gewesen. Gleich wie Ödipus in einem fremden Land im Hause des Polybos zum Manne heranwuchs und sich – obwohl er es nicht war – für einen Sohn dieses Königs hielt, so entwickelte sich auch die literarische Form der Ödipussage in Griechenland und ihr Held wurde für einen Griechen gehalten; es hat jedoch fast den Anschein, als wären weder die Sage noch ihr Held griechischen Ursprungs.

Ein Fremdling auf dem Thron Es ist unbekannt, wie groß die gesamte Jagdbeute Amenophis’ III. gewesen ist, weil der Bericht im elften Jahr seiner Regierung abbricht und weitere Beutezahlen nicht auf gezeichnet wurden. Nach einem Leben, das sich durch eine starke Bautätigkeit, ausgedehnte diplomatische Verhandlungen und Handelsbeziehungen mit den Ländern des westlichen Asien und den Inseln des Mittelmeers auszeichnete, senkt sich tiefes Schweigen über das Ende des königlichen Jägers. Die Geschichtsschreibung erklärt, nicht zu wissen, ob er eines natürlichen Todes starb, das Opfer einer Palastintrige wurde, oder aber von einem seiner Jagdzüge nicht mehr lebend zurückkehrte. Sein Tod muss plötzlich eingetreten sein, so, als ob sich ein Vorhang über Theben gesenkt hätte, und als er kurz danach wieder auf ging, war die Königin Teje regierende Monarchin und die für das Königreich allein Verantwortliche. Flinders Petrie hat diese Tatsache schon früh unterstrichen: »Es scheint, als ob sie [Teje] nach dem Tode Amenophis’ III., und bevor Amenophis IV. [Echnaton] die Regierung wirklich antrat, alleinige Herrscherin gewesen sei1.« Echnaton war für Theben und Ägypten bei der Übernahme der königlichen Macht ein Fremder. Kindheit und Jugend hatte er in der Fremde verlebt, entweder in Syrien oder von Land zu Land und von Hof zu Hof in den Staaten des mittleren Ostens umherwandernd. Sein Name wird in den vielen Inschriften Amenophis’ III. niemals erwähnt, obgleich dies bei einem Thronfolger erwartet werden müsste. Auf Reliefs ist er niemals gemeinsam mit seinem Vater zu sehen2. Amenophis III. ließ sich zusammen mit seiner Gattin und den Töchtern in übertrieben großen Gestalten darstellen, aber weder auf diesem noch auf anderen Familienbildern war je ein Sohn mitdargestellt. In 1 2

W. M. Flinders Petrie, »Tell el-Amarna« (1894), S. 58. A. Weigall, »The Life and Times of Akhnaton«, S. XX.

dem Grabe von Juja und Tuja, den Eltern der Königin Teje, befanden sich Totengaben des Königs, der Königin und ihrer Töchter, aber keine von Echnaton3. Während der Regierung seines Vaters Amenophis’ III. findet sich nirgends ein Hinweis auch nur auf die bloße Existenz Echnatons. Nach dem Tode dieses die Jagd so sehr schätzenden Königs, und nachdem seine Witwe, die Königin Teje, einige Monate oder Wochen lang Staatsoberhaupt gewesen war, erschien ihr Sohn auf dem Schauplatz und übernahm die Herrschaft. Es ist sogar angenommen worden, er habe sich des Thrones gewaltsam bemächtigt4. Unter den Briefen auf jenen Tontafeln, die in den Staatsarchiven von Tell el-Amarna im Niltal gefunden wurden, gibt es einige von einem Vasallenfürsten oder -könig Rib-Addi in Syrien-Palästina5. Er kannte offenbar Echnaton von einer früheren Begegnung her und schrieb: »Und siehe, es haben die Götter und die Sonne und Ba’alat von Gubla dir gegeben, dass du dich gesetzt auf den Thron deines Vaterhauses in deinem Land6.« Etwa zur selben Zeit schrieb Tuschratta, der König von Mitanni, an Echnaton: »Und mein Bruder, als Nimmuria [Amenophis III.] zu seinem Geschick gegangen war, rief man es aus und was man ausrief erfuhr auch ich. In der Ferne war er … und ich weinte an jenem Tage. In der Mitte der Nacht saß ich; Speisen und Wasser genoss ich an jenem Tage nicht und hatte Schmerz … Als aber schrieb Naphuria [Echnaton], der große Sohn Nimmurias von Teje, seiner Gattin, der großen, an mich: ›Ich werde die Königsherrschaft ausübend da sprach ich also: ›Nimmuria ist nicht tot/ Jetzt hat Naphuria, sein großer Sohn 3 4 5

6

T. Davis, »The Tomb of Iouiya and Touiyou« (1907). Petrie, »Tell el-Amarna«, S. 38. Die Identität des Rib-Addi ist in »Zeitalter im Chaos«, S. 254 ff. geklärt worden. Brief 116. (Übersetzung Knudtzon, »Die El-Amarna-Tafeln«. Neudruck Aalen 1964.)

von Teje, seiner großen Gattin, sich an seine Stelle gesetzt, und er wird fürwahr keine Dinge von ihrer Stelle, wie sie früher standen, verrücken … Teje, seine Mutter, welche die Gattin Nimmurias, die große, die geliebte, war, lebt, und sie wird die Worte dem Naphuria, dem Sohne Nimmurias, ihres Gemahls, unterbreiten, dass wir in hohem, hohem Grade Freundschaft unterhalten7.« Dieser Brief enthüllt, dass das Dahinscheiden Amenophis’ III. nicht durch seinen Sohn und Erben, sondern wohl durch die Ältesten des Reiches bekanntgegeben wurde, oder auch durch Personen, die als »man« bezeichnet sind. Er zeigt auch, dass Echnaton den Thron entweder auf Verlangen des Staates, oder aber infolge einer geglückten Palastrevolution bestiegen hat; und schließlich geht aus ihm hervor, dass Echnaton keine Kenntnis von den Beziehungen hatte, die sein verstorbener Vater zu auswärtigen Regenten unterhielt, wobei er insbesondere nichts wusste von dem »ausgezeichneten Freundschaftsverhältnis«, das zwischen Amenophis III. und dem König von Mitanni bestand, Beziehungen, die der Königin Teje genau bekannt waren. Tuschratta, der König von Mitanni, schrieb erneut an Echnaton: »Und die Worte allesamt, die ich mit deinem Vater geredet habe, die weiß Teje, deine Mutter. Irgendein anderer weiß sie nicht, und bei Teje, deiner Mutter, wirst du sie erfragen können. Sie möge dir verkünden, dass dein Vater mit mir Freundschaft unterhielt8. Derartige Unkenntnis auf Seiten des 7

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Brief 29. (Übersetzung Knudtzon, »Die El-Amarna-Tafeln«. Neudruck Aalen 1964.) Ebenda, Brief 28 (Übersetzung Knudtzon). Um eine Reihe von schwierigen Situationen zu klären, mit denen wir uns später noch beschäftigen werden, haben einige Gelehrte eine Periode der Mitregentschaft Echnatons mit seinem Vater Amenophis III. angenommen, die zehn Jahre oder länger gedauert habe. Sir Alan H. Gardiner schrieb in der 1957 erschienenen Ausgabe des »Journal of Egyptian Archaeology« über die Mitregentschaft als von »einer strit-

Thronerben deutet klar darauf hin. dass Echnaton in den letzten Jahren vor dem Tode seines Vaters nicht in Theben war. Es ist unvorstellbar, dass ein Erbprinz in völliger Unklarheit über die freundschaftlichen Beziehungen zwischen seinem Vater und dem König von Mitanni, einem der großen Könige jener Zeit, geblieben sein kann. tigen Angelegenheit, bei der ich, wie ich bekenne, einen festen Standpunkt vertrete«. Er fand es »befremdend«, dass die Anhänger dieser These »die El-Amarna-Briefe nur kurz und am Rande erwähnen, die doch meiner Meinung nach weit bessere historische Beweise liefern, als die sehr vieldeutigen Darstellungen auf den Wänden der Gräber. Ein Brief des Hethiterkönigs Suppiluliuma, und andere von Tuschratta, dem König von Mitanni, bezeugen, dass Echnaton erst nach dem Tode seines Vaters und noch in jugendlichem Alter den Thron bestieg … Ein Brief an die Königin Teje (Brief 26, von Tuschratta), der sich zwar nicht ausgesprochen auf den Tod Amenophis’ III. bezieht, kann nur unter der Annahme, dass sie Witwe war, richtig verstanden werden, denn sie wird in dem Brief eindringlich gebeten, ihrem Sohn Naphuria, das heißt dem späteren Echnaton, die guten Beziehungen klarzumachen, die zwischen seinem Vater und Tuschratta bestanden hatten. Der anscheinend erste Brief des Königs von Mitanni an Naphuria [Echnaton] (Brief 27) trägt einen aus dem zweiten Regierungsjahr des Königs datierten Vermerk in hieratischer Schrift mit der Feststellung, dass er damals in der Südlichen Stadt (Theben) residierte, und erwähnt zweimal die ›Trauerfeier‹, was sich sicherlich nur auf das Begräbnis von Amenophis III. beziehen kann …« Dies sind genau dieselben Argumente, die ich in dieser Abhandlung benutzt habe, um die Hypothese von der Mitregentschaft zu widerlegen. Falls Echnaton für irgendeine Zeitspanne Mitregent seines Vaters war, dann ist die Entsprechung mit der Ödipussage völlig hinfällig. Deutlich gegen eine Mitregentschaft spricht auch die Tatsache, dass Echnaton schon frühzeitig während seiner Regierung, noch vor der Übersiedlung nach El-Amarna, auf allen Inschriften den Namen seines Vaters verstümmeln ließ, eine Tat, die während einer Mitregentschaft undenkbar ist.

Wenn diese Umstände mit denen der Ödipussage verglichen werden, so sehen wir, dass Echnaton, wie Ödipus, seine Kindheit und Jugend in der Fremde zubrachte; dass nach dem Tode seines Vaters dessen Witwe, Teje, allein regierte – wie Iokaste nach dem Tode ihres Gatten Laios; dass nach einiger Zeit Echnaton den Thron bestieg, ohne etwas von den Staatsgeschäften zu Lebzeiten seines Vaters zu wissen, wohl aber mit der Tatsache vertraut war, dass Teje seine Mutter und der verstorbene König sein Erzeuger war. Verfolgen wir nun unsere Absicht weiter, zwischen dem legendären Ödipus und dem historischen Echnaton eine große Ähnlichkeit zu finden, so müssen wir an dieser Stelle zugeben, dass es nicht den Anschein hat, als verfügten wir über triftige Beweise und überzeugende Gründe; beide sind im Gegenteil absolut unzureichend. Ein Held, der als neugeborenes Kind mit durchbohrten Füßen in der Einöde ausgesetzt wurde und der, herangewachsen, seinen Vater bei einer Begegnung auf einem Wege tötete9, seine Mutter heiratete und Kinder mit ihr hatte, unterscheidet sich wesentlich von der gewohnten Vorstellung von Echnaton als Mustergatten und -sohn und religiösem Reformer. Wenn wir nichts anderes beweisen können, als dass Ödipus seine Jugend fern von Theben zugebracht und das Königreich übernommen hat, nachdem seine Mutter kurze Zeit die Herrschaft allein ausübte, dann machen wir den Versuch, auf ein paar Strohhalmen ein Gebäude zu errichten, oder ein Königreich für einige Silbermünzen zu kaufen. Hat uns mm nicht doch die weibliche, eindeutig mythische Sphinx vor die Tore des falschen Theben geführt? Hätten wir uns nicht doch an das Theben in Böotien halten und dieser offensichtlich ein9

Constans, »La Legende d’Oedipe«, S. 5 und Nilsson, »The Mycenaean Origin of Greek Mythology«, nehmen an, dass in der Sage die Ermordung des Vaters eine spätere Interpolation war. Nilsson schreibt: »Die Tötung seines Vaters ist für den Mythos nicht so wesentlich und kann später hinzugefügt worden sein.« (S. 106.)

geschobenen Episode von einer Sphinx, die auf einem Felsen hockte und die Zugangswege zu der Siebentorigen Stadt beherrschte, keine Aufmerksamkeit schenken sollen? Hat Echnaton seine Mutter geheiratet, und hat sie ihm Kinder geboren? Wie steht es mit dem körperlichen Kennzeichen, das Ödipus seinen Namen gab – seinen geschwollenen Füßen, und wie mit der Blindheit und der Verbannung? In der griechischen Sage heißt der König, der mit seiner Mutter im Inzest lebte, »Schwellfuß«, Ödipus. Abbildungen auf den Wänden der Grabkammern in Achet-Aton (Tell el-Amarna) und auf den Grenzstelen der Stadt zeigen König Echnaton und die Angehörigen seiner Familie. Diese Darstellungen unterscheiden sich beträchtlich von denen der bildenden Kunst früherer oder späterer Generationen in Ägypten. Besonders ungewöhnlich, ja bisher sogar ohne Beispiel, ist die Art, wie der Körper Echnatons wiedergegeben ist: mit, einem langgestreckten Kopf auf dünnem Hals und einem herabhängenden Unterleib. Die ausgeprägteste Missbildung aber findet sich in der Form seiner Schenkel: sie sind geschwollen. James Breasted schrieb hierzu: »Die merkwürdige Behandlung der unteren Extremitäten durch Echnatons Künstler ist ein Problem, das bisher noch ungelöst ist, und das selbst durch die Annahme, die Glieder des Königs seien deformiert gewesen, nicht restlos erklärt werden kann10«; doch kann für die grotesk verdickten Schenkel des Königs keine Manieriertheit in der Kunst verantwortlich gemacht werden. Eine der Besonderheiten von Echnatons Körper, der ungewöhnlich langgestreckte Schädel, ist nach den Reliefs und Skulpturen auch ein Charakteristikum der Köpfe seiner Kinder, aber die Schwellung der unteren Gliedmaßen ist Echnaton allein eigentümlich und tritt auch bei seinen zahlreichen lebensgroßen Abbildungen in Theben und El-Amarna immer wieder in Erscheinung. Die Anomalie ist so 10

J. H. Breasted, »A History of Egypt« (1912), S. 378.

ungewöhnlich, dass Breasted glaubte, es könne sich nicht um eine »natürliche« Missbildung gehandelt haben. Zwei französische Ärzte, Dr. M. Ameline und Dr. P. Quercy, veröffentlichten 1920 in der Revue Neurologique die Abhandlung: »Le Pharaon Amenophis IV., sa mentalité. Fut-il atteint de lipodystrophie progressive?« Zu dieser »sehr eigenartigen wissenschaftlichen Untersuchung« äußerte sich G. Elliot Smith, Professor der Anatomie an der Universität London und Verfasser von Büchern über ägyptische Königsmumien, die er nahezu alle geöffnet und untersucht hatte: »Sie beschreiben den Zustand der progressiven Lipodystrophie als eine Erkrankung, die einerseits durch ein fortschreitendes und vollständiges Verschwinden des Unterhautfetts am oberen Teil des Körpers charakterisiert ist, auf der anderen Seite durch eine deutliche Zunahme des Fettgewebes unterhalb der Lenden. Das erste Beispiel dieser seltsamen Erkrankung wurde im Jahre 1907 von Barraquer beschrieben. Sie ist aber äußerst selten bei erwachsenen Menschen anzutreffen11.« Dieses Missverhältnis im Körperbau, wobei der untere Teil des Körpers angeschwollen, der obere dagegen mager ist, tritt in unserer Zeit sehr selten auf und muss auch in der Vergangenheit selten gewesen sein. Ein Mensch, der von diesem Leiden befallen ist, würde seinen Körper wohl kaum dem öffentlichen Anblick aussetzen oder gar nackt zur Schau stellen, aber Echnaton war anders geartet. Als König des größten Reiches jener Zeit wünschte er seinen Untertanen und ihren Abkömmlingen einzuprägen, dass seine Missgestalt als Zeichen dafür angesehen werden müsse, er sei ein Auserwählter des Schicksals und selbst ein göttliches Wesen. Wie auch die medizinische Diagnose der körperlichen Missbildung und des psychologischen Verhaltens lauten mag, Echnaton muss sein physisches Gebrechen durch ständiges öffentliches Auftreten in spärlicher Bekleidung und durch die 11

G. Elliot Smith, »Tutankhamen and the Discovery of His Tomb« (1923), S. 85-88.

zahlreichen Statuen, die ihn unbekleidet zeigen, zu einer Angelegenheit gemacht haben, von der jeder wusste. Diese neue Ästhetik in Bezug auf die Umrisse des menschlichen Körpers, die den königlichen Bildhauern als etwas vorgeschrieben wurde, das besonders betont, nicht verborgen werden müsse, ist von den Ägyptern nicht geschätzt worden, waren sie doch in ihrer Kunst daran gewöhnt, die Anmut eines wohlproportionierten Körpers zu zeigen, wie zahlreiche Darstellungen aus dem Bereich der Jagd, der Musik und des Tanzes während vieler Jahrhunderte der ägyptischen Vergangenheit es uns veranschaulichen. Die Missbildung oder Verunstaltung der Beine Echnatons erscheint einem heutigen Betrachter absonderlich; nicht weniger aber muss der Anblick seiner Reliefs und Statuen die Menschen im Altertum seltsam berührt haben. In der Sage sind es Ödipus’ Füße, auf den Darstellungen Echnatons dagegen die Schenkel, die geschwollen sind. In der Sprache des Volkes kann das Wort »Füße« für »Beine« stehen. Viele Sprachen haben keine unterscheidenden Bezeichnungen für Beine und Füße. Im Griechischen steht das Wort pous für beide, und ebenso steht im Ägyptischen das Wort r-d (Fuß) auch für Bein12. In dem von Ödipus gelösten Rätsel von dem Wesen, das erst auf vier, dann auf zwei und schließlich auf drei Beinen gehe (wobei der Stab als drittes Bein galt), wird das griechische Wort pous benutzt, und daher konnte der Name Ödipus, und im Sprachgebrauch sogar vorzugsweise, »geschwollene Beine« bedeuten. Echnatons Leichnam hat man nie aufgefunden, wohl aber, wie wir noch sehen werden, die Skelette seiner beiden Söhne. Die Schädeldeformationen, wie wir sie auf den bildlichen Darstellungen dieser Prinzen sehen, wurden durch die Skelette be12

Im Hebräischen ist ebenfalls regel das untere Glied wie auch der Fuß. Auch im Russischen wird das gleiche Wort (noga) für beide gebraucht.

stätigt. Dies ist der Beweis dafür, dass die Skulpturen und Abbildungen von Echnatons Körper, soweit es sich um seine geschwollenen Beine handelt, wahrheitsgetreue Darstellungen sind. Wie in einer ständigen exhibitionistischen Zurschaustellung traten Echnaton und die gesamte königliche Familie in der Öffentlichkeit nahezu nackt auf; so wenigstens sieht man sie – umringt von ihren Untertanen – auf den Reliefs. Beim Anblick einer solchen Missbildung mag ein zeitgenössischer Besucher aus dem mykenischen Griechenland begreiflicherweise dem König den Beinamen Ödipus gegeben haben13. Zu späterer Zeit muss bei einem Griechen der gleiche Eindruck bei der Betrachtung von Bildnissen des Königs entstanden sein, selbst wenn er nur durch erhalten gebliebene Skulpturen von dem König und seinem unförmigen Körper etwas wissen konnte. Was die Ödipussage betrifft, so waren einige Kenner der Sitten der klassischen Zeit über die zusätzliche Grausamkeit erstaunt, die man dem ausgesetzten Kind mit der Durchbohrung seiner Füße antat. Als Erklärung wurde angegeben, diese Maßnahme sollte dazu dienen, den Geist des toten Kindes am Umherwandern zu hindern. Einige sachkundige Gelehrte haben jedoch der Meinung Ausdruck gegeben, das Durchbohren der Füße sei eine spätere Einschaltung, und in der ursprünglichen Sage sei dieser Bestandteil nicht enthalten gewesen14. Professor Gardiner, Oxford, stellte die Frage: Was ist die Bedeutung des epitheton constans oder ständigen Beiworts, das 13

14

Der zweite Teil des Namens Amenhotep (IV) könnte vielleicht zu dem Namen Ödipus etwas beigetragen haben. Der ägyptische Buchstabe t findet sich in Keilschrift bei Eigennamen als d (ElAmarna-Briefe). Beispielsweise wurde Tutu, der königliche Minister der auswärtigen Angelegenheiten unter Echnaton, dessen Name in dieser Form in seinem Grab in El-Amarna erscheint, in den ElAmarna-Briefen als Dûdu angeredet. Kretschmer, »Griechische Vaseninschriften«, S. 191, Anm. 5 (1894), ebenso »Glotta«, XII (1923), S. 59 f.

Echnaton sich selbst zulegte, »Der lange lebte« (oder besser: »Der überlebte, um lange zu leben«), und dies bereits auf seinen frühesten Monumenten? Weshalb sollte ein junger Mensch sich so ausgedrückt haben, und was könnte die ursprüngliche Bedeutung dieser Bezeichnung gewesen sein? Und Gardiner fuhr verwundert fort: »Ist es möglich, dass in Echnatons Jugend damit gerechnet wurde, er werde nicht lange leben15?« Die Ödipussage bietet uns eine mögliche Antwort: Ödipus, dem es bestimmt war, als kleines Kind zu sterben, blieb am Leben. Im Dasein des legendären Helden war das Wunder des Überlebens von entscheidender Bedeutung. Kritische Denker wie Lord Raglan meinten, das wunderbare Überleben eines Kindes, welches durch einen Vater, einen Pharao oder einen Herodes gefährdet war, seiner Bestimmung nach aber zu einem Helden heranwachsen sollte, sei ein stereotypes Element praktisch aller Geschichten, die sich um die Lebensbeschreibungen legendärer Helden ranken. Sollten wir jedoch in der Lage sein, unsere Hauptthese zu beweisen, dann könnte die von Echnaton gebrauchte und immer wiederkehrende Bezeichnung »Der überlebte, um lange zu leben« bedeuten, dass dieses Element in der Geschichte des neugeborenen Ödipus der Widerhall eines tatsächlichen Vorkommnisses gewesen ist. In diesem Zusammenhang könnte es von Bedeutung sein, dass es, wie bereits auf einer der vorhergehenden Seiten erwähnt, in Ägypten während der XVIII. Dynastie –jener Dynastie, zu welcher Amenophis III. und Echnaton gehörten – üblich war, wegen der Thronfolge das Orakel zu befragen. In früheren Dynastien geschah dies nicht, und auch in späterer Zeit war von der Rolle des Orakels in Bezug auf die Thronfolge nichts bekannt. Wohl aber wurde während der XVIII. Dynastie, noch genauer während der zweiten Hälfte dieser Dynastie, das Orakel von den Pharaonen wiederholt befragt, um etwas über die dy15

A. H. Gardiner, »The So-called Tomb of Queen Tiye«. Journal of Egyptian Archaeology, XLIII (1957), 21. Anm. 3.

nastische Erbfolge zu erfahren und ganz allgemein zu hören, was für den König und seine Nachkommenschaft zu erwarten stand. Dieses Verfahren spielte natürlich den Priestern des Orakels eine ungewöhnliche Macht in die Hände. Zurzeit Amenophis’ III. verloren sowohl das Orakel im Tempel des Gottes Ré zu Heliopolis im südlichsten Zipfel des Deltas als auch das Orakel in Gise viel von ihrer früheren Bedeutung, während das Orakel von Theben an Einfluss gewann. So beherrschten die Priester des Amon im großen Karnaktempel tatsächlich die Monarchie, zumal Theben während der XVIII. Dynastie Hauptstadt von Ober- und Unterägypten war. Sicher ist, dass Amenophis III. das Orakel des Amon in Theben wegen der Thronfolge befragte, möglicherweise schon bevor sein Sohn geboren war. Die Tatsache, dass Echnaton fern von Theben und außerhalb der Grenzen Ägyptens großgezogen wurde, muss in irgendeiner Beziehung zum Spruch des Orakels gestanden haben; weshalb sollte sonst ein Königssohn, dem bestimmt war, die Krone zu erben, in einem fremden Lande aufwachsen? Der Ausdruck »Der überlebte, um lange zu leben« deutet darauf hin, dass Echnaton die Gefahr drohte, früh zu sterben. Infolgedessen dürfen wir einen so ungünstigen Orakelspruch voraussetzen, dass der Knabe fortgebracht werden musste, vielleicht sogar, um getötet zu werden. Dass man ihn außer Landes und begreiflicherweise in das Haus der Verwandten von Amenophis III. in Mitanni bringen ließ, konnte seinen Grund darin gehabt haben, dass man das Kind nicht töten wollte, und wie es scheint, geschah dies auch nur deshalb, weil ein heiliger Mann, gleich dem Seher Teiresias der griechischen Sage, eingriff und diesen Rat gab. An späterer Stelle werden wir in der Lage sein, die Identität dieses blinden Sehers festzustellen. Mit Hilfe dieser Rekonstruktion der Ereignisse, wie sie sich um das Leben des jungen Echnaton abspielten, können wir seine feindselige Einstellung gegenüber den Priestern des Amon und Amon selbst besser verstehen, und ebenso darin die Wurzeln seiner zukünftigen Reform erkennen. Er war ein Feind der

gesamten Hierarchie, die die Stadt Theben und das Königreich beherrschte. Das Orakel von Theben hat er ausgetilgt; denn aus seiner Zeit hört man nichts mehr davon. Das Orakel von Heliopolis (im Ägyptischen: On) war ebenso alt, vielleicht sogar älter als das von Theben, man müsste also erwarten, dass Echnaton sich das Wohlwollen des Orakels von Heliopolis und seiner Priester sichern würde. Nach wenigen Jahren seiner Regierung, als er von Theben nach El-Amarna übersiedelte, umgab er sich tatsächlich mit Priestern aus Heliopolis, wie wir aus Inschriften von El-Amarna erfahren. Schon vor diesem Ereignis war die Macht der Sphinx in Theben erloschen und ihr Bildnis, vermutlich durch Herabstürzen von der westlichen Felswand, zerstört worden. Am Fuße der Felsen, nicht weit vom Tempel der Hatschepsut entfernt, wurden viele Bruchstücke von Sphingen gefunden16. Es ist sogar denkbar, dass die Priester des Hathor-Heiligtums, um ihr eigenes Leben zu retten, das Abbild der Sphinx selbst hinabstürzten, denn das Orakel von Theben war der Sphinx von Theben genauso angegliedert wie das Orakel von On der Sphinx von Gise, und es kann das Orakel von Theben gewesen sein, das über Echnaton den Todesspruch verkündet hatte – ein Schicksal, dem er wundersamerweise entging. Figuren von Sphingen, und ebenfalls solche des früheren Königs, wurden verstümmelt und verunstaltet. Bekannt ist der Fall einer von Selim Hassan, des derzeitigen Direktors des Museums in Kairo, beschriebenen Stele. »Diese Sphingen sind systematisch ausgemeißelt worden, nur ihre Umrisse sind erhalten geblieben, sodass man noch erkennen kann, was dort ursprünglich vorhanden war. Vor jeder Sphinx befand sich ein Standbild des Königs, das ebenfalls ausgemeißelt wurde … das sind eindeutig die von Echnatons Bilderstürmern durchgeführ-

16

»Bulletin of the Metropolitan Museum of Art«, Sektion II, Februar 1928, S. 46, Fig. 48, 51.

ten Ausmeißelungen.«17 Die Sphinx, das grausame, geflügelte weibliche Wesen, das auf dem Felsen an den Zugangswegen nach Theben die Stadt bewachte, trat in der Ödipussage wieder auf, nur ist dort ihre Anwesenheit unmotiviert. Weshalb sollte es auf den Felsen von Theben in Böotien eine Sphinx gegeben haben, die Wanderer umbrachte, und weshalb sollte sie sich wegen eines Frage- und Antwortspiels vom Felsen hinabgestürzt haben? Solche blutdürstigen Ungeheuer nehmen sich nicht aus Verdruss über ein richtig gelöstes Rätsel das Leben und stürzen sich nicht freiwillig von einem Felsen herab.

17

S. Hassan, »Annales du Service«, XXXVIII, 57.

»Der König, der in der Wahrheit lebt« Einige Zeit nach seiner Thronbesteigung änderte Amenophis IY. seinen Namen in Echnaton. Dieser Entschluss war eine Folge seiner religiösen Reform, bei der er den obersten Gott Amon durch den Gott Aton ersetzte. Die übliche Interpretation besagt, dass Amon-Ré der Sonnengott war, und dass Aton ebenfalls der Sonnengott war, allerdings in einem anderen Aspekt: dem der Sonnenscheibe oder der materiellen Substanz der Sonne. Diese theologischen Spitzfindigkeiten moderner Gelehrter, die sie den alten Ägyptern zuschreiben, und die in der Veränderung eine große religiöse Reform sehen wollen, sind nicht überzeugend. In jedem Fall war Amon keine solare Gottheit und außerdem stand hinter Echnatons Reform eine Idee, eine Lebensphilosophie und eine ethische Vorstellung. Amon war identisch mit dem von allen Völkern der Antike verehrten Jupiter, dessen Name in Griechenland Zeus und in Babylonien Marduk lautete; wie wir in einem anderen Buch zu beweisen versuchen werden, hieß er in Persien Mazda und in Indien Siva. Tatsächlich besitzen wir die Aussage klassischer Schriftsteller, dass Amon Jupiter war, und das berühmte Heiligtum in der Oase Siva in der libyschen Wüste, wohin Alexander von Mazedonien im Jahre 332 v. Chr. pilgerte, war nach griechischen Autoren dem Zeus-Amon, nach lateinischen dem Jupiter-Amon geweiht1. Auf vielen Reliefdarstellungen sieht man Echnaton unter Strahlen abgebildet, die von einer Scheibe ausgehen und in Form von Händen endigen, welche das Lebenszeichen halten. Auf der Wand eines Grabmals, das für einen Mann namens Eje bestimmt war, wurde ein Hymnus Echnatons oder seines Hofdichters gefunden, dessen Text nach Art der hebräischen Psalmen in beeindruckenden Worten ein inbrünstiges 1

Plutarch, »Vitae«, Alexander, 27.

Verlangen nach Vereinigung mit der Gottheit zum Ausdruck bringt2. Deine Strahlen umarmen die Länder … Du fesselst sie [die Menschen] durch deine Liebe, Obwohl du fern bist, sind deine Strahlen doch auf Erden … Wenn du deine Strahlen aussendest … Alle Bäume und Pflanzen blühen, Die Vögel flattern Und ihre Flügel erheben sich in Anbetung zu dir … Du bist es, der den Knaben in den Frauen schafft, Der den Samen in den Männern gemacht hat, O du einziger Gott, dessen Macht kein anderer hat … Du hast Millionen von Gestalten gemacht aus dir allein … Du bist in meinem Herzen, Kein anderer ist, der dich kennt, Außer deinem Sohn Echnaton. Du hast ihn eingeweiht in deine Pläne Und in deine Kraft … Denn du selbst bist die Lebenszeit Und man lebt durch dich. Alle Augen schauen auf deine Schönheit … Seit du die Erde gründetest, Hast du sie aufgerichtet für deinen Sohn, Der aus dir selbst hervorging, Der König, der in der Wahrheit lebt …3

2

3

Die große Ähnlichkeit bestimmter Stellen dieses Gedichts mit dem Psalm 104 ist häufig bemerkt und viel darüber nachgedacht worden. Parallele Texte können in Breasted, »A History of Egypt«, S. 371-376 gefunden werden. Deutscher Text nach der Übersetzung in Breasted-Ranke, »Geschichte Ägyptens«. Zürich 1954, S. 220 ff.

Den Ausdruck »Der in der Wahrheit lebt« erwählte sich Echnaton als persönlichen Beinamen, und überall dort, wo dieses »Der in der Wahrheit lebt« auftaucht, schließt man darauf, dass mit der betreffenden Person Echnaton gemeint ist, auch wenn der Name des Königs auf der Inschrift zerstört worden ist. Es kann keine Frage sein, dass mit dieser persönlichen Beziehung zwischen einem Menschen und seinem Gott etwas Neues erstand, etwas, das niemals zuvor in gleichem Maße in der Religion Ägyptens erlebt worden ist, oder zumindest niemals in einer früheren oder späteren Hymne, Litanei oder einem Gebet aufgezeichnet wurde4. Es kann aber auch nicht übersehen werden, dass Echnaton sich als Krone der Schöpfung betrachtete: Er allein kannte den Schöpfer, und alle Menschen lebten für »deinen Sohn«. Echnatons religiöse Reform war Gegenstand einer großen Anzahl von Büchern und Aufsätzen. Der Ägyptologe James Breasted nannte Echnaton »der Welt ersten Idealisten und der Welt ersten Individualisten«, »den ersten Propheten der Geschichte« und »den bemerkenswertesten aller Pharaonen und ersten Individualisten in der Geschichte der Menschheit5«. Ein anderer Ägyptologe, Arthur Weigall, wiederholte diese Worte: »Echnaton kann man nach dem Maßstab seiner Zeit und … vielleicht auch dem der geistigen Eigenart als den ersten Idealisten der Welt bezeichnen6.« Auch Vergleiche mit Christus fehlten nicht, allerdings sind verschiedene Gelehrte, wenn auch eine Minderheit, hier nicht der gleichen Meinung. So schrieb Professor T. E. Peet: »Worin bestand denn genau gesagt die Verehrung der Sonnenscheibe, wie Echnaton sie auffasste? Dies ist 4

5 6

Es wurde jedoch festgestellt, dass in einer Hymne an Amon aus der Zeit Amenophis’ III. schon Wendungen ähnlicher Art gebraucht wurden. Breasted, »A History of Egypt«, S. 356. Weigall, »The Life and Times of Akhnaton«, S. 2.

ein Thema, über das eine beträchtliche Menge von Unsinn geredet und geschrieben worden ist, in der Hauptsache, weil der Romantik und Phantasie bei der Untersuchung zu viel Spielraum gelassen wurden, … In der äußeren Erscheinungsform des Gottes gibt es bestimmt nichts, was dem so oft behaupteten Glauben den Anschein von Wahrscheinlichkeit verleihen könnte, Aton sei nicht die Sonnenscheibe im physikalischen Sinn, sondern ›die Kraft, die dahintersteht‹. Man kann im Gegenteil sagen, dass kein ägyptischer Gott jemals unter so rein realistischen Aspekten dargestellt wurde wie dieser, selbst den Naturgöttern hatte man einen menschlichen Körper gegeben. Das Wort Aton enthält an sich schon die gleiche Bedeutung, denn es war einfach das übliche Wort für die Sonnenscheibe im rein materiellen Sinn, und wenn es überhaupt irgendeine wirkliche Veränderung in Echnatons neuer Vorstellung vom Sonnengott gab, wie sie sich in Form und Namen zeigt, so ging sie in Richtung auf einen größeren Materialismus7.« Wir würden Echnaton Unrecht tun, wenn wir bestreiten wollten, dass er ein ungewöhnlich ausgeprägtes Gefühl für die Natur und all ihre Geschöpfe besaß. So sagt er in seinem Hymnus an die Sonne: Das Küchlein piept schon in der Schale, Du gibst ihm Atem darin, um es zu beleben. Wenn du es vollkommen gemacht hast, Sodass es die Schale durchbrechen kann, So kommt es heraus aus dem Ei, Um zu piepen, soviel es kann5 Es läuft herum auf seinen Füßen …8 Nie hat er sich, wie es andere Pharaonen gern taten, als grausam und rachsüchtig bezeichnet. 7

8

T. E. Peet, »Akhenaten, Ty, Nefertete, and Mutnezemt«, in: W. Brunton: »Kings and Queens of Ancient Egypt« (1925), S. 95. Übersetzt von G. Steindorff. Deutsche Übersetzung nach BreastedRanke, n. a. O. S. 222.

Er fühlte sich als der Auserwählte, als einziger Sohn des Gottes, für den die ganze Welt erschaffen war. Zurzeit von Amenophis II., Thutmosis IV. und Amenophis III. wurden Menschen geopfert und Todesstrafen verhängt. Echnaton ließ keine Menschenopfer zu, und nicht einmal Tiere durften bloß zum Ergötzen erlegt werden. Während Amenophis III. sich brüstete, eine große Zahl von Löwen getötet zu haben, und die Malereien in der Totenstadt von Theben Jagdszenen auf weisen und Bilder von Vögeln, die durch Wurfhölzer verletzt oder getötet, und Fischen, die harpuniert werden, zeigt der Bildschmuck der unter Echnaton erbauten Nekropole von El-Amarna nur friedliche Szenen aus dem Leben der Tiere. Man kennt keine Darstellungen von Echnaton als Jäger und ebenso wenig solche, die ihn als Vollstrecker der Todesstrafe zeigen. Auch in den Gräbern seiner Edlen ist keine einzige Jagdszene wiedergegeben, und doch war er keineswegs ein Vegetarier, wie die Bilder seiner Festmähler beweisen. Er ließ sich auch nicht im Kampf darstellen, die Reihen der Feinde mit seinem Bogen niederstreckend, wie dies seine Vorgänger und Nachfolger auf Ägyptens Thron taten. Echnaton befreite Theben von den Menschenopfern, er stürzte die Sphinx und führte eine Religion der Liebe ein – aber auch eine solche der Selbstvergötterung. Überall, wo er den Namen des Gottes Amon fand, ließ er ihn ausmeißeln, sogar dort, wo er als Bestandteil im Namen seines Vaters Amenophis erschien. Offensichtlich war er voll Zorn und Rachsucht gegen den Gott, dessen Orakel Anlass zu seiner Verbannung aus dem königlichen Hause gegeben hatte, und ebenso gegen seinen Vater, der ihn als Folge des Orakels aus dem Palast entfernen ließ. Der tiefere Sinn seines Verhaltens kann aus der Tatsache geschlossen werden, dass er den Namen des Gottes in seinem eigenen Namen, Amenophis, den er noch bis zum vierten oder fünften Jahr seiner Regierung führte, nicht zerstören ließ und ebenso im theophoren Namen des Königs Amenophis’ I. [Amenhotep] den Namen Amon nicht auslöschte. »Der König behielt den Namen Amenophis bis zur Mitte seines fünf-

ten Regierungsjahres bei und es ist ergötzlich zu sehen, dass in diesem Grab und allen anderen Gräbern der Atonverehrer der Name ›Amen‹ unbeschädigt blieb, obgleich sie ihn aus dem Namen des Vaters ihres Königs tilgten9.« Demnach ist die übliche Erklärung, das Ausmeißeln des Namens Amon sei nichts weiter als der religiöse Eifer eines Anhängers des Aton, nicht zutreffend. Obgleich er bei seinem eigenen Namen in früheren Inschriften das Wort Amon nicht auslöschen ließ, änderte er ihn und nannte sich hinfort Echnaton statt Amenophis. Einer der ersten Anhänger Freuds, den er selbst als den talentiertesten von ihnen bezeichnete, war Karl Abraham. Er starb früh und deshalb ist sein Name nicht so bekannt wie die Namen anderer Freud-Schüler. Abrahams Beitrag zu dem von Freud 1912 veröffentlichten ersten Band von Imago war ein Aufsatz über »Amenophis IV. [Echnaton]«. Er erkannte an dem Ketzerkönig eine feindselige Einstellung gegen seinen Vater und eine gleich starke Hinneigung zu seiner Mutter. Abraham arbeitete nach dem irrigen chronologischen System, wonach Echnaton im Alter von 10 Jahren auf den Thron gelangt sei. Dieser Irrtum entstand aus der Tatsache, dass die Mumie eines Fürsten, der bei seinem Tod etwa 24 Jahre, bestimmt aber nicht mehr als 27 Jahre alt war, fälschlicherweise für diejenige Echnatons gehalten wurde; da Echnaton aber etwa 17 Jahre regierte, wurde daraus gefolgert, er sei als Zehnjähriger König geworden. Nach dem gleichen System hätte der Schluss gezogen werden müssen, dass Echnaton im Alter von 14 Jahren den Bruch mit dem Amonkult vollzogen, und bald darauf den oben zitierten Hymnus verfasst hätte, der auch als erstaunlich frühreife Leistung betrachtet wurde. Abraham nahm an, dass ein Knabe, der mit zehn Jahren auf den Thron kommt, von seiner Mutter beherrscht werden wür9

N. de Gans Davies, »Akhenaten at Thebes«, Journal of Egyptian Archaeology, IX (1925), S. 139, Anm. 2.

de. »Seine Libido hatte sich in ungewöhnlichem Maße an die Mutter fixiert, während im Verhältnis zum Vater eine ebenso ausgesprochene negative Einstellung hervortritt.« In der religiösen Reform sah Abraham eine Auflehnung Echnatons gegen den Vater oder, genauer ausgedrückt, gegen das Andenken seines Vaters. Auf allen Inschriften, deren er habhaft werden konnte, verstümmelte er den Namen seines Vaters, ließ den Namen des Gottes Amon ebenfalls ausmeißeln und wandte sich der Verehrung des Aton zu. Die allgemeine Meinung war und ist noch, dass diese Beseitigung des Namens der Gottheit die Folge religiösen Eifers gewesen sei und nichts anderes. Abraham war jedoch der Ansicht, der Name Amon sei dem jungen König verhasst gewesen, weil er in dem seines Vaters Amenophis enthalten war. »Und so ließ er in gleicher Weise den Namen Amon und den Namen seines Vaters Amenhotep [Amenophis] aus allen Inschriften und Denkmälern beseitigen.« In dieser »Reinigungsaktion« kam, ebenso wie in der Änderung seines eigenen Namens von Amenophis in Echnaton, der verborgene Hass des Sohnes gegenüber dem Vater zum Ausdruck. »Seine stärkste Feindschaft richtete sich gegen den Vater, den sie doch in Wirklichkeit nicht treffen konnte, weil dieser nicht mehr zu den Lebenden zählte.« Dadurch, dass er den Namen seines Vaters austilgen ließ, versuchte der König jedes Andenken an seinen Erzeuger auszulöschen. Wenn aber der Name einer Person ausgetilgt wurde, dann fiel auch sein ka, seine Seele im Leben nach dem Tode, der Vernichtung anheim. Als Teje starb, ließ Echnaton sie nicht neben ihrem Gatten begraben. »Bis über das Grab hinaus sollte seine Rivalität mit dem Vater um den Besitz der Mutter sich äußern.« Echnatons Monotheismus war nach Abrahams Meinung nur eine Sublimierung seines Hasses. Anstelle seines Vaters verehrte er die Sonne, den einzigen am Tage leuchtenden Himmelskörper. »Er machte ihn zum einzigen Gotte, in durchsichtiger Anlehnung an die Einzigkeit des Vaters.« Seine religiöse Reform wurzelte in der Verneinung seines Erzeugers; an dessen Stelle schuf er sich

ein erhabenes Idealbild der Macht. Er nannte sich »Sohn des Aton« und negierte auf diese Weise seine wirkliche Herkunft. Was auch die wahre, verborgene Quelle der religiösen Neuerungen Echnatons gewesen sein mag – selbst Abraham hielt ihn für einen großen Reformer und Propheten. Unter Echnaton wurden Götter weder als Tiere dar gestellt noch in menschlicher Gestalt verehrt. »Echnatons Lehre enthält nicht nur wesentliche Bestandteile des alttestamentarischen jüdischen Monotheismus, sondern eilt ihm in mancher Beziehung voraus.« In noch höherem Grade ist er ein Vorläufer Christi: »Weigall weist darauf hin, dass Echnatons Gottesauffassung der christlichen mehr ähnele als der mosaischen10.« Abraham ging in dieser Wertung Freud voraus. (Wie ich anhand umfassenden Materials in Zeitalter im Chaos erläutert habe, trifft es chronologisch betrachtet nicht zu, dass Echnaton ein Lehrer oder ein Zeitgenosse von Mose war, sondern aus einer viel späteren Generation stammte.) Abraham erkannte deutlich den Ödipuskomplex in Echnaton, glaubte aber, dass er in monogamer Ehe mit der Königin Nofretete lebte und der Trieb nur ein Trieb blieb. Nicht erkannt hat er dagegen, dass Echnaton nicht nur am Ödipuskomplex litt, sondern selbst das Urbild des Ödipus war, und dass er seine eigene Mutter nicht nur begehrte, wie dies bei so manchen Neurotikern der Fall ist, sondern sie auch besaß. Dass dies der Fall war, werden wir auf den folgenden Seiten ausführen, und wenn wir recht haben, ist die Geschichte Echnatons die Geschichte von Ödipus selbst. Mit einem gewaltsamen Bruch vollzog Echnaton in seinem vierten Regierungsjahr die endgültige Abkehr von den Priestern des Amon; manche Gelehrte sind der Meinung, dass möglich10

»Imago«, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud. Redigiert von Otto Rank und Dr. Hanns Sachs. 1. Jahrgang/1912. Heft 1. März 1912. Hugo Heller und Cie. Leipzig und Wien. I, S. 339, 345 ff., 357.

erweise das Orakel dem König etwas Ungünstiges prophezeite11. In einer von ihm abgefassten Inschrift auf einer heute stark beschädigten Stele, die auf dem für seine neue Hauptstadt geplanten Ort stehen sollte, heißt es: »Denn, so wahr Vater Hor-Aton lebt – schlechter sind sie als jene Dinge, die ich hörte bis zum Jahr Vier, schlechter sind sie als jene Dinge, die ich gehört habe in dem Jahr … schlechter sind sie als jene Dinge, welche der König … gehört hat.. Monarchie und Theokratie gerieten aneinander. Echnaton entschied sich für den vollständigen Bruch und dafür, Theben wieder zu dem zu machen, was es vor dem Neuen Reich und dem Aufstieg Amons zum obersten Gott gewesen war. Die drückende Atmosphäre in Theben, vorwiegend eine Priesterstadt, wo mm acht große Amontempel geschlossen, die Geistlichkeit ihrer Würden beraubt und die Edlen der früheren Regierung ihrer Ämter verlustig gegangen waren, machte das Leben dort trostlos. In dieser Stadt blieb für Echnaton nichts heilig, selbst das einem ägyptischen König Heiligste, eine Gedenktafel seines Vaters, ließ er brutal verstümmeln. Das kam einem Mord gleich, weil nach Auffassung der Ägypter die menschliche Seele nach dem Tode fortleben konnte, was allerdings nicht unbedingt und unter allen Umständen Unsterblichkeit bedeutete. In einer besonderen Zeremonie musste nach dem Tode eines Menschen sein Mund mit eigens hierfür bestimmten Instrumenten geöffnet werden, um seine Seele freizumachen und sie in ein neues Leben zu entlassen. Ein Verstorbener konnte jedoch durch Austilgung seines Namens und seines Gedenksteines der Unsterblichkeit beraubt werden: »Im alten Ägypten bedeutete die Vernichtung des Namens einer Person auch die Vernichtung ihrer selbst« (Gardiner). Was daher Echnaton seinem Vater antat, kam in den Augen der Ägypter einem Mord gleich und war sogar schlimmer als das, denn 11

N. de Garis Davies, »The Rock Tombs of el-Amarna« (1903-8), V, 30-31.

ein Ermordeter konnte in den Gefilden der Seligen wieder zum Leben erweckt werden, wurde er aber dort durch eine irdische Tat getötet, gab es für ihn keine Fortexistenz mehr. Dieses Sakrileg gegenüber seinem himmlischen Vater und irdischen Erzeuger mochte einen Orakelspruch heraufbeschworen haben, durch den der König des Vatermordes für schuldigbefunden wurde. Höchstwahrscheinlich meinte er diesen Urteilsspruch, als er von den üblen Dingen sprach, die er in seinem vierten Regierungsjahr von bösartigen Priestern gehört hatte, und die ihn veranlassten, seine Hauptstadt Theben aufzugeben, völlig mit dem Amonkult zu brechen und sich nach einem Platz für seine neue Hauptstadt umzusehen, aus der die Priester des Amon ausgeschlossen sein sollten. Er kehrte seinem in Theben für Aton neu errichteten Tempel den Rücken und ließ die großen Paläste der Hauptstadt schließen. Dann wandte sich der junge König gen Norden, um näher bei Heliopolis zu sein, dem alten On, dessen Priester und Seher sich in ihrer Stellung zurückgesetzt fühlten und der Meinung waren, ihre Besitztümer seien durch den Amonkult, der nur wenige Generationen lang dominiert hatte, geschmälert worden. Ein Sohn Amenophis’ III. zu sein – selbst das wurde von Echnaton nicht eingestanden. Wäre nicht Teje als seine Mutter erwähnt worden und hätten nicht verschiedene Briefe aus der Korrespondenz von El-Amarna ihn als Sohn des Nimmuria (eine verderbte Form von Nebmare oder Nebma’atré) bezeichnet, so hätte man von seiner Verwandtschaft mit Amenophis III. nichts gewusst, sondern sie nur vermuten können. Niemals nannte er sich »Sohn des Amenophis« oder »Sohn des Nebmare«. Den ersten Namen ließ er ausmeißeln, wo immer er zu finden war; den zweiten dagegen übernahm er, wenn er ihn auch anders schrieb, und schätzte ihn sehr, weil in ihm das Wort »Wahrheit« enthalten war, das er zum Leitmotiv seines Lebens machte. »Der in der Wahrheit lebt«, anch-em-Ma’at, steht im Allgemeinen unmittelbar hinter seinem Namen.

Die Geschichte des Altertums kennt Fälle, in denen ein Sohn den Namen seines verstorbenen Vaters seinem eigenen hinzufügte. Echnaton aber besaß nicht die Pietät eines Sohnes, im Gegenteil, er negierte seine wahre Herkunft, indem er behauptete, die Sonne sei sein Vater: Er war der Sohn der Sonne. »Der König des Südens und des Nordens, der in der Wahrheit lebt, der Herr der beiden Länder, der Sohn der Sonne, der in der Wahrheit lebt, der Herr der Kronen, Echnaton, groß in seiner Dauer.« Aton (die Sonne) »umarmt seinen Sohn, seinen geliebten, den Sohn der Ewigkeit12«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ödipus, dessen Vaterschaft üblicherweise Laios zugeschrieben wird, in manchen alten Quellen auch Sohn des Helios (der Sonne) genannt wird13. Seine Abstammung von Laios ist ein wichtiger Bestandteil der Sage – eine so unmotivierte Veränderung bezüglich der Vaterschaft des legendären Helden will befremdend erscheinen, sie wird aber verständlich, wenn das Urbild dieses Helden Echnaton war. Wie andere Pharaonen vor ihm war er ein Königssohn und Abkömmling des Gottes Ré; schon bald machte sein Anspruch auf Göttlichkeit eine Gleichstellung mit seinem himmlischen Vater Aton, der Sonne, erforderlich. »Du bist für ewig gleich dem Aton, schön wie der Aton, der dir das Dasein schenkte, Nefer-cheperu-Ré [Echnaton], der die Menschheit formt und die Geschlechter entstehen lässt. Er ist beständig wie der Himmel, in welchem Aton ist14.« So schrieb sein Außenminister in einer für den König bestimmten Lobprei12 13

14

Ebenda, S. 16. »Auch ein Helios wurde als Vater des Oedipus genannt.« L. W. Daly, in Pauly-Wissowa, »Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft«, Artikel »Oedipus«, Bd. XVII, Col. 2108. Vgl. auch W. H. Roscher, »Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie«, Artikel »Oedipus«, von O. Hofer. Vol. III, Col. 705 und 708. Das Grab von Tutu. (Davies, »The Rock Tombs of el-Amarna«, VI, 15.)

sung. Als nächstes behauptete Echnaton, dass er wie Ré aus sich selbst entstanden sei. Von Ré-Amon hieß es, er sei der »Gatte seiner Mutter« gewesen. Der »bevorzugte Ausdruck für ein von selbst existierendes oder aus sich selbst entstandenes Wesen [war] ›Gatte seiner Mutter‹15«. Er nahm für sich in Anspruch, Ré-Aton zu sein, und entsprechend dieser Geisteshaltung übernahm er auch den Namen seines Vaters Nebmaré (Nebma’atré), als ob er selbst sein eigener Vater wäre.

15

W. M. Flinders Petrie, »Egyptian Tales« (XVIII-XIX. Dynasties) 1895, S. 125–126. Genauer übersetzt: »Stier seiner Mutter«.

Die Stadt der Sonne Im fünften Jahr seiner Regierung verlegte Echnaton seine Residenz von Theben, dem Sitz des Hohenpriesters des Amon im Tempel zu Karnak, in die neue Hauptstadt Achet-Aton, welcher Name »Horizont des Aton« bedeutete und fast genauso ausgesprochen wurde wie der neu angenommene Name des Königs. Das von ihm für diese Stadt ausgewählte Gelände lag stromabwärts auf dem Ostufer des Nils, auf halbem Wege zwischen Theben und Memphis. Die felsigen Abhänge des Hochlandes der östlichen Wüste, die vom Fluss zurücktreten und eine etwa 13 Kilometer lange und annähernd; Kilometer breite Niederung freigeben, werden hier und da schluchtartig von trockenen Flusstälern (Wadis) durchschnitten, die nur wenige Male im Jahr Wasser führen, wenn Wolkenbrüche über der bis ans Rote Meer sich ausdehnenden Wüste niedergegangen sind. Als Grenzmarkierungen ließ Echnaton im Süden, Norden und Osten Stelen in die Felsen meißeln: »So wahr mein Vater, der Aton, lebt, will ich Achet-Aton für Aton, meinen Vater, an dieser Stelle erbauen. Ich will nicht für ihn machen Achet-Aton südlich von hier, nördlich von hier, westlich von hier oder östlich von hier … Und das Gebiet innerhalb dieser vier Stelen ist das eigentliche Achet-Aton; es gehört Aton, dem Vater; Berge, Wüsten, Dörfer, … Menschen, Tiere und alle Dinge, die Aton, mein Vater, erschaffen wird in aller Ewigkeit. Ich will diesen Eid, den ich Aton, meinem Vater, geschworen habe, nicht vergessen in aller Ewigkeit1.« Weitere, auf dem Westufer des Nils aufgestellte Stelen umschlossen ein ausgedehntes Gebiet fruchtbarer Felder für den Ackerbau und Weiden. Innerhalb weniger Jahre erstand auf 1

Dieses Zitat besteht aus Auszügen von den Texten der Stelen bei Pendlebury, »Tell el-Amarna« (1935), S. V. Vollständige Texte der Stelen finden sich bei Davies, »The Roch Tombs of el-Amarna«, V.

dem Ostufer eine Stadt; die Bauarbeiten wurden in fieberhafter Eile ausgeführt. Weil sich der Kalkstein der nahegelegenen Felsen von nur geringer Qualität, porös und brüchig, erwies, wurde die Stadt in der Hauptsache aus Schlammziegeln erbaut, die wichtigeren Gebäude erhielten jedoch eine Steinverblendung. Eine weiträumige Hauptstadt, die sich über 8 Kilometer erstrecken sollte, wurde vermessen und erbaut. Echnaton errichtete Paläste und Wohnhäuser für seine Günstlinge sowie Grabkammern für sie und sich selbst, denn das Leben nach dem Tode war für die Verehrer des Aton von ebenso großer Bedeutung wie für die des Amon. Große, von Norden nach Süden verlaufende Durchgangsstraßen wurden parallel zum Nil angelegt. Im südlichen Teil der Stadt führte der »Königsweg« an dem Lustschloss des Pharaos, Meru-Aton, vorbei, dessen Pavillons prächtig bemalte Wände und Fußböden aufwiesen; es gab auch einen See, von dem Bilder zeigen, dass Fische darin ausgesetzt waren, dass üppiges Schilf und Lotospflanzen ihn umwuchsen und Wasservögel umherflogen. Der sich sehr weit nach Norden hinziehende »Königsweg« führte zwischen dem Haus des Königs und dem Staatspalast hindurch. Dieser Palast war, Raum für Raum, das größte aus dem Altertum bekannte weltliche Bauwerk, dessen Vorderfront am »Königsweg« eine Breite von 700 Metern aufwies. Zwischen dem Haus des Königs und dem Staatspalast überspannte eine bogenförmige Brücke die Straße, und hier befand sich wahrscheinlich das »Erscheinungsfenster«, an welchem sich der Pharao seinen Untertanen zu zeigen pflegte und von dem aus er seine Günstlinge mit königlichen Geschenken überschüttete. Östlich des »Königswegs« und parallel zu ihm zog sich die »Hohepriesterstraße« mit den Palästen der Edlen hin, und noch weiter östlich verlief die »Oststraße«. Alle diese Hauptverkehrsadern waren durch zahlreiche, rechtwinklig auf sie stoßende Straßen miteinander verbunden. Nördlich vom Staatspalast lag

der Große Tempel der Sonnenscheibe und östlich des Palastes der Kleine Tempel (Hat Aton). Hier, so wurde verfügt, sollte das Zentrum des neuen Kultes sein. Nicht weit davon entfernt, im Regierungsviertel, befanden sich die Halle der ausländischen Tribute, die königlichen Vorratshäuser, die Steuerämter, die königliche Verwaltung, das Ministerium des Äußeren und die Archive, die nach den Stempeln auf den Ziegeln »Amt der Korrespondenz des Königs« hießen. In der Nähe war die Akademie – »Haus des Lebens« genannt –, wo Schreiber für ihre zukünftigen Berufe ausgebildet, und Beamte in der Kunst der Verwaltung unterrichtet wurden. Die Häuser der Priester lagen dicht beim Tempel und die Wohnungen der angestellten Schreiber nahe bei ihren Amtsräumen. Mehr nach Osten zu gab es Läden, Polizeiquartiere, Zeughäuser, ein Paradefeld, gepflasterte Ställe und die Unterkunft für die »Fliegende Abteilung«, eine Streitwagengruppe, die stets zu sofortigem Einsatz bereitstand. Für die Fahrzeuge dieser Abteilung wurden die Straßen allzeit freigehalten. Im Süden befanden sich die Besitzungen und Wohnhäuser des Wesirs, des Hohenpriesters, des Befehlshabers, des Stallmeisters, sowie Bildhauerwerkstätten, und nicht weit davon die Arbeitsstätten für die Glasherstellung. Im nördlichen Stadtteil gab es geräumige Wohnhäuser und den Nordpalast mit herrlichen Wandmalereien vom Leben der Vögel in den Sümpfen, dazu auf dem Gelände des Palastes Fischteiche, Vogelhäuser und Ställe. Noch weiter nach Norden zu erstreckte sich eine große doppelte Mauer mit einem Tor darin$ von dem Raum, der sich auf der Mauer oberhalb des Tores befand, werden wir noch Gelegenheit haben zu sprechen. In den Jahrzehnten nach der ersten Forschungsexpedition im 19. Jahrhundert, die mehr den Charakter eines Ausflugs besaß, machten sich Archäologen aus vielen Ländern mit ihren Spaten an die Arbeit, doch warten noch große Teile der Stadt AchetAton auf die Forschungstätigkeit zukünftiger Ausgräber. Da die Stadt nur etwa 15 Jahre lang bewohnt war, stehen hier die Archäologen nicht vor der ermüdenden und oft schwierigen Auf-

gabe wie an anderen Orten, verschiedene Besiedlungsschichten unterscheiden zu müssen. In Achet-Aton ist man auf große Mengen importierter Keramik gestoßen, die vom griechischen Festland aus Mykenä kam oder zumindest aus der gleichen Manufaktur stammte wie die in Mykenä gefundene. Eine der Straßen in Achet-Aton erhielt wegen der dort zutage gekommenen Überfülle solcher Keramik von den Archäologen den Namen »Griechische Straße«2. Auf Grund dieser Funde gilt als erwiesen, dass die Zeit des Königs Echnaton mit der mykenischen Zeit Griechenlands zusammenfällt, und die mykenische Zeit wurde ihrerseits durch die Zeittafel der ägyptischen Chronologie festgelegt. In dieser seiner neuen Hauptstadt, fern von der erstickenden Atmosphäre Thebens mit seinen geschlossenen Tempeln und der entlassenen Priesterschaft, erfreute sich Echnaton im Kreise seiner Familie des Lebens eines von seinen Untertanen verehrten Herrschers. Er stand in lebhaftem Verkehr mit Diplomaten und Gesandten, besuchte die Gottesdienste im Tempel, unternahm mit Königin Nofretete Reisen in dem goldenen Gefährt, das für den König bestimmt war, und überschüttete seine Günstlinge mit königlichen Geschenken. Einer der aufsehenerregendsten Funde in Achet-Aton war die berühmte bemalte Kopfplastik der Nofretete, die heutzutage sehr wahrscheinlich bekannter ist als irgendeine andere aus älterer oder neuerer Zeit stammende Skulptur eines Kopfes, ein wundervolles, gekröntes Haupt auf einem schlanken Hals. Der Kopf wurde von der deutschen archäologischen Expedition gefunden, und lange nach ihrem Tode kam es dazu, dass Nofretete nicht nur Bewunderung erregte, sondern Anlass zu Streitigkeiten, Beschuldigungen und gespannten internationalen Beziehungen gab. Nach den Bedingungen der Ausgrabungslizenz 2

H. Frankfort und J. D. S. Pendlebury, »The City of Akhenaten«, Teil II. (1953), S. 44.

stand die erste Auswahl unter den gefundenen Objekten der ägyptischen Altertümerverwaltung zu, damit die Sammlungen des Nationalmuseums in Kairo bereichert würden. Nur Kopien, Abgüsse, Scherben und andere Funde von geringerem Wert durften von den Ausgräbern behalten und in ihre Heimatländer mitgenommen werden. Ihr Gewinn sollte im wesentlichen wissenschaftlicher Art sein und sich mit Entdecken, Beschreiben und Veröffentlichen befassen. Von diesem Vorrecht machte die deutsche Expedition keinen Gebrauch, und obgleich seither mehr als 4 Jahrzehnte verstrichen sind, wurde der wissenschaftlichen Welt und auch der weiteren Öffentlichkeit, abgesehen von vorläufigen Berichten, nie eine vollständige Darstellung vorgelegt. »Dank der Tatsache, dass die Deutschen ihre Resultate lediglich in einer vollkommen unzureichenden vorläufigen Form veröffentlichten, kann man die von ihnen gefundenen Gegenstände nur als eine zu Unrecht mitgenommene Beute aus unsystematischen Ausgrabungen betrachten, und die während der Arbeiten gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen als verloren angesehen werden3.« Die Beute war aber auch der Mühe wert. Alle Funde waren auf langen Tischen ausgelegt, und inmitten der vielen Formen für Abgüsse und Bruchstücke von geringerem Wert befand sich auch der Kopf der Nofretete. Weil aber kein wichtiger Fund gemeldet worden war, sichtete der Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung das Material nicht selbst, sondern schickte einen jungen Assistenten, der den Kopf mit dem Rest des Haufens zerbrochener Keramik als ein Stück durchgehen ließ, das aus Ägypten herausgebracht werden dürfe. Nach der Ankunft in Berlin wurde der Fund als hervorragendes Kunstwerk ausgestellt, fotografiert und in vielen Zeitschriften veröffentlicht. Das erregte den Zorn der ägyptischen Regierung; zuerst erbat und dann forderte König Fuad kategorisch die Rückgabe der Skulptur, aber die Deutschen dachten nicht daran, ihm zu willfahren, 3

Pendlebury, »Tell el-Amarna«, S. 168.

und so blieben die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern während vieler Jahre gespannt. Der Kopf der Nofretete, der so viele Wechselfälle des Schicksals überstanden hatte, sollte auch Zeuge der »Götterdämmerung« in Deutschland werden und sie überdauern: am Ende des Zweiten Weltkrieges atmete die Welt der Kunstsachverständigen erleichtert auf, als das Radio verkündete, die Skulptur sei unversehrt geblieben. Die Bildhauerkunst war dem König von Achet-Aton eine Quelle der Freude, nirgendwo sonst sind so viele Bildwerke aus Ton und Stein gefunden worden wie hier. Echnaton, der ein großer Förderer dieser Kunst war, ließ allerdings meist sich und die Mitglieder seiner Familie darstellen. Der Bildschmuck an den Wänden der für die Edlen von Achet-Aton bestimmten Gräber zeigt in der Regel die Gestalten des Pharaos und seiner Familienangehörigen, ferner, allerdings im Vergleich mit der Darstellung des ersteren, in kleinem Format den mit dem Grab Beschenkten, der aus den Händen des Königs Zeichen dessen Wohlwollens in Empfang nimmt. Szenen vom Leben am Hof und auf dem Lande vervollständigen noch die prunkvolle Ausstattung. Der König erscheint auf Reliefs zumeist mit Nofretete in einer Haltung, die große Zuneigung zu seiner Gemahlin verrät. Gewöhnlich sind die Gestalten des hohen Paares nur mit dünnen Obergewändern bekleidet dargestellt, wobei Brüste und der Leib der Königin den Blicken Aller ausgesetzt sind. Hierin liegt unmissverständlich ein gewisser Exhibitionismus und in der überschwänglichen Freude des Königs, sich selbst tausendfach abgebildet zu sehen, lassen sich Narzissmus und Selbstverherrlichung erkennen. (In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass wir von Echnaton und seiner engeren Familie mehr Originaldarstellungen in Form von Statuen, Basreliefs und Malereien besitzen, als von allen Königen und Königinnen von England zusammen, angefangen von Wilhelm dem

Eroberer bis zur jetzigen Königin; viele weitere Bildnisse sind durch böswillige Vernichtung unwiederbringlich verlorengegangen.) Die besonderen Körpermerkmale Echnatons – der auffallend längliche Kopf mit tiefliegenden Augen und dem sehr dünnen und langen Hals, die flache Brust, der herabhängende geschwollene Unterleib, dem die Schenkel an Dicke nicht nachstehen – wurden von den Künstlern keineswegs abgeschwächt. Im Gegenteil, sie wurden sogar noch betont und zu Zeichen königlicher Würde umgedeutet. Die Diener des Königs weisen auf den Reliefs keine derart geformten Schädel, Hälse, Unterkörper oder Schenkel auf. Oft werden, zusammen mit dem König und der Königin, auch ihre Töchter dargestellt. Auf manchen der Basreliefs in den Gräbern von Achet-Aton sieht man zwei Töchter Echnatons, auf anderen vier, und in einigen Fällen sechs. Die jungen Prinzessinnen haben schon im Kindesalter die gleichen ungewöhnlich länglichen Köpfe auf dünnen Hälsen, und dadurch, dass die Köpfe aus irgendeinem Grunde kahlgeschoren sind, kommt deren eigenartige Form noch deutlicher zum Ausdruck. In Szenen aus dem Privatleben oder bei offiziellen Empfängen bilden König und Königin mit ihren Töchtern eine Gruppe, die den Betrachter durch die Intimität ihres Familienlebens beeindruckt. So lässt der König seinen Arm auf den Schultern seiner Gattin ruhen und berührt mit den Fingerspitzen ihre Brustwarzen: eine öffentliche Zurschaustellung gegenseitiger Zuneigung, die im Leben der Pharaonen, soweit wir es aus der ägyptischen Kunst kennen, etwas ganz Ungewöhnliches ist. Mit alleiniger Ausnahme Echnatons hinterließen uns die Pharaonen keine Porträtstatuen, auf denen sie unbekleidet dargestellt sind. Der König liebte seine schöne Gemahlin und hing an seinen kleinen Töchtern, er war ein Freund der Bildhauerei und Malerei und mit dichterischem Talent begabt, er hatte ein ausgeprägtes Gefühl für eine enge Beziehung zu seiner Gottheit, er liebte die Natur und ebenso auch die Musik, wenn man nach den Bildern der auf ihren Instrumenten spielenden Musikanten urteilt.

Die Spatenarbeit der Archäologen legte eine Stadt frei, die für den Lebensgenuss erbaut worden war. Im Jahre 1887 wurde zufällig das Staatsarchiv entdeckt, als eine Fellachin bei ihrer Hütte die Erde umgrub und Tontafeln fand, die mit zahlreichen Zeichen bedeckt waren. Es handelte sich um Briefe in Keilschrift in akkadischer Sprache, die aus Assyro-Babylonien stammt und damals die internationale Diplomatensprache war. Einige dieser Briefe habe ich weiter oben schon zitiert4. Als einige der mehr als dreihundertsechzig Tafeln zum ersten Mal zum Verkauf angeboten wurden, erklärten die Fachleute sowohl im Museum in Kairo als auch im Louvre sie als wertlose Fälschungen; heute gelten sie als unschätzbare Kostbarkeiten.

4

Die Briefe wurden in einer klassischen Ausgabe mit deutscher Übersetzung durch den skandinavischen Gelehrten J. A. Knudtzon (1915) herausgegeben; von S. A. B. Mercer stammt eine englische Übersetzung »The Tell el-Amarna Tablets« (1939). Sie sind Gegenstand einer eingehenden Diskussion in »Zeitalter im Chaos«, S. 243-365.

Der Bruder der Königin Echnaton führte keine Kriege und kümmerte sich kaum um die Einfälle verschiedener kriegführender Gruppen in seine asiatischen Besitzungen. Briefe aus Syrien und Palästina machten ihn mehrfach auf die Gefahr aufmerksam, dass seine dortigen Provinzen den Angreifern, einem kriegerischen König im Norden und plündernden Banden aus dem Osten, als Beute zufallen könnten. Echnaton war jedoch von seinen Vergnügungen, dem Bau seiner Hauptstadt, der Niederschrift seiner Dichtungen und seinem Familienleben vollständig in Anspruch genommen. Nach kaum anderthalb Jahrzehnten wurde Achet-Aton aufgegeben und die verlassene Stadt vom Sand der Wüste zugedeckt. Erst 1891-92 legte die Petrie-Expedition unter den Hütten eines zigeunerhaft umherziehenden Beduinenstammes, der den Namen Amarna trug, nach und nach die Stadt Achet-Aton frei. Von den Palästen und Häusern ragte keine Spur aus dem Wüstensand. Doch nacheinander kamen Kultstätten, Paläste, Arbeitsräume der Bildhauer und Vergnügungsstätten ans Tageslicht. Die Grabkammern waren dem menschlichen Auge dagegen nie verborgen gewesen; diese einsamen Felsengrüfte waren schon bekannt, noch ehe man von dem nur so kurze Zeit Hauptstadt gewesenen Ort selbst etwas wusste. Sie wurden gebaut, bevor die eigentliche Stadt fertiggestellt war, denn für den Ägypter war es wichtiger, eine Behausung für die Ewigkeit zu besitzen, als eine Heimstatt auf Erden, weil das Leben nach dem Tode im Mittelpunkt seiner gesamten Lebensphilosophie stand. Die Grabkammern der Edlen waren in die Vorderseite der umliegenden Felsen hineingehauen. Es gab zwei Gruppen, eine nach Süden und die andere nach Norden gelegen. Diese Gräber waren im Allgemeinen denen der XVIII. Dynastie in Theben nachgebildet. Aus einem Vorhof führt ein Tor in eine große Halle, deren Decke oft von Säulen aus dem ursprünglichen Gestein

getragen wird, das beim Aushauen stehengelassen wurde. Neben der Halle liegt eine Kammer mit einem Standbild des Grabeigentümers, in welche man entweder direkt aus der Halle oder durch einen Vorraum gelangt, während sich der Schacht für das Grab zumeist, aber nicht immer, in der vorderen Halle befindet. Die Wände der Grabstätte sind mit Bildern ausgeschmückt, auf denen die Bewegungen der Körper mit einem für die Epoche des Neuen Reichs ungewöhnlichen Realismus festgehalten sind, und gerade diese Darstellungen machen die Gräber für Ägyptologen und alle an Geschichte und Kunst Interessierten so anziehend. Die südliche Gräbergruppe besteht aus den Grabstätten folgender Würdenträger: Tutu, »Oberster Sprecher für die fremden Länder1«; Mahu, Chef der Polizei; Api, königlicher Schreiber und Verwalter; Nefer-cheperu-Ré, Gouverneur von AchetAton; Mai, königlicher Kanzler und Fächerträger zur Rechten des Königs; Sutaw, Aufseher der Schatzhäuser; Suti, Standartenträger; Ani, Schreiber des Altars des Aton (nach seinem Bild ein sehr alter Mann); Paatenemheb, Befehlshaber der Truppen und noch einige andere ebenso bedeutende Amtsträger. Sie alle waren hervorragende Mitglieder der neuen Aristokratie mit wichtigen Funktionen bei Hofe, in der Verwaltung, in der Armee oder im Tempel. Unter diesen den Edlen geschenkten Gräbern gab es eines für einen Mann namens Parennefer. Er war von niedriger Herkunft und hatte wahrscheinlich keine oder nur eine geringe Bildung genossen; sein Grab lag in den Felsen nahe bei dem des Hohenpriesters des Aton. Die Wandbilder zeigen, dass Parennefer noch andere Beweise königlichen Wohlwollens erhielt; so sieht man, wie seine Frau ihrem beglückten Gatten begegnet, nachdem ihm königliche Geschenke und Ehren zuteil geworden waren. 1

Über seine Rolle in der Politik in Syrien und Palästina siebe »Zeitalter im Chaos«, S. 540 u. a.

H. Ranke, der hervorragende deutsche Ägyptologe, war erstaunt über diese Auszeichnung des Parennefer. »Ein anderer, dem gleiche Gunst widerfährt, scheint diese Auszeichnung seiner alten Beziehungen zu Echnaton zu verdanken, dem er schon diente, als er noch ein Kind war. Er war anscheinend ein einfacher Diener aus der persönlichen Umgebung des Königs, dieser Truchsess mit reinen Händen, und es war wohl ein besonderer Gnadenbeweis, dass auch für ihn ein reliefgeschmücktes Felsengrab angelegt wurde wie für die Vornehmsten in El Amarna2.« Dies ist die einzige uns überlieferte Nachricht aus Echnatons frühester Jugend. Auch sie hätte keine große Bedeutung, es sei denn wegen der Tatsache, dass Echnaton, von dem wir vor seiner Thronbesteigung noch nicht einmal durch indirekte Folgerungen etwas wissen, gegenüber einem Diener große Dankbarkeit empfand, weil er ihm vor langer Zeit, noch in früher Kindheit des Königs einen Dienst erwies. Unsere Gedanken kehren zurück zu dem Mann, der bei der Lebensrettung des Kindes Ödipus eine entscheidende Rolle spielte. Die Ödipussage berichtet von einem Diener, welcher den neugeborenen Prinzen in die Einöde bringen sollte mit dem Auftrag, ihn dort auszusetzen. Er übergab das Kind jedoch einem Hirten und dessen Weib, die für den Kleinen sorgten und ihn später nach Korinth brachten. War es nicht gerade der »einfache Diener« mit »reinen Händen«, der vom König hoch geehrt wurde für einen Dienst, den er ihm in seiner Kindheit erwies und an den die Erinnerung durch die Sage bewahrt wurde? Das am weitesten nach Süden zu gelegene Felsengrab war für Eje bestimmt. Wenn es auch unvollendet blieb, so ist doch auf den ersten Blick zu erkennen, dass es »das schönste

2

A. Erman – H. Ranke, Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum« (1923), S. 133.

in der ganzen Nekropole3« hätte werden sollen. Drei Reihen von je vier Säulen sollten auf beiden Seiten des mittleren Teils der ersten Halle stehen; aber nur auf der westlichen Seite hatte die Arbeit gerade begonnen. Die Wände waren für die Aufnahme von Wandbildern vorbereitet, aber nur auf einer Wand befand sich ein Relief, das Eje und seine Gattin Ti darstellt, wie sie von Echnaton und Nofretete Geschenke erhalten. »Es ist für ihre sehr vertrauliche Beziehung zu der königlichen Familie kennzeichnend, dass nicht nur Ti dabei ist – der einzige Fall, dass eine Frau so geehrt wird –, sondern auch, dass der König und die Königin ebenso wie die Prinzessinnen völlig unbekleidet zu sein scheinen.« Auf den nächsten Bildern werden bewundernden Zuschauern die Geschenke an Eje gezeigt. Pendlebury beschreibt die Bilder wie folgt: »Die Türhüter vor Ejes Haus hören den Lärm und kleine Buben werden fortgeschickt, um zu erfahren, was vor sich geht. ›Wem gilt dieses fröhliche Geschrei, mein Junge?‹ ›Es gilt Eje, dem Göttlichen Vater, und Ti. Man hat sie durch viel Gold zu reichen Leuten gemacht!‹ Ein Wachtposten sagt zu einem kleinen Buben: ›Eile hin und schaue nach dem Freudenlärm, ich will wissen, wer es ist, und komme ganz schnell zurück!‹ Das Kind läuft hinaus und ruft ›ich tue es, schau her! ‹ Ein anderer Posten hat die Neuigkeit erfahren und erzählt seinem Freund: › … Steh auf und du wirst sehen es ist eine gute Sache, die der Pharao (Leben! Reichtum! Wohlergehen!) für Eje, den Göttlichen Vater, und Ti getan hat. Der Pharao (Leben! Reichtum! Wohlergehen!) hat ihnen Millionen Ladungen von Gold und Reichtümern aller Art geschenkt4! ‹« Zur Audienz beim Königspaar zog Eje in einer triumphalen Prozession mit einem Gefolge von Dienern, einer militärischen Eskorte von ausländischen Truppen und zehn Schreibern, die alle Ereignisse des Tages auf zeichnen mussten. 3 4

Pendlebury, »Tell el-Amarna«, S. 54. Ebenda, S. 55-56.

Es steht außer Frage, dass Eje zurzeit Echnatons der einflussreichste Staatsmann war. Unter Tutanchamûn war seine Macht sogar noch größer und nach dessen frühem Tod wurde er selbst Pharao von Ägypten, obgleich er nicht aus fürstlichem Geblüt stammte. Die Titel, welche Eje führte, solange er Echnaton in AchetAton (El-Amarna) diente, waren: Vater des Gottes oder Göttlicher Vater, Herr des Pferdes (oder General der Streitwagentruppe), »Einer, dem der gute Gott [der Pharao] im ganzen Land vertraute«, »der Erste der Begleiter des Königs« und noch einige mehr. Seine Gattin Ti wurde »die große Amme der Königin« genannt, was bedeutete, dass sie die Königin aufgezogen hatte. Über den Grund von Ejes erstaunlichem Aufstieg wurden viele Vermutungen angestellt, ebenso über die Bedeutung des Titels »Vater des Gottes [Königs] « und über den Sinn des Titels seiner Gattin. Wurde Eje wegen der Stellung seiner Frau im Palast besonders gefördert? Diese Stellung war jedoch nicht bedeutend genug, um ihren Gatten aus diesem Grunde erst zum Wesir, dann zum Regenten und schließlich zum König werden zu lassen. Den Titel »Vater des Königs« führte, noch vor Eje, Juja, der Vater der Königin Teje und Schwiegervater Amenophis’ III. Wenn wir auf dem richtigen Wege sind, die Wurzeln der Ödipussage in den letzten Jahren der XVIII. Dynastie zu suchen, dann war Eje eindeutig das Urbild des Kreon, der in der Zeit nach dem Tode des Laios und der Ankunft des Ödipus in Theben großen Einfluss hatte. Kreon war es, der seine Schwester, die Königin, Ödipus zur Frau gab; er war es auch, der nach dem Herrscher die höchste Stellung im Königreich innehatte, der Ödipus zwang, den Thron aufzugeben, der dann zurzeit des jugendlichen Eteokles das Land regierte und nach dem vorzeitigen Tode des Königs selbst König wurde. Das alles aber würde auch bedeuten, dass Eje ein Bruder der Königin Teje war. Ich konnte jedoch diese Lösung nicht vorschlagen und mich ihrer dann nur als Argument bedienen, um die unumgänglich notwendige Parallele zu konstruieren. Es war

daher für mich sehr erfreulich, dass im Jahre 1957 Cyril Aldred zu genau der gleichen Lösung gelangte und im Journal of Egyptian Archaeology eine Abhandlung über Ejes Verwandtschaft mit dem Königshaus veröffentlichte5. Hierin bewies er mit vorzüglich ausgewähltem Material, dass Eje ein Sohn von Juja und Tuja und demnach auch ein Bruder der Königin Teje war. Eje führte auch die gleichen Titel, Dienst- und Amtsbezeichnungen wie Juja – nur war er nicht Priester am Tempel der Stadt Echmim, und das Fehlen dieser Funktion wird »verständlich, weil Eje Echnaton und seinem Gott diente«. Als Eje später König wurde, zeigte er sein besonderes Interesse an Echmim dadurch, dass er dort für den Gott Min ein Felsenheiligtum erbaute, »wahrscheinlich, weil es sein Geburtsort oder der Familiensitz war und er den Gott seiner Stadt ehren wollte«. Zurzeit Amenophis’ III. wurde für Eje, wie für Juja – und die Ähnlichkeit der in ihrer Familie gebräuchlichen Kosenamen ist ebenfalls bemerkenswert – ein Grab im Tal der Könige bei Theben vorbereitet, das gleiche Grab, in welchem, wie Engelbach herausfand, später Tutanchamûn bestattet wurde; es liegt knapp 140 Meter vom Grab des Juja entfernt. Es gibt allerdings keine Inschrift, in welcher Eje sagt, er sei der Sohn Jujas; übrigens gibt er auch nicht an, er sei der Sohn eines anderen, und deshalb schrieb Cyril Aldred: »Es ist bedauerlich, dass bei dem augenblicklichen Stand unseres Wissens die Theorie, Eje sei ein Sohn und wahrscheinlich der zweite Sohn des Juja, sich nur auf indirektes Beweismaterial stützen kann. Wird aber das Vorhandensein einer Verwandtschaft zugleich mit ihrer selbstverständlichen Folgerung angenommen, dass Eje ein Bruder der Königin Teje gewesen sei, dann wird vieles erklärlich, was sonst in der Geschichte der letzten Jahre der XVIII. Dynastie dunkel bleibt …6 « 5

6

C. Aldred, »The End of the el-Amarna Period«, Journal of Egyptian Archaeology, XLIII (1957), 50-41. Ebenda, S. 35.

Aldred hat das Problem richtig gelöst und es ist mm Bescheidenheit von ihm, seine Darlegungen als Indizienbeweis zu bezeichnen. Das ganze Geschehen, wie wir es aus dem griechischen Sagenzyklus in Theben kennen, weist darauf hin, dass Eje wirklich der Bruder der Königin war. Aldred hat noch ein weiteres Problem gelöst, nämlich, dass Eje der Vater der Königin Nofretete war, wie auch frühere Autoren, beispielsweise Weigall7 und Borchardt, vermutet hatten. Eje führte den gleichen Titel »des Gottes Vater« oder »Göttlicher Vater« wie vor ihm Juja, ein Titel, der, wie Aldred überzeugend herausfand, »Schwiegervater des Königs« bedeutete.

7

Weigall, »The Life and Times of Akhnaton«, S. 48.

Des Königs Mutter und Gattin Das am weitesten nach Norden zu gelegene Grab der nördlichen Gruppe von Grabstätten, die die Günstlinge des Königs schon zu Lebzeiten als Geschenk erhielten, wurde für Huja aus dem Fels herausgehauen. Nach den Darstellungen und Inschriften an den Wänden jenes Ortes, wo er seine letzte Ruhe finden sollte, muss er ein wichtiger Beamter gewesen sein1. Diese Bilder beweisen auch, dass in Echnatons Leben nicht alles glatt und ungestört verlief. Im zwölften Jahr seiner Regierung wurde ein Drama ausgelöst, das sich schon lange vorbereitet hatte. Es stellte sich heraus, dass das scheinbar so idyllische Familienleben des Königs in Wirklichkeit eine Tragödie war. Die Bilder und Inschriften in Hujas Grab sind es, die uns dies klar machen. Die Reliefs dieses Grabes unterscheiden sich von denen anderer Grabstätten in Achet-Aton darin, dass auf ihnen außer König Echnaton, seiner Gattin und den Kindern auch die Königinmutter Teje wiederholt dargestellt ist, die sogar eine beherrschende Rolle zu spielen scheint. Keines der anderen in Achet-Aton geöffneten Gräber enthüllt so viel über das Leben der königlichen Familie wie das des Huja. Er war »der Verwalter des Hauses, des Doppelten Schatzhauses und des Harems der Großen Königlichen Gattin, Teje«. Diese seine drei Funktionen werden in den Texten auf den Mauern seiner Grabkammer viele Male wiederholt. Noch häufiger heißt es bei der Aufzählung von Hujas Ämtern: »… und des Harems der Mutter des Königs und Großen Königlichen Gattin, Teje«; er stand also in Tejes Diensten. Die Benennung »des Königs Mutter und Große Königliche Gattin«, wie sie auf die Königinwitwe angewandt wurde, legte man gewöhnlich folgendermaßen aus: sie bedeute Königinmutter des regierenden Herrschers und königliche Gattin des ver1

Davies, »The Rock Tombs of el-Amarna«, III (1905).

storbenen Pharao. Diese Auslegung genügt aber nicht zur vollständigen Aufklärung der Sonderlichkeit von Tejes Titel. Hujas Grab wurde im zwölften Regierungsjahr Echnatons gebaut; die Texte zu einigen der Reliefs beginnen mit »Jahr 12« (beispielsweise: »Jahr 12, der zweite Monat des Winters, der achte Tag«). Echnatons Vater, Amenophis III., war schon fast zwölf Jahre tot, und während ebenso vieler Jahre unterhielt seine Witwe noch einen Harem für den Verstorbenen, was kaum zu begreifen ist. Huja war seinen Bildern und Inschriften nach unter Echnaton in seine Ämter eingesetzt worden; weshalb sollte der König ihn für das Amt des »Oberaufsehers des Harems« von Teje, der Mutter des Königs und Witwe des verstorbenen Königs, bestimmt haben? Dieser Harem Tejes befand sich in Achet-Aton, einer Stadt, die erst vier Jahre nach Amenophis’ III. Tod gegründet wurde. Nach orientalischem Brauch unterhielt die Hauptfrau des Königs, seine Königin, für ihren Gatten einen Harem. Das vollständige Fehlen der Eifersucht auf Seiten der Königin, die den König mit Konkubinen versorgte, war im Orient etwas vollkommen Natürliches. Diesem Brauch begegneten wir auch im Hause des jungen Patriarchen Jakob, dessen Frauen Lea und Rachel miteinander rivalisierten und die ihren Gatten zu ihren Dienerinnen zu schicken pflegten, weil in der Zahl der Nachkommen, welche eine Frau samt ihrer Dienerin hervorzubringen vermochten, die gegenseitige Rivalität zum Ausdruck kam. So wetteiferten sie miteinander und jede versuchte die Fruchtbarkeit der anderen Frau und ihrer Dienerin zu übertreffen. Im königlichen Harem in Ägypten zeigte man sich unempfindlich gegenüber dem, was eine moderne westliche Frau als ihre geheiligten Rechte betrachten würde, wenn auch nicht zu dem Zweck, mehr Kinder zu bekommen. Das Verwirrende daran ist also nicht, dass Teje für ihren Gatten einen Harem unterhielt, sondern dass sie diesen noch zwölf Jahre nach Eintritt ihrer Witwenschaft weiterführte, dass dieser Harem in der neuen

Hauptstadt erbaut wurde, bei deren Gründung ihr Gatte schon mehrere Jahre tot war, und ferner, dass König Echnaton, der Sohn Tejes, der ihren Harem bauen ließ, für diese neue Einrichtung einen Oberaufseher ernannte. In den Inschriften im Grabe Hujas wird die Schönheit der Königinwitwe mit folgenden Worten gepriesen: »Lob deinem Ka [Seele], o Herrin der beiden Länder, welche die beiden Länder erleuchtet mit ihrer Schönheit, die Königinmutter und Große Königin Teje.« Sie wird gesegnet »mit Freude und Wonne jeden Tag«. Zwei andere Reliefs am gleichen Ort stellen ein Festmahl der königlichen Familie dar: Auf beiden sitzt Echnaton Teje gegenüber, und hinter ihm sitzt Nofretete. Es könnte ein Gastmahl, aber ebenso gut die Darstellung einer Besprechung oder einer Verhandlung bei Speise und Trank gewesen sein. Auf einem der Reliefs »packt Echnaton mit seinen Händen einen gebratenen Fleischknochen, so lang wie sein Arm, und Nofretete greift ebenso nach einem ziemlich großen Vogel«. Der König und Nofretete tragen einfache Kopfbedeckungen, während Teje mit der Doppelfederkrone und der gehörnten Scheibe geschmückt ist. Teje hat Speisen vor sich stehen, isst jedoch nicht. Neben Nofretete sitzen zwei kleine Prinzessinnen; und eine andere sitzt neben Teje. Diese letztere, Beketaton, wurde lange Zeit für die jüngste Tochter Echnatons und Nofretetes gehalten. Die älteste Tochter des königlichen Paares, Meritaton, die später als Semenchkarés Gattin Königin wurde, ist auf dem Bankettrelief ein Kind von sechs oder sieben Jahren. Die zweite Tochter, Meketaton, starb jung; bei ihrem Tode waren die königlichen Eltern voll Trauer und der Künstler stellte sie auf den Wänden von Meketatons Grab dar, wie sie den Verlust ihres Kindes beklagen. Die dritte Tochter, Anchsenpa’aton, bestieg später mit Tutanchamûn den Thron. Eine vierte, manchmal auch eine fünfte und sechste Tochter sind auf den Reliefs verschiedener Grabkammern von Achet-Aton und auf einem Relief der Familie abgebildet, das in den Ruinen des dortigen Palastes gefunden wurde. Bilder der kleinen Beketaton findet man nur

bei den Gastmahlszenen und gewissen anderen in Hujas Grab. Aus diesen Darstellungen wurde der Schluss gezogen, die jüngste Tochter sei Echnatons Lieblingskind gewesen. Der Ägyptologe Flinders Petrie schrieb: »Prinzessin Beketaton pflegt als siebte und jüngste Tochter Echnatons gezählt zu werden. Sie begegnet uns jedoch in einem Grab aus seinem zwölften Regierungsjahr, nur sechs Jahre, nachdem die zweite Tochter geboren wurde; man findet sie aber auch auf jenen Bildern, wo vier oder sechs Töchter gezeigt werden, und daraus ergibt sich die Schwierigkeit, wie sie einzureihen ist …« Petrie löste das Problem, indem er bewies, dass Beketaton nicht die jüngste Tochter Nofretetes, sondern eine Tochter Tejes war. Sie wird »immer zusammen mit Teje dar gestellt, ihr Platz ist stets an der Seite Tejes, während die Töchter Echnatons hei ihrer Mutter Nofretete sitzen. Sie allein geht mit Teje in einem Festzug, in dem keine anderen Kinder auftreten. Überdies wird sie nie anders genannt als ›eine Königstochter‹, während die übrigen Prinzessinnen auf allen Inschriften als ›Töchter der Nofretete‹ bezeichnet werden. Es scheint also klar zu sein, dass sie das jüngste und zugleich liebste Kind Tejes war, was aus der Schwierigkeit, sie richtig in die Familie einzureihen, aus ihrem ständigen Zusammensein mit Teje, und ihrer gegenüber den anderen Prinzessinnen abweichenden Titulatur geschlossen werden muss2.« Man glaubte, Beketaton sei eine jüngere Tochter Echnatons und Nofretetes, weil ihr Bildnis und ihr Name auf Basreliefs und Inschriften zum ersten Mal im zwölften Regierungsjahr Echnatons erscheinen. Auf einer der Gastmahlszenen aus diesem Jahr ist sie kleiner als Anchsenpa’aton, die dritte Tochter des Königspaares; auch in der Darstellung auf dem Türsturz, von der wir gleich sprechen werden, ist sie kleiner als die vier anderen jungen Prinzessinnen. Der auf den Gott bezogene Teil ihres Namens (Aton) findet sich ebenso in den Namen von Echnatons Töchtern, wie in seinem eigenen. 2

W. M. Flinders Petrie, »A History of Egypt« (7. Auflage 1924), II, 204.

In seiner Beschreibung der Nekropole von Achet-Aton stimmt N. de Garis Davies mit Petrie überein, und alle übrigen Gelehrten sind ihnen hierin gefolgt: Beketaton war nicht eine Tochter Nofretetes, sie war vielmehr eine Tochter Tejes, und deshalb folgerte man, ihr Vater wäre der verstorbene Amenophis III. und nicht sein Sohn Echnaton gewesen. Auf dem zweiten Wandbild eines Gastmahls erblickt man Teje wiederum bei Echnaton und Nofretete; alle haben Becher in der Hand, aus denen sie Wein oder ein anderes Getränk zu sich nehmen. Beketaton steht neben dem Stuhl ihrer Mutter Teje; zwei kleine Prinzessinnen, Meketaton und Anchsenpa’aton, stehen neben ihrer Mutter Nofretete. Wieder hat Königin Teje die Doppelfederkrone des Reiches auf dem Kopf, während Echnaton und Nofretete wie auf den anderen Bildern nur das Königsemblem der Uräusschlange auf ihrer Stirn tragen. Der Gegenstand der Unterhaltung zwischen Echnaton, Nofretete und Teje ist nicht aufgezeichnet. Im Lichte der späteren Entwicklung entsteht der Eindruck, dass eine ernste Familienangelegenheit besprochen wird. Die kleine Prinzessin Beketaton ist zum dritten Mal zu sehen oder genauer gesagt, es ist zu sehen, wie Auta, »der Aufseher der Bildhauer« (wörtlich der »Leben Gebende«) der Großen Königlichen Gemahlin, Teje, die Statue des Kindes anfertigt. Auta sitzt auf einem niedrigen Hocker vor der Statue Beketatons und bringt voller Ergebenheit, ja mit liebevoller Hingabe letzte Farbtupfen auf seinem Kunstwerk an. Nach den Proportionen ihres Körpers zu schließen, scheint Beketaton ein kleines Kind zu sein. Im zwölften Regierungsjahr Echnatons war Beketaton ein Kind von vier, fünf oder höchstens sechs Jahren. Da Amenophis III. schon etwa zwölf Jahre tot war, ist es kein Wunder, dass das kleine Mädchen für eine Tochter Echnatons und Nofretetes gehalten wurde. Nach der Feststellung, dass sie nicht Nofretetes, sondern Tejes Tochter war, zog man jedoch den Schluss, sie sei ein Kind von Amenophis III., Tejes Gatten, gewesen.

Für diese Annahme glaubte N. de G. Davies eine Stütze gefunden zu haben. Auf dem Türsturz des Eingangs zu den inneren Räumen von Hujas Grab befindet sich ein Basrelief mit zwei Darstellungen, eine zur Rechten und eine zur Linken. Davies schrieb: »Wie meine Vorgänger war ich sehr geneigt, ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.« Das Bild zur linken Hand zeigt Echnaton mit Nofretete zusammen sitzend. Er hat seinen rechten Arm auf ihre Schulter gelegt; ihr linker Arm ruht auf seinem Knie und sie wendet ihm ihr Gesicht zu. Vier vor ihnen stehende Töchter fächeln ihren Eltern Luft zu. Auf dem rechten Bild blickt der König zu der ihm gegenübersitzenden Teje. Vor ihr steht Beketaton, den einen Arm auf dem Knie der Königin und den anderen in Richtung zum König erhoben. Zum harmonischen Ausgleich mit dem Bild auf der linken Seite, auf welchem vier kleine Prinzessinnen dargestellt sind, wurden hier drei Begleiterinnen hinzugefügt. Die königlichen Gestalten sind unbekleidet. Teje wird folgendermaßen beschrieben: »Die Erb-Fürstin, groß in ihrer Gunst, Herrin der Gnade, bezaubernd durch ihre göttliche Güte, den Palast mit ihrer Schönheit erfüllend, die Herrscherin des Südens und Nordens, die Große Gattin des Königs, der sie liebt, die Herrin der beiden Länder, Teje.« Neben Beketaton stehen die Worte: »Des Königs leibliche Tochter, von ihm geliebt, Beketaton.« Auf Grund dieser Texte auf den Reliefs äußerte Davies in seiner Veröffentlichung über das Grab die Meinung, die rechte Hälfte des Türsturzreliefs stelle nicht Echnaton, sondern seinen Vater Amenophis III. dar3. Mit anderen Worten, auf der linken 3

Eine Inschrift auf dem rechten Pfosten unter dem Türsturz zählt die Namen des Königs des Südens und Nordens auf, der in der Wahrheit lebt, Herr der beiden Länder, Nefer-cheperu-Ré Wa-en-Ré, der Leben Gebende, Herr der beiden Länder, Nebma’at-Ré, und der Großen Königs-Gattin und Königsmutter, Teje, die lebt für immer und ewig. Nefer-cheperu-Ré Wa-en-Ré sind Namen Echnatons, welche man aus verschiedenen Quellen kennt. Auch in den El-Amarna-Briefen wird Echnaton in der Regel Naphuria genannt, dies ist eine familiäre Ab-

Seite des Türsturzes seien Echnaton, seine Gattin und Kinder und auf der rechten sein Vater Amenophis III., seine Mutter Teje und seine kleine Schwester Beketaton wiedergegeben. Davies gab zu, dass in seiner Auslegung »eine gewisse Schwierigkeit bestehe, die gegebene Situation mit anderen Berichten in Übereinstimmung zu bringen«. Amenophis III. war seit mehr als zehn Jahren tot, aber auf diesen Wandbildern war die gleiche Tochter, von der Davies – in der Absicht chronologische Schwierigkeiten zu vermeiden – gesagt hatte, sie sei ihm, dem König, nach seinem Tode geboren worden, ebenso klein und jung wie auf Reliefs desselben Grabes, das jedoch aus dem zwölften Regierungsjahr Echnatons stammt. Dies war aber nur eine der Schwierigkeiten. Davies versuchte, sie durch folgende Erklärung aus dem Wege zu räumen: Die beiden Familienszenen auf dem Türsturz zeigten »in welch großer gegenseitiger Sympathie der König, der noch dem alten Glauben, und sein Sohn, kürzung von Nefer-cheperu-Ré. Davies meinte, dass Nebma’at-Ré eine andere Person bedeute, nämlich den König Amenophis III., er gab jedoch zu: »Es muss bemerkt werden, dass der König [Echnaton] immer empfindlicher wurde bei jeder Erwähnung abgesetzter Gottheiten; so durften nicht einmal die Bildzeichen für die Göttinnen Maat und Mut verwendet werden, und auch der Beiname Amenophis’ wurde in ungebräuchlicher Form gegeben, während sein eigentlicher Name überhaupt nicht genannt werden durfte.« Bei der Verstümmelung des Namens seines Vaters auf Inschriften pflegte Echnaton den Namen Amenophis durch dessen Beinamen Nebma’at-Ré zu ersetzen, dann lautete der volle Name: Nebma’atRé-Nebma’at-Ré. In beiden Fällen wurde das Wort »Maat« (Wahrheit) nicht geschrieben, sondern durch das Bild der Göttin wiedergegeben. In dem uns vorliegenden Fall ist es ausgeschrieben. In den Inschriften neben dem Bild auf der rechten Seite des Türsturzes steht »Der in der Wahrheit lebt« (anch-em-Maat) unmittelbar vor dem Beinamen Nebma’at-Ré; diese Bezeichnung wandte Echnaton nur auf sich selbst an. Auch auf dem Schrein Tejes, den wir später in diesem Buch beschreiben, steht der Ausdruck »Der in der Wahrheit lebt« vor dem Namen Nebma’at-Ré.

der dem neuen anhing, miteinander lebten«, eine Sympathie, die »auf der Einigkeit über die wesentlichen Grundlagen des Denkens und der Politik beruhen muss«. Diese Unterstellung ist sehr weit hergeholt. Von dem König, der sich nie »Sohn des Amenophis« oder »Sohn des Nebma’at-Ré« nannte, der überdies den Namen seines Vaters Amenophis überall, wo er ihn fand, löschen ließ, konnte man kaum sagen, er habe in »Sympathie« oder in »Übereinstimmung des Denkens« mit ihm gelebt. Können also die beiden Szenen auf dem Türsturz als Widerhall einer früheren gemeinschaftlichen Regentschaft gelten? Auch dies kann nicht der Fall sein, weil es niemals eine Mitregentschaft zwischen Vater und Sohn gegeben hat. Der letztere bestieg den Thron in vollkommener Unkenntnis der Staatsangelegenheiten aus früheren Jahren und wurde in einem Brief von einem fremden König aufgefordert, seine Mutter wegen der Beziehungen zwischen ihren Staaten zurzeit seines Vaters zu befragen; allein schon die Tatsache, dass der Sohn den Namen Amenophis’ III. auf allen Monumenten und Inschriften vor seinem Aufbruch nach El-Amarna zerstörte, lässt die Hypothese einer gemeinschaftlichen Regentschaft unhaltbar erscheinen. Es blieb nur eine Lösungsmöglichkeit metaphysischen Charakters4: »Amenophis war tot; solange aber noch seine ungewöhnlich tatkräftige Königin lebte, konnte man kaum sagen, seine Regierung sei beendet, sodass man eigentlich nur in rein technischem Sinne eine Mitregentschaft [zwischen Vater und Sohn] in dieser Zeit leugnen könnte.« Mitregentschaft nach dem Tode eines Königs zwischen dem Lebenden und dem Toten? Der Hauptgrund, weshalb man versuchte, den König auf dem rechtsseitigen Bild am Türsturz als Amenophis III. zu identifizieren, ist die Anwesenheit von Beketaton. Sie war eine Tochter Tejes, und es wird von ihr gesagt, sie sei »des Königs leibliche Tochter«. Ihre Anwesenheit auf diesem Bild ist aber gerade das Argument, das geeignet ist, die Identifikation des 4

Davies, »The Rock Tombs of el-Amarna«, III, 16.

Königs als Amenophis III. zweifelhaft zu machen. Sie wird hier dargestellt, wie sie in Echnatons zwölftem Regierungsjahr aussah, ein zartes, zu jener Zeit noch nicht sieben Jahre altes Mädchen, das kleiner war als die vier Töchter Nofretetes. Selbst wenn Echnaton im symbolischen Sinn gemeinsam mit seinem Vater nach dessen Tod regiert haben könnte, was sehr fragwürdig ist, so könnte von seinem Vater niemals fünf Jahre nach seinem Tod ein Kind gezeugt worden sein; und dies ist keineswegs fragwürdig. Der König auf dem eben genannten Bild ist nicht dargestellt als ein Toter, der von den Lebenden verehrt wird: Ein Strahl von Aton hält ihm ein Lebenszeichen vor den Mund und ein anderer von der Sonnenscheibe ausgehender Strahl hält ein gleiches Zeichen vor den Mund Tejes. Auch Pendlebury bemerkte dies, zog aber daraus keine Folgerung: »Es besteht zwischen den beiden Gruppen kein Unterschied, das bedeutet, es trifft nicht zu, dass die Lebenden auf der einen und die Toten auf der anderen Seite sitzen5.« Allein die Tatsache, dass der König unter der Scheibe des Aton abgebildet wurde, ist ein deutlicher Hinweis auf Echnaton. Darüber hinaus ist der Körperbau des Königs, nackt und mit herabhängendem Unterleib, derjenige Echnatons, nicht aber Amenophis’ III. Die runde Kopfbedeckung unterscheidet sich zwar von der des Königs auf dem linksseitigen Türsturzbild, gleicht aber der Kopfbedeckung Echnatons auf den beiden Bildern mit dem Gastmahl im gleichen Grab. Dieser König war ein Lebender, und seine Haltung, den einen Arm erhoben und den anderen auf sein Knie gestützt, ist nahezu die gleiche wie in der Gastmahlszene, auch Königin Teje nimmt auf beiden Darstellungen, beim Gastmahl und auf dem Türsturz, eine ähnliche Haltung ein: Ein Arm ist erhoben und der andere hängt lässig an ihrer Seite herab; und beide Male sitzen sich Echnaton und Teje gegenüber6. 5 6

»Journal of Egyptian Archaeology«, XXII (1956), 198. Dies erledigt die Schlussfolgerung von Cyril Aldred, Amenophis

Schließlich deutet gerade die neben der Königin Teje auf der rechten Seite des Türsturzes stehende Inschrift an, dass sie ihrem Gatten gegenüber sitze, auf einen Verstorbenen konnte sich dies wohl kaum beziehen. Ich wiederhole den Text, dies Mal nach der Übersetzung von Maspero: »Die Fürstin und Erbin, die Höchstgepriesene, die Herrin der Gnade, süß in ihrer Liebe, die mit ihrer Schönheit den Palast erfüllt, die Herrscherin, die Herrin des Südens und Nordens, die Große Gattin des Königs, die ihn liebt, die Herrin der beiden Länder, Teje.« Über diese Beschreibung der Königin Teje wunderte sich Maspero: »Genau so, als ob ihr Gemahl noch am Leben wäre7.« Es ist ungewöhnlich und sicherlich unpassend, von einer verwitweten Königin in einer Inschrift zu sagen »süß in ihrer Liebe« oder »die den Palast mit ihrer Schönheit erfüllt«. Weder der Name des Königs, noch die Tatsache, dass er auf dem Türsturz mit einem vor seinen Mund gehaltenen Lebenszeichen abgebildet ist, noch die Körperbeschaffenheit des Königs können auch nur im Geringsten die Schlussfolgerung glaubhaft machen, dass die betreffende Gestalt Amenophis III. darstelle. Auf dem Bild befindet sich Aton [die Sonnenscheibe], der Name der kleinen Tochter enthält ebenfalls den auf den Gott bezogenen Teil Aton, und von der verwitweten Königin heißt es, sie sei die Geliebte des Königs – alles Beweise gegen diese Hypothese. Ein weiteres Gegenargument ist die bekannte feindliche Einstellung Echnatons gegen das Andenken seines Vaters. Zu guter Letzt lässt das Alter Beketatons, die sechs bis acht Jahre nach

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müsste als Toter dargestellt sein, weil der König auf der einen Seite des Türsturzes neben der Königin, und auf der anderen ihr gegenüber sitze, wodurch die Symmetrie in der Stellung der Mitglieder der beiden Familien gestört sei; die Identität des auf dem Türsturz Teje gegenübersitzenden Königs stellt er nicht infrage. G. Maspero in Theodore M. Davis, »The Tomb of Queen Tiyi« (1910), S. XX.

Amenophis’ III. Tod geboren wurde, keinen Raum für die Annahme, dass die Gestalt auf dem rechten Teil des Türsturzes dieser König sei. Der König, der Vater von Beketaton (»des Königs leibliche Tochter«), ist Echnaton. Sollte der Leser nun noch in Bezug auf die Richtigkeit dieser Ausdeutung Zweifel hegen, so kann ein anderes Bild aus dem gleichen Grab seinen Skeptizismus zerstreuen. Auf diesem Basrelief an der Ostwand der Grabkammer führt Echnaton die Königin Teje, gefolgt von der Prinzessin Beketaton, in den Tempel. »Echnaton führt Teje liebevoll an der Hand und seine kleine Schwester Beketaton folgt ihnen und trägt die Weihgeschenke von beiden für den Altar8.« Außerdem sind noch zwei Pflegerinnen dargestellt, die das Kind behüten, sowie das übliche Gefolge von Begleitern und Beamten. Dies ist sogar genau die gleiche Kombination von Personen, wie auf der rechten Seite des Türsturzes: Echnaton, Teje und Beketaton. Vor dem König steht geschrieben: »Wie er die Große Königin und Königinmutter, Teje, führt, um sie ihren ›Sonnenschatten‹ sehen zu lassen9.« Der »Sonnenschatten« war ein Teil des Tempels, im Heiligtum des Aton befand sich ein »Sonnenschatten« für Echnaton, ein anderer für Teje und ein weiterer für die kleine Beketaton. Echnaton trägt ein durchsichtiges Obergewand, sodass man seinen Körper sehen kann: seinen hageren Hals, den hervortretenden Unterleib und die geschwollenen Oberschenkel. Teje ist nahezu nackt; auf dem Haupte trägt sie die Federkrone mit der gehörnten Scheibe; die Umrisse ihrer Brüste und ihres Bauches sowie die Beine sind deutlich sichtbar. Echnaton hält die Hand Tejes; wie ein Liebespaar, nicht etwa wie Mutter und Sohn, schreiten sie auf das innere Tor des Tempels zu. »Mein Weib, das meine Mutter ist«, so sagt Ödipus von Iokaste, und von Antigone: »Meine Tochter, die meine Schwester ist.« 8 9

Davies, »The Rock Tombs of el-Amarna«, III, 8. Ebenda, S. 7.

Inzest Im Palast von Ägypten war Inzest zwischen Bruder und Schwester nichts Ungewöhnliches, ja fast sogar die Regel. Während der XVIII. Dynastie ging der Thron, wenigstens in der Theorie oder versinnbildlicht, in der Erbfolge nicht auf einen Sohn, sondern auf eine Tochter über. Der Sohn erwarb den Anspruch auf den Thron erst durch die Heirat mit der Erbin, seiner Schwester oder Halbschwester. Wenn dieses Verfahren auch nicht in allen Fällen Platz griff, so wurde es doch bei der Nachfolge eines Sohnes auf seinen Vater als eine wünschenswerte Vorbedingung angewandt, ein System der Thronfolge, das dem Königshaus stetige Fortdauer sichern sollte. Die inzestuösen Beziehungen galten nicht als unmoralisch; moralische Werte, insbesondere in Bezug auf das Sexualleben von Rassen, Sippen und Klassen hängen großenteils von örtlichen Gepflogenheiten, Glaubensvorstellungen, Aberglauben und Überlieferungen ab. Im ägyptischen Sprachgebrauch wird das Wort »Schwester« oft an Stelle des Wortes »Gattin« verwendet: Liebespaare nennen sich gegenseitig in Gedichten und Liedern »Bruder« und »Schwester«, Inzest zwischen Mutter und Sohn war jedoch in den Augen der Ägypter etwas Verwerfliches. Die Menschen des Altertums, die primitive Gesellschaft verabscheuten »den Schlaf der unseligen Mutter an der Seite ihres eigenen Sohnes1«, wie die moderne Welt ihn verabscheut. Auf der Stufenleiter der Verwandtschaft ist die Mutter eine Verwandte ersten, die Schwester eine solche zweiten Grades. Nachkommenschaft mit der eigenen Mutter zu zeugen gilt als schlimmste Entartung. Das Fortpflanzungssystem der Natur wird damit gestört, und eine tief sitzende Auflehnung gegen den tief verwurzelten Trieb tritt in gleicher Weise in Gesetzen und Gebräuchen zivilisierter und unzivilisierter Völker zutage. 1

Sophokles, »Antigone«, II, 862-863.

Das Motiv von Bruder und Schwester, die in früher Kindheit getrennt werden, sich später begegnen und in Liebe zueinander entbrennen, heiraten und zu ihrem Entsetzen entdecken, dass ihre Ehe blutschänderisch ist, wurde sowohl in Märchen als auch in Legenden und modernen Romanen benützt und missbraucht. Gelegentlich gerät auch einmal ein Bericht über solch ein Drama in die Zeitungen. Der Trieb zum Inzest zwischen Mutter und Sohn mag stark sein, er ist aber gewöhnlich unbewusst und schlägt sogar oft ins Gegenteil um, in die Ablehnung der Mutter durch den Sohn. Mutter und Sohn begehen nur sehr selten Blutschande miteinander; das berühmteste Beispiel ist das Verhältnis von Nero und Agrippina, welches der Kaiser selbst andeutete und das Sueton bezeugt hat, das vielleicht aber nur in Neros Phantasie bestand, wie andere Historiker (Tacitus) annahmen. Als Schauspieler stellte Nero gerne die Rolle des Ödipus dar. Eine Geschichte aber, in der ein Sohn seine Mutter zum Weibe nimmt ohne Kenntnis ihrer Blutsverwandtschaft, darf nicht leichtgläubig hingenommen werden. So lag im Falle Echnatons die Tragödie nicht in der Tatsache, dass ein Sohn seine Mutter in Unkenntnis der vorhandenen Blutsbande heiratete, sondern dass er wissentlich seine Mutter nicht nur zur Throngefährtin, sondern auch zur Bettgenossin machte und sogar ein Kind mit ihr zeugte. Anfänglich wurde wohl ein Geheimnis aus den Beziehungen zwischen Mutter und Sohn gemacht, später aber war dies nicht mehr der Fall. Dass die Beziehungen Echnatons zu seiner Mutter nur kurze Zeit verheimlicht werden konnten, muss ein Teil jener zur Legende werdenden Überlieferung vom tragischen Schicksal Echnatons und seines Hauses gewesen sein. So spricht Homer davon, dass die Vereinigung von Sohn und Mutter »schnell bekannt wurde«. König Burnaburiasch, der einzige Herrscher jener Zeit, der mit dem Pharao wie ein Höhergestellter mit seinem Untergebenen zu sprechen wagte – seine historische Identität wurde in

Zeitalter im Chaos klargestellt – schrieb in einem Brief an Echnaton: »An die Herrin deines Hauses habe ich nur zwanzig Siegelringe aus schönem Lasur-Stein übersandt, weil sie mir nichts getan hat, was ich zu vergelten habe. Erhob sie doch nicht mein Haupt, als mir Betrübtheit war.« Zu gleicher Zeit forderte der König aus dem Norden Geschenke, die er in einer langen Liste aufzählte. Die in dem Brief erwähnte Herrin war Teje. »Man nahm an, die hier genannte Herrin sei Teje, die Königinmutter, welche in diesem Falle, entgegen der allgemeinen Regel in Ägypten, eine große Rolle spielte2.« Die an Echnaton gerichteten Worte »die Herrin deines Flauses«, mit denen seine Mutter Teje gemeint war, weisen darauf hin, dass das Wissen um die neue Beziehung schon bis in die Paläste fremder Länder vorgedrungen war. Zwischen dem Hause Amenophis’ III. und dem der Könige von Mitanni bestanden, wie die El-Amarna-Tafeln bezeugen, familiäre Verbindungen. Die Gattin Thutmosis’ IV. und Mutter Amenophis’ III. war Mutemwija, eine Prinzessin aus Mitanni. Im zehnten Regierungsjahr Amenophis’ III. wurde Giluchepa, ebenfalls eine mitannische Prinzessin, mit Gefolge und einer reichen Mitgift nach Theben gesandt, um eine der Nebenfrauen des Pharaos zu werden. Es wurde auch wiederholt vermutet, dass entweder Tejes Vater oder ihre Mutter mitannischer Abkunft war. Kurz vor dem Ende der Regierungszeit Amenophis’ III. schickte der König von Mitanni dem Pharao noch eine Prinzessin, namens Tatuchepa. Bei ihrer Ankunft war der König aber nicht mehr am Leben, sie wurde deshalb Amenophis IV. zur Verfügung gestellt, der sich nach seiner Thronbesteigung Echnaton nannte. Die engen Familienverbindungen dieser beiden Fürstenhäuser machen es sehr wahrscheinlich, dass Echnaton nach Mitanni zu den Verwandten von Amenophis und Teje geschickt wor2

Mercer, »The Tell el-Amarna Tablets«, Brief 11 – siehe Anmerkung zu Brief 11; siehe auch J. A. Knudtzon, »Die El-Amarna Tafeln« (1915), S. 1031. (Deutscher Text nach Knudtzon, a. a. O. Brief 11, S. 99).

den war, als er in früher Kindheit fortgebracht wurde, um einen Bannfluch des Orakels zu erfüllen oder, was wahrscheinlicher ist, um die unheilverkündende Prophezeiung zu umgehen. Über das Gebiet des Königsreichs Mitanni ist Genaueres nicht bekannt. Moderne Historiker verlegen das Land, angesichts des engen Kontakts zwischen den Königshäusern von Mitanni und Ägypten, in das nördliche Syrien, in die Nähe von Karkemisch am Euphrat, obgleich diese Gegend, wo Aramäer, »Churriter« und »Hethiter« Teile des volkreichen Gebietes bewohnten, bekanntermaßen unter der Herrschaft Assyriens stand. Es gibt Gründe dafür, diese geographische Zuordnung für unrichtig zu halten und Mitanni im nördlichen Iran zu suchen, wo Herodot im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung das Volk von Matiene erwähnt: diese persische Satrapie lag nahe am Berg Ararat3. Mag auch die geographische Lage von Mitanni eine Streitfrage sein, die religiöse Zugehörigkeit seines Volkes kennt man genau. Die Könige dieses Volkes richteten ihre Gebete und Schwüre an Mitra, Varuna, Indra und andere indoiranische Götter. Und diese Feststellung ist wichtig für den Sachverhalt, den ich aufklären möchte. Die Iranier (Perser) hatten zu dem Problem des Inzests eine völlig andere Einstellung als andere Völker des Altertums. Es bestand bei ihnen eine bestimmte ethischreligiöse Auffassung und Ausübung von xvaetvadatha oder xvetokdas, Worte, die nach Ansicht alter und moderner Gelehrter die Heirat von Eltern mit ihren Kindern und von Halbbrüdern und -Schwestern mütterlicherseits bedeuten. Alte iranische Texte empfehlen, ja befehlen sogar xvaetvadatha – bei gewissen religiösen Zeremonien darf nur ein junger Mann fungieren, welcher diese Sitte befolgt hat. »Leichenträger können nicht nur mit dem Urin von Kindern [heilige Kuh]4 gereinigt werden, sondern 3

4

Herodot, V. 49. Über diesen Gegenstand werde ich in einer Fortsetzung zu »Zeitalter im Chaos« mehr zu sagen haben. Vgl. »Welten im Zusammenstoß«, »Die heilige Kuh«.

auch mit dem vermischten Urin von Mann und Frau, die xvaetvadatha vollzogen hatten5.« Offenbar waren es nicht nur Mitglieder des Königshauses, sondern auch Perser verschiedener Stände, die Inzest begingen6. Über eheliche Beziehungen mit Mutter, Tochter und Schwester berichten voll Abscheu Diogenes Laertius, Strabo, Plutarch sowie die Kirchenväter Clemens von Alexandria und Hieronymus. Philo von Alexandria schrieb, dass die Iranier glaubten, Kinder aus der Vereinigung von Mutter und Sohn seien besonders wertvolle Nachkommen. Catull berichtet, dass ein Magier (ein Priester des Mazda) die Frucht blutschänderischer Beziehungen zwischen Mutter und Sohn sei7, und Strabo erklärt, derartige Ehen seien bei den Persern alter Brauch gewesen8. »Diese Magier tun sich nach althergebrachten Bräuchen sogar mit ihren Müttern zusammen. Solches sind die Sitten der Perser.« Die griechischen und lateinischen Schriftsteller, die wir hier genannt haben, gehörten alle in das letzte Jahrhundert vor oder in die ersten Jahrhunderte nach unserer Zeitrechnung. Sie bezeichneten die sexuellen Beziehungen zwischen Sohn und Mutter als grauenerregend, und auch den Griechen früherer Jahrhunderte müssen solche Sitten nicht weniger unnatürlich vor gekommen sein. Die klassischen Autoren irrten sich nicht, wenn sie von blutschänderischen Ehen bei den Indo-Iraniern oder Persern erzählten. In den religiösen und juristischen Pelehvi-Texten ist häufig die Rede von dem dort xvetokdas genannten xvaetvadatha. »Die Befolgung dieser Lehre ist eines der sichersten Zeichen von Frömmigkeit in den kommenden Tagen des Unheils … es sühnt 5

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Artikel »Marriage« (Iranian), in Band VIII der »Encyclopedia of Religion and Ethics«, herausgegeben von J. Hastings. Quintus Curtius Rufus (VIII, II 19) erzählt vom baktrischen Satrapen Sysimithras, der seine Mutter heiratete. Catull, XC. 3. Strabo, XV. 3.20.

die Todsünden und bildet die einzige unüberwindliche Schranke gegen die Angriffe von Aeshm, der Inkarnation der Rache (Sayast la-Sayast, VIII, 18; XVIII, 5.f.); den Dämonen ist es [xvetokdas] besonders verhasst, weil es ihre Kräfte lähmt (Dinkart, III, 82). Xvetokdas ist die zweite der sieben guten Taten der Religion, seine Nichtbeachtung die vierte von den dreißig verruchten Sünden, und sein Vollzug der neunte von den dreiunddreißig Wegen, sich den Himmel zu verdienen. Es wird sogar gesagt, dass Zarathustra es als achte seiner zehn Ermahnungen an die Menschen vorgeschrieben habe (Dinkart, III, 195)9.« Dieses religiöse Buch Dinkart berichtet auch von einem Streitgespräch über diesen Gegenstand zwischen einem Anhänger der Lehre Zarathustras und einem jüdischen Gegner, bei dem der erstere erklärte: »Diese Vereinigung [zwischen] Vater und Tochter, Sohn und der, die ihn gebar, und Bruder und Schwester ist die vollkommenste, die ich mir vorstellen kann10.« Als Verehrer der indo-iranischen Götter betrachteten die Könige von Mitanni den Inzest zwischen Mutter und Sohn nicht nur als eine entschuldbare Beziehung, sondern als geheiligte Vereinigung. Mit Amenophis III., Teje und Echnaton standen diese Könige wegen der Verwandtschaft der Familien auf sehr vertrautem Fuß. Ich habe die Folgerung gezogen, dass Echnaton, der seine Kindheit und Jugend fern vom Vaterhaus zubrachte, wahrscheinlich im Palast seiner Verwandten in Mitanni auf wuchs – die El-Amarna-Briefe berichten, dass ein Mädchen aus Mitanni in den Palast von Theben geschickt wurde –, und der Einfluss der Bräuche von Mitanni kann sehr wohl Echnaton und Teje dazu veranlasst haben, in eheliche Beziehungen miteinander zu treten. E. A. Wallis Budge, ein erfahrener Ägyptologe aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, zog einen Vergleich zwischen der 9

10

Aus dem Artikel »Marriage« (Iranian), in Band VIII der »Encyclopedia of Religion and Ethics«, herausg. J. Hastings. Übersetzung von E. W. West, S. 599 ff.

Sprache der Hymnen Echnatons und jener der Veden und verfolgte den Ursprung der Idee, die Sonne mit Strahlen, die in Händen endigen, darzustellen, bis zu den langen goldenen Armen des Sonnengottes Surya in den Veden11. Dem fügte R. H. Hall hinzu: »Wir erinnern uns, dass Mitanni einen indoiranischen Bevölkerungsanteil hatte, welcher die indischen Götter Mitra, Varuna und Indra verehrte.« In den »Strahlen mit Händen«, denen man bis Mitanni nachgehen kann, haben wir einen weiteren Beweis dafür, dass mitannische oder indoiranische Vorstellungen ihren Weg in den Palast von Theben gefunden haben, deren eine die von der Heiligkeit blutschänderischer Verbindungen war. Nach seinem vollständigen Bruch mit den Priestern des Amon legte Echnaton offenbar keinen Wert mehr darauf, das Verhältnis zu seiner Mutter geheimzuhalten. Er rühmte sich des »Lebens in der Wahrheit«, und diese Redewendung wurde stets seinem eigenen Namen beigefügt. Nach einer kurzen Zeit des Schwankens und der Geheimhaltung beschloss er, sich offen zu seiner Beziehung zu bekennen und die Ägypter zu zwingen, sie als heilig und bewunderungswürdig anzusehen. So führte er in aller Öffentlichkeit seine Mutter-Gattin und ihre gemeinsame Tochter zu ihrem »Sonnenschatten« im Tempel von Achet-Aton, ließ diesen Vorgang als Relief in die Wände meißeln und von Beketaton, ihrem Kind, schreiben, sie sei »des Königs leibliche Tochter«. Den Ägyptern war jedoch diese Neuerung in religiöser und moralischer Hinsicht – Inzest zwischen Sohn und Mutter – völlig fremd, die Verehrung ihrer Götter, die religiösen Gebräuche und ihre ethischen Auffassungen gingen schon damals bis ins graue Altertum zurück. Als dann unter Echnaton dieses Neue offenbar wurde, ließ der Ausbruch ihres Missfallens nicht lange auf sich warten.

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E. A. Wallis Budge, »Tutankhamen, Amenism, Atenism and Egyptian Monotheism« (1923).

Nofretete Auf demselben Wandbild, das Echnaton zeigt, wie er zärtlich seine Mutter-Gattin, von Beketaton gefolgt, zum Heiligtum geleitet, ist auch Huja, dem das Grab gehört, in einer weiter unten angebrachten Reihe abgebildet, wie er Beamte und Diener anführt. Die Inschrift besagt: »Die Ernennung des Oberaufsehers des königlichen Harems [der Königin Teje], Huja.« Königin Teje wird mit folgenden Worten bedacht: »Sie, die sich zeigt in Schönheit.« Nach der allgemeinen Annahme blieb Teje noch einige Jahre nach der Übersiedlung Echnatons nach Achet-Aton in Theben1. »Offenbar war Teje gekommen, um sich in Achet-Aton niederzulassen. Ein Haus war für sie hergerichtet, ein Heiligtum für ihren Gottesdienst erbaut und das Hauspersonal für sie ausgewählt worden.« Petrie beschreibt eine Scherbe aus Achet-Aton, auf der auch ein »Haus der Teje« erwähnt wird2. Ob sie nun früher oder später nach Achet-Aton zog, jedenfalls erreichte im zwölften Regierungsjahr Echnatons das Drama in seiner Familie den Höhepunkt. Er hatte zwei Hofhaltungen, und sie beide sind auf den Reliefs mit dem Festmahl und auf dem Türsturz dargestellt. Des Königs Mutter-Gattin forderte öffentliche Anerkennung und eine bevorzugte Stellung für sich und ihr Kind. Teje war kein schwacher Charakter, und so musste bald eine der beiden Frauen weichen, entweder Teje oder Nofretete. Während der letzten fünf Jahre von Echnatons Regierung wird Königin Nofretete nicht mehr erwähnt. »Die Geschichte berichtet uns nichts über das endgültige Schicksal Nofretetes … Ihr Ende muss, wie es scheint, sehr beklagenswert ge1

2

Borchardt hält Medinet el-Ghurab bei Fayum für den Wohnsitz der Königinwitwe. Petrie, »Tell el-Amarna«, S. 55.

wesen sein«, so schreibt Arthur Weigall in The Life and Times of Akhnaton3. Die Aussprachen zwischen Echnaton und Nofretete auf der einen und Teje auf der anderen Seite vermitteln den Eindruck, dass sich Echnaton anfänglich seiner Königin [Nofretete] gegenüber loyal verhielt; auf den Bildern saß sie ja auch, gleichsam unter seinem Schutz, hinter ihm. Teje jedoch beharrte auf ihrer Forderung, selbst die Haupt-(Große) Königin zu sein und trug während der Verhandlungen auch die Doppelfederkrone und die gehörnte Scheibe auf ihrem Kopf. Es konnte aber nur eine Große Königin gehen, und falls Tejes Forderung sich durchsetzte, würde Nofretete die Rolle einer von vielen Frauen des Königs, also praktisch die einer Konkubine, aufgezwungen, und ihre Kinder würden dementsprechend zu Haremskindern werden. Wie die Bilder auf dem Türsturz andeuten, scheint es, dass Echnaton unter dem Druck Tejes versuchte, seinen zwiefachen Haushalt fortzuführen. Teje hat offenbar einen vollständigen Sieg errungen, denn in der triumphierenden Szene geht Teje mit Echnaton und Beketaton zum Tempel des Aton, wo drei Heiligtümer vorbereitet waren, eines für den König, eines für Teje und eines für ihre Tochter, aber keines für Nofretete und deren Kinder. Teje wurde von ihrem Sohn als offizielle Gattin und das Kind als seine königliche Tochter anerkannt. Nofretete, »die Schöne ist gekommen«, die mit ihrem Gatten all den Glanz vergangener Jahre geteilt hatte, konnte sich nicht mit ihrer neuen Stellung als Konkubine abfinden, als Echnaton seine Gattin und Mutter Teje zur Hauptfrau machte. »Kurz nach seinem zwölften Regierungsjahr traf ihn der schwerste Schlag. Nofretete, seine Gattin, verließ ihn, es sei denn, dass wir das vorliegende Material falsch gedeutet haben«, schrieb Professor T. E. Peet in seiner Arbeit Akhenaten,

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Seite 233.

Ty, Nefertete and Mutnezemt4. Die Ursache dieser Trennung kannte er jedoch nicht: »Begann das beschauliche Leben seinen Reiz für sie zu verlieren? Oder glaubten die Anhänger Amons in Theben in ihr einen volkstümlichen Thronprätendenten gegen ihren Gatten gefunden zu haben? Wir wissen es nicht und werden es vielleicht niemals erfahren.« Wieder ein anderer Historiker, S. R. K. Glanville (Amenophis III. and His Successors in the XVIII. Dynasty5), schrieb: »Nach allgemeiner Ansicht war Nofretetes Verschwinden« die Folge davon, dass »sie irgendwann nach dem Jahr Zwölf in Ungnade fiel.« Ihr Name wurde auf einer Reihe von Monumenten ausgetilgt, auf denen Echnatons Name unberührt blieb. Professor H. Frankfort »führte starke Argumente ins Feld für die Annahme, dass die Ankunft Tejes im Jahre Zwölf die entscheidenden Veränderungen auslöste … Frankfort meinte, dass Tejes Eintreffen und die großen Ehrungen, die ihr zuteilwurden, in irgendeiner Weise mit dem Verschwinden Nofretetes im Zusammenhang standen6«. Frankfort erkannte klar den Kampf zwischen den beiden Königinnen, aber er glaubte, die Rivalität beziehe sich nur auf die politische Macht; in Wahrheit ging es bei dem Ringen um dynastische und eheliche Rechte. T. D. S. Pendlebury nahm jedoch an, dass Nofretete von Echnaton und seinem Königshaus fortging und zu einem Wohnsitz im nördlichen Außenbezirk der Stadt zog, dorthin, wo die Felsen sich dem Nil nähern. Hinter einer doppelten Mauer befand sich ein Gebäude, von dem »nur wenig übriggeblieben ist, aber es wurden genug Gegenstände gefunden, welche darauf hinweisen, dass sie Nofretete gehörten. Die Malereien an den Wänden des Torwegs der Mauer erlauben die Datierung in eine Zeit, die nach der Entmachtung der Kö4 5 6

In Brunton, »Kings and Queens of Ancient Egypt«, S. 115. In Brunton, »Great Ones of Ancient Egypt« (1930), S. 151. Ebenda, S. 131-132.

nigin liegt; und so ist es eine vernünftige Annahme, sie habe sich in diesen Palast zurückgezogen7«. In ihrem Kummer über diese Wendung in ihrem Leben oder aus Schmerz und in Vorahnung der bevorstehenden Trennung, wurde ihr schönes Antlitz von Sorgen umwölkt – »jedermann kennt den berühmten Kopf der Nofretete in Berlin; nur wenige aber haben die noch reizvollere kleine Statue der Königin gesehen, die sie zeigt, als sie älter und durch Enttäuschungen schwermütig geworden war8«. Oft wurde davon gesprochen, dass zwei Parteien, diejenige Echnatons und Tejes und die der verbannten Nofretete, den Kampf um die Macht fortgesetzt hätten. Eje stand auf Nofretetes Seite: war er doch ihr Vater und Führer ihrer Anhänger in der Auseinandersetzung mit seiner Schwester und seinem Schwiegersohn. In einer Variante der griechischen Sage fällt Euryganeia, die jüngere Frau des Ödipus und Mutter von vier seiner Kinder, in Ungnade und wird verstoßen9. Es scheint, dass die Geschichte von der schmachvollen Behandlung Nofretetes das Motiv zu dieser Überlieferung bildete; sie war zwar im Altertum bekannt, wurde aber von den Tragödiendichtern des fünften Jahrhunderts nicht verwendet. Das Drama in Achet-Aton endete jedoch nicht mit dem Verschwinden Nofretetes oder damit, dass sie in Ungnade fiel, und ein solcher Ausgang konnte auch kaum erwartet werden. Die Reihen von Bildern in den Gräbern, in den Arbeitsräumen der Künstler und in den Trümmern der Paläste berichten nichts mehr von den Vorgängen in Achet-Aton. Echnaton hatte den Thron noch vier oder fünf Jahre nach Nofretetes Weggang oder Verstoßung inne. Es wird allgemein angenommen, dass sich im persönlichen Leben des Königs eine Tragödie ereigne7 8 9

Tell el-Amarna«, S. 45. Ebenda, S. 135. Bethe, »Thebanische Heldenlieder«, S. 26, 141.

te. Ebenfalls gilt es als sicher, dass Eje noch mächtiger wurde und die Schicksale des Staates und des Palastes lenkte. Schließlich befand sich, ebenfalls nach allgemeiner Ansicht, einige Zeit später Teje nicht mehr im Palast. Ihr Ende ist von einem Geheimnis umgeben, denn sie wurde nicht begraben wie die große Königin eines großen Reiches. Auf später folgenden Seiten dieses Buches werden wir dem Weg ihres Trauerzugs zu einem Versteck folgen, wo man ihren Katafalk zerbrochen und die einzelnen Teile verstreut auffand. Nofretetes endliches Schicksal ist nicht bekannt; sie handelte bei ihrer Auseinandersetzung mit Echnaton nach den Anweisungen ihres Vaters Eje. In seinem volkstümlichen Buch Tell el-Amarna erzählt Pendlebury eine Geschichte, die er in seinen wissenschaftlichen Ausgrabungsbericht The City of Akhnaton nicht aufnehmen wollte: »In dem königlichen Grabe wurden keine Gegenstände gefunden, die von ihrem Begräbnis hätten stammen können. Der einzige Anhaltspunkt, den wir haben, ist, dass in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Wüste ein Zug von Männern mit einem goldenen Sarg gesehen wurde, und kurz danach goldene Gegenstände auftauchten, auf denen ihr [Nofretetes] Name stand. Ob sie echt oder gefälscht waren, ist schwer zu sagen. Aber das ist eine bekannte Geschichte, die von fast jeder Funds teile in Ägypten erzählt wird10.« Ich spreche nicht als Gelehrter, wenn ich folgendem Gedanken Ausdruck verleihe: Es ist vielleicht besser, dass man nur Skulpturen, aber keine Mumie der Nofretete fand. Ihre Porträtbüste wird als die Verkörperung blendender Schönheit betrachtet, die unbeeinträchtigt blieb trotz des Ablaufs der Zeit und der Jahrhunderte, die Zeugen des Verfalls ganzer Königreiche waren. Der Kopf der Nofretete tauchte als Symbol unvergänglicher Schönheit aus den Ruinen der alten Hauptstadt 10

Pendlebury, »Tell el-Amarna«, S. 169-170. Vgl. »Journal of Egyptian Archaeology«, IV (1917), 45.

am Nil auf. Es berührt schmerzlich, an ihrer letzten bildlichen Darstellung zu erkennen, wie sehr Resignation und Sorge sie gezeichnet hatten; eine störende Erinnerung an die Hinfälligkeit unserer irdischen Hülle würde es jedoch sein, wenn auf ein und derselben Bildseite die starren Züge ihrer Mumie neben der schönen Büste der Königin erschienen, von der im Leben gesagt wurde: »Schönheit für immer und ewig.«

Der König gestürzt Vor dem Ende seiner Regierung behielt Echnaton den noch nicht zwanzigjährigen Prinzen Semenchkaré stets in seiner Nähe und machte ihn etwa für die Dauer eines Jahres sogar zum Mitregenten. Von einer erhalten gebliebenen Skulptur, die Echnaton zeigt, wie er den auf seinem Schoß sitzenden jungen Semenchkaré küsst, hieß es eine Zeitlang, sie stelle den König dar, der Nofretete liebkost; dann aber erkannte man in der Gestalt auf seinem Schoß das Abbild Semenchkarés. Es gibt noch ein weiteres Relief, auf dem Echnaton neben dem inzwischen zum Jüngling herangewachsenen Semenchkaré beim Mahle sitzt, ein Arm des Königs ruht auf dessen Schulter und die Finger der anderen Hand berühren sein Kinn. Die erotische Atmosphäre dieses Reliefs hat einige Gelehrte auf den Gedanken gebracht, Echnaton sei von unnatürlichen Begierden erfasst gewesen. »Eine gemeinsame Regentschaft von Echnaton und Semenchkaré wurde schon immer angenommen, hier zeigen sich aber Anzeichen für eine intimere Beziehung. Eine Stele [im Museum] zu Berlin, von deren Figuren man bis vor kurzem annahm, es handle sich um Echnaton und Nofretete, hat sich mm als ein Beweis dafür herausgestellt, dass der König einer gefühlsmäßigen Bindung an seinen jungen Mitregenten Ausdruck gäbe1.« Wie wir auf den folgenden Seiten sehen werden, waren nach Aussage des Anatomen, der die Mumien Semenchkarés und Tutanchamûns untersuchte, beide Söhne Echnatons und diese Ansicht gilt nun allgemein als die wahrscheinlichste. Wenn das so ist, dann könnte die Zurschaustellung von Echnatons Zuneigung zu seinem ältesten Sohn als Ausdruck vä1

Glanville, in Brunton, »Great Ones of Ancient Egypt«, S. 129. Professor Newberry drückte sich hierüber etwas konkreter aus.

terlicher Gefühle verstanden werden. Bei diesem König – »Der in der Wahrheit lebt« – ist es aber schwer zu sagen, ob das, was er öffentlich zeigt, Ausdruck eines verbotenen Triebes2 oder nur eine Geste ist. Er würde wohl nicht davor zurückgescheut sein, ein Begehren zu zeigen, und einem Künstler zu erlauben, dies festzuhalten, was andere krankhaft veranlagte Personen in den Tiefen des Bewusstseins verbergen oder nur im Geheimen ausüben. Semenchkaré war ein hübscher Jüngling und schon in frühem Alter mit Meritaton, der ältesten Tochter Nofretetes, verheiratet worden. Da er die Thronerbin geheiratet hatte, war Semenchkaré dazu bestimmt, den Thron als Erbe zu übernehmen. Die zweite Tochter, Meketaton, starb jung und wurde im königlichen Grab in Achet-Aton beigesetzt. Die dritte Tochter, Anchsenpa’aton, wurde mit ihrem Halbbruder Tutanchamûn verheiratet, aber nicht, ohne dass ihr Vater Echnaton sie in der Hochzeitsnacht aufsuchte; die Frucht aus dieser Verbindung war ein kleines Mädchen, das kurz nach der Geburt starb3. Die Entdeckung dieser Tatsache über Echnaton verminderte den Beifall, der jeweils ertönte, wenn der Name des großen Reformers und Monotheisten in wissenschaftlichen und religiösen Kreisen oder auch vor Nichtfachleuten ausgesprochen wurde. Eine Generation früher hatte auch Amenophis III. eine seiner Töchter geheiratet. Echnaton folgte diesem Beispiel, wobei der Einfluss des mitannischen Ehekodex auf Freiheiten verantwortlich gewesen sein mag, die in früheren Generationen ägyptischer Könige, bevor die ehelichen Verbindungen mit dem Kö2

3

In einer alten Version der Ödipussage liebte Ödipus den Chrysippus und tötete seinen Vater Laios als Nebenbuhler. Scholium zu Euripides’ »Die Phönizierinnen«, 60. H. Brunner, »Zeitschrift für Aegyptische Sprache«, LXXIV (1958), 104-8. Ch. Desroches-Noblecourt in Claude F. A. Schaeffer, »Ugaritica III« (1956), S. 204-5, 220.

nigshaus von Mitanni geschlossen wurden, unbekannt gewesen waren. Die Vereinigung Echnatons mit seiner Tochter könnte die Grundlage für die altgriechische Überlieferung gebildet haben, nach der Ödipus außer seiner Mutter und Gattin Iokaste und der jungen Frau Euryganeia, die ihm mehrere Kinder gebar und die er in die Verbannung schickte, auch noch eine »Jungfrau Astymedusa« geheiratet habe4. Kenner der antiken Sitten wunderten sich über diesen komplizierten Ablauf der Ereignisse5. Die griechischen Tragödiendichter ließen jedoch diese Teile der Überlieferung weg, um die Geschichte in ihrer tragischen Einfachheit umso stärker wirken zu lassen: Ödipus lebte mit seiner Mutter als Gattin und Königin. So auch Echnaton. Das ägyptische Reich, niemals größer oder von verschwenderischerem Reichtum als zur Zeit Amenophis’ III., begann mit dem Ablauf der Jahre langsam zu zerfallen. Aus Syrien und Palästina trafen ständig Briefe ein mit Anklagen und Gegenanklagen der Fürsten und Könige dieser unterworfenen Länder, in denen um militärische Hilfe gebeten wurde, sei es gegen den kriegerischen König aus dem Norden, der tief in das Land eindrang, oder gegen Banden aus der Wüste, die den Jordan überquerten und die dortigen Siedlungen plünderten, welche sich gegenseitig befehdeten. Einer der Vasallen in Syrien-Palästina, schrieb an den Pharao: »Höre auf mich! Warum hast du dich zurückgehalten, sodass genommen wird dein Land … Lass nicht so etwas gesagt werden in zukünftigen Tagen: ›Und nicht vermochtest du es wiederzunehmen …6‹« Und dann wieder schrieb er: »Wenn nicht da ist ein Mann, der mich errettet aus der Hand der Feinde, so werden wir die Regenten … aus den Ländern, und es werden alle Länder sich 4 5 6

Bethe, »Thebanische Heldenlieder«, S. 25, 26. C. Robert, »Oidipus« (1915), I, 109 ff. Knudtzon, »Die El-Amarna-Tafeln«, Brief 85.

den Gaz-Leuten (den Räubern) anschließen …, und wenn auch der König dann auszöge, so wären alle Länder ihm feind, und was würde er [für] uns dann tun können?7« Die El-Amarna-Briefe geben ein lebendiges Bild vom Zerfall des Staates. Nicht einmal ein paar Gruppen von etwa zwanzig Bogenschützen konnten von Ägypten entsandt werden. Der treue Vasall schrieb nach El-Amarna: »Ich allein schütze mein Recht …Was soll ich tun? Höre! Ich bitte: Weigere dich nicht, es seien Leute vor dem König oder es seien keine da. Höre mich! Siehe, so habe ich geschrieben an den Hof; es wurden aber meine Worte nicht gehört8.« Neben diesem Abfall der in den Feldzügen der Vorgänger Echnatons eroberten asiatischen Provinzen, zeigten sich vermutlich auch in Ägypten selbst Zeichen der Auflösung des Staates oder des Missfallens der Götter. Es konnte sich, wie in Palästina, um eine Hungersnot handeln, über deren wiederholtes Auftreten in vielen der Briefe bitter geklagt wird; oder um Seuchen wie in Cypern, die das Land entvölkerten und den König erschreckten, was ihn zu seinen erschütternden Briefen veranlasste. Der Adel, die Priester und das Heer konnten diesem Zerfall des Reiches nicht ruhig zusehen, bedeutete es doch, dass die Einkommensquellen, die sonst Ägypten mit Gold und anderen Schätzen aus den abhängigen Staaten belieferten, allmählich versiegten. Das Volk von Ägypten muss diesen Zusammenbruch als Strafe für eine Schandtat betrachtet haben, und sicher bestärkten die abgesetzten Priester Amons, die einst unermesslich reich, jetzt aber nahezu verarmt waren, das einfache Volle und den Adel in dem Glauben, dass eine Sünde begangen worden sei, für die man jetzt zu büßen habe. Diese Art, die Ursachen einer Natur- oder Staatskatastrophe zu interpretieren, entspricht vollkommen der Denkweise der antiken Welt. Als in den 7 8

Ebenda, Brief 74. Ebenda, Brief 122.

Tagen König Davids eine Seuche ausbrach, geschah dies, weil er den Fehler gemacht hatte, das Volk zählen zu lassen. Salomos Königreich wurde bald nach seinem Tode in zwei Teile zerrissen, weil er sich durch die Verehrung fremder Götter versündigt hatte. Saul handelte nicht so, wie es ihm der Prophet anbefohlen hatte, und so verkündete ihm dieser, dass die Krone nicht bei seinem Hause bleiben würde. Die Ödipussage berichtet von einer Seuche, Hungersnot oder einem anderen nicht näher bezeichneten Unglück9, welches das Königreich heimgesucht habe. Deshalb wurde beschlossen, das Orakel nach dem Grund des himmlischen Zorns zu befragen, damit man es beseitigen oder die Götter besänftigen könnte. Gleichermaßen wurde am Ende der Regierung Echnatons das Land von Not und Unglück heimgesucht und Tutanchamûn beschrieb es auf einer Stele folgendermaßen: »Das Land war krank und die Götter kehrten diesem Land den Rücken.« Die Notlage, in der sich Ägypten am Ende der Regierung Echnatons befand, müssen die Priester oder das Orakel von Theben dem schändlichen Leben ihres Königs zur Last gelegt haben. Dunkelheit hatte eingesetzt, wo zuvor Licht, Entbehrung, wo zuvor Reichtum gewesen war, Leichtfertigkeit war an die Stelle der Keuschheit getreten und Fluch an die Stelle des Segens. Den Thron des Sohnes des Ré – dies war der übliche Titel der Pharaonen – hatte ein sündhafter König inne. Nach fast zwanzig Jahren der Verfolgung wären die Priester ohne einen starken Führer in der Hauptstadt und bei Hofe ziemlich machtlos gewesen. Ein solcher erwuchs ihnen nun in 9

Marie Delcourt »Sterilites mysterieuses et naissances malefiques dans l’antiquité classique« (1938), weist darauf hin, dass Sophokles die Art des Unglücks, das über Theben kam, nicht näher bezeichnet hat; sie legt Argumente vor, um zu beweisen, dass mit der Plage in der Legende Sterilität oder Unfruchtbarkeit der Frauen, wie auch des Viehs und der Felder, gemeint sei.

der Person Ejes, Echnatons Schwager. Der gleiche Ablauf der Ereignisse stellte sich in Theben in Böotien ein und führte zur Entthronung von Ödipus, dem König mit den geschwollenen Füßen. Kreon, der Bruder der Königin, war der Anführer der gegen den König gerichteten Bewegung; er löste sie aus und brachte sie zu einem für ihn erfolgreichen, für den König jedoch katastrophalen Abschluss. In der griechischen Sprache bedeutet »Kreon« einfach »Herrscher«. Eje, willensstark wie seine Schwester Teje, vom gleichen Ehrgeiz erfüllt und von Machtgier besessen, verband sich mit den unzufriedenen und ihres Amtes beraubten thebanischen Priestern und arbeitete an der Wiederherstellung des alten Amonglaubens und -kultes. Seine eigene Grabanlage in Achet-Aton blieb unvollendet; auf der Wand einer dieser nun verödeten Kammern steht der große Hymnus an Aton; der Eigentümer des Grabes hatte zu Amon zurückgefunden.

Der blinde Seher Wer in Ägypten den König, der in den Augen des Volkes ein Gott war, entthronen wollte, musste alle Mächte im Himmel und auf Erden beschwören. Im böotischen Theben trug der blinde und mitleidlose Seher Teiresias viel zum Sturz des Königs bei. Dieser blinde Seher spielte in dem ganzen thebanischen Sagenkreis eine hervorragende Rolle. Er war der weise Mann und der göttliche Seher, vor dem die Vergangenheit wie auch die Zukunft offen dalag. Zu keiner Zeit gab es bei den Griechen und ihren Sagenhelden einen Seher, der Teiresias an Bedeutung gleichkam. In den Tagen des Ödipus und seiner Söhne war er ein alter Mann und in der folgenden Generation, der des trojanischen Krieges, nicht mehr am Leben; Odysseus musste in den Hades hinabsteigen, um ihn zu befragen. Als die Seuche über die Stadt Theben kam, ließ Ödipus den blinden Seher kommen, um von ihm die Ursache des Zorns der Götter zu erfahren. Teiresias kannte die Wahrheit: die Seuche war als Strafe über die Stadt gesandt, weil unter ihren Bewohnern ein Vatermörder in Sünden lebte. Zuerst weigerte sich der Seher preiszugeben, was er wusste, als ihn der König aber beschuldigte, er habe sich mit Kreon gegen ihn verschworen, enthüllte er einen Teil der Wahrheit. Auch in der Zeit des Kampfes zwischen Ödipus’ Erben drohte Teiresias, der ein machtvoller Sprecher war und von den Göttern die Gabe der inneren Schau erhalten hatte, Kreon mit einschüchternden Reden, weil dieser einem gefallenen Prinzen das Begräbnis verweigerte. Teiresias war ein Seher, aber kein Orakel, und um die Wahrheit zu enthüllen, wurde auch noch das Orakel in Delphi befragt. Durch diese beiden, die delphische Priesterin Pythia und den blinden Seher, ließen die Götter den Sterblichen ihr Schicksal, oder genauer, ihre Verdammung verkünden. Zurzeit Amenophis’ III. und Echnatons lebte in Ägypten ein Mann, der als heilig galt und als weisester der Ägypter, Ameno-

phis [Amenhotep], der Sohn des Hapu, ein Seher, aber kein Priester. Nach seinem Tode wurde er zum Gott erhoben. Nur einmal, sehr viel früher, zurzeit des Alten Reiches war Imhotep, ein anderer Ägypter nicht königlicher Abstammung, zum Gott erklärt worden. Die Autobiographie des Amenophis, Sohn des Hapu, enthält so viel Rätselhaftes, dass es bis jetzt noch niemand versucht hat, sie aus dem Ägyptischen zu übersetzen, mit Ausnahme einiger weniger Seiten, auf denen seine Leistungen in der Zivilverwaltung während eines früheren Lebensabschnittes zusammengestellt sind. »Wegen seiner Weisheit und seiner angeblichen Fähigkeit, kommende Ereignisse vorauszusehen, wurde er für ein göttliches Wesen gehalten1.« Das gleiche galt auch für den Teiresias der Ödipussage. Die Umstände bei der Geburt und Aussetzung des Ödipus waren Teiresias genau bekannt. Es ist daher interessant, dass eine Stelle in den esoterischen Sätzen der Lebensbeschreibung des ägyptischen Sehers davon spricht, er sei »sehr vertraut mit den Geheimnissen der königlichen Kinderstube«. Von Amenophis, dem Sohn des Hapu, ist uns eine Statue überliefert, die ihn als jungen Mann mit langen Haaren darstellt, die ähnlich geordnet sind wie die Frisuren der Frauen jener Zeit. Wenn dieser Seher das Urbild des Teiresias war, dann kann dieses bemerkenswerte Porträt, über das sich die Archäologen wunderten, ein seltsames Detail in der griechischen Sage um Teiresias erklären. Die Sage erzählt, dass Teiresias einmal eine weibliche Schlange getötet habe und als Strafe dafür eine Zeitlang in eine Frau verwandelt wurde. Nachdem er wieder zum Mann geworden war, wandten sich Zeus und Hera in ihrem Streit, ob der Mann oder die Frau vom Liebesakt mehr Genuss hätte, an Teiresias, um ihn darüber zu befragen, da er ja die Erfahrung beider Geschlechter habe. Weil er nun sagte, dass die Frau mehr vom Geschlechtsverkehr habe (»wenn die Teile 1

George Steindorff and Reith C. Seele, »When Egypt Ruled the East« (1957), S. 77.

der Liebesfreude als zehn gezählt werden, gehen dreimal drei an die Frau und nur eines davon an den Mann2«) blendete ihn Hera, Zeus aber schenkte ihm als Ausgleich langes Leben bis in die siebente Generation und die Gabe des Weissagens. Aus einem Grunde, der sich dem Verständnis der Ägyptologen entzog, galt der zum Gott erhobene Seher Amenophis durch die Jahrhunderte bis zurzeit der Ptolemäer als Schutzherr der Blinden3. Man vermutete, dass dieser Amenophis das Leiden der Erblindeten behandelte, doch erscheint es näherliegend, dass er zum Schutzherrn der Blinden wurde, weil er selbst erblindete. Wollten wir innerhalb unseres eigenen historischen Rahmens nach dem historischen Teiresias, dem blinden, uralten und weisen Seher, Ausschau halten, so würden wir hierfür Amenophis, den Sohn des Hapu, auswählen. In der Zeit Amenophis’ III. und seines Sohnes Echnaton gibt es tatsächlich keinen anderen als ihn, der die Rolle eines Ehrfurcht gebietenden Sehers ausfüllen könnte. Wir wissen nicht, wie lange er lebte; wir wissen nur, dass er im vierunddreißigsten Regierungsjahr Amenophis’ III., also ein oder zwei Jahre vor dessen Tod, achtzig Jahre alt wurde4. Der Seher müsste also das ehrwürdige Alter von 98 Jahren erreicht haben, hätte er noch das Ende von Echnatons Regierung erleben sollen. Ein solch hohes und selten erreichtes Alter ist aber durch das zweite Göttergeschenk an den blinden Seher, ein sehr langes Leben, gegeben. Für Amenophis, den Seher, wurde ein Totentempel zwischen denen der großen Könige errichtet, und er selbst verfasste den Text, der in die Wände eingemeißelt werden sollte. Da 2

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4

Robert Graves, »The Greek Myths« (1955), II, 11. Apollodorus III, 71-72. H. Wild, »Ex-Voto d’une princesse saïte à l’adresse d’Amenhotep fils de Hapu« in: Mitteilungen des Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde in Kairo (1958), 406-413. W. C. Hayes, »Journal of Near Eastern Studies«, X (1951), 100.

dieser Tempel aber am Fuße der Felsen liegt, die das Tal der Könige verbergen, muss sich sein Grab ebenfalls in diesem Tale befunden haben. Sein Sarkophag blieb uns erhalten. Es war eine ungewöhnliche Auszeichnung, ein Grab und einen Totentempel bei den Königen zu haben. In El-Amarna gab es kein für ihn bestimmtes Grab; offenbar hat er seinen Wohnsitz nicht von Theben nach El-Amarna verlegt. Wie es scheint, stand er auf der Seite Thebens und Ejes, oder auf Seiten Kreons, wie es Sophokles in Oidipus Rex darstellte. Angesichts des nationalen Unglücks konnte es unter den Bedingungen, die damals in Ägypten herrschten, nicht ausbleiben, dass man bei dem weisen Amenophis, Sohn des Hapu, Rat suchte. Er war in Theben geblieben, als der König und der Hof nach El-Amarna zogen, woraus wir seine Einstellung erraten können. Der mitleidlose Seher Teiresias wurde im Zusammenwirken mit Kreon tatsächlich ein Werkzeug zum Sturz des Königs. Schweres Missgeschick widerfuhr dem zerfallenden Reich, und es ist keine bloße Vermutung, wenn dies als Strafe des Himmels für das Volk ausgelegt wurde, weil dessen König in Schande lebte. »Wenn Tutanchamûn beschreibt, wie verworren die Lage in Ägypten durch die religiöse Revolution Amenophis’ IV. [Echnaton] geworden war, bemerkt er, das Missfallen der Götter sei durch den Fehlschlag kriegerischer Unternehmungen offenbar geworden. ›Wenn unsere Leute nach der Küste von Phönizien entsandt wurden, um die Grenzen Ägyptens auszudehnen, konnten sie dabei in keiner Weise Erfolg haben/ Das Misslingen dieser Unternehmungen war ein Zeichen für den Zorn der Götter5.« Aus den El-Amarna-Briefen wissen wir, dass es sich keinesfalls darum handelte, die Grenzen zu erweitern, die Frage war vielmehr, ob es möglich war, die letzten noch unter Schutzherrschaft stehenden Gebiete in Asien weiterhin unter dem Zepter Ägyptens zu halten. 5

Jean Capart, »Thebes« (1926), S. 111.

Tutanchamûn schrieb ferner: »Die Götter, sie hatten diesem Land den Rücken gekehrt … wenn jemand einen Gott mit einer Bitte um etwas anflehte, so erschien er überhaupt nicht6.« Teiresias sprach in ganz ähnlicher Weise davon, dass die Götter wegen eines begangenen Verbrechens sich weigerten, Opfer anzunehmen und einen Orakelspruch ergehen zu lassen. »Die Götter nehmen unser Gebet nicht an und verschmähen die Opfer aus unseren Händen.« (Antigone). Der Zorn der Götter musste besänftigt werden. Echnaton war bei den Göttern und dem großen Seher in Ungnade gefallen. Semenchkaré wurde für Ejes Partei gewonnen. Man machte ihm begreiflich, dass er, wenn er auf Echnatons Seite träte, im Endeffekt den etwaigen Thronansprüchen Beketatons als Erbin, und zwar zum Nachteil der bereits ausgeübten Rechte seiner Frau Meritaton, Vorschub leisten würde. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte Semenchkaré angeordnet, den Namen Nofretetes auszutilgen und ihn auf den Monumenten durch den Namen ihrer Tochter Meritaton zu ersetzen. Nun änderte er seine Politik und wandte sich gegen Echnaton. Wir wissen, dass er Theben aufsuchte und dort mit den Priestern Frieden schloss. So währte es nicht lange, bis Semenchkaré den Thron allein innehatte und Echnaton abgesetzt war. Man nimmt allgemein an, Echnaton sei als König abgesetzt worden, und wiederholt ist der Gedanke geäußert worden, er sei ins Exil gegangen7. Es wird aber auch angenommen, er habe eine Zeitlang in einer der königlichen Residenzen in AchetAton praktisch als Gefangener weitergelebt. Gleichzeitig wurde bemerkt, die Umstellung sei ohne Revolution oder Aufstand vor sich gegangen. 6 7

Steindorff and Seele, »When Egypt Ruled the East«, S. 24. »Die äußeren Umstände legen die Vermutung nahe, dass Echnaton gewaltsam beseitigt worden ist.« K. Lange, »König Echnaton und die Amarna-Zeit« (1951), S. 108.

Die gleiche Situation lag nach der Sage im böotischen Theben vor. Ödipus lebte eine Weile in seiner Hauptstadt weiter, allerdings nicht mehr als freier Herrscher8. Die Beduinen, die in El-Amarna, an der Stelle des alten Achet-Aton, in Lehmhütten ein halb-nomadisierendes Leben führen, sind schon seit Jahrzehnten von den aufeinanderfolgenden Forschungsexpeditionen für die Ausgrabungsarbeiten verpflichtet worden. Als im Norden der Stadt die doppelte Mauer mit einem Raum über dem Tor ausgegraben wurde, hinter der das Palastgefängnis lag, erzählten die Beduinen den Ausgräbern, dass dort ein mit einem Fluch belasteter Prinz eingeschlossen gewesen wäre, weil sein Vater ihn vor dem bei seiner Geburt vorausgesagten Schicksal bewahren wollte. Diese Beduinen sind Analphabeten und können bestimmt keine Hieroglyphen lesen. Es ist interessant, dass in der altägyptischen Literatur eine Erzählung von dem »Im Voraus verurteilten Prinzen9« überliefert ist. Das Orakel hatte offenbart, dieser würde eines vorbestimmten Todes sterben. Die Prophezeiung erging an den König, seinen Vater, noch ehe der Sohn geboren war. Dieser Anfang ist nicht unähnlich dem szenischen Hintergrund bei dem Orakelspruch an König Laios. »Örtliche Überlieferung verband mit dieser Mauer eine Fassung der Geschichte von dem Verurteilten Prinzen, die nahezu zur selben Zeit entstand, wie die Stadt … Diese Mauer, so sagt der moderne Geschichtenerzähler, wurde von dem König erbaut, um seinen Sohn zu schützen und dessen Schicksal von ihm fernzuhalten. Nachdem wir sie ausgegraben hatten, erfanden die Beduinen dazu auch noch die Namen: Aus dem Fürsten wurde Tutanchamûn [die Entdeckung seines Grabes in Theben hat die8

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»Ödipus .. . wurde von seinen Söhnen gezwungen, ständig zurückgezogen zu leben, die jungen Männer übernahmen den Thron und vereinbarten, sie wollten in jährlichem Wechsel regieren.« Diodoros. »Journal of Egyptian Archaeology«, XI (1925), 227-229.

sen Namen allgemein bekannt gemacht], und sein Vater wurde zu König Till – wahrscheinlich der namengebende Held für das heutige Dorf Et-Till. So werden Volkssagen gemacht10.« Pendlebury ahnte nicht, dass das Wort »gemacht44 in diesem Falle nicht ganz zutrifft: allem Anschein nach lebte ein anderer »Im Voraus verurteilter Prinz44 in diesem Palastgefängnis: sein Insasse war Echnaton, und wenige Jahre zuvor hatte Nofretete darin gelebt.

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Pendlebury, »Tell el-Amarna«, S. 44-45. Der Name Tell el-Amarna ist ein zusammengesetztes Wort, das die ersten Archäologen der Ausgrabungsstätte erfunden haben. Es wurde abgeleitet von den Namen zweier Beduinenstämme, deren Wohnstätten sich an dem Ort befanden, unter dem die Ruinen von Achet-Aton, Amarna und Till oder Tel lagen. Die letztere Bezeichnung hat einige Verwirrung gestiftet, weil Tell el-Amarna so klingt, als ob sich dort ein »Teil« oder Hügel befinde, es gibt aber keinen an jener Stelle.

Der blinde König Nach der Fassung der Sage durch Euripides lebte Ödipus nach seinem Sturz als Blinder in einem abgelegenen Palastgefängnis in Theben. Folgt man aber Sophokles, so hat sich Ödipus selbst geblendet, als er die grausame Wahrheit erfuhr, und lebte als entthronter König noch einige Zeit in seinem Palast, tun dann, ein blinder und gebrochener Mann, von seinen Söhnen während der Regierung des älteren Sohnes aus Theben vertrieben zu werden. Alle diese Fassungen stimmen aber darin überein, dass er blind war. Gibt es nun irgendeinen Beweis dafür, dass Echnaton erblindete? Wir wollen die Frage zunächst so formulieren: Ist irgendwo überliefert, dass einer von den Pharaonen blind war? Und ferner, damit die Analogie mit der Ödipussage nicht nur zufallsbedingt erscheint: Gibt es irgendeinen Bericht, wonach ein blinder Pharao in die Verbannung getrieben wurde? Dies würde mit Sophokles’ Version (sie wird von einer Menge anderer Autoren, die von Ödipus’ Verbannung berichten, bestätigt) übereinstimmen und auch der ursprünglichen Fassung der Sage am nächsten kommen. Herodot schreibt in seiner Geschichte Ägyptens, die ja nur ein Teil seines allgemeinen Geschichtswerkes ist, dass in der Reihe der Pharaonen »ein blinder Mann namens Anysis in einer Stadt mit dem gleichen Namen regierte«. Von diesem Mann berichtet Herodot, er sei in die Sümpfe geflohen und von den Äthiopiern, die ins Land eindrangen, abgesetzt worden. Nach fünfzig Jahren wurde der blinde König wieder von seinem Verbannungsort im Sumpfland auf den Thron zurückgerufen. Tutanchamûn wird auf einer Malerei in seinem Grabe dargestellt, wie er gegen die Äthiopier kämpft. Demnach ist es eine historische Tatsache, dass zurzeit der Erben Echnatons ein Krieg gegen die Äthiopier geführt wurde. Eine andere wichtige von Herodot bewahrte Einzelheit ist, dass der Name des blinden

Pharaos, welcher in die Verbannung ging, und der Name seiner Stadt die gleichen waren. König Echnaton gab seiner Hauptstadt einen Namen, der seinem eigenen so ähnlich war, dass selbst ein moderner Assyriologe schrieb: »Eine neue Stadt, die des Königs Namen erhielt, wurde erbaut1.« Die Silben Achet und Echn sind Ableitungen aus der gleichen Wurzel, und Aton (Aten) kommt sowohl im Namen des Königs, als auch in dem seiner Hauptstadt vor. Herodot gab die Namen Echnaton und Achet-Aton als Anysis wieder, was noch eine der besseren Transkriptionen ägyptischer Namen durch griechische Schriftsteller darstellt. Die genaue Lesung des Namens ist immer noch eine Sache der Vermutung, beispielsweise las Maspero den Namen des Königs als Khuniatonu. In einer altgriechischen Version der Sage war der Verbannungsort des Ödipus eine Düneninsel2; als solche unterscheidet sie sich nicht allzu sehr von dem Sumpfland, wohin der blinde Pharao vertrieben wurde. Herodot besuchte Ägypten in den Jahren zwischen 450 und 440 vor unserer Zeitrechnung. Er erhielt seine Auskünfte von Priestern, die neben ihrem Tempeldienst noch den Beruf von Schreibern und Fremdenführern ausübten. Herodot hat man oft vorgeworfen, er habe höchst unzuverlässig berichtet, es gab aber auch Stimmen, die zu seinen Gunsten sprachen3. Mein Versuch in Zeitalter im Chaos, die richtige chronologische Ordnung der Jahrhunderte und Dynastien ausfindig zu machen, rechtfertigt den »Vater der Geschichte« in vielen Punkten. Der König Anysis des Herodot hatte den Thron Ägyptens etwa gegen Ende jener Dynastie inne, die als Achtzehnte bekannt ist- er war blind und ging in die Verbannung, und das sind auch die Hauptereignisse im Leben des Ödipus, Königs von Theben. 1 2 3

R. W. Rogers, »Cuneiform Parallels to the Old Testament«, S. 257. Bethe, »Thebanische Heldenlieder«, S. 157. W. Spiegelberg, »The Credibility of Herodotus’ Account of Egypt in the Light of the Egyptian Monuments« (1927).

Gibt es irgendeinen zeitgenössischen Beweis dafür, dass Echnaton erblindete? »Ein Mann sieht zwar die Tatsache, doch die beiden Augen des Königs meines Herrn sehen nicht …« Diese Worte wurden an Echnaton im Brief eines Vasallenfürsten in Palästina geschrieben4. Sie müssen zwar nicht unbedingt auf ein körperliches Gebrechen hindeuten, erwiesen sich aber in. diesem Falle als prophetisch. In der von Echnaton verfassten Hymne zum Preise Atons und der sich täglich wiederholenden Wunder des Tagesanbruchs und der Verwandlung der Welt und alles dessen was sie erfüllt, wenn es Nacht wird, drückt sich eine überströmende Freude über die Gabe des Sehens und eine tiefe Dankbarkeit für das Geschenk des Augenlichtes aus: »Augen sehen Schönheit bis du untergehst …« Nachdem Echnaton abgesetzt und das Königreich kurz darnach zum Amonglauben zurückgekehrt war, wurde das Volk auf gerufen, zum Gott Amon, der seine frühere Macht wiedererlangt hatte, zu beten, Echnaton aber, den gestern noch geliebten Helden und heute verhassten Abtrünnigen, zu verachten und zu verspotten. Schüler schrieben auf billigen Tonscherben einen Hymnus ab, der während der Regierung Tutanchamûns und Ejes verfasst und auf gezeichnet wurde: Seine Sonne, die dich kannte, ist nicht untergegangen, o Amon Aber er, der dich kennt, er scheinet. Sein Vorhof, der dich angriff, liegt im Dunkeln Während die ganze Erde im Sonnenlicht liegt. Wer auch immer dich in sein Herz nimmt, o Amon Siehe, seine Sonne ist aufgegangen5.

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El-Amarna-Tafel 288. A. Erman, »The Literature of the Ancient Egyptians« (1927), S. 509310.

Der deutsche Ägyptologe A. Erman übersetzte diese Hymne und suchte nach einem Sinn für das Wort weba, das in der Hieroglyphenschrift mit dem Zeichen eines Auges geschrieben wird; da er aber nicht mit dem Gedanken vertraut sein konnte, dass Echnaton erblindete, übersetzte er es in der üblichen Weise mit »Vorhof« und erklärte dazu: »Bauten des Ketzers, insbesondere El-Amarna.« Alle Welt liegt im Licht der Sonne, aber die Welt eines einzigen Mannes ist dunkel: das ist die Bedeutung des Satzes, und gemeint ist hier »Sehvermögen«, weil die Hieroglyphe mit einem menschlichen Auge verwendet wird. Der erfahrene Ägyptologe Dr. Walter Federn gab mir die obige Antwort auf meine Frage, ob sich in der zeitgenössischen Literatur über Echnaton ein Hinweis darauf fände, dass er erblindet sei, und fügte hinzu: »Darüber hinaus ist ›weba maa‹, was Grapow in seinem Werk über die Medizin im alten Ägypten6 mit ›öffnen (weba) das Sehvermögen (maa)‹ übersetzt, der spezifische Ausdruck der ägyptischen Ärzte für die Behandlung von Augenleiden. So auch Lefebvre in seinem Essai sur la médicine égyptienne de l’époque pharaonique (1956), S. 87: ›Toute une série de remèdes sont encore indiqués pour ›ouvrir la vue‹ [weba maa], ou simplement ›améliorer la vue‹-.‹ Ebbell drückt sich in seiner Übersetzung des Papyrus Ebers (1939) ein wenig farblos aus, wenn er sagt: ›Verbessern der Sicht‹.« Echnaton erblindete. Solange er den Thron innehatte, war er nicht blind, denn sonst hätte er nicht seinen Hymnus über die Schönheit der Schöpfung verfasst und nicht so viele Statuen von sich herstellen lassen; jetzt aber, in Unglück und Schande war er erblindet. Während die gesamte Schöpfung von Freude erfüllt war, musste der Sünder von Achet-Aton sich tastend seinen Weg in der Finsternis suchen. Die Höhe, aus der er stürzte, machte sein Elend umso schmerzlicher und tragischer. Von dem König, der von sich und seinem Gott schrieb, »seit du die Erde gründetest, hast du sie aufgerichtet, [Menschen leben] für 6

Grapow, »Grundriss der Medizin der alten Ägypter«, III (1956), 25.

deinen Sohn, der aus dir selbst hervorging, den König, der in der Wahrheit lebt«, heißt es nun, er sei im Dunkel, »während die ganze Erde im Licht der Sonne liegt«. »Wie deiner Mutter, deines Vaters Fluch, als schwere Doppelgeißel dich verjagt, vom hellen Licht ins Reich der finstren Nacht … Der Sehende wird blind …« so sprach der blinde Seher zum König: wie er selbst, so wird des Königs »Bettelstab ertasten sich den Weg durchs fremde Land7.« Würde die Annahme, Echnaton habe sich mit eigener Hand geblendet, als allzu hoher Flug dichterischer Phantasie bezeichnet werden? Es ist möglich, dass sich die Erblindung als Teil des Syndroms oder im Zusammenwirken der Symptome seiner körperlichen Missbildung entwickelt hat. Sie könnte auch als Strafe, ja sogar als selbst zugefügte Strafe für seine Schandtaten betrachtet werden. Bei seiner hochgradigen neurotischen Veranlagung könnte ihn jedoch auch ein schweres Leid zur Selbstverstümmelung getrieben haben. Beim Bau von Achet-Aton legte Echnaton das Gelübde ab, bis zum Ende seiner Tage in dieser Stadt zu leben. Er ließ auch auf einer Grenzstele seinen letzten Willen aufzeichnen und bat die Bewohner der Stadt, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie sollten seinen und Nofretetes Körper wie auch den seiner ältesten Tochter Meritaton nach ihrem Tode im Königsgrab seiner Hauptstadt beisetzen, das abseits von den Gräbern der Edlen an einer vier Meilen entfernt liegenden Stelle in der Wüste in den Fels gehauen war. Die Art und Weise, wie es von europäischen Archäologen in Diensten der ägyptischen Regierung während des letzten Jahrhunderts einer Durchsicht unterzogen wurde, ist kein rühmliches Kapitel archäologischer Arbeit. Nur ein kurzer Bericht wurde veröffentlicht, »eine summarische Beschreibung der ebenso summarischen Bestandsaufnahme8.« 7 8

Sophokles, »Oidipus Rex«, deutsche Fassung von Ernst Buschor. Bouriant u. a., »Monuments du culte d’Atonou«, I (1905). Weitere

Bilder in einer der Grabkammern zeigen Darstellungen der um den Tod der jung verstorbenen zweiten Tochter, Meketaton, trauernden königlichen Familie. Meketaton ist in der Tat die einzige Person, von der man weiß, dass sie in AchetAton beigesetzt wurde; weder im Königsgrab noch in den Gräbern der Edlen, gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass in einem von ihnen sterbliche Überreste beigesetzt worden wären. »Es wurden Teile von Echnatons prächtiger, aus Alabaster gefertigter Kanopen-Truhe gefunden, auf der an den Ecken schützende Geier angebracht waren; weiter fanden sich Stücke von den Deckeln, die mit dem Kopf des Königs verziert waren. Der Zustand der Truhe beweist, dass sie niemals benützt worden ist, denn es fehlen die schwarzen harzigen Flecken, wie sie in denen von Amenophis II. und Tutanchamûn zu sehen sind9.« Echnatons große Sehnsucht, in dem geheiligten Stück Erde zu ruhen, das er für sich ausgewählt hatte, erfüllte sich nie. Eines Morgens, als sich die Sonnenscheibe über den Horizont erhob, beschien sie einen Mann, der gestern noch König war, heute aber ins Exil wandern musste. Es ist des Erwähnens wert, dass die selbstverherrlichende Hymne Echnatons auf den Wänden des für Eje in Achet-Aton her gerichteten Grabes gefunden wurde. Einige Historiker schrieben sogar Eje die Urheberschaft dieses Hymnus zu, denn er war damals ein ergebener Anhänger des später von ihm bekämpften Echnaton. Auch Kreon war zunächst eifrig bemüht, Ödipus auf die höchsten Höhen zu erheben, um dann später, als dieser Augenlicht und Krone verloren hatte, seinen Sturz herbeizuführen.

9

Bände wurden nicht veröffentlicht. J. D. S. Pendlebury, »Report on the Clearance of the Royal Tomb at El-Amarna«, in: Annales du Service des Antiquités de l’Egypte, XXXI (1931), 124.

In den Listen der Pharaonen, die von ihren Nachfolgern zusammengestellt wurden, sind Echnaton und seine Erben ausgelassen, als ob seine Regierung, seine Persönlichkeit und Nachkommenschaft so verbrecherisch gewesen wäre, dass sie nicht einmal schriftlich erwähnt werden durften. Wo unbedingt auf Echnaton Bezug genommen werden musste, wurden an Stelle seines Namens die Worte »der Verbrecher von Achet-Aton« eingesetzt. Im Ägyptischen hat diese Bezeichnung den Beigeschmack moralischer Verderbtheit und Sündhaftigkeit10. Auch Ödipus wurde zuerst verehrt und später durch die Bürger seiner Stadt als Sünder gebrandmarkt, obgleich nach der griechischen Fassung der Tragödie der König die Sünde in Unkenntnis beging. Achet-Aton fand ein plötzliches Ende. Semenchkaré siedelte nach Theben über, die Häuser wurden verlassen und ihre Bewohner fuhren auf dem Strom oder über Land nach Theben oder wohin sie sonst wollten. Noch nicht fertiggestellte Bauten wurden in dem Zustand belassen, in dem sie sich gerade befanden. Bei einem Haus, das schon soweit vollendet war, sodass nur noch ein Steinblock über dem Eingang hätte eingesetzt werden müssen, wurde der Steinblock daneben liegengelassen und die Bauleute entfernten sich. Es war ein übereilter Auszug und die leeren Häuser überließ man dem Zerfall. Wie wir schon gesagt haben, wurden in keinem der Gräber der Edlen Zeichen einer Benutzung gefunden. Wenn irgendeines der Gräber für eine Bestattung verwendet worden war, so wurden die Toten bei der Flucht der Bevölkerung nach anderen Orten verbracht. Nicht einmal ein Friedhof für die einfachen 10

In den großen Königslisten auf den Monumenten, welche die Namen aller früheren Könige von Ägypten verzeichnen, erscheint niemals der Name Echnaton; wenn er aber doch unter späteren Pharaonen in einem Staatsdokument erwähnt werden musste, wurde er »der Verbrecher von Achet-Aton« genannt. J. H. Breasted, »The Dawn of Conscience« (1955), S. 567.

Leute war zu finden. »Und das größte Geheimnis: Wo ist der Friedhof11?« Alle dort Begrabenen, so gering ihre Zahl auch gewesen sein mag, weil der Stadt nur eine so kurze Lebenszeit vergönnt war, wurden durch die Behörden von dem unheiligen Boden Achet-Atons entfernt. Nach einiger Zeit kamen Abbrucharbeiter und führten den Befehl aus, den Tempel, den Echnaton erbaut hatte, abzureißen; sie zerschlugen ihn in kleinste Teile. In gleicher Weise wurden noch andere öffentliche Gebäude zerstört; keines von ihnen hatte bei der Ausgrabung Mauern, die mehr als zwei oder drei Fuß über die Fundamente hinausragten. So wurde die Hauptstadt, erbaut für die Ewigkeit und solange die Sonne über der Erde leuchtet, nach einer Geschichte von weniger als fünfzehn Jahren zur geisterhaften Ruinenstadt, die selbst von den Toten verlassen war. Dann deckte der wehende Sand die Trümmer zu.

11

Pendlebury, »Tell el-Amarna«, S. 166.

Zweiter Teil

»Ein grausiger, schmachvoller Anblick« Im Jahre 1907 stand Theodore M. Davis »nach erschöpfender Durchforschung der rundum gelegenen Stätten« im Tal der Könige bei Theben am Nil vor einer kleinen Fläche, »auf der sich kein Anzeichen für das mögliche Vorhandensein eines Grabes entdecken ließ«. Davis war ein Amerikaner aus Rhode Island, ein Geschäftsmann, der sich auf einer Reise nach Ägypten für die Suche nach unentdeckten Gräbern in diesem Tal begeisterte und von der Regierung auch die erforderliche Konzession für Ausgrabungen erhielt. Bis 1907 hatte er bereits eine Reihe von Königsgräbern durchforscht; er fand sie zumeist leer, weil sie durch frühere unlizenzierte Ausgräber oder Grabräuber schon in alter Zeit ausgeräumt waren. Er seinerseits hatte aber auch das unberührte und unversehrte Grab von Juja und Tuja, den Eltern der Königin Teje, geöffnet. Die kleine Fläche, vor der er nun stand, war mit Kalksteinsplittern, wahrscheinlich dem Abraum der danebenliegenden Gräber von Sethos I., Ramses I., II., III. und IX., bedeckt. »Es schien eine Ausgrabung ohne Hoffnung auf Erfolg zu werden, bei der nur Verluste an Zeit und Geld entstehen konnten. Nichtsdestoweniger musste alles abgeräumt werden, was auch immer dabei herauskam.« Im Verlauf einiger Tage fanden Davis und seine Mitarbeiter nichts als zerbröckelte Steine. »Nach einigen 30 Fuß fanden wir in der Tiefe steinerne Stufen, die offenbar zu einem Grab führten.« Die Stufen wurden beim Hinuntersteigen freigelegt, und dann entdeckte Davis einen Türsturz. »Sie [die Tür] war durch große und kleine Steine versperrt worden … Bald war die Tür freigelegt, sodass wir eintreten konnten und entdeckten, dass noch einige Fuß weit der Eingang des Grabes bis auf etwa 4 Fuß unterhalb der Decke mit Steinen angefüllt war.« Auf diesem Steinhaufen lagen, so wie man sie hingeworfen hatte, zwei hölzerne Türen mit kupfernen Angeln. »Die nach oben liegenden Seiten der Türen waren mit Goldfolie

überzogen, auf der Name und Titel der Königin Teje standen. Es ist ganz unmöglich, unsere Überraschung und Freude zu beschreiben, als wir das in 3000 Jahren nicht entdeckte Grab der großen Königin und ihrer Hausgötter fanden1.« Davis kroch über den Steinhaufen durch den engen Zwischenraum unterhalb der Decke des Ganges und kam etwa zwanzig Meter vom Eingang des Grabes zu einer roh in den Fels gehauenen Kammer. Die Gegenstände, die man in der Höhle fand, lagen in größter Unordnung umher. Das erste, was Davis’ Aufmerksamkeit erregte, wahrscheinlich, weil das eindringende Licht darauf fiel, waren vier Kanopenkrüge. Solche Gefäße wurden in Ägypten zur Aufbewahrung der Eingeweide und anderer innerer Organe der Verstorbenen verwendet, deren Körper einbalsamiert wurden. Die Krüge in diesem Grab waren aus Alabaster und ausgezeichnet verarbeitet. Alle Deckel zeigten die gleiche Schnitzerei: einen prachtvoll ausgeführten Kopf mit offenen Augen, deren Iris und Pupillen mit dunklem Stein eingelegt waren. Auf den Krügen war der Name ihres Eigentümers eingraviert gewesen, aber alle Inschriften waren sorgfältig ausgemeißelt worden und die Namen nicht mehr lesbar. Im Inneren der Krüge befanden sich Gewebestücke, einst mit Bitumen getränkt, doch keinerlei Reste von Eingeweiden, die gänzlich vermodert waren. Auf dem Boden lagen weitere goldbeschlagene »Türen« mit dem Namen der Königin Teje. Man kam, wenn auch nicht sofort, darauf, dass diese »Türen« nur die Seitenteile des Katafalks waren, der den Sarg umschlossen hatte. Auf einem der teilweise mit Schutt bedeckten Bretter auf dem Boden befand sich die in die Goldfolie eingravierte Figur der Königin: sie war in einem dünnen, durchsichtigen Oberkleid dargestellt, welches alle Konturen ihres Körpers sehen ließ; vor ihr und in die gleiche Richtung schauend stand Echnaton, aber seine Gestalt war aus der Goldfolie roh herausgehackt. 1

Davis, »The Tomb of Queen Tiyi«.

Auch der Sarg wurde dort aufgefunden. »In der Nähe lag auf dem Boden der hölzerne, ganz mit Goldfolie überzogene und mit Halbedelsteinen eingelegte Sarg … Offenbar hatte man ihn aus einiger Höhe fallen lassen oder er war von selbst heruntergefallen, denn er war an der Seite aufgeplatzt, sodass man Kopf und Hals der Mumie sah. Auf dem Haupte erschien deutlich sichtbar eine goldene Krone, wie sie zweifellos eine Königin, wenn es sich um eine solche handeln sollte, in ihrem Leben getragen haben würde. Wir befreiten die Mumie sofort aus dem Sarg und stellten fest: es war eine ziemlich kleine Person mit wohlgebildetem Kopf und zierlichen Händen. Der Mund war leicht geöffnet und ließ oben und unten eine vollständige Zahnreihe sehen. Der Körper war in Mumien – binden aus feinem Gewebe eingehüllt, doch war das ganze den Körper bedeckende Tuch von sehr dunkler Farbe. Eigentlich hätte es viel heller sein müssen; mir kam der Verdacht, dass die deutlich bemerkbare Feuchtigkeit bereits Schaden angerichtet hatte und ich berührte vorsichtig einen der Vorderzähne, der bedauerlicherweise sofort zu Staub zerfiel, woraus sich ergab, dass die Mumie nicht konserviert werden konnte. Wir legten die Mumie dann vollständig frei und fanden, dass sie von den gefalteten Händen bis zu den Füßen mit dünnen Platten aus reinem Gold, Goldfolien genannt, bedeckt war, aber doch fast alle so stark, dass sie sich, wenn man sie in die Hand nahm, auf stellen ließen, ohne sich zu verbiegen. Die Goldplättchen bedeckten den Körper von einer Seite zur anderen.« Das Vorhandensein von Edelsteinen und Goldfolie auf dem Katafalk, dem Sarg und der Mumie zeigte deutlich, dass in dem Grab niemals Grabräuber gewesen waren. Dennoch befand sich die Grabstätte in großer Unordnung, ein Zustand, in welchem die mit der Grablegung Beauftragten diese niemals verlassen haben würden. Aber auch die Wahl dieses Begräbnisortes für eine große Königin hatte etwas Rätselhaftes an sich. Manche Diener der Königin Teje hatten als königliches Geschenk Gräber von unvergleichlich besserer Ausführung erhalten als dieses, das für sie selbst hergerichtet worden war. Die

Gräber der Diener waren nach einem architektonischen Plan gebaut, ihre Wände mit, schönen Reliefs verziert. Das Grab der Königin Teje aber bestand aus einer grob ausgehauenen modrigen Höhlung im Felsen, ohne jeglichen Bildschmuck, ihr vorherrschender Eindruck war trostlos. Die offenkundige Eile, mit, der der Leichnam der Königin begraben worden war, das Fehlen von Vorsichtsmaßnahmen, sodass der Sarg herabfallen und zerbrechen konnte, sofern er nicht gar absichtlich hinuntergestürzt worden war, die Unordnung in dem Grab, alles das verlangte nach einer Erklärung. Da kein Dieb in die Grabstätte eingedrungen war, musste es ein heimliches und von ungeübten Händen ausgeführtes Begräbnis gewesen sein; dennoch blieb die Frage, weshalb der Katafalk zerbrochen und Teile davon auf die Steinhaufen im vorderen Gang gelegt worden waren. Auch die Ausmeißelungen des Namens des Dahingeschiedenen auf den Kanopenkrügen erleichterte keineswegs die Lösung des Problems. »Wir nahmen dann der Mumie die goldene Krone vom Kopf und versuchten die Stoffstreifen, mit denen der Körper umhüllt war, abzulösen, aber in dem Augenblick, als ich ein Stück der Umhüllung in die Höhe heben wollte, zerfiel es zu einer schwarzen Masse, wobei die Rippen freigelegt wurden. Dann fanden wir einen schönen Halsschmuck, der jetzt im Museum in Kairo ausgestellt ist. Er war um den Hals gelegt und ruhte unter den Mumienbinden auf der Brust.« Die Umhüllung der Mumie wurde dann ganz entfernt, sodass man die Gebeine sah. »Daraufhin beschloss ich, sie von zwei Chirurgen, die sich zufällig im Tal der Könige aufhielten, untersuchen und einen Bericht darüber anfertigen zu lassen. Entgegenkommenderweise nahmen sie die Untersuchung vor und gaben an, dass das Becken offenkundig das einer Frau sei. Jeder, der an der Frage interessiert war, akzeptierte daraufhin diese Geschlechtsbestimmung und es wurde angenommen, dass der Leichnam zweifelsfrei der der Königin Teje war2.« 2

Ebenda, S. 3.

Kurz darnach wurden die Gebeine an Dr. G. Elliot Smith, der Professor der Anatomie war und die königlichen Mumien und Gebeine aus den meisten Gräbern im Tale der Könige bei Theben untersucht hatte, gesandt. »Leider«, schrieb Davis, »erklärte Professor Smith, dass die Mumie männlichen Geschlechts gewesen sei. Es ist aber nur gerecht festzulegen, dass die Chirurgen durch das abnormale Becken und die besonderen Umstände der Untersuchung getäuscht worden waren.« Der berühmte Ägyptologe, Professor Maspero, der in seiner Stellung als Direktor der Altertümerverwaltung in Kairo die Oberaufsicht über alle Altertümer in Ägypten führte, arbeitete mit Davis zusammen an der Untersuchung des Falles. Er prüfte den Goldbeschlag des Katafalks und des Sarges, sowie die in das Gold geprägten Inschriften. Der Katafalk war zweifellos der der Königin. Ihr Name war in den Goldbeschlag der zerbrochenen Seitenteile und des Deckels des Katafalks eingraviert. Wie auf den Wänden von Hujas Grab in Achet-Aton, wurde sie auch hier des »Königs Mutter und die Große Gattin des Königs« genannt. Der Sarg aber schien derjenige Echnatons zu sein. In die Goldfolie, welche den Körper bedeckte, waren Hieroglyphen vielfarbig eingelegt. Der Name des Königs war ausgekratzt, aber die königlichen Titel, insbesondere die Worte »Der in der Wahrheit lebt«, die Echnaton regelmäßig vor seine Kartuschen setzte, waren intakt geblieben. Das Innere des Sarges war ebenfalls mit Gold ausgelegt. Über die Mitte des Sarges und seinen Deckel lief eine einzelne in das Holz geschnittene Kolumne von Hieroglyphen; Goldfolie war über sie gepresst worden, um ihren Abdruck aufzunehmen. »Die Kartuschen des Königs sind überall zerstört worden, aber das Epitheton ›Der in der Wahrheit lebt‹ ist nur Khuniatonu [Echnaton] eigentümlich«, schrieb Maspero. Auch die Hieroglyphenreihe auf der Goldfolie, mit welcher die Mumie bedeckt war, enthielt diesen Beinamen. Vor dem Ägyptologen lag nun die Arbeit eines Detektivs, der es mit einer Vielzahl verwirrender Spuren zu tun hat. Maspero stellte es so dar:

»Vor allem muss klargestellt werden, dass die von Davis entdeckte Gruft kein eigentliches Grab ist. Vielmehr handelt es sich um eine aus dem Fels grob herausgehauene Höhle, die als geheimer Begräbnisplatz für ein Mitglied der Familie der sogenannten Ketzerkönige benutzt wurde, als die Reaktion zugunsten Amons den Sieg davontrug. Die Überführung der Mumie aus ihrem ursprünglichen Grab in Theben oder El-Amarna war im Voraus geplant und wurde vorgenommen, um sie vor der Wut der siegreichen Sektierer zu retten.« Maspero meinte, dass entweder Tutanchamûn oder Eje auf dieses heimliche Begräbnis verfielen und es durchführen ließen – nur von diesen beiden Pharaonen »konnte angenommen werden, dass freundliche Gefühle für Echnaton sie dazu veranlassten …« Wer auch immer mit dem Toten Mitleid empfand und die Mumie begraben ließ, »es gelang ihm, dies heimlich zu tun, was sich aus der Tatsache ergibt, dass, während die Gräber der Könige entweiht und vollständig ausgeraubt wurden, diese Grabstelle mit ihren Goldschätzen verborgen und unberührt blieb bis Davis sie öffnete3.« Genau wie ein Beamter von Scotland Yard erstattete Maspero Bericht über den Fall einer Leiche, die nicht in ihrem eigenen Grab lag: »Die ganze Einrichtung war noch darin [im Grab] vorhanden, um Zeugnis von Namen und Rang seines Eigentümers abzulegen. Bei näherer Untersuchung erwies sich jedoch ihre Aussage als unklar und widersprüchlich. Die kleinen Gegenstände, soweit sie Inschriften trugen, enthielten den Namen Amenophis’ III. und seiner Gattin Teje, wodurch bewiesen ist, dass die ganze Ansammlung von kleinen Töpfen, Büchsen, Geräten und fiktiven Opfer gaben aus emailliertem Stein oder glasierter Keramik Eigentum der Königin waren. Der große Katafalk, in dem der Leichnam am Begräbnistag zum Ort seiner letzten Ruhe getragen wurde, gehörte ebenfalls der Königin und seine Inschriften besagen, dass König Khuniatonu [Echnaton] 3

Ebenda, S. XIII.

›ihn für des Königs Mutter, die Große Gattin des Königs, Teje‹ gemacht habe. So weit, so gut und vernünftigerweise erschien kein Zweifel mehr möglich, dass dies das Grab Tejes war. Als wir aber darangingen, den mosaikgeschmückten Sarg und die Goldbleche, in welche die Mumie eingehüllt war, zu untersuchen, fanden wir durch die Texte bestätigt, dass dies die Mumie keines anderen als Khuniatonus [Echnatons] sei.« Maspero fuhr fort: »Wie sollten wir nun angesichts dieser Tatsachen die Dinge in Einklang bringen und die Anwesenheit von Echnatons Leichnam mitten unter Gegenständen, die Teje gehörten, hinreichend erklären? Diese paradoxe Kombination kann entweder absichtlich vorgenommen worden sein, oder sie war das Ergebnis eines Irrtums seitens der Personen, welche die Umbettung durchführten.« Im ersteren Falle müsste angenommen werden, dass »die Leute, welche den Leichnam versteckten, das Volk glauben machen wollten, es sei Tejes Körper, den sie begruben, wodurch verhindert werden sollte, dass der Leiche des Königs durch fanatische Anhänger Amons Schaden zugefügt würde«. Deshalb wurden der Katafalk Tejes und die ihr gehörenden kleinen Gegenstände benutzt. »Ich muss zugeben, dass ich diese Erklärung als zu weit hergeholt ansehe, um bestehen zu können«, räumte Maspero ein. »Die zweite Annahme scheint mir der Wahrheit näherzukommen: die Mumien der verstorbenen Mitglieder der Familie Khuniatonus müssen allesamt aus ihren Gräbern herausgenommen und nach Theben überführt worden sein …, nachdem sie einmal dort waren, müssen sie unauffällig für ein paar Tage in einer abgelegenen Kapelle der Nekropole aufbewahrt worden sein … Als dann die Zeit kam, zu der jede einzelne in das für sie im Bibân el-Mulûk [Tal der Könige] vorbereitete Versteck gebracht werden sollte, verwechselten die Männer, die mit diesen geheimen Bestattungen betraut waren, die Särge, und legten den Sohn dahin, wo die Mutter hingehört hätte.« Maspero zog daraus den Schluss, dass Echnatons Mumie versehentlich in die für seine Mutter Teje vorbereitete Gruft gebracht wurde.

Dieser Vorschlag zur Lösung überging jedoch einen wichtigen, Maspero an sich bekannten Punkt, denn er schrieb: »Dr. Elliot Smith, der den Schädel eingehend untersuchte, stellte fest, es sei der Schädel eines etwa 25 oder 26 Jahre alten Mannes. Ob er in Bezug auf das Alter recht hatte oder nicht, ist eine Frage, die nur ein Anatom entscheiden kann. Es liegen jedoch Beweise vor, dass der in dem Gewölbe von Davis entdeckte Körper der eines Mannes ist, und dass dieser Mann Khuniatonu war, wenn wir dem Zeugnis der Inschriften glauben müssen4.« Echnaton konnte nun bei seinem Tode nicht mehr so jung gewesen sein. Er regierte mindestens 16 Jahre, und war bei seinem Regierungsantritt schon erwachsen. Zusammen mit Davis’ Bericht wurde eine Anmerkung von Professor Elliot Smith, Fellow of the Royal Society, abgedruckt: »A note on the estimate of the age attained by the person whose skeleton was found in the tomb.« Smith schrieb: »Als mir diese Gebeine vor zwei Jahren zur Untersuchung zugesandt wurden, habe ich berichtet, dass es sich um den größeren Teil des Skelettes eines jungen Mannes handle, der nach den europäischen Normen für die Knochenbildung zurzeit seines Todes ein Alter von 25 bis 26 Jahren gehabt haben muss.« Die Archäologen versuchten zu erfahren, ob das Alter des Toten höher gewesen sein könnte. Konnte er etwa 30 Jahre alt gewesen sein? »Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er dreißig Jahre erreicht haben konnte, vorausgesetzt, dass er normal gewesen ist.« Das Skelett war jedoch nicht normal3 der Schädel zeigte »unmissverständlich die Fehlentwicklung, die für einen Wasserkopf (Hydrocephalus) charakteristisch ist.« Die zahlreichen Bilder und Skulpturen von Echnaton und Mitgliedern seiner Familie mit ihren überlangen Köpfen beruhten offenbar auf einer wirklich vorhandenen Missbildung, die für ihn und seine Fami4

Ebenda, S. XIV.

lie kennzeichnend ist. Sie ist an dem Schädel der von Davis gefundenen Mumie deutlich erkennbar. Später betonten andere Anatomen, dass bei einem Hydrocephalus stets der vordere, niemals dagegen der hintere Teil des Schädels vergrößert sei, so wie es bei diesem, Echnaton zugeschriebenen Schädel, der Fall ist; eine derartige Veränderung ist aber nicht mit einer Verzögerung der Knochenbildung verbunden. Davis und Maspero veröffentlichten den Bericht über den Fund – das Grab und seinen Inhalt – unter dem Titel The Tomb of Queen Tiyi, und schrieben den Leichnam im Sarg Echnaton zu. Auf die Frage, weshalb Teje solch dürftiges Grab erhalten habe, während ihre Eltern von einfacher Abkunft in der gleichen Nekropole von Theben in einem reich ausgestatteten Grab beigesetzt worden waren, gab es keine Antwort; ebenso wenig wie auf die Frage, weshalb Echnaton in dem Sarg lag und Tejes Leichnam verschwunden war, und auch nicht darauf, wie es kam, dass Echnaton so jung starb. Arthur Weigall, der das Amt Masperos als Direktor der Verwaltung der Altertümer nach einiger Zeit übernahm, stimmte mit ihm darin überein, dass der Körper im Sarg derjenige Echnatons gewesen sei. Es ist noch nicht erwähnt worden, dass im Schutt des Grabes »Gründungs«-Ziegel mit dem Namen Echnatons gefunden wurden und außerdem Abdrücke des königlichen Siegels von Tutanchamûn. Ein paar Ziegel mit dem eingepressten Zeichen Tutanchamûns fand man zwischen Gegenständen, die Teje gehörten, auf dem Erdboden verstreut. Wenn Echnaton 16 oder 17 Jahre regierte und bei seinem Tode 26 Jahre alt war, müsste er seine Herrschaft im zarten Alter von 10 Jahren angetreten und mit noch nicht 15 Jahren seine religiöse Reform eingeführt und seine Hymne an Aton geschrieben haben, um derentwillen er als »der erste Monotheist« bekannt ist. Einige Gelehrte übernahmen dieses Zeitsystem, schrieben jedoch Teje die Initiative und den aktiven Teil bei der religiösen Reform zu, während sie Eje als Urheber der Hymne vermuteten. Diese Mutmaßungen klingen jedoch sehr gekünstelt.

Bevor wir die für Königin Teje bestimmte trostlose Grabhöhle verlassen, in der der Leichnam eines unbekannten jungen Mannes lag, müssen wir noch einen weiteren Punkt zur Sprache bringen. Es handelt sich um ein Gebet oder ein Liebeslied, das mit einem Stylus in die Goldfolie unter den Füßen der Mumie eingeritzt ist. Im Bericht von Davis-Maspero ist es nicht erwähnt, wurde aber später veröffentlicht und übersetzt. Dieses Lied, Gebet oder Abschiedswort auf der Folie lautet: Ich atme den süßen Hauch ein, der deinem Munde entströmt, Ich betrachte deine Schönheit jeden Tag. Mein Wunsch ist es, deine liebliche Stimme zu hören gleich dem Wehen des Nordwinds. Liebe wird meine Glieder verjüngen, Gib mir deine Hände, die deine Seele halten, Ich werde sie umschließen und durch sie leben. Rufe mich beim Namen, immer, immer, für und für, und niemals wird er erklingen, ohne Antwort zu finden. In diesen schönen Worten drückt sich eine Sehnsucht aus, die auch der Tod nicht bezwingen konnte. Es war das Liebeslied eines noch Lebenden, das dem Toten zum Abschied mitgegeben wurde: nicht auf den Sarg oder auf das Goldblech, das den Körper bedeckte, noch auf die Brustplatte war es geschrieben, sondern es war verborgen unter den Füßen des Toten. Der Name des Verfassers war ausgekratzt. Wenn man diese Zeilen liest, vertiefen sie nur noch das Geheimnis des Grabes und steigern den Wunsch, zu erfahren, wer der Tote in dem königlichen Sarg war und weshalb er darin lag. Aufhellendes Licht kam aus einem anderen Grab, welches jedoch seinerseits mehr als nur ein Geheimnis barg.

»Geehrt nach allen Riten« Kein archäologischer Fund hat jemals so weitverbreitetes Interesse hervorgerufen, wie das Grab Tutanchamûns. Weder die Auffindung Ninives mit der Bibliothek Assurbanipals, noch die Entdeckung Trojas, der Gräber von Mykenä oder des Staatsarchivs in El-Amarna, um nur einige der glänzendsten Erfolge aus der Geschichte der Archäologie zu erwähnen, vermochte die Weltöffentlichkeit in gleicher Weise zu beeindrucken. Keines der bisher in Ägypten geöffneten Gräber enthielt auch nur annähernd solche Reichtümer wie das Tutanchamûns. Berichte auf den Titelseiten der Zeitungen in aller Welt erregten das öffentliche Interesse und stellten alle übrigen Nachrichten in den Schatten. Selbst der Münchner Putsch im Bürgerbräukeller oder das Erdbeben und die Flutwelle, die Tokio und andere japanische Städte verwüstete und Hunderttausenden das Leben kostete, konnten nur für verhältnismäßig kurze Zeit das nachhaltige Interesse an der Entdeckung Howard Carters im Tale der Könige bei Theben ablenken. Während mehrerer Grabungsperioden arbeiteten Carter und seine Leute in dem Tal ohne nennenswerten Erfolg. Die Grabungen wurden von dem reichen Lord Carnarvon finanziert, bei dem sich das Interesse an Altertümern mit dem Abenteuergeist des Reisenden und Sportsmannes verband, sodass die Archäologie zu seiner besonderen Liebhaberei wurde, zumal seine Gesundheit verlangte, dass er sich von den Nebeln seiner englischen Heimat fernhielt. Seit der Entdeckung von Theodore Davis im Jahre 1907 war im Tal der Könige fast kein bedeutender Fund mehr gemacht worden, und 1914 wurde Carnarvon die Konzession für die Ausgrabungen übertragen. Als Sohn des vierten Earls von Carnarvon, der Agamemnon und die Odyssee in englische Verse übertragen hatte, war George begierig, ähnliche Lorbeeren zu ernten wie Schliemann. Schon als Kind muss er durch seinen Vater viel über Schliemann und dessen Entde-

ckung Trojas und des Agamemnon-Grabes gehört haben. Mehrere Arbeitsperioden brachten jedoch Carter und Carnarvon nichts weiter als ganze Berge umgegrabener Erd- und Steinmassen – es sollen zweihunderttausend Tonnen gewesen sein –, weshalb sie beschlossen, nur noch eine letzte Periode auf der dreieckigen Parzelle, auf der sie ihre ganze bisherige Arbeit verrichtet hatten, auszuharren, tun dann in ein anderes Gebiet, vielleicht außerhalb des Tales, aufzubrechen. Im November 1922 entdeckte Carter unter ein paar Arbeiterhütten aus der XX. Dynastie Stufen, die in die Tiefe führten, und weiter eine versiegelte Tür. Eines der Siegel war dasjenige Tutanchamûns, das andere stammte von den Priestern der Nekropole. Carter nahm an, dass zu irgendeiner Zeit vor der XX. Dynastie Grabräuber eingedrungen waren und dass daraufhin die Tür von den Behörden, denen die Verwaltung der Nekropole oblag, neu versiegelt wurde. Die in einem Gang zum Schutz von Grabschändern auf gehäuften Steine wurden weggeräumt; eine Schicht von Steinen in einer anderen Farbe ließ erkennen, wo die ungebetenen Gäste sich ihren Weg ins Innere gebahnt hatten. Eine weitere versiegelte Tür, ebenfalls mit den Originalsiegeln Tutanchamûns und denen der Priester, kam zum Vorschein. Durch ein Loch, das Carter in die Tür bohrte, leuchtete er mit seiner Taschenlampe in den dahinterliegenden Raum. Was sich nun im Schein der Lampe den Augen darbot, war mehr als alles, was der Dichter von Tausendundeiner Nacht erfunden hatte und weit mehr als das, was Archäologen an Schätzen je entdeckt hatten. »Sicher hatte man nie vorher in der ganzen Geschichte der Ausgrabungen so Wunderbares geschaut, wie es uns jetzt das Licht unserer Lampe enthüllte1.« Ein goldener Thron, goldene Ruhebetten, ein goldener Wagen, Schreine, Gefäße, Statuen – eine unvorstellbare Anhäufung von Schätzen 1

Carter and Mace, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, I (1923), 98. (Deutsche Fassung: »Tut-ench-Amun, Ein ägyptisches Königsgrab.« Leipzig 1924, S. 115.)

füllte den Raum. »Möbelstücke, bisher unübertroffen in ihrer handwerklichen Vollendung und Ausschmückung, Leinen von unerreichter Feinheit und Schönheit des Gewebes; geschnitzte Gefäße aus Alabaster, wie sie die Welt noch nie sah … Was aber war der Sinn dieser verschwenderischen Entfaltung von höchstem Können und Schönheit? Warum war ein solcher Reichtum in den entlegenen Winkel dieser trostlosen Schlucht versteckt worden? Weshalb hatte man die köstlichsten Erzeugnisse künstlerischer und handwerklicher Höchstleistung auf dieser Erde in dieser sonderbaren Nekropole vergraben und den Blicken entzogen2?« Aus dieser Schatzkammer gelangten Carter und Carnarvon durch eine versiegelte Tür in einen anderen Raum, der ebenfalls mit Schätzen angefüllt war. Eine verborgene zweite Tür öffnete sich zur Sargkammer, in der ein Schrein stand, 16 Fuß 6 Zoll lang, 10 Fuß 9 Zoll breit und 9 Fuß hoch, der die Kammer so weit ausfüllte, dass ein Mensch gerade noch Platz fand, um den Schrein zu umschreiten. Er war mit köstlichen Mustern aus leuchtender blauer Fayence imd mit Zauberformeln zum Schutz des toten Königs eingelegt. Als die Türen dieses Schreines geöffnet wurden, sah man in ihm einen zweiten prachtvoll gearbeiteten Goldschrein stehen, und in dem zweiten befand sich ein dritter, herrlich ausgeführter Schrein, ebenfalls aus Gold, das über und über mit Hieroglyphen und feinen Mustern geprägt war3. Das Ausräumen des Vorraums und der Schatzkammer mit all ihren Reichtümern an Gold, Geschmeide, Edelsteinen, Ruhebetten, Thronen, goldenen Wagen, goldenen Truhen und 2

3

G. Elliot Smith, »Tutankhamen and the Discovery of His Tomb« (1923), S. 45. Photographien der verschiedenen Schreine, von allen vier Seiten aufgenommen, dazu ihre Beschreibung, findet man in »The Shrines of Tut-Ankh-Amon«, von A. Piankoff, herausgegeben von N. Rambova, Bollingen Series, XL, Nr. 2 (Pantheon Books, 1955).

herrlichen Geweben nahm Wochen und Monate in Anspruch. Inzwischen starb Lord Carnarvon an Blutvergiftung infolge eines Moskitostiches. Die Öffnung des dritten Schreines durfte er nicht mehr erleben. Carter erwartete, dass in diesem Schrein schließlich der Sarg sein würde, stattdessen fand er aber einen vierten Schrein, »eine noch prachtvollere Arbeit, als die vorhergehenden«. »In höchster Erregung zog ich den Riegel der letzten unversiegelten Türen zurück und da stand, den gesamten Innenraum ausfüllend, ein gewaltiger Sarkophag aus gelbem Quarzit, unberührt, so wie ihn fromme Hände hinterlassen haben.« Gestalten von Göttinnen schützten den Sarkophag mit. Schwingen und ausgebreiteten Armen. Ein Deckel aus rosafarbenem Granit, der mehr als zwölfhundert Pfund wog, bedeckte den Sarkophag, der aus einem einzigen großen Block aus gelbem Quarzit, 8,8 Fuß lang, 4,8 Fuß breit und 4,8 Fuß hoch, herausgehauen worden war. Als der schwere Deckel abgehoben worden war, zeigte sich ein goldenes Abbild des Königs, und dieses schimmerte, als sei es erst am gestrigen Tag fertig geworden. In seinen gekreuzten Armen hielt der König die Insignien seiner Macht. Auf der goldenen Stirn lag ein winziger Kranz aus Blumen, die noch ein wenig von ihrer natürlichen Farbe bewahrt hatten. Unter diesem goldenen, »anthropoiden« Sarg befand sich nun eine zweite goldene Hülle, auf deren Deckel der tote Pharao der Gestalt des Gottes Osiris nachgebildet war. Darunter war ein dritter, sehr schwerer, sechs Fuß langer Sarg aus massivem Gold. Als er geöffnet wurde, kam endlich die Mumie zum Vorschein. Ihr Kopf war bedeckt mit einer »goldenen Porträtmaske Tutanchamûns. Die Mumie war übersät mit Edelsteinen, und all die Schmuckstücke, an denen der knabenhafte König im Leben seine Freude gehabt hatte, durften ihn bei seinem Tod in das Grab begleiten«. An den Füßen trug er goldene Sandalen, und auf jedem Finger und jeder Zehe steckte »eine eigene goldene Hülse. An den Fingern leuchteten goldene Ringe, von denen viele mit Skarabäen geschmückt waren, welche den Namen des Königs trugen. Breite Schmuckrei-

fen zierten seine Arme, und Hals und Brust waren überladen mit geschmackvoll geformten und zurechtgelegten Ketten, Halskragen, Pektoralen, Amuletten, mit Perlen aus Gold, Halbedelsteinen und Fayence«. Jedes einzelne dieser Stücke war »ein hervorragendes Meisterwerk künstlerischer Fertigkeit und gereichte seinem Schöpfer zu hoher Ehre4«. »Das Gesicht war fein und kultiviert, die Züge gut gebildet, besonders die wohlgeformten Lippen5.« Der übrige Körper aber, mit Ausnahme der Füße, war beschädigt, wie verbrannt, weil die Einbalsamierer ein Übermaß an Salböl verwendet hatten. Zwischen den Mumienhüllen wurden mehr als einhundertvierzig Schmuckstücke gefunden. Es dauerte Jahre, bis Carter (er hatte mittlerweile entdeckt, dass es noch eine vierte Kammer gab, die von der Vorhalle des Grabes aus erreichbar war, angefüllt mit Truhen, Standbildern und anderen prächtigen Dingen) sorgfältig alle Schätze fortgeschafft hatte. Erst nachdem er die vier Schreine auseinandergenommen hatte, kam er dazu, den Sarkophag und die drei goldenen Särge zu öffnen, in deren letztem er die Mumie fand. Nach Durchtrennung der Mumienbinden untersuchte Dr. D. E. Derry die Mumie selbst. Der Anatom bestimmte das Alter Tutanchamûns zurzeit seines Todes auf 17 bis 18 Jahre, wobei die letztere Zahl die wahrscheinlichere sei. Dabei fiel ihm die Ähnlichkeit zwischen dem Schädel Tutanchamûns und dem jenes Toten auf, den Davis seinerzeit in »Tejes Grab« gefunden hatte. Tutanchamûn hatte genau die gleiche ungewöhnliche Verdickung der Hinterhauptknochen, die auf den zahlreichen Abbildungen Echnatons stets als für ihn charakteristisch betont ist. Professor Derry kam zu der alarmierenden Schlussfolgerung, dass Tutanchamûn ein Sohn Echnatons sei. Bis dahin hatte man ihn für den Schwiegersohn Echnatons und den Gatten von dessen dritter Tochter mit Nofretete, Anchsenpa’aton, ge4 5

Steindorff and Seele, »When Egypt Ruled the East«, S. 228-232. Carter, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, II, 113.

halten. Wenn er aber ein Sohn Echnatons war, dann war er mit seiner Schwester oder Halbschwester verheiratet. Der Schädel und die Gebeine des Mannes aus dem Grabe der Königin Teje wurden nochmals von Dr. Derry untersucht, der inzwischen als Nachfolger von Elliot Smith den Lehrstuhl für Anatomie an der Universität Kairo übernommen hatte. Die Untersuchung ergab, dass der Mann im Sarg Echnatons aus Tejes Grab bei seinem Tode höchstens 24, wahrscheinlich sogar nur 25 Jahre alt war. Professor Smith ging in seiner Schätzung ebenfalls herunter und schrieb 1930: »Das archäologische Beweismaterial schien keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Gebeine tatsächlich die des Ketzerkönigs waren. Nun entstand aber eine Schwierigkeit aus der Überlegung, dass der anatomische Befund auf ein Alter von etwa 23 Jahren hinzudeuten schien …6.« Sein Einwand, dass im Falle des Bestehens eines Hydrocephalus (Wasserkopf) in der Wachstumsentwicklung der Knochenenden eine gewisse Verzögerung eintreten konnte und dass der Tote in diesem Fall etwas älter gewesen wäre, wurde von Dr. Derry abgelehnt, dem der vollkommene Nachweis gelang, dass die Veränderung an den Schädelknochen der Mumie nicht durch Hydrocephalus verursacht worden war. Dr. Derry legte das Problem dem Ägyptologen Dr. Engelbach vor, damit dieser die gesamte Beweisführung überprüfen und herausfinden sollte, wessen Leichnam in dem königlichen Sarg in der verborgenen Höhle gelegen habe. Dr. Engelbach konnte den Auftrag mit Erfolg durchführen. Er bewies, dass es sich bei der mysteriösen Mumie um Semenchkaré handle. Somit waren Teje, Echnaton und Tutanchamûn ausgeschaltet. Die Bezeichnung »Der in der Wahrheit lebt«, die vor den ausgekratzten Kartuschen auf dem Sarg, in dem der Körper gefunden wurde, unbeschädigt blieb, war Echnaton zuzuordnen; der auf der Goldfolie, die den Körper der Mumie bedeckte, wiederholt gefundene 6

G. Elliot Smith, Einleitung zu: »The Papyrus Ebers«, übersetzt aus der deutschen Fassung von G. P. Bryan (1950), S. XXX.

Ausdruck »Geliebt von Echnaton« solle den Körper nicht als den des Ketzerkönigs identifizieren, sondern als den eines von Echnaton geliebten Menschen, und dieser auch an anderen Stellen gefundene Ausdruck beziehe sich immer auf Semenchkaré7. Von den Fachgelehrten wurde diese Lösung allgemein anerkannt. Der Alabasterkrug mit dem geschnitzten Kopf auf dem Deckel, eines der wertvollsten Besitztümer des Metropolitan Museum of Art in New York und ein Geschenk von Davis – er fand bekanntlich vier solcher Krüge im Grabe Tejes, die drei anderen sind jetzt in Kairo –, wurde dementsprechend auch als Semenchkaré gehörend anerkannt. Der Kopf, den ein Schildchen identifizierte, auf dem zuerst »Königin Teje« und dann »König Echnaton« stand, erhielt nun ein neues mit der Inschrift »Semenchkaré aus der XVIII. Dynastie«. Professor Derry stellte durch Vergleich der Skelette Tutanchamûns und Semenchkarés fest, dass sie Brüder, also beide Söhne Echnatons waren. In seinem Bericht über Tutanchamûns Grab spricht Carter davon, dass Derry zwischen Echnaton und Semenchkaré die VaterSohn-Beziehung festgestellt habe8. Dass Semenchkaré und Tutanchamûn Brüder waren, lässt nun aber das Problem der Thronfolge nach Echnaton in neuem Licht erscheinen. Als Echnaton aufhörte zu regieren, kam Semenchkaré für kurze Zeit auf den Thron. Die letzte für ihn bekannte Datierung lautet »drittes Jahr«, es wird aber angenommen, dass dabei die Zeit mitgerechnet ist, während der er zusammen mit seinem Vater regierte, sodass seine Alleinherrschaft kaum mehr als ein Jahr gedauert haben kann9. Nach dieser kurzen Zeit verlor er den Thron an seinen Bruder unter Umständen, die für einen Streit um die Herrschaft sprechen. Carter schrieb in seinem Bericht: 7

8 9

Richtiger: »Geliebt von Nefer-cheperu-Ré Wa-en-Ré«, Echnatons Thronname. »Annales du Service«, XXXI (1931), 105. Carter, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, III, 18. G. Roeder, »Thronfolger und König Smench-ka-re«, Zeitschrift für Aegyptische Sprache, LXXXIII (1958), Heft I, 45.

»Es ist durchaus möglich, dass er [Semenchkaré] den Tod durch die Hände eines gegnerischen Parteigängers fand10«, und fährt fort: »Tutanchamûn selbst war nicht viel mehr als ein Knabe. Es muss daher unzweifelhaft in den ersten Jahren dieser Kinderregierung [er und seine Gattin Anchsenpa’aton] hinter dem Throne eine andere Macht gestanden haben. Wir können ziemlich sicher sein, dass diese Macht … Eje, der Oberpriester und Hofkämmerer …, der mächtigste Beamte bei Hofe, war. Wenn wir nun ein wenig vorausschauen, finden wir, dass dieser gleiche Eje es verstand, sich nach Tutanchamûns Tod den Thron zu sichern. Durch die Tatsache, dass seine Kartusche auch in der Kammer des neu aufgefundenen Grabes auftaucht, wissen wir, dass er sich auch an den Totenfeierlichkeiten für Tutanchamûn verantwortlich beteiligte … Im Tal der Könige gibt es kein Beispiel dafür, dass der Name eines nachfolgenden Königs auf den Wänden im Grabmal seines unmittelbaren Vorgängers zu finden ist. Wenn es hier der Fall ist, so scheint dies auf eine besondere Verbindung zwischen den beiden hinzuweisen, und wir werden wohl mit der Annahme sicher gehen, dass Eje für die Thronbesteigung des knabenhaften Königs weitgehend verantwortlich war. Sehr wahrscheinlich hatte er schon damals selbst dahin zielende Absichten, weil er sich aber im Augenblick noch nicht sicher genug fühlte, zog er es vor, seine Zeit abzuwarten und die Möglichkeiten, die er unzweifelhaft als Minister eines jungen und unerfahrenen Herrschers haben würde, zur Festigung seiner Position auszunützen11.« Wie konnte er aber Absichten auf den Thron haben, der von einem mehr als zwei Generationen Jüngeren besetzt war, wenn er nicht plante, sein Mündel zu schädigen oder gar zu töten? Eje ließ sich auf den Wänden von Tutanchamûns Grab darstellen, wie er die Begräbniszeremonien für den jungen König vornimmt, wodurch er betonte, dass er die Totenfeierlichkeiten 10 11

Carter and Mace, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, I, 43. Ebenda, S. 43-44.

für den verstorbenen Herrscher veranlasst habe. Es ist kein einziger anderer Fall bekannt, dass ein König sich selbst abbilden ließ, wie er bei der Beisetzung seines Vorgängers amtierte12. Die Frage, weshalb dieser König, der nur so kurze Zeit regierte und jung starb, nach seinem Tod so hohe Ehrungen erhielt, wurde zwar gestellt, konnte aber nicht beantwortet werden. Ein Autor schrieb: »… erstaunlich genug, Tutanchamûn war trotz seines so glanzvollen Begräbnisses13, als Herrscher von geringer Bedeutung.« Carter, der Entdecker seines Grabes, schrieb von ihm: »Nach dem augenblicklichen Stand unseres Wissens könnten wir mit Recht sagen, dass das einzige hervorstechende Ereignis seines Lebens die Tatsache war, dass er starb und begraben wurde. Von dem Mann selbst – falls er überhaupt das Mannesalter erreicht hat – und von seiner Persönlichkeit wissen wir nichts14.« Dieses Zitat stammt aus dem ersten Band des Berichts, der geschrieben wurde, ehe die Schreine und Särge geöffnet waren und Dr. Derry die anatomische Untersuchung der Mumie vorgenommen hatte. Bilder in dem Grabe zeigten Tutanchamûn, wie er reihenweise Feinde niederstreckt und Kriegsgefangene bestraft. Wenn diese Einzelheit nicht reine Erfindung ist – und wahrscheinlich ist sie es nicht –, deutet sie auf kriegerische Unternehmungen während Tutanchamûns Regierung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass er als junger Mensch im Kriege fiel und ihm für diese patriotische Tat das Geschenk eines ungewöhnlich reichen Grabes und das Vorrecht zuteilwurde, dass ihm sein Nachfolger bei seiner Totenfeier Ehre erwies. 12

13 14

»Diese Szene ist ohne Vorgang, ein nachfolgender Pharao wurde niemals zuvor oder darnach im Grab eines früheren Herrschers dargestellt.« Penelope Fox, »Tutankhamun’s Treasure« (Oxford University Press, 1951, S. 20). »Das Begräbnis war eine prunkvolle Schau« (ebenda, S. 57). Carter and Mace, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, I, 43.

Man kann die Augen nicht verschließen vor den großen Unterschieden in Aussehen, Einrichtung und Schätzen, sowie vor der mehr oder minder großen Ordnung – oder Unordnung – in den Gräbern der beiden nacheinander regierenden Brüder; für den jüngeren gab es einen vergoldeten, juwelenbesetzten Schrein und in diesem drei weitere goldbeschlagene Schreine, der eine in den andern gestellt, einen herrlichen Sarkophag und drei Särge, von denen der innerste aus massivem Gold bestand; für den älteren war ein zerbrochener Schrein gut genug – Davis nannte ihn einen Katafalk – der nicht einmal für den Verstorbenen angefertigt worden war, und ein mit Goldfolie überzogener Sarg, der herabgestürzt und zersprungen war und eine zerfallende, spärlich eingehüllte Mumie sehen ließ, deren Kopf aus der Bruchstelle des Schreins herausragte. Und doch ließ auch dieser armselige Ort, als Versteck und nicht etwa als Grab zu bezeichnen, erkennen, dass irgendjemand eine wenn auch noch so bescheidene Totenfeier veranstaltet hatte: neben Semenchkarés Leiche wurden verbrannte Kräuter und Weihrauch gefunden. Irgendwer hatte auch ein paar zu Staub zerfallene Blumen liegen lassen und ein Liebeslied von seltener Schönheit niedergeschrieben und zu Füßen des Toten verborgen. Die Unordnung in der Kammer muss von Menschen angerichtet worden sein, die eingedrungen waren, um das Grab zu schänden und zu entheiligen, die wahrscheinlich auch die Namen auf dem Sarg und dem zerbrochenen Schrein auskratzten, den Sarg umwarfen, aber das wenige dort vorhandene Gold nicht mitnahmen. Ödipus wurde von dem verschlagenen Kreon, seinem Onkel und Schwager, zur Aufgabe seines Thrones gezwungen, wobei Kreon sich darauf berief, er handle in Ausführung des Willens der dem König feindlichen Götter. Darnach vereinbarten die beiden noch sehr jungen Söhne des Ödipus, Polyneikes und Eteokles, sie wollten abwechselnd regieren. Polyneikes, der ältere von ihnen, übernahm den Thron zuerst und übergab ihn nach einem Jahr Eteokles, verließ das Königreich und kehrte

erst zurück, um seinen Anspruch auf die Krone geltend zu machen, als er wieder an der Reihe gewesen wäre, zu regieren. Der Regent Kreon jedoch ermutigte den jungen König, die berechtigte Forderung seines Bruders abzuweisen und den Thron selbst zu behalten. Das Drama Die Sieben gegen Theben wird in die Zeit verlegt, als Eteokles in Theben König war, und sein Bruder Polyneikes mit einer Streitmacht fremder Verbündeter heranzog und die Stadt angriff. Ein Fremdling wirft beiden das Los draußen im Feld … Kam er, ein hartherziger Erbteiler … Der ihr Land blutig verteilt, Jedem so viel Erde zum Raum als Toten genügt Keinem ward teil an den weiten Gefilden15. Die ägyptischen Urbilder des dramatischen Geschehens waren Semenchkaré und Tutanchamûn. Sie waren Brüder, von denen Semenchkaré als erster regierte. Er wurde mit königlichen Insignien dargestellt, als Echnaton noch lebte und regierte, da beide auf dem gleichen Relief zu sehen sind. Echnaton gab noch zu Lebzeiten die königliche Gewalt ab, aber Semenchkaré, der von Achet-Aton nach Theben zurückkehrte, regierte nur kurz, etwa ein Jahr, und war zu dieser Zeit noch nicht zwanzig Jahre alt. Bald darauf bestieg Tutanchamûn den Thron Thebens. Eje, der Bruder Tej es, übernahm die Regentschaft. Es ist klar, dass Semenchkaré seinen Thron an seinen Rivalen, den jüngeren Bruder, verlor; Tutanchamûn hätte nicht aus eigenem Entschluss so handeln können, wie er es tat, wäre er nicht vom Regenten unterstützt und geleitet worden. Hier haben wir also wieder eine sehr ähnliche Sachlage, im griechischen Theben wie im Theben in Ägypten. Der König, der mit seiner Mutter im 15

Aischylos, »Die Sieben gegen Theben«, deutsche Übersetzung von Johann Gustav Droysen (Kröner, Stuttgart, 1962, S. 100).

Inzest lebte, übergab seine Machtbefugnisse und wurde etwas später in die Verbannung geschickt. Der junge Prinz, unter dessen Regierung dies geschah, blieb nur kurze Zeit an der Macht und wurde durch seinen Gegenspieler, seinen ebenfalls noch nicht zwanzigjährigen Bruder, ersetzt. In beiden Fällen – in der Sage und in der Geschichte – lag die Macht in Wirklichkeit vollständig in den Händen eines Verwandten des Königshauses, eines Onkels mütterlicherseits, der den jüngeren Prinzen bevorzugte: in der Sage den Eteokles, in der Geschichte Tutanchamûn. Der unbekannte Krieg, an dem, wie die Malereien in seinem Grab dartun, Tutanchamûn teilnahm, war wahrscheinlich der Kampf gegen seinen Bruder und die mit diesem verbündete, von ihm gegen Theben herangeführte Streitmacht16. Beide starben jung, sie fielen in diesem Krieg.

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Auf diesen Bildern führt Tutanchamûn Krieg gegen Syrer und Äthiopier.

»Eine Höhle im Fels als Grab« Kreon, der neue Herrscher in Theben, ordnete an, dass der eine im Kampf gefallene Prinz mit allen Ehren und Auszeichnungen beigesetzt werden, der andere aber unbegraben bleiben sollte, und er ließ das Volk von Theben wissen: »Eteokles, der fiel für unsre Stadt / In hartem Kampf mit allen Waffenehren / Soll ihn die Erde decken, und er sei / Geehrt nach allen Riten, die begleiten / Zur letzten Ruh die edelsten der Toten. / Dagegen seinen Bruder Polyneikes / Der landverwiesen war und kam zurück / Der danach trachtete, die Stadt der Väter / mit Feuer zu verbrennen, zu zerstören – / Den ehre niemand durch die Totenklage, / und niemals werde ihm ein Grab zuteil, / Er bleibe unbestattet liegen – eine Beute / Für Vögel und für Hunde sei sein Leib – / ein grausiger, schmachvoller Anblick – – –1.« Trauerzeremonien wie für einen König wurden vor dem Leichnam des jungen Prinzen, dem Liebling des allmächtigen Kreon, veranstaltet, und in glänzender Waffenrüstung wurde er mit allen Schätzen zu Grabe getragen. Um die Ungleichheit der beiden Brüder noch zu betonen, wurde die Totenfeier auf pompöse Art begangen und das Grab freigebig ausgestattet. Jedem aber, der es etwa versuchen sollte, den anderen Prinzen, Polyneikes, zu begraben, wurde die Todesstrafe angedroht. »Des Polyneikes armer Leichnam aber / Darf nicht begraben, nicht betrauert werden, / Soll unbeweint und unbestattet bleiben …2.« Das prächtige Grab für Tutanchamûn und das armselige Versteck für Semenchkaré, die beide einmal die Krone Ägyptens getragen hatten: wiederum erfüllt sich, in der Geschichte wie in der Sage, das Los des jüngeren und des älteren Bruders. Der Regent, nun selbst König, nahm die Trauerzeremonien für den 1

2

Sophokles, »Antigone«, deutsche Wiedergabe in Anlehnung an die Übersetzung von W. Kuchenmüller. Ebenda.

dahingeschiedenen jungen König vor, und wie in der Sage, so auch in der Geschichte – bezeugt durch die Malereien und Inschriften in Tutanchamûns Grab – ließ sich »ohne Vorgang in der Geschichte Ägyptens« der Regent und Nachfolger des Königs, Eje, in dieser Rolle darstellen, umso den großen Wert zu betonen, den er einer angemessenen Ehrung des toten Herrschers beimaß. Eje war ferner darum bemüht, Semenchkaré nicht die Totenehrungen eines Königs zuteilwerden zu lassen; war er auch abgesetzt worden, so war er doch ein Prinz aus königlichem Geblüt und hatte einmal die Krone Ägyptens getragen. Allem Anschein nach hat ihn jemand in der ohne jede Sorgfalt ausgehauenen Felsenzelle versteckt, hat ein paar Zweige an der Bahre des Toten verbrannt, einen hastigen Versuch gemacht, den Leichnam einzubalsamieren und seine tiefe Zuneigung für den toten Prinzen bezeigt. Einer missachtete den Befehl Kreons, des alten Regenten und jetzigen Königs, und »mühte sich, die Nacktheit zu verbergen«. Es war Antigone, eine Schwester der gefallenen Prinzen, die das Verbot des Regenten übertrat, das nach ihrer Meinung zu den »ungeschriebenen und unfehlbaren Gesetzen des Himmels« in Widerspruch stand. Heimlich bedeckte sie den Körper ihres abtrünnigen Bruders mit Erde, wissend, dass sie durch diese Tat der Liebe und Treue ihr eigenes Leben verwirkte. »Ich atme den süßen Hauch ein, der deinem Munde entströmt … Mein Wunsch ist es, deine liebliche Stimme zu hören, gleich dem Wehen des Nordwinds … Gib mir deine Hände … Rufe mich beim Namen immer, immer, für und für, und niemals wird er erklingen, ohne Antwort zu finden …« Wie wir wissen, entstammen diese Worte nicht der Totenklage von Sophokles’ Antigone; sie stehen in der letzten Liebesbotschaft der historischen Antigone, die sie zu Füßen ihres toten Bruders zurückließ. Antigone wurde ergriffen und vor den Herrscher gebracht. Sie gestand, sie hätte es nicht ertragen, dass ihr Bruder »tot und

als unbegrabener Leichnam liegen bliebe«. Kreon zeigte kein Erbarmen mit der Prinzessin, die seiner ersten Anordnung als König Trotz geboten hatte. »Erst recht verhasst ist mir, wer sein Verbrechen, / Verschönern will, bei dem man ihn ertappt –«, und er verkündete, »sie wird der schwersten Strafe nicht entgehen.« Er würde sie weder töten, noch auch am Leben lassen. Lebendigen Leibes solle sie in einen Schacht im Felsen eingemauert werden und nur so viel Nahrung erhalten, um im Todeskampf ihr Leben zu fristen. »… und hausen, nicht lebend bei den Menschen, noch Tote bei den Toten … wo keines Menschen Fuß mehr gehen mag / schließ’ ich sie lebend in ein Felsengrab, / mit soviel Speise, wie zur Sühne reicht, / damit die Stadt dem Fluche ganz entgeht3.« Euripides deutete an, dass Antigones Felsengrab nahe bei dem ihres Bruders gelegen habe. Antigone: »Ich werde ihn begraben, hat’s auch der Staat verboten.« Kreon: »Tu’ das, und du wirst seh’n, dass du bei seinem dein eig’nes Grab dir hergerichtet hast – Das »Grab, das Brautgemach, das ewige Gefängnis in dem Felsenschacht« befand sich nahe bei dem Ort ihres Verbrechens. Am Ende des Berichtes The Tomb of Queen Tiyi, ein Grab, von dem wir mm wissen, dass es Semenchkarés Leichnam enthielt, erwähnt Davis den folgenden Fund, der zwar keine selbständige Veröffentlichung erforderte, aber auch nicht unerwähnt bleiben sollte: »Vor kurzer Zeit fand ich 300 Fuß von Tejes Grab entfernt eine kleine schachtartige Grabstelle. Sie war etwa drei Fuß hoch mit Steinen und Sand bedeckt und erwies sich als etwa sieben Fuß im Quadrat groß und sechs Fuß tief. Sie war angefüllt mit weißen Krügen, die mit Deckeln verschlossen waren.« Diese 3

Ebenda.

Krüge »enthielten kleine rote Becher« und andere Gegenstände »von geringem Wert«. Davis folgerte, dass diese Gegenstände aus dem Grabe eines armen Mannes herausgenommen worden wären, »um für die Königin Teje ein Grab zu finden«, und dass »es das einzige in der Nähe auffindbare gewesen sei«, in welchem man diese Krüge aufbewahren konnte. Für die Lagerung der Grabgefäße eines armen Mannes bedurfte es jedoch nicht einer Kammer von sieben Fuß im Quadrat und sechs Fuß Tiefe. Und weshalb sollte das Grab eines armen Mannes eine Menge weißer festverschlossener Krüge mit vielen kleinen roten Bechern enthalten? Da der Fund keine selbständige Veröffentlichung rechtfertigte, unterließ es Davis, zu sagen, ob in diesem Grab Knochen eines Skeletts gefunden wurden. Wahrscheinlich waren dort Gebeine vorhanden, sonst würde Davis die Zelle nicht als Grab, sondern als Versteck bezeichnet haben. Wenn es aber kein Grab war, weshalb wurden dann die Krüge eines armen Mannes im Tal der Könige aufbewahrt? Ursprünglich könnte jeder der Becher Nahrungsmittel enthalten haben. Dass dieser Ort die Todeskammer der historischen Antigone gewesen sein könne, ist lediglich eine Vermutung. Zu diesem Schluss kommen wir aber durch zwei oder drei Überlegungen: einmal liegt dieses Grab sehr nahe bei der versteckten Grabstelle des gefallenen Thronanwärters, ferner durch die im Tal der Könige ungewöhnliche Form der Felsenzelle und schließlich das Vorhandensein von Krügen und Bechern, offenbar mit Nahrungsmitteln für viele Tage oder sogar Monate. Ihr Leben war verwirkt und es wurde erwartet, dass sie sterben müsse. Für sie als geborene Prinzessin war es daher nur angemessen, dass man ihr im Tal der Könige die Sterbekammer bereiten sollte, und da sie das Verbrechen begangen hatte, ihren Bruder zu begraben, so war es auch nur natürlich, dass sie ganz in der Nähe sterben sollte. Noch einmal: es sind nur die vielen weißen Krüge und die roten Becher, die, wenn auch nur für einen Augenblick, diese

Annahme erlauben, und einzig und allein als Hypothese wird dieser Gedanke hier angeführt. Aber nachdem wir uns mit, so vielen Phantasien der Tragödiendichter befasst haben, dürfen wir dann nicht auch einmal mit unserer eigenen Phantasie ein wenig spielen und sie als abgelehnt betrachten, wenn der urteilsfähige Leser sie nicht als richtig anzuerkennen vermag? Ich lasse also diese Vermutung hier in ihrer ursprünglichen Form stehen, obgleich weiteres, später veröffentlichtes Material ihr den Anschein verleiht, sie könne mehr sein als reine Phantasie. Auf weniger als einer Seite, die dem Text von The Tomb of Queen Tiyi hinzugefügt wurde, berichtete Theodore Davis lakonisch über seinen Fund. Nahezu ein halbes Jahrhundert später beklagte sich Alan H. Gardiner ganz allgemein über diese Veröffentlichung : »Die Geschichte der Ausgrabungen in Ägypten zeigt uns neben vielen glänzenden Arbeiten eine beinahe ununterbrochene Folge verhängnisvoller Fehler. Der schlimmste ist, wenn Resultate völlig unveröffentlicht blieben. Katastrophal ist es aber auch, wenn eine Veröffentlichung unvollständig oder ungenau ist. Das war unglücklicherweise bei Theodore M. Davis’ Buch der Fall …4.« Theodore M. Davis (nicht zu verwechseln mit Norman de Garis Davies, der die Gräber von El-Amarna beschrieb) war kein gelehrter Archäologe, sofern er überhaupt ein Gelehrter gewesen ist. Er ließ in seinem Auftrag Grabungen durch Archäologen vornehmen und bezahlte sie dafür aus den Erträgnissen des Spielkasinos in Newport, Rhode Island, dessen Hauptaktionär er war. Er machte sich einen Namen als Mäzen der Ägyptologie und starb 1915 auf dem Gut William Jennings Bryans in Florida. H. E. Winlock veröffentlichte 1941 eine Denkschrift5, in der Reihe der »Papers« des Metropolitan Museum of Art in New 4 5

Gardiner, »Journal of Egyptian Archaeology«, XLIII (1957), 10. »Materials Used at the Embalming of King Tut-ankh-Amun«, Metropolitan Museum of Art Papers, Nr. 10 (1941).

York, auf welche mich erst vor kurzem mein gelehrter Freund, ein Bibliograph der Ägyptologie, Dr. Walter Federn, aufmerksam machte. Er meinte, ich würde darin etwas über das Versteck mit den Töpfen und Gefäßen in jenem Schacht im Tal der Könige finden. Winlock befand sich im Januar 1908 in Theben, als der Schacht entdeckt wurde. Als er seine Denkschrift über den Fund veröffentlichte, war er der noch einzige Überlebende derjenigen, die bei der betreffenden Ausgrabung dabei gewesen waren; alle übrigen waren in den folgenden neun Jahren gestorben. Winlock berichtet sarkastisch, ein britischer Diplomat, dessen Name in der Denkschrift erwähnt ist, habe Mr. Davis eine eigenartige Nachricht gesandt, »er hätte gehört, dass Mr. Davis’ Mitarbeiter jeden Winter ein Königsgrab fänden und da er in einigen Tagen im Tal der Könige sein wolle, bäte er, alle weiteren Entdeckungen bis zu seiner Ankunft zurückzustellen«. Mr. Davis entsprach diesem Wunsch, soweit er konnte. Der Schacht im Fels war nur rund hundert Meter von der Stelle entfernt, an der später Tutanchamûns Grab gefunden wurde, und zwar an der Südseite des östlichen Teils des Tals der Könige. Nahezu der gleiche Abstand – knapp hundert Meter – trennte sie von dem Ort, wo Semenchkaré in einem ungepflegten Grab liegen gelassen wurde. Winlocks Beschreibung enthüllt, dass außer den Töpfen und kleinen Gefäßen auch Speisereste und Gewebe in dem Schacht vorhanden waren. In Ablehnung der Erklärung von Davis (»In Theodore Davis’ Lager wusste niemand genau, um was es sich bei dieser Masse an Material eigentlich handelte«) stellte H. E. Winlock seine eigene Ansicht zur Diskussion: die Speisen waren Reste einer Mahlzeit, an der eine Gruppe von Leuten teilgenommen hatte; das Leinengewebe war der Stoff, der zum Einbalsamieren gebraucht wurde; bestimmte Funde in diesem Schacht bewiesen, dass sein Inhalt etwa um die Zeit dorthin gelangt war, als Tutanchamûn beigesetzt wurde oder kurz dar nach, und aus all dem folgerte Winlock, dass die, welche an der Mahlzeit teilgenommen hatten, zum Trauergefolge des Königs gehörten.

»Der Nachweis der Datierung ist eindeutig.« In dem Grab wurden sechs Siegelabdrücke auf Tongegenständen gefunden; drei davon zeigen deutlich Tutanchamûns Kartusche. Das vierte Siegel ist das der Priester der Nekropole im Tal der Könige – ein Schakal über neun gebundenen Gefangenen. Es ist das gleiche Siegel, das auf den Türen der Gräber Tutanchamûns und Semenchkarés (»Tejes Grab«) angebracht war. Auf den Leinentüchern in der Höhle befanden sich Zeichen in blauschwarzer Farbe, von denen zwei als Datum das letzte Jahr Tutanchamûns angeben. Eines der Tücher erregte Winlocks besondere Aufmerksamkeit. Es ist ein großes Stück, 2,44 m (über acht Fuß) lang und 0,61 m (über zwei Fuß) breit; von seiner Breite war beiderseits ein Stück abgerissen worden. »Das Tuch besteht aus sehr feinem, dichtgewobenem, aber nicht schwerem Leinen mit 56 Ketten- und 28 Schussfäden pro Zentimeter.« Es war »sehr abgenutzt und stockfleckig«. »Die Zeichen gehören zu den seltsamsten, die ich jemals gesehen habe.« Eines davon war auf das Tuch gemalt und nannte das letzte Regierungsjahr Tutanchamûns. Das andere war von Hand in den Stoff eingewebt und lautete: »Lang lebe der gute König Nefer.« Nefer war der Name, den Semenchkaré annahm, nachdem Nofretete Echnaton verlassen hatte6. »Die Zeichen sind mit weißem Faden von gleicher Farbe wie der Stoff selbst ausgeführt, aber etwas dichter im Gewebe und recht gut leserlich.« Von den auf gefundenen Lappen »sind drei von besonderem Interesse: es sind Kopftücher«. Derartige Tücher wurden von Frauen über ihrem Haar getragen und Winlock fügte, zur besseren Verdeutlichung, unbeabsichtigt ein Foto bei von der Skulptur eines Kopfes einer der Prinzessinnen, der Töchter Echnatons, der mit einem der von Davis gefundenen Kopftücher bedeckt war. »Alle drei waren sehr viel gebraucht und so oft gewaschen worden, dass der Rand begonnen hatte auszu6

Nefer-nefru-aton war der Name den Semenchkaré annahm. Nofretetes voller Name lautete Nefer-nefru-Aton Nofretete.

fransen.« »Die beiden von weißer Farbe waren abgetragen an der Stirnseite.« Das dritte Kopftuch, ein blaues, war »als eine Art Wischlappen gebraucht worden, sodass es in der Mitte ganz durchgescheuert war«. Aber ursprünglich waren es keine Lappen gewesen: »Alle drei Kopftücher bestehen aus sehr leichtem und feinem Leinen.« Es gab dann noch viele Töpfe, kleinere Gefäße und Becher, die aber zu klein waren, um mehr als nur eine Mahlzeit für eine Person zu fassen. Sieben irdene Gefäße aus rötlichbraunem Ton haben »Etiketten, auf denen von rechts nach links mit schwarzer Tinte, in hieratischer Schrift rasch hingeworfen, steht«: Korn, dsrt (ein Getränk), halber Laib, Trauben. Ferner gab es noch 65 gleichartige Becher ohne Beschriftung, einen Weinkrug, Flaschen und Trinkgefäße für Wasser – »sie scheinen der freien Verdunstung ausgesetzt gewesen zu sein, da das Wasser in jedem eine dünne Schmutzschicht hinterließ«. Unter den Gegenständen befanden sich auch vier Scherben einer bemalten Schüssel, sowie einige sechzig Teller von verschiedener Form, Größe und Farbe. Von den letzteren waren viele zerbrochen und in die größeren Krüge hineingeworfen worden. »Dass wir hier die Überbleibsel eines Festmahls vor uns haben, wird ganz deutlich durch die Knochen, welche einen Teil des Inhalts der Krüge ausmachen.« »Die größten Knochen waren das Schulterblatt einer Kuh, das mit einer Art schwerem Hackmesser gespalten war, und vier Kippen eines Schafes oder einer Ziege.« Der größere Teil der Knochen besteht aus Teilen der Gerippe von neun Enten, welche mindestens zu drei, wahrscheinlich sogar vier verschiedenen Arten dieser Tiere gehören, und Knochen von vier Gänsen drei verschiedener Arten. Alles Fleisch war gekocht. Kein Messer oder scharfes Gerät wurde gefunden, jedoch »der Ägypter der XVIII. Dynastie gebrauchte nichts dergleichen wie Messer oder Gabel, sondern nahm die Speisen mit den Händen auf und führte sie zum Munde«. In der Grube lagen sechs oder sieben Halskragen aus Blumen. »An einigen davon hatte Mr. Davis gezerrt, um zu bewei-

sen, wie fest sie noch waren.« Sie bestanden aus Olivenblättern, Kornblumen und Beeren von Bittersüß (ein Nachtschattengewächs). Hatten an dem Festmahl Leute vom Trauergefolge Tutanchamûns teilgenommen und dabei diese Kragen getragen? »Nicht einer davon war jedoch ganz so schön gearbeitet, wie der, den Carter im innersten Sarg von Tutanchamûns Grab fand; wir nehmen daher an, dass keiner der Teilnehmer an diesem Festmahl von königlichem Rang war.« Zwei Besen, »die zum Wegkehren von Sand oder Staub, sowie der Fußspuren der Gäste dienen sollten, wurden in den Krügen gefunden. Sie sind nichts weiter als in der Mitte mit einer Schnur zusammengebundene Reisigbündel«. »Beide Besen waren ziemlich abgenutzt, vielleicht vom Wegfegen der Fußspuren der Gäste bei den Trauerzeremonien für König Tutanchamûn.« Unter den Funden gab es noch einige Deckel aus gebranntem Ton mit rotem Überzug. »Diese drei Deckel winden zu einem seltsamen Nebenzweck, nämlich als Lampen gebraucht, denn die Innenseite des kleinsten ist dick verkrustet mit schwarzem Ruß, die anderen beiden enthalten eine Masse, die wie ein ausgetrockneter Rest von Lampenöl aussieht, in einem Falle mit Rußflecken. Da sie aber keine wirklichen Lampen sind, konnten sie nicht gut zur Beleuchtung einer Palasthalle gedient haben.« Und schließlich war da noch eine kleine bemalte Gipsmaske einer jungen Frau. Solche Masken wurden gewöhnlich für Personen in hoher Stellung oder von vornehmer Herkunft noch zu deren Lebzeiten angefertigt und in ihre oder seine Grabkammer gelegt. Von dieser Maske, die Winlock nur nebenbei erwähnte, ließ er eine Reproduktion beifügen7. Winlock behauptete, dass an diesem Leichenschmaus acht Personen teilgenommen hätten, weil acht gleiche Becher vorhanden waren. Er schrieb: »Es würde äußerst interessant sein, 7

»Sie sieht aus wie eine ganz kleine Mumienmaske, wie man sie gewöhnlich hei gebündelten Kanopen zu finden erwartet. . Winlock.

Namen und Art der Personen kennenzulernen, die an diesem Mahl teilnahmen; aber selbst in Ägypten hieße es sehr viel verlangen, wollte man solche Einzelheiten herausfinden.« Wenn es bei Tutanchamûns Tod ein Mahl gab, dann wäre König Eje sicherlich dabei gewesen – er nahm ja in amtlicher Eigenschaft an dem Begräbnis teil –, aber weder hätten ihn dann nur wenige Menschen begleitet, noch hätte man von irdenen Tellern gegessen. »Es genügt zu wissen, dass es eine Mahlzeit war, die aus Fleisch und Geflügel, wahrscheinlich auch Brot und Kuchen bestand … Als dann nach Beendigung der Mahlzeit die acht Teilnehmer den Raum verließen, wurden ihre Fußspuren weggefegt und die Tür geschlossen.« 7 Winlock muss jedoch zugeben, dass niemals andere versteckte Spuren eines Leichenschmauses gefunden worden sind und dass solche Verstecke vermutlich überhaupt nicht existierten: »Ich weiß von keinem anderen Fall, dass Reste einer solchen Mahlzeit auf gesammelt wurden.« Es ist bekannt und durch bildliche Darstellungen bewiesen, dass im alten Ägypten Leichenmähler stattgefunden haben, jedoch nicht von irdenen Tellern, und schon gar nicht, wenn es sich um eine Leichenfeier zu Ehren Tutanchamûns handelte, bei der nur goldene Gefäße benutzt worden wären; ebenso wenig wäre das im Schein einer elenden rußigen Lampe, die aus einem umgedrehten Deckel bestand, vor sich gegangen, wo doch in Tutanchamûns Grab herrliche Alabasterlampen aufgespeichert waren, und um die Fußspuren von acht Teilnehmern zu verwischen, hätte man nicht zwei Besen abnützen müssen. Wie soll die große Zahl verschiedenster Gefäße neben den acht Bechern erklärt werden – es gab allein noch fünfundsechzig weitere Becher –, was bedeuteten die Wasserkrüge, die lange Zeit Wasser enthalten haben müssen und was die Mengenangaben, wie »halber Laib« Brot? Und was die Kopftücher für eine Frau? Was da gefunden wurde, waren nicht die Überreste von der Einbalsamierung eines Königs, und gegen diesen Aspekt seiner These spricht, wie Winlock zugeben muss, dass »wir merkwür-

digerweise nichts gefunden haben, was einem Bett oder einer ebenen Fläche glich, worauf der [königliche] Leichnam geruht haben könnte«. Selbst das feine Leinen war nicht von der Qualität, wie sie bei der Einbalsamierung eines Königs verwendet wurde, und die Kopftücher waren dazu bestimmt, von Lebenden getragen zu werden. Dieser Raum, eine Zelle, sieben zu sieben zu sechs Fuß aus dem felsigen Grund im Tal der Könige herausgehauen8, war bewohnt von einer eingemauerten gefangenen Person, die mit Speisen und anderen unumgänglichen Bedarfsgegenständen versorgt worden war. Diese Person war, wie die Kopftücher bezeugen, eine Frau, und zwar eine Frau von hoher Herkunft, wie das Leinen beweist, das sogar feiner war als die Stoffe, die am Körper Tutanchamûns gefunden wurden. Die Gefangene brachte wohl eine ziemlich lange Zeit dort zu, wahrscheinlich mehrere Monate. Die Kopftücher waren an den Stellen abgenutzt, wo sie die Stirn bedeckten, und sind häufig gewaschen worden; das eine war zum Aufwischen benutzt worden, denn man fand dort auch Natron [natürliches Soda]. Wasser zum Trinken und Waschen sowie Speisen wurden in Schüsseln und Töpfen, wohl durch eine Öffnung in der Decke, herabgelassen. Wenn sie leer waren, wurden sie nicht entfernt, sondern durch andere ersetzt. Die leeren Tonbecher stellte die Gefangene in Krüge, die Wasser enthalten hatten. Die Besen wurden viel gebraucht und dadurch abgenutzt. Die irdenen Deckel dienten dazu, die Dunkelheit in der Zelle bei Nacht ein wenig zu erhellen, wobei man annehmen kann, dass bei Tage durch die Öffnung in der Decke etwas Licht hereinfiel. Die kleine weibliche Maske, deren Vorhandensein in dem Grabschacht ihren Entdeckern Rätsel aufgab, konnte ein Teil der Grabbeigaben für die junge Adelige gewesen sein, die zu einem langsamen Tod »in ihrem Brautgemach, der unterirdischen Be8

Winlocks Messungen 6V2 zu 4V4 zu 7 Fuß, weichen von den oben angegebenen Messungen Davis’ ab.

hausung einer Todesbraut« (Antigone) verurteilt war. Es mochte sein, dass, wer immer sie zu dieser Zellenstrafe verurteilt hatte, die Götter nicht noch mehr verletzen wollte, und ihr deshalb in ihre Gefängnisgruft einige von den Dingen mitgegeben hatte, die gewöhnlich für die Totenopfer bereitgehalten wurden. Die Halskragen aus Blumen wurden entweder zusammen mit der Gefangenen in die Höhle gebracht oder von außen zu ihr hinabgelassen von jemandem, der sich um sie sorgte oder sie sogar liebte. Noch wahrscheinlicher aber ist es, dass die Gefangene selbst diese Kragen aus Feldblumen und Olivenblättern gebunden hat, die zu ihr hinabgeworfen wurden. Die griechische Sage berichtet, dass Haimon, der Sohn des Kreon, Antigone heiß liebte, sie aber nicht retten konnte. Wer also war diese Gefangene, die nur eine Minute von Tutanchamûns Grab entfernt und noch näher bei demjenigen Semenchkarés eingemauert war? Wer lebte nach dem Tod Tutanchamûns und Semenchkarés in diesem Schacht? Wer webte in ihr Obergewand die Worte: Leben, König Schöner (Nefer) ? Nefer war der gefallene Thronprätendent. Sie band Kränze aus Feldblumen, fegte ihre Zelle mit den Besen, bis sie verbraucht waren, und verbrannte Öl zur Beleuchtung. O Dirkequellen! Heiliger Hain Im wagenprangenden Theben. Ihr doch werdet mir zeugen Wie unbeweint von Freunden, nach was Für Recht ich muss in den Kerkerschacht Ins unerhörte Grab! O, ich Unselige hause Nicht lebendig bei Menschen Noch bei Toten eine Tote!9

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Sophokles, »Antigone«, deutsche Übersetzung W. Kuchenmüller.

»Nur eine Schwester über seiner Bahre« »Nur eine Schwester über seiner Bahre Um Klagen auszustoßen, Tränen zu vergießen.« Aischylos

Nur eine Minute müssen wir gehen, um wieder zu dem Grab zu gelangen, das Semenchkarés Leichnam verbarg. Nachdem es im Jahr 1907 aufgefunden worden war, beschäftigte das Geheimnis um »Tejes Grab« die Gedanken der Archäologen und Historiker noch 50 Jahre. Der weithin anerkannte Ägyptologe Sir Alan H. Gardiner widmete diesem Grab im Dezember 1957 einen langen Artikel, musste schließlich aber zugehen, dass die Tatsachen einander widersprächen und es für die endgültige Lösung noch weiterer Entdeckungen bedürfe1. Er hielt aber einen bedeutsamen Umstand fest: dass das Liebeslied zu Füßen des Dahingegangenen von einer Schwester des Toten geschrieben war, oder aber von einer Gattin, die ihn als Bruder anredete. Ursprünglich hatte man die Worte für ein Gebet des Toten an den Gott gehalten; aber schon vor vielen Jahren fand man heraus, dass sie von einer Frau an den Dahingegangenen gerichtet waren. Gardiner formulierte es so: »Zuerst muss erwähnt werden, dass die Frau, deren Name in Zeile 1 des Textes am Fußende absichtlich zerstört wurde, nicht als Eigentümerin des Sarges vorgestellt wird, sondern nur als Sprechende.« Nach genauem Studium des Textes und der herausgekratzten Stellen hielt Gardiner schließlich fest, dass die Sprecherin von dem Toten als ihrem »Bruder« redete – zwar war dieses Wort weitgehend zerstört, konnte aber noch gelesen werden. »Bruder« konnte in einem Liebeslied Gatte oder Geliebter bedeuten. Gardiners neue Übersetzung der letzten Zeilen lautet: 1

Gardiner, »The So-called Tomb of Queen Tiye«, Journal of Egyptian Archaeology, XLIII (1957).

»Du magst ewig meinen Namen rufen und er wird nicht vergehen von deinem Mund, mein geliebter Bruder – da du bei mir bist in alle Ewigkeit …« War es Nofretete, die so zu ihrem geliebten Echnaton sprach? Gardiner nahm das zuerst an, änderte aber seine Meinung, bevor er seinen Artikel beendet hatte und schrieb: »Es scheint unausweichlich, zu glauben, dass sich ihre [Echnatons und Semenchkarés] allzu nahe Beziehung zu Nofretetes Ungunsten auswirkte«; ferner: »Semenchkarés Namenreihe enthält das Epitheton Nefer-nefru-Aton, das früher Nofretete gehört hatte.« Nofretete würde wohl kaum ein Liebeslied an den toten Echnaton geschrieben haben. Und schließlich ist es »wichtig, zuzugeben, dass die mögliche Anspielung auf Semenchkaré im Text am wiederhergestellten Fußende des Sarges mit der Frage nach dem Eigentümer des Sarges in keinerlei Beziehung steht«. In dem Liebeslied wurde Semenchkaré von einer Frau angesprochen und »Bruder« genannt; der Sarg aber gehörte Echnaton und der Katafalk Teje. In einem langen Artikel in deutscher Sprache trug Günther Roeder alles das zusammen, was man von König Semenchkaré wusste oder zu wissen glaubte. Er gab seinem Erstaunen Ausdruck über die bunt zusammengewürfelte Ausstattung des Grabes, »eines Pharaos unwürdig«, und bezweifelte, dass dieses Rätsel jemals gelöst werden würde. Roeder meinte, es müsse eine treue Seele gegeben haben, die um die wahre Religion des toten Königs gewusst, und einen heiligen Talisman mit dem Namen des Aton zu seiner Leiche gelegt habe: Semenchkaré hatte sich formell wieder zur Verehrung des Amon bekannt2. Im Bulletin of the Metropolitan Museum of Art erschien kürzlich ein anderer wichtiger Artikel über die Funde in diesem Grab3. Cyril Aldred befasste sich eingehend mit den Haartrach2

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G. Roeder, »Thronfolger und König Smench-ka-Re«, Zeitschrift für Aegyptische Sprache, LXXXIII (1958), 43-74. C. Aldred, »Hair Styles and History«, Metropolitan Museum of Art

ten im alten Ägypten und wendete seine Kenntnisse auf die Lösung des Problems der Identität des Porträts auf den Kanopenkrügen aus Semenchkarés Grab an. Der Kopf auf den Deckeln dieser Krüge, deren einer sich in diesem Museum befindet, ist der einer Frau, einer der Töchter Echnatons. Zuerst bezeichnete das Museum den Kopf als den der Königin Teje. Nach der Entdeckung, dass es sich bei der Mumie um diejenige eines Mannes handelte, »wurde das Schildchen an dem Museumsstück geändert und den neuen Theorien angepasst«; nun stand Echnatons Name darauf. Zwanzig Jahre später »wurde wieder eine Änderung an dem Schild vorgenommen und darauf stand nun bis vor ganz kurzer Zeit, der Deckel der Kanope gehöre zu König Semenchkaré«, weil die Mumie als die seine erkannt wurde. Jetzt gibt es ein viertes Schild: Die Haartracht ist die einer Frau und der Kopf stellt eine Tochter Echnatons dar. Aldred zog den Schluss, dass die betreffende Prinzessin Echnatons älteste Tochter und Semenchkarés Gattin, Meritaton, war. Die Namen auf den Krügen wurden von sorgfältiger Hand entfernt, nicht in zerstörerischer Absicht, wohl aber, um etwas unkenntlich zu machen, und alle vier Köpfe wurden unbeschädigt aufgefunden. So scheint es, dass die Frau, die sich in ihrem Liebeslied zum Abschied an den Toten wandte, ihm ihre eigenen Alabasterkrüge gab, wobei sie ihren Namen auf diesen sorgsam entfernte, sollten sie doch zur Aufbewahrung seiner Eingeweide dienen. Es hat auch den Anschein, dass die Prinzessin für das heimliche Begräbnis alles verwendete, dessen sie habhaft werden konnte. Meritaton, Semenchkarés Halbschwester, war die historische Antigone, von ihr stammten die sehnsuchtsvollen Worte, die man zu Füßen des Toten fand, dessen Körper sie wusch, herrichtete und ein Trankopfer darbrachte. Und wer waren die Eindringlinge, die den Ort schändeten, mit roher Hand Auskratzungen Vornahmen, den Katafalk zerBulletin XV (Februar 1957), 141-147.

schlugen, den Sarg umstürzten, Gold jedoch liegen ließen, wenn sie vielleicht auch einige der besseren Stücke mitnahmen? »Viele von den Gegenständen der Grabausstattung einschließlich der kleinen Kanopenkästen, ebenso wie einer der gewaltigen Goldschreine und einige der auf der Mumie selbst gefundenen Schmuckstücke waren ursprünglich für Semenchkaré gemacht und wurden widerrechtlich für Tutanchamûns Begräbnis benutzt4.« Die Eindringlinge waren Abgesandte des neuen Königs Eje und sie gebrauchten das gleiche Siegel – ein Schakal über neun Gefangenen –, das auf der Tür von Tutanchamûns Grab und in dem Felsenschacht, der die Tongefäße enthielt, wiederkehrt. Wir blättern erneut in Sophokles’ Antigone und finden, dass Kreon Boten zum Grab des Polyneikes entsandte. Als Antigone bei seiner Leiche gefunden wurde, »schrie sie grell auf, … und jammert wie ein Vogel / Sieht er verwaist, der Brut beraubt das Nest. / So, da sie nackend wiederfand den Toten … / Wehklagte sie … und wünschte / des Himmels Fluch auf den, der das getan. / … Und dreimal hebt sie / Den schön getriebenen Erzkrug hoch empor / Und weiht dem Toten heil’ge Grabesspende5«. Sie sah, dass der Leichnam erneut bloßgelegt worden war, nachdem sie ihn schon versorgt hatte: die Boten hatten alles zunichte gemacht, was sie zuvor für ihn getan hatte6. Vom König überführt und verurteilt »zu leben ein begrab’nes Leben«, nie wieder »des Tagesgestirns heiliges Auge« zu erblicken, sprach sie voller Sehnsucht, bald würde sie ihre toten Eltern und ihren Bruder Wiedersehen: »Denn als ihr starbt, da wusch euch meine Hand / Und schmückte euch und goss euch Grabesspenden / Und nun, da ich auch dir, mein 4

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6

Steindorff and Seele, »When Egypt Ruled the East«, S. 226, aber vgl. Roeder in dem in Fußnote 2 erwähnten Artikel. Sophokles, »Antigone«, Übers. Jebb. Deutscher Text in Anlehnung an die Übersetzung von W. Kuchenmüller. Vgl. Carl Robert, Oidipus, I, 569. »Wir entblößten den feuchten Körper ganz« (Bote in »Antigone«).

Polyneikes, / die letzte Liebe tat, ist das mein Lohn!«, nämlich »ein Grab, ein Brautgemach, ein unterirdisch ewiges Gefängnis …« Die Worte vom lieblichen Atem und teuren Namen des Gefallenen, die sie niederschrieb und zu Füßen ihres toten Bruders verbarg – Semenchkaré war sowohl ihr Gatte, als auch ihr Bruder –, kommen uns in den Sinn, wenn wir die Stelle bei Euripides nachlesen. Seine Antigone hatte nicht nur schwesterliches Pflichtgefühl gegenüber dem gefallenen Bruder Polyneikes, sie liebte den Toten von Herzen: »O mein Geliebter! Noch einen Kuss will ich auf deine Lippen drücken …« und wieder: »O mein Bruder Polyneikes, o teuerster Name!« In einem alten Scholion wurde Antigone intimer Beziehungen zu ihrem Bruder beschuldigt7. Ebenso unerbittlich wie auf der Verurteilung Antigones zu einem langsamen Tode, beharrte Kreon auf seinem Entschluss, den Leichnam des gefallenen Thronanwärters zu entweihen und unbegraben zu lassen. Dies bedeutete eine unerhörte Grausamkeit gegenüber dem Toten und veranlasste den alten Seher Teiresias zum Eingreifen: »Weil du der Oberen eins hinabgestoßen / Ein Leben ehrfurchtlos ins Grab verbannt, / Und einen vorenthältst den Göttern drunten / Entweiht, entheiligt, ohne Grab, den Toten, / Der weder dein ist noch der Götter droben – den zwingst du ihnen auf …« Er warnte ihn, dies sei eine »Verletzung der Götter durch Gewalt«, die neues Elend über den Staat bringen würde, denn »darum will kein Gott mehr unser Opfer / Und unsere Bitten bleiben unerhört«. Kreon antwortete: »Ha, Alter, wie die Schützen alle / zielt ihr nach meinem Haupt …« und schrie laut seinen Verdacht hinaus, Teiresias sei bezahlt, damit er also spräche. »Gewinnt, feilscht, schachert um das Silbergold / Von Sardes, wenn ihr 7 7a

Marie Delcourt, »Oedipe« (1944), S. 219. »Antigone«. Deutscher Text nach der Übersetzung von Karl Reinhardt.

wollt, das Gold von Indien / Ihr bringt ihn doch damit nicht in ein Grab7a.« In dem darauffolgenden Zwiegespräch beleidigte Kreon den alten Seher erneut: »Giert doch nach Geld der Seher ganze Zunft.« Der nicht weniger offenherzige Seher prophezeite dem König eine grauenhafte Zukunft: »… und darum lauern / Die unerbittlichen Erinnyen / … dich heimzusuchen mit demselben Fluch.« Sein toter Leib würde eines Tages ebenfalls aus seinem Grab gerissen werden. »Und sieh, ob dies mein Wort bestochen sei.« Kreon war voll innerer Unruhe, weshalb ihm der Chorführer riet: »Geh hin, befrei’ die Jungfrau aus der Gruft und gib dem Unbestatteten sein Grab.« Schließlich gab Kreon nach und entsandte zu dem geschändeten und noch bewachten Leichnam Boten, die ein paar kümmerliche Begräbnisriten vollzogen (»wir wuschen mit heiligem Wasser … des Toten Reste«). Kreon eilte zu Antigone in ihrem Höhlengrab. Sie war aber schon tot und hatte, wie ihre Mutter Iokaste, ihrem Leben mit eigener Hand ein Ende gemacht. Er fand sie »erhängt in einer Schlinge, ihren Nacken, / Umschnürte ihres Schleiers feines Linnen« (Sophokles). Man fragt sich nach dem Verbleib der von dem Tuch abgerissenen langen Streifen aus feinem Linnen, die in dem Grabschacht im Tal der Könige fehlten, wie Winlock in seiner Monographie erwähnte8. Wie ihre Mutter Iokaste? Wie mag dann wohl Königin Teje ihr Leben beendet haben?

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Winlock, Materials Used at the Embalming of King Tut-ankh-Amun, S. 8.

Tejes Ende O Sonnengott … welch ein Fluch Der Strahl den du schleudertest auf Theben … Iokaste, in Die Phönizierinnen (Euripides)

Teje stand im zwölften Regierungsjahr Echnatons auf der Höhe ihrer Macht und ihres Einflusses. Darnach war es, als ob ein dunkler Vorhang sich senkte, bis von der Gestalt der MutterGattin nichts mehr zu erkennen war. Ihr Ende könnte man besser verstehen, wenn ihre Mumie in einem königlichen Grab gefunden worden wäre, wie es ihrer Stellung zu Lebzeiten entsprochen hätte. Ihre Mumie wurde aber nicht gefunden, ihr Katafalk war zerbrochen; der Sarg ihres Sohnes befand sich dort, wo der ihrige hätte sein müssen, und in dem Sarg lag der Leichnam Semenchkarés. In seinem Buch über König Echnaton stellte Kurt Lange1 die Frage an die Spitze der »Reihe nicht befriedigend aufgeklärter Probleme, die wohl auch nie ganz zu lösen sind . . : War die aus dem Felsen roh ausgehauene Höhlung von Anfang an zu Königin Tejes letztem Ruheplatz bestimmt? Dafür sprechen der Katafalk und andere für sie bestimmte Grabbeigaben, sowie die Lage der Höhle, nur wenig vom Grabe ihrer Eltern entfernt. Dagegen spricht das ärmliche Aussehen des Grabes mit seiner dürftigen Ausstattung. Sollte die große königliche Gemahlin des prunkvollsten der Pharaonen aus der glorreichen XVIII. Dynastie, Amenophis’ des Prächtigen, die noch zu Zeiten ihrer beider Sohn Echnaton das Königsdiadem weitertrug, mit geringerem Gepränge auf die Reise ins Jenseits geschickt worden sein als ihre Eltern und sogar ihre Diener? Wie kommt es, dass die größte Königin, die Ägypten jemals kannte, mit, diesem elenden Grab in Verbindung gebracht wurde ? Weshalb wurde die Kö1

K. Lange, »König Echnaton und die Amarna-Zeit« (1951).

nigin nach ihrem Tode so verächtlich behandelt? So fragten die Historiker. Und was geschah mit ihrem Leichnam? Wurde ihre Mumie in das Grab ihres Gatten, Amenophis’ III. überführt? Die Annahme, Echnaton habe im gleichen Grab gelegen, wäre für sie entehrend gewesen, weil er ein Ketzer war; Tejes Mumie müsse also von der seinen entfernt worden sein. So dachten manche Gelehrte. Aber dann stellte sich heraus, dass es gar nicht Echnatons Leiche gewesen sei, und dadurch wurde alles Theoretisieren noch schwieriger und verworrener. Die Mumie Tejes wurde nicht bei derjenigen ihres Gatten Amenophis III. im Tal der Könige gefunden2. Alles was von ihr blieb, ist eine im Grabe Tutanchamûns gefundene Haarlocke mit einer alten Notiz, dass die Locke von ihr stamme. Wie starb nun aber die Königin? In welch widrigen Umständen endete ihr Leben? Weshalb wurde sie wie eine Ausgestoßene behandelt, als sich ihre Augen schlossen? Warum wurde ihre Mumie selbst aus diesem elenden Grab entfernt, so als wäre noch dieser Ort zu gut für sie? Die griechische Überlieferung kann uns vielleicht eine Erklärung für diese Seltsamkeiten geben. Iokaste nahm sich das Leben: Homer wusste das, und wir haben die betreffende Stelle auf einer der vorausgegangenen Seiten zitiert. Wir wollen nun untersuchen, ob ein Ende durch Selbstmord vieles von dem erklären könnte, was im Zusammenhang mit Tejes Tod ungeklärt blieb. Überall in der Welt bei den verschiedensten Rassen wird einem Selbstmörder die Totenehrung verweigert, es sei denn, er 2

Die Mumie Amenophis’ III. wurde im Grab Amenophis’ II. gefunden. Dorthin hatten die frommen Priester der XXI. Dynastie eine Anzahl von Königsmumien überführt, um sie vor der Entweihung durch Grabräuber zu bewahren. Nach Professor Derrys Meinung ist die Mumie des angeblichen Amenophis III. die eines Mannes aus späterer Zeit und nicht die seine.

habe sein Leben auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. In manchen Gemeinwesen wird der Selbstmörder außerhalb des Friedhofs beerdigt; an anderen Orten wird kein Trauergottesdienst abgehalten, auf sein Grab kommt kein Kreuz oder ein anderes Zeichen des Gedenkens. Sein umherschweifender Geist erweckt Furcht. Auch in allen alten Gesellschaften wurde der Selbstmord als Frevel empfunden – es sei denn, er wäre in religiöser Selbstopferung begangen worden. Die Ägypter, für die der Begriff des Lebens nach dem Tod von höchster Bedeutung war, müssen eine besonders starke Abneigung dagegen empfunden haben, einem Selbstmörder Totenehrungen zu erweisen. Hierin könnte also der Grund liegen, weshalb Teje, falls ihr Ende das gleiche gewesen wäre wie das der legendären Iokaste, die einer Königin zukommenden Ehren vorenthalten wurden. Die Mutter-Gattin, die sich erhängte, beraubte, obgleich sie als Königin das Diadem getragen hatte, sich selbst der Seligkeit des Lebens nach dem Tode. Für sie gab es kein reich ausgestattetes Grab, kein Trankopfer für das Fortbestehen ihres Geistes im Jenseits wurde ihr dargebracht. Wieder einmal vermöchte die Sage aufzuklären, was die Geschichte als Rätsel hinterließ. Hier mag das Geheimnis um Tejes Ende liegen. Es wurde ihr kein königliches Grab zugestanden, nicht einmal eine Begräbnisstätte, die in irgendeiner Weise denen ähnelte, die für die Edlen von Theben oder El-Amarna vorbereitet waren; sie wurde einfach verscharrt. Sofern sie sich das Leben nahm, beging sie in den Augen ihres ägyptischen Volkes eine schwere Sünde. Aber ihr Körper wurde sogar noch von diesem ärmlichen Ort weggeschafft, der Katafalk, der ihren Sarg umschloss, zerbrochen und durch das Auskratzen des Namens beschädigt. Auch für diese Schändung gab es einen Grund. Die Königin und Mutter lebte mit ihrem Sohne im Inzest. Name und Gestalt ihres Sohnes und Gatten wurden aus dem Blattgold des Katafalks ausgemeißelt, und stattdessen der Name ihres ersten Mannes mit Tinte daraufgeschrieben. Auch das Folgende ist nun klar:

der Körper der Witwe, die mit ihrem Sohn im Inzest lebte, durfte nicht neben Amenophis III. bestattet werden. Zurzeit der Wiederherstellung des Amonkultes wurde Tejes Sarg aus dem Katafalk herausgenommen und von dem geheimen Begräbnisort fortgeschleppt; sein endgültiger Verbleib ist nicht bekannt. Auf diese Weise könnte die Sage, die den Bericht über Iokaste enthält, die seltsamen Hergänge bei Tejes Begräbnis erklären. Die Geschichte jedoch berichtigt die Sage: Teje konnte sich gar nicht aus dem Grunde das Leben nehmen, weil sie herausfand, dass Echnaton ihr Sohn war, denn das wusste sie ja schon immer. Anders als Sophokles lässt Euripides Iokaste leben bis zum Beginn des tragischen Kampfes zwischen ihren beiden Söhnen, und erst beim Anblick der beiden Toten stirbt sie von eigener Hand. Falls Teje Selbstmord beging, so muss es in einem Anfall von Verzweiflung geschehen sein. Das nagende Gewissen ihres sündigen Verhaltens wegen mag dabei eine Rolle gespielt haben, wenn auch der Ursprung der blutschänderischen Beziehungen zu ihrem Sohn und ihre Rechtfertigung durch die Sitten des Landes Mitanni hier aufgezeigt wurden. Die Absetzung Echnatons oder die Vorgänge, die dazu führten, konnten entscheidende Faktoren gewesen sein und ebenso die Haltung Ejes seiner Schwester gegenüber, als er sich auf die Seite seiner Tochter Nofretete stellte. Ältere Leute leiden leicht an Depressionen als Folge einer Demütigung oder auch nur einer Kränkung, während bei jüngeren Menschen eher ein Nervenzusammenbruch erfolgt, wenn jemand vor eine Aufgabe oder eine Situation gestellt wird, aus der er oder sie keinen Ausweg sieht. Obgleich bei den Ägyptern dem Leben nach dem Tode große Bedeutung beigemessen wurde und Selbstmord als schwere Sünde galt, kannten die Anbeter des Osiris durchaus den heimlichen Drang zur Selbstvernichtung, der nach Freud neben dem Willen zum Leben genauso einhergeht wie der Schatten einem beleuchteten Gegenstand folgt. In der ägyptischen Literatur ist das »Gespräch des Lebensmüden mit seiner Seele« eine der

schönsten und ergreifendsten Dichtungen. Die Seele versucht ihren Träger von seinem Vorhaben abzubringen und erinnert ihn daran, dass ihm dann die Begräbniszeremonien versagt blieben. Aber der Mann antwortet: Siehe, mein Name wird (durch dich, die Seele) anrüchiger sein, Siehe, als der Gestank von Vögeln [Geiern] an einem (Sommer) Tag, wenn der Himmel glüht … Zu wem soll ich heute reden? Die Herzen sind habgierig, Keiner, auf den man sich stützt, hat ein Herz … Zu wem soll ich heute sprechen? Das Unrecht schlägt das Land, Es findet kein Ende … Tod steht mir heute vor Augen – Ein Kranker wird gesund, wie wenn man Nach dem Unfall ins Freie geht. Tod steht mir heute vor Augen – Wie Myrrhenduft, Wie wenn man unter einem Sonnensegel sitzt am windigen Tag. Tod steht mir heute vor Augen – Wie Lotusduft, Wie wenn man am Ufer der Trunkenheit sitzt … Tod steht mir heute vor Augen – Wie wenn ein Mann sich sehnt, sein Haus wieder zu sehen, Nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat3. Obgleich in orientalischen und auch in manchen westlichen Gemeinschaften der Leichnam eines Selbstmörders außerhalb des geweihten Bodens des Friedhofs begraben wird und die 3

Deutsche Übersetzung Fr. W. Freiherr von Bissing »Altägyptische Lebensweisheit«, Zürich 1955, S. 12F-128.

Leute glauben, dass sein Geist bei Nacht umgehe, wird, merkwürdig genug, in der ganzen Welt ein Gegenstand, den ein Selbstmörder hinterließ, als Glücksbringer betrachtet. Weitverbreitet ist der Aberglaube, dass einem Stück von dem Strick, an dem sich jemand erhängte, ein Zauber anhafte. Im Grabe Tutanchamûns fand man eine kleine Büchse mit einer braunen Haarlocke und eine Notiz besagte, dass sie einst der Königin Teje gehört habe. Nach Euripides schnitt sich Iokaste ihr Haar ab. »… ich aber schnitt meine silbernen Locken ab und ließ sie aus Kummer unter vielen Tränen herabfallen …«

»Dies war Ödipus« Nachdem nun, wie es scheint, der ganze thebanische Sagenzyklus auf historischen Vorgängen in ägyptischen Palästen beruht, können doch noch immer Unklarheiten in Bezug auf gewisse klischeehafte Vorstellungen mythologischen Charakters bestehen, die mit der Geschichte von Ödipus verknüpft sind. Ödipus wurde als Kind ausgesetzt oder zum Sterben verurteilt, bedroht durch das Dekret eines Königs, und genauso erging es auch Sargon I., König von Assyrien, und Mose, Jesus, ja sogar Judas Ischariot1 und einer ganzen Anzahl historischer, halbhistorischer und ausschließlich legendärer Gestalten. Es kann durchaus sein, dass das Detail von der Aussetzung des Kindes Ödipus in der Einöde nur eine legendäre Ausschmückung und eine Zutat zu dem war, was seinem historischen Urbild tatsächlich widerfuhr, und dass alles, was in der Folge eines ungünstigen Orakels in Wirklichkeit geschah, darauf hinauslief, dass das Kind zu Verwandten in ein weit entferntes Land gebracht wurde, statt ausgesetzt zu werden. Dies kann jedoch nicht mit Bestimmtheit behauptet werden. Das Motiv der Aussetzung konnte eine wahre Geschichte gewesen sein: es findet in dem immer wiederkehrenden Hinweis des Königs seine Stütze, er habe überlebt, um lange zu leben. Als dann später Ödipus nach dem Spruch des Orakels sein Leben erneut verlieren sollte, tritt wiederum die Vertrei1

Nach einer mittelalterlichen Legende, die uns in einem Manuskript aus dem 15. Jahrhundert erhalten blieb, hatte Judas Ischariot ein ähnliches Leben wie Ödipus. Er war auf der Insel Cariot (Kreta) geboren, wurde am Ufer des Meeres in einem Gefäß ausgesetzt, gerettet, tötete seinen Vater und heiratete seine Mutter. (Constans, »La Légende d’Oedipe«, S. 95-105). Mögen auch andere Teile der Legende mythisch sein, Kreta als Geburtsland des Judas wird durch seinen Namen unterstützt: Ish (Mann von) Cariot (Kreta), ist eine im biblischen Hebräisch übliche Konstruktion.

bung an die Stelle des Todes. Am Morgen wie am Abend seines Lebens ist er ein Wanderer. »O ihr Bürger meiner Heimat / Sehet, das ist Ödipus … der so stolz und mächtig war … Sehet, wie hat des Unheils Woge diesen Mann hinweggespült2.« Eine weitere klischeehafte Vorstellung der Sagenwelt lässt eine berühmte Persönlichkeit in königlichem Rang am Ende seines Lebens die Heimat verlassen und von einer sanften und verständnisvollen Tochter begleitet auf die Wanderung und in die Verbannung ziehen. Antigone ging mit ihrem Vater ins Exil, sie verzichtete dadurch für sich selbst auf Heim und Familie, Ehe und Kinder und schuf ein Urbild, dem die Tochter eines anderen, zu seiner Zeit berühmten Mannes nacheiferte, als dieser gegen Ende seines Lebens in die Verbannung zog. Unser Jahrhundert war Zeuge, wie Leo Tolstoi in einer Winternacht Heim, Familie und alles, was ihm lieb war, verließ und unbeobachtet aus seinem großen Gut Jasnaja Poljana in einen Schneesturm hinauswanderte. Die treuen Schüler des russischen Schriftstellers und Moralisten, der die Einfachheit lehrte, aber selbst das behagliche Leben eines Landedelmannes führte, hatten von ihm verlangt, er solle seine Hingabe an sein Ideal, das Leben eines Armen, eines durch die Lande Ziehenden, für den nach dem Evangelium der Herr sorgt wie für die Vögel auf dem Felde, durch die Tat beweisen. Von all seinen Kindern war nur Alexandra in den Plan eingeweiht, die am Tage nach seiner Flucht mit ihrem Vater zusammentraf. Als nächstes erfuhr die ganze Welt von Tolstois Verschwinden; dann traf die Nachricht ein, er sei schwer krank mit Lungenentzündung an einem Eisenbahnhaltepunkt aufgefunden worden. Dort starb er am 21. November (8. November russischer Zählung) 1910 nach einem Todeskampf von mehreren Tagen. Er wurde in Jasnaja Poljana beigesetzt, ohne ein christliches Begräbnis zu erhalten. Während Tolstoi auf seinem Sterbebett lag, beschloss der Heilige Synod von Russland, es dürfe für den kranken Achtzigjährigen 2

»Oedipus Rex«. Deutsche Übersetzung von Ernst Buschor.

kein Gebet gesprochen werden$ als er starb, durfte in keiner griechisch-orthodoxen Kirche eine Totenmesse für ihn gelesen werden3. In unserem Jahrhundert geschah es auch, dass Anna, dasjenige der Kinder Sigmund Freuds, das dem Vater sein Leben lang am nächsten stand, die Eltern ins Exil begleitete, als Wien von den Nazis überfallen wurde. Freud war jahrelang krank, er musste sechzehn Operationen wegen Kieferkrebs über sich ergehen lassen und arbeitete trotzdem heroisch weiter, behandelte Patienten, schrieb Bücher und Artikel, blieb aber an sein Heim gefesselt. Mit fester Hand schrieb er im Jahre 1932: »Ich möchte gerne reisen und nirgendwohin lieber, als nach Palästina. Meine Krankheit gestattet mir aber nur ein Weiterleben zu Hause.« 1938 jedoch begab er sich mit, seiner Tochter Anna auf den Bahnhof in Wien und machte sich auf den Weg nach England, wo er einige Monate später den Tod fand. So ist die legendäre Vorstellung von einem berühmten Mann, der, wie Ödipus, von einer Tochter ins Exil begleitet wird, in diesem Jahrhundert mehr als einmal zur historischen Wahrheit geworden. Diesen Töchtern, die ihre geistige Haltung nach der ihrer Väter richteten, könnte vorgeworfen werden, sie litten an einem »Ödipuskomplex« oder einer über die rein kindliche hinausgehenden Form der Zuneigung; die Psychoanalyse wendet den Begriff sowohl auf eine Tochter als auch auf einen Sohn an. Wer den erschütternden Briefwechsel zwischen Galilei und seiner Tochter gelesen hat, die als Nonne in ihrer Zelle an Tuberkulose im Sterben lag, während er für den Rest seines Lebens Florenz nicht verlassen durfte und noch sein Augenlicht verlor, er, der als erster die Mondgebirge, die Phasen der Venus und die Jupitermonde erblickt hatte; wer die Schilderung der Beziehung zwischen den Töchtern des Dichters John Milton und ihrem Vater kennt, der als junger Mann den blinden 3

»London Times«, 18. und 21.-23. November 1910.

Galilei in Florenz besuchte und dann selbst erblindete und von seinen Töchtern abhängig wurde, denen er später sein Paradise Lost diktierte – der weiß, dass Antigone, die mit ihrem blinden Vater ins Exil ging, vielleicht doch mehr als nur eine legendäre Gestalt war. Wenn man alle Umstände in El-Amarna in Betracht zieht, so war es wahrscheinlich Beketaton, die ihres Vaters Verbannung, Wanderungen und Demütigungen teilte. Als Frucht der Verbindung mit seiner eigenen Mutter war sie verachtet. Wenn also eine Tochter Echnaton ins Exil begleitete, dann konnte es nicht die gleiche sein, die ihren gefallenen Bruder begrub und für diese Tat in eine Grabhöhle eingemauert wurde. Die beiden Rollen der legendären Antigone müssen von zwei verschiedenen Töchtern Echnatons gespielt worden sein. In der Fassung des Sophokles wird dadurch, dass er diese beiden gottesfürchtigen Taten (den blinden Vater zu führen und den gefallenen Bruder zu beerdigen) ein und derselben Person zuschreibt, in der Handlung der Dramen eine Schwierigkeit und eine Verwicklung verursacht. In Oidipus Rex endet das Schauspiel damit, dass Kreon, taub für Ödipus’ Flehen, ihm die Begleitung seiner Tochter verweigert und sie wegführen lässt. In Oidipus auf Kolonos befindet sich Antigone mit ihrem Vater im Exil und bleibt bei ihm bis zu seinem Tode. In Antigone – das Stück spielt einige Tage später – wird nichts davon erwähnt, dass sie jahrelang mit ihrem Vater auf der Wanderung war. Bei Euripides hat Antigone ebenfalls zwei Rollen, die miteinander unvereinbar sind. In der Schlussszene der Phönizierinnen, als Ödipus nach dem Tod seiner beiden Söhne im Zweikampf ins Exil gehen soll, besteht Antigone darauf, dass sie die Verbannung ihres Vaters bis zum letzten teilen wolle; gleichzeitig will sie aber ihren Bruder begraben und dafür die Todesstrafe auf sich nehmen. Es ist klar, dass diese beiden Aufgaben nicht von einer Person erfüllt werden konnten.

Die sterblichen Überreste Echnatons sind niemals gefunden worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Leichnam des Verbannten nicht einbalsamiert und blieb demzufolge nicht erhalten. Wenn ihm überhaupt ein Grab vergönnt war – außer dem unbezeichneten Grab eines Wanderers –, dann ist es so gut verborgen, dass sein letzter Ruheplatz der Menschheit nicht bekannt wurde. Die Grabstätte, welche er in den Felsen der Wüste bei Achet-Aton für sich vorbereiten ließ, als er auf der Höhe seiner Macht stand, blieb unbenutzt- sein Sarkophag wurde aus Rache in Stücke zerschlagen. Als Wanderer im fremden Land und als Fremdling im eigenen Land mag er sich vergeblich danach gesehnt haben, dass seine Glieder in den Staub seiner Stadt eingebettet würden. »Decken sie mich je mit Thebens Erde zu?« war Ödipus’ sorgenvolle Frage, als er den Thron innehatte. In Sophokles’ Fassung des Dramas entschied sich Ödipus dafür, den Segen seiner sterblichen Hülle dem Volke von Kolonos zukommen zu lassen, denn wo auch immer sein Leichnam liegen sollte, würde dies Gunst der Götter und Glück für das Volk dieses Landes bedeuten. Im Bewusstsein von der transzendentalen Bedeutung seines toten Körpers beschloss der während seines Lebens verfluchte Ödipus großherzig, sich in Kolonos zum Sterben niederzulegen, umso den Segen dem ganzen Land Attika zuteilwerden zu lassen. In diesem Dorf bei Athen starb er, nachdem ihm der Mitleid empfindende Theseus versprochen hatte, die Lage des Grabes solle unbekannt bleiben, und hiermit schließt Oidipus auf Kolonos. Diese Tragödie, die den zweiten Teil der Trilogie bildet, ist aber von Sophokles zuletzt geschrieben worden, zweiundzwanzig Jahre später als Oidipus Rex, dem ersten in der historischen Reihenfolge, und siebenunddreißig Jahre nach Antigone, dem letzten Teil der Trilogie. Als Sophokles Oidipus auf Kolonos schrieb, näherte er sich seinem neunzigsten Lebensjahr und stand kurz vor seinem Tode. Obgleich der Dichter etwa 120 Schauspiele geschrieben hat, von denen nur sieben erhalten geblieben sind, beschäftigte ihn sein Lieblings-

held noch kurz bevor er starb. Vielleicht empfand er eine gewisse Verwandtschaft zwischen sich selbst und diesem unglücklichen »Spielzeug der Götter«. Sophokles wählte Kolonos aus dem einfachen Grund, weil dieses Dorf sein eigener Geburtsort war. Ich kann mir vorstellen – und finde, dass frühere Gelehrte schon den gleichen Gedanken gehabt haben –, dass die Anklage seines Sohnes Iophon vor Gericht, er sei unfähig, seine Angelegenheiten richtig zu erledigen, wie Cicero4 berichtete, den emotionalen Anstoß zu der furchtbaren Verwünschung lieferte, die Ödipus vor seinem Tod seinem älteren Sohn entgegenschleuderte, als dieser aus Angst vor einer Niederlage im Kampf mit der Bitte gekommen war, sein Vater solle das Feldlager durch seine Anwesenheit segnen. Dass sich Sophokles in diesem letzten Drama mit Ödipus identifizierte, ist auch daraus zu erkennen, dass er Ödipus als sehr alten Mann darstellte, während in dem Schauspiel, das eine Fortsetzung ist, aber viel früher geschrieben wurde, Kreon, der Onkel des Ödipus, dort als kräftiger, in mittlerem Alter stehender Vater eines jungen Sohnes dargestellt wird. Sophokles machte den Wanderer zu einer Quelle des Segens für das Land, in dem seine sterbliche Hülle bleiben würde. Dies steht im Gegensatz zu der alten Überlieferung, dass Ödipus keine Stadt finden konnte, deren Einwohner ihm einen letzten Ruheplatz gewähren wollten, und dass selbst nach seinem Tod sein Leichnam von einem Ort zum anderen gebracht wurde, weil überall das Volk befürchtete, es würde ein Fluch über das Land kommen, welches den Leichnam des unglücklichen Mannes aufnehme, der so hoch gestiegen und so tief gestürzt war. Schließlich wurde er in einem Heiligtum der Demeter verborgen, dessen Orakel sich des unbeerdigten Toten erbarmte und seine weitere Verlegung verbot, wahrscheinlich weil Demeter die Muttergöttin war. Ödipus musste also auch noch als 4

»De Senectute«, 22. R. C. Jebb weist diese Geschichte als unterschoben zurück.

Toter seine Wanderung fortsetzen, ähnlich wie es dem toten Echnaton nach Ansicht derjenigen erging, welche die Königsgräber von El-Amarna und Theben untersuchten. Sophokles ließ Ödipus in dieser Welt keine Hoffnung, aber in einer »geheimnisvollen Verbindung mit unsichtbaren Mächten«. So verwandelte er den Fluch in Gnade und bedachte zugleich seinen gemarterten Helden mit seinen eigenen Segenswünschen, ehe er selbst in den Hades hinabstieg. Wir haben es bis jetzt unterlassen, eine Einzelheit nachzuprüfen, nämlich die Dauer der Regierung Echnatons im Vergleich zu der Zahl der Jahre, die Ödipus auf dem Throne zuerkannt werden. Echnaton regierte sechzehn Jahre, sein siebzehntes war, wie durch Inschriften belegt, das letzte. »Das Jahr 17 bleibt die höchste Zahlenangabe über Echnatons Regierungszeit5.« Manche Gelehrte waren dagegen der Ansicht, er habe zwanzig Jahre regiert und das einundzwanzigste Jahr sei das letzte gewesen6. Was hat nun die griechische Sage über die Zeitdauer von Ödipus’ Regierung zu berichten? »Teiresias kommt zu dem König, um ihm das Geheimnis zu eröffnen, das er sechzehn Jahre lang bewahrt hat7.« Es wird Ödipus aber auch eine längere Regierungszeit zugeschrieben: »Seither sind zwanzig Jahre vergangen. Eine Seuche kommt über die Stadt8.« Allen beiden, Echnaton wie Ödipus, werden Regierungszeiten von sechzehn und zwanzig Jahren zugesprochen. Es ist möglich, dass die letztere Zahl die Jahre mit einschließt, in denen Echnaton zwar noch in seiner Hauptstadt war, aber nicht 5

6 7

8

H. W. Fairmann in Frankfort and Pendlebury, »The City of Akhenaten«, Teil II (1933), S. 103. K. C. Seele, »Journal of Near Eastern Studies«, XIV (1955), 175. Gilbert Murray, »A History of Ancient Greek Literature« (1907), S. 240. E. Capps, »From Homer to Theocritus« (1901), S. 226.

mehr als wirklicher Herrscher, sondern mehr oder weniger als Gefangener im Palast. Desroches-Noblecourt nimmt tatsächlich darauf Bezug, dass Echnaton im Süden seiner Hauptstadt in der Verbannung gelebt habe9. Was mm die Dauer der Regierung seines älteren Sohnes Semenchkaré-Polyneikes angeht, so betrug sie nur ein Jahr. Sowohl die griechische Sage, als auch die historische Wirklichkeit stimmen in diesem Punkt überein. Das letzte Datum aus Semenchkarés Regierung ist zwar das »dritte« Jahr, Roeder stellt aber in einem neueren Artikel über Semenchkaré fest: »Die Zeit seiner Herrschaft dauerte nicht drei Kalenderjahre, sondern nur wenig mehr als ein einziges Jahr10.« Der jüngere Bruder gab den Thron nicht frei, nachdem sein Regierungsjahr vorüber war und es dauerte Jahre, ehe der ältere mit seinen Verbündeten wiederkehren und versuchen konnte, die Krone zurückzugewinnen. Tutanchamûns letztes Jahr war das achte, es ist aber möglich, dass diese Zählung mit dem siebzehnten Jahr Echnatons begann und Echnatons letzte Regierungsjahre sowie die Zeit Semenchkarés nicht berücksichtigt. Nach der vorherrschenden Meinung bestieg Echnaton im Alter von 24 oder 25 Jahren, vielleicht um einige Jahre älter, den Thron und seine Abdankung wird in seine vierziger Jahre verlegt11. Es wurde oft angenommen, dass die Brüder Semenchkaré und Tutanchamûn Söhne von Teje und Amenophis III. gewesen seien, doch wurde auch darauf hingewiesen, dass sie nicht Söhne Amenophis’ III. sein konnten: Tutanchamûn starb im Alter von 17 oder 18 Jahren nach den sieben Jahren seiner eigenen Regierung (dabei wurde das eine Jahr, in dem Semenchkaré 9 10

11

Ch. Desroches-Noblecourt in Schaeffer, »Ugaritica«, III, S. 194. Roeder, »Thronfolger und König Smench-ka-Ré«, Zeitschrift für Aegyptische Sprache, LXXXIII (1958) Heft 1, 45. Seele, »Journal of Near Eastem Studies«, XIV (1955), glaubt, dass Echnaton im Alter von 47 Jahren seine Herrschaft beendete, nachdem er den Thron 21 Jahre innegehabt hatte.

König war, Tutanchamûn zugerechnet) und den 16 oder 17 Jahren der Regierung Echnatons. Semenchkaré, der im Alter von 25 Jahren zur gleichen Zeit wie Tutanchamûn starb, muss ebenfalls ein Sohn Echnatons gewesen sein. Carter spricht von diesen beiden Prinzen als Söhnen Echnatons. In seiner Arbeit über Semenchkaré ist Roeder nicht abgeneigt, Echnaton die Vaterschaft für Semenchkaré und Tutanchamûn zuzusprechen12 und stimmt darin mit dem Gutachten des Anatomen Professor Derry überein. Demnach war also nicht Amenophis III., sondern Echnaton der Vater dieser beiden Prinzen. Ihre Mutter konnte immer noch Teje gewesen sein.

12

Roeder, »Zeitschrift für Aegyptische Sprache«, LXXXIII (1958), Heft I, 45, 72. Carter, »The Tomb of Tut-ankh-Amen«, III, 18.

König Eje und ein »Ausbruch von Hass« Eje wurde erst in vorgerücktem Alter König in Theben; um auf den Thron zu gelangen, musste er die beiden jungen Könige, einen nach dem anderen, beseitigen. Zuerst ging Semenchkaré des Thrones verlustig durch den listigen Vorschlag, er solle zeitweilig zugunsten seines Bruders zurücktreten. Dann wurde Tutanchamûn dazu ermuntert, sich seinem Bruder und Rivalen im Kampf zu stellen. Niemand, der dem siebzehn- oder achtzehnjährigen König wohlwollte, hätte ihn in die vordere Kampflinie oder gar in einen Zweikampf geschickt, aber gerade das kam Ejes Plänen sehr entgegen. Die Erbfolge der Könige verlief in Ägypten über die weibliche Linie. Amenophis III. brach mit dieser Tradition durch seine Heirat mit Teje, die keine königliche Prinzessin war. Er selbst dagegen war aus königlichem Geblüt, was jedoch für Eje nicht zutraf, der sich auch nicht der Abstammung von Ré rühmen konnte. Dieses Problem war für ihn von Bedeutung und er hat es auch gelöst. Tutanchamûn starb kinderlos, nachdem seine Gattin zwei Kinder tot zur Welt gebracht hatte, die man beide als Mumien in seinem Grabe fand. Eje ging darauf aus, seinen eigenen Anspruch auf den Thron zu untermauern und heiratete deshalb die sechzehnjährige Anchsenpa’aton, Tutanchamûns Witwe, seine eigene Enkelin1, die nun Anchsen-amon genannt wurde; von ihr hörte man aber schon bald nichts mehr2. 1

2

P. E. Newberry, »King Ay, the Successor of Tut-ankh-amun«, Journal of Egyptian Archaeology, XVIII (1932), 50-52. Auf Grund von Keilschriftdokumenten, die in Bogazköj in Kleinasien gefunden wurden, hat man wiederholt angenommen, dass die verwitwete Anchsen-amon an einen hethitischen König geschrieben habe, sie bitte ihn um einen Sohn, der ihr Gatte werden sollte. In dem abschließenden Band von »Zeitalter im Chaos« werde ich die ägyptische Königswitwe, deren Name in Keilschrift Dahamun lautet, als Dach-hat-amon aus einer späteren Dynastie identifizie-

Euripides lässt Kreon ebenfalls Anspruch auf den unbesetzten Thron erheben, nicht in seiner Eigenschaft als Schwager des Königs, sondern auf dem Weg über eine Heirat seines Sohnes mit einer Tochter des Ödipus. Kreon sagte zu dem entthronten Ödipus: »Eteokles, dein Sohn hat überlassen / mir, um es zu regieren, dieses Land / der es dem Haimon gab als Mitgift deiner Tochter / Antigone zugleich mit ihrer Hand.« Diese Thronfolge durch die weibliche Linie war Sitte in Ägypten und kennzeichnend für die XVIII. Dynastie. Als Echnaton den Thron innehatte, nahm er die Bezeichnung »Der in der Wahrheit lebt« an; als Eje König wurde, gab er sich den Beinamen »Der das Rechte tut«. Derartige Benennungen waren bei den Königen von Ägypten nicht gerade üblich. Wir können aber verstehen, dass Eje sich diesen Leitspruch wählte. Gleich Kreon in der Ödipussage verkündete Eje, er tue nur seine Pflicht gegenüber der Krone und dem Volk, wenn er Echnaton absetze, dessen Söhne an die Regierung bringe, und sich dann bei dem Bruderkampf auf die Seite des Jüngeren stelle. Ejes Grausamkeit gegen Meritaton war auch die notwendige Folge seines Bestrebens, das Auftauchen eines anderen Thronprätendenten zu verhindern, der durch eine Heirat mit der Witwe Semenchkarés, der ältesten Tochter Echnatons, den gleichen oder gar besser begründeten Anspruch auf die Krone erwerben könnte, wie er selbst. Überdies konnte Eje nicht vergessen, dass Meritaton gegen Nofretete, ihre Mutter und seine Tochter, Partei ergriffen hatte. Nofretete war eine seiner Töchter aus früherer Ehe. Seine erste Gattin starb, wie Aldred bewiesen hat und schon andere Gelehrte vor ihm vermuteten, und Nofretete wurde von Ti, seiner zweiten Gattin, genährt und aufgezogen, die deshalb den Titel »Amme der Königin« erhielt3; in dem nicht vollendeten Grab zu Achet-Aton ist sie neben ihrem

3

ren. Weigall, »The Life and Times of Akhnaton«; Aldred, »Journal of Egyptian Archaeology«, XLIII (1957).

Gatten vor dem Königspaar stehend als »Amme der Königin« mit eben dieser Bezeichnung dar gestellt. Ejes zweite Gattin und spätere Königin, Ti, hatte den gleichen Namen wie Ejes Schwester, die Königin Teje; die Namen werden heute lediglich der Unterscheidung halber anders geschrieben. Euripides lässt einen Sohn Kreons zu seinem Vater sagen: »Ich geh’ zu deiner Schwester, zu Iokaste / an deren Brust als Säugling ich einst lag, da ich, beraubt der eignen Mutter, eine Waise, verlassen blieb zurück …4« In der Geschichte wie in der Sage starb Kreon-Ejes erste Gattin jung, wahrscheinlich im Kindbett5. Nach der geschichtlichen Überlieferung hat Eje eine Namensschwester der Königin (seiner Schwester) geheiratet, und seine zweite Gattin nährte das Waisenkind und zog es auf; in der Sage ist es die Königin selbst, die die Waisen ihres Bruders versorgte. Das Seltsame an der Sage, dass eine Königin Nährmutter von Kindern sein sollte, die nicht ihre eigenen waren, erklärt sich aus der historischen Tatsache, dass Königin Teje und Ejes Gattin Ti völlig gleiche Namen hatten. Nach der Beisetzung Tutanchamûns vollendete Eje den Bau eines weit größeren Grabes für sich seihst. Ursprünglich war Tutanchamûns Grab von Amenophis III. für seinen Schwager Eje gebaut worden5 es lag im Tal der Könige nicht weit vom Grabe seiner Eltern Juja und Tuja entfernt. Als Tutanchamûn den Thron bestieg, wurde für ihn ein Grab nahe demjenigen Amenophis’ III. vorbereitet; wahrscheinlich war es zuerst für Semenchkaré bestimmt, als dieser den Thron innehatte, aber keiner der Brüder wurde darin beigesetzt. Eje ließ das Königsgrab für sich selbst aushauen. Er gedachte in dieser königlichen Grabstätte, deren Wände mit Verzierungen und farbigen Bildern 4 5

Euripides, »Die Phönizierinnen«. Aldred nimmt in dem oben erwähnten Artikel an, dass Ejes erste Gattin im Kindbett starb und seine zweite Gattin Nofretete nährte.

ausgeschmückt waren, seine letzte Ruhe zu finden und ließ für sich einen Sarkophag herstellen, so kostbar wie der, in welchem er Tutanchamûn bestatten ließ. Die verlassene Grabkammer in Achet-Aton, der Ketzerresidenz, wurde nie vollendet; nur Schakale und Eulen fanden darin ihre Zuflucht. Von Ejes Regierung ist nur sehr wenig gekannt, man weiß aber, dass der alte König, der nur kurze Zeit an der Macht war, seine Augen nicht in Frieden schließen durfte. »Dann folgte eine Zeit der Anarchie, Theben wurde die Beute plündernder Banden, die gewaltsam in die königlichen Gräber eindrangen6.« Die Eindringlinge empfanden die größte Genugtuung, Ejes Grab zu verwüsten, indem seine letzte Ruhestätte am gründlichsten zerstört wurde. Der prächtige Sarkophag wurde in kleine Stücke zerschlagen, die Bilder und Inschriften auf den Wänden verunstaltet. Dies war schon kein gewöhnlicher Gräberraub mehr: es war ein gewalttätiger Racheakt. Die Prophezeiung des blinden Sehers erfüllte sich. In Antigone sagte er Kreon ebenfalls voraus, dass er nach seinem Tode entehrt und aus dem Grabe gerissen werden würde. Der Zustand von Ejes Begräbnisstätte zeigt, dass dies tatsächlich geschah. »Sein Sarkophag wurde in Stücke zerschlagen und sein Leichnam offenbar vernichtet7.« »Klarmachen wird’s« – für die »Entwürdigung, die er den untern Göttern antat«, da er einen Leichnam ungeweiht und ohne Ehrungen ließ und ihm das Begräbnis versagt hatte – »nicht über lang – der Männer / und Weiber Weheruf vor deinem Haus, / Ausbruch von Hass verwirret deine Stadt …« Wir können uns leicht vorstellen, um wen es sich bei diesen Rächern handelt: es waren die Epigonen. Nach der griechischen Überlieferung wurden die Sieben gegen Theben und ihre Streitkräfte zurückgeschlagen; zehn Jahre später aber kamen ihre 6 7

Breasted, »A History of Egypt«, S. 594. G. Steindorff, »Die Grabkammer des Tutanchamûn«, Annales du Service des Antiquités de l’Egypte, XXXVIII (1938), 667.

Söhne, die Epigonen, zurück und raubten Theben aus. Woher die fremden Scharen kamen, die zuerst von Semenchkaré zur Mithilfe bei der Wiedergewinnung des Thrones herbeigerufen wurden, wird im Lichte der Geschichte jener Epoche klar werden, die dem Ende der XVIII. Dynastie folgte, und zwar in meinem Werk, das der Rekonstruktion der Geschichte gewidmet ist.

Der Fluch Überall und zu allen Zeiten haben sich Völker um den Verbleib der irdischen Hülle ihrer Toten gesorgt; aber weder in Judäa noch in Assyrien, Chaldäa, Griechenland oder Rom gab es einen so ausgeprägten Totenkult, noch wurde der Versorgung der Toten durch die Lebenden eine so große Bedeutung beigelegt, wie in Ägypten. Der Glaube an das Leben nach dem Tode, an dem der Körper teilhat, veranlasste die Ägypter, auch solche aus bescheidenen Verhältnissen, ihre Toten einzubalsamieren und ihnen alles zum Leben Notwendige einschließlich einer Wohnstatt mitzugeben. Auch einige andere Völker, besonders die Karer, bauten kostspielige Grabkammern und brachten den Verstorbenen Trankopfer dar, aber nirgends waren Totenkult und Vorsorge der Lebenden für ihre Grabstätten von solcher Bedeutung für Könige wie für gewöhnliche Sterbliche, wie in Ägypten. Die Gräber von Theben und El-Amarna mit ihrem herrlichen Wandschmuck legen Zeugnis ab von diesem alles überragenden Anliegen im Leben der Ägypter. Seit dem Altertum beraubten beutegierige Grabschänder auf der Suche nach Gold, Edelsteinen und wertvollen Gegenständen Gräber ihrer Reichtümer und entweihten die Mumien. »Er [der Gott] soll sie dem flammenden Grimm des Königs am Tage des Zorns überliefern; sein Schlangendiadem soll Feuer auf ihre Häupter speien, ihre Glieder verzehren, ihre Leiber verschlingen … Sie sollen ins Meer gestürzt werden, auf dass es ihre Leichen bedecke. Sie sollen der Totenzeremonien für die Gerechten nicht teilhaftig werden … Ihre Söhne sollen nicht in ihre Stellung gesetzt werden, ihre Weiber sollen vor ihren Augen geschändet werden. Sie sollen am Tage der Zerstörung dem Schwert verfallen … Sie sollen hungern, ohne Brot, und ihre Leiber sollen sterben …« So schrieb Amenophis, der Sohn des Hapu, auf die Wand seines in der westlichen Ebene von Theben erbauten Totentempels,

der mitten unter den Totentempeln der Könige stand. Seine Worte galten jedem Schänder seines Tempels, ganz gleich, ob ihn Habsucht oder politische Motive dazu veranlassten. Wie ein Echo dieser heftigen Sprache klingen die Worte, die Sophokles dem Seher Teiresias in den Mund legt, als er Kreon verfluchte, weil dieser dem gefallenen Prinzen das Begräbnis verweigerte. Die ägyptische Herkunft des thebanischen Sagenzyklus wird deutlich erkennbar an der Tatsache, dass die Frage der Bestattung so sehr in den Vordergrund der Handlung rückt. Das Hauptthema von Oidipus auf Kolonos, und im gleichen Maße von Antigone und Die Sieben gegen Theben, ist das Problem der Totenehrung. Ödipus legte zu der Zeit, als er König war, großen Wert darauf, nach seinem Tod in Thebens Erde ruhen zu dürfen; nach seiner Verbannung wollte er jedoch nicht mehr nach Theben zurückkehren, um dort seine sterbliche Hülle begraben zu lassen. Nach Sophokles’ Fassung der Sage bestand er darauf, dass sein Grab versteckt angelegt werde und seine Lage niemandem als dem König des Landes Attika bekannt sein solle, eine Form, die in Ägypten nicht unbekannt war, wo die Könige ihre Grabstätten geheim hielten. Weil Polyneikes hei seinem Bemühungen, den Thron wiederzugewinnen, Theben angriff, wurde ihm auf Befehl des Regenten des Königreichs das Begräbnis verweigert. Sein Rivale Eteokles dagegen erhielt eine pompöse Bestattung mit allen Riten. Dieser Vorgang als solcher wäre in einem entsprechenden Rahmen, in Griechenland oder anderwärts1, nur natürlich gewesen; aber Antigones langer Monolog, in dem sie das furchtbare Schicksal ihres toten Bruders beklagt – nicht etwa seinen Tod –, hat in der griechischen Literatur nicht seinesgleichen. Die Sorge um die Bestattung und die überragende Bedeutung, die der letzten Ruhestätte beigemessen wird, ist ihrem Wesen nach nicht griechisch, sondern ägyptisch. Ebenso wenig entspricht Antigones »in den Felsen gehauene Grabhöhle« grie1

Vgl. die Schlussszene von Sophokles »Ajax«.

chischer Art. Zu gewissen Zeiten haben die Griechen ihre Toten verbrannt, zu anderen sie beerdigt, aber nur sehr selten schlugen sie ein Grab aus dem Felsen. Die Ägypter dagegen bauten in Theben und El-Amarna ihre Gräber in die Felsen. Den Griechen aber war eine solche Grabstätte fremd. Die Fetzen der Leichenumhüllung Semenchkarés in dem Sarg, der nicht der seine war; die goldenen Schreine und Särge Tutanchamûns; Ejes zerstörtes und entweihtes Grab; der verborgene Leichnam der Mutter und Gattin des Königs; die Sterbekammer einer jungen Gefangenen adliger Herkunft – alle diese Grüfte, Gräber und Verstecke im Tal der Könige bei Theben werden lebendig in den Gebeten des Ödipus zu Kolonos, in dem Erlass Kreons und den Klagegesängen Antigones. Gerade weil das Grab und das damit in Zusammenhang stehende Leben nach dem Tode für einen Ägypter so große Bedeutung hatte, war die Mumie wie der Ort ihrer Beisetzung einer Entweihung und Zerstörung durch Feinde des Toten besonders ausgesetzt. Er konnte nach seinem Tode wirksamer bestraft werden als zuvor, er konnte zu einem »namenlosen Ausgestoßenen« gemacht werden, »der unerkannt und unbemitleidet durch die unermessliche Weite der Unterwelt wanderte2«. Dies war die Ursache, weshalb die Gräber von El-Amarna und Theben mit solchem Fanatismus vernichtet wurden. Sollte ein Grab vor der Schändung durch politische Feinde oder Schatzgräber geschützt werden, dann gab es nur zwei Dinge, welche die ägyptischen Könige und Edlen tun konnten: ihre Gräber zu verbergen und Grabschänder durch Fluchformeln abzuschrecken. Die Alten glaubten an die Wirksamkeit des Fluches, und dieser Glaube ist ebenso langlebig wie der an die Wirkung eines Segens. In neuer Zeit hat der Glaube an einen Fluch nie eine solche Verbreitung gefunden wie damals, als Lord Carnarvon fünf Monate nach der Entdeckung von Tutanchamûns Grab starb, noch bevor der innere Schrein, der Sarkophag und die Särge geöffnet 2

A. Weigall, »The Life and Times of Akhnaton«, S. 242.

waren. Er starb an Blutvergiftung vermutlich infolge eines Moskitostichs, doch das Gerücht wollte wissen, er sei infiziert worden, als er sich an giftigen Geweben oder Gefäßen zu schaffen machte. Die schützenden Fluchformeln auf den Schreinen sollen an seinem Tod schuld gewesen sein. Die Erinnerung an ein anderes übles Vorzeichen wurde wieder wach. Arthur Weigall, der zurzeit der Aufdeckung des Grabes Generalinspekteur der Altertümer in Ägypten war, gab folgende Darstellung: »Während der neuerlichen Ausgrabungen, die zu der Entdeckung von Tutanchamûns Grab führten, hielt Mr. Howard Carter [der Entdecker] in seinem Hause einen Kanarienvogel, der ihn alltäglich mit seinem lieblichen Gesang erfreute. Genau an dem Tag, an welchem der Eingang zu dem Grab freigelegt wurde, schlüpfte eine Kobra in das Haus, stürzte sich auf den Vogel und verschlang ihn. Nun sind aber Kobras in Ägypten selten und im Winter kaum zu beobachten. Im Altertum wurden sie jedoch als Symbol der königlichen Würde betrachtet und jeder Pharao trug es an seiner Stirn als Zeichen seiner Macht, seine Feinde anzugreifen und zu stechen.« Abergläubische Leute deuteten daher dieses Vorkommnis so, dass der Geist des neu aufgefundenen Pharao die Eindringlinge warnen wollte. »Am Ende der Arbeiten dieser Kampagne wurde Lord Carnarvon auf geheimnisvolle Weise ins Gesicht gestochen und starb. Millionen von Menschen in der ganzen Welt haben sich gefragt, ob der Tod des Ausgräbers dieser Grabstätte bösen Einflüssen aus dem Grab zuzuschreiben sei3.« Diese Ereignisse trafen nur zufällig zusammen, aber jetzt erscheinen sie noch seltsamer, seit wir wissen, dass in dem Grab der letzte König aus dem Hause des Laios lag, auf dem sich wahrlich die Flüche häuften. Es sah fast so aus, als wäre der letzte Akt der Trilogie von Theben erst in neuerer Zeit zu Ende gespielt worden.

3

A. Weigall, »Tutankhamen and Other Essays« (1923), S. 110.

Spuren über das Meer Als kurz vor dem trojanischen Krieg Könige in Mykenä in der Ebene von Argos regierten, bestanden zwischen Griechenland und Ägypten Handelsverbindungen. Im Theben Amenophis’ III. und im El-Amarna Echnatons fand man große Mengen mykenischer Keramik, und in Mykenä und dem benachbarten Tiryns wurden Gegenstände aus dem Ägypten Amenophis’ III. ausgegraben1. Ein Skarabäus oder Siegel mit dem Namen der Königin Teje wurde in Mykenä gefunden und man hat festgestellt, dass erst seit dieser Zeit ägyptische Fundstücke im kontinentalen Griechenland auftauchten. In den Gräbern von Mykenä und Orchomenos wurden sogar genaue Kopien von Verzierungen an den Decken der Gräber im ägyptischen Theben entdeckt2. Was Theben in Böotien angeht, so »existiert keine historische Aufzeichnung über irgendwelche Handelsbeziehungen zwischen [ihm] und Ägypten. In der Tat gibt es kaum einen Ort, an dem die Auffindung derartiger Spuren unwahrscheinlicher wäre3«. Dennoch wurde in Böotien ein Gegenstand ägyptischer Herkunft gefunden: ein Skarabäus, auf dem eine Sphinx eingraviert ist. »Offenbar ist dieses eine Stück das ›Souvenir‹ eines umherziehenden Abenteurers«, schreibt J. D. S. Pendlebury in seinem Katalog ägyptischer Gegenstände, die in Griechenland und auf den ägäischen Inseln gefunden wurden. Auch im attischen Athen wurden einige ägyptische Funde gemacht. »Die Datierung der wenigen ägyptischen Gegenstände, die man in Athen fand, liegt weit vor der Zeit der uns bekannten historischen Verbindungen zwischen den beiden Ländern.« Pendlebury nahm also auch hier wieder das Auftauchen umherziehender 1

2 3

J. D. S. Pendlebury, »Aegyptiaca, a catalogue of Egyptian objects in the Aegean area« (1950). Breasted, »A History of Egypt«, S. 388. Pendlebury, »Aegyptiaca«, S. 87.

Abenteurer an. Vereinzelte Abenteurer in Böotien und Attika, aber zu gleicher Zeit regelmäßiger Handelsverkehr zwischen Mykenä und Ägypten – und wie weit ist es von Mykenä nach Athen? Nur etwa neunzig Kilometer in der Luftlinie. Wenn ein Siegel der Königin Teje bis nach Mykenä geriet, sollte doch wohl auch ihr Schicksal dort und in den benachbarten Städten bekanntgeworden sein. Wie wir schon gesagt haben, kannten die Griechen die Stadt am Nil seit Homers Zeiten unter dem Namen Theben. Die ägyptische Bezeichnung für sie war Nô (Wohnsitz, Residenz) oder Nô-Amon. Weshalb benannten wohl die Griechen die Stadt in Ägypten nach dem Namen einer Stadt in Böotien? Wenn aber umgekehrt die Griechen zuerst der ägyptischen Stadt diesen Namen gaben und ihn später auf die Stadt in Böotien übertrugen, was war dann der Grund dafür? Wurde die Geschichte des Königshauses nur wegen der Namensgleichheit der Städte von Nô in Ägypten nach Theben in Böotien verpflanzt und damit verknüpft? Oder wurde vielleicht erst nachträglich gerade wegen dieser Geschichte und des Ortes, an dem sie sich zutrug, die eine Stadt mit dem Namen der anderen bezeichnet? Ein umherziehender Abenteurer oder Sänger konnte den Bericht nach Theben oder Athen gebracht haben – es ist keineswegs erforderlich, dass diese Erzählung zunächst eine thebanische Sage gewesen sein muss, die Athen später von dort übernahm4. Mehrere Jahrhunderte vergingen, und die großen athenischen Tragödiendichter – Aischylos, Sophokles und Euripides – schrieben Trilogien über den blutschänderischen König und sein Haus. Der Ort der Handlung wurde nach Theben in Böotien verlegt. Dort kennen wir allerdings kein Denkmal oder 4

»Das Ereignis, welches die europäische Literatur am stärksten beeinflusste, war das Eindringen der Ödipussage und -Verehrung nach Attika.« L. R. Farnell, »Greek Hero Cults and Ideas of Immortality« (1921), S. 553.

Grab, das die Geschichte bezeugen könnte. Es kann sein, dass Theben zur Szene der Ereignisse gemacht wurde, um die Stadt, die so oft mit anderen griechischen Städten im Streit lag, zu brandmarken. Kadmos, der Gründer der böotischen Stadt, kam aus Phönizien und war vielleicht ein Zeitgenosse der in diesem Buch beschriebenen Vorgänge. An anderer Stelle habe ich angedeutet, er könne jener König Niqmad von Ugarit gewesen sein, der zurzeit der Amarna-Korrespondenz lebte. Er wandte keilförmige Schriftzeichen auf das hebräische Alphabet an, gelangte dadurch zu einer alphabetischen Schrift und wurde zusammen mit den Ioniern von assyrischen Eroberern aus seiner Stadt vertrieben und floh übers Meer5. Kadmos führte das hebräische Alphabet in Griechenland ein und wandte es auf die griechische Sprache an. König Niqmad hatte eine ägyptische Prinzessin zur Frau6, und die Legende berichtet, Kadmos habe eine Gattin namens Sphinx mitgebracht7. Theben in Ägypten war zu Niqmads Zeit die größte Stadt der Welt. Die Tragödie, die sich in ihrem Königshaus zutrug, konnte im benachbarten Phönizien nicht unbekannt geblieben sein noch verfehlt haben, dort einen starken Eindruck zu hinterlassen. Die Griechen, die zusammen mit Niqmad aus Ugarit vertrieben wurden, die Gründer des kadmeischen Theben, konnten als erste von den furchtbaren Geschehnissen erzählt haben, die Ägypten und die von ihm abhängigen Länder erschütterten. Die auf uns gekommene Tragödie des Euripides über das thebanische Königshaus hat den Titel Die Phönizierinnen, weil ein Chor phönizischer Frauen aufschlussgebend zu den Helden des Stückes spricht – und zu den Zuschauern; wie kommt es, dass in einer griechischen Tragödie ein phönizischer Chor auf tritt? 5

»Zeitalter im Chaos«, »Das Ende von Ugarit«, S. 239 ff.

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Ch. Desroches-Noblecourt, in Schaeffer, »Ugaritica« III, 219, Anmerk. 2; Schaeffer, in »Syria« XXXI (1954), 56, Tafel 9. Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie, Second Series, Bd. III. Kol. 1724.

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Es ist auch möglich, dass diese Geschichte die Gestade Griechenlands auf mehr als einem Wege erreicht hat. Sophokles drückt sich in einem Satz so aus, als kenne er selbst den wirklichen Ort des Geschehens. Als Ödipus von seinen Söhnen Polyneikes und Eteokles spricht, ruft er aus: »Wie hat ihr ganzer Tageslauf / Sich der Ägypter Weise angepasst\« (Oidipus auf Kolonos)8. Die unmittelbar folgenden Worte verwischen allerdings diesen Eindruck wieder9. Immerhin erwähnt Sophokles zweimal Theben als die Stadt »der vielen Wagen«. Antigone fleht: »O Dirkequellen! Heiliger Hain / Im wagenprangenden Theben / Ihr doch werdet mir zeugen …« Die Dirkequelle lag im böotischen Theben. Die Bezeichnung »wagenprangendes Theben« (Antigone, Zeile 149) muss bei den Griechen gedanklich mit dem ägyptischen Theben verbunden gewesen sein: bei Homer spricht Achilles vom Hunderttorigen Theben als der Stadt der vielen Streitwagen, zweihundert für jedes Tor10. Bei Euripides wird eines der Tore, an denen die Kämpfe der Sieben gegen Theben stattfanden, das Ogygische Tor genannt11. Die Zeit des Ogygos lag wesentlich vor der des Kadmos und der Gründung der Stadt. Nach Meinung der Wissenschaftler ist dieses Tor, trotzdem es als das mächtigste der Stadttore bezeichnet wird, von dem Schöpfer des Epos um Theben erfunden12. Andererseits nennt Aischylos die ägyptische Stadt »Das Ogygische Theben13«. Zusammen mit noch einigen anderen erwecken diese Beispiele den Eindruck, dass den griechischen 8 9

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Deutsche Übersetzung: Ernst Buschor. »Dort sitzt der Mann zu Haus und webt und spinnt, indes das Weibervolk sich draußen müht und für des Lebens Notdurft Sorge trägt.« (Buschor). Sophokles übernahm den Satz von Herodot, seinem Zeitgenossen. (Herodot, II, 55.) »Ilias«, IX, 383 f. »Die Phönizierinnen«, Z. 1113. Von Wilamowitz in »Hermes«, XXVI (1891), 216-217, 241. Aischylos, »Die Perser«, 37.

Tragödiendichtem des 5. Jahrhunderts der Ort des wirklichen Geschehens nicht ganz unbekannt war. Meine Ansicht mag irrig sein, und Sophokles und Euripides mögen nicht mehr als Aischylos darüber gewusst haben, wo sich die Ereignisse wirklich abspielten; wenn sie es aber nicht gewusst haben, so enthielt doch die epische Überlieferung, die von einem wandernden Sänger an den andern weitergegeben wurde – die eigentliche Quelle, aus der die Tragödiendichter schöpften – einige Elemente, die das Geheimnis des Landes verraten, wo der historische Hergang stattfand. William E. Gladstone erinnern wir als den großen Premierminister der Königin Viktoria, der sein Leben der Politik und den Debatten im Unterhaus weihte und wiederholt das Ruder des Staatsschiffs übernahm. Nicht so bekannt ist die Tatsache, dass er einen Teil seiner Zeit auf das Studium Homers verwandte, mehrere Bände zu diesem Thema schrieb und sogar noch nach Erreichung seines 80. Lebensjahres Vorlesungen in Oxford hielt, so lebendig war sein Interesse an Homer. In seinem Werk Homeric Synchronisms: an Enquiry into the Time and Place of Homer (1876), entwickelte er die These, dass viele der griechischen Sagenmotive in orientalischen Ländern und speziell in Ägypten ihren Ursprung hätten. Gladstone schrieb: »Ich war sehr überrascht, wie stark im XI. Buch der Odyssee fremde Einflüsse und Gedankenverbindungen in Bezug auf die homerische Unterwelt überwogen«, die der Dichter mit Phöniziern und anderen Nicht-Hellenen bevölkerte, zu denen er auch den Seher Teiresias aus der kadmeischen Stadt rechnete, während »die hellenischen Toten aus der letzten Zeit, nämlich aus dem [trojanischen] Krieg, Wanderer sind in der Unterwelt ohne festbestimmtes Schicksal oder Funktion, sozusagen noch nicht vollkommen heimisch in ihrer neuen Umgebung14.« Homer betrachtete Ägypten als das Land großer Kenntnisse unter Einschluss des magischen, geheimen und mystischen 14

Seite 213.

Wissens. Er lässt Menelaos nach Ägypten reisen, um etwas über die Zukunft und das Wesen der Elysischen Gefilde zu erfahren15. »Die in der Dichtung vorhandenen Hinweise auf das ägyptische Theben beweisen, dass sie aus der Periode stammen, in der sie die größte Stadt Ägyptens und praktisch auch die erste Stadt der damals bekannten Welt war.« Achilles sprach von dem Reichtum des ägyptischen Theben, »die Stadt, welche die größten Schätze der Welt enthält«, als er klarmachte, dass ihn keine Reichtümer dazu bringen könnten, sich Agamemnons Wünschen zu fügen, und Homer behauptete von Theben, es hätte zwanzigtausend von Pferden gezogene Streitwagen besessen. Homer selbst war nie in Ägypten. »Der Dichter muss gewohnheitsgemäß all das Geraune gesammelt haben, das von Ost und Süd über Seeleute, Einwanderer oder offizielle Vertreter des großen Königreiches und ihrer eingebürgerten Nachkommen zu ihm drang16.« Gladstone dachte in diesem Zusammenhang allerdings nicht an den thebanischen Sagenzyklus und das Drama um Ödipus. Er unternahm eingehende Untersuchungen über viele Sagenhelden, aber die Namen des Ödipus, seiner Gattin und Kinder, sind in seinem Buch nicht einmal erwähnt; offenbar hielt er sie für Griechen. Die Umwandlung, die die Ereignisse bei der Überquerung des Mittelmeers erfuhren und durch die sie allmählich zur Sage wurden, war von der Hereinnahme eines neuen typisch hellenischen Moments begleitet. Die Griechen glaubten an das Schicksal, für sie war die Zukunft vorausbestimmt, und wenn die Götter über einen Mann und sein Haus das Urteil gefällt hatten, konnte nichts mehr geschehen, um es zu ändern. Was immer ein Mensch anstellte, und wie sehr er auch versuchte, 15 16

Ebenda, S. 233. Ebenda, S. 272.

seiner schrecklichen Zukunft zu entgehen, sein vorbestimmtes Geschick würde ihn ereilen. Die Götter kannten die Zukunft und diese konnte den Sterblichen durch ein Orakel oder ein zum Heiligtum einer Gottheit gehörendes Medium eröffnet werden. Über Ödipus war das Verdammungsurteil schon vor seiner Geburt verhängt worden. Was auch seine Eltern und er selbst unternehmen mochten, der Ablauf der Ereignisse führte ihn nur immer näher an das ihm vorausbestimmte Los heran. Weder Gebete zu den Göttern, noch gute Taten, Fasten oder das Anlegen von Kleidern aus Sackleinen konnten etwas nützen; ja die unter einem solchen Urteil Stehenden versuchten dies nicht einmal. »Aber unheimlich ist des Schicksals Macht. / Nicht Schätze, noch Waffen, noch Türme trotzen ihr, / noch schwarze, wogenumtoste Schiffe.« (Antigone, Chor)17. Dieser Fatalismus ist seinem Wesen nach griechisch. Er gab keinen Anreiz zu guten Taten, veranlasste nicht zur Rückschau auf den Lebensweg und nicht zu seiner Verbesserung. Gab es überhaupt etwas, das Ödipus hätte tim können, und doch nicht tat, um dem Grauenhaften zu entgehen, das ihm schon vor seiner Gehurt bestimmt war? Allerdings fehlte auch ein ethisches Motiv nicht ganz: Laios’ Schicksal war es, von seinem Sohn getötet zu werden, weil er als Erster die widernatürliche Liebe in Griechenland einführte. Auf diese Weise ist zwar ein Verbrechen vorhanden, das Vergeltung erheischt, aber keine gute Tat von Seiten des Sünders kann die Untat auf wiegen. Der Sohn des Schuldigen muss für des Vaters Missetat nicht nur dadurch büßen, dass er zum Vatermörder wird, sondern auch dadurch, dass er ein anderes Verbrechen begehen muss, für das er und nach ihm seine Kinder Leiden bis zum letzten Atemzug erdulden müssen. In größter Seelenqual bricht der Verdammte in die Worte aus: »O Not meines Schreckens – ich klage, / Schrei’ laut die 17

Deutscher Text nach W. Kuchenmüller.

Verzweiflung heraus –« aber bei den Göttern gibt es kein Mitleid und der Verurteilte hat keine andere Wahl, als sich dem Verhängnis zu fügen. »Weil doch zum Ausgang unentrinnbar drängt der Gott … / So fahr’ … der Stamm des Laios hin …18.« Ödipus büßte für das Verbrechen seines Vaters, nicht aber für sein eigenes, und seine Kinder waren schon von Geburt an der Strafe verfallen. … der das heilige Saatfeld des Mutterschoßes, das ihn ernährt Mit blutschuldigem Samen besät! Im Schicksal der Kinder des Ödipus wird die moralische Verkettung zwischen Verbrechen und Strafe noch einmal geschlossen. Eigentlich gibt es zwei Verkettungen: die Prinzen töteten sich gegenseitig, weil dies ein Teil des über das Haus des Ödipus verhängten Schicksals war, und sie mussten büßen wegen des von ihrem Vater ausgesprochenen Fluches, weil sie ihn, den erblindeten König, aus seinem Haus und seinem Königreich vertrieben hatten. So war das aus der Schuld der Vorfahren entstandene Urteil schon vor ihrer Geburt gefällt, und der Fluch des Vaters verfolgte sie auch noch um ihrer eigenen Taten willen. Dennoch stand das erstere gewissermaßen in ursächlichem Zusammenhang mit dem letzteren. Eteokles sagte: »Dem gottverhängten Bösen wirst du nicht entgehen!« Der Sohn eines Sünders ist also nicht nur zum Leiden verurteilt, er muss auch selbst eine Sünde begehen, und wenn er nach seiner Anlage tugendhaft ist, wird er zu einer solchen Handlung getrieben, ohne zu wissen, was er tut. Der griechische Held tötete einen Reisenden, was nach griechischen Begriffen anscheinend kein Verbrechen war, insbesondere, da er zu dieser Handlung herausgefordert wurde und nicht wusste, 18

Aischylos, »Die Sieben gegen Theben«. Deutscher Text: J. G. Droysen.

wen er umbrachte. Er heiratete seine Mutter und wusste nicht, wer sie war. Die griechischen Dichter erhöhten das Drama noch, indem sie den Inzest als ein Verbrechen darstellten, das die Beteiligten ahnungslos begingen. Für sie war allein schon der Begriff des unausweichlichen Schicksals das stärkste tragische Element im Ablauf der Ereignisse. Die Unschuld der Opfer ließ die Hellenen das wachsende Grauen nahenden Unheils noch stärker empfinden und ihre Sympathie steigerte sich, weil die Arglosen ihre Verbrechen weder beabsichtigten noch wussten, dass sie etwas Böses taten. Hierin stimmt der christliche Begriff des Leidens mit dem hellenischen Gefühl für Tragik überein, und Erzählungen von unschuldigen Märtyrern, die gekreuzigt, eingemauert oder als Zielscheibe für Pfeile benutzt wurden, nehmen einen bedeutenden Platz in der Literatur der Kirchenväter ein. Der moderne Mensch jedoch empfindet mehr Freude an der Geschichte eines Unschuldigen, der zuerst in den Verdacht gerät, ein Verbrechen begangen zu haben, dann aber entlastet wird, wenn es gelingt, den wahren Übeltäter aufzuspüren, diesen zu töten oder auf andere Art zu bestrafen. Nach diesem Schema ist die gesamte Detektivliteratur entstanden.

Der Seher unserer Zeit »Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, dass … es eine Stimme in unserem Innern geben muss, welche die zwingende Gewalt des Schicksals in Ödipus anzuerkennen bereit ist … Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon, König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Iokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit …« So schrieb Sigmund Freud in seinem wichtigsten und bekanntesten Buch Die Traumdeutung. Die angeführte Stelle ist wohl die bemerkenswerteste in diesem Buch, und Freud fügte in späteren Ausgaben noch hinzu: »Keine der Ermittlungen der psychoanalytischen Forschung hat so erbitterten Widerspruch, ein so grimmiges Sträuben und – so ergötzliche Verrenkungen der Kritik hervorgerufen wie dieser Hinweis auf die kindlichen, im Unbewussten erhalten gebliebenen Inzestneigungen …1.« Wenn an unserer These, die Sage von Ödipus habe sich nach den wirklichen Erfahrungen des Pharaos Echnaton und seiner Familie gebildet, etwas Wahres ist, dann war Freud im Irrtum mit seiner Annahme, nicht eine historische Unterlage, sondern ein uns allen gemeinsamer, geheimer Drang gebe den wahren Ursprung der Handlung in der alten Sage ah. Dennoch kann, wie zu Beginn dieser Auseinandersetzung ausgeführt, der 1

Sigm. Freud, »Gesammelte Werke«, chronologisch geordnet. Zweiter und dritter Band: Die Traumdeutung. Über den Traum. 3. Aufl. 1961. S. 269 f. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

starke Einfluss, den die Sage von König Ödipus auf unsere Phantasie ausübt, durch den Widerhall, den sie in den dunklen Gründen der Seele von so manchen unter uns findet, erklärt werden, unabhängig von der Tatsache, dass Ödipus selbst das Spiegelbild einer historischen Persönlichkeit ist. Freud kam nicht darauf, dass seine beiden Helden – Ödipus in seinem ersten und Echnaton in seinem letzten Buch2 – ein und dieselbe Person waren. In seiner Erkenntnis des ÖdipusMechanismus oder -Komplexes im antiken wie im modernen Menschen bewies Freud einen Scharfblick, durch den er zum Vertilger jenes in unserem Unterbewusstsein lauernden Ungeheuers und dadurch zum Helfer und zum Schutzheiligen aller seelisch Fehlveranlagten wurde. Sigmund Freud war dazu ausersehen, diese Entdeckung über die Struktur des menschlichen Charakters bereits in einem Alter zu machen, als er noch nicht auf seinen Beinen stehen konnte. Seine Mutter war jung, sie war die zweite Frau seines Vaters, der, als Sigmund zur Welt kam, schon Großvater war. Sigmund hatte einen Neffen zum Spielkameraden, älter als er selbst; seine Mutter hing sehr an ihrem Sohn und auch er behielt eine starke Bindung an sie, selbst als er schon über Siebzig und sie über Neunzig war. Aber, so schrieb er, der erwachsene Mann behält das Bild seiner Mutter vor sich, wie er sie kannte, als er noch ein Kind und sie jung war. Seinem Vater stand Sigmund mit zwiespältigen Gefühlen gegenüber, bei denen Eifersucht und Hass über Zuneigung und Liebe die Oberhand hatten. Als sein Vater starb und Freud anfangs Vierzig war, wurde eine schöpferische Welle in ihm ausgelöst und er schrieb Die Traumdeutung. Es wäre sicherlich berechtigt anzunehmen, dass Freud, der die übermächtige Rolle des Ödipuskomplexes erkannt hatte, ihn auch bezwingen würde: das Wissen vom Vorhandensein eines Komplexes ist zumeist auch gleichbedeutend mit seiner Überwindung. Bei Sigmund Freud lag der Fall jedoch anders und er 2

»Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, 1934.

selbst erbrachte den Beweis dafür in seinem letzten Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion, das er im Alter von achtzig Jahren schrieb und kurz vor seinem Tode veröffentlichte. In diesem Buch versuchte Freud zu beweisen, dass Moses nur ein Schüler des ersten Monotheisten Echnaton war. Für ihn war Echnaton »der erste und vielleicht reinste Fall monotheistischer Religion in der Geschichte der Menschheit«. Man ist überrascht, diese hohe Bewertung Echnatons beim Verfasser des Buches Die Zukunft einer Illusion zu lesen, in dem Freud die Religion – und zwar jede Religion – als eine Art Neurose aus Furcht und Zwang beschrieben hat. Er unterließ es aber, die scharfe Sonde der Psychoanalyse bei Echnaton anzusetzen. Ebenso wenig machte er sich klar, dass Sonnenanbetung nicht als Monotheismus im wörtlichen Sinne, sondern nur als Monolatrie verstanden werden kann. Und gleichermaßen verwirrend ist, es sei denn, man kenne seine innersten Beweggründe, dass Freud darauf bestand, als sein letztes Buch – geradezu als sein Vermächtnis an die Nachwelt – diese Herabwürdigung Mosis zu schreiben und der Öffentlichkeit zu übergeben. Er würdigte ihn herab, indem er ihm Originalität absprach, und entwürdigte damit zugleich das jüdische Volk, indem er diesem nicht zugestand, einen Führer aus der eigenen Rasse gehabt zu haben, denn er machte aus Mose einen Ägypter; endlich würdigte er auch den Gott der Juden herab, indem er aus Jahwe eine Lokalgottheit machte, sozusagen einen bösen Geist vom Berge Sinai. Nach einem langen Leben fühlte er sich noch am Vorabend seines Dahinscheidens bemüßigt, den Gott der Hebräer zu lästern, dessen Propheten herabzusetzen und einen ägyptischen Renegaten als Gründer einer großen Religion zu verherrlichen. Freud gab zu, er habe einen inneren Widerstand zu überwinden gehabt, ob er sein Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu einer Zeit veröffentlichen solle, als Hitler bereits die Pläne für eine Dezimierung, ja für die Vernichtung seiner eigenen Rasse bekanntgab. Aber er spürte den inneren Drang zur Veröffentlichung, weil er sich, wie

Echnaton, dem »Leben in der Wahrheit« verschrieben hatte. So musste er aussprechen, was er als historische Wahrheit ansah. Hierin äußerte sich nach seinen eigenen Worten ein »ungebannter Geist«. Nun ist ein solcher Antrieb selber das Zeichen einer Neurose im Sinne Freuds, und Ernest Jones konnte in seiner dreibändigen Freud-Biographie, so sehr sie Freud verherrlicht, die vielen neurotischen Züge seines Lehrers denn auch nicht verheimlichen. Viele Jahre konnte Freud seine Hemmung, Rom zu besuchen, nicht überwinden, trotzdem es ihn sehr danach verlangte, die Ewige Stadt zu sehen; er stand auch noch unter diesem Zwang, als er sein Buch über Träume schrieb. Als er aber schließlich doch nach Rom fuhr und es später immer wieder besuchte, wurde er von einer Statue, die mitten in Rom steht, magisch angezogen und gleichzeitig erschreckt. »Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat3.« Ich beabsichtige nicht, diese Auseinandersetzung zu einer psychoanalytischen Untersuchung Freuds auszuweiten. Bei einer früheren Gelegenheit unterzog ich Freuds eigene Träume, die er in der Traumdeutung zwischen die Träume seiner Patienten eingeschoben hat, einer Überprüfung und zeigte, dass er zu der Zeit, als er das Buch schrieb, seine feindselige Einstellung gegen seinen Vater noch nicht überwunden hatte und mit sich kämpfte, ob er dem Glauben seiner Vorfahren weiter anhängen 3

Freud, »Der Moses des Michelangelo«, Ges. Werke, X, London 1946.

solle oder nicht. Aus diesem Kampf ging er damals siegreich hervor, jedoch nur, um ihn vor dem Ende seines Lebens noch einmal aufzunehmen4. Sein Biograph Jones war anderer Meinung als ich, allerdings nur auf Kosten eines Verzichts auf jegliche psychoanalytische Betrachtungsweise5. Er kannte Freud seit 1908 und wusste von dessen leidenschaftlichen Beteuerungen der Treue zu seiner Rasse und zum Glauben seiner Väter, obgleich Freud selbst das religiöse Erlebnis, das »ozeanische Gefühl«, wie er es nannte, nicht erfahren hatte. Freud hatte sein Buch allerdings zehn Jahre früher geschrieben, und da seine inneren Überlegungen von Traum zu Traum weitergingen, beschloss er im Jahre 1898, in erster Linie für sich, dann aber auch für seine Kinder, im Lager derer zu bleiben, die mit einem alten Joch belastet und in ihrem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortkommen gehemmt sind. Seit wann aber haben Psychoanalytiker bewusste Beteuerungen und unterbewusste Triebe als identisch betrachtet? Sein Werk über Echnaton und Mose veröffentlichte Freud zuerst in Imago, derselben Zeitschrift, in der er 25 Jahre zuvor Abrahams Aufsatz über Echnaton abgedruckt hatte, den wir auf einer der früheren Seiten zitiert haben. Auf diese letztere Arbeit kam er aber nicht zurück und widmete Echnatons neurotischer Veranlagung nicht einmal einen Satz. Er schrieb über Echnaton, als hätte er weder Abrahams Aufsatz noch seine eigenen Arbeiten über Religion und Monotheismus je gelesen und als ob die4

5

»The Dreams Freud Dreamed«, Psychoanalytic Review, XXVIII (1941), 487-511. Ernest Jones, »The Life and Work of Sigmund Freud«, II (1955), 17. Helen Walker Puner, in ihrer Freud-Biographie, »Freud, His Life and His Mind« [1947]), folgte meiner Auslegung und sah in Freuds unausgetragenem Konflikt mit seinem Vater die Ursache seiner im Unterbewusstsein zwiespältigen Einstellung zu seinem jüdischen Wesen. In einem neueren Buch (»Sigmund Freud’s Mission« [1959]) gab Erich Fromm die gleiche Interpretation Freuds, da auch er dessen ungelösten Konflikt erkannt hatte.

se Themen einer Analyse nicht zugänglich wären. Von der analytischen Theorie her gesehen ist Gott jedoch nichts anderes als die Projektion des Vaterbildes, das mit den Merkmalen der Weisheit und Macht ausgestattet wird. Nach seinen früheren Arbeiten wäre zu erwarten gewesen, dass Freud nicht nur Abrahams Wissen über Echnatons Ödipuskomplex bestätigen würde, sondern es auch in Bezug auf gewisse Erscheinungen in Echnatons Geisteshaltung noch ausgearbeitet hätte. In Totem und Tabu, dessen erster Teil zusammen mit Abrahams Aufsatz in Imago abgedruckt wurde, behandelt Freud den Brauch vieler primitiver Völker in verschiedenen Teilen der Welt, die Toten nicht bei ihrem richtigen Namen zu nennen, sondern ihnen andere Namen zu geben und ebenso den Hinterbliebenen, aus Angst, den Geist des Verstorbenen herbeizurufen. Echnaton ließ den Namen seines Vaters beseitigen und auf den Monumenten durch einen anderen ersetzen, und ebenso änderte er seinen eigenen Namen. Freud hätte auch die analytische Bedeutung der Abschaffung eines Gottes und die symbolische Bedeutung der Sonne, das Vaterbild in Träumen, in seine Betrachtung einbeziehen6 und seine tiefen Erkenntnisse über den Mechanismus der Paranoia auf bestimmte Charakterzüge Echnatons anwenden können. Dies ist eine Erkrankung, deren hervorstechende Merkmale Größenwahn und Verfolgungswahn und Angst vor Intrigen sind. Freud befasste sich mit einem vom Kranken selbst beschriebenen Fall von Paranoia, wie ihn ein bekannter Jurist zu Anfang dieses Jahrhunderts aufgezeichnet und veröffentlicht hat7. Der Betreffende litt unter dem Wahn, er sei dazu bestimmt, der menschlichen Rasse Erlösung zu bringen, 6

7

»Hört, ich habe noch einen Traum gehabt! Da war die Sonne und der Mond und elf Sterne, die warfen sich vor mir nieder … Da schalt ihn sein Vater.. . Sollen etwa ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und uns vor dir niederwerfen auf den Boden?« (Genesis 37, 9-10). Freud, »Gesammelte Werke«, VIII (1943).

ihm werde Sonnenenergie in Form von lebensspendenden Strahlen übermittelt wie sonst niemandem – eine Vorstellung sehr ähnlich der, welcher wir bei Echnaton begegnen. Es ist bekannt, dass bei Schizophrenie »Strahlung« und »Strahlen« in vielen Krankengeschichten eine bedeutende Rolle spielen8. Die dritte Wahnvorstellung bei dem Mann, dessen Fall Freud sich widmete, war, dass ihm ein Geschlechtswechsel bevorstehe und er einen weiblichen Körper bekäme. Der Mann richtete seine Aggression gegen sich selbst und nahm in seinem ganzen Wesen weibliche Züge an. Mehrere Autoren haben beobachtet, dass eine Anzahl von Statuen Echnatons weibliche Formen haben und sind der Meinung, er habe die Bildhauer dazu veranlasst, die femininen Züge beim Modellieren besonders zu betonen9. Wenn König Echnaton die Schranken der Zeit überschreiten und sich auf die Couch eines Psychoanalytikers legen könnte, dann würden schon in einem frühen Stadium der Analyse autistische oder narzisstische Züge, eine homosexuelle Neigung mit verdrängtem Sadismus und weibliche Eigenschaften in den Vordergrund treten, und ebenso ein starker, nicht unterdrückter Ödipuskomplex. Eine zweckmäßige Behandlung dieses historischen Ödipus würde nicht damit anfangen, den Ödipuskomplex abzubauen, sondern zunächst die narzisstische Komponente seiner Psychoneurose zu vernichten. Sobald Freud sich mit Echnaton befasste, ließ er alle seine Erfahrungen und seine analytischen Hilfsmittel außer Acht. Dieses Verhalten wird in der Psychoanalyse Verdrängung genannt. Dass in der Person Echnatons und in seinem Tun etwas verbor8

9

»Diese Strahlen sind das Vorbild der verschiedenen Strahlungsarten, welche die Paranoiker all die Jahrhunderte hindurch beunruhigt haben.« James Strachey, »Preliminary notes upon the problem of Akhenaten«, International Journal of Psycho-Analysis, XX (1939), 33-42. »Echnaton scheint von Geburt an in seiner Veranlagung einen ungewöhnlich starken weiblichen Einschlag gehabt zu haben.« Ebenda.

gen lag, was bei Freud starke Affekte hervorrief, erfahren wir aus einem von Jones beschriebenen Erlebnis im September 1913 in München. Bei einer »Diskussion über Abrahams Aufsatz über Amenophis [Echnaton], in dem Abraham die Staatsumwälzung des ägyptischen Königs auf eine tief verwurzelte Feindseligkeit gegen seinen Vater zurückführte, erhob [C. G.] Jung Einspruch dagegen, dass man dem Ausmeißeln des Namens und der Inschriften seines Vaters durch Amenophis IV., überall da, wo er sie fand, zu viel Bedeutung beigemessen habe; derartige Tötungswünsche seien im Vergleich zu der Großtat der Einführung des Monotheismus unerheblich.« Als Freud sich mit Jung über Abrahams letzte Veröffentlichung unterhielt, wurde er plötzlich ohnmächtig und fiel zu Boden10. An diese Episode sollte man denken, wenn man Freuds Verdrängung seines gesamten psychoanalytischen Wissens in Betracht zieht, als er sich 25 Jahre später mit Echnaton befasste. Stand Freud dicht vor einer tiefgreifenden Erkenntnis und »blockierte« er deshalb, wie es Patienten in der Psychoanalyse tun, wenn sie vor der Enthüllung einer schwerwiegenden Wahrheit stehen? Ich kann hier nicht länger bei Freuds Absichten und verborgenen Motiven verweilen, aber es war mir auch nicht möglich, diese Studie über den historischen Ödipus abzuschließen und jenen Mann mit Schweigen zu übergehen, der Ödipus in das größte Königreich emporhob: das Reich des Unbewussten im Menschen.

10

Jones, »The Life and Works of Sigmund Freud«, II, 147.

Schluss Der Held der Sage oder sein historisches Urbild, gekennzeichnet durch eine Schwellung der unteren Extremitäten, der seine Jugendjahre fern von seiner Heimat Theben in der Verbannung zubrachte; seine Rückkehr nach seines Vaters Tod in sein Land und sein Königreich, das während einer kurzen Zeit von der verwitweten Königin regiert wurde; das Fehlen jeglicher Ehrfurcht gegenüber dem Andenken seines Vaters, dessen Name er beseitigen ließ und dessen Gedenktafel er verstümmelte; sein Leben in verbrecherischer Ehe mit seiner Mutter, mit der er Kinder zeugte; seine Beliebtheit bei seinen Untertanen und ihre Zuneigung zu dem König, »der in der Wahrheit lebt« und den sie für einen Weisen hielten; die unheilvollen Ereignisse in seinem Reich, die dem frevelhaften Leben des Königs zur Last gelegt wurden; die Erblindung des Königs, die erzwungene Abdankung nach sechzehn Regierungsjahren, seine Einkerkerung und Verbannung; die Rolle, die der Bruder der Königin bei dieser Palastrevolution spielte; die Übereinkunft, dass zwei jugendliche Söhne des verbannten Königs abwechselnd regieren sollten; die Weigerung des noch nicht zwanzig Jahre alten jüngeren Sohnes, dem älteren den Thron zu überlassen, als dieser an die Reihe kam; die Unterstützung und Führung, die der damals herrschende Prinz in dieser Sache von demselben Verwandten, dem Bruder der verstorbenen Königin erhielt; der darauffolgende Bruderkrieg, in welchem der verbannte Thronprätendent Hilfe von fremden Heeren erhielt; der Tod der beiden jugendlichen Brüder in der Schlacht um das belagerte Theben; das Verbot des Regenten, den gefallenen Thronanwärter würdig zu bestatten und die prunkvollen Trauerfeierlichkeiten für den gefallenen jungen König; die heimliche Beisetzung des toten Rivalen durch eine mitfühlende Schwester und die nachfolgende Entweihung; die Gefangensetzung der Prinzessin in einem Felsengrab wegen dieser Tat der Barmherzigkeit; die Übernahme

von Krone und Zepter durch den alten Regenten, jenes Verwandten, der während der ganzen Zeit auf dieses Ende hingearbeitet hatte; die Rolle des Orakels, dem Menschenopfer dargebracht wurden und die ebenso wichtige eines alten blinden Sehers – all diese Elemente finden sich sowohl in dem griechischen Drama über die Geschehnisse im Siebentorigen Theben in Böotien, als auch in der ägyptischen Geschichte von Vorgängen im Hunderttorigen Theben am Nil. Einzelne Parallelen zwischen zwei Reihen von Ereignissen können auch bei anderen Situationen aus der geschichtlichen Überlieferung gefunden werden, die zeitlich weit auseinanderliegen. So vollzog Heinrich VIII. den Bruch mit der katholischen Kirche, ebenso wie Echnaton mit dem Amonkult brach, um eine verbotene Ehe zu schließen und seine eigene Kirche zu gründen. Boris Godunow, ein Schwager König Feodors, des Sohnes Iwans des Schrecklichen, begehrte den Thron und erlangte ihn auch – nicht unähnlich Kreon oder Eje – über die Leiche eines erschlagenen jungen Thronerben. Georg III. lebte als Gefangener in seinem eigenen Palast, blind und tief verzweifelt, unmenschlich behandelt von seinem Sohn, der die Macht an sich riss. Aber in unserem Falle gibt es nicht nur eine einzelne Parallele; die Tragödie dreier Generationen spielt sich in ihrer Gesamtheit in Theben in Ägypten wie in der thebanischen Trilogie der Griechen ab. Wir hätten der vorangehenden Aufzählung des parallelen Verlaufs bestimmter Einzelheiten noch viele weitere hinzufügen können, hätten auf den abartig veranlagten Laios hin weisen können, und auf Amenophis III., der weibliche Gewänder trug, oder auf Kreon, dessen Kinder mit seiner ersten, im Kindbett gestorbenen Gattin von Iokaste genährt wurden, während Ejes zweite Gattin das Kind seiner ersten, ebenfalls jung im Kindbett gestorbenen Frau nährte, oder auf Ödipus, der genau wie Echnaton, »Sohn des Helios [Sonne] « genannt wurde. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Echnaton seinen Vater getötet hat; aber »das Ausmeißeln des Namens war ein echter

Mord … nur die Namen zum Tode Verurteilter oder Entehrter wurden ausgemeißelt1«. Andererseits nimmt ein hervorragender Gelehrter, Martin P. Nilsson, an, dass der Vatermord eine spätere Hinzufügung zur Ödipussage sein könnte. Von der Geschichte weicht die Sage ab, indem sie den König, der mit seiner Mutter im Inzest lebt, in Unkenntnis ihrer Blutsverwandtschaft lässt und in diesem Buch wurde auseinandergesetzt, wie durch die Verwendung dieses Elements der Ahnungslosigkeit die Ereignisse einen schicksalhaften Verlauf nehmen mussten, der unabhängig war vom Willen der Beteiligten, und wie das Drama hellenisiert und seine Wirkung verstärkt wurde. In einigen Fällen sind wir auch in der Lage, den Ursprung der Namen in der griechischen Sage zu verstehen: Laios bedeutet »schamlos weibisch«; Kreon heißt »Herrscher«; Ödipus »geschwollene Beine [Schwellfuß]«; Polyneikes »angriffslustig«. Jetzt besitzen wir eine Erklärung für das Nichtvorhandensein von Denkmälern oder Gräbern der Helden der Ödipussage in Böotien und für das Fehlen jeglichen mit ihrem Andenken verbundenen Kults in der klassischen Zeit. Wir verstehen auch, weshalb in der griechischen Sage ein grausames weibliches Ungeheuer, Sphinx genannt, vorkommt, das hoch über Theben auf einem Felsen liegend die Stadt bewacht, und wir wissen, warum nach der ursprünglichen Fassung der Sage, Ödipus neben seiner Mutter eine zweite Frau heiratet und von beiden Frauen Kinder hat. Auf der anderen Seite wird uns klar, warum Echnaton bei seiner Thronbesteigung, wie es die Briefe aus den Archiven von El-Amarna beweisen, nichts von den Staatsangelegenheiten des Königreichs wusste; weshalb er den Namen seines Vaters, nicht aber den Amenophis’ I. oder seinen eigenen auf den Monumen1

Lefebvre, »La vertu et la vie du nom en Egypte«, zitiert von A. Moret, »Revolution of Amenophis IV«, S. 49. »Kings and Gods of Egypt« (1912).

ten beseitigen ließ, trotzdem auch sie den göttlichen Namen Amon enthielten und warum ihm der Amonskult so verhasst war. Desgleichen haben wir den Grund entdeckt, weshalb die Königinwitwe für den König einen Harem unterhielt, und warum ihre Schönheit, ihr Reiz und ihre Lieblichkeit von ihrem Sohn Echnaton so hoch gepriesen wurden; weshalb ausländische Herrscher an Echnaton von »der Herrin deines Hauses«, schrieben und damit seine Mutter Teje meinten; wie Beketaton, ein »leibliches Kind des Königs«, von Teje mehr als sechs Jahre nach dem Tode ihres Gatten [Amenophis III.] geboren werden konnte; warum Nofretete Echnaton verließ und Teje an ihre Stelle trat; aus welchem Grunde Echnaton, der erst bei seinen Untertanen beliebt war, später als Verbrecher und Sünder angeprangert, schließlich entthront und dann verbannt wurde- wie Teje ihr Leben beendete und warum für sie eine ihrer Stellung völlig unangemessene Grabstätte verwendet wurde, ebenso weshalb ihr Leichnam von dort weggebracht, und warum Echnaton in dem königlichen Grab, das er für sich hatte bauen lassen, nicht beigesetzt wurde. Schließlich haben wir erfahren, aus welchem Grund König Semenchkaré, Echnatons Sohn, nach einer Regierung von etwa einem Jahr den Thron an seinen jüngeren Bruder Tutanchamûn abgeben musste; in was für einem Krieg Tutanchamûn kämpfte, wie es auf einem Bild in seinem Grab dargestellt ist5 weshalb die beiden Brüder in so jungen Jahren starben; warum Semenchkaré heimlich bestattet wurde und warum ihm einige königliche Insignien, aber keine Krone oder ein Zepter in sein Grab mitgegeben wurden; aus welchem Grund Tutanchamûn, einem noch nicht zwanzigjährigen König, ein Begräbnis von beispielloser Pracht zuteilwurde; warum sich sein Nachfolger Eje im Grabe des jungen Königs bei der Abhaltung der Totenriten abbilden ließ; wie Eje so mächtig wurde, dass er den Rang eines Pharaos einnehmen konnte; wer die Gefangene war, die im Felsengrab im Tal der Könige eingemauert wurde; weshalb und von wem die Namen Amenophis’ III., Echnatons und Se-

menchkarés auf den Monumenten ausgemeißelt oder abgeändert wurden, und aus welchem Grunde Ejes Grab völlig zerstört wurde. So verlief ihr Leben, und dies war das Schicksal ihrer sterblichen Hüllen in den Gräbern; so lebten sie fort in den griechischen Tragödien, die die Geschichte ihrer Verdammnis über die Jahrhunderte hinweg bewahrten. Und dies mm ist ihre Geschichte, wie sie ein Schriftsteller unserer Tage erzählt. Die »geflügelte Jungfrau« sollte ihn nicht verurteilen, wenn er sich in einer Antwort irrt, so wenig wie ihm ein Königreich für eine richtige Lösung zuteilwerden wird. Die Sphinx war ein Orakel, eigentlich war es an ihr, Fragen zu beantworten, nicht aber Fragen zu stellen. Doch ist es ebenso wahr, dass die Antworten der Orakel oft in die Form eines Rätsels gekleidet wurden, das einer gewöhnlich von den Priestern des Orakels gegebenen Auslegung bedurfte. Der Sage nach war Ödipus jedoch gerade beim delphischen Orakel gewesen, als er von der Sphinx angehalten und ihm ein Rätsel von einem Wesen mit verschieden vielen Beinen vorgelegt wurde. Man hat schon bemerkt, Ödipus’ Antwort habe dem Niveau eines Schülers entsprochen und das Untier müsse wohl schwachsinnig gewesen sein, dass es sich aus diesem Grunde vom Felsen in die Tiefe gestürzt habe. Und warum sollte denn eine geflügelte Sphinx bei einem Sprung in den Abgrund ums Leben kommen? Zahllose Autoren suchten für die Frage der Sphinx eine andere Lösung als die, für welche der Held Beifall fand. Die Antworten gehen von »sexueller Neugier eines Kindes« (Freud) bis zu einem interessanten Gedanken von W. B. Kristensen, die Lösung liege in der ägyptischen Vorstellung von der sich ewig erneuernden Sonne – die Morgensonne wird nämlich hieroglyphisch als Scheibe mit der Gestalt eines Kindes dargestellt (wenn auch nicht eines Kindes, das noch nicht auf seinen Beinen stehen kann), und die Abendsonne als Scheibe mit der Gestalt eines Mannes mit einem Stock.

Es dünkt mich nicht notwendig, dass es auf jede Frage eine Antwort geben muss, oder auch nur geben kann. Ich habe die Sphinx auf dem Felsen stattdessen gefragt, in welche Richtung ich gehen sollte. Doch wäre es auch mein Missgeschick, vor der Sphinx zu stehen mit der beklemmenden Aussicht, niemals nach Theben hineinzugelangen, so würde ich auf ihr Rätsel antworten: »Ödipus ist es.« Die Fragen und Antworten eines Orakels beziehen sich auf den Mann, der vor ihm steht. Ödipus wurde als hilfloses Kind mit durchbohrten Füßen in die Einöde ausgesetzt, wo es sich nur kriechend fortbewegen konnte, er wuchs zum Manne heran und wurde zum Helden, sein Ende aber war das eines blinden Wanderers in der Verbannung – »… sein Bettelstab, ertastet sich den Weg durchs fremde Land2«. Und ich würde hinzufügen: »König war er im Hunderttorigen Theben.« »Mensch« ist jedoch nicht die zutreffende Antwort auf das Rätsel, das die Sphinx aufgab, sondern es ist die Antwort auf das rätselhafte Wesen »Sphinx«, das den Körper eines Tieres hat, das Haupt eines Menschen, und Flügel – ein Geschöpf, das Tier, Mensch und Gottheit zugleich ist. Alles das ist aber auch der Mensch, und der historische Ödipus war bis zum Äußersten erfüllt von diesen drei Wesenheiten. Ungeheuer ist viel und nichts Ungeheurer als der Mensch … Erde, der Götter höchste, die Unerschöpfliche, Unermüdliche Bedrängt sein Pflug … Und die Sprache Und luftgewirkte Gedanken Lehrte er sich … Nur dem Tode entrinnt er nicht3. 2 3

»König Oidipus«. »Antigone«, Chor. Deutscher Text nach W. Kuchenmüller.