Nietzsches Totalismus: Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis 9783110854183, 3110089580, 9783110089585

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Nietzsches Totalismus: Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis
 9783110854183, 3110089580, 9783110089585

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi
1. Nietzsches christliche Prägung
2. Die romantisch-naturreligiöse Form der Erlebnisrepräsentierung
3. Die offene Situation des Naturbewußtseins und die Schopenhauer-Rezeption
4. Die unbestimmte Relevanz des Gleichnisgedankens in der „Geburt der Tragödie“
5. „Verklärung“ als ästhetische Restitution verlorener Metaphysik
II. Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik
1. Heraklitismus und Auflösung des Wahrheitsbegriffs
2. Der naturphilosophische Leitbegriff der „plastischen Kraft“
3. Die defekte Konstruktion des „Werdens“: Entzeitlichung
4. Verdoppelung der „Natur“: „Intuition“ und „Vereinfachung“ der Welt
5. Die Vermittlungsfunktion des Weltgleichnisses: enthusiastische Antizipation, Säkularisierung des Heiligen und Weltverklärung
III. Die Etablierung der nihilistischen Skepsis
1. Anthropomorphismuskritik und ihre Aufhebung in totalisierter Sprachskepsis
2. Totalisierte Erkenntniskritik
3. Die Ambivalenz der Hermeneutik
4. Auflösung des Dingbegriffs
VI. Die Entfaltung der Widersprüche in wissenschaftlich-positivistischer und in verklärender Richtung
1. Die Gleichheitsthematik unter dem Druck von Identitätsphilosophie und Herrentheorie
2. Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra“
3. Gleichnis als Ausdruck defizienter Sprachlichkeit
V. Konzeptionen und Konnotationen von „Welt“
1. Frühphase
2. „Zarathustra“-Zeit
3. „Vom Wert des Werdens“
4. Identität von Welt und Nichts?
5. Welt als Synthesis von Natur und intelligiblem Charakter
VI. Der Zusammenhang der Dinge
1. Die religiöse Deutung des Topos
2. Die Verschiebung des Anthropomorphismus in die naturphilosophische Latenz
3. Modelle des Totalitätsbezugs
VIII. Zusammenfassung
1. Entfunktionalisierung und Ideologiekritik
2. Totalismus und Aussagelosigkeit
3. Unbedingtheit und Rhetorisierung
4. Entzeitlichung und Anpassung
Bibliographie
Personenregister
Sachregister

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von

Ernst Behler · Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 8

1983 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Nietzsches Totalismus Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis

von Walter Gebhard

1983 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften

der

Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via d'Annunzio 237, 1-501 35 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D - 1 0 0 0 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D - 1 0 0 0 Berlin 33

ClP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek Gebhard, Walter: Nietzsches Totalismus : Philosophie d. Natur zwischen Verklärung u. Verhängnis / von Walter Gebhard. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 8) ISBN 3-11-008958-0 NE: GT

© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp. Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

„Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt, Welt hören müJßte, da doch Jeder, ehrlicher Weise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte!" (Nietzsche 1874: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie" —gegen Eduard von Hartmann und „die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß'", KGW III 1, S. 308)

„Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles — wie? vielleicht zur ,Welt'? —'" (Nietzsche 1886: „Jenseits von Gut und Böse", „Sprüche und Zwischenspiele", Aphorismus Nr. 150, KGW VI 2, S. 99)

„Es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken: und nicht nur im Gedächtniß an sie, oder im Eins-Werden mit ihnen, sondern immer von neuem und auf neue Weise soll diese Welt verklärt werden." (Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1883, KGW V I I I 1 , S. 36)

Vorwort Nietzsche verdient den Titel des Meisterkritikers wohl noch mehr als den des Meisterdenkers, mit dem er von der französischen Forschung in eine Reihe mit Fichte, Hegel und Marx gestellt wurde. Seine Meisterschaft erfüllt sich in sprachlicher Eleganz und analytischem Tiefblick nicht allein, sondern darüber hinaus im Anspruch auf die Schrankenlosigkeit des kritischen Zugriffs: Meisterkritiker der Tradition — und des Fortschritts, des Fürwahrhaltens — und der Wissenschaft, der Glaubens- und der Wissensannahmen, erzwingt Nietzsche die Frage nach der Begrenzbarkeit der kritisierenden Mittel und der kritisierten Verfahren. Sein Diskurs steht in der widerspruchserzeugenden Spannung zwischen totalisierendem Verdacht, verallgemeinerter Kritik und nicht weniger total motivierter Bejahung. Soweit dies Denken sich als Kulturkritik artikuliert, gewinnt Naturphilosophie die Bedeutung der kritischen Instanz; soweit Natur selbst als Instanz der Einheit, des Totalen berufen wird, verwandelt sie sich in das Bild der Erlösung und des Schreckens. Diese ambivalente Spannung teilt sich als Moment totalisierender Argumentation jedem Wertungselement mit. Das macht das doppelte Wesen des „Totalismus" aus. In der Bereitschaft zur Extremisierung beansprucht Nietzsche auch seine Identität in der angedeuteten „totalistischen" Weise: Das Kritisierte nicht aufzugeben, dient ihm die „Überbietung" als Behauptung überschwenglichen Wertes für ,alles'. Die Einheit des Unterschiedlichen wird in einem Denken des „Zusammenhangs der Dinge" auch bei Nietzsche — trotz der Wahrnehmung erschreckender Befremdlichkeit der Natur — mit Mitteln der religiösen, kosmologischen und romantischen Thematisierung angegangen, — selbst wenn die sprachliche und ideologische Artikulation die entsprechenden kritischen Appelle enthält. Die Verwunderung über eine uferlose Nietzscheliteratur, die einem grassierenden Sprachbestand seiner Texte, dem Allurteil, noch kaum Aufmerksamkeit schenkte, gehört zur Motivation dieser Untersuchung. Das .poetische' Korrelat dieser logischen Figur, das Sprechen in Gleichnissen, ist freilich immer wieder Gegenstand der Forschung, insbesondere der theologisch interessierten, gewesen. Die vorliegende Untersuchung entstammt dem Interesse an der Frage, wieweit sich die spätere, nachhegelianische deutsche Naturphilosophie der kosmologischen ,Umwidmung' der Naturwissenschaft zum Zweck ihrer Integration in die kulturelle Traditionswelt zuwandte. Sie war ursprünglich unter dem

VIII

Vorwort

Titel „Umkehrving und Intensivierung der Gleichniswelt" als zentrales Kapitel in eine von Schopenhauer bis Haeckel reichende Darstellung des Totalitätsbewußtseins im 19. Jahrhundert eingeordnet. Dieser Titel enthält die These, daß mit der .überbietenden' Romantik-Kritik — als Kritik der argumentationslosen Einheitsannahmen — bei Nietzsche eine zwar verborgene, aber in der rhetorischen Fruchtbarkeit intensivierte Tradition des Gleichnisdenkens vorliegt, die dem enzyklopädischen Modell seiner Anwendung, wie es bei Schopenhauer, Lotze, Fechner und anderen vorliegt, eher auf der Ebene der sprachlichen Realisierung als auf der Ebene der Fragestellung widerspricht. Der Versuch eines geistesgeschichtlichen Verstehens Nietzsches im Rahmen seiner sprachund ideologiegeschichtlichen Lage und unter Einsatz wenigstens einfacher linguistischer und literaturwissenschaftlicher Kategorien ist auch in der neueren Nietzsche-Literatur kaum gewagt worden. Sie ist großenteils philosophisch angelegt. Da die vorliegenden Analysen bereits 1 9 7 6 / 7 7 abgeschlossen worden sind, konnten leider wichtige Arbeiten der gegenwärtigen Forschung nicht mehr eingearbeitet werden. Meine Beanspruchung mit der "Übernahme der Tätigkeit in der erst eingerichteten Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Bayreuther einerseits, die Langwierigkeit der Förderungsentscheidungen andererseits haben die Drucklegung verzögert. Erst die sechziger Jahre haben die großen metapherntheoretischen und sprachkritischen Arbeiten zur Philosophie gebracht, die auch nicht sogleich auf die Werke Nietzsches Anwendung gefunden haben.1 Thematisch relevante Veröffentlichungen der starken französischen Nietzsche-Exegese sind herangezogen worden 2 , nicht mehr jedoch die aus der ι Vgl. dazu M. Black, Models and Metaphors, Ithaka 1962, die metaphernhistorisdien Arbeiten Blumenbergs (Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale 10, 1947, 432-477; Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Ardiiv für Begrifisgesdiichte 6, 1960, 1-147; Beobachtungen an Metaphern, ebd. 15, 1971, 161-214), die Arbeiten von W. Ingendahl {der metaphorische Prozeß, Düsseldorf 1971; Die Metaphorik und die sprachliche Objektivität, in: Wirkendes Wort 22, 268-274), Hans-Heinrich Lieb (u. a. Oer Umfang des historischen Metaphernbegriffs, Köln 1964), — vor allem dann die weiterweisende Arbeit von Wilhelm Koller, Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern, Stuttgart 1975. Auf einige der kritischen Beiträge zur Philosophiesprache sei hingewiesen: Bela Juhos, Ober Analogieschlüsse, in: Studium Generale 9 (1956) 126-129; C. A. Emge, Oer ethische Fehlgriff nach dem Ganzen. Über einen anscheinend typischen Mangel normativer Theorien, in: Abhandlungen der geistes- und sozialwissensdiaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1969, 3-46; Dauenhauer, B. P., Thinking about the „World" as Mythic Thinking, in: Kantstudien 62 (1971) 172-184; Ε . Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958; ders., Die Voraussetzung der Transzendentalphilosophie, Hamburg 1975. 2

Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976. Jean Granier, Le probtime de la verite dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966. Sarah Kofmann, Nietzsche et la metaphore, Paris 1972. Bernard Pautrat, Versions du soleil. Figures et systkme de Nietzsche. Paris 1971.

Vorwort

IX

Lacan-Schule erwachsenen Beiträge und die ,poststrukturalistischen' Verarbeitungen. Besonders wichtige Veröffentlichungen im deutschen Sprachraum sind erst nach Fertigstellung der Arbeit erschienen. Es zeigt sich jedoch eine überraschende Übereinstimmung in den Fragestellungen. So besonders in zwei Bänden der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Ruediger Hermann Grimm gibt in Nietzsche's Theory of Knowledge eine verläßliche, vor allem auf die Spätphilosophie ausgerichtete Synopse und Diskussion zu Nietzsches Wissenstheorie. Sie enthält allerdings noch wenig von sprachkritischen Ansätzen. Die Bearbeitung der brisanten Thesen von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn" (KGW III, 2,373 ff.) muß weitergeführt werden, sofern die komplexe henneneutische Fragestellung des Aufsatzes mehr enthält als eine Attacke „directed toward our forgetfulness of the creative, artistic nature of language" .3 Daß es sich bei Nietzsches Philosophie um eine fundamentale Hermeneutik handle, ist durch die Studie von Johann Figl Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß 4 in aller wünschenswerten Systematik nachgewiesen worden. Dabei wird auch die ,reduktive' Tendenz der Nietzscheschen Hermeneutik in der Abgrenzung inhaltlicher und formaler Argumentationsebenen deutlich gemacht und im Vergleich mit der Entstehung der Semiotik festgestellt, „daß nach Nietzsches Verständnis der Auslegung diese selbst nicht primär ein Verstehen von zu deutenden Zeichen und Sinnsymbolen ist, sondern die Interpretation selbst ein Zeichen des ihr zugrundeliegenden Geschehens ist, das des näheren als Kampf um Macht verstanden wird." 5 Ein Beleg von höchster Wichtigkeit für meine These, daß sich die Gleichnistätigkeit durch Umkehrung intensiviere! Und unter diesem Aspekt erscheint auch Figl „die henneneutische Theorie Nietzsches in einem äußerst starken Ausmaß problematisch"6. Der spät erst von ihm eingebrachte Punkt der Kritik ist unmittelbar mit dem sprachlichen Problem der Übertragung und des Allurteils verbunden: Die Frage sei aufzuwerfen, „ob das Machtwollen bzw. die ihm korrespondierenden Prozesse tatsächlich die letzte und alles bestimmende Realität, der Grundcharakter alles Geschehens ist"7. Die vorliegende Arbeit versucht den Nachweis, daß die 3 R. H. Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge ( = MTNF 4), Berlin/New York 1977, 97. 4 Bd. 7 der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Berlin, New York 1982. 5 Ebd. 173. 6 Ebd. 7 Ebd. 210. Figl kritisiert — außergewöhnlicherweise — audi die Totalisierung des Nietzscheschen Axioms von der „Falschheit" alles Auslegens: „Die Kennzeichnung .falsch' ist also nicht etwa deshalb abzulehnen, weil sie nicht zuträfe, sondern im Gegenteil: eben weil die Falschheit unumgänglich und notwendig das Interpretieren prägt, ist sie überflüssig." (Ebd. 199)

χ

Vorwort

Radikalisierung der Spätphilosophie bereits in den Totalisierungsmustern der frühen Reflexionen Nietzsches vorbereitet ist. Sie will den Blick auf die Entfaltung zweier gegensätzlicher Linien von Einseitigkeit lenken. Um die Konvergenzen in der jüngsten Forschung sichtbar zu machen, darf auf einige weitere Forschungsergebnisse hingewiesen werden. Wenn Nietzsche als Exponent der Lebensphilosophie erscheint, so berücksichtigt die Analyse des Totalismus, daß in der Forderung nach dem .Ganzen' häufig eine nicht gerechtfertigte Partikularisierungsangst liegt. Die auf Distanztilgung ausgerichtete Vitalphilosophie hat entsprechend der hier nur angedeuteten Herkunft aus dem schopenhauerschen Denken „dieselben romantisch-idealistischen Impulse", wenn Nietzsche „das dionysische Ursein in Hegeischen Begriffen als einen Gott bezeichnet, ,der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der sich, Welten schaffend, von der Not und Überfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst'" .8 Dieser Satz aus der GT enthält das programmatische Widerspruchsmodell, das den ideologiekritischen Nietzsche mit dem religionsrehabilitierenden verbindet. Auf diese Verbindung kommt es hier an — entgegen manchem Vorschlag der Entaktualisierung des Zarathustra (vgl. Hermann Wein, Jürgen Habermas). Hatte die Spekulation des restaurativen 19. Jahrhunderts den „Zusammenhang der Dinge" meist verklärt, so wird Natur bei Nietzsche selbstantagonistisch: mit ihren Entsetzensqualitäten ist das kathartische Moment des Schreiensbildes garantiert.9 Von der Welt/Ich-Spiegelung kann jene bisher ungedachte Selbstbewältigung abgeleitet werden, die in der Darstellung als „egologische Totalüberwältigung" (vgl. VI, 2d) beschrieben wird. Angewandt auf die anthropologischkosmologische Einheitsthese vom „Willen zur Macht", werden dessen Objekte schließlich zu Momenten seines Selbst-Bezuges.10 8 So Ernst Behler in seinem Beitrag über Marx, Nietzsche und die deutsche Frühromantik, in: Grimm/Hermand (Hrsg.), Karl Marx und Nietzsche, Königstein/Ts. 1978, 42 (Zitat SA I, 15). 9 Für Friedrich Schlegels Transformation der zerreißenden Naturmadit in die „Einheit der in unendlich vielen Gestalten geheimnisvollen Urkraft, die alles erzeuge und ernähre", stellt Behler die nachromantisch verlorengegangene Distanz der positiven Katharsis fest, wonach „das Gefühl des Schreckens angesidits der allmächtigen Natur in Lust übergeht" (ebd. 41). Ό Darin sehe ich eine Konvergenz zu Jendris Alwast, Logik der dionysischen Revolte. Nietzsches Entwurf einer aporetiscb dementierten ,kritischen Theorie", Meisenheim a. G. 1975. Vgl. dazu am ehesten die Ausführungen über den „dionysischen projet original" 210 ff.: „In der von dem Gleichnis des Willens angezeigten Differenz richtet sich der .dionysische' Wille zur Macht auf sich selbst in seinem entfremdeten .Anderssein', taxiert die .eigenen' Entwürfe als nicht-authentische und setzt als Gegenideal den .dionysischen' projet original als Ausdruck eines authentischen Lebens." (211) Wenig

Vorwort

XI

Man vergleiche zu diesem Problem und seinem sprachlichen Lösungsangebot den lexikalischen Befund: Die Diversifikationen von Sozialkategorien, die normal Elemente sozialer Identität sind, verlagern sich in die überschüssig zahlreichen Kompositeme mit „Selbst-" — man vergleiche das Sachregister. Andre Glucksmann gibt unter dem Kapitel der von Nietzsche beanspruchten „Redlichkeit" einen Hinweis auf die „beliebtesten Spiele der jungen linkshegelianischen Doktoren um Marx herum: alle Probleme dadurch zu lösen, daß die Vorsilbe Selbst dem Problem und seiner Benennung vorausgestellt wurde — die Emanzipation löst sich als Selbstemanzipation auf, Schöpfung als Selbstschöpfung, Verwaltving als Selbstverwaltung . . . " . „Nietzsche folgt bis zum äußersten dieser Bewegung einer Sprache, die sich in ihrer eigenen Beherrschung einhüllt und sich keiner Identität mehr unterwirft, weil sie sie alle aufzwingt [ . . . ] . " 1 1 Die Gefahr der Gegenstandslosigkeit nur angemaßter Eroberungen wird in den zahlreichen Kapiteln beschrieben, die den Verlust von Hermeneutik, von Wirklichkeits- und Dingbegriffen analysieren. Der ruinöse Umfang solcher Eroberung wird in den Kapiteln über „Ich-Heiligung und .zwiefache Fälschung'" (VI,2d), über die Erlösungsfunktion des regressiven Selbst- und Allbezugs (VI, 3 c) und über „Totalismus und Aussagelosigkeit" (VIII, 2) skizziert. Das Faszinierende an der von Nietzsche betriebenen Ästhetisierung ist jedoch, daß die sozialen Ängste in ihr reprojiziert bleiben. Deshalb ist Gert Mattenklott voll darin zuzustimmen, „daß Nietzsche die Möglichkeit der D a r s t e l l u n g von Natur nur als die im Mythos hat denken können (von dem er die Kunst nicht unterscheidet)" und „daß die bürgerliche Klasse zu dieser Zeit humane Kulturutopien nur noch in äußerster ästhetischer Stilisation formidieren kann" } 2 Das soziale und kritische Korrektiv der Ästhetisierung auch der kosmologischen Spekulation schwindet: die sich ausweisende Argumentation. Der Utopik bleiben nur zwei Tendenzen, die gleichermaßen zu den inneren Fluchtutopien der Jahrhundertwende führen: die Hoffnung auf eine namenlose Solidarität (der die kunstreligiösen Ideologien und Gruppierungen im Umkreis von Wagner und die späteren Reformbewegungen korrespondieren) und die Affirmation von Erfahrungslosigkeit. Sie scheint in Nietzsches Fatalismustheorie zu kulminieren. Sie findet ihre historische Analogie jedoch in allen Phasen sozial- und einverstanden kann man mit der Art sein, wie Alwast mit der Forsdiungsdiskussion über Nietzsches Widersprüche fertig wird (vgl. 217 f.), und mit seiner sehr an Nietzsche erinnernden Lexem-Verdoppelung des „Dionysischen als dionysische Allbejahung und als .dionysische' Wertabmessung", was gar zu einem „dionysisch-,dionysischen' Philosophieren" führt (219). π Andri Glucksmann, Die Meisterdenker, Hamburg 1978, 255. 12 Gert Mattenklott, Nietzsches ,Geburt der Tragödie' als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution, in: G. M., Klaus R. Sdierpe (Hrsg.), Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, Kronberg 1973, 120.

XII

Vorwort

kulturpolitischer Enttäuschung — wie hinsichtlich der überraschend präzis gegen Mitte der siebziger Jahre einsetzenden Restauration für Schopenhauer, die frühromantische Philosophie und ihre Weiterungen zu beobachten war. Rhetorik ist dann — darauf weist Mattenklott hin — entsozialisiert und „nicht mehr Ausdruck von Spontaneität, die in der Philologie ihr Regulativ findet, sondern System von Gleichnissen für die Darstellung eines wesenhaft Unmittelbaren" .13 Den Zusammenhang von erfahrungsloser Selbstbestätigung und Akklamation des Anachronistischen versuchen die letzten Kapitel der Untersuchung zu erhellen, die sich Nietzsches Fatalismus stellen. Schon in den Vorarbeiten zur GT werden die Strukturen einer nicht auf Mitteilungsdifferenz, sondern auf vereinnahmende Identitätsfindung bezogenen Kommunikationstheorie greifbar. Die Verständigung unter „seinesgleichen" erspart sich in den Einheitserlebnissen dionysischer Gleichniswelt die Anstrengung des Transfers: „Der dionysisch erregte Mensch hat ebenso wenig wie die orgiastische Volksmasse einen Zuhörer, dem er etwas mitzuteilen hätte . . . er wird nur von seinesgleichen verstanden."14 Im gleichen Sinn einer nahezu traumatischen Identitätssuche heißt es: „Sprechen ist im Grund ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat."15 Die Möglichkeit des Verlustes der Objektbeziehung ist in solchen hermeneutischen Prädispositionen bereits angelegt. Das Buch sei dem Andenken der Leiden meiner Mutter Mathilde Gebhard (1898-1980) gewidmet. Zu danken ist ihr und so vielen: der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ein großzügiges Stipendium, den Begleitern der entstehenden, den Bewertern der abgeschlossenen, den Helfern und Herausgebern der veröffentlichten Arbeit. Bayreuth, im Januar 1983

W. G.

» Ebd. 14 Zit. nach Bazon Brock, Lebensmusik gegen Trommelwirbel und Trompetensignal, Literatuimagazin 12, Nietzsche, Hamburg 1980, 52. 15 Zit. nach Gerhard Rupp, Der ,ungeheure Consensus der Menschen über die Dinge' Das gesellschaftlich wirksame Rhetorische. Zum Nietzsche des Philosophenbuchs, Literaturmagazin 12, 197.

in: oder in:

Inhaltsverzeichnis Votwort Enleitung I. Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi 1. Nietzsches christliche Prägung 2. Die romantisch-naturreligiöse Form der Erlebnisrepräsentierung 3. Die offene Situation des Naturbewußtseins und die Schopenhauer-Rezeption 4. Die unbestimmte Relevanz des Gleichnisgedankens in der „Geburt der Tragödie" a) „Schein", „Bild" und „Traum" b) Romantisch-introspektive Welt-Topik 5. „Verklärung" als ästhetische Restitution verlorener Metaphysik a) Die Widerspruehsmetaphorik von „Traum" und „Rausch" . b) „Verklärung" c) „Ästhetische Rechtfertigung" II. Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik 1. 2. 3. 4.

Heraklitismus und Auflösung des Wahrheitsbegriffs . . . . Der naturphilosophische Leitbegriff der „plastischen Kraft" . . Die defekte Konstruktion des „Werdens": Entzeitlidiung . . Verdoppelung der „Natur": „Intuition" und „Vereinfachung" der Welt 5. Die Vermittlungsfunktion des Weltgleichnisses: enthusiastische Antizipation, Säkularisierung des Heiligen und Weltverklärung III. Die Etablierung der nihilistischen Skepsis 1. Anthropomorphismuskritik und ihre Aufhebung in totalisierter Sprachskepsis a) Wahrnehmungs- und Metapherntheorie

VII 1 7 7 13 22 27 27 38 45 45 53 61 68 70 80 86 94 102 110 111 113

XIV

Inhaltsverzeichnis

b) Negative Theorie der Sprach- und Begriffsentstehung . 2. Totalisierte Erkenntniskritik 3. Die Ambivalenz der Hermeneutik 4. Auflösung des Dingbegriffs

.

.

119 125 134 144

VI. Die Entfaltung der Widersprüche in wissensdiaftlich-positivistischer und in verklärender Richtung

152

1. Die Gleichheitsthematik unter dem Druck von Identitätsphilosophie und Herrentheorie a) Die Abwehr des Vergleichbaren b) Ungleichheit und Lebensbegriff 2. Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra" . . . . a) Das Sonnengleichnis b) Doppelwertigkeit und Zerfall der Gleichnisstruktur . . . c) Rätsel, Traum und Spruch im Gleichnisrahmen d) Präpositionalverschiebung und Lügenstruktur 3. Gleichnis als Ausdrude defizienter Sprachlichkeit

152 157 164 171 174 190 196 203 216

V. Konzeptionen und Konnotationen von „Welt" 1. 2. 3. 4. 5.

Frühphase „Zarathustra"-Zeit „Vom Wert des Werdens" Identität von Welt und Nichts? Welt als Synthesis von Natur und intelligiblem Charakter .

233

.

VI. Der Zusammenhang der Dinge 1. Die religiöse Deutung des Topos 2. Die Verschiebung des Anthropomorphismus in die naturphilosophische Latenz a) Otto Casparis soziomorphes W e l t m o d e l l . . . . . . . b) Transzendentalistisches Apriori und Soziomorphismus bei Nietzsche c) Ichheiligung und „zwiefache Fälschung" d) Der „Wille zur Macht" als soziomorph reduktives Redemodell: egologische Totalüberwältigung 3. Modelle des Totalitätsbezugs a) Kritik am Totalitätsanspruch und Totalität als regressive Integration

233 242 251 257 263 275 275 283 283 292 300 307 317 317

Inhaltsverzeichnis

b) Das Ganze als Verhängniszusammenhang und als Verantwortungsentlastung c) Die religioide Erlösungsfunktion des dionysisch-regressiven Selbst- und Allbezugs als theomorphe Ästhetisierung . . . d) Totalität, Indifferenz und Mißlingen der Umkehrung: „Eins ist Alles" V3I. Zusammenfassung 1. 2. 3. 4.

Entfunktionalisierung und Ideologiekritik Totalismus und Aussagelosigkeit Unbedingtheit und Rhetorisierung Entzeitlichung und Anpassung

XV

325 329 333 342 342 348 354 358

Bibliographie

371

Personenregister

381

Sachregister

385

Einleitung Mit dem Ende der Goethezeit stößt das Weltbewußtsein des 19. Jahrhunderts an die Grenze der Glaubbarkeit jener Einheitshoffnungen, die sich eben exzessiv in der romantischen Bewegung noch einmal auf das spirituelle Selbstbewußtsein gestützt hatten. Der ideologiekritische Schock, den die Rezeption des französischen Materialismus, die Feuerbachsche Religionskritik und der wissenschaftliche Mechanismus im dichtungs- und philosophiesprachlich bestimmten Denken der Jahrhundertmitte ausgelöst hatte, reagiert auf eine enorme Verletzung des Selbstgefühls, das sich bereits seit Jahrzehnten defensiv durch die transzendentale Ableitung des Wesens der Welt, seiner Erkennbarkeit aus der Erkenntniskonstitution des Menschen und seiner moralischen Selbstwahrnehmung beglaubigt hatte. Schellings Natur- und Hegels Geistphilosophie konvergieren in der Legitimation von Einheitsannahmen, deren Struktur aus der philosophischen Selbstwahrnehmung abgeleitet ist. Unsere Forschungen zur Ideologie des „Zusammenhangs der Dinge", wie sie über die Nachwirkungen des klassischen, romantischen, aber auch des barocken und mystischen Denkens des 17. Jahrhunderts eine breite apologetische Front gegen die modernen Difierenzierungsschocks im 19. Jahrhundert gebildet hat, bezeichnen die oft zur reinen Gegenseitigkeit vereinfachte Reziprozität von Welt- und Selbstanschauung als „transzendentalistisches Apriori".1 Die Reaktionsbildung auf den Zusammenstoß zwischen der jüngsten epistemologischen Selbsterfahrung, der rationalen Wissenschaft, und der erdrückenden Tradition der metaphysischen Annahmen mußte notwendig zur Problematisierung von Begründungsfragen und antizipativ glaubbaren Totalitätsannahmen führen. Die metaphysische Tradition hat jedoch das Plus-Angebot entlastender, analogisch einsetzbarer Zusammenhangsannahmen und Entsprechungsvariablen zu machen. Sie stellt sich gesellschaftlich dementsprechend als Rettung vor .Zerrissenheit', »Entwertung' usw. dar; ihre großartigste Bewährung wäre die Rückintegration der aus dem Wertungsverband ausgebrochenen Naturwissenschaften. Die berufene Gefahr einer ,Entäußerung' des Menschen an die emphatisch nicht mehr erreichbare Äußerlichkeit der naturgesetzlich objektivierten Dinge erhöht sich durch die Entdeckung der weitgehend projektiven Konstitution religiöser und religionsbezoge-

1

Walter Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, 2 Bd. Tübingen 1983.

2

Einleitung

ner Weltanschauungen. Vom Dichtungsbewußtsein her gewinnt das Interesse an emphatischer Selbsterfahrung, wie es noch die durch den philosophischen Idealismus hindurchgegangene Religion in Theoremen der „Unendlichkeit", der „Selbstanschauung" usw. weiterführt, eine wesentliche Unterstützung. Denkformen der Naturwissenschaft verfallen im verklärungsapologetischen Bedürfnis — das nicht ohne den Entwertungsschock seine signifikante Brisanz erhalten hätte — einer möglichst totalen Verdammung: Schopenhauers Verdikt über alles Kausale, seine Entwertung aller Verstandestätigkeiten entspricht dem romantischen Beziehungsbedürfnis nach „Unmittelbarkeit". Der Bedarf an neuer kosmologischer Intentionalität (nachdem die weltlenkerische Gottes fragwürdig geworden war) wird mit bemerkenswerten Steigerungen dem transzendentalistischen Fundus des Idealismus entnommen — die antimaterialistische Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts versteht sich explizit als Restitution der Einheitsphilosophie Schellings, der Romantiker, der Organismustheorien. Es gibt so eine literarisch-ästhetische und eine psychologische Bewältigimg der Erfahrung der Kluft zwischen Natur (als einer nicht in Intentionszusammenhängen einzufangenden Instanz) und Sittlichkeit als Grundlage des Weltverständnisses. Sie treffen sich noch in den enzyklopädischen Kompendien der großen Naturphilosophie, wie sie Gustav Theodor Fechner in regenerierter animistischer Religiosität, Lotze in rational abwägender und enthaltsamer Form der Konfliktvermeidung, Schopenhauer in polemisch-pessimistischer Konfliktschärfung, Eduard von Hartmann in spielerischem Aufwand abstrakter Monismen liefern. Immer sind die,Zielwerte', moralisch-sittliche Intendierbarkeit und formale Traditionshaltung, beibehalten. Erst Nietzsche liefert die über Strauß und Feuerbach hinausgehende Radikalisierung der Kritik an diesen synthetischen Modellen der Verschleierung und Versöhnung der auftretenden Widersprüche totaler Weltanschauung. Während die Naturphilosophen in breiter Abfolge von Variationen und Restaurationen die Vermittlung der Widersprüche durch Methoden der Begriffserweiterung und der Metaphernbildung, der Analogien und Übertragungen versuchen, stößt Nietzsche — bei gleicher geistesgeschichtlicher Ausgangslage — in die methodischen Implikationen der wissenschaftlichen Erkenntnissituation vor. Er gelangt dementsprechend zu einer zunehmend vertieften Infragestellung der traditionskonstituierenden Momente des Platonismus, des Offenbarungsbegriffs, des ontologischen Wahrheits- und des philosophischen Erkenntnisanspruchs. Es stellt sich die Frage, wieweit die Kritik dieses traditionellen Syndroms — in Kürze „Idealismus-Kritik" — mit einer rational sich ausweisenden Widerlegung oder mit einer irrationalen Verdrängung der idealistischen Grundstellungen des Gedachten in der Kritik des Denkens zusammenführt. Es stellt sich die Frage nach der Gefahr einer Totalisierung der Kritik, die das Kritisierte letztlich wieder auftauchen läßt.

Einleitung

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Was der in historischen und politischen Anwendungen entfaltete Idealismus als „Weltgeist", „Weltprozeß" konzipierte, sollte auch der spiritualistischen Auslegung von Geschichte dienen. Diese selbst aber war bereits von Konsequenzen des naturromantischen Denkens ausgehöhlt. Der naturreligiösen „Weisheit der Brahmanen" ist zu großen Teilen die Entleerung des historischen Bewußtseins und die damit verbundene Praxislosigkeit der ersten Jahrhunderthälfte zu verdanken. Weltweisheit bezieht sich nur noch, wie es Rückerts Verse wollen, auf „Gott, Natur und Geist". Nietzsches kulturkritischer Angriff auf Geschichte in der zweiten Jahrhunderthälfte beruft sich auf die Feststellung verfehlter Praxis, soweit sie Lebensform ist, und wird zunehmend auf die biologisch« Substanz anthropologischer Kategorien aufmerksam machen. Er durchschaut in einem nie dagewesenen Ausmaß nun gerade die emphatischen, hyperbolischen Idealisierungen als Verdrängungen der anstehenden naheliegenden Realität. Mit der radikal subjekttheoretischen Substanziierung des Menschseins kehren jedoch im Verlauf seines pessimismuskritischen Wertens Sprachformen in ihre Legitimität zurück, die dem romantischen Naturbewußtsein entstammen: Heroismus und spielerische Selbst-Welt-Repräsentation, Einheitsforderung und permanente Verklärung von Erfahrung, Sein und Welt. Freilich ändert sich — wenn anders es als reaktionstypische Beziehung angesetzt werden kann — Nietzsches Sprechen gegenüber den an enzyklopädischen Aufgaben festhaltenden rechtshegelianischen bis reaktionären Naturphilosophen: hatten diese sidi wahrlich um eine „volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß" bemüht, so blieb ihr integratives und explikatives Darstellen immer bezogen auf das Problem „eines bloß [scholastisch und philosophiegeschichtlich] verabredeten Zusammenhangs, aus dem allzu fertig deduziert werden kann." 2 Jedoch muß der Hinweis auf die Subjekt-Radikalität des Nietzscheschen Denkens ergänzt werden: Nietzsches Scholastiker heißt Schopenhauer, und ob es Nietzsche gelungen ist, von den kunstästhetischen Präliminarien der Schopenhauersdien Kosmologie je loszukommen, mag einer Lektüre der ungeschmälerten Darstellung des „Zusammenhangs der Dinge", die sich, auf die Analyse Schopenhauers zurückbezog, in der das Kapitel über Nietzsche die zentrale Mitte bildete, besonders fraglich erscheinen. Kunstphilosophie und transzendentalistisch ausgelegte Naturwissenschaft dürften die wesentlichen diskursiven Operationsformen des gesamten Denkens des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Ihre gegenseitige Verflechtung — in Anwendungen, Entlehnungen, Rückgriffen, Experimenten — durch die weitere idealistische Epoche in exemplarischer Darstellung sichtbar zu machen, war das Vorhaben eines einheitlich konzipierten Werks, das sich in das Schicksal der Teilung zu schicken hat.

2 Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt/M. 1975, 47.

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Der Versuch, Nietzsches selbstwidersprüchliches Denken verstehbar zu machen, hat zu einer viel stärkeren Berücksichtigung seiner geistesgeschichtlichen Abhängigkeiten geführt, als es einer scholastischen Exegese angenehm sein mag. Wenn der kritisch-genaue Blick auf die minimalen Bewegungsformen dieses Denkens sich mit dem skeptischen auf die Abwehrphilosophien des revolutionär vorerschütterten Jahrhunderts verbindet, so mag der Eindruck unbotmäßig gesteigerter Kritik entstehen. Es muß vorangestellt werden, daß die innovatorischen, intensivierenden, ideologiekritischen und artistischen Leistungen Nietzsches hier keiner eigenen Herausstellung bedürfen: Einigkeit über seine Bedeutung wird vorausgesetzt. Aber mit dem impliziten Bezug auf Nietzsches wagemutige, ja waghalsige ,Aufklärung' ist die in ihnen enthaltene Dialektik des Selbstwiderspruchs, und eine sehr spezifisch davon ausgehende „Dialektik der Aufklärung" umgekehrt zu reflektieren. Zumal, wenn als dominantes Vehikel der Aufklärungsbewegung das Allurteil, in Nietzsches eigenem Wort: der „Totalismus" erscheint. Der Ruin der Aussagehaltung und Urteilsfähigkeit müßte zunächst einmal davon abgeleitet werden, ehe Spekulationen über welthistorische Veränderungen eines sachlich unbeschriebenen Diskurses einsetzen. Die Arbeit verweist aus dem philosophiesprachlichen Teil der Bewegungsrekonstruktion des Nietzscheschen Denkens gelegentlich auf die biographischhistorische Dimension, ohne in ihr Urteilsfindungen ansetzen zu können. An der Analyse der Totalitätstopoi — Darstellungs- und vor allem Selbstbeziehungsformen, die genau an der ergiebigsten Bruch2one der Nietzscheschen Sprachwelt: an den bildlichen Verwerfungen seines aufklärerischen Monologs — anzusetzen haben, kann auch im diachronen Aspekt etwas über die Validität dieser „Epochenproblematik" ausgemacht werden. Zu selten hat die NietzscheLiteratur die Chance gesucht, vom philologischen Befund abgestützte Urteile über ,unbewußte' Vorgänge und Korrelationen dieses Denkens zu finden. Aus Gründen der leichteren Überprüfbarkeit, der beschleunigten Arbeitsförderung durch den Nietzsche-Index und der allgemeinen Erreichbarkeit zitieren wir teilweise noch aus der dreibändigen Ausgabe der Werke von Schlechta. Gleichwohl werden Zitate aus der neuen historisch-kritischen Ausgabe ( = K G W ) und aus der Literatur übernommen, ohne sie auf die Schlechta-Ausgabe zurückzubeziehen, was vor allem auch bei früheren Arbeiten wie etwa denen über Nietzsche als Naturphilosoph (A. Mittasch) zu Schwierigkeiten führen würde. Schlechtas Index gibt ein brauchbares, für grobe Information ausreichendes Material zu vielen der für Nietzsches Denken zentralen Begriffe und Anschauungen. Er scheint jedoch die Kapitalbegriffe der Weltanschauung eher zu berücksichtigen als die anschauungs- und denkfunktionalen Ausdrücke, die sie erst ermöglichen. Da nahezu alle für unsere Untersuchung wichtigen Termini ent-

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weder fehlen oder sehr unvollständig bearbeitet sind, mußte ein Ergänzungsregister etwa für folgende Begriffe erstellt werden: All, Analogie, anthropomorph, Bild und Bildlichkeit, Ganzheit, Mikrokosmos, Ordnung (und Zusammenhang) der Dinge; daß allerdings ein für jede Nietzsche-Kritik unabdingbarer Topos wie der der „Rechtfertigung" nicht berücksichtigt wurde, erscheint noch unverständlicher, als daß „Totalität" fehlt. Vielfach wären die Angaben zu ergänzen (so bei „Kreislauf"). Für den Umkreis der religiösen Sprache kann auf eine sehr sorgfältige und kenntnisreiche, vorsichtig in der Deutung ansetzende Arbeit zurückgegriffen werden: M. Kaempfert hat unter dem Titel „Säkularisation und neue Heiligkeit" die „religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche" auf der Grundlage der Kleinoktavausgabe der Werke bei Naumann, später Kröner, umfassend kompiliert und analysiert. Die historische Perspektive in der Darstellung des Totalitätsbewußtseins und der Praxis des Totalismus ergibt eine quasi personell zugespitzte Dramatisierung von grundsätzlichen Möglichkeiten der Koordination oder der Aufhebung von Gegensätzen, die dem späten 19. Jahrhundert vorgegeben waren. Die für Nietzsche ausschlaggebende Reaktionsbildung auf eingenommene und vorgefundene, erprobte oder erspielte Situationsbestimmungen erlaubt nicht mehr die Illusion einer inhaltlich nachvollziehbaren .Identität' des Autors im Text; gleichwohl bleibt die Selektion dessen, was zentrale Geltung behalten soll, der Forschung aufgetragen. Es wird eher im Bereich der Sozialphilosophie zu suchen sein als in dem der Kosmologie. Auf Abhängigkeiten zwischen beiden Bereichen vermag die Totalitätsanalyse zu verweisen, da Nietzsche an der sozialphilosophischen ,Teleologie' der fortschrittskritischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts teilhat: auch er imprägniert Natur und Naturabläufe mit soziomorphen Vorstellungen und zielt auf die von Schopenhauer bis zur Neuromantik kryptisch recherchierte „Aristokratie der Natur". Im „Totalismus" 3 werden wesentliche formale Aporien des Nietzschesdien Diskurses erzeugt, wie sie in ihm ihre kaleidoskopisch wechselnden Lösungen 3 Der normalsprachlich ungebräuchliche Ausdrude „Totalismus" kommt bei Nietzsche vor, u.a. im 207.Aphorismus des 6.Hauptstüdes von „Jenseits von Gut und Böse", „Wir Gelehrten" (KGW VI, 2, 140; Sdiledita II, 669). Seine Signifikanz für die Selbstinterpretation des Philosophen ist hoch, audi wenn die ihn repräsentierende Existenzfigur des „objektiven Menschen", des „idealen Gelehrten" nur einen Ausschnitt der positiven Funktion des Begrifls umgreift. Psychologisch gesehen, ist „Totalismus" Ergebnis eines habituell gewordenen Absehens von sich — jener „verfluchten Ipsissimosität" des Subjektivismus: insofern ein „Spiegel" des Ganzen aller Dinge. Von hier ergibt sich eine nicht unbeachtliche Nähe zu jener Idealisierungsfigur des Menschen, der ,sich überwunden' hat, zum .Freund aller — nicht nur nächsten — Dinge' geworden ist, — zu einer naturphilosophischen Instanz der Verständigung zwischen allen Dingen: „Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebnis, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stößt, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein" macht ihn —

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finden. Erst in der jüngsten Literatur hat die hier erforderte erhöhte Achtsamkeit auf metaphorische Ebenen zur permanenten Reflexion der eigentümlichen „Umkehrungen" und „Gegenbildungen" geführt. Die bis zur Monomanie gehende Vorliebe für produktive Kontrafaktur' ist noch einmal im Beziehungsfeld zwischen JNatur' und ,Gesellschaftlichkeit, anzusetzen. Das Stigma einseitiger ,Inhaltsbezogenheit' hat den endlosen Ausdeutungsund Anwendungsvorschlägen der traditionellen Geistesgeschichte den Mangel eingetragen, weitgehend methodenlos Inhalte und Horizonte von Nietzsdies Umwertungen zu suchen, statt deren genetische und sprachliche Struktur zu untersuchen; das erst würde die Frage ihrer Berechtigung beantwortbar machen. Es genügt auch nicht, die Zuordnung der Um- und Aufwertungen zu Beständen historischer Wortschätze (etwa des humanistischen oder pietistischen) vorzunehmen, ohne dabei auf die historische Diskussionssituation Nietzsdies zu reflektieren. Unter den Gegebenheiten der historisierenden Bewußtseinslage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Aktualisierung des Vergangenen nicht mehr bruchlos reine Regression, sondern — allerdings nur im Fall einer kritischen Ausweisung — die bestimmte Opposition gegen eine durchschaubar gewordene Kultursituation. Was in dieser Opposition nun emanzipative, weiterführende Reflexion ist, läßt sich nur unterm komplexen methodologischen Ansatz einer Praxis und Theorie in ihrem Zusammenhang als kooperative Momente der Textkonstitution berücksichtigenden Sprachanalyse erkennen.

sozialpsychologisdi — zum Opfer dieser „Tugenden", bringt ihn sehr in die Nähe Zarathustrisdier Übermenschlichkeit. Die höchste Signifikanz für die Tendenz der Nietzscheschen Philosophie erhält der totalistisdie Geist in der von Egozentrismen freien „Heiterkeit" seines jenseits von Gut und Böse lebenden Natur-Bezugs: „Er ist eben nur acht, so weit er objektiv sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch .Natur' und .natürlich'." Der „heitere Totalismus" entspricht weitgehend dem Selbst- und Existenzideal des späten Nietzsche — während der „objektive Mensch" nur eine segmentierte Voraussetzung dafür darstellt; das volle Ideal — Nietzsche spricht im selben Aphorismus von dem „complementären Mensdi[en], in dem das ü b r i g e Dasein sich rechtfertigt" — ist nur in einem „ H i n a u f k o m m e n " „in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit" (KGW VI, 3, 144—48. Apho. der „Streifzüge eines Unzeitgemäßen" in „Götzen-Dämmerung") unter Beanspruchung reifer Immoralität zu realisieren. Daraus ergibt sich der sachliche, aber audi für Nietzsche relevante Bezug zum ,Totalitarismus' als dem Rücksichtslosigkeitsprozeß jener im „Haß-, Rache- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon i s t , was nicht mehr w i r d " zu erstreitenden „Rückkehr zur Natur", wie sie in der Idolreihe „Catilina — die Präexistenz-Form j e d e s Caesar" (KGW VI, 3, 142) — Napoleon — Goethe repräsentiert wird. Was letzterer wollte, „das war T o t a l i t ä t ; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille" — in dieser ,Selbstdisziplinierung' „zur Ganzheit" kulminiert das totalistisdie Ideal im „dionysischen Glauben": „Ein solcher f r e i g e w ο r d η e r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im G l a u b e n , daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — e r v e r n e i n t s i c h n i c h t m e h r . " (KGW VI, 3, 145f.)

I. Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi 1. Nietzsches christliche Prägung Nietzsches christliche Prägung durch die bis zur Generation der Großeltern zurückreichende und widerspruchslose Tradition des evangelischen Pfarrhauses ist im 19. Jahrhundert mit Fechners ähnlicher Familiensituation zu vergleichen. Schon das Bild des Kindes, wie es in den Arbeiten seiner Schwester gezeichnet und im ganzen von der Forschung übernommen ist, läßt Ähnlichkeiten zu dem sanften Leipziger Naturphilosophen und seiner emphatisch-quietistischen Lebenshaltung erkennen: Zu der hervorragenden Bedeutung der Erziehung durch christliche Frauen paßt die Assimilierung an ein verinnerlichtes, gefühlsaktives, als „zart und fromm" beschriebenes Lebensverständnis, wobei jedoch auf die ,Brechung' oder .Überwindung' eines kindlichen Jähzorn-Syndroms zu achten wäre. Die Internalisierung der religiösen Werte macht aus dem Kind den „kleinen Pastor", der „Bibelsprüche und geistliche Lieder" 1 mit zu Tränen rührendem Ausdruck aufzusagen weiß. Ihre Tiefe spricht sich in dem Wunsch des allgemein als „fromm" eingeschätzten Kindes aus, selbst Pfarrer zu werden. Nach dem Bericht des Jugendfreundes Paul Deussen scheint sich um 1861, zur Zeit der Konfirmation, ein Höhepunkt der Identifikation mit religiösen Lebenswerten gebildet zu haben. Der alsbald eintretende Wechsel zu einer kritischeren Einschätzung und zu einem gewissen Desinteresse am Religiösen wird von Deussen mit der Einwirkung der in Pforta betriebenen historisch-kritischen Methode auf die Bibellektüre erklärt. Ein Konflikt zwischen ,Aufklärung' und .Tradition' wäre damit bis in die mit hoher Identifizierungsbereitschaft ausgestattete Zeit der Pubertät zurückzuverfolgen. In der späteren biographischen Selbsterläuterung setzt Nietzsche den Akzent auf die Einwirkung der Wissenschaftlichkeit: „Von der Theologie nahm ich nur genau so weit Notiz, als mich die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung anzog." 2 ι Vgl. Kaempfert 18. Noch in der Turiner Zeit hält sich der Charakter des FreundlichSanften in Nietzsches schmalen Sozialbezügen durch — es ist bekannt, daß er in seiner Umgebung als „il santo piccolo" apostrophiert wurde. 2 Zit. nach Kaempfert 19. Es ist zu berücksichtigen, daß hier die Selbstauslegung im Zusammenhang der Entwürfe zum offiziellen Lebenslauf für die Basler Philologie-Vtoiessac steht.

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

Die religiösen Momente in der Lebensauffassung des jungen Nietzsdie werden von einigen Forschern (so Jaspers) sehr zurückhaltend eingeschätzt; jedenfalls muß eine religiöse Einstellung angesetzt werden, der dem Auflösungsprozeß im christlidi-säkularisierten Bildungshorizont entspricht, in welchem die Orientierungen an Begriffen wie ,Gott', ,Erlösung' und umgekehrt ,Sünde', ,Gnade' eine Auffüllung mit Anschauungen der idealistischen Philosophie, der bürgerlichen Jenseits- und Ewigkeitshoffnungen duldete — und erforderte. Nietzsche hat später vielfach die Auflösung der Religion zum Inhalt einer KunstKultur reflektiert, häufig ohne die spezifischen Momente einer nicht von vornherein kunstfördernden Religionsinstitution von dem globalen Summierungsphänomen ,Zeitalter der Religion, Metaphysik, Kunst' abzuheben.3 Die Gegebenheiten dieser Auflösungsstufe des religiösen Bewußtseins, dessen Schärfe gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts längst in der Differenzierung einer Menge miteinander konkurrierender Vermittlungspositionen verloren war, spiegeln sich in der kennzeichnenden Differenz der Aussagen religiös und theologisch ,geschulter' und anderseits stärker der Bildungs- bzw. Subjektreligiosität verpflichteter Bekannter Nietzsches. Während so zum Beispiel Lou Salome „von allen großen Geistesanlagen Nietzsches" keine wüßte, „die tiefer und unerbittlicher mit seinem geistigen Gesamtorganismus verbunden gewesen wäre, als sein religiöses Genie" ,4 kennzeichnen die mit Theologie ,beruflich' befaßten oder familientraditionell vertrauten Freunde Deussen und Overbeck Nietzsches Verhältnis sehr viel zurückhaltender und sogar rein negativ.5 Kaempfert skizziert die bisweilen ins Stimmungshafte abgleitende, ganz konventionelle Religiosität mit ihrer Topik säkularisierender Formeln und Bilder, mit ihren pantheistischen All-Vorstellungen und All-Vereinigungen, mit der Tradition der ,religiös' verklärenden Personifikation kulturhistorischer Erscheinungen (ζ. B.: Shakespeare als Auferstehender und die Schlacht bei Leipzig als national-religiöses Gleichnis). In diesem Zusammenhang muß auch die Beziehung der etwa bis 1861 laufenden kirchenmusikalischen Kompositionen zur Paradigmatik der erhebenden Textintentionen hervorgehoben werden. Wie in

3 Über die Einzelheiten der in Erziehung und Ausbildung anzusetzenden Einflüsse spezifischer Inhalte der Religion informieren übersichtlich und abwägend die Kapitel II bis IV im Einleitungsteil der Kaempfertschen Arbeit (S. 17—60). * Zit. nach Kaempfert 27. 5 Eine Parallele dazu bildet die passioniert-interessierte Deutung Nietzsches als religiösen Phänomens durch die religiös »gebundene' Schwester, in deren Aussagen ähnliche Toposfloskeln wie bei Lou Salome auffallen. In der Diskrepanz zwischen Bildungsreligiosität ungeschulten Bewußtseins und historisch bestimmtem Religionswissen erscheint der Widerspruch zwischen ,Gläubigkeit' und ,Wissenschaftlichkeit' als geschichtliche Bruchzone des 19. Jahrhunderts prägnant greifbar: „Ernstlich religiös ist er stets ebensowenig wie ich gewesen", sagt Overbeck, Professor der Theologie, über seinen vom theologischen zum philologischen Studium wechselnden Freund. (Vgl. Kaempfert 27).

Nietzsches christliche Prägung

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einer historischen Ballade Nietzsche „pantheistisches AUgefühl" 6 einsetzt, um den Girondisten den tragischen Untergang auf der Guillotine innerlich bewältigbar zu machen, so besteht, wie es Schlechtas Analysen der Vorstufen der Mittags-Erhöhung und -Verklärung belegen, ein durchlaufender Ansatz, Tinmittelbare Negativerfahrung (Nietzsche komponiert 1861 das Gedicht von Justinus Kerner „Schmerz ist der Grundton der Natur") durch Überhöhung umzukehren. Die genannte Komposition wandelt sich 1875 zum „Hymnus an die Freundschaft" , wird 1882 zu einem Lied für eine Singstimme mit Klavierbegleitung (Titel „Hymnus an das Leben" von Lou Salome) umgearbeitet und erhöht sich 1887 (in Peter Gasts Umschrift für gemischten Chor und Orchester) vollends zu der von Nietzsche wörtlich als „heroische Musik" intendierten Form.7 Für die gedankliche Ausgangsbasis der aus der kindlichen Frömmigkeit herausgewachsenen, nicht mehr bloß erbaulich an der Unermeßlichkeit des Alls die Größe Gottes ahnenden Auseinandersetzung mit Religion dürfte die Tatsache relevant sein, daß der Fünfzehnjährige, in einem Katalog seiner Bildungsaufgaben, noch „über alles Religion, die Grundveste alles Wissens", 8 ansetzt. Die Spannung zwischen Wissen und Glaubensvertrauen, bzw. der in Nietzsches späterem Denken rein dysfunktional gedeutete Anspruch der Religion, Grundlage aller Wissensbildung zu sein, kann als überdauernde Prägung des jungen Bewußtseins durch die affirmativ-abstrakte Verweisungssemantik der verbal aufgeklärten protestantischen Gutbürgerlichkeit der Religion erscheinen. In dem ersten Entwurf einer zusammenfassenden autobiographischen Arbeit vom Mai 1861, „Mein Lebenslauf",9 stellt sich Nietzsche in höchst allgemeinen Betrachtungen dem Problem einer wertverteilenden ,Schicksalsgerechtigkeit'. Er verteidigt die sinnstiftende Macht auffällig indirekt: es sei „ebenso undenkbar, die höchsten Interessen des Menschengeschlechts in die Hände eines gedanken- und unterscheidungslosen Wesens zu legen, als einem urbösen Etwas anzuvertrauen. Denn ein abstraktes, ungeistiges Schöpferisches kann ebensowenig wie ein urböses Wesen unsre Geschicke leiten, da im ersten Fall das Geistlose nicht existieren kann — denn alles, was ist, lebt — im zweiten Fall der dem Menschen angestammte Trieb zum Guten unerklärbar wäre. Es gibt in allem Geschaffnen Stufenleitern, die sich audi auf unsichtbare Wesen erstrecken müssen, wenn nicht die Welt selbst die Urseele sein soll".10 Diese Art von natürlicher Theologie und natürlichem Gottesbeweis weist in der Ferne auf eine dialektische Theologie voraus. Und das anthropomorph-soziale Modell der Weltführung wird in dem Begründungspartikel der Parenthese 6

Kaempfert 30. Vgl. hierzu Schiedita, Mittag 10—15. 8 Zit. nadi Kaempfert 33. » III, 88—90. 111,89. 7

Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

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denn bereits von einem ganz psychomorphen Ansatz überholt. Vielleicht ist die Welt doch selbst schon die Urseele? Nietzsche spricht im Fortgang der Überlegungen in stark an Fechnersche Vorstellungen erinnernder Weise von der über den Menschen hinausführenden Stufenleiter des Seienden, von einem „Fortschritt des Lebens, [ . . . ] auslaufend in Erde, Luft, Himmelkörper, Welt oder Raum, Stoff und Zeit". Nietzsche fragt sich, ohne offenbar einen adäquaten Sprachbegriff einzusetzen, nach der Relation von Abstraktion (die seine Stufenleiter bildet) und ,Leben', das als Naturmetaphorik versprachlicht wird: „Soll hier die Grenze und das Ende sein? Sollen abstrakte Begriffe die Schöpfer alles Seins sein? Nein, über das Stoffliche, Räumliche, Zeitliche hinaus ragen die Urquellen des Lebens, sie müssen höher und geistiger sein, die Lebensfähigkeit unendlich, die Schöpferkraft unbegrenzt sein" . u Die im Folgetext einsetzende Zurückweisung der kosmologisdien These des „transzendentalen Apriori" — der Menschengeist als weltschaffender bzw. die Weltstruktur spiegelnder „Urgeist" — kontrastiert ebenso zu dem manifest begriffs- und deduktionsgläubigen Verfahren der Lokalisierung des eigentlichen religiösen Weltbegriffs: dieser ,Geist' müsse „höher" liegen — anderseits sei er die „Quelle" für „alle andern Geisteskräfte": so offenbart die katachretisdie Metaphorik eine prägnante Übergangsstelle in der Ambivalenz zweier in Konkurrenz getretener Weltparadigmata. Auf der metaphorischen Ebene der „Urquellen des Lebens" etabliert sich, was später dem vitalistischen Nietzsche Reduktionsbasis für die Entideologisierung des „Geistes" als eines selbsttäuschenden Konstrukts sein wird; auf der darstellerisch-teleologisdien, der appellativen Ebene der hierarchischen Stufenleitertopik wird der traditionelle ,Überbau' vorwärtsgeschoben.12 Eine weitere Betrachtung des Textes lohnt sich vor allem deshalb, weil hier Theoreme und Apologien eines latent bedrohten Weltparadigmas (der gerechten Schicksalszuteilung) verbalisiert werden mit ,Abdeckungsphrasen', wie sie der späteren kritischen Philosophie nicht weniger eigentümlich sind. Problementlastung durch — hier theologische — Totaldeutung zeigt sich als konstantes Reaktionsmuster in einem Denken, das sich mit dem Einsatz fürs Totum ständig übernimmt. Sicher ist der Topos der Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft als klassisch theologischer von Nietzsche hier paradigmenkonform verwendet. Dazu kontrastiert jedoch, daß im ganzen Konzept „Gott" als Namen bereits getilgt ist — als Theologicum erscheint am Ende des deutlich selbstbe-

ii III, 89.

ι 2 Kaempfert findet, daß hier „von Gott nicht anders denn als dem .höheren Wesen', .guten Wesen' und .Urgeist' die Rede ist" (34).

Nietzsches christliche Prägung

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ruhigend funktionalisierten Textes der „Himmel" — allerdings durchaus in einer nach Kants Vorgang verwissenschaftlichten Demonstrationsrolle: „Wie vermöchte audi der Mensch mit seinen so gering ausgebreiteten Anlagen des Geistes die erhabenen Pläne zu durchdringen, die der Urgeist aussann und ausführt! Es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, hat Bedeutung, und je mehr die Wissenschaft forscht und sucht, desto einleuchtender wird der Gedanke, daß alles, was ist oder geschieht, ein Glied einer verborgenen Kette sei. Wirf deinen Blick auf die Geschichte; glaubst du, daß bedeutungslos die Zahlen sich aneinanderreihen? Schaue den Himmel an; meinst du, daß ordnungs- und gesetzlos die Himmelskörper ihre Bahnen wandeln? Nein, nein! Was geschieht, das geschieht nicht von ungefähr, ein höheres Wesen leitet berechnend und bedeutungsvoll alles Erschaffne" .13 Damit endet unüberbietbar affirmativ und unüberhörbar unsicher dieser um sehr zukunftsreiche Steine des Anstoßes herumspazierende Text. Für einen übergeordneten sinnapologetischen Rahmen werden die naturphilosophisdien Topoi der Kette, der Stufenleiter, des Gliedes eingesetzt — die praktisch-reale Aufgabe der Erkenntnis ist aber schon der Wissenschaft zugewiesen. Der halb eingestandene Hiat zwischen beiden Ableitungen des Ordnungsbegriffs wird hier noch mit rhetorischen Fragen — hat Nietzsche je von der Ambivalenz der rhetorischen Frage aufklärerisch Abschied genommen? — und mit einer leeren Semiotik der bloßen Zahlenreihung geschlossen; es wird zu prüfen sein, ob Nietzsche nicht auch später in wesentlichen Aporien seiner Hermeneutik am undurchschauten Axiom der reinen Semiotik hängt. Zur bewußtseinsgeschichtlichen Ausprägung der (natur- und geist-)philosophisch verwässerten Religiosität gehört die semantisch ungreifbare Textualisierung von Intentionen „in lyrischen, musikalischen Bildern" .14 Diese natürliche Theologie entspricht in etwa dem durch D. F. Strauß geschaffenen Bewußtseinsstand; Nietzsche liest Strauß um die Mitte der 60er Jahre.15 Gründliche Evangelienlektüre (im Sommer 1863) liefert dann schon keine ausreichende Abwehrmöglichkeit mehr gegen die Lektüre von Strauß (um Ostern gemeinsam mit der Schwester Elisabeth) und von Schopenhauer (im Herbst), der einerseits seines Atheismus, anderseits seines Asketismus wegen von Nietzsche geschätzt wird: darin wiederholt sich die Gegensätzlichkeit zwischen Wissens- und Willenskomponente, die für Nietzsches emotionale Struktur prägend werden sollte. Wenn der Terminus der „Prägung", der eine kultur- und sozialpsychologische Ausstattung des Bewußtseins meint, zu Recht gebraucht wurde, so läßt sich die Ersetzung der Prägungsinhalte durch zunehmend allgemeinere, vom ideologi» 111,90. "15 Kaempfert 34. Nietzsdiechronik 23.

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

sehen Kultur-Kode zunehmend abweichende Gehalte erwarten. Ist dieser Kode selbst durch eine Sprachform der metaphorisch-unscharfen Semantik gekennzeichnet (etwa in Form der religiösen Anthropomorphismen), so kann dieser Ablösungs- und Ersetzungsprozeß als Entmetaphorierung beschrieben werden. Nietzsche hat seine erste „Autobiographie" (vom August 1858) mit dem Schluß geendigt: „Ich habe nun schon so manches erfahren, Freudiges und Trauriges, Erheiterndes und Betrübendes, aber in allen hat midi Gott sicher geleitet wie ein Vater sein schwaches Kindlein" ,16 Fünf Jahre später heißt es, in gleicher Sprechsituation und unter Beibehaltung desselben semantischen Kontextes, aber unter Verzicht auf ein Glied des Vergleichs: „So kann ich auf fast alles, was mich getroffen, sei es Freude, sei es Leid, dankbar zurückschauen, und die Ereignisse haben mich bis jetzt wie ein Kind geleitet".17 Das metaphorische Sprechen mindert sich um eine Potenz, und das heißt hier inhaltlich: der pragmatische Definitor der Metapher, die christliche Vorstellung von Gott als führendem Vater, wird fallen gelassen —aber die subjektive Situationsbeschreibung, die Erfahrung gegensätzlicher Ausgesetztheit, bleibt erhalten. In der Ersetzung der personalen Führungsinstanz des göttlichen Vaters durch die formalisierte, rein gegen- und widerständige Instanz heterogener Ereignisse wird u.E. die spätere Füllung der formal unveränderten Denkform vorweggenommen: das „Schicksal" bleibt, sei es positiv oder negativ, die auf jeden Fall zu affirmierende Instanz. „Die Denkform ist geblieben, toposhaft (nämlich: kindliche Dankbarkeit für eine höhere Leitung des Lebens), aber an die Stelle von ,Gott', die nach dem Verlust des Glaubens leer geworden ist, werden ,die Ereignisse' gesetzt — eine fast schon extreme und paradoxe Art der Säkularisation, denn der religiöse Affekt oder Gestus wird mit einem banalen, jedenfalls rein säkularen Umstand verknüpft. Es sieht so aus, als liefe das erlernte christliche Denken im Leerlauf weiter" . l s Das Ende der bewußt auf knappen, informativen Stil gestellten autobiographischen Skizze vom 18. 9. 1863, in der sich Nietzsche auch Rechenschaft über seine Neigung zum „dozierenden Ton" 19 abverlangt, bringt einen geistesgeschichtlich prägnanten Fortschritt zum Ausdruck. Die Zunahme des .wissenschaftlichen' Interesses ist an der auffällig thesenartigen, bereits zum Aphoris16 III, 38; vgl. Kaempfert 36. 17 III, HO; vgl. Kaempfert 37. 18 Kaempfert 37. 19 III, 108.

Die romantisch-naturreligiöse Form der Erlebnisrepräsentierung

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mus hinführenden Textbildung abzulesen, aber auch an der biographisch-intentionellen Paradigmatik selbst: wie nämlich will Nietasche „die folgenden Lebensumrisse verstanden wissen" ? „wie ein geistvoller Naturforscher in seinen nach Erdstrichen geordneten Pflanzen- und Steinsammlungen die Geschichte und den Charakter eines jeden wiedererkennt, während das unwissende Kind darin nur Steine und Pflanzen zum Spielen und Tändeln findet [ . . . ] " . 2 0 Das Paradigma des Natürlichen und erforschbar Geschichtlich-Lebendigen beginnt über das Paradigma der einseitig instanzen-bildenden theologischen Lenkung zu rücken. Der Schluß zentriert sidi im semantischen Bereich des unbewußten Sprechens um die Naturvorstellung; deren Widerspruch zur Tradition der Geisthypothese wird als zugleich rhetorische und ernste Frage an den Leser weitergegeben: „Und so entwächst der Mensch allem, was ihn einst umschlang; er braucht nicht die Fessel zu sprengen, sondern unvermutet, wenn ein Gott es gebeut, fallen sie ab; und wo ist der Ring, der ihn endlich noch umfaßt? Ist es die Welt? Ist es Gott?

2. Die romantisch-naturreligiöse Vorm der

Erlebnisrepräsentierung

Ist für den Fünfzehnjährigen die Religion „die Grundveste alles Wissens" ,22 so muß doch daneben die Praxis eines verdächtigend'-entwertenden Reduzierens von Erlebniswerten auf physiologische Daten gesehen werden. Gleichzeitig mit jenem traditionalistischen Topos erscheint die ganz im Stile des späteren Moralphilosophen statuierte Rüdeführung von Bewußtseinswerten auf Lebenswerte. Mittasch spricht von einem „erstaunlich frühreifen, .physiologischen' Denken als Keim künftiger Haltung", wenn Nietzsche sagt: „Wenn ein Mensch in irgendeinem besonderen Fall zu euch sagt, dieses und jenes vertrage sich nicht mit seinem Gewissen, so glaube nur immerhin, er meine damit nichts mehr, als dieses und jenes vertrage sich nicht mit seinem Magen — ein derzeitiger Mangel an Appetit ist gewöhnlich die Ursache von dem einen und dem andern" . 23 ® I I I , 108. I I I , 110. 2 2 I I I , 75; vgl. Mittasch, Naturphilosoph 3. 23 Mittasch, Naturphilosoph 3. In den wenig später notierten Aufzeichnungen „zu einer Geschichte der literarischen Studien im Altertum und in der Neuzeit" heißt es: „Eine Geschichte des Denkens im Gegensatz zu einer Geschichte der Triebe. — Eine Anzahl Anschauungen sind vom Triebe erzeugt, ζ. B. Gott usw., d. h. vom Bedürfnisse. Hier ist der Irrtum fast notwendig, aber eine begriffliche Widerlegung nicht stark genug, die Anschauung aufzuheben. Es gilt Bedürfnis durch Bedürfnis auszurotten". (Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 19).

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

Zwischen diesen beiden Extrempositionen wird Nietzsches Problematisierung des Lebensbegriffs in Zukunft angesiedelt bleiben. Aber die Modelle der Naturerfahrung sind in der Jugendzeit noch keineswegs festgelegt, aufklärerische und romantische Möglichkeiten stehen nebeneinander. Im 1861 verfaßten „Lebenslauf" erscheinen Vorstellungen, die weitgehend den bei idealistischen Naturphilosophen der Jahrhundertmitte bekannten Formulierungen entsprechen. Für sie ist die Weiterführung eines welthistorisch überhöhten Entwicklungsbegriffs ,über den Menschen hinaus', ganz in der Methodik Fechners, kennzeichnend. Nietzsche aber opponiert insgeheim — inmitten der Weiterführung idealistischer Anschauungen — dem abstrakten Prinzip der Totalitätskonstitution; sein Idealismus transformiert sich dabei — in einer katachretisch werdenden Metapher vom „Lebensquell" — in einen idealistischen, aus kosmologischer „Schöpferkraft" bezogenen Vitalismus. Dieser ist, nach der für 1859 nachgewiesenen Novalis-Lektüre, nach wie vor mit dem idealistischen Apriori ausgestattet, das ihm also vor der Rezeption Schopenhauers als religion.'philosophisches Theorem geläufig war: „Nach meinem Urcharakter gestalt ich mir auch Gott" — so heißt es im selben Juli 1862, in dem sich Nietzsche „mit Widerlegungen des Materialismus" 24 beschäftigte! Die nichtreduktive Aufhebung der Gegensätze des Lebens, der heterogenen Wirkkräfte erfolgt in dieser Zeit ähnlich wie etwa in der Philosophie Hartmanns (womit nicht ein unmittelbarer Einfluß behauptet wird) — die besondere metonymische Neigung der dabei entstehenden Bildlichkeit braucht nicht nur als Moment jugendlichen Sprachunvermögens erläutert zu werden. In dem Germania-Vortrag „Fatum und Geschichte" von 1860 werden die Topoi des Räderwerks und der Uhr nach den hinter ihnen liegenden Begründungsfaktoren hinterfragt — wie „höhere Rücksichten" und „höhere Prinzipien" hier korrespondieren, zeigt sich eine latent vorhandene Schärfung der Spannung in dem Problem, eine intentionalistisch-deduktive und eine (naturwissenschaftlich induktive Sichtweise miteinander zu verbinden: „Was sind die Triebfedern dieses großen Uhrwerkes? [ . . . ] Lenken höhere Rücksichten und Pläne das Ganze? Ist der Mensch nur Mittel, oder ist er Zweck?" Am Ende des Vortrages verbalisiert ein affirmatives Naturbild die Einheit: „Denn es muß noch höhere Prinzipien geben, vor denen alle Unterschiede in eine große Einheidichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel [eine denkwürdige doppelparadigmatische Metonymie des noch nicht zu Ende gedachten Entwicklungsbegriffs!] der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, all-eins".25 24 Zit. nädi Mittasdi, Naturphilosoph 3. 25 Zit. nach Mittasdi, Naturphilosoph 4.

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Ein solcher Text liefert Assoziationen zu allen gängigen Totalitätsmustern der Jahrhundertmitte — allerdings unter dem Leitgedanken der Entwicklung. Zugleich aber sind, auf der Wortebene, Momente der hegelisdi-religioiden Sprachverwendung weitergegeben: die Spannung zwischen einem — ,welthistorisch-eschatologischen' — „Wiederfinden" und dem — naturphilosophischspinozistischen — „Verschmolzensem" bzw. „All-eins-Sein" konstituiert die Polyvalenz dieser Anschauung. In diesem Vortrag werden implizit die stoisch-humanistischen Tröstungen einer Philosophie in Frage gestellt, die naturwissenschaftliche Reduzierbarkeit übersieht; damit kommt die im Poesieraum der früheren Jahre verfestigte Versöhnung im Bild der Natur zur Diskussion. Die epigonal-sentimentalische „Naturdichtung" des jungen Nietzsche hat sich auf die Opposition von Dauer/ Wechsel, von Stabilität/Unsicherheit bezogen; ihre stoizistische Fragestellung wird mit den letztlich auf die Dichtung des 18. Jahrhunderts (Klopstock, — Hölderlin war Lieblingsautor des Gymnasiasten) zurückgehenden Mitteln des erhabenen Stils beantwortet. Von ihnen her wird auch der melancholische, weltschmerzliche Gehalt der neuen „Musikalisierung' der Naturerfahrung „versöhnend" überwunden. Eine Notiz vom Ende der fünfziger Jahre möge das erläutern: „Tiefe Melodien in allem 1. Entzücken ι WedlseI 2. Blitze, Schicksal Wunsch Poesie In der Poesie das Schicksal versöhnt" .26 Wandern

j

Töne Versöhnen

Die Abfolge der beiden Punkte entspricht einem in der Kindheit bereits angelegten Schema: eine mehrfach von Nietzsche als „Naturgenuß" gekennzeichnete emphatische Grundstellung gerät in eine Entwertungs- bzw. Widersprudiszone, deren bewußtheitliche Repräsentation als ^Naturbild' erfolgt (über die Bedeutungsinversion von „Blitz" im Feld des aufzuwertenden „Mittags" wird später noch zu reden sein); diesem Störfaktor, der zunächst naturimmanent zu bleiben scheint, wird Schicksalswertigkeit zugesprochen — die fazithafte Nennung des Topos „Wechsel" repliziert ohne Zweifel Konnotationen im weiten Umkreis zwischen antiker Stoa und Goethescher „Dauer im Wechsel": die Thematik des sich gleichbleibenden Werdens. Alle nun für die Aufhebung des schick26 Zit. nadi Mittasch, Naturphilosoph 8.

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salhaft Widerfahrenen relevant gemachten Begriffe geben tatsächlich Grundanworten der späteren Philosophie und Lebensbewältigung an, wobei einzig das „Wandern" als eine aktions- und realitätshaltige Antwort unter den ansonsten rein kulturellen Kategorien erscheint. Die Thematik ist in notizhafter Kontextualisierung prägnant als poetische ,Wünschbarkeit' bzw. .musikalische Versöhnung' aufgebaut. Als Beispiel für die auf so früher Stufe erreichte Umbesetzung von ,Gott' und .Natur' mögen Hinweise auf einige „Gesänge" der jugendlichen Naturhymnik genügen. Da heißt es etwa: „Strahlen entsendende, Alles belebende Sonne, Vor deiner unendlichen Wonne Berg ich erschrocken mein Angesicht — „Wolkenauftürmende Blitze entsendende Königin; deine unendliche Macht Füllet die Erde mit Grausen und Nacht, Düster ballen sich Wolken zusammen, Dumpf naht der Donner und düstres Grauen, Totenstille deckt Tal und Auen. Seht ihr die grell hinzuckenden Flammen, Hört ihr des Donners erschütterndes Dröhnen, Die Erde zittert, die Eichen stöhnen. Ο Sonne, hab mit uns Armen Erbarmen. Laß uns nicht durch deine Allmacht vergehen." 27 An solchen Texten des etwa Fünfzehnjährigen ist die in der Naturpersonifikation kaum verdeckte Wiederholung rein religiöser Textstrukturen vielleicht weniger interessant als die gänzlich rhetorisch entfremdete Sprechsituation (rhetorische Frage an die ,Schauer-Gemeinde', visionäre Übertreibung der vertexteten Natur, die Anaphorik und Deklamanz der syntaktischen Fügungen, der Sühne- und Erhörungsappell am Schluß). Die oben erwähnte Frömmigkeitsphase des pubertierenden Nietzsche aktualisiert emphatisch-elevierende, keineswegs beruhigt-pantheistische Formen der Naturgläubigkeit. Die Tagebuchblätter des Fünfzehnjährigen erlauben einen differenzierenden Einblick in die emotionale und gedankliche Verarbeitung von ganz typisch wirkenden Erlebnissen, deren Verbalisierung an pathetische Sprachgestaltungen des jungen Goethe erinnert, jedoch merklich zur Abstraktion neigt. Weiterführungen der Erfahrung, Entgrenzungen werden in den Gedieh ten zumeist nach einem traditionellen Modell der Wiederkehr bzw. der Ewigkeitshoffnung abgeschlossen — trotzdem stehen in der Reflexionsprosa der gleichen Blätter unverwischbar die Fragezeichen. „Mir ist, wenn ich in die purpur erglühende Morgensonne blicke, stets so unermeßlich wohl, denn die flammende Tageskönigin übergibt dem jungen Tag 27

Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 8.

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die Herrschaft; aber wenn es Abend wird, trauert meine Seele . . . Ich betrachte immer im Geiste das unermeßliche All, wie wunderschön und erhaben ist die Erde und wie groß ist sie . . . , aber wie wird mir, wenn ich erst die unzählbaren Sterne, wenn ich die Sonne sehe, und wer bürgt mir dafür, daß dieses ungeheure Himmelsgewölbe mit allen den Gestirnen nicht nur ein kleiner Teil des Weltalls ist, und wo endigt dieses? Und wir erbärmlichen Menschen, wir wollen den Schöpfer desselben verstehen, da wir seine Werke kaum ahnen können!" Gott als Appellations- und zugleich latent als Dunkelheitsinstanz für eine metaphysische ausbaufähige Vergänglichkeitsklage: „Vorbei, vorbei: Herz, willst du zerspringen? — Ο Gott, was hast Du mir ein solches Herz gegeben, daß ich mit der Natur zugleich jubele und mich freue . . . Ich kann es nicht ertragen; schon sendet die Sonne nicht mehr warme Strahl e n . . . Vorbei, vorbei...!" 28 Die Bewußtseinswelt des jungen Nietzsche ist wesentlich geprägt von der Rezeption Goethes, Schillers, Novalis', Geibels, auch von jenem verklärenden All-Bezug, wie er in Gedichten Chamissos und Rückerts vorliegt. Triumphiert hier die Erhabenheit über das Negative, so ist zu vergegenwärtigen, daß sich die melancholisch-pessimistische Naturdeutung unterschwellig durch die Szenerien der stoisch-erhabenen Naturgläubigkeit hindurchzieht. Der Leidbewältigung dient vor allem die musikalische Verarbeitung von „Stimmungen" wie in dem schon erwähnten Klavierstück zum Kerner-Gedicht „Schmerz ist der Grundton der Natur". Das ist nicht nur anscheinender Vorgriff auf Aspekte der Schopenhauerschen Naturwertung, sondern gefilterte Reminiszenz genuin negativer christlicher Natursicht.29 Nietzsches Naturwertung hat schon in der Jugend eine hochbedeutsame Ambivalenz. Wie Schlechta nachgewiesen hat, setzen sich gegen die überhöhende und optimistische' „Sinngebung" der Texte immer wieder die Negativierungen in der thematischen Umkehr, in der Prozessualität des Textes selbst durch. So läuft, und dies gilt zunehmend, unter der Ebene der willentlichen Erhabenheit eine Vorliebe für Gewitter, Blitz, Nacht, Mitternacht als tiefsten Erregungserfahrungen, und unter der tagnaiven Naturbegeisterung a la Emerson 30 erscheint die Bedürftigkeit einer vorab vom Schmerz stigmatisierten Naturfremdheit.

28 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 9. „Die Komposition .Schmerz ist der Grundton der Natur' gehört nun zweifellos unter jene musikalischen Arbeiten, in welchen sich das unveränderliche ,Grundwesen' von Nietzsches ,Natur' ausspricht — so sehr ausspricht, daß sie noch 1882 mit nur belanglosen Modifikationen dem Text des Louschen Gedichtes .Gebet an das Leben' unterlegt werden konnte". (Schlechta, Mittag 12) 30 Nietzsche fügt etwa an das Emersonzitat „Was der Wald, das Gebirge uns zu sagen hätte und die fernen Himmelskörper, die uns in die Einsamkeit rufen" die Bemerkung: „Diese Entzückungen sind heilsam, sie machen uns nüchtern!" (Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 11)

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Die Naturabwertung erhält bei diesen Prozessen der Verzweiseitigung ein zeithistorisch neues Argument: die Abwertung des Menschen, des menschlichen Lebensbereichs angesichts der Überdimensionen der nun wissenden Naturerfahrung. Vor diesem Thema, das sich durch fast alle Arbeiten des jungen Nietzsche durchzieht, wird die Ambivalenz der Funktion von Natur verständlich: einerseits Aufschwung zur Erhabenheit — darin bereits Über-Menschlichkeit suggestivierend, anderseits Provinzialisierung des Humanbereichs vor dem expandierenden Kosmos. Einerseits, in der Tiefe des musikalisierenden Deutens gesteigert, die Erhöhung des Einsamen — anderseits die Verödung des Gemeinschaftlichen: die Irrelevanz von Geschichte und Willentlichkeit. Dieser letztere Aspekt ergibt die Fundierung für die naturwissenschaftlichen' Reduzierungen und Geltungsbeschränkungen des reifen Nietzsche. Wenn Nietzsche in dieser frühen Zeit Rückführungen sogenannter „geistiger" Dinge und Ebenen auf physiologische und natürlidie vornimmt, so übernimmt er eine schon seinem Großvater geläufige Rückführung von Krankheitserscheinungen auf Naturgegebenheiten. Natur hat einen genuinen therapeutischen Effekt; sie entlastet aber gerade dank ihrer Opposition zur menschlichen Sphäre von dem, was der Schopenhaueranhänger als negatives Willens-Treiben der Menschen wahrnimmt. Naturstimmung, Blitz- und Gewitterschauer bringen eine nicht unfragwürdige Erholung für einen gänzlich in moralischen Verpflichtungen eingespannten Bewußtseinszustand. Als Leipziger Student schreibt Nietzsche am 7. 4. 1866 an seinen Freund Karl von Gersdorff: „Drei Dinge sind meine Erholungen, aber seltene Erholungen: mein Schopenhauer, Schumannsche Musik, endlidi einsame Spaziergänge."31 Anschließend berichtet er von einem in einer Berghütte erlebten Gewitter, das sich höchst gewaltig mit Sturm und Hagel entlud: „Ich empfand einen unvergleichlichen Aufschwung [ . . . ] Was war mir der Mensch und sein unruhiges Wollen! Was war mir das ewige: du sollst, du sollst nicht. Wie anders der Blitz, der Sturm, der Hagel, freie Mächte, ohne Ethik! Wie glücklich, wie kräftig sind sie, reiner Wille, ohne Trübungen durch den Intellekt".32 Bisherige Forschung hat sich vor solchen Stellen allzu rasch in Paraphrasen wie „numinoses Erlebnis", „Natureinfühlung" usw. geflüchtet, um die sozialpsychologische Funktionalität der Naturbeziehung auszuklammern. Hinter dieser schopenhauerischen Erlebnisbeschreibung verbirgt sich eine weitgehend vollständige Sozialphilosophie; in zweifacher Weise wird der Sozialbereich erlebt:

31 Zit. nadi Mittasch, Naturphilosoph 10. 32 Ebd. Mittasch verweist auf Parallelen zum emanzipativen Promethismus des jungen Goethe.

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als Instabilität volitiver Änderungen im Feld sozialer Kontingenz, als störende Gefährdung des Daseins durch den Intellekt und, bedeutsamer, durch die Allgegenwart der Norm. ,Naturereignis', das sich in Auslöserelationen zur ästhetischen Produktivität befindet, liefert subjektivistisch-freies Selbstmachtgefühl — ein unüberhörbares Präludium der Philosopheme vom „Willen zur Macht". Nietzsches Naturgläubigkeit erweist sich gerade ih ihrer Stimmungsbezogenheit als anthropozentrisch fundiert. Der mit einer neuen Sprechsituation der augenblicksbiographischen Fixierung einsetzende zweite Textteil des Gesamttextes „Über Stimmungen" (der erste war von einer emphatisch-reflektierten getragen) schildert die Not des jungen Menschen, seiner Stimmung künstlerisch (musikalisch, poetisch) einen entlastenden Ausdruck zu verschaffen. 33 Liefert der erste Abschnitt in interjektionaler Stilhaltung Ausdruck der Frustration über die Vergeblichkeit der produktiven Verarbeitung, so zeigt der

35 I I I , 115 f.: „Seid mir gegrüßt, liebe Stimmungen, wundersame Wechsel einer stürmischen Seele, mannigfach wie die Natur ist, aber großartiger als die Natur ist, da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt; die Pflanze aber duftet noch jetzt wie sie am Tage der Schöpfung duftete. Ich liebe nicht mehr, wie ich vor Wochen liebte; ich bin in diesem Augenblick nicht mehr so gestimmt, wie ich es beim Beginn des Schreibens war. — Ich versucht es erst in Tönen: siehe, es ging nicht; weiter stürmte das Herz; und der Ton blieb tot. Ich versucht es dann in Versen; nein, nicht Reime fassen's, nicht ruhige, gemessne Rhythmen. Fort Papier: ein neues her, und nun kritzle schnell Feder, nun rasch, Tinte! Weicher Sommerabend; dämmernd und blaßstreifig. Kinderstimmen auf den Gassen; in der Ferne Lärm und Musik; es ist Messe; die Leute tanzen, bunte Laternen brennen, die wilden Tiere brummen, hier knallt ein Schuß, dort Paukengerassel, gleichmäßig, durchdringend. Es ist etwas dunkel in der Stube; ich zünd ein Licht an; doch bildet des Tages Auge neugierig durch die halbverhangenen Fenster. Ο es möchte weiter sehn, mitten hinein in dies Herz, das heißer ist als das Licht, dämmernder als der Abend, bewegter als die Stimmen aus der Ferne, tief innerlich zittert und schwingt, wie eine große Glocke, die bei einem Gewitter geläutet wird. Und ich erflehe ein Gewitter; zieht nicht das Glockenläuten die Blitze an? Nun, so nahe Gewitter, läutere, reinige, blase Regendürfte in meine matte Natur, sei willkommen, endlich willkommen! Sieh, da zuckst du, erster Blitz, mitten hinein in das Herz, und daraus steigt's wie ein langer, fahler Nebel aufwärts. Kennst du ihn, den düstern, tückischen? Schon blickt mein Auge heller, und meine Hand strecke ich nach ihm aus, um ihm zu fluchen. Und der Donner murrt; und eine Stimme erscholl: .Sei gereinigt'. Dumpfe Schwüle; mein Herz schwillt. Niciits regt sich. Da, ein leiser Hauch, am Boden zittert das Gras — sei mir willkommen, Regen, lindernder, erlösender! Hier ist's öde, leer, tot; pflanze du von neuem. Sieh: Ein zweiter Schlag! Grell und zweischneidig mitten ins Herz! Und eine Stimme scholl: .Hoffe'. Und ein weicher Duft zieht aus dem Boden, ein Wind flattert heran, und ihm folgt der Sturm, heulend und seine Beute haschend. Abgeknickte Blüten jagt er vor sich her. Der Regen schwimmt lustig dem Sturm nach. Mitten durchs Herz. Sturm und Regen! Blitz und Donner! Mitten hindurch! Und eine Stimme scholl: .Werde neu!'"

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folgende, in Form einer anakoluthreichen „impressionistischen" Skizze, den Ausblick des Ich auf die Sensationen des „weichen Sommerabends". Der dritte Abschnitt .invertiert' die Sicht nach außen in das ,Hereinblicken' von Welt in die dunkle Stube des natur- und weltinnig gestimmten Subjekts. Diese Inversion erfolgt in metaphorischer Mitteilungslage. Beschwörende Emphatik setzt ein nach der Erfahrung, nicht selbsterfüllend produktives Subjekt sein zu können, und gipfelt in dem Sehnsuchtswunsch, .Objekt', ja ,Liebesgegenstand' von .Welt' werden zu können. Werden die Sensationen der Außenwelt derart von der bewegteren Stimmung des Ich überboten, so resultiert aus der Spannungserfahrung eine weitere Steigerung der Sehnsucht; im Glockenvergleich tritt da? — ohne Zweifel in Nähe zu pietistischer Naturverehrung zu rückende — latent gebliebene Motiv des Gewitters als eines Symbols sich ereignender, schick salshaft-unweigerlicher Einheit von Subjekt und Welt in die Offenheit, — und der Sprecher erfüllt nun eindeutig, nach dem Ansatz im 3. Abschnitt, die Rolle des Flehenden und Betenden. Ernst Kaempfert hat diesem Text gebührende Aufmerksamkeit in seiner zusammenfassend Belege zum Gewitter-Motiv analysierenden Arbeit geschenkt. Er stellt sich die Frage, ob es „sich dabei um eine echte Audition handeln (kann) oder, was wahrscheinlicher ist, um die Stilisierung einer Reflexion, die Naturgeschehnisse auf die eigene Existenz anwendet". 34 Die Beobachtung der Stilisierung der Rede ergänzt Kaempferts voranstehende These, der Text gebe sich „als unmittelbarer Niederschlag eines Erlebnisses": der Schein des Erlebnisses erweist sich, im Kontext der Stimmungsreflexionen dieser Zeit, als weitgehend konstruiert. Seine Raffinesse besteht in der Aussparung aller sozial oder/und ideologisch bestimmten Situationsmitteilung, deren religiöser Charakter für Kaempfert feststeht, während ich ihm eine stärker bildungsreligiöse Prägung zuschreibe. Über die triftigen Ergebnisse von Kaempferts Untersuchung hinaus 3 5 ist verschärft darauf hinzuweisen, daß nicht eine ideologische oder gar dogmatische Denkerwartung inhaltlich gefüllt wird, sondern daß ein äußerst anspielungshaftes und ästhetisches, den Text durch sich selbst semantisierendes Verhalten vorgeführt wird. Die Ausgangslage des Offenbarungs- und Erfüllungsgeschehens, das sich zur Wiedergeburt steigert, ist die Schwächeerfahrung der subjektiven Natur. Dem Eingriff der Fremdnatur verdankt es allererst ein Kraftgefühl, das die Selbstdistanzierung überhaupt ermöglicht: die Verwerfung des fast nach dem Bild einer Teufelsaustreibung inszenierten Ausfahrens des fahlen Nebels, der mit Betonung als Dauerbefund der Selbsterfahrung angegeben ist. In der zweiten Sequenz nimmt (etwa mit phonetischen Äquivalenzen wie „Schwüle" — „schwillt" oder mit poetischen Standards wie „leiser Hauch", 34 Kaempfert 38. 35 Vgl. Kaempfert 38.

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„zitterndes Gras") die Allgemeinheit und Poetizität der Situation zu. Die derart ins Ungreifbare geöffnete Situation erzeugt die Unbestimmtheit der Lebensbitte „pflanze du von neuem"; hier tritt der direkt genommene Topos in sein Recht der ubiquitären Verweisung. Doch gerade um deren Unbestimmtheit und Ungreifbarkeit geht es: sicher nicht nur unbewußt hat Nietzsche der Hoffnungsstimme dieses zweiten Blitzschlages die warnend-zweideutige Metapher der „Zweischneidigkeit" vorangesetzt! Erfüllung — so wird der aufmerksame Leser gezwungen mitzudenken — kann auch in Spaltung des Herzens übergehen! Die dritte Naturszenerie zeigt nun folgende Unterschiede zu den vorangegangenen: Aus der Eigentätigkeit der Natur erwächst eine aggressiv-vitalistische Bewegung mit Kennzeichen der Gefährlichkeit. Bild der Jagd und der Zerstörung gleichzeitig mit einer Relaxierung der Situation: „lustig" — also offenbar unbekümmert um das Moment des Aggressiven — schwimmt der Regen; das lyrische Ich ist nicht mehr präsent, es sei denn in der Indirektheit dieser halb metaphorischen Aussage. Die nachgewiesene Abfolge des emotionalen Gedankens strukturiert den Text nach dem Muster der Freistellung von Natur aus dem bewünsdhend-beschönigenden Deutungszwang der menschlichen Bedürftigkeit — aber der Text impliziert dieses Moment als Ergebnis einer Selbstvergöttlichung der Natur. Diese Bedeutungszuweisung belegt die religiöse Aufwertung der Natur beim jungen Nietzsche, zu der Kaempfert 39 f. und unter den Stichwörtern „Gewitter, Blitz, Donner, Sturm" 373 ff. sehr zahlreiche Stellen anführt. Individual- und sozialpsychologische Voraussetzung dafür ist die latente bzw. bewußte Heilsbedürftigkeit der sich negativ erfahrenden Subjektivität. Wie Kaempfert es gerade an der Heilsstilisierung des Schopenhauer-Erlebnisses bei Nietzsche klärt, spielt dabei das Augustinische Grundmuster des ,Tolle, lege'-Erlebnisses eine strukturierende Rolle: „Der vocatio vorauf geht ein Zustand des Unheils (pietistisch: der Gottesferne): er hing einsam [ ! ] in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen und ohne eine freundliche Erinnerung. Aufs beste fügt sich da der Ausdruck ,Zerrissenheit' ein, mit dem Nietzsche in einem Brief aus der fraglichen Zeit seinen Zustand charakterisiert: zerrissen zeigt sich das gottferne Herz der pietistischen Selbstbeobachtung. Unmittelbar vor dem Umschwung kommt es zu Sammlung in der Abgeschiedenheit: beides pietistische Ausdrücke der Abkehr von der Welt, der Hinwendung zu Gott" , 36 Zu den sozialpsychologischen Voraussetzungen dessen, was Nietzsche, der frühe und späte einsame Wanderer, als „Naturstimmung" erlebt und kultiviert, gehört die Einheit von Einsamkeit und Erhabenheit in der Kontrastierung zum depravierenden Alltag. Dabei ist ein Postulat der vorgängigen Bedeutungszuweisung an Natur durch „Seele" und „Geist" des Menschen vorhanden. Ein Kaempfert 41 f.

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agnostisches Moment und ein identitätsphilosophisches kreuzen sich in Aufsätzen der Jahre 1863 und 1864. In seinen „Philosophischen Betrachtungen über den Naturgenuß" schreibt Nietzsche: „Wir kennen die Dinge nicht an und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele. Unsre Seele ist nichts als das vergeistigte Auge, Ohr usw. Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und Ohr eigen. — Nichts zieht uns an, als das Lebendige. Alles was uns anzieht, hat vorher Leben in unserem Geiste empfangen. Alles Tote ist des Geistes unwürdig. — In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Teil derselben, eine Stimmung. — Das Organische, Naturwüchsige einer Gegend ist das Anziehende. — Die Natur erscheint also 1. als ein Kunstwerk, d.h. die künstlerische Nachsdiaffung einer Idee, 2. als ein lebendiges, organisches Wesen, 3. als ein freies, Geschichte habendes Wesen" , 37

Es ist denkwürdig, daß sich hier hinter transzendental-philosophischen Anschauungen, die sich in den Topoi „Ding an sich" und „Spiegel" 38 ausdrücken, schon eine latente Kritik des „Idealismus" ankündigt; mit dem Gestus einer bloß sprachlich-erkenntnis-theoretischen Maxime, die aber doch eine schließlich erfolgte Entfaltung zuläßt, wird gesagt, daß „Seele" nichts anderes sei als ein Sinnesorgan im Modus der Vergeistigung. Das romantische Motiv der Anziehung wird jedoch noch im transzendentalistischen Apriori nachgeliefert, obsdion „das Lebendige" sich anschickt, eine Kategorie der Überholung des Idealismus zu werden. Die Übereignung aller sinnlichen „Erscheinungen" an die Totalität der spiegelnden Seele gehört zu den Voraussetzungen der unten zu besprechenden Verzerrung der Wahrnehmungstheorie. Von diesen Umstellungen her ist auch die Differenzierung des Naturbegriffs zu verstehen. Der vorangestellte romantische Topos von der Natur als Kunstwerk ist nicht nur Topos, sondern er behauptet kritische, genetische Erkenntnis. Gleichwohl ist die Abfolge der drei „Paradigmata" auch als Abfolge der historischen Naturparadigmata zu lesen. Dann wäre die Reihung dem Prozeß einer zunehmenden Emanzipation der Natur von — ,anthropomorpher' — „Idee" zu einem naturgeschichtlichen Wesen von Eigenständigkeit analog.

3. Die offene Situation des Naturbewußtseins und die Schopenhauer-Rezeption Nietzsches Studienjahre, die 1869 enden, bringen hinsichtlich eines wissenschaftlich konsistenten Naturbegriffs keine eindeutigen Ergebnisse. Die zu ihrem Beginn getroffene Fragestellung, die das zentrale Thema der Reflexion Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 12. 58 Kaempfert verweist auf den gelegentlich in Nietzsches (und Schopenhauers) Verwendung belegbaren Zusammenhang des Spiegelsymbols mit einer offenbarungswertigen Intention in 1. Kor. 13, 12.

Situation des Natutbewußtseins und Schopenhauer-Rezeption

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des 19. Jahrhunderts ausspricht, bleibt im Bereich einer zwischen Piatonismus und Demokritismus auf der philosophischen, zwischen Naturwissenschaft und goethezeitlicher Anthropologie auf der wissenschaftlichen Seite schwankenden Diskussion, die sich nicht zuletzt im Schwanken der Studienneigungen ausdrückt. Werden die metaphysischen Fragen zunächst noch hegelianisch angesetzt — Nietzsche spricht nach einer Notiz über die Durchsetzung der Kopernikanischen Weltanschauung von der „Gotteslehre" und sieht ihre offenbar analog gedachte Veränderung in dem Satz: „Gott hat nicht Vernunft, sondern er ist Vernunft. Die Idee des Guten, des Schönen",39 so fordert die in diesen idealistischen Lockerungen ausgesparte Beziehung zur Praxis gleichzeitig den Primat der Empirie heraus: „Ich will zuerst empirisch den Menschen kennen lernen und mich dabei von keinem hergebrachten Glauben leiten lassen. Darum wird festzustellen sein, was die Dinge ohne Menschen und was die Dinge mit Menschen sind".40 Trivial, und doch historisch berechtigt, wird in dieser Zeit um 1865 die Alternative „Affe" oder „Gott" verbalisiert, — aber keineswegs einseitig beantwortet. 41 Hätte die Denksituation des jungen Nietzsche sich für Wissenschaftlichkeit öffnen können, so bricht Schopenhauers romantisches Denken mit seinen goethenahen Axiomen richtungsweisend ein und bestärkt zunächst die naturphilosophischen Interessen. Das Jahrzehnt zwischen 1865 und 1876 darf als jene Epoche Nietzsches bezeichnet werden, in der zwar mit zunehmender Kritik, aber doch im ganzen zustimmend die Angebote der idealistischen zeitgenössischen Philosophie der Natur und des Geistes rezipiert werden. Wie die Untersuchungen von Blunck, Mittasch u. a. zeigen, hat sich Nietzsche meist erst in späterer Zeit zur expliziten, dann auch polemisch verschärften Kritik an den idealistischen Philosophen seiner Zeit bereitgefunden. Diese Verzögerung ist nicht zuletzt vom Bildungsdenken des jungen Nietzsche, das sich an Humboldt, Goethe, Schopenhauer und der antiken Philosophie orientierte, unterstützt. Zur Klärung der Erlebnis- und Bedeutungsdimension der Schopenhauerrezeption bedarf es hier nur einiger Stichworte. Im Werk Schopenhauers sieht Nietzsche die Vereinigung aller seiner Ideale verwirklicht, hier findet er den Fokus seiner eigensten Weltbetrachtung.42 Als Beleg für die Gemeinsamkeit des 39 40 41

42

Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 13. Ebd. Vgl. Mittasch, Naturphilosoph 13: „Unsere Naturforsdier leiten uns mit Vorliebe vom Affen ab und vernichten alles, was übertierisch ist, als unlogisch. Und beim Zeus, lieber Affe als unlogisch. Sieh jede Richtung der Wissenschaft, der Kunst an, der Affe zeigt sidi in unserer Zeit eklatant, aber wo bleibt der Gott?" Natürlich interpretiert Nietzsche sein Schopenhauererlebnis sogleich mit Topoi von dessen Philosophie: „Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie,

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

romantischen Einheitsglaubens in der Innen/Außen-Spaltung mag eine Stelle aus den im April 1864 geschriebenen Überlegungen „Über Stimmungen" zitiert werden: „die Seele ist aus demselben Stofi aus dem die Ereignisse gemacht sind oder aus ähnlichem und so kommt es, daß ein Ereignis, das keine verwandte Saite trifft, doch mit der Last der Stimmung schwer auf der Seele liegt [ . . . ] . " 43 Nietzsche rühmt an Schopenhauer nun das widerspruchssynthetische Moment — was nicht nur aus der gewollten Gegensätzlichkeit seiner eignen spätem Philosophie erklärt werden kann. Schopenhauer ist „der Philosoph einer wiedererweckten Klassizität, eines germanischen Hellenentums", insofern zugleich „nüchterner" und „gesünder", aber audi „ideeller" als seine Zeitperiode. 44 In erster Linie hat das Erlebnis des „Philosophen" bei Nietzsche audi zu einer Verstärkung des Subjektbewußtseins und zur Anerkennung des subjektiven Urteils im philosophischen Prozeß geführt. In der subjektivitätsstärkenden und kunstverklärenden Komponente der Schopenhauerschen Philosophie konvergieren die Spannungen, die sich auch in Nietzsches Bewußtsein zwischen ,Empirie' und ,Wissensdiaftlichkeit', metaphysischer Denktradition und ,Kunst' gebildet haben: Das wird sichtbar an Nietzsches Rezeption der 1866 erschienenen „Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart" von Friedrich Albert Lange. War dieses Buch damals für Nietzsche „das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist", 45 so tritt es in eine Reihe der Wertschätzung mit Kant und Schopenhauer; seine Aktualität erhält es aber durch die Explikation der Konkurrenz-Problematik zwischen Philosophie und ,Dichtung', insofern nämlich Lange den idealismuskritischen Ansatz vertritt, jegliches ,An sich' der Dinge sei unerkennbar — in Nietzsches Worten: „Unsere wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns. Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nidit nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unserer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unserer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophie frei, vorausgesetzt, daß

hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah midi das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel". (III, 133; vgl. Mittasch, Naturphilosoph 15.) 43 III, 114. 44 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 16. 45 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 18.

Situation des Naturbewußtseins und Schopenhauer-Rezeption

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sie uns hierfür erbaue. Die Kunst ist frei, auch auf dem Boden der Begriffe . . . Wenn die Philosophie Kunst ist . . w e n n sie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaute, als SCHOPENHAUER". 46

Die merkwürdige Doppelrolle des Subjektivitätsmodells ist an dem kritischen Vorgehen gegen den Idealismus festzuhalten, das gerade in den Idealismus zurückfällt, weil es die Kritik totalisiert und ins Agnostisch-Beliebige abgleiten läßt. Einerseits wird die Konstitution jeder Wirklichkeitserkenntnis von der subjektiven Organisation abgeleitet (das erste von Lange nach Nietzsche festgestellte Resultat lautet: „Die Sinnen weit ist das Produkt unserer Organisation" ) — anderseits soll ebendieselbe der Hinderungsgrund für Wirklichkeitserkenntnis sein (das zweite festzuhaltende Ergebnis lautet: „Unsere sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen anderen Teilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes").47 Die Dunkelstelle der Argumentation kann beliebig festgemacht werden, entweder am Wirklichkeitsbegriff oder am Erkenntnisbegriff, — jedenfalls wird eine qualitas occulta zwischen Subjekt und Erkenntnis gesetzt, diese aber ihretwegen entwertet. Das Grundmodell folgt damit der Sdhopenhauerschen Version der Erkenntniskritik, die den fundamentalen Unterschied zwischen ,Dingen' und ,Ding an sich' verwischt. Auf der radikalisierten Stufe der Konzeption, wie sie nach Nietzsche Lange vertritt, entfällt jegliche Ableitungsinstanz für operatives Erkennen in der Philosophie: die Introspektion des Subjekts ist nicht mehr Garant wahrer Erkenntnis — aber auch eine von den Außenbedingungen geleitete Erkenntnis führe nicht zu philosophischer, sondern nur zu wissenschaftlicher Relevanz. Damit entfällt letzten Endes die noetische Funktion der Philosophie. Sie regrediert zum Erbauungsmedium.48 Wir brauchen hier nicht auf den Einfluß der sensualistischen und materialistischen Autoren wie Czolbe, Büchner, Moleschott genauer einzugehen 49 Wichtig erscheint die Benennung der bildungsgeschichtlichen Synthese, die sich für Nietzsche aus der ihrerseits erkenntnisverwehrenden Weltanschauung Demokrits und der agnostischen Endstufe des deutschen Idealismus ergibt. Die Synthese wird weitergetrieben durch die philosophiekritischen Aussagen der Wissenschaft und die moralkritischen des Materialismus, der gegen jede vorgestellte und gewünschte Welt die Relevanz der gegebenen forciere:

47 48

Ebd. Zit. nach Mittasdi, Naturphilosoph 17. Bereits am Ende der Studienzeit registriert Nietzsche, seine aus der „Zeit vom neunten bis zum fünfzehnten Jahre" stammende „wahre Sucht nadi einem jUniversalwissen'" (III, 117) kritisierend, mehrfach die Vergeblidhkeit des darauf bezogenen philosophischen Fragens: „Das Gefühl, in der Universalität nicht zum Grunde zu kommen, trieb mich in die Arme der Wissenschaft" (III, 149), heißt es etwa 1868/69. Vgl. dazu Mittasch, Naturphilosoph 18—23.

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

„Als Arzt ging DE LA METTRIE zum Materialismus über. Audi im Punkte der Weltbildung ist DEMOKRIT im Recht. Man muß DEMOKRITS System aus Epikur wiederherstellen. — ,Begnüge dich mit der gegebenen Welt' ist der sittliche Kanon, den der Materialismus erzeugt hat" ,50 Die Jahre 1867 bis 1869 bringen auch eine sicher durch Schopenhauers philosophische Aufwertung bestärkte Goethe-Rezeption für Nietzsche.51 Durch sie wird selbstverständlich die Neigung verstärkt, apriorisch „Unerforschlidhes", sei es methodologisch oder topologisch, anzuerkennen. Nietzsche durchschaut damals bereits die Brisanz der „platonischen Frage", und er insistiert gegenüber der affirmativen Agnostik innerhalb einer angenommenen allgemeinen Analogie von ,Leben' und .Mensch' auf der Frage nach „Erklärung". Den Demokritstudien ist wohl vor allem auch die nachdrückliche Kritik der Teleologie zu danken, welche Nietzsche von dem Gros seiner philosophischen Lehrer und ihm bekannten Autoren scheidet. Er plant als Dissertation eine Arbeit, die zunächst den Titel „Die Teleologie seit Kant" trägt, dann unter dem Konzept gefaßt wird: „Der Begriff des Organischen seit Kant". Als Ergebnis der aus der Zeitdiskussion übernommenen Einstellung zur Metaphysik als einer von Kunst historisch überholten Weise der Vereinheitlichung von Welterfahrung kann eine Formulierung aus einem Brief an Deussen vom Frühjahr 1868 betrachtet werden: „Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der ,absoluten' Wahrheit, ist unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer etwas wissen will, begnügt sich jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens — wie ζ. B. alle namhaften Naturforscher. Metaphysik gehört also bei einigen Menschen ins Gebiet der Gemütsbedürfnisse, ist wesentlich Erbauung; andernseits ist sie Kunst, nämlich die der Begriffsdiditung; festzuhalten aber ist, daß Metaphysik weder als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten An sich Wahren oder Seienden zu tun hat" .52 Die Studienjahre zeigen einen weitgehend agnostischen Auffassungen geöffneten, grundsätzlich den irrationalen Bedürfnissen und Wünschbarkeiten des menschlichen Gemüts zugetanen Studenten, der sich — zum eigenen Erstaunen — „in Platonische Metaphysik und Demokritische Naturwissenschaft" vertieft, was ihm so seltsam vorkommt, „als wenn ein Christ sich gleichzeitig für die so Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 19. 51 Vgl. dazu M. Saleski, Goethe als Erzieher Nietzsches, Diss. Leipzig 1929. Die Aufwertung Demokrits erfolgt im Glauben, hier eine inhaltliche Antwort auf die anstehenden kosmologischen Fragen zu erhalten. Im Umkreis der im Winter 1867/68 geschriebenen „Democritea" heißt es kennzeichnend: „Zu SCHOPENHAUER. — Die sehnsüchtige Frage aller Metaphysiker, wie sie das GOETHESCHE Wort ausspricht ,Ob nicht' — wird von ihm kühnlich mit Ja beantwortet". (Zit. nach Mittasch, Naturphliosoph 20). Auf Nietzsches Beschäftigung mit Goethes Morphologie weist Mittasch, Naturphilosoph 18, hin. 52 Zit. nach Mittasch, Naturphilösoph 20 f.

Gleichnisgedanke in der „Geburt der Tragödie"

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Wundergeschichten des Alten Testaments, MOLESCHOTTS .Kreislauf des Stoffes' und BÜCHNERS .Kraft und Stoff' erwärme".53 Aus dem Briefwechsel dieser Jahre wären in eigenen Untersuchungen die Momente des Erkenntnisverzichts, der zunehmenden Sprachskepsis, der totalisierenden Analogie-Thesen herauszuarbeiten. Für uns ist der Nachweis von erhöhter Wichtigkeit, daß sich in den erkenntnisverdächtigenden Theoremen die Semantik des „Bild"-Begriffs vorschiebt, daß sich m.a.W. in der Bezeichnung von Erkenntnisrelationen als „Bildern" eine zentrale semiotische Dunkelstelle der Nietzscheschen Erkenntnistheorie abzeichnet. Wie es das öben angeführte Zitat ausweist, wird der Bildbegriff in diesen Jahren bereits als totalisierende Metapher des komplexen Bezugs entweder der Sinnesorgane zum Wahrgenommenen, oder zur Wahrnehmung, oder der Wahrnehmung zum Erkannten usw. eingesetzt. Indem erkannt zu werden geglaubt wird, es seien ja „nur" Bilder, was an Wirklichkeit erfahren wird, stellt sich der Bildbegriff als Bestandteil der Reduktions- und Einschränkungsthematik dar. Er trägt wesentlich zur Ausprägung einer ambivalenten Haltung in hermeneutischen Fragestellungen bei.

4. Die unbestimmte Relevanz des Gleichnisgedankens in der „Geburt der Tragödie" a) „Schein", „Bild" und „Traum" Nietzsche behauptet in der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" eine Erklärung der kulturbildenden Synthesis zweier Kultureinstelkingen zu geben, die ihrerseits bereits beide Kultur erzeugen: nämlich der dionysischen und der apollinischen. Beide Typen werden anhand einer immanenten Differenzierung von ,Kunst an sich' charakterisiert. Damit ist von Anfang an die Gefahr einer Doppelbegründung: einer vom vorausliegenden Ganzen und einer von der Binnendifferenz abgeleiteten angezeigt. Die inhaltlichen Zuordnungen zu den beiden Prinzipien unterscheiden sich spürbar in ihrer logischen Opposition, es gibt aber auffällig große Zonen der Überschneidung. „Apollinische" Kunst ist die des „Bildners" (worunter offen53

Zit. nach Mittascfa, Naturphilosoph 21. Die von Mittasch hier mitgeteilte Liste geplanter Lektüre enthält vornehmlich Arbeiten der Naturphilosophie, u. a. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur, Treviranus, Über die Erscheinungen u. Gesetze des organischen Lebens 1832, Czolbe (Neue Darstellung des Sensualismus 1855, Die Grenzen und der Ursprung der menschlichen Erkenntnis 1865), Heknholtz, Lotze (Streitschriften, Medicin, Psychologie), Herder (Ideen zur Philos. der Geschichte der Menschheit), Schelling, Ideen zu einer Philos. der Natur), Joh. Müller (Über das organ. Leben, Über die Physiologie der Sinne), Schleiden, Über den Materialismus in der neueren Naturwissenschaft 1863, Carus, Grundzüge d. vgl. Anatomie u. Physiologie 1825, Oken (Die Zeugung 1805, Lehrbuch der Naturphilosophie 1809).

Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi

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bar die Gesamtheit der bildenden Künste verstanden werden soll — wenn nicht eine Abstraktion des Bild-Begriffs bereits hier anzusetzen ist). Die grammatischlexikalischen Zuordnungen sind, etwa in der Adjektivsemantik, unklar: aus dem Gegensatzzwang zur dionysischen, als „unbildlich"

gekennzeichneten Kunst

wäre zu ergänzen, daß das apollinische „bildlich" auch im Sinn von ,rational' semantisierbar wäre —

dank der Doppelverwendung ergibt sich jedoch die

Überschneidung, daß hier

„Bildlichkeit"

keineswegs rationale Bestimmtheit

meint. 5 4 Dem weiter genannten Gegensatz von „träumerisch" auf Seiten des Apollinischen zu „rauschhaft" auf Seiten des Dionysischen wird man keine signifikante Opposition zusprechen können, da sich beider Semantik im Feld des ,Nicht-Wachen, Nicht-Vollbewußten' überschneidet. 55 Nietzsche liefert weder einen dem Sprachbewußtsein seiner Zeit adäquaten Verwendungsbeleg noch eine historische Rechtfertigung. Einen Beleg für das behauptete bildnerische Vermögen des Traumes bietet ihm allein ein bei Lukrez gefundener Topos. 5 6 Die zusätzlichen Konnotationen des

„Apollinischen" reichen wenn möglich noch

stärker in den R a u m des Dionysischen hinüber: es wird als „freudig-notwendig" und als „tiefe L u s t " apostrophiert. 5 7 . Der hochgradig sekundäre und quellen54

Zwei anspruchsvolle jüngere Arbeiten haben den Anfang der GT zum Ansatz ihrer Analyse gemacht: B. Bräutigam „Reflexion des Schönen — schöne Reflexion. Überlegungen zur Prosa ästhetischer Theorie — Hamann, Nietzsche, Adorno" 1975 und G. Rupp „Rhetorische Strukturen und kommunikative Determinanz. Studien zur Textkonstitution des philosophischen Diskurses im Werk F. Nietzsches" 1976. Beide kommen zu dem Ergebnis, daß die G T sich auf schmalen Denotationen aufbaut; Rupps eingehende Analyse der phrastischen Strukturen der ersten Sätze der GT liefert die bisher präziseste Erkenntnis anaphorischer und analogistischer Strukturen im Einsatz von Bildern, der sich allererst in der Intention, Bildlichkeit als Weg „zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung" — so I, 21 im Programmsatz der GT — vorzuschreiben, begründen läßt. Rupp stellt Nietzsches immanente Rekonstruktion des Verlustes an JBüdfähigkeit' und .Vergleichsrede' in der Antike folgendermaßen dar: „Apollinische Kunst, die auf Umwegen zum Dionysischen vorstösst, ist in der attischen Tragödie materialisiert. Alle folgenden Vergleichsreden sind schlechte Klischees, die nicht mehr zum dionysischen Urgrund zurückleiten können". Er resümiert: „Diese Dispositionen des kategorialen Rahmengefüges Apollinisches-Dionysisches, in nuce im ersten Satz enthalten, determiniert das Ganze der folgenden 23 Abschnitte (§ 25 als R£sum£ gerechnet), welche sie als Reprise, Transposition, Projizierung, Exkurs oder Exemplifizierung modifizieren". (47 f.)

M. Vogels Arbeit hat mit schätzenswertester philologischer und kulturhistorischer Akribie die Widerlegung von Nietzsches willkürlicher und undurchdachter Entgegensetzung geleistet. An seiner Arbeit bestechen unablässige Aufmerksamkeit auf das metaphorische und bildliche Sprechen und das Eingehen auf das durch dasselbe erzwungene unbewußte bzw. leserdidaktische Uminterpretieren von einmal fixierten Konnotationen. Vogel belegt die Willkürlichkeit der Trennung von Apoll und Dionysos unter den Floskeln „Traum" und „Schein" mit zahlreichen Verweisen auf die antike Literatur. 56 1,21. 5 7 Das hat denn auch L. Klages zu der Kritik an Nietzsche veranlaßt, „nicht das Apollinische, sondern das Dionysische sei das bilderströmende Auge der Welt" (zit. nach Vogel, Apollinisch und Dionysisch 21).

55

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ferne, von Sachlichkeit absehende Ansatz der Begriffsbildung ist als Stigma der Bildungsunschärfe der Zeit und bewußter „Einstellungs"unschärfe des Autors anzusehen und kommt einer Entproblematisierung gleich. Nietzsche verallgemeinert den zunächst auf die Spezifik einer Kunstform gemünzt erscheinenden Ansatz durch Verbalisierung des Problems mit hochgradig bildungsgeschichtlich erweichten Floskeln: „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensdi voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch [ . . . ] einer wichtigen Hälfte der Poesie" ,58 Sein Rückgriff auf die Schopenhauersche Philosophie führt zu einer folgenreichen, später wieder aufzuhebenden Analogie: wie der Philosoph „die Wirklichkeit des Daseins" phantomisiere, so setze sich für den Künstler „die Wirklichkeit des Traumes" in Bilder um. Gleichzeitig wird das Widersprechende behauptet, die Aktion des Künstlers sei ein „genau und gern" — also kontrolliert und volitiv autogen erfolgendes — Zusehen, Hinsehen auf die im weiteren Text stehend wiederholte „Bilderwelt des Traumes" ,59 In diese selbst kommen, betrachtet man den Text in der gebotenen Nähe, alsbald Signale der eigentlichen Alltagswelt herein; — indem Nietzsche den Gegensatz der „angenehmen und freundlichen Bilder" 60 zu den ernsten, traurigen und neckisch-zufälligen des Lebens einbringt, verläßt er das Paradigma des Traumes und treibt die Wellanschauung der „Allverständlichkeit" 61: womit überhaupt die Differenz von Kunst und ihrem Gegenteil zu tilgen wäre. Aber nicht das ist zunächst interessant, sondern die auf den folgenden Seiten deutlich werdende anti-intellektuelle Bedeutung dieser Traumwelt, die zugleich als Welt des „Scheines" gilt.62 Der Begriff des „Scheins" wird ebenso wie der des „Bilds" das tertium comparationis im ,Realitäts'-Verihalten von Philosoph und Künstler — und Mensdht unterm Zeichen der Traumwelt, also „Mensch" in den Gänsefüßchen einer nicht ausgesprochenen Metaphorik. Die beobachtete begriffliche Unechärfe führt zur Doppelkonstruktion von „Schein": philosophische Wirklichkeits- und künstlerische Traum-Verarbeitung sind Schein, beide enthalten ein wirklichse I, 22. I, 25. Vgl. dazu Vogel 20: „Schopenhauers ,Wille' und ,Vorstellung' lassen sich nicht auf Dionysos und Apollo übertragen". «> I, 22. 61 1,22. Der damit unbewußt vollzogenen Wendung des Inhalts entspricht die — Bölsches Unverbindlichkeit vorwegnehmende — lockere Rede über „die ganze .göttliche Komödie des Lebens'", ja das „Inferno" — womit Nietzsche auch Schopenhauers Topik weitergibt. 62 Der Eingang des 2. Kapitels klärt, daß die Bilderwelt des Traumes und ihre „Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellektuellen Höhe oder künstlerischen Bildung des einzelnen ist". (1,25) 59

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keitsverwandelndes Moment — aber ein Kriterium oder auch nur ein Gradient von „Wirklichkeit" wird nicht gegeben, sondern analogistisch-metaphorisch hintertrieben. Statt dessen figurieren bildungssprachliche Anklänge, vor allem an Goethe und Schopenhauer (vereinheitlichend werden Bögen geschlagen von der „höheren Wahrheit" — der Philosophen — über „das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit" — der Sibyllen — zum Auge, das „sonnenhaft" sein muß nach Goethe). Der „Schein" der idealistischen Philosophie kommt dann in die Nähe des aus dem Osten importierten Schleiers der Maja. Mit dem Schopenhauerzitat offenbart sich das eigentlich Verbindende von „Schein", „Traum" und „Schleier" im Bild des auf heulenden Wellenbergen, „mitten in einer Welt von Qualen, ruhig" sitzenden Menschen, der gestützt sei durch sein Vertrauen „auf das principium individuationis" ,63 Die damit geklärte Beruhigungsqualität des Scheins erfährt ihrerseits eine Doppelbegründung, da Nietzsche nun dasselbe sachliche Ergebnis in nur gradueller Steigerung aus dem dionysischen „Zerbrechen des Schleiers der Maja" ableitet: die Ausdrücke für den Zustand der Natureinheit reichen von „wonnevoller Verzük kung" 64 bis zu relativ milder „Verzauberung". Die im Eingang des Textes angesetzte Unterscheidung der Künste ist hinfällig geworden: am Ende des ersten Kapitels der GT figuriert gerade der Bildhauer als Exponent dionysischen Verzückungsrausches .65 Der gedankliche Prozeß dieses Kapitels wäre als hypostasierende Uberbietung eines Erklärungsansatzes durch einen als entgegengesetzt ausgegebenen, ihm in Wirklichkeit nur graduell überlegenen zu kennzeichnen. Als Transportmittel dieses Vorgangs sind die zentralen Begriffe des Bilds und des Scheins einerseits, ihre metaphorischen Doppelverwendungen und die inexplizite Wertung ihrer unterschiedlichen Wirklichkeitsgrade anderseits anzugeben. „Die Doppelbedeutung, die das Wort Schein im Deutschen hat, nützte Nietzsche hier [in den ersten Sätzen der GT] aus, um aus Phoibos Apollon, dem Sonnengott, einen Herrscher im Reich des schönen Scheins der Traumwelten zu machen". „Nietzsche dachte sich also den Traum als einen Zustand der Kontemplation" ,66 Vogel hat weiter richtig gesehen: „Der Zusammenhang stellt sich für Nietzsche durch das Bildhafte der ,weisheitsvollen Ruhe' und des ,ruhigen Dasitzens' her. [ . . . ] Nietzsches Vergleich zwischen Veitstanz und dithyrambischem Chor leitet zum titelgebenden Hauptgedanken über, zur Geburt der Tragödie, die sich Nietzsche nach Analogie zum biologischen Vorgang aus der Paarung von Apollinischem und Dionysischem entstanden dachte".67 Die den Gesamttext der GT unterÖ 1,23. Μ 1,24. 1,25: „Der edelste Ton, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen". 66 Vogel 11. 67 Vogel 12 f. 65

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legende Naturmetaphorik führt bereits am Ende des ersten Abschnitts zu einer in sich dialektischen Anthropomorphisierung der Natur. Unter dem Gesichtspunkt des Einsatzes von Bildlichkeit ist festzuhalten, daß die Traumanalogie zugleich eine Bildanalogie ist.68 Apollinisches und Dionysisches treffen und überschneiden sich darin, daß sie beide in wie audi immer zu denkender Abbildrelation zu einer wie auch immer rezipierten oder konstruierten .Realität' stehen. Wird nun im weiteren das Dionysische als Produktion des Abbildes der Ur-Einen als Musik definiert (so I, 37), dann tritt der Widerspruch zur Ausgangsthese, wonach dionysisches Kulturverhalten gerade „unbildlich" sei, eklatant hervor. Diesen Widerspruch sucht eine Differenzierung kosmologischer .Stufen' — in starker Analogie zu der bei Schopenhauer beobachtbaren Stufentheorie — aufzufangen. Vor allem im 4. Kapitel wird einen Binnendifferenzierung des Scheinbegriffs vorgeschlagen, indem Nietzsche — anhand der Raffaelischen „Transfiguration" — vom „Depotenzieren des Scheins zum Schein" redet und folgerichtig auf die Äquivokation mit dem Einsatz einer Gänsefüßchenphilosophie reagieren muß: Die in dem Gemälde sichtbaren Verzweifelnden, Geängsteten seien „die Widerspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der ,Schein' ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Sdieinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen" . ω Der Doppelgebraudi des Scheinbegriffs folgt demnach dem emanatistisch-platonistisdien Paradigma von Erlösungsstufen. Nietzsche versucht eine Kontamination dieses Paradigmas mit seiner Oppositionskonstruktion .dionysisch/ apollinisch', dergestalt, daß er dem dionysischen Kulturverhalten das ,tiefere' Abbild der Musik, dem apollinischen das ,höhere' des „Einzelgleichnisses" zuordnet. Bei dieser Zuordnung bleibt unklar, wieweit hier Schopenhauers Gra duierung der Künste (mit der Vorzugsstellung der Musik, die Nietzsche völlig übernimmt) oder — auch — eine existentialistische Version gemeint ist, wonach der Einzelne schon die Würde eines Gleichnisses in sekundär-abgeleiteter 68 Vgl. I, 32. I, 33. Die sprachlich und begrifflich nicht geleistete Fixierung der beliebig unterschiedlichen „Stufen" und Ebenen der Bild- und Gleichnisbeziehung bezieht sich auf die Differenz ,Genius-Mensch' ebenso wie auf die Binnendifferenzen im Kosmosmodell, dessen Abbild-Ebenen nicht präzisiert werden. Sprachliche Folge dieser Unterlassung sind Beliebigkeit und Potenzierbarkeit der .Bikterstufen' — logische Folge ihre .Gleidiortigkeit' (um nicht Gleichzeitigkeit zu sagen). Nessler hat eine Genitiv-Kette der nicht fixierten ,Vorstellungs-Genesis' im Weltgleichnis als Nietzschezitat nachgewiesen: Der geniale Mensch „schafft ein Bild vom Abbild der erscheinenden Dinge oder, wie Nietzsche sagt (vgl. KOA IX, 208), ,ein Bild des Bildes des Bildes'." (Die beiden Theatermodelle in Nietzsches .Geburt der Tragödie' 48)

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Form besitze. Die Terrassierung der Scheinwelten wird ausführlich I, 37 entwickelt, und zwar unter erneutem Einsatz des Bildbegriffs. Die verschiedenen Bild- und Gleichnisbegriffe changieren hier bereits leerformelhaft. Die „Verzauberung" sprühe „gleichsam Bilderfunken". Aber es können aus dem Argumentationszusammenhang wenigstens zwei hauptsächliche Gebrauchsdefinitionen von ,Bild' eruiert werden: erstens eine transzendentalistisch-kosmologische, in welchem Ich und Welt eine (Abbildungs- und Real-)Einheit,bilden', zweitens eine ästhetische, die als produktionsbezogene auf die Kunstrealität zielt. Die erste Definition stammt als nur sprachlich verschärfte, logisch aber nicht differenzierte Rede aus der Tradition des Schopenhauerschen Bilddenkens, sofern in ihm die Subsumption von ,Bild' in „Vorstellung" ermöglicht wird. Das menschliche Vorstellen, so expliziert Nessler,70 ist als „ein symbolisierendes Vorstellen" (vgl. KOA IX, 104 f.) eine Gegenständlichkeitserfassung „mit Hilfe von Analogien" und unter Projektion eines zusätzlichen ästhetischen Reizes. „Diesen Reiz führt Nietzsche auf eine übergeordnete Willensstrebung zurück, die das menschliche Vorstellen immer schon unterläuft. Er nennt die Symbolvorstellung ,das Wahnbild, durch das ein allgemeiner Trieb eine subjektive individuelle Reizung ausübt' (KOA IX, 105). Jene übergeordnete Willensregung ist der ,Ur-Intellekt'Damit ist erneut die katachretische Funktionalisierung erkenntnistheoretischer Begrifflichkeit im kosmologischen Welt/SelbstGleichnis gemäß der Schopenhauerschen Abwehr des daseienden Intellekts praktiziert und der Traditionszusammenhang eines ins kosmische „Ur" flüchtenden Bilderdenkens bewahrt. Die kosmologische Tiefendimension der Musikmythologie Schopenhauers führt Nietzsche in eine widersprüchliche Lage: Musik leiste eine „Wiederholung der Welt" und sei „ein zweiter Abguß derselben": also doch wohl sehr bildlich. Dieser — genau gesagt erste — Abguß werde ein zweites Mal, „wie in einem gleichnisartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar" . Nun aber fährt Nietzsche fort: „Jener bild- und begrifflose Widerschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichnis oder Exempel" .71 Der dionysische Prozeß bedeutet Aufgabe der Subjektivität des Künstlers — diese Selbstauflösung wird nun gleichwohl als „Vision", „Einsicht" und als „Bild" gedeutet:

70 Nessler, Die beiden Theatermodelle 38 f. 71 Hier liegt wohl die sichtbarste Weiterführung von Schopenhauers Gleichnis-Philosophie, die alle Existenz latent als Exempel in einer ungeheuren und ungeheuer zwangshaften Gleidiung zweier Unbekannter verrechnet. (1,37)

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„das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumszene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, samt der Urlust des Scheines, versinnlicht". Die Strukturähnlichkeit dieser in der GT umwegvoll konstruierten Vision zur visio beatitudinis darf von den inhaltlichen Unterschieden her nicht abgewehrt werden: wie kunstphilosophisch vermittelt auch immer, die Existenz wird doch noch als ,Bild' vielleicht eines Naturgottes, zumindest eines ,Ur' (-Einen) konstruiert: es ist die Konstruktion des „Weltgenius" ,72 in dem sich nach den folgenden Ausführungen Ich und Nicht-Ich ausgleichen. Voraussetzung seiner Möglichkeit ist, daß ,Wissen' zu ,Verschmelzung' degeneriert, daß der Unterschied zwischen W e r k und Autor als irrelevant erklärt wird (Nietzsche verwendet dazu den Schopenhauerschen ObjektivationsbegriS: „die Bilder des Lyrikers" seien „nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objektivationen von ihm") Ρ Der Bildbegriff erhält hier auf indirekten Wegen die vor seiner philosophischen und idealistischen Auswertung manifesten religioiden Inhalte zurück. Dabei wird noch näher auf die zwischen Naturgläubigkeit und Kunstreligion liegende religiöse Bedeutung des Anschauungstopos selbst einzugehen sein. Den erlösenden und verklärenden Wert des Bildes haben wir hier noch genauer zu umreißen.74 Die Unterscheidung zwischen dem jetzt so genannten „Plastiker" und dem „Lyriker" liegt darin, daß „der lyrische Genius [ . . . ] aus dem mystischen Selbstentäußerungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen" 75 sehe, die sich mit anderer „Färbung, Kausalität und Schnelligkeit" von der Welt des Plastikers abhebe. In seiner Tiefenstufe ist nun der lyrische Genius selbst Träger ältester Einheits- und Gottesvorstellungen, auf ihn wird der aristotelische Topos der antiken Kosmologie angewandt: er darf — 72 1,38. " 1,38. 74 Nesslers treffsicher explizierende Arbeit enthält sich allzu sehr jeder kritischen Einstellung, deutet aber „das bildhafte Wesen der apollinischen Kunst" (13 f.) im Rahmen der drei imaginierten Kunstformen („apollinisch", „dionysisch", „tragisch" als Synthese der beiden) richtig: „Bildhaftigkeit bedeutet damit nicht in erster Linie Visualität, sondern eine Darstellung, die das individuelle Sein verklärt und rettet. Sie kann ebenso begrifflicher und abstrakter wie visueller Art sein". „Jedes Bild" des apollinischen Kunsttriebes „ist eine schützende, lebensdienliche Maske". Wenn „das unbildliche Wesen der Musik" — im Zusammenhang der unbildlichen dionysischen Kunstform diskutiert — von Nietzsche jedoch zugleich als Antithese und als aufhebende Überbietung gedacht wird, kommt Musik als „potentielle Intentionalität" und kosmologisches Reservat in die Zone einer eschatologischen Bildlichkeit. Ihr eignet eine kosmogonische und mystische Potenz, wenn Nietzsche vom „Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mystischer Offenbarung" (KOA I, 119) redet. Da Musik gleichzeitig als Voraussetzung von Offenbarung gedacht wird, wird der Widerspruch als unaufgeklärter Prozeß greifbar: Nietzsche stockt vor der Entscheidung, welche Sphäre er als kosmologisch primär und begründend, welche er als Ableitung bestimmen soll. 75 I, 38.

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in offenbar an das Alte Testament anklingender Weise — „als bewegender Mittelpunkt jener Welt ,ich' sagen". Nietzsche bringt an diesem Punkt synkretistischer Verschmelzung von Aristoteles' „primum movens", alttestamentarischer Ich-Setzung und idealistischer Kunstphilosophie auch den Topos vom „Grunde der Dinge": dessen Erlösung erfolgt im Rahmen einer transzendentalistischen Ich-Anthropomorphik von absolut verdinglichtem Charakter. Der lyrische Genius sei „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf den Grund der Dinge hindurchsieht" 76 Man beachte die in der Einiheitsforcierung praktizierte Entrealisierung der Vorstellung: diese Ichheit ist gleichzeitig eingebettet in den Grund der Dinge, sieht in ihn hinein und produziert ihn sogar erst. An der Metapher des Sehens tritt hier die Realitätslosigkeit der Schopenhauerschen Konstruktion einer ästhetischen Metaphysik besser hervor, da Nietzsche die Mehrfachbedeutungen der den metaphysischen Momenten je zugeschriebenen Leistungen bildlich und sprachlich enger bindet als sein Gewährsmann. Da sich in dem Syndrom dieser spättheologischen Schöpfer-Ernennungen tendenziell jede Realitätsdifferenz auflöst, bleibt der Bereich der realitätsbeschreibenden — d. h. beobaditungsqualifizierenden — Terme im Wortfeld des Sehens völlig ungeklärt: die Funktionen von „Bild", „Abbild", „Bildnerisch", „Vision" und „Gleichnis" überschneiden sich völlig; es bleibt — und darin hat die GT literarisch und ästhetisch wohl einen ihrer wesentlichen, historischen Erfolge gehabt — die vage Verweisung einer „symbolischen" „Vision des Genius",77 dessen Bedeutung im Text dadurch nicht klarer wird, daß damit einerseits die historische Instanz des Archilochus, anderseits die kosmologisch konstruierte des mit dem Totalisierungspartikel und seiner Funktionslosigkeit aufgewerteten „We/igenius" identifiziert wird. Die Funktionslosigkeit bleibt im Rahmen der Schopenhauerschen Ästhetik Auszeichnung der Überhebung über die Sübjekt-Objekt-Spaltung, selbst also das Stigma der mythisch-religiösen Erlösung. Zum Schluß des hierfür bedeutenden 5. Kapitels der GT wird der Gedanke der bloß ästhetischen Rechtfertigung des Daseins (auf den wir analytisch zurückkommen) in hoher Ambivalenz der Kontextualisierung formuliert; wieder tritt, zum Beweis der ,anthropomorphin7fr 1,38. Analoges gilt in der kosmologischen Deutung vom Künstler überhaupt: „Der Künstler ahmt das kosmische Wirken des Triebes nach und bezieht dabei eine Grundstellung, in der er sich gegenüber der Welt im ganzen mit ihm identifiziert". (Nessler 13) Da Nietzsche keine Grenzen der Identitätsbereiche angibt, ist die seine gesamte Philosophie infragestellende Aporie zu benennen, worin denn das „Gegenüber der Welt" bestehen soll, wenn die Nachahmung des kosmischen Triebes die der identifikativen Affirmation von Welt (später: als Wille zur Macht) sein soll. 77 1,38.

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freien' Metaphysik der Kunst, der Hinweis auf, „daß die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unserer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird"; ja es folgt sogar die Aufforderung, die — auf der metaphysischen Ebene doch eben noch zum Begründungsargument erhobene — Ichidentität des Künstlers' aufzugeben. Nur der deus absconditus der metaphysisch vergrabenen Ästhetik, jener „einzige Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie'' darf sich „einen ewigen Genuß" 78 bereiten. Die von uns herausgearbeitete Inversion nicht nur des Sehens, sondern aller realitätskonstituierenden Vermögen zielt in den entscheidenden Passagen der GT auf eine so gründliche Endastung von Objektivität, daß Nietzsche hier selbst vom einerseits wunderbaren, anderseits „unheimlichen Bild des Märchens" spricht, „das die Augen drehn und sich selber anschauen kann".79 Im Zusammenfall von „Subjekt und Objekt", „Dichter, Schauspieler und Zuschauer" setzt Nietzsche pointiert das Signal für jenes idealistische, auch in seinem Denken weiterzuverfolgende Einheitssyndrom, das bei Schelling und Schopenhauer unter dem Titel „Opfer und Geopfertes sind eins" seiner ideologiekritischen Analyse harrt. Das 6. Kapitel greift ein schon zitiertes Bild auf: Lyrik sei „die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen", damit ein Bildlichkeitsspiegel der Musik und zugleich eine „Erscheinung" des Willens, nämlich der „Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden".80 Mit dieser Bezugnahme auf die Schopenhauersche Willensphilosophie kommt der Widerspruch zutage, daß Lyrik einerseits etwas wie apollinische Bildbetrachtung sei, anderseits sich aber dialektisch begründe mit dem „an sich unästhetischen" „Willen", mit der Verfallenheit an „alle Regungen der Leidenschaft". Die vielfältige Funktionalität der Musik besteht demnach darin, daß sie „Medium" einer „apollinischen Betrachtung" von Bildern ist, alsdann Medium der Selbstbetrachtung des Subjekts im Zustand seiner — durch Welt und/oder Ich verursachten — Frustration („so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls" I, 43). Damit wird die Gleichnisfunktion reversibel: „Sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichnis, mit dem er die Musik sich deutet" .81 Diese These hätte große sachliche (und wie gezeigt für Nietzsche biographische) Plausibilität; analog zu dem etwa von Kaempfert formulierten Begriff wäre Musik eine projektive Rückdeutung subjektiv-stimmungshafter bzw. existentieller Befindlichkeit in das Kunstmedium. Aber anderseits sei ja Musik und Lyrik nichts als das generative' Gleichnis, also der Ur78 I, 40. 79 I, 40. Wenn am Ende des Jahrhunderts die Realitätsflüchtigkeit und Weltverklärung ihre trivialen Gipfel bei Bölsche, Wille usw. erreicht, wird gerade die widersprudiaufhebende Rolle des Märchens in der ,Theorie' ausgenützt und totalisiert. so I, 43. si 1,43.

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sprung ebendieser Stimmungen. So wird Musik einmal Generator, einmal Medium, einmal Objekt der apollinischen Bildbetrachtung der interesselosen Unwillentlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit wird insgeheim von dem wider spruchslöschenden idealistischen Theorem des Verhältnisses von „Erscheinung" und „Wesen" aufgesaugt: deshalb betont Nietzsche vorsorglich am Eingang dieses Abschnitts so nachdrücklich den Begriff der „Erscheinung", denn sofern sie gerade die theoretische Differenz vom Wesen ausdrückt, scheint sie eine derartige, bloß praktische' Widersprüchlichkeit tilgen zu können. Damit sieht man sich vor die erkenntnistheoretische Kernfrage des späten Idealismus gestellt: Wie verhält sich das erkenntnistheoretische Gebrauchsmodell der Differenz „Erscheinung/Wesen" zu dem geschidhtsphilosophisch-spättheologischen Gebrauchsmodell desselben, wonach Wesen als ,Grund' und Antezedens die Erscheinung einerseits konstituiert, anderseits offenbar nicht anders als mit emanatistischen Verlusten sich „objektivieren" kann? Es ist das für Nietzsches Denken in seiner axiomatischen Bedeutung so zentrale Problem der Entstehung des Einzelnen aus dem „Widerspruch" — als heraklitischer Topos vom „Kampf als Vater aller Dinge" ist dieses Philosophem in der GT bereits unverrückbar etabliert. Seine Bedeutung in der Welterfahrung Nietzsches wird uns unter dem Namen der „dialektischen Genesis" gesondert beschäftigen. Nietzsche sieht am Ende des 6. Kapitels offensichtlich selbst, daß er sich hinsichtlich der Bildlichkeit bzw. Unbildlichkeit der Musik in Widersprüche verwickelt hat, und betont deshalb mit einem Ausgleichsvorschlag, daß Musik „das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt" ,82 Aber ein so psychologisch ambivalentes Verhältnis kann der Klarheit der dialektischen Genesis der Lyrik kaum zugute kommen. Denn im nächsten Satz wird bereits die Trennung von Musik und Begriff wieder revoziert mit der Behauptung, er und seine Bilder lägen „in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik [ . . . ] , die ihn [den Dichter] zur Bilderrede nötigte". In den drei hier zusammenhängenden Sätzen leistet Nietzsche nicht weniger als drei Rückinterpretationen: Die Musik brauche die Bild- und Begriffswelt nicht, ist Rückinterpretation der vordem aufgetretenen Implikation, daß sie doch notwendige Bilder erzeuge; die Musik ertrage diese Welt, ist Neuinterpretation des Verhältnisses; mit dem erneuten Insistieren auf dem göttlich-generativen Ursprungsverhältnis, das die Musik gegenüber der sich objektivierenden Bildund Begriffswelt besitze, betreibt Nietzsche die Affirmation der Einheit vor der Welt- und Kunstentstehung — und deshalb sieht er sich, den Widerspruch löschend, zur Hyperbel der Allaussagen genötigt.83 «2 1,43.

w Im „Erschaffenkönnen von Bildern", so wird es in dem Aufsatz „Die Geburt des tragischen Gedankens" angedeutet, „beruht die Culturbedeutung der Kunst". (KGW III, 2,

85)

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Damit dürfte die logische Funktion der Allurteile an einem komplizierten Text durchschaubar geworden sein. Sie haben letztlich die Aufgabe, einen Realitätsansatz vor den Einheitsphilosophemen zurückzutreiben, die „Gründe" vor den Begründungen zu schützen. Aus dieser Vermeidungsstrategie der mit AllAussagen den Gedanken übervorteilenden Totalisierung erwächst — und das ist die literaturgeschichtlich so erregende Leistung des Totalitätsdenkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — die Trivialität und hohe Dichtung umgreifende Theoretik des „Weltgleichnisses" — um mit Nietzsche zu sprechen: die aus der begriffslos nicht denkbaren Sprachlichkeit herausfallende spätromantische Paradigmatik der „Weltsymbolik der Musik" (I, 43). Wir können an dieser Stelle das Ergebnis der Untersuchung der Funktionalität des Bild- und Gleichnistopos in der GT zusammenfassen. Nietzsche axiomatisiert in der formelhaften Verwendung der Gleichsetzung von „Bild und Begriff" eine Entsprachlichung der Sprache, die dann freilich als Sprachskepsis dem Autor wieder zu Bewußtsein kommt: dieser Weltsymbolik der Musik, die doch nur auf dem Boden der sprachfeindlichen Intellektabwehr Schopenhauers entstand, sei „eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen" , sagt Nietzsche, „weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht" ,84 Damit statuiert Nietzsche ein .methodisches Vorurteil' als Aussage über die Sache. Diese Sache selbst entzieht sich antezedent der Sprache: es ist die „Sphäre, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist" — wir erinnern uns der Widerspruchsmetaphorik einer zugrunde- und zugleich darüberliegenden „Urquelle" beim jungen Nietzsche. Dem Ausfall der realitätsbeschreibenden Präpositionalstruktur korrespondiert die aus dem religiösen Zielwillen der SchopenhauerJMietzscheschen Ästhetik abgeleitete Totalitätssituation jeder „Erscheinung", jedes „Einzelnen": noch einmal wird das „totum relucet in omnibus" des Cusanus formuliert: dieser Einheitssphäre gegenüber ist „jede Erscheinung nur Gleichnis" .85 So werden im Bild-, Abbild- und Gleichnisbegriff Möglichkeiten einer differentiellen Ästhetik erdrückt. Unter der philosophischen Betrachtung brechen Musik und ihre vordem so friedlich konkurrierenden Nachbarkünste zur Allästhetik zusammen. Nach dieser Strukturuntersuchung mag es genügen, im weitern die Wiederholung und Frequenz von Einheitsbildern in der GT nachzuweisen. Dabei ist besondere Aufmerksamkeit auf romantische Topoi wie „das Herz der Welt", „das Herz" oder „Innere der Natur" zu legen. Dann wird die strukturelle Analyse sich dem Problem der Rechtfertigung und Verklärung zuwenden. β-» 1,43 f. 85 l ( 44. Vgl. die entsprechende synthetische Präpositionalspekulation in „Die dionysische Weltbetrachtung": die Tragödie spreche „die Welträthsel und Weltschrecken" aus, „das Weben des .Willens' in und über allen Erscheinungen" (KGW III, 2, 49).

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b) Romantisch-introspektive Welt-Topik Nietzsche steht in der Schopenhauerphase unter dem stärksten Einfluß der Organismus-Paradigmatik. Das Kennzeichnende auch seiner Organismus-Vorstellung ist Vielfunktionalität, die Einheit von Produktivität und Verweis, mit den Worten der Sprachdefinition am Ende des 6. Kapitels: die Einheit „als Organ und Symbol der Erscheinung" ,86 Damit werden ontologische und semiotische Funktion kombiniert. Diese Kombination wird als schopenhauerische Interpretation der Ästhetik von A. W. Schlegel im 7. Kapitel verwendet mit der These, „daß der vollkommene idealische Zuschauer die Welt der Szene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sidi wirken lasse" .87 Nietzsche entwickelt vielfache Ansätze, einen ästhetischen' oder, wie es in Bezug auf den tragischen Chor heißt, „fingierten Naturzustand" 88 in Richtung auf eine metaphysische Rückverlegung zu deuten: so mit der Figur des Satyrs, der sich, „als das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation" ,89 In der Nähe des Satyrs besteht die Chance der Rückführung des Gefühls „an das Herz der Natur", zu dem „Leben im Grunde der Dinge" .90 Er wird von Nietzsche einerseits nach Analogie des „idyllischen Schäfers unserer neueren Zeit" als Ausgeburt der historisch reagierenden Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, anderseits selbst als „Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen" gedeutet. Diese Ambivalenz und Verwischung geschichtlicher Position verschleiert sich auch hier im Summierungstopos des „Symbols": der Satyr erscheint abschließend einfach „als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur" ,91 „Das Herz der Welt" — die Reminiszenz der naturbürtigen Herz- und Identitätserfahrung des jungen Nietzsche, die kaum ohne Wirkung der Goetheschen Herzdeutung anzusetzen sein dürfte, sei gestattet — tritt in der GT wesentlich in religiöser Erhöhung auf. Nietzsche stilisiert den attischen Chor zum Leidensvisionär seines Herrn Dionysos, bestimmt ihn dementspredhend 86 1,44. Nessler hat darauf hingewiesen, daß der ekstatische Rausch „bei N. nicht nur die Qualität eines Analogons (hat), sondern zugleich eine unmittelbare Transposition der dionysischen Triebe" ist. (Die beiden Theatermodelle 10) 8 7 1,45. 88 1,47. 89 1,47. Auf ein entsprechendes ubiquitäres Modell verweist H. M. Wolff, Friedrich Nietzsche 36 f. Er spricht von dem „absurden Ergebnis, daß der Dichter nach Belieben von der einen Sphäre zur andern übergehen kann: Im Dialog und der Entwicklung geht er mit Überlegung vor; sobald der Chorgesang einsetzt, schaltet er- die Überlegung aus [ . . . ] und wird zum Dichter des Instinkts". Aus der wiederholten Beobachtung der nicht bewältigten Vermittlung von Bewußtsein und Unbewußtsein in der Theorie der Tragödienproduktion bei Nietzsche kommt Wolff zu dem Ergebnis, daß „alles, was sie [die GT] über Kunst sagt, belanglos ist". 90 1,47. 91 1,49.

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nach der Doppelfunktion von ,Ausdruck-Objekt* einerseits als den „dienenden Chor", anderseits als den „dionysischen Ausdruck der Natur". 92 Seine Wahrheit stammt als Weisheitssprache „aus dem Herzen der Welt". Dessen genuine Ambivalenz „offenbart" sich dem „beschaulichen Arier" „als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und einer menschlichen",93 Die dionysische, an der tragischen Vernichtung des Individuums interessierte Natur tritt am Ende des 16. Kapitels als nachfolgeheischende religiöse Instanz in direkter Selbsterläuterung und Leseranrede auf: „Seit wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswedhsel sich ewig befriedigende Urmutter!" 94 Die naturüberhöhende Sonnenmetaphorik wechselt in der GT von einem an Goethe angelehnten optischen zu einer leerformelhaft auf die Musik übertragenen Anwendung. Nietzsche sieht das „allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes" „in dem mächtigen Sonnenlaufe [der deutschen Musik] von Bach bis Beethoven" 95 inauguriert. In den Schlußkapiteln der GT, in denen Nietzsche die Wiedergeburt der deutschen Kultur aus dem Geiste des Musikdramas Wagners propagiert, wird der „Verlust des Mythus" als verlorengegangene dionysische Naturgläubigkeit gesehen: die Kultur der Gegenwart habe „keinen festen und heiligen Ursitz" (in äquivalenter Stellung wird anschließend der Verlust „des mythischen Mutterschoßes" beklagt).96 Der vieldeutigen und zu beliebiger Anwendung vernutzten Funktionalität des Naturbildes ist es zu verdanken, wenn klassische ästhetische Topoi in widersprüchlicher Applikation auf das naturmythische Konstrukt der dionysischen Einheit bezogen werden. Nietzsche setzt dabei Mehrfachbeschreibungen des .Natürlichen' für die Begründung der Kulturfunktion ein. Er greift auf Schillers Begriff des „Naiven" zurück, um die „so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur" 97 zu kennzeichnen. Anschließend wird in einer fundierenden' und auf die dialektische Genesis verweisenden Rückinterpretation gesagt: aber diese Naivität verdanke sich erst dem der apollinischen 92

1,53. Vgl. dazu u. a. eine kritische Fußnote bei Nessler (20): „In den Notizen aus dem Nachlaß von 1870 äußert N. noch Zweifel an der Herkunft der Tragödie aus dem Satyrchor (vgl. KOA IX, 61). In der .Geburt der Tragödie' scheint ihm dagegen diese Herkunft als erwiesen. Doch abgesehen davon unterscheidet er die Begriffe: Satyrspiel, Dithyrambus und Tragödie vielfach nicht klar [...]". 93 1,59. 94 1,93. Dem präludiert, daß Nietzsche die Tragödie ausrufen läßt: „Wir glauben an das ewige Leben". (I, 92) Zur Problematik des dionysischen Lebensbegrifis in der GT vgl. vgl. Kaempfert 147—152. »5 1,109. »6 1,125. *> 1,31.

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Kultur vorangegangenen Titanensturz. Wäre hier, wenn irgendwo, ein praktischgeschichtliches Moment, sei es auch in mythischer Form, als relevant zu erkennen, so biegt Nietzsche es augenblicklich mit dem Griff in Schopenhauers philosophische Ästhetik zur abstrakten Naturgläubigkeit zurück. Denn das Naive wird nicht nur als das „völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines" erklärt, sondern diese „Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt" ist ihm unter kosmisch-anthropomorpher Vorstellung nichts anderes als „eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet" .98 Die widersprüchliche Genesis erzeugt die Notwendigkeit eines widersprüchlichen Effekts: weil die Dinge von Anfang an nicht stimmen, wird, nach Schopenhauers und Nietzsches Methode, der erzeugenden Natur die täuschende und wahnerzeugende Absicht unterstellt: „Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung". Wenn sich in der Ästhetik der GT die Nähe zur Pragmatik bietet, rekurriert sie im Gefolge der negativen Erkenntnistheorie auf die Behauptung der Verstelltheit des Handelns, mithin auch der Intendierbarkeit: mit dem der Schopenhauerschen Philosophie subsistenten Begriff des „Wahns" müß die von Nietzsche immerhin auf psychologische Realitätsebenen übertragene Theorie des Abbilds zurückgenommen und uminterpretiert werden, weil es ja ein wahres Abbild gar nicht gebe. Die Essenz der Bild-Theorie ist in ihrem methodisch dysfunktionalen Gebrauch ihre Selbstbewahrheitung als Wahnbild-Praxis." Aus der naturphilosophischen Zielvorgabe der permanenten Einheitssuche ergibt sich die Praxislosigkeit der Kunstauffassung. Dies läßt sich an den Formulierungen am Ende des ersten Abschnitts des 10. Kapitels verfolgen, wo Nietzsche „die Mysterienlehre der Tragödie" zusammenfaßt: „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit".100 Realisiert man, daß einerseits der Urgrund der Natur als Einheit von Urlust und Urleid gedacht wird, anderseits die ykosmologisch sekundäre' Individuation zum Urgrund des Übels gemacht wird, so gibt der angesichts dieses vom Men's 1,31. 99 Vgl. dazu den Befund von Gerhard Rupp: „Seit seiner Schopenhauerrezeption und seiner an Schopenhauer anschliessenden philosophischen Versuche über die Entäußerung oder den Ausgang des Selbst in Ausdrucksmaterial lässt sich Nietzsches Textproduktion unter den Vorzeichen eines im weitesten Sinne rhetorischen Interesses am Produktions- und Rezeptionsvorgang von Texten verstehen". „Rhetorische Theorie und rhetorische Praxis liegen bei Nietzsche ununterschieden beieinander". (Rhetorische Strukturen 34 u. 35) too 1,62.

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sehen unauflösbaren Widerspruchs verständliche Bann die Erklärungsgrundlage, warum alle Bestimmungen der Kunst hier passiver, vorläufiger und gehemmter Art sind. Die apollinische „Theorie" ist für Nietzsche identisch mit der träumerischen Bilderwelt und ihrer „Täuschung" (so im Kontext von I, 117). Die Mühen, die der Schopenhauerverehrer hat, die pessimistische Ästhetik mit der realen geistesgeschichtlichen Kulturwelt zu verknüpfen, sind nicht gering. Der Aufruf zur „Renaissance des Tragischen" 101 impliziert im selben Redegestus — am Ende des 20. Kapitels — die Chiffrierung der „Mütter des Seins" als „Wahn, Wille, Wehe" und die Aufforderung, „glaubt an die Wunder eures Gottes". 102 Wo soll in einer zugleich kosmologischen und geschichtsphilosophischen Konzeption der Platz des Mythus sein? Nietzsche setzt ihn als Milderungsinstanz hinter die „universale Geltung" 103 der Musik. Denn in der primären kosmologischen Abbildung des Ur-Einen offenbart die Musik letztlich nur das Grausige, Widersprüchliche und Unerträgliche. Das Verhältnis von Mythus und Musik wird mit einer soziomorphen Metapher allerdings sofort wieder rüddnterpretiert; es heißt: „Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die höchste Freiheit gibt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Beredsamkeit, wie sie Wort und Bild [ . . . ] nie erreichen können".104 Die Katachrese, Musik gebe „Beredsamkeit" philosophischer Provenienz über „Wort und Bild" hinaus, signalisiert die Methode der widersprüchlichparadoxen Überbietung des Rationalen. Ähnlich wie Schopenhauer in seinen irrationalen Apodikta sieht sich Nietzsche bei „dieser schwierigen Vorstellung" 105 genötigt, dem Leser durch Exemplarisierung aufzuhelfen. Nietzsche beruft sich auf vorausgesetzte Kenntnis von Wagners „Tristan und Isolde" und fragt sich, ob man „den dritten Akt von ,Tristan und Isolde' ohne alle Beihilfe von Wort und Bild, rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perzipieren imstande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu veratmen?" „Das Ohr", „gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt",106 müsse doch „jählings zerbrechen", und zwar am „Widerklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem .weiten Raum der Weltennacht'".

ιοί Vgl. P. Kösters Aufsatz unter diesem Titel in Nietzsdie-Studien I, 185—209. 102 1,113. ι » 1,115. IM 1,115.

los 1,116. κ» 1,116.

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Es ist hier innezuhalten. Woran eigentlich soll zerbrochen werden!? Am imputierten Widerspruch. An der Unerträglichkeit der dem Ureinen unterstellten Paradoxalität. Inwiefern sich diese Situation des Opernhörers von dem Kahnfahrer im Meeressturm, wie er zu Anfang der GT ,vorgestellt' wurde, unterscheiden soll, ist unklar: in beiden Fällen ist doch die Möglichkeit eines apollinischen Ruheverhaltens nicht widerlegt. Das von Nietzsche herangezogene Beispiel ist darüber hinaus dysfunktional zur Voraussetzung, denn es hieß doch, die Tragödie selbst sei, der „edlen Täuschung" des Mythus vertrauend und teilhaftig, „zum dithyrambischen Tanze" und „orgiastischen Gefühle der Freiheit" 107 entbunden worden. Die Funktionalität von Mythos auf Musik und umgekehrt ist wechselseitig, es liegt Gegenseitigkeit der Bestimmungsmomente vor. — Die von Nietzsche für den Ur-Widerspruch der tragischen Erfahrung angebotene Lösung lautet nun: zwischen „unsre höchste Musikerregung und jene Musik" dränge sich „der tragische Mythus und der tragische Held" . w s Diese beiden Kulturinstanzen seien nun ihrerseits aufzufassen „als Gleichnis der alleruniversalsten Tatsachen, von denen die Musik auf direktem Wege reden kann" .109 Hier wiederholt sich die vorhin schon beobachtete kriterienlose Stufung der Gleichnisfunktion. Nun ist es merkwürdig, daß Nietzsche dem quietistischen Funktionsmodell des Gleichnisses, wie er es aus Schopenhauer übernommen und im Grunde in der ganzen G T verwendet hat, hier mißtrauisch gegenübersteht. Für „rein dionysische Wesen" würden Mythus und mithin Gleichnis „wirkungslos" bleiben, keine Ablenkungskraft für das am „Widerklang der universalia ante rem" (eine höchst unsaubere Zitierung scholastischer Begrifflichkeit) liegende Schmersensohr haben. Was bietet Nietzsche an Zusatzvoraussetzungen? „Hier bricht jedoch die apollinische Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor".110 Daß mit solcher Rhetorik nichts erklärt ist, steht außer Zweifel. Im Aufgreifen des Tristan-Exempels kommt Nietzsche allerdings zu einem neuen, durchaus emotional und human relevanten Wert: „in einem gewissen Sinne rette uns doch das Mideiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnisbild des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmten Ergüsse des unbewußten Willens rettet".111

107 1,115. tos 1,116. κ» 1,117. no 1,117. 111 1,117.

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Dieser überraschende Einsatz einer ganz neuen, bisher kaum thematisierten semantischen Ebene darf als Rückgriff auf jene dem Schopenhauerschen und Wagnerschen Pessimismus erhalten gebliebenen Bestände christlicher Ethik ge wertet werden, die in Nietzsches späterer Philosophie seine Angriffe gegen die einstigen Vorbilder begründen. Wie allerdings ein so sehr auf Beobachtung, Identitätskraft und Realitätsbezug — also auf Kategorien, die dem pessimistisch-negativen Bild des Ichs widerstreiten — bezogenes Verhalten, das alles andere als apraktisch ist, in Analogie zu „Täuschung" stehen soll, bleibt rätselhaft — außer im Redezwang des Schopenhauerschen Systems. 112 Das Verhältnis der apollinischen Kraft zur dionysischen wird unterm Gesichtspunkt einer noetischen Einstellung widersprüchlich dargestellt. Heißt es zunächst, das Apollinische — Kategorie der ,Besonderung' — reize uns „zu gedankenhaftem Erfassen des [ . . . ] Lebenskernes", 113 so widerspricht die sprachliche Aussage des Folgesatzes dem kontemplativen Ansatz völlig: „Mit der ungeheuren Wucht des Bildes [vorher hieß es platonistisch höhlenruhig: das Apollinische „führt an uns Lebensbilder vorbei"], des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reißt das Apollinische den Menschen aus seiner orgias tischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, daß er ein einzelnes Weltbild, ζ. B. Tristan und Isolde, sehe und es durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle" . 114 Dem rhetorischen Aufwand dieser Darstellung ist keine argumentative Substanz unterlegt, vielmehr macht es genauerem Überlegen logische Schwierigkeiten nachzuvollziehen, wie erstens das Apollinische zu einer „ungeheuren Wucht des Bildes" kommen solle und wie es zweitens, definiert als Kategorie und Ergebnis einer Differenzierung, über die Allgemeinheit eines Vorganges hinwegtäuschen soll: diese These impliziert nichts anderes als die Schopenhauersche Supposition von Täuschung an die Stelle von Erkenntnis. Sie baut Nietzsche weiter aus zur Kritik des Sokratismus, an welchem angeblich die antike Tragödie und mit ihr der als Lebenskraft verstandene Mythus zugrundegegangen ist. Im vorletzten Kapitel der G T spricht Nietzsche die Widersprüchlichkeit seiner Voraussetzungen aus, indem er die Unverbundenheit seiner Wirkungsar.nahmen skizziert: die apollinische Täuschung bewahrt vor der katastrophischen 112 Rupp hat gezeigt, daß Nietzsches Textkonstitution bemüht ist, in Diskursen über Musik, Sdiauspiel etc. — und es ist zu ergänzen: in den topischen Amalgamen allererst — „Codierungen ihrer eigenen Reflexivität" zu leisten. „Nietzsches Nachschreiben, seine Wiederholung der ,Geburt der Tragödie', freilich diese selbst schon als Wiederholung des Schopenhauerschen Grundmodells" sieht er als Folge von Nietzsches philosophischideologischen Vermittlungen in den einzelnen thematisch variierenden Aktualisierungsgestalten. (Rhetorische Strukturen 35 und 36) 113 1,117.

11+ 1,118.

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Einheit mit der dionysischen Musik — anderseits macht sie gerade durch die Verschiebung der musikalischen Erregung auf ein apollinisches Gebiet die „Mittelwelt des szenischen Vorgangs [ . . . ] in einem Grade von innen heraus sichtbar [ . . . ] , der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist".115 Nietzsche schwankt so zwischen einem spezifisch quietistisch aufgefaßten „apollinischen Lichtbild" 116 im Sinn der bei Schopenhauer intendierten absolut theoretischen Anschauung und einer Annäherung an das dionysische Willensleben: er gesteht zu, gerade die epische oder plastische Ruhe erreiche das apollinische Drama nicht. Diese Aporie besänftigt der Autor mit einer Relevanzmilderung, — das „Lichtbild" sei nicht als eigentlich aufzufassen, es kläre nicht; sondern eigentlich sei uns, in der ganzen Betrachtung des attischen Dramas, doch so gewesen, „als ob nur ein Gleidinisbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu erraten glauben und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien ebensowohl etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner gleichnisartigen Offenbarung zum Zerreißen des Schleiers, zur Enthüllung des geheimnisvollen Hintergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen" .117 Auf den wechselnden Szenerien dessen, was dem Sprecher dieses Textes alles scheint, erfolgt die Kontamination des Bildes vom Schleier der Maya wie dessen zu Sais. Sind diese Momente bildungssprachlichen Wissens nicht ohne weiteres in ein rational stringentes Denkfeld zu transformieren, so wäre doch zu fordern, daß — soweit ein Gedanke sich aufmacht, etwas zu denken — eine Zielrichtung für ihn benannt würde. Eine solche ist nur sprachlos-begriffsflüchtig verbildert in der Ebene der Wortattrappen nach dem Muster „durchleuchtete Allsichtbarkeit" . Derartige Nominalisierungen der Einheitsvorstellung für ein Anzeichen gar paradoxaler Mystik zu halten, bleibt denen vorbehalten, die am Schema der rückwärtslaufenden Selbstinterpretation, wie es auch dieser prekäre Text aufweist, vorbeisehen können: so unbelegt wie der Superlativ „die hellste Deutlichkeit" ist auch die Situation, von der behauptet wird, sie habe nicht genügt — da nun ihre Verdopplung noch dem kritiklosesten Bewußtsein auffällt. Die Arbeit mit dem Superlativ verdeckt ebenso wie der schwebende Komparativ die Voraussetzung sprachlicher Ehrlichkeit, eine implizite Positionsangabe zu machen. Die Rede von der bloß „gleichnisartigen Offenbarung" und der Einheit "51,129. 116 1,129. Bei der Skizzierung des metaphysischen Hintergrunds der Tragödie spricht Nessler von der „zweifältigen Spielstruktur" und stellt „ein ganzes Geflecht von Ambivalenzen" fest. (Die beiden Theatermodelle 23) 117 1,129.

„Verklärung" als ästhetische Restitution verlorener Metaphysik

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von Verhüllung und Durchleuchtung zieht nur das Fa2it aus der im „Urgrund" vorausgesetzten Einheit der Gegensätze, deren stufenweise Selbsterhellung ungeklärt bleibt. In der Beliebigkeit des Wechsels der Attribuierung des Grunds als „Allsichtbarkeit" und als „Dunkel" manifestiert sich die Wünschbarkeit eines anstrengungslosen Sprechens. Die Pattsituation der Gegensätze ist nicht die einzige, auch nicht die vorrangig intendierte Antwort des Essays auf seine Aporien. Nietzsche hat vielfach einen formalen Relationsbegriff als Fazitträger seiner Texte eingesetzt, den es nun im Zusammenhang der metaphysischen Rechtfertigungslehre zu analysieren gilt: den der Verklärung.

ß. „Verklärung"

als ästhetische

Restitution

verlorener

Metaphysik

a) Die Widerspruchsmetaphorik von „Traum" und „Rausch" Wenn behauptet wurde, die oft bis zur Unauflösbarkeit gehende Widersprüchlichkeit der semantisdien Ebene des Textes der GT gehe auf Mischung von bildungssprachlichen Traditionen und Einzeltheoremen zurück, so liefert dafür das Entstehungsmaterial der GT deutliche Belege. Um den Gedankenkreis um Verklärung, Schein und Illusion und seinen realen historischen Zusammenhang mit der Tradition der trivialen Wünsche noch einsichtiger zu machen, ist auf die großenteils unverstellten und ungemilderten Formulierungen zurückzugreifen, wie sie in den Vorarbeiten zur GT bestehen, namentlich in den Abhandlungen „Die dionysische Weltanschauung" und „Die Geburt des tragischen Gedankens" (Juni 1870). Hier wird direkter als im 1. Kapitel der GT die Motivspannung greifbar, aufgrund welcher Nietzsche die in ihrer inhaltlichen Substanz und sprachlichen Gestalt jeweils „verschwiegene" „Geheimlehre" 118 der Griechen zu einer idealistisch-vitalistischen Metaphysik ausbaut. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet nämlich das, was wir — in allgemeinerem Sinn — das „pleromatische Prinzip" nennen: „das Wonnegefühl des Daseins".119 Dessen Erläuterung erfolgt in einer vitalistischen und einer ästhetisch-artistischen Paradigmatik. Das wäre, falls eine einsehbare Nebenordnung dieser Paradigmaliken erlolgte, plausibel; die Paradigmen überlagern sich jedoch in der Weise, daß das vitalistische Zentrum des „Rausches", im sexuellen Rausch exponiert, in sich uminterpretiert wird durch das ganz konventionell elaborierte Paradigma des Traumes. Nietzsche setzt dieses gleichwohl in die Ebene vitaler Realität weisende Moment nur gelegentlich unmetaphorisch ein, meist spricht er, und das bereits in den ersten exponierenden Sätzen der us KGW III, 2,45. Ii« Ebd.

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genannten Abhandlungen, von „Traum" als einer — allerdings sehr komplexen und eine Menge von Analogieanschlüssen erzwingenden — Metapher von ,Kunst'. Diese Kunstmetaphorik übernimmt die traditionelle Ästhetik des idealistischen „Scheins" mit ihren Folgetheoremen der ^Erhöhung', .Wirklichkeitsüberwindung' ,,Idealisierung' und ,Verklärung'. Zur metaphorischen Struktur dieser Poetologie gehört gerade die oxymorische Metapher des Traumes als des „höchsten Lebens" ,120 Die dazu widersprüchliche Ausprägung der Traummetapher liegt jedoch im Eingang der G T ebenfalls vor: „Traum" ist auch Deckmetapher für den Entzug des Lebens — wir haben bereits die auf Schopenhauer zurückverweisende Stelle zitiert, wonach der „Schein" die Folge einer Leblosigkeit nach sich ziehe, daß dem Menschen nämlich „alle Dinge als bloße Phantome oder Traumbilder vorkommen" } 21 Mit dieser Opposition ist nun keineswegs, wie zu wiederholen ist, eine mystischen oder tiefenpsychologischen Grenzerfahrungen entsprechende ,Paradoxalität' anzusetzen, sie bleibt, da keiner der vorliegenden Texte auf eine derartige Redesituation oder Sprechabsicht bezogen werden kann (wenn auch sehr wohl auf die kultur- und bildungspolitische Absicht, derartige Grenzerfahrungen als .Kulturgut' weiterzugeben), — sie bleibt durchschaubar als hyponymisdie Sprachverwendung. Und eine ihrer wesentlichsten und am weidlichsten von Nietzsche genutzten Konsequenzen besteht natürlich darin, daß sie als relative Opposition einen Ansatz für die Errichtung einer absoluten abgibt. Eine solche absolute Opposition ist im Gegensatz von Tod und Leben gegeben. Beide Begriffe werden allerdings vom erweiterten Lebensbegriff eingeholt. Und damit gewinnt die ästhetische Metaphorik des Begriffsfeldes „Traum/Rausch" Anschluß an die Metaphorik des dionysischen Lebens. Nietzsche bündelt die vitalistische Paradigmatik in seinem Begriff des Dionysischen, dem er hauptsächlich zwei reale Ausprägungen zuordnet: „Zwei Mächte vornehmlich sind es", sagt er, „die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb und das narkotische Getränk" . 122 Diese beiden Zustände interpretiert Nietzsche, hierin sicherlich von Schopenhauers Intentionen abweichend, als Zerbrechen des princtpium iniiviiualionis: der rauschhafte Vorgang der Entsubjektivierung wird mit einem Wertaxiom der idealistischen Philosophie ausgestattet, wobei in denkwürdiger Apposition bereits die vitalistische Intention jenes überformt: „das Subjektive verschwindet ganz vor der hervorbrechenden Gewalt des Generell-Menschlichen, ja des Allgemein-Natürlichen" . w Damit setzt Nietzsche in der im Sinn des idealistischen Gattungsbegriffs erfolgenden Aufhöhung das Doppelte: einer120 KGW 111,2,45. 121 1,22. 122 KGW III, 2,46. 123 KGW III, 2,47.

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seits diese Allgemeinheit der ,Menschheit', anderseits die Universalität der Natur. Eine bildungssprachliche Metapher wiederholt und akzentuiert mit säkularisierender Aufwertung diesen Vorgang, dessen hochgradig idealistischer Ansatz sich zum Ende eines bemerkenswert regressiven Topos wendet: „In immer wachsenden [dionysischen] Sdiaaren wälzt sich das Evangelium der .Weltenharmonie' von Ort zu Ort: singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren idealeren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt".124 Weitere Säkularisate verdecken die hinter ihnen zur Diskussion stehende Möglichkeit einer Opposition von ,Natur vs Geist': das äußerst unpfingstliche Ergebnis des dionysischen Lebensrausches wird verquickt mit Erlösungs- und Offenbarungstopoi: „Wie die Tiere reden und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches". Nietzsches Zusammendeutung der aus oppositional axiomatisierten Weltanschauungen bezogenen Erlösungsmomente entzieht dem idealen Konstrukt der pleromatischen Zuständlichkeit jede Rückbeziehbarkeit auf Realität: Nietzsche erzwingt mit synkretistischer Überanstrengung jeweils relativ bestimmter »Ideale* die Transformation der überkommenen idealistischen Redeweise und ihrer Inhalte in eine zugleich rein ästhetische und vitalistisch-aggressive Bildungsreligiosität. War die Traumwelt an das Moment der zwischen Genialität und Allmenschlichkeit gespannten „Einbildungskraft" gekoppelt, so realisiert sich in dem dionysischen Menschen, der sich „als Gott" fühlt, das in der Einbildung vordem noch distante Erlebnis zur Empfindung „an sich selbst", er hört auf, „Künstler" zu sein, und wird „Kunstwerk": er transzendiert nach Maßgabe der ihn entzückenden Naturgewalt in die vorher bloß imaginierte Gestalt, in die Form der Erhabenheit, „wie er die Götter im Traume wandeln sah".125 Bezieht sich Nietzsche im Folgenden noch mehrmals auf die kulturhistorisch relevante Opposition von Natur und Geist (so vor allem in dem Theorem der Humanisierung des Asiatischen durch die hellenisch-apollinische Domestikation), so verwendet er die herkömmliche Diktion der Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts: „Aus einem Naturkult, der bei den Asiaten die roheste Entfesselung der niederen Triebe bedeutet, ein panhetärisches Thierleben [ . . . ] , wurde bei ihnen ein Welterlösungsfest, ein Verklärungstag. Alle sublimen Triebe ihres Wesens offenbarten sich in dieser Idealisierung der Orgie".126 KGWIII,2,47. »» KGWIII.2,47. 126 Ebd. ]24

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Die Natur bleibt also audi in ihrer polaristischen Doppelwertigkeit auf dieser Denkstufe ein negativ besetztes und als destruktiv erlebtes Fundament für den Aufstieg des Menschlichen. Daraus versteht sich die im Kontext erscheinende Formel zur Kennzeichnung der Tragödie: sie deute „die Welträthsel und Weltschrecken" 127 aus. Das Fundament der Natur wird anschließend auch als „Chaos" und gestaltloser Wille interpretiert. Wir sehen die widersprüchliche Naturdeutung als Stigma der geistesgeschichtlichen Unentschiedenheit der Mitte des 19. Jahrhunderts an. Solche Unentschiedenheit pflegt Additionen bildungssprachlicher Denkverkürzungen zu erzeugen, wie sie auch den ganzen Text der „dionysischen Weltanschauung" präformieren. In einer Extrapolation der halbemanatistischen Willensmetaphysik Schopenhauers versucht Nietzsche seine eigenständige Lebensphilosophie durchzusetzen: Er interpretiert die naturbürtige Ekstase pleromatischer Gefühle und das aus ihnen entstehende Einheitsgefühl als Widerlegung des principium indiviiuationis, „gleichsam als andauernden Schwächezustand des Willens" .I28 Damit ergibt sich eine für seine Theorie des Willens zur Macht wohl entscheidende Positivierung des Willens: „Je verkommener der Wille ist, desto mehr zerbröckelt alles in's Einzelne, je selbstsicher willkürlicher das Individuum entwickelt ist, um so schwächer ist der Organismus, dem es dient. In jenen Zuständen bricht daher gleichsam ein sentimentalischer Zug des Willens hervor, ein .Seufzen der Kreatur' nach dem Verlorenen: aus der höchsten Lust heraus tönt der Schrei des Entsetzens, die sehnenden Klagelaute eines unersetzlichen Verlustes. Die üppige Natur feiert ihre Saturnalien und ihre Todtenfeier zugleich" .129 Hier stellt sich die Frage nach Inhalt, Art und Zeitpunkt dieses vielfach behaupteten, kaum ausreichend dargestellten Verlustes unabweislich. Als naheliegendste Modelle bieten sich folgende, in Nietzsches Text belegte Anschauungen an: einmal das auf biomorphe Ursprünge zurückleitende Mythologem des sterbenden/auferstehenden Frühlingsgottes, dann der nicht im mythischen Wiederkehrmodus sich erschöpfende, geschichtliche Verlust der Einheit des Menschen mit der Natur.130 127 K G W III, 2,47. 128 K G W III, 2 , 4 9 f. 129 K G W III, 2,50. Aus diesem Zitat dürfte der system- und oppositionsverschleifende Grundzug der theorem-metaphorischen Diktion des frühen Nietzsche beispielhaft ablesbar sein: Hegeische Dienstideologie des Subjekts, Schopenhauersche Willenshypostase, Schillersche Ästhetik werden mit testamentarischen und antiken Topoi zu einem nirgends stringenten Gemisch verbunden. 130 K G W III, 2 , 5 1 : Beide Denkmotive werden wieder assoziiert: Der Abschluß des behandelten 1. Kapitels der „dionysischen Weltanschauung" endigt folgendermaßen: „Dies ist eine ganz verzauberte Welt, die Natur feiert ihr Versöhnungsfest mit dem Menschen. Der Mythus sagt, daß Apollo den zerrissenen Dionysos wieder zusammengefügt habe. Dies ist das Bild des durch Apollo neugeschaffenen, aus seiner asiatischen Zerreißung gerettenen Dionysos".

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Es ist kennzeichnend für die bildungsgeschichtliche Situation Nietzsches und der deutschen Intelligenz im 19. Jahrhundert, daß sich Vorstellungen vom Verlust, Niedergang, Einheitsende mehr oder weniger stark mit weiteren Abstraktionen der Weltalteranschauungen verbinden. So kann kaum ausgemacht werden, wieweit in den Verlust-Vorstellungen radikale ideologische Momente wie die der christlichen Versündigungsthese gegenüber zeithistorisch erklärbaren und als solche verstandenen Stimmungen, etwa im Sinn des Pessimismus oder der Decadence, sich trennen lassen. Nietzsche entwickelt in den genannten Abhandlungen und dann in der GT die Thematik des Verlustes in einer diachronen und in einer zeitlosen Ebene: Die dionysischen Schwierigkeiten des Lebens werden nicht als solche historisch lokalisiert, aber immerhin am Beispiel der nachhomerischen ^Decadence', der Sittenverfeinerung nach der Zeit des kampflustigen Wandervolkes, verdeutlicht. Ausdrücklich betont Nietzsche, daß die homerische Epoche der griechischen Götter n i c h t einer antithetisch-dialektischen Genesis sich verdanke, indem „das angsterschütterte Gemüth [ . . . ] , um sich vom Leben abzuwenden", „ihre Bilder in das Blaue" 131 projiziert hätte. Er versucht eine ,reine', optimistisch-ungebrochene Lebensreligiosität anzusetzen: „ist das Vorhandene vergöttlicht", so herrscht der pure „Triumph des Daseins". Dieser Ansatz wird jedoch in der weiteren Erläuterung hinterfangen vom widerspruchskausalen der schmerzreaktiven Bewußtseinsbildung. Nietzsche behauptet, daß eine panisch-pessimistische „Philosophie des Volkes" 132 den „Hintergrund jener Götterwelt" gebildet habe, — wobei die genetische oder psychologische Alternative nicht präzisiert wird. Der Ansatz, die griechische Götterund Heroenwelt als reaktive Verklärung auf tragische Daseinsbedingungen zu deuten, setzt sich immer mehr durch, so, wenn es heißt, Sinn und historische Herrschaft jenes Olympiertums seien darin zu erkennen und zu begründen, daß „das finstere Walten der μοίρα, die dem Achill den frühen Tod und dem Oedipus die Greuelehe bestimmt, durch die glänzenden Gestalten des Zeus des Apollo des Hermes usw. versteckt werden sollte" .I33 Diese psychologistische Interpretation setzt sich schließlich durch und wird zum bekannten Topos der Nietzscheschen Auffassung der Antike. Gerade seine sensible Leidensfähigkeit habe das griechische Volk gezwungen, sich eine harmonische Götterwelt zu projizieren: die Götterprojektion nehme humane Züge an, weil „dasselbe [Leiden] von einer höheren Glorie umflossen in seinen Göttern offenbart" worden sei. 131 KGW III, 2, 51. Vgl. gleichsinnig die Behauptung zu Beginn des 2. Kapitels der „Geburt des tragischen Gedankens": „Die griechischen Götter sind in der Vollendung, in der sie bereits uns im Homer entgegentreten, sicherlich nicht als Geburten der Noth und des Bedürfnisses zu begreifen". (KGW 111,2,79) 132 KGW III, 2,52. 133 KGW III, 2,52.

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Die sozialpsychologische Aussage der kollektiven Entlastungsprojektion verbindet sich immer wieder mit der metaphysischen Aussage der naturphilosophischen Illusionsbildung, die im Gefolge Schopenhauers der Natur als Verdienst und Verführung zugedacht wird. Jene erste Erklärungsform verwendet analog dazu vielfach den Verführungsbegrifl in medialer Form, ohne sich um die Subjekt- und Intentionsfrage zu kümmern. Die beiden Aussageebenen entsprechen der Vereinigung der Fundamente von Religion und Kunst. „Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben rief, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, eine Welt der Schönheit, der Ruhe, des Genusses".'34 Mit dem Topos von König Midas 135 wird die verschönende und verklärende Funktion der Kunst umschrieben: „das Bedürfniß nach künstlerischem Schein" pflegt alles, „woran es rührt, in Gold zu verwandeln" — das läßt Nietzsche von „einer ungeheuren Illusion in dieser Weltanschauung, derselben Illusion, deren sich die Natur zur Erreichung ihrer Zwecke so regelmäßig bedient" ,136 sprechen. Opponent zum Iliusionsbegrifl ist in diesen Texten „Wahrheit" — und hierin kommt die systematisdh-pessimismus-theoretische Achse des Paradigmas zum Tragen: Die dionysische Wahrheit besteht in der Erkenntnis des Erschreckenden im Leben. Das frustrierend-depravierende, psychologisch allgemeinere und nicht auf die kognitive Achse beziehbare Moment wird deutlich ausgespart, — sei es, daß es im Zuge der Pessimismusüberwindung als .erledigt' betrachtet wird, sei es, daß die in die Intimität des Subjektpsychischen weisende Ekelerfahrung als solche verdrängt wird. Das durch Naturgläubigkeit entlastende idealistische Modell liegt jedenfalls darin, daß in die Radikalisierung des Fundaments (Schreckensweit und Taumel des Dionysischen) als "Überbau die ge samte Harmonisierungshaltung der traditionellen Ästhetik Eingang findet. Als Belege dafür können aus der Überfülle nur einige genannt werden. Das neutestamentliche Theologumenon der Selbstanschauung Gottes wird über die Willensmetaphysik weitergegeben: „In den Griechen wollte der Wille sich selbst zum Kunstwerk verklärt anschauen: um sich zu verherrlichen, mußten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mußten sich in einer höheren Sphäre Wiedersehen, gleichsam in's Ideale emporgehoben, ohne daß diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympier, erblicken" . ,37 134 KGW III, 2,53. 135 Vgl. dazu das Zitat von der Begegnung zwischen Midas-Exponent der Vergoldung des Daseins — und Süenus-Exponent der illusionslosen Elendserkenntnis, wie sie breiter ausgeführt in der „Geburt des tragischen Gedankens" erscheint (KGW 111,2,80). 136 KGW III, 2,53. 137 KGW III, 2,54.

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Unmittelbar erscheint hier die Tradition der christlichen, auch ostkirchlichen Apokatastasis, der Selbstanschauung in der Repräsentation durch die Welt der verschönenden Objektivierung. In diesen Sprechraum gehört der wiederholt aufgegriffene Ausdruck der „Glorie",138 mit dem Nietzsche die religiöse Aufwertung der Ästhetik und Naturphilosophie betreibt. „Die höhere Sphäre" und die in Vergleichsposition gerückte Emporhebung ins Ideale sind allergängigste Topoi. Aber keineswegs gängig ist der Zusatz, daß diese Vollendungswelt nicht als Imperativ wirke. Damit grenzt sich Nietzsche — hier schon — implizit gegen Piatonismus und neuplatonistisch interpretiertes Christentum ab. Denn gerade aus dem Vorbild- und Imperativbezug erhielt allererst die Abstraktion des .Höheren' und hoheitlichen' ihre traditionsbildende und die Zucht des Gedankens verstärkende soziale Realität. Offenbar liegt es Nietzsche am Herzen, die Griechen als reine, des Bewußtseins des reinen Spiels fähige Künstler darzustellen. Sie sollen als Autonomisten des schönen Scheins imponieren. Nietzsche stellt in den Gedankengängen im Umkreis der GT die Tragödie als den Sieg des hellenischen Willens gegen sein endogenes Talent zum Leiden hin. Warum hat er die dem Bild der Begegnung zwischen Dionysischem und Apollinischem zukommende Theorie der Sublimierung, die ansatzweise geboten wird, nicht als kulturpädagogische Bewegung der idealistischen Imperativbildung anerkannt? Es gibt keinen anderen Grund dafür zu erkennen als die Affirmation des Dionysischen, die mindestens gleichwertig neben dem apollinischen Ausgleich spielerisch-scheinhafter Daseinsbewältigung stehen soll. Eine genaue Berücksichtigung der bei Nietzsche mitgegebenen Herleitungsmomente ergibt folgendes Bild: Die „apollinische K u l t u r " 139 beruht auf „einem verklärenden Spiegel" .140 Was spiegelt sich eigentlich in ihm? Die Metapher erlaubt keine Objektzuordnung mehr, sie sperrt sich gegen ihre anschauliche Realisierung, — aber letztlich nur deshalb, weil sie eine topische Fehlformulierung eines ganz andern, im Topos und seiner formalen Struktur unbeheimateten Aussagegehalts ist: die Funktion der apollinischen Verzauberungs- und Verklärungswelt ist antithetische Projektion des Schönen an die Stelle des Widrigen, über welches der Schein der glänzenden Göttergestalten gestülpt wird. Das Wesen des Spiegels ist also gerade sein Gegenteil: Vorspiegelung — falscher Deutungen, da es um Tatsachen hier schon nicht gehen kann. Die w e s e n t l i c h e Funktion des Spiegeltopos im Zusammenhang der Theoretisierung des Kulturkampfes zwischen Dionysos und Apoll, zwischen mänadischem Natureinbruch und konservativ-ausgleichender, in den Kategorien des Maßes und der Grenze sich sta138 Im engsten Kontext der besprochenen Stellen: KGW III, 2, 51 und 52. In der GT stellt Nietzsche „der Glorie der Passivität [ · . . ] die Glorie der Aktivität gegenüber" (III, 57). υ» KGW III, 2,56. 140 KGW III, 2,52.

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bilisierender Bilderwelt ist weder Abbildung noch Wiederholung, sondern Verstecken. Die apollinische Kultur muß nach Nietzsches wiederholten Formulierungen als Attrappenbildung des negationsnegierenden Scheins über deir Grauen der als soldier unerträglichen Natur aufgefaßt werden. Der Spiegel wird wesentlich defensive Waffe sensibler Subjekte gegen das, was Nietzsche in diesem Kapitel der dionysischen Weltanschauung die Unerträglichkeit des „Übermaßes" nennt: unser verschärfend wirkender Terminus der Attrappe ist belegt — er meint dasselbe wie „Verschleierung": „Der innerste Zweck einer auf den Schein und das Maaß hingewendeten Kultur kann ja nur die Verschleierung der Wahrheit sein" — wenige Zeilen später: „In eine derartig aufgebaute und künstlich geschützte Welt drang nun der ekstatische Ton der Dionysosfeier, in dem das ganze Ü b e r m a ß der Natur in Lust und Leid und Erkenntnis zugleich sich offenbarte" ,141 Damit gibt der Autor zu erkennen, was die Unerträglichkeit des Daseins in der Reaktionsstruktur der Welterfahrung ausmacht; es ist das Überwältigende, das der Natur zugeschrieben wird, und zwar kennzeichnenderweise in den beiden Hauptrichtungen menschlicher Innerlichkeit: in Emotionalität — undKognitivität. Somit wird die Quintessenz aus der katachretischen Verwendung des Spiegeltopos als Folgerung aus der in die Natur imputierten Selbstwidersprüchlichkeit des generellen Anthropomorphismus erkennbar. Der Spiegel, der sein Objekt bis zum ,Gegensatz' seines Wesens verändert, verfärbt, verschönt, ist der bildlich adäquate Ausdrude für ein geistiges Verhalten, das um die Identität der Welt- und der Subjekterfahrung als Erleidnis herumkommen möchte, — gleich, ob im „Rausch des Leidens", das damit Lust wird, oder im „schönen Traum", der Lüge wurde.142 An dieser zentralen Stelle der Bildlichkeitsthematik wird „der Bilderdienst der apollinischen Kultur" 143 als historisierende humanistische Ersatzreligion interpretierbar und die Abfolge der Kulturumstellung vom Apollinischen zum Dionysischen als bloß graduelle Überbietung der grundsätzlich auf Verschleierung von Wahrheit festgelegten Religionsfunktion. Die Zunahme des „unmittelbaren Verständnisses" 144 für die willensgetriebene Dialektik der Natur wird als nur teilweise Aufklärung und beschränkte Wissenszumutung angesetzt: spricht Kunst „in ihrem ekstatischen Rausche die Wahrheit", so „verscheucht" sie „die Musen der Scheinkünste": „der ganze Schimmer der olympischen Götter erblaßte vor der Weisheit des Silen" [damit ist der Einblick in die Todeswürdigkeit der Natur bei Nietzsche topisiert] .145 Insofern leistet die dionysische h i KWG 1« KGW i « KGW ι « KGW 145 KGW

III, III, III, III, III,

2,56 f. 2,54. 2,56. 2,57. 2,57.

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Kultur aber eine Erhöhung der Idealisierungskraft, als sie mit den tieferen und widersprüchlicheren Naturkräften Pans fertig wird (Nietzsche fordert in „Die Geburt des tragischen Gedankens" auf, „den unglaublichen Idealismus des hellenischen Wesens" 146 zu bewundern). Es ist nun zu zeigen, daß Nietzsche eine Serie von Ausdrücken einsetzt, um die Scheingewinne zu bezeichnen, die jene wissens- und gefühlsbelastende Wahrnehmung der Natur als „Chaos" uminterpretieren, erleichtern, verfälschen und wieder zum Glauben ans Leben verführen. Die Wortgruppe enthält unter dem Gesamtnamen „Illusion" ein breites Spektrum von wertenden Begriffen, die bis zu positiv vorgetragenen religiösen Auffassungen reichen. Hat Kaempfert mit lexikalisch seiegierender Methodik die Differenzierung der Zuordnungsmöglichkeiten der einzelnen Terme in die verschiedenen Graduierungen religiöser Sprache vorangetrieben, so ist dies mit einer Kontextanalyse zu ergänzen, die auch die Vertauschbarkeit und bildungssprachliche Beliebigkeit der »zitierten', eben weitgehend topischen Begriffsverwendung Nietzsches berücksichtigt. Die Sichtung der zentralen Begrifflichkeit und Bildlidikeit der Verklärung muß, da sich die Nietzscheforschung mit unübersehbarer Ängstlichkeit vor diesen Kernfragen zurückgehalten hat, einen gewissen Aufwand des Belegens dulden, der für die späteren Epochen des Nietzscheschen Denkens eine präzise Anschlußchanoe gewährleistet. b) „Verklärung" Für die Relativität und Unbestimmtheit, für die Übertragbarkeit und Auswechselbarkeit der zur Frage stehenden Terme kann ein Textkomplex vom Anfang des 3. Kapitels der „Dionysischen Weltanschauung" sprechen, die der Ausarbeitung der GT voranging. Dieses Kapitel verdeutlicht die psychologische Ausgangsbasis für die Verklärungsfunktion von Kunst, Religion und Spiel sehr genau. Darnach liefert „die' Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins" ein Vergessen, in das „alles in der Vergangenheit Erlebte eintaucht".147 it« KGW III, 2,75. 147 KGW III, 2,58. — Die Rekonstruktion des hellenischen Lebensgefühls wird mit dem Ziel vorangetrieben, einen widerstandslosen Realitätsbegriff zu imaginieren: seine Gestalten „fordern [Unterstreichung von W. G.] nicht: in ihnen ist das Vorhandene vergöttlicht, gleichviel ob es gut oder böse ist". (KGW III, 2,51 f.) „Imperativ" setzt sich ab als Wertungs- und Beurteilungszwang gegen „Anschauung" als Basis von beschönigender Verklärung: „In den Griechen wollte der Wille sich selbst zum Kunstwerk verklärt anschauen: um sich zu verherrlichen, mußten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichungswerth empfinden, sie mußten sich in einer höheren Sphäre Wiedersehen, gleichsam in's Ideale emporgehoben, ohne daß diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder Vorwurf wirkte". (KGWIII,2,54)

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Dies bildet ein Moment der mit dionysischer Bewußtseinsverengung erreichten Therapeutik, das die Ausweitung der Vitalvermögen ergänzt. Nietzsche nennt dies anästhetisierende Moment „ein l e t h a r g i s c h e s Element". Ihm entgegengesetzt sei der mit dem Wiedererwachen des Bewußtseins und des Alltagsbewußtseins verbundene „Ekel" — d i e s sei „eine a s k e t i s c h e [ . . . ] Stimmung". Mit dieser überraschenden Kennzeichnung, die gerade das Moment der realen Eigenwillensverneinung, das zur Askese gehört, unterm Abstraktionsbegriff der metaphysischen Schopenhauerschen Willensverneinung tilgt, realisiert Nietzsche selbst, was er als Ziel des ekelvermeidenden Rauschbewußtseins der griechischen Dionysik als Reaktion auf die Last ihrer Welterfahrung angibt: die „absolute Flucht aus dieser Welt der Schuld und des Schicksals".118 Aber selbst diese Flucht ist nicht eigenbürtig und nicht Ergebnis einer Selbstbestimmung, sondern bloße Naturfunktion „des hellenischen Willens", was immer man sich darunter vorstellen mag; ihm wird jene „Naturheilkraft" zugeschrieben, die eine erneute axiologische Umbiegung der Schmerzerfahrung ermöglicht: „tragische Idee" und „tragisches Kunstwerk" sind Mittel, „um jene verneinende Stimmung wieder umzubiegen", so heißt es wörtlich.149 Da wir den Totalitätscharakter von .Stimmung' als Gesamtbefindlichkeit eines Fundaments zur Selbstdeutung bereits herausgearbeitet haben, läßt sich diese Umbiegung selbst nicht als bloßes zeitweiliges Reaktionsmoment, sondern als perennierende Funktion des Durchhaltens: eben des Lebens verstehen. Es ist die permanent notwendige Umbiegung und Umwandlung „jener Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins" in solche, „mit denen sich leben läßt".150 Mit den ästhetischen Kategorien des „Erhabenen" und „Lächerlichen" gibt Nietzsche zwei solcher künstlerischer Verarbeitungen des Ekels an. Sie repräsentieren dabei, bezogen auf die Schauspielkunst, einen „Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus", wie sie in Plastik und Lyrik, ungebrochener, vorlag. Sie bilden „eine Mittelwelt zwischen Scheinheit und Wahrheit". Nun war das aber gerade auch von jeder Kunst und jeder ihrer Verklärungsformen gesagt. Das hier von Nietzsche eingebrachte Spezifikum, daß es sich um die Mittelwelt des „Spiels" handle, scheint wenig tragfähig, was die Differenzierung der Verklärungsfunktionen anlangt, denn Spiel wurde vorher bereits synonym zu Kunst und Verklärung im allgemeinen gebraucht und die Unterscheidung der „instinktiven Dichter Sänger Tänzer" vom „ g e s p i e l t e n dionysischen Menschen" 151 ist vorweg, wie Nietzsche auch nachträglich zugibt, in seiner Theorie, daß gerade die Philosophie des Volkes, „die dionysische Masse", „daher der dithyrambs KGW III, 2,58. H9 KGW III, 2,58. 150 KGW III, 2,59. 151 Ebd.

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bische Chor" die sozialpsychologische Präsenz des Dionysismus ausmache, irrelevant gemacht. Ob nun eine Gruppe oder der einzelne „mit dem Rausche" spielt, bleibt sowohl unter ästhetischen wie philosophischen Aspekten gleichgültig, wenn eh das Selbstbewußtsein ausfallen soll. „Das Vorbild" der dionysischen Existenz ist im Dionysos-Spieler intentional präsent: Das „Schweben" „in der Mitte zwischen" Schönheit und Wahrheit — über jene hinausgegangen zu sein, diese aber nicht zu suchen. Da es gerade Wahrheit war, was den Menschen aus seiner Ekelexistenz hinaustrieb, ist diese Reaktionsbildung präzis als gestoppte Verarbeitung oder als Rückflucht in die Ambivalenz zu interpretieren. Was an diesem Beispiel entscheidend verdeutlicht werden sollte, ist folgendes: Da Nietzsche immer wieder die Bedingungen eines Lebensverhältnisses, einer Realsituation des Sprechens, Wertens, Umwertens, als Voraussetzung der Reaktionsbildung anzugeben versäumt, die existentielle Motivation vielmehr nur vom abstrakt gewonnenen Ekel der Einsicht bezieht, bleiben auch die näheren Bestimmungen der Graduierung, der Mittelwelten, der Stufungen ungeIeistet. Solche Mittelwelten können beliebig vermehrt und vermindert werden, es sind nur formale, sprachabstrakte Institutionen von Vermittlung ohne reale Fundierung. Das Schichtenmodell (mit der Unterscheidung spezifischer Grade von Verklärung) degeneriert zur unterschiedslosen Wiederholung. Diesem abstrakten Gedankenweg ist die Entleerung der semiotischen Werte zu verdanken, die uns gesondert beschäftigen wird, an dieser frühen Stelle aber bereits durch den Kontext der abstrakt-hildlichen Versprachlichung eindrucksvoll belegt ist. Der dionysische Schauspieler strebe „nicht nach dem schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach W a h r s c h e i n l i c h k e i t . (Symbol, Zeichen der Wahrheit)".152 Die Etablierung des Symbolbegriffs ist hier greifbar im Analogiefeld der Verbildlichung von Musik und der Entsemiotisierung des Zeichens: „Symbol" und „Zeichen" sind Entwertungsmodi der Wahrheit, Arten gewollter Erkenntnisgenügsamkeit, Formen der Wahrheitsenthaltung und Wahrheitsflucht. Beide Begriffe sind aufgehoben im Gleichnisibegriff, der das Einzelne unpräzisierbar und unprädikabel auf sein oder alles Allgemeine zurückbezieht und hinaufhebt. — Mit diesen Beobachtungen kann der semiotische Stellenwert von .Verklärung' schärfer umrissen werden: sie ist die Ermöglichung einer „Mittelwelt" unbestimmter Semantik und Semiotik statt der im strengen Begriff zu versuchenden Vermittlung der Dinge. Am Beispiel des Sophokles spricht Nietzsche von der „Verklärung" des Leidens, das damit „als etwas Heiligendes" 153 gedeutet werden könne. Ohne 152 Ebd. 153 KGW III, 2, 61. Ähnlich wurde bei Aeschylus „der Ekel aufgelöst in den erhabenen Schauer vor der Weisheit der Weltordnung" (ibd.), die nur dank der Schwäche des Menschen so schwer erkennbar sei. Über den säkularisierten Gebrauch des Wortes „heilig", „heiligen" vgl. Kaempfert 401—405. In unserem Zusammenhang sind u. a. folgende

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Zweifel spielen goethezeitliche Topoi der Kunstverklärung in folgenden Formeln eine Rolle: „Frömmigkeit, wundersamste Maske des Lebenstriebes! Hingabe an die vollendete Traumwelt, der die höchste sittliche W e i s h e i t verliehen wird! Flucht vor der Wahrheit, um sie aus der Ferne, in Wolken gehüllt, anbeten zu können! Versöhnung mit der Wirklichkeit, w e i l sie rätselhaft ist! Abneigung gegen die Enträtselung, weil wir keine Götter sind! Lustvolles Niederwerfen in den Staub, Glücksruhe im Unglück! Höchste Selbstentäußerung des Menschen in seiner höchsten Äußerung! Verherrlichung und Verklärung der Schreckmittel und Furchtbarkeiten des Daseins als der Heilmittel v o m Dasein!" 154 Die Logik des Entfernungsbedürfnisses und der metaphorischen Textualisierung sind ein sachlicher und ein sprachlicher Hinweis darauf, daß ebensowohl die Umkehrung der ersten Interjektion gültig ist: Lebenstrieb als Maske der Frömmigkeit. Das genuine Bedürfnis nach Nicht-Enträtselung, Fremdbleiben ist in der motivlichen Latenz aller dieser Texte die Abwehr der altapollinischen delphischen Forderung des Gnothi sauton, hier deutlichst greifbar als Konsequenz der Erkenntnis formuliert, daß die Stunde der anthropologischen Selbstentgötterung geschlagen hat. Nietzsche zieht zur Rhetorisierung seiner dionysischen Kulturtheorie alle Register, die die Tradition der Apotheose bereitstellt: „Die dionysische Kraft der Verzauberung bewährt sich hier noch auf der höchsten Spitze dieser Weltanschauung: alles Wirkliche löst sich in Schein auf, und hinter ihm thut sich die einheitliche W i l l e n s n a t u r kund, ganz in die Glorie der Weisheit und Wahrheit, in blendenden Glanz gehüllt. D i e I l l u s i o n , d e r W a h n i s t auf s e i n e r Höhe",155 Die Weise, wie es Nietzsche nach so unüberbietbarer Deutlichkeit im Aussprechen der rein wünschbaren Wahnkonstruktion fertigbringt, eine Seite später den Illusionsbegriff zu depotenzieren und mit dem Gerede über „eine höhere Möglichkeit des Daseins" „zu einer noch h ö h e r e n V e r h e r r l i c h u n g (durch die Kunst) zu kommen" 156 und nun plötzlich sogar „eine gewisse G l e i c h g ü l t i g k e i t g e g e n d e n S c h e i n " als Übergang zur Einführung Prägungen interessant: „jene mächtige Sehnsudit nach Heiligung und Errettung [ . . . ] , als deren erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat"; „schon im kleinsten Augenblick [ . . . ] kann ihm [dem Einzelnen] etwas Heiliges begegnen, das allen Kampf und alle Not überschwänglich aufwiegt"; in der Kunst „heiligt sich" die Lüge; „geheiligt durch Leiden" — hier präsent die Doppeltheit von generativer und objektiver Begründung. 154 KGW III, 2,62. 155 KGW III, 2,62. Man vergleiche die Verklärungs-Überbietung in den zwei Fassungen der „dionysischen Weltanschauung": des Griechen „Sehnsucht gieng höher, über die Götter hinaus, er verneinte das Dasein sammt seiner bunt gleißenden Götterspiegelung" (KGW III, 2, 58 — KGW III, 2, 87: „seiner verführerischen Götterspiegelung"). iss KGW III, 2,63.

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eines neuen Wertes, nämlich gerade des widersprüchlichen kognitiven, anzubieten, gehört zu den Zumutungen einer Denk- und Bildungsverworrenheit, wie sie dem späten 19. Jahrhundert offenbar sozial-psychologisch sich aufdrängte; jedenfalls wird die Flucht vor der Entscheidung, die Äquivokation von „Schein" rational aufzulösen, in der Versicherung greifbar, es werde nun „nicht mehr der Schein als S c h e i n genossen, sondern als Symbol, als Zeichen der Wahrheit". Was Nietzsche letztlich mit dieser Generalisierung der „Zeichen" -Sprache intendiert, wird in den sehr stark an Schopenhauer angelehnten Ausführungen des 4. Kapitels der „dionysischen Weltanschauung" deutlich. In uns hier nicht näher interessierenden Deutungszuschreibungen zu einzelnen Momenten der Musik spricht er davon, daß sich „das eigentliche Wesen" des Tones, „ohne sich gleichnißweise ausdrücken zu lassen, in der H a r m o n i e " verbirgt: „Der Wille und sein Symbol — die Harmonie — beide im letzten Grunde die r e i n e L o g i k ! " 1 5 7 Wenn Nietzsche im Umkreis der GT von „Symbol", zumal dem musikalischen oder in Musik als solcher erscheinenden, spricht, ist bereits das Zusatzaxiom einer „höheren Harmonisierung" — also das Postulat idealisierender Ästhetik mitzudenken. Mit der Substituierung ,reiner Logik' unter das Repräsentanzverhältnis von Musik und Willen wird der zunächst nur innermusikalisch scheinende Harmoniebegriff generalisiert; und das Ende auch dieser Ableitung ist die Versicherung, daß — eben im Konnotationsgeflecht der Schopenhauerschen Kunstmetaphysik — auch „die Musik zur Kunst des Scheins ausgebildet werden" 158 kann: sie bezieht sich dann als idealer Exponent aller Kunst auf die Gesamtheit „aller Erscheinungsformen, ist also nicht bloß Gefühls- sondern W e l t s y m b o l i k " . Der Zusatz als Abschnittsschluß fehlt nicht: „Der Begriff ist in s e i n e r Sphäre ganz unmächtig". Der Bedeutung des Symbol- und Symbolikbegriffs ist in den weiteren Entwicklungsphasen Nietzsches nachzugehen, zumal unterm Aspekt der Sprachskepsis. Dafür wird zurückzugreifen sein auf die letzten, hier nicht ausgewerteten Abschnitte der „dionysischen Weltanschauung". An dieser Stelle ist vielmehr noch auf die Folgen der aufgewiesenen Totalisierung, wie sie im letzten Textabschnitt erscheinen, unter Beobachtung der sozialtheoretischen Implikationen hinzuweisen. Der Abschnitt stellt eine Art Zusammenfassung der Ekstasis des „dionysischen Schwärmers" dar. Diese führe zur Äußerung eines bisher Nie-empfundenen, der „Vernichtung der Individuatio": „Einssein im Genius der Gattung, ja der Natur". Dieser Äußerung wird von Nietzsche nicht anders denn als .bildliche' programmiert: die dionysischen „Vorstellungen kommen in Bildern eines gesteigerten Menschenwesens zum Symbol", und als ganzheitliche Manifestation dieser Steigerung erscheint „die ganze leibliche Symbolik" des 157 KGW III, 2,66. iss KGW III, 2,67.

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Tanzes. Ohne daß eine sinnvolle logische Opposition ausgedrückt wäre, analogisiert Nietzsche das Ergebnis für die Welt des Willens, die gewonnene „neue Sphäre" vereint „Sinnlichkeit des Bildes [ . . . ] und Gefühlsrausch des Tons" (damit Epos und Lyrik). Das soziale Moment der dionysischen Ästhetik, nämlich „Vernichtung der Individuatio", ist in der Willens-Paradigmatik allerdings schon wieder gelöscht: „Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, gehört dieselbe Steigerung des Wesens, die sie schuf: der dithyrambische Dionysosdiener wird nur von Seinesgleichen verstanden" ,159 Nietzsche scheint damit den elitären Ansatz der Schopenhauerschen Willensmetaphysik eher noch zu verschärfen; das auf der Ebene der Naturgläubigkeit konstruierte Moment der „verführerischen Wunderbarkeit" der Unterschiedslöschung und Einheitsfindung entbindet nicht vom Kulturkampf der Naturkräfte, sondern „diese ganze neue Kunstwelt in ihrer wildfremden verführerischen Wunderbarkeit [wälzt] sich unter furchtbaren K ä m p f e n durch das apollinische Hellenentum" .16° Der kontextfunktionale Stellenwert der Floskel „Weltsymbolik" darf nochmals verdeutlicht werden: er ist synonym mit der schon besprochenen „ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit [ . . . ] der Musik" und der „Bilderrede" : „Weltsymbolik" ist ein zum extensiven Universale ausgeweitetes asylum ignorantiae von Sprache und möglicher Sprachlichkeit von Kunst überhaupt.161 Der Terminus ist, wie es das Ende des 6. Kapitels der GT darlegt, auf die Jenseitszone „über alle Erscheinungen und vor aller Erscheinung" 162 hin konzipiert und übernimmt dementsprechend folgerichtig Aufgaben der Offenbarungs- und Gnadenvermittlung der religiösen Tradition. Die mit dem „Welt"-Bild usurpierte Verjenseitigung liefert eine Legitimationschance für die Verkündigung der den später als nihilistisch gedeuteten Daseinsekel von der Innenzone des Rausches aus aufhebenden Kunstreligion. Daß in dieser Kunstreligion recht trivial erscheinende ästhetische und poetologische Topoi eine metaphysisch aufgewertete Funktion erhalten sollen, dafür liefert jede Seite der GT Beispiele. Formeln wie „Verzauberung" sind hinterlegt mit der religiösen Ausdeutung einer „Vision", wie sie der Satyr seinem Gott gegenüber gewinnt. 10 159 K G W III, 2,69. 160 K G W III, 2,69. Eine Stelle wie diese mag als Beleg für die These der Latenz eines Kulturfaschismus lange vor Ende des 19. Jahrhunderts anerkannt werden. Vgl. dazu B. Bräutigam, Reflexion des Schönen 186 f. i « Vgl. GT I, 43.

«ζ I, 44.

163 1,52. Die Inversion von Verzauberungs- und Versciileierungsfunktionen gehört audi zur Konstruktion des Verhältnisses von apollinischem Traumzustand und dionysischer Dra-

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„Im ,Ödipus auf Kolonos' treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben [ . . . ] die überirdische Heiterkeit, die aus göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, daß der Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Aktivität erlangt [...]". 1 6 4 Auf dasselbe Drama nimmt eine spätere Stelle Bezug, wo gesagt wird, „am reinsten tönt vielleicht im ödipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen Welt" .165 Neben dieser Übernahme des traditionellen Himmels-Topos stehen die Funktionstopoi der bereits ästhetisierten und poetologisierten Religiosität wie „Verzauberung" und — latent kritisch — „Verschleierung". Ihre weitgehende Synonymität ist durch die Vertausdibarkeit im topischen Geflecht der GT sichergestellt. Die Definition der „apollinischen Täuschung" als „Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung" 166 ist nur eine auf die Poetologie der Tragödie angewandte Spezifikation der allgemeinen Funktionszuweisung. Wird nach Nietzsche „ d e r t r a g i s c h e M y t h u s [ . . . ] nur zu verstehen [sein] als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel",167 so ist die Tragödie nach demselben Modell zu verstehen: sie verbildlicht wieder dieses primäre Kunstmittel. Beide beziehen sich auf Erfahrungs- bzw. Erleidungszusammenhänge durch die Natur — aber wie sehr ihr gegenüber nun das genuin ästhetische Abbild-Paradigma irrelevant und verunklärend wird, das sieht Nietzsche selbst am Ende der GT; und es hängt mit dieser Dysfunktionalität eines doppelten Paradigmas, der Mischung des ästhetischen Abbild- und des theologischen Offenbarungsparadigmas, zusammen, daß gerade das 24. Kapitel häufiger auf den Offenbarungscharakter zurückgreift als die vorausgehenden dramenästhetischen Kapitel. Zur Ausdrucksfolge des Offenbarungsbegriffs gehört die Herausstellung der ,Innenbürtigkeit' bzw. »Sichtbarkeit von innen' der zur Frage stehenden ,Weisheiten' und .Täuschungen'. Demgemäß kommt es in diesem Kapitel zur widersprüchlichen Wertung

matik: dank der Inversion und Rückbezüglichkeit der (nicht festgelegten) Ausgangsimpulse in den verschieden-identischen Verklärungsakten erhält die Beschreibung ,paradoxalen' Charakter: „... der apollinische Traumzustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und dodi schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert" (1,54). 164 1,56. Die Tragödie als Wiedergeburt des Mythus erlebt ihren Aufstieg und Niedergang in der GT selbst nach dem Anschauungstopos des tragischen Helden: „Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Überschuß von Kraft, samt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigem Leuchten". (I, 63) Der Zusammenhang mit der Gleichnisästhetik ist offenkundig, wenn „der Mythus als ein einziges Exempel einer ins Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit" gilt (I, 96; eine treffende Darstellung der idealistischen Ästhetik, wie es scheint), i « 1,98. i « 1,120. 167 1,121.

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der Totalität der Sichtbarkeit: sie wird negativ und positiv nacheinander eingeschätzt. Diesem .Paradox' antwortet eine Nötigung formalsprachlicher Transzendierung des ,Schauens' „über das Schauen hinaus" ,168 die auch die vordem etablierte Visionskunst infragestellt. So wird der tragische Künstler bei Nietzsche zum Darsteller der in seinem synthetischen System angelegten Widersprüche: „Er teilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und aiη Schauen und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt" .169 Unter dieser negativen Weiterführung einer immanenten Aporie muß sich die Frage nach der Verklärung verschärfen, wie sich die Frage nach der Naturnachahmung (selbst unterm dionysischen Vorverständnis von Natur) verschärft hat: Nicht die reale Lebenstragik, meint Nietzsche, würde die Entstehung der Kunstform Tragödie erklären können (Gegensätzliches war oben zu zitieren, vgl. S. 58); „wenn anders die Kunst nidit nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Überwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus [qua Kunst] nimmt audi vollen Anteil an dieser metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt".'™ Mit dem Abstraktionspartikel „überhaupt" führt Nietzsche die Betrachtung über in das ästhetische Paradigma der Autonomie der Kunst, das er nun, ohne die Frage nach dem Modus der Realitätsbezogenheit und der Realitätsaufhebung in der Verklärung beantwortet zu haben, „mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst" 171 zum metaphysischen Paradigma erweitert. Die erforderte Kühnheit ist die eines Glaubens an das S p i e l , der sich auf nichts als gewollte Überzeugung zu berufen imstande ist. Denn fern davon, „das Ästhetische" irgendwie aus Lebens- oder Sozialfunktionen abzuleiten, stellt Nietzsche es als pure geglaubte Instanz in dem Postulat auf: „daß nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, daß selbst das Häßliche und Disharmonische ein künsderisches Spiel ist, welches der Wille [ . . . ] mit sich selbst spielt".172 Der Gedankengang belegt, daß es Nietzsche nicht gelingt, einen realen nachprüfbaren Entlastungsvorgang philosophisch oder pyschologisch glaubhaft zu machen. Wae er als inhaltliche Füllung des metaphysischen Aufschwungs, der •68 1,129. Wie oben „Vergöttlichung" „über die Götter hinaus" beredet wurde, ι » 1,130. 170 Ebd.

171 1,131. 172 1,131.

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wenig von entkrampfter Spontaneität an sich hat, allerdings viel von einem Gewaltakt der Selbstüberredung, vorschlägt, ist die vorausgesetzte Entlastetheit des ästhetischen Spiels, das in seinem vollen Widerspruch zum Realitätsbewußtsein verbleibt. Spiel selbst leistet nicht den Ernst der Wertungsoperation, welche Verklärung ausmacht, es leistet keinesfalls die Progression auf den diversen Stufen der ,Erhöhung'. Sondern, wie sich das Bewegungsschema ,νοη unten' mit dem ,νοη oben' (vgl. die Analyse der Metaphern und weltanschaulichen Denkformen) simultan mischt, so ist ästhetische Rechtfertigung an eine Lokalisierung ihrer Funktion in der Unlokalisierbarkeit gebunden: Musik bleibt das realitätsentzogene Paradigma von Kunst-Spiel-Metaphysik und ästhetisch-abstrakter Kosmodizee.

c) „Ästhetische Rechtfertigung" Untersucht man die Funktionsbestimmungen von Kunst in der GT, so tritt als attributive Zusprechung am häufigsten der Begriff des „Zaubers", der „Verzauberung" auf. Hatte „die Weisheit des Silens" ihren Gipfel darin, den Menschen das Ekeln zu lehren,173 so ist die Befreiung in dieser als höchste Gefahr für den Willen interpretierten Frustration eine psychologisch und produktionsästhetisch unvermittelte, gnadenhafte Hilfe von oben.174 Nietzsche fragt nicht nach der spezifischen Kunstfunktion der beiden Einstellungsformen des Erhabenen und des Komischen. Ihre wechselseitig-kompensative Bezogenheit schließt an die vorhin zitierte neue Fundierung einer ,naturbezogenen' Ästhetik an: die Nachahmung thematisiert sich nicht mehr am ,Außen', an der objektiven Selbständigkeit von Natur, sondern an Ergebnissen ihrer existentialen Hermeneutik; sofern Natur darin hinter dem Deutungsprozeß des an ihr leidenden, von ihr lustvoll überschwemmten Menschen zurückbleibt, wird sie uninteressant — sofern sie daran teilnimmt, wird sie erneut anthropomorphisiert, jedoch nicht sozialphilosophisch wie in den vorherrschenden Traditionen vermenschlichenden Denkens, sondern transzendentalphilosophisch bzw. psychologisch': sie wiederholt die existentielle Polarität der Selbsterfahrung des Menschen zwischen Ekel und Ekstasis: Chaos, Widerklang und Kosmos, Ordnung der Musik 173 1,48. >74 „Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t : sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt" (I, 48 f.). Im „Satyr" ist die optimale Synthese von Wahrheit und Natur nach Nietzsche „in ihrer höchsten Kraft" als selbsterhöhende Projektion gegeben gewesen: die Griechen sahn sich „zum Satyr verzaubert" — und das ist auch auf dieser historischen Stufe als renovatio naturae topisiert: sie „wähnen" sich „als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn zu erblicken" (1,50). Vgl. mehrere Stellen I, 52 f. Im Resümee der GT wird von den „mächtigen Zauberkünsten" der Musik und des Mythus gesprochen (1,133).

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sind die Pole, in denen Natur befähigt wird, sich selbst zu Metaphysik zu transzendieren. Erst unterm psychomorphen Vorzeichen der Schopenhauerisch-spätidealistischen Doppeldeutung von Natur konnte „Naturwirklichkeit" ihrerseits in die doppelte, in sich widerspruchsvolle Funktion geraten, sich zu überwinden': das heißt, als profane hinter sich zurückzubleiben und als metaphysische den Voraussetzungsgrund für die Supplementierung ihrer selbst durch ihre endogene Leistung, die Kunst, zu liefern. Dabei gibt die metaphysisch-statische Form der „Vorstellungen" die Sicherheit, daß kein erneuter Bewußtseinsprozeß die supplementär gewonnene Erträglichkeit gefährde: weshalb Kunst in eine reine Vorstellungsästhetik vereinseitigt wird. Nahezu synonym mit „Verzauberung" taucht immer wieder der aus mystischer und pietistischer Tradition geläufige, im 19. Jahrhundert jedoch weitgehend profanierte Ausdruck „Verzückung" auf. Sie hat ebenso eine exogene und eine endogene Supplementierungsfunktion. „Zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung" 175 — das ist die dionysische Vorstellung: „In der Kunst dagegen werden wir .Vorstellendes': daher die Verzückung" und: wir sind „projizierte Bilder eines rein entzückten Wesens".176 Die Leistung der endogenen Reaktionsbildung auf Leid ist die Projektion einer entzückenden Welt: im gleichen Kontext heißt es über die Welt als Vorstellung: „Diese Vorstellung ist eine verzückte Welt, die ein leidendes Wesen projiziert."177 In allen diesen Formulierungen tritt zutage der Charakter der Leidaufhebung durch Vorstellung der leidenmachenden Situation. Nur aus der Immanenz des transzendentalphilosophischen Glaubens des Geistes qua Vorstellung an sich und von sich vermag die Tatsache erklärlich zu werden, daß der Schmerz sein eigenes Heilmittel wird, wenn er nur bis zur Lust gesteigert wird. „Die Vorstellung ist die Verzückung des Schmerzes, durch die er gebrochen wird"; „die Wahnvorstellungen als Verzückungen, um den Schmerz zu brechen" ,178 Der erneute Versuch, anhand dieser Zitate die reale Funktion der Schmerzbeseitigung im Umkreis der Kunstmetaphysik einsichtig zu machen, liefert eine Bestätigung der am Pröblem der Einheit gemachten Beobachtung, daß nur die Berufung auf die endogene Polarität den Schein der Erlösung berechtigt. Triftiger brauchte wohl auch im Rahmen einer Schopenhauerschen Pessimismus-Verklärung die Realität einer p r o z e s s u a l e n Erlösung und Lösung nicht ausgemacht zu werden. Denn das pessimistische Grundaxiom der Chaos-WollustIdentität darf unter keinen Umständen und Umwegen angetastet werden. Man vergleiche, was nur anscheinend, jedoch weder in der Intention noch in der Demonstration, vom Thema abliegt: was Nietzsche zur Bedeutung der „dialekti'75 Zit. nach Kaempfert 492. 176 Zit. nach Kaempfert 493. 177 Ebd. 178 Ebd.

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sehen", also schließenden Philosophie, zur Entdeckung des logischen Denkens zu sagen hat, das auf Ergebnisse abzielt und nicht primär auf die Schau der Einheit. Durch die Dialektik kommen wir (als Schauspieler und Zuschauer) „in Gefahr", „unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn wer vermöchte das o p t i m i s t i s c h e Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlüsse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewußtheit atmen kann Hier sieht Nietzsche sogleich den „Todessprung ins bürgerliche Schauspiel" 180 drohen: also in die Nähe des Abgrundes der Trivialität. Wenn die Intention auf Einheit so dominant einem Denken zugrundeliegt, verwundert es nicht, daß eine Theorie der Rechtfertigung, die immer auf die Ableitung zunächst heteronom erscheinender, in ihrem Widerspruch relativ beständiger Prinzipien verwiesen ist, in ihm so wenig expliziert ist wie in der GT. Wenn alles auf die „Verbildlichung dionysischer Zustände" 181 abzielt, was Kulturwert haben darf, so .spiegelt' adäquate Rechtfertigung immer die Doppeltheit des Axioms. Diese Verhältnisse sind an der entscheidenden Stelle der GT, wo am Ende des 5. Kapitels die Einführung der These von der Gerechtfertigtheit der Welt erfolgt, so vorentschieden. Die anscheinend prozessualen Ausdrücke wie „Verzauberung", „Vergöttlichung" und „Verklärung" bezeichnen nur im Aspekt der Intendierbarkeit, kaum in einem zeitlichen Aspekt, das theologische Wesen der Kunst als einer weiter nicht ableitbaren, ja selbst nicht anders als in die Einheit der Gegensätze rückbezüglichen Form von Affirmation. „Insofern aber das Subjekt Künstler ist" — und dafür werden sehr grundsätzlich keine pragmatisch und differentiell angebbaren Kriterien gesucht, sondern nur idealistische Philosopheme hypostasiert —, „ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert".i« Dieser zentral die hypostatische Vorwegnahme realer Erlösung dokumentierende Satz hat fundierende Bedeutung für die Leerheit dessen, was der Begriff der Rechtfertigung eher verhüllt als anzeigt. Denn alles andere als ein Legitimationsvorgang ist, was Nietzsche in der berühmten Formel seiner berühmten Erstschrift proklamiert. Sie wiederholt als rein topischer Appell die Formalität eines Gedankens, um den sich die metaphysischen Traditionen der Geistesgeschichte bemüht hatten, indem sie die Differenz von Welt und Ich, ι« 1,80. 180 1,81. 181 Ebd. 182 1,40.

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Objekt und Subjekt, Vergangenheit und Zukunft zuließen. Ist das Problem der Rechtfertigung — und das belegt nicht nur Habermas' kritisch innovatorische Arbeit über die Veränderungen von Rechtfertigung im Prozeß der Öffentlichkeit — eines der komplexesten in jedem pragmatischen und theoretischen Sinn, Kernpunkt der geschichtlichen Hermeneutik jedes Selbstverständnisses, — so scheint die GT davon nichts zu spüren. Sie realisiert gerade in diesem leerlaufenden Topos der „ewigen" Rechtfertigung von Dasein und Welt als ästhetisches Phänomen, was die konfliktvermeidende Strategie der nachtheologischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts an Identifizierungsbehauptungen eingebracht hat: Welt = Emanation des dionysischen Zwiespalts = Spiel des Spiels mit sich selbst. Die Abdichtung des Inhalts dieser Formel vor jeder Form der Befragbarkeit stigmatisiert den Text der GT ebenso wie die Art ihrer Rezeption bei vielen Dichtern und Doktoranden. Die Abdichtung erfolgt in der hier vorausgesetzten Opposition von Wissen, das als JLinheitsverhinderung, und von Zeugung, die als Lust an der Welt gedeutet wird: Es sei „unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuß bereitet. Nur soweit der Genius im Aktus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiß er etwas über das ewige Wesen der Kunst [ . . . ] — hierauf folgt die realitätsverletzende, schon zitierte Metapher vom Märchenbild, das durch Drehn der Augen sich selbst zu sehen vermag.183 Der Bedeutung dieser Vorschläge einer Rechtfertigung des Daseins ist von dem bestimmten Gebrauch, den Nietzsche vom Begriff des .Ewigen' macht, nachzufragen. Eine Schrift, welche die historische Renaissance eines tragischen Bewußtseins vertritt, indem sie che Evangelisation des richtigen Kunstwissens im Sinn einer nationalen Parusie des Gottes Dionysos im deixislosen Medium der „weltwiederholenden" Musik betreibt, müßte mehr Vertrauen in die Gnadenhaftigkeit des Kunstglaubens erwarten lassen, wenn schon nichts anderes als „Verschmelzung" Wissen garantiere. „Verschmelzung" ist im Text der GT als Deckmetapher für die Synästhetik der Partizipanten-Metaphorik des dionysischen Zustandes eingesetzt: „einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie" — die Erstgdbürtlinge der „Musik als Muttersprache" 184 bzw. diejenigen, die so „unmittelbar verwandt [sind] mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschoß haben [genetische Katachrese des Schoß-Topos!], so daß sie „mit den Dingen fast nur durch unbewußte Musikrelationen in Verbindung stehen" 185 183 1 , 9 2 f. 1 , 1 1 6 . Man erinnere sich des Topos „Natur als Muttersprache".

184

ι « 1,116.

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ist der „dionysische Musiker" dergestalt die figurgewordene Katadhrese, so soll er nach Nietzsche doch „ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang" 186 sein. Der größte Teil der Prädikate und Attribute dieser Rechtfertigung und die ihr gewidmeten Darstellungen dient nur dazu, jeden Ansatz von Rechtfertigung auszuschließen, sind doch die vielstrapazierten Terme „ewig", „göttlich", „einzig" und „Ur-" nichts anderes als leere Affirmationen der Einheit. Alle sind konvertibel als „religioide" bzw. kunsttheologische Ausdrücke, die sich im wirren Bedeutungsfokus von „Musik" als Erlöserin verschmelzen.187 Rechtfertigung ist immer nur die exklusive Glaubenspraxis und Wissensusurpation der „Eingeweihten" — eine Form der Selbstbestätigung im „Erkennungszeichen für Blutverwandte in artibus" . m „Das ewige Leben", das als Leitvorstellung und Fundierungsmoment dem ästhetisch-exklusiven Vitalismus der neumythischen Religiosität der Kunst in der GT zugrundeliegt, ist der Versuch, mit Musik in der Rolle der „Idee" ,189 mit der Tragödie in der Rolle des satyrhaft-apostolischen Nuntius und mit dem „hellenischen Wesen" der Innerlichkeit in der Rolle einer unausweisbaren Zielvorstellung den Glauben des Subjekts an sich selber, an seine heraklitischkindliche Weltzeugungspotenz zirkulär zu begründen. Man vergleiche dazu I, 67 und I, 109, wo auf die Lehre „des großen Heraklit" hingewiesen wird, nach der „sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen", und Dionysos in die Position des eschatologischen Welt- und Kulturrichters gehoben wird. Den apologetischen Zufallscharakter des „Spiels", um das es sich hier handelt, beschreibt Nietzsche mit einigermaßen kulturgefährdend wirkender Metaphorik: die ästhetische Rechtfertigung sei nichts anderes als das „dionysische Phänomen, das uns immer von neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluß einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die welt"6 1,118. 187 B. Bräutigam schreibt darüber: „Das Musikerlebnis ist der Garant einer ursprünglichen Einheit des Menschen mit der Welt und zugleich der Garant für eine mögliche Überwindung der durdi die Herrschaft des Begriffs zerrissenen Welt der Moderne". Unter Verweis auf Ph. Lacoue-Labarthe („la musique est proprement la theologie", in: Poetique 2, 1971, 69) fährt er fort: „Nietzsche theologisiert die Ästhetik. Im Glauben ist, wer ,auf Musik getauft' wurde". Vgl. dazu 1,11. (Β.B., Reflexion des Schönen 125). 188 So Nietzsche im späteren, der GT vorangestellten „Versuch einer Selbstkritik", 1,11. Über die Strukturen der Leserkonditionierung für den ästhetisdien Glauben handelt Bräutigam ausführlich 1. c, 126—132. „Der Appell an die ästhetische Sensibilität im Leser enthebt Nietzsche der Notwendigkeit argumentierenden Überzeugens". (I.e. 126; hier auch die zutreffende Feststellung, daß Nietzsche „in einen Dialog ausdrücklich nur mit den echten Musikern unter den Lesern" tritt.) 189 „Die Musik ist die eigentliche Idee der Welt", heißt es 1,119, sie hat Offenbarungsund Gnadenfunktionen.

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Die Etablierung der lebensphilosophischen Topoi bildende K r a f t einem K i n d e verglichen wird, das spielend Steine hin u n d her setzt u n d Sandhaufen a u f b a u t und einwirft" , 1 9 0

Nach der Denunziation des (erwachsenen) Wissens in der fiktionierten Gestalt des Sokratismus (isotop dazu: .moderne Begriffs weit') muß die Metaphorik des „Kindes" als Annäherung an den semantischen Bereich .Natur' verstanden werden. Die vom Kulturschriftsteller vorgeschlagenen urtümlich-eschatologischen Zustände der Weltnähe, „Traum" und „Rausch", werden vom Anfang der Schrift an als die „unmittelbaren Kunstzustände der Natur" 191 empfohlen. Die I, 24 f. der Problementfaltung vorangestellte Kunstutopie ist zugleich eine Paradiesesidylle, deren zentraler Versöhnungswert darin besteht, den Menschen nach seiner Balsamierung durch die Einschmelzung in Natur zum Kunstwerk selbst zu erhöhen.192 Die Funktion der metonymischen Überführungen von „Natur" in „Übernatur", in „Kunst", in „Welt" ist — als sprachliche Realisierung der paradiesischen Einigkeit von Adam und Tiger — die Ausklammerung jeder Chance zur bestimmten Negierung des Widrigen. Die Chaosannahme, die im Konzept des „Dionysischen" dem Naturbegriff eingebunden wird, ist noch ,versuchsweise' und selber „spielerisch*. Audi wenn Nietzsche in der Natur „die Macht der Bedrohung erkennt, die er mit einer Fülle von Chaosattributen umschreibt, muß er sie in unriskante ästhetische Präsenz überführen. Natur wird zur ästhetischen Natur, der sinnlich-natürliche Mensch zum Kunstwerk" .193 Den Selbstentzug in die problemlose „Urnatur" realisiert Nietzsches Sprache auf lexikalischer Ebene durch den rekurrenten Einsatz der „Ur"-Kompositeme.194 Sie garantieren Totalitätsanspruch und den wünschenswerten Grad von Unbestimmtheit. Ihr sprachlicher und referentieller Wert ist als Ersatzbeantwortung und Suggestivitätslösung von Problematiken anzugeben, die durch außergeschichtliche ,Fundierung' gerade ihre Unfundierbarkeit erreichen. Jede Möglichkeit einer Zuordnung, einer Graduierung, eines Gewinns an Erkenntnis oder Position wird durch die Rhetorik des Naturtotalen ausgeräumt. ι » 1,132. ι « 1,25. 192 Diese .explikative* Metaphorik ist vom theologischen Paradigma angeführt; man vergleiche die Abfolge der semantisdien Positionen: „Wie jetzt die Tiere reden, und die Erde Milch und Honig gibt, so tönt audi aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches". (I, 24 f.). 193 B. Bräutigam, Reflexion des Schönen 134. 194 Vgl. dazu im einzelnen Bräutigams Nachweise (Reflexion des Schönen 135) und seinen Kommentar: „Nietzsche verfällt hier in den Fehler, den Überschuß an Intention dem partikularen Wort und nicht der Wortkonstellation bzw. der Gedankenbewegung selbst aufzubürden".

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So versteht Nietzsche sich im Übereifer seiner Anschauungssicherheit ersehnenden, jedoch jede Anschauung verlassenden Lebensapologie dazu, selbst das nur als graduell unterschiedene apollinische Modell der Verklärung zu diffamieren. Genau an der Stelle des Textes, wo die größte Annäherung an eine Sprechhaltung des alleinseligmachenden Verkündens erreicht ist, erfolgt die dogmatische Verfemung des konkurrierenden Nachbarn im Glauben. Die apollinische Kunst des „Plastikers" wird als lügenhafte Verklärung gezeigt: „hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der E w i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g , hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärierende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen" .195 Im Unterschied dazu leistet die Vollform des richtigen dionysischen Glaubens, den Schmerz sogar noch im leidenden Subjekt hinwegzulügen. Dieser extreme Zug der Nietzscheschen Radikalität ist im Auge zu behalten.

i« 1,93.

II. Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik Wenn an dieser Stelle ein kürzeres Kapitel über die Bedeutung der Illusionsund Verschleierungstopoi in der Bildungsreflexion des jungen Nietzsche eingeschaltet wird, so soll dies der Einsicht in die Motivationszusammenhänge und die zeitlich übergreifende Rolle des Verklärungsansatzes auch für die geschichtsund kunstkritische Reflexion des späten Nietzsche dienen. Die an dieses Kapitel anschließenden Untersuchungen fragen nach Veränderung und Konstanz der Grundpositionen in der mittleren, „skeptischen" und „wissenschaftlichen" Phase Nietzsches. Ohne Berücksichtigung der gesellschaftskritischen Anwendungen und der damit nahegelegten .Korrekturen' der Kunstmetaphysik bliebe sie unverständlich. Denn die Problematik von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit hat sich in den kulturanthropologischen Fragestellungen der Schriften nach der G T so verschärft, wohl auch in ausweglose Aporien geführt, daß Nietzsche dadurch veranlaßt worden sein dürfte, die kunstreligiöse Position zu überdenken. Die jüngere Forschung zur Bildungsproblematik bei Nietzsche hat, spätestens mit der Arbeit von H. Kluge, „Die Bildungsidee in den Schriften des jungen Nietzsche",1 zunehmendes Mißtrauen gegenüber der Tragfähigkeit der tragischen Kunstmetaphysik als Voraussetzung einer systematisch und pragmatisch brauchbaren Bildungsidee bewiesen. Kluges Untersuchung zielt auf die in Bewegungsphasen gegliederte gedankliche Grundstruktur. Verdienstvoll daran ist vor allem der Hinweis auf die axiomatischen Vorannahmen der älteren Literatur.2 „Die ästhetische Rechtfertigung der Welt in der ,GdT' ist auf keinen Fall die spekulative Grundlage für ,rein menschliche Sinngebungen' des Daseins der Welt. Sie ist dort ein durchaus metaphysisch aufzufassendes Prinzip" .3 Im Zusammenhang damit erkennt Kluge „eine gewisse Analogie zum christlichen Offenbarungs- und Inspirationsvorgange" und empfiehlt, „die kategorisch betonte Gegensätzlichkeit zwischen dem jungen Nietzsche und dem Christentum einer behutsameren Auffassung zuzuführen" ,4 Kluges Arbeit ist inzwischen ι Frankfurt)/Μ. 1955. So widerspricht Kluge Baeumlers Nietzsche-Nachfolge und ihrem Postulat, die dionysische Welt sei dem Erkennen in keiner Weise zugänglich; er hinterfragt die gängige Weise, die bloße Behauptung metaphysischer Relevanz als Legitimation metaphysischer Urteile anzuerkennen (1. c. 14). 3 Kluge, Bildungsidee 63 (gegen A. v. Martin, Nietzsche und Burckhardt, Basel 1945). * Kluge, Bildungsidee 51, Anm. 47. 2

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

69

durch R. Kokemohrs systematisch angelegte Darstellung „Zukunft als Bildungsproblem" überholt, nicht zuletzt darin, daß sie ohne weitere kritische Differenzierung Nietzsches metaphorische Vereinheitlichung von Mythus und Kunst als „sprechende Natur" 5 übernommen hatte. Kokemohrs Ergebnisse sind in die Untersuchung der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" und vor allem der Aufsätze „Über das Pathos der Wahrheit", „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" und „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe" einzubeziehen. Die wesentliche Veränderung der Thematik zwischen GT und UB ist die aktualisierte Auffassung von Geschichte. Nietzsche tritt aus der humanistischretrospektiv gewonnenen und im wesentlichen an der Geistphilosophie des deutschen Idealismus orientierten Kulturkonzeption der Schopenhauerschen Kunstmetaphysik heraus.6 Ist der lebensmetaphysische Begründungszusammenhang des Kulturbegriffs im Schopenhauerschen Leidensgrund der Welt verankert und eine prophylaktisch-verklärende, das Entsetzen verschleiernde Funktion der Kultur zugewiesen, so verläßt Nietzsche mit der aktuellen Reflexion des Bildungsbegriffs jenen vorgeordneten Rahmen der Geistphilosophie: Bildung ist für ihn in den frühen 70er Jahren das negative Derivat eben der Hegel-Hartmannschen Usurpation von Geist und seiner philisterhaften Trivialisierung. Wie McGinn zeigt, gewinnt gerade der Bildungsbegriff dank seiner zeithistorisch-kritischen Funktion eine schärfere präskriptiv-normative Aufgabe als der ontologisierende, eine philosophische Beschreibung der Welt einrichtende und ihr folgende Kulturbegriff.7 Folgerichtig vermag Kokemohr nach der Klärung des widersprüchlichen Begriffsgebrauchs von „Bildung" und „,Bildung'" bei Nietzsche und der begrifflichen Grundlegung der Nietzscheschen Kritik auch eine nähere Differenz zum Schopenhauerschen System zu benennen. „Das ,principium individuationis' sagt für Nietzsche — im Unterschied zu Schopenhauer— zugleich, daß es keinen dem Individuum vorgeordneten Lebensprozeß gibt. Damit wird implizit die Verantwortung für das Leben dem Individuum zugesprochen" .8 Nietzsches Abwanderung aus der pessimistischen Rahmenbindung der Schopenhauerschen Philosophie scheint vornehmlich von einer positiveren Auffassung des Individuums und des Lebensbegriffs auszugehen. Leben, 5 Kluge, Bildungsidee 63. ' Zu demselben Ergebnis kommt R. E. McGinn in seinem Aufsatz „Culture as prophylactic: Nietzsches's Birth of tragedy as culture criticism", in: NS IV, 79. Gegen Kroeber/ Kluckhohn (Culture: A Review of Concepts and Definitions, New York 1962) unterscheidet der Autor drei verschiedene Verwendungsweisen des Kulturbegrifis in der GT, wobei er sich auf die Spuren der von Kant zu Hegel führenden geistphilosophischen Auffassungen bezieht. 7 Mc Ginn, Culture als prophylactic, in: NS IV, 80. s Kokemohr 18.

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

70

das sich — dies im weiteren Sinn verstanden — selber bilden will, stellt eine Normbildung dar, aber keine Normvoraussetzung. Sicher bleibt die Anlehnung an eine Goethe-Schopenhauersche Vorstellung vom „Leben am Scheine" 9 bestehn, aber „Wille" wird für Nietzsche als Erscheinung des sich selber wollenden Lebens aufgewertet.10

1. Heraklitismus

und Auflösung

des

Wahrheitsbegriffs

Diese Umwertung ist zu beobaditen im Rahmen einer noch durchaus althumanistisch erscheinenden Thematisierung des „Ruhms" als des Anspruchsund Wirkungsstigmas des „seltensten Menschen", — so in dem Ende 1872 niedergeschriebenen, Frau Cosima Wagner gewidmeten Vorrede-Aufsatz zu einem ungeschriebenen Buch „Über das Pathos der Wahrheit". Nietzsche geht auch hier von dem „seltensten Momente" „der plötzlichen Erleuchtungen" aus, „in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend".11

Ohne Zweifel eine mit Gottbildlichkeit arbeitende Apotheose des schaffenden Menschen im pleromatisch-spirituellen Zustand. An diesem „Augenblick höchster Welt-Vollendung" hängt sich die drückendste Erfahrung des Vergänglichkeitswiderspruchs ein — damit wird die Thematik des Ruhms, vorher im Vergleich, jetzt in der begrifflichen Diskussion zugunsten der metaphysischeschatologischen Thematik überschritten. Zitate der Topoi des „hohen Geistergesprächs" in der Formulierung einer „Kette der großen Momente" folgen, um die Evidenz eines qualifizierenden Kulturbegriffs darzustellen. Die folgenden Abschnitte bringen rhetorisch aufwendige Beschreibungen der ,großen Individualisten', der „verwegensten Ritter unter diesen Ruhmsüchtigen",12 deren Bedeutung noch dadurch gesteigert wird, daß „Mensch und Natur" 13 gegen sie in dem „furchtbaren Kampf der Kultur" 14 antreten. Nietzsche wechselt die metaphorische Staffage seines Helden vom ,Don Quijote' zum überzeitlichen Philosophen im Sinn des Denker-Genius „auf den weit ausgebreiteten Fittichen aller Zeiten" — die Latenz einer ioAz/historischen Sicht des In-der-Welt-Seins

9 Vgl. GOA IX, 193. 10 Kokemohr 26; allerdings sieht audi Kokemohr beim jungen Nietzsche keine genaue Ausarbeitung des LebensbegrifEs. 11 111,267. π III, 268. 13 III, 269.

14 111,268.

Heraklitismus und Auflösung des Wahrheitsbegriffs

71

wird in der Abschlußpassage dieses Abschnitts durch den romantischen Topos des „Rades der Zeit" ausgebaut: „die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können" .15 Indem Nietzsche sein Thema metaphysisch erweitert, desavouiert er den Anspruch des Leitthemas „Ruhm" ebenso wie den des „Pathos der Wahrheit" als allzumenschlich-uneigentlich: er stellt den Erkenntnisheros Heraklit dem sterblichen „Sänger und Dichter" 16 gegenüber, der die „Wahrheit" jenes in die dionysische Abgrundtiefe der Welt Blickenden zu seinem Leben brauche. Und damit vollzieht er, im Rahmen der in der GT formulierten inexplizierten These von der lebensprophylaktischen Funktion der Verschleierung die generelle Relativierung der Wahrheit. Das im Sibyllenmund und im Orakel „weder sagend, noch verbergend" — weder offenbarend, noch atheistisch — an Erkenntnis Ausgesprochene wird von Nietzsche den nichtheroischen Vorläufern und Nachfolgern des vergöttlichten Heraklit so zugeteilt, daß Verschleierung als Lebensfristung sich manifestiert: „diese mögen den köstlichsten Bissen [den aus Wahrheitsliebe erwachsenen Ruhm] ihrer Eigenliebe hinunterschlucken, für ihn ist diese Speise zu gemein". Nietzsche weist an diesem Bildungstableau den Wahrheitswert der Unsterblichkeitsmetapher ,Ruhm' zurück: Heraklit brauche nicht „die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit. Die Wahrheit! Schwärmerischer Wahn eines Gottes! Was geht die Menschen die Wahrheit an! Und was war die Heraklitische .Wahrheit'! Und wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus den Mienen der Menschheit mit anderen Träumen! — Sie war die erste nicht. Vielleicht würde ein gefühlloser Dämon von alledem, was wir mit stolzer Metapher ,Weltgeschichte' und ,Wahrheit' und ,Ruhm' nennen, nichts zu sagen wissen als diese Worte: ,In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegoßnen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, das sie alles falsdi erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Tiere, die das Erkennen erfunden hatten'" .17 15 111,269. 16 III, 270. 17 III, 270 f.

72

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

Die Zerstörung der emphatischen Glaubensrolle, in der die „Wahrheit" in der GT ihre wenn auch säkularisierte Position behauptet, erscheint in der Metapher „schwärmerischer Wahn eines Gottes", in der sich die Ausweitung des Wahnattributs in das Gebiet des bildungssprachlich stabil gewesenen ,Gottes-' bewußtseins ausweist. Aus der Erzählung selbst ist einerseits eine Ebene der Naturrelevanz auszugliedern, anderseits eine Ebene der Erkenntnisrelevanz. Jene reduziert den Menschen zum erkennenden Tier und verkürzt Weltgeschichte in atemschnell ablaufende Naturgeschichte. Die Erstarrung des Gestirns wird mit nichts — außer allenfalls dem biotischen Vergehen — begründet. Die zweite Ebene verhält sich zu der ersten wie ein Nachsatz, wie eine Zusatzbegründung, eine Rückinterpretation: als axiologische Ebene scheint sie den bloßen Untergang der Natur begründen zu können, und zwar durch die Täuschnug, den WNaturen' wird nur formalhistorisch unterschieden bzw. mit einem unbestimmten Lebensbegriff umschrieben, nicht konkret-sachlich entwickelt. Zu diesem Ergebnis kommt auch Kokemohr am Ende seiner Untersuchung, wenn er zeigt, daß „an der Figur des Heiligen [ . . . ] der formale Charakter der enthusiastischen Antizipation besonders deutlich" wird.92 „Aber auch die Figur des großen Philosophen-Künstlers als des zukünftigen Erziehers hat diese Struktur". Hier wird auf den ,Glauben' hingewiesen, den wir als Bildungsund unreflektierten Geistglauben zu erkennen gegeben haben: „daß der formale Entwurf des höheren Selbst seine inhaltliche Verwirklichung nach sich zieht. Eine solche Vorstellung kann sich nur durch die Gegenläufigkeit von Kritik und Antizipation legitimieren. Es ist Nietzsches Fehler, Kritik und Entwurf nicht konsequent aufeinander zu beziehen und die positive Funktion der Kritik nur formal zu realisieren. Je genauer beide aufeinander bezogen würden, um so eher würden falsche Füllungen des Entwurfs ausgeschlossen. So könnte die Kritik des ,Bildungs-Objektivismus audi auf die Gefahr des Bildungs-Subjektivismus aufmerksam machen" .93 Wir hoffen nun zeigen zu können, daß die unübersehbare subjektivistisdie Beschränktheit der Bildungskritik Nietzsches mit ihrem Ausgang aus der Tradition der Kunstmetaphysik und der Weltmetaphorik zusammenhängt. Das Modell der enthusiastischen Antizipation gehört in die Überhöhung der Produktionsästhetik im Zeichen des Welten, Kunst, Subjektivität und ,Objektivation' schaffenden Willensgrundes. Gerade in der — heute — als unzumutbar empfundenen Reihung der Objekte solchen metaphysisch-irdischen Schaffensvergleiches liegt die präzise Kennzeichnung der Weltphilosophie des 19. Jahrhunderts. Sie überdehnt jede Begrenzung durch eine metaphysische ,Verbilderung' von Selbst- und Produktivitätserfahrung und insistiert auf ihrer Unberührtheit von bestimmtem Wissen. Dabei hat sie den nicht gering zu schätzenden Vorteil, ein Ganzheitsbewußtsein mobilisieren zu können. Und Nietzsches persön-

»2 Kokemohr 140. » Kokemohr 140.

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

98

liehe Begabung dürfte in erster Linie darin zu sehen sein, in der Eloquenz seines bildungssprachlichen

Formulierungswissens

die

Widerspruchs-Ganzheit

der

synthetischen Denkmodelle' noch bis in die kleinste Phrase hinein verstecken und verfolgen zu können. Eines dieser synthetischen Modelle ist Nietzsches Begriff der Intuition. Obgleich er ihn, vor allem später, relativ wenig häufig gebraucht, akzentuiert er doch seine eigenständige und weltanschauliche Bedeutung.

Kokemohr

hat

Nietzsches „Intuition als schöpferische Potenz der Negation" untersucht und dabei den Widerspruch Nietzsches gegen die Aufklärungstradition festgehalten, die nicht Intuition, sondern Vernunft als „die den Fortschritt hervorbringende Kraft" begreift. 9 4 Nietzsche exponiert in seinen vorsokratischen Studien den Intuitionsbegriff als wesentliches Moment der Heraklitischen Lehre und Methode: als synthetisches Modell eines aber im Gegensatz zu der dialektischen Negation Hegels nicht

vernunftgeleiteten

Widerspruchs.

„Intuition"

ist mit

„Vorstellung"

darin verwandt, daß Nietzsche mit beidem „die genieästhetische Wertschätzung der unmittelbaren Vorstellung gegenüber dem diskursiven Denken zu legitimieren versucht". 9 5 E s ist interessant, daß es Nietzsche wagt, aus dem Intuitionsbegriff unter Rückbezug auf Kantische Formulierungen etwas wie den Ansatz einer Erkenntnistheorie abzuleiten: „Die intuitive Vorstellung aber umfaßt zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, so94 Kokemohr 96 fl. Wir werden auf die begriffsverschleifende Rolle der Intuition bei der Analyse des MetaphernbewuJßtseins bei Nietzsche zurückkommen. Hier seien nur die Ergebnisse Kokemohrs referiert: „Nietzsche beschreibt den intuitiven Menschen in ,Über Wahrheit und Lüge . . . ' in wenig präziser Metaphorik". „Die Intuition vollzieht ihre geschichtliche Wirkung, indem sie ,mit schöpferischem Behagen' Metaphern durcheinanderwirft". (97) Es läßt sich eine fünffache Bestimmung von „Intuition" angeben: Sie ist 1) „Ausdruck der Lebensstärke, die auf (begriffliche) Mittel zur Lebenserhaltung verzichtet und so den Intellekt zu schöpferischem Spiel befreit", 2) aber keine „unmittelbare Anschauung von Ideen, daß sie im Sinne einer creatio ex nihilo Neues schafft", 3) Exponent einer hochgradig synthetischen Fähigkeit im Sinn der absoluten Metaphorisierung, 4) konventionsauflösende Freisetzung von Lebensmöglichkeiten, 5) Rückgang „hinter die objektivistische Faktizität geschichtlicher Tradition" im Sinn der Uberwindung einer „zweiten Natur". 95 Kokemohr 98. Zit. nach Kokemohr 98. Damit ist die kulturtherapeutische und wissenschaftsabwehrende Funktion von „Intuition" als Ersatz von Erkenntnis genügend erwiesen. „Intuition" führt dementsprechend zur verklärenden W e l t - . E r k e n n t n i s ' gerade dadurch, daß „Kants Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Subjekt" fortfällt (Kokemohr 98). Sie ist — Kokemohr hat auf die Parallelstelle in „Über Wahrheit und Lüge . . hingewiesen — eine Kategorie .naturgläubiger Transzendentalität': hier heißt es, Zeit und Raum würden „in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt", entwickelt: damit „wird die Figur deutlich, nach der Welt ausschließlich auf die Produktivität der Intuition zurückgeführt wird", wodurch der irrationale Kraftbegriff eine Bestätigung erfährt.

Verdoppelung der „Natur": „Intuition" und „Vereinfachung" der Welt

99

dann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum" „Intuition" ist für Nietzsche die irrationale Überbietung wissenschaftlicher Erkenntnis im weitesten Sinn und als solche befähigt, die negative Gesamtheit der lebenentwertenden Vorgaben des Wissens zu bewältigen. Der Intuitive ist „der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ordnenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein V e r e i n f a c h e r d e r Welt". 9 7 So heißt es vom Idealtyp des musikalischen Synthetikers: Wagner. Die antithetische Ikonologie des wissenschaftsfrustrierten Altphilologen stilisiert den Meister der Bayreuther Kulturrenaissance zum Urbild eines den verlorenen Zusammenhang wiederherstellenden Welt-Künstlers: Wagner ist Synthetiker der Widersprüche, des in der falschen Kultur Auseinandergebrochenen. Die Komplexheit der Begriindungsverhältnisse in Nietzsches Denken resultiert aus der bildungssprachlidi gesteigerten Bereichsüberschreitung alles dessen, was an noetischen Vorräten und emotionalen Impulsen in die Reflexion eintrat. Das Kennzeichen der „Bayreuther Horizontbetrachtungen" — so ein Arbeitstitel Nietzsches in den Jahren 1872/73 — ist vor allem anderen, daß die Horizonte verschoben werden. Die für Bayreuth tauglich werdenden Notizen, Manuskripte und Aphorismen sind abgerungen einem bereits sehr totalisierten Pessimismus gegenüber dem Erkenntniswert der Philosophie, sie gehören dem Umkreis einer Reflexion „des letzten Philosophen" an, der den „ursprünglichen Zweck der Philosophie" in welthistorischen Dimensionen „vereitelt" sieht9S. War „Bändigung des Wissens" die Kraft der antiken Kosmogonik, so stellt sich der Bewältigung des explodierten Wissens im 19. Jahrhundert die Aufgabe, diesen unmenschlich, kalt und zerstörend wirkenden ,Stoff in den Zusammenhang des ,Seelischen' zurückzugliedern. Nietzsche formuliert eindeutig auf einer Planskizze zur Vorsokratik: „Der Philosoph ist die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusion mit der Natur verkehren ..." 99 Insofern übernimmt er — als der letzte noch denkbare „Verklärer" der Welt nach der Einsicht in die Sinnlosigkeit des Pathos der Wahrheit — die tragische Aufgabe, sie — also sein Wissen von ihr, seine Einsicht ins Unerträgliche — wenigstens zu vereinfachen. Wagner ist Kulturmacht für Nietzsche gerade als vereinfachender Synthetiker: „Durch seine ,adstringierende Kraft', als ,Vereinfacher der Welt' erlöst er den Menschen aus seiner ,gemeine(n) Befangenheit'. Das erreicht er dadurch, daß er ,in das einzelne Ereignis das Typische ganzer Zeiten hineindichten und 97 Zit. nach Kokemohr 110. 98 Vgl. Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 84 fi. " Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 82.

100

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

so eine Wahrheit der Darstellung erreichen (sc. kann), wie sie der Historiker nie erreicht*. Ihm ist ,die Geschichte ein beweglicher Ton in seiner Hand'; er steht zu ihr ,mit Liebe und einer gewissen scheuen Andacht, aber doch mit dem Hoheitsrecht des Schaffenden', .ähnlich wie der Grieche zu seinem Mythus stand'" . 10 ° Das nicht mehr ,denkbare' Pathos der Wahrheit — sie wäre nur noch unpathetisch: also wissenschaftlich zu erleben — wird auf die letzte verbliebene Enthusiasmus-Gestalt übertragen: Das Kunst-Pathos ermöglicht die Explikation von menschlicher „Größe". „Denn die Kunst flieht, wenn ihr eure Taten sofort mit dem historischen Zeltdach überspannt" 101 — so warnt die zweite UB, und Nietzsches Philosophie ,realisiert' die abstrakte Gegenmetapher gegen die Kontingenz-Belastung des historistischen Zeltdachbewußtseins durch die Etablierung des „Horizont"-Begriffs als Umwandlung der „plastischen Kraft". „Vereinfachung" zielt auf erlebbare und risikolose Präsenz des Zusammenhängenden in Welt und Kultur, sie ist — im Verhältnis zu Arbeits- und Wissensteilung — regressive Methodik der Einheitsfindung.102 In der „Vereinfachung" vollzieht sich ein in seiner individual-psychologischen Relevanz nicht zu unterschätzender Kurzschluß des Kulturbewußtseins: „während der von Begriffen und Abstraktionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, außer der Abwehr des Übels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung", denn „jenes Verleugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschungen begleitet alle Äußerungen eines solchen Lebens" .103 Wenn Kokemohr, ohne Verwendung dieser Stelle, als erste Bestimmung des Bildungsbegriffs innerhalb der Problematik der verlorenen menschlichen Größe die Tatsache festhält: „zunächst hat die Abstraktion der empirischen Faktizität 100 Kokemohr 110. ιοί 1,238. 102 Nietzsches affektiv sehr belastet wirkende Polemik gegen „den historischen Virtuosen der Gegenwart" (1,245) erwächst — wie der Text dokumentiert — auch aus der Unerträglidhkeit und „Maßlosigkeit ihrer kritischen Ergüsse" (1,243). Historie ist Negativwert zu „Verehrung" und als „alexandrinische Welt" Gegenbild zur „altgriechischen Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen" — so eine pathetisch verklärende Formel im 8. Kapitel der 2. UB (1,261). — Zur regressiven Tendenz von Vereinfachung gehört die Verwendung der Metapher des „Bautriebs", womit positiv die destruktive Seite des Lebensinstinkts umschrieben wird: „Wenn hinter dem historischen Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt wird, damit eine bereits in der HoffMetapher vom „Bautrieb" der Natur (Kröner-Ausgabe II, 183) im Zusammenhang der Lebenslehre an — sie entspricht als weiteres Beispiel eines synthetischen Mikromodells (der Einheit von Zerstören und Aufbauen) der „plastischen Kraft". 103 Zit. nach Kluge 62 f.

Verdoppelung der „Natur": „Intuition" und „Vereinfachung" der Welt

101

zum Typischen die Funktion, den Menschen ,den Schein einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung des Lebens-Rätsels' vor Augen zu stellen",104 so erhellt, in welch prekärer Lage sich Nietzsches Kritik an der Abstraktheit befindet: sie verweigert sich der Abstraktheit der Wissensfakten, um in die ihrer Verdrängung zurückzufallen und den poetischen Schleier der Verklärung um sie zu schlingen. Was Nietzsche als Lösung des Lebensrätsels in seiner ersten Phase vorschlägt, hat dieselben sprachlich-logischen Funktionen der ideologisch verklärenden Wissensvereinfachung in sich wie Fechners platt ausgearbeitete Bildlichkeit. Das von Kokemohr a.a.O. angeführte Zitat ist weniger in seiner zweiten, von Kokemohr geleisteten wissenschaftlichen Abstraktion interessant als in seiner ersten, sich auf die geistige Lage Nietzsches beziehenden: „Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung [ . . . ] um so größer wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des einzelnen" ,105 Der Satz belegt weniger eine Einsicht darein, inwiefern denn die Erkenntnis der Lebensgesetze „schwieriger" geworden sei — sie ist schwieriger zu ertragen, wie die Fülle entsprechender Klagen in Nietzsches Oeuvre nachweist —, als in die Mechanik der Wunschvorstellungen angesichts einer als disparat erkannten Welt. Die Funktion des „Typus" ist im Verhältnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis bildhaft; er vertritt die Stelle der „Bilder des Mythus", von denen Nietzsche meint, sie sollten „die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet" ,106 Damit gehört er in den Kontext des Topos „Schein" als „lebenermöglichende Kraft". „Der Mensch soll nach Nietzsche im (tragischen) Bewußtsein des Scheins nach der Vereinfachung streben, eine Aussage, die ebenfalls den Möglichkeitscharaikter des Typus vergegenwärtigt" 107 — die aber auch seine Eigenschaftslosigkeit stimuliert. Die zitierte Stelle belegt überdies, daß Verklärung in dieser Zeit nicht etwa nur als jugendpsychologisch unverzichtbares Prophylaktikum und didaktische Scheinrealität verstanden ist, sondern eine genuine, auch dem reifen Bewußtsein unabdingbare hermeneutische Funktion hat.

im Kokemohr 110. 105 Kokemohr 110. 106 Kokemohr 110 f, 107 Kokemohr 111.

Kulturanthropologische Konzepte der Bildungskritik

102

5. Die Vermittlungsfunktion des Weltgleichnisses: enthusiastische Antizipation, Säkularisierung des Heiligen und Weltverklärung Nietzsche setzt in den bildungskritisdien und kulturstiftenden Aufsätzen seiner Frühzeit gegen die abgelehnten „Bildungs" -Instanzen Leitbilder und Figuren der positiven Lebensbewältigung, in denen eine enthusiastische Antizipation der Zukunft erscheint. Seine emanzipatorischen Hoffnungen entwickelt er innerhalb der UB wohl am deutlichsten in der dritten, in „Schopenhauer als Erzieher". Sie liefert wesentliche Aspekte einer durchaus in welthistorische Weite gestellten „Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens".108 Am Ende des ersten Kapitels faßt Nietzsche seinen Bildungsbegriff zusammen, — und zwar als positiv verklärte Natur: „Und das ist das Geheimnis aller Bildung: sie verleiht nicht künstliche Gliedmaßen, wächserne Nasen, bebrillte Augen [ . . . ] . Sondern Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die harten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und Wärme, liebevolles Niederrauschen nächtlichen Regens, sie ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äußerungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt" ,109 Aus metaphorischem Material erwächst die philosophisch-bildungstheoretische Definition von Erziehung noch unter dem Formulierungszwang ästhetischer und säkularisiert religiöser Rede: Wie schwach auch immer, in „Unkraut", „Gewürm" , „Niederrauschen nächtlichen Regens" klingen Assoziationen biblischer Rede (etwa vom „Himmelstau") genügend an, um den Aufgriff des christlichen Topos vorzubereiten, in dem menschliche Kultur als Vollendung der Natur gedacht wird.110 Für Nietzsches säkularisierte Weitergabe theologischer Strukturen ist kennzeichnend, daß die intentionelle Kritik hinterfangen bleibt von der Beständigkeit der sprachlich-materialen Seite der Vorstellungen und bildhaften Anschauungen. „Natur" ist hier aus der bloß ästhetischen Lage herausgehoben. Das Geheimnishafte der Bildung besteht in ihrer naturmetaphysischen Rüdebindung als Ausführungsorgan der undurchschaubaren Selbstemanzipation von ,Natur' (qua ,dumm' und .inhuman') in ,Kultur'. Topische Redeweise in der Rezeption der kulturellen Heiltümer prägt die im zweiten Kapitel eingebrachte Reminiszenz des Schopenhauer-Erlebnisses als Kundgabe der gnadenhaften Berührung mit ,verklärter Natur': we 1,288. ίο' 1,290. no Nach dem Modell „gratia superabundat naturam", in welchem ähnlich wie in Nietzsches Säkularisat eine prophylaktische und eine nachträglich-therapeutische Funktion zusammenwachsen.

Die Vermittlungsfunktion des Weltgleichnisses

103

„den ersten gleichsam [!] physiologischen Eindruck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte", schildert Nietzsche als „jenes zauberartige Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes, das bei der ersten und leisesten Berührung erfolgt".111 Schopenhauer wird anschließend in zahlreichen Formen als Führer zur Ganzheit, zur tragischen Gesamtbetrachtung des Bildes des Lebens gezeigt.112 Schopenhauers Sakralisierung des pessimistischen Philosophen findet in Nietzsche einen ambivalenten Apostel. Das Ganzheitsbedürfnis wird nach dem theologischen Modell, wie der Mensch „aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach der Heiligkeit sehnt", als „tiefes Verlangen nach dem Genius", als „Wiedergeburtshoffnung" umschrieben.113 Kultur ist im Gefolge dieser religioiden Aufwertung umstandslos als Naturverklärung definiert, als „Sehnsucht" „nach einer verklärten Physis" . 1H Wenn Verklärung auf Abstraktion beruht, ist sie als affirmative Phantomisierung geschichtlicher Wirklichkeit im positiven wie negativen Wertungsmodus zu verstehen. Heintel hat darauf hingewiesen, daß „das Schicksal des wertenden Interpretierens [ . . . ] bei Nietzsche auch die Erziehung teilt. Seine diesbezüglichen Gedanken lassen sich hier zwischen den beiden Polen: .Werten ist aller Dinge Anfang (αρχή)' und ,Werten ist eine späte und machtlose Illusion, über einem unbekannten Text' einordnen und verstehen."115 Den Begriff der Phantomisierung benützt Nietzsche selbst, und systematisch präzis, als Ausdruck einer real unbestimmten Verlegenheitsform des Wirklichwerdens und Wirkens, im Kreis seiner Kritik der Welthistorik: „Weltgeschichte" seien „Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Mächte [man beachte die metaphorische Valenz der figura etymologica, in der — mit Verlaub zu sagen — „Dampf wirkt" statt Erkenntnis vollzogen wird], welche wieder Anlaß zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, — ein fortwährendes Zeugen

i » 1,298. Π2 Vgl. etwa: „der Führer nämlich, welcher aus der Höhe des skeptischen Unmuts oder der kritisierenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet" (I, 303), Schopenhauer entwarf und verstand „ein solches regulatives Gesamtbild" (des Lebens; 1,304), summiert: große Philosophie ist eine, „die als Ganzes nur immer sagt: dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur dein Leben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens". (Ebd.) 113 1,305. Nietzsches Exemplarisierung seiner Vorstellungen enthält im Folgenden einen Hinweis auf die Verklärung der Antike als der „pleromatisdien" Periode der Weltgeschichte kat exochen, manifest in Empedokles, der „inmitten der kräftigsten und überschwänglichsten Lebenslust der griechischen Kultur" „Leben, wahres, rotes, gesundes Leben" (I, 308) gezeigt habe. 114 1,308. Schopenhauers Selbstreinigung und Selbstheilung wird auf der nächsten Seite als Arbeit des Genius in ihm gesehen: „das Reich der verklärten Physis war entdeckt". 115 Heintel, Organischer Prozeß, NS III (1974) 97.

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und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der Wirklichkeit". 116 Persönlichkeitswahn und genieästhetische Naturideologie werden in dieser Phase als Grundlage fürs Heil, für die Lebensermöglichung der „Masse" noch affirmiert — später wird sich hier die soziale Kluft auch theoretisch aufreißen. Der Widerspruch i η der Wertung selbst wird von Heintel erfaßt: „an allen [ . . . ] Stellen, an denen die Erziehung als ,Wahnvorstellung' abgetan wird, tritt völlig unvermittelt (und auch nicht zu vermitteln!) der ,neue Philosoph' auf. ,Wahnvorstellungen werden nur durch die Wucht der Persönlichkeiten mitgeteilt . . . Die Macht des Persönlichen liegt in seinem Werte für den Willen: je weiter und größer die Welt ist, die er beherrscht. „Jede Neuschaffung einer Kultur somit durch starke vorbildliche Naturen, in denen sich die Wahnvorstellungen neu erzeugen'. (Nachlaß; KTA 10, S. 36) JDer Genius hat die Kraft, die Welt mit einem neuen Illusionsnetze zu umhängen . . . Die Einwirkung des Genius ist gewöhnlich, daß ein neues Illusionsnetz über eine Masse geschlungen wird, unter dem sie leben kann', (ebd.; KTA

10,37)".i»7 „Schopenhauer als Erzieher" trüge ebensogut den Titel: „als Evangelist der Verklärung". Nietzsche bezieht sich auf die Leistung des Mittelalters, in welchem „die feindseligen Kräfte [ . . . ] durch die Kirche ungefähr zusammengehalten und durch den starken Druck [ . . . ] einander assimiliert" wurden. Neuzeit und Reformation werden als Zerreißen des „Bandes" und als Freisetzung des Egoismus interpretiert, als „Periode der Atome, des atomistischen Chaos". (I, 313) Immerhin aber haben sich in ihr drei Menschenbilder entwickelt, aus denen „die Sterblichen wohl noch für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eigenen Lebens nehmen werden": der Mensch Rousseaus, Goethes und Schopenhauers.118 Ihre Gemeinsamkeit — unbeschadet ganz unterschiedlicher sozialpsychologischer Effizienz — ist in der Leistung von ,Naturverklärung' gegeben: ruft der Rousseausche Mensch „in seiner Not die .heilige Natur' an", so hat Goethe „in seiner Jugend mit seinem ganzen liebereichen Herzen an dem Evangelium von der guten Natur gehangen" 119 — und selbst der Schopenhauersche Mensch praktiziert die Aufwertung von Not und Gläubigkeit, freilich in einem sehr dialektisch radikalisierten Sinn; ihn motiviert ein Maximum „jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung" — aber er läßt „Wahrheit", die hier synonym zu „Verneinung" gebraucht wird, zu, — allerdings ohne differentielle Erkenntnis, nur tautologisch:

lie Zit. nach Heintel, Organischer Prozeß, NS III (1974) 97. 117 Heintel, Organischer Prozeß, NS III (1974) 97 f. Ii« 1,314. ii» 1,315.

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„Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es audi verneint zu werden; und wahrhaftig sein heißt: an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist" .120 Das Schicksal der Daseinsbejahung bei Schopenhauer wird demnach als historische Überbietung der als naiv zu wertenden unmittelbaren Naturverklärung der Vorgänger aufgefaßt. Bei Schopenhauer entfällt diese Naivität, — weil er auf die dualistische Weltvorstellung, die für die beiden andern nicht galt, zurückgreift: Nietzsches Definition von „Wahrhaftigkeit" expliziert die Schopenhauersche Daseinsrechtfertigung folgendermaßen: dieser Wahrhaftige deutet „den Sinn seiner Tätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstände bejahenden". Das Spezifikum dieses dialektisch wieder und unnaiv am Leiden interessierten Menschenbilds ist die Chance, zu einer generellen Bejahung zu kommen — aber für den Preis der Jenseitigkeit'. Diese Jenseitigkeit wird allerdings von Nietzsche wie von Schopenhauer mit der Ambivalenz des „Grundes" zwischen Immanenz und Transzendenz wieder revoziert. Aber trotzdem bleibt die Hoffnung als Hoffnung quia absurdum in der metaphysischen Radikalisierung des Verklärungswillens überbietungsvoll gesteigert — aus der pessimistischen Totalisierung des Negativen soll der letzte Gott der Naturverklärung springen. So heißt es denn am Ende des 4. Kapitels von „Schopenhauer als Erzieher": „Wer aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem wird vielleicht ein anderes Wunder der Enttäuschung [ambivalent-äquivokante Uminterpretation des zentralen PessimismusbegrifEs! — analog der ambivalent-positionsaussparenden nachtheologischen Rede von der „anderen", „zweiten" Natur und des „andern Lebens"] bereitet [Topos der Gnadenbereitung durch -den Gnadenvermittler]: etwas Unaussprechbares, von dem Glück und Wahrheit nur götzenhafte Nachbilder [antithetische Überbietung des Vergöttlichungsanspruchs der traditionell-platonistischen Ideen-Mimesis] sind, naht sich ihm, die Erde verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft [Rückgriff auf die apollinische Verklärungsdiktion], wie an Sommerabenden bereitet sich Verklärung um ihn aus. Dem Schauenden ist [Säkularisat der visio beata], als ob er gerade zu wachen anfinge [Säkularisat der religiösen Erweckung und Auferstehung] und als ob nur noch die Wolken eines verschwebenden Traumes um ihn her spielten. Auch diese werden einst verweht sein: dann ist es Tag. —" [Prophetische Schluß-Ellipse] 121 120 1,317. 121 1,320. Der Verweis darauf mag nicht undienlich sein, wovon sich diese säkularisiertsakralisierende Klimax abhebt: Nietzsche hat sich „weit entfernt von der kalten und verächtlichen Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen" — nicht ohne sich als Beleg seiner enthusiastischen Existentialität der mystischen Potentialität Meister Eckharts zu versichern, nach welchem das kulturbildende Interesse am Leiden mit dem Ziel der religiösen Selbstvervollkommnung zusammenfällt: „das Tun" des pessimistischen

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Der idealistische Topos des „höheren Selbst" wird mit der Typik soteriologischer Kulturfiguren inhaltlich gefüllt, während deren soziale Kennzeichnung in der frühen Phase noch weitgehend ausgespart werden; ihre abstrakt-imperative Funktion bleibt als eigentliches Kulturziel bestätigt: „Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, insofern diese jedem einzelnen von uns nur eine Aufgabe zu stellen weiß: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten" .i22 Kokemohrs Erläuterung dieses Komplexes trifft den festzustellenden Mangel: „Es ist die Leistung dieser Aussage, daß sie die politisch mißverständliche Formel der ,prästabilierten Harmonie zwischen Führer und Geführten' am Ende der Vorträge ,Über die Zukunft . . . ' durch die Herausarbeitung des Bildungsprinzips korrigiert. Darüber hinaus sagt audi sie nur formal den Bildungsimpetus aus. Darin liegt ihre Schwäche und Gefahr. Weil inhaltliche Bestimmungen ausbleiben, wird Kultur und mit ihr Bildung aus dem formalen Prinzip heraus monistisch verstanden. Die ,Bildungs'-Kritik wird nicht in eine konkrete Bildungsstruktur übersetzt" .123 Das verhindert allererst die Fragestellung, die sich nicht von mystisch-theologischen Vorbeantwortungen zu lösen vermag. Denn Nietzsches „Radikalisierung des Gegensatzes von Konvention und Intuition" ist im Gefolge der unbewältigten Wissenschaft zurückgebunden in die blinde Abwehr von Konvention, in die leere Affirmation des Subjektiven. „Aus dem unvermittelbaren Gegensatz heraus gelingt es nicht, die Subjektivität zu transzendieren. Die Dialektik des Selbst bleibt eine formal behauptete, der Widerspruch von gewöhnlichem und höherem Selbst ein binnensubjektiver" ,124 Die Unfähigkeit zur Vermittlung ist ihrerseits als Resultante des relativitätsabwehrenden Totalitätsgedankens und der unverzüglichen, auf ,Unmittelbarkeit' erpichten Einheitssuche nachzuweisen. Deren Ausdruck ist die enthusiastische Antizipation selbst. Die ebensowenig gesellschafts- wie leistungsbezogenen Naturbilder, in denen Nietzsche höchst gesellsdiaftsbewußt die „Zucht" der Kulturgewinnung vorbringt, verbergen und ruinieren das intentional Ersehnte. Das hat Kokemohr Menschen (in seinem Inhalt völlig ausgespart, zwischen Erkenntnistrieb und kulturellem „Bautrieb" schwimmend) müsse „zu einem andauernden Leiden werden"; „er weiß, was auch Meister Eckhart weiß: ,das schnellste Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.'" (1,317) Im nächsten Kapitel wird eine interessante Genealogie des metaphysischen Bedürfnisses, besser der metaphysischen Kunst, gegeben, die auf Nietzsches spätere Genealogie der Moral vorausweist: Das Mitleid der „tieferen Menschen" mit den Tieren habe zu allen Zeiten den Grund gehabt: „weil sie am Leben leiden und doch nicht die Kraft besitzen, den Stachel des Leidens wider sich selbst zu kehren und ihr Dasein metaphysisch zu verstehen". (1,322) 122 1,326. 123 Kokemohr 130. 12+ Kokemohr 132.

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etwa am Befund erläutert, daß die Naturbilder „gleichermaßen zur psychologischen Auslegung der historischen Bildung und ontologischen Interpretation benutzt" 125 werden. Das Naturbild und — ihm voraus — das totale Naturbewußtsein „präsumiert den kontradiktorischen Gegensatz, nach dem der Mensch sich aus dem Strom" 126 des gewöhnlichen Alltagslebens erheben müsse. „Die rhetorische, in der Metapher des Stroms sich aussprechende Abwertung der (gewöhnlichen Verfassung' bereitet jene Disposition, die den Menschen sich" vom Dasein „befreit sehen läßt. Die Rede vom Emportauchen aus dem Strom sagt Erlösung als bloß negative Freiheit aus" 127 — sie spart den Begriff konkreter Arbeit aus und bleibt in der Ambivalenz medialer Pragmatik befangen. Wie unzählige spezifisch deutscher Irrationalisten alimentiert Nietzsche seine kulturelle Ambivalenz mit Rückgriffen auf mystische Formulierungen, die keineswegs einer solchen entstammen. Deren semantisches Lebens-Fazit, über Semantik hinauszuweisen, wird als Präsumption dem Lebensentwurf vorunterlegt, der sich somit gerade als Flucht vor Semantik offenbart. Im Zusammenhang der Bildungs-Figur, zu welcher der Nietzschesche Heilige geschmolzen ist, kommt es zu rekurrenten Versprachlichungen des Einheitsgefühls. Hier liegt eine Kontaktzone der von unterschiedlichen Bildungssphären und Kulturgeschichten genährten Flucht vor kultureller Bestimmtheit. „Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich-, Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst" .128 Das ist ein halbherziges Einsetzen von Handlung: an solchen Stellen beginnt sich Nietzsches Totalkonzept vom „Spiel des Werdens" nach dem anderen, kritischen Paradigma zu differenzieren, daß eben doch auch gewollte und geleistete Einheit: nämlich Barmherzigkeit zur Erlösung nötig sei. Aber die Korrektur bleibt in der synonymen Semantik der Verbalphrase stecken: Worin läge der Unterschied zwischen „auf ein Spiel hindrängen und -treiben" und „auf ein Spiel verfallen" ? Der Hiat des Widerspruchs, der dort verschleiert wird, wo er real ist: in der Selbstüberwindung des Heiligen, dort etabliert wird, wo er unnötig ist: in der Einheit der Natur, wird mit der historisch, semiotisch und semantisch leeren Phrase vom „Wunder der Verwandlung" zugedeckt. Was Brot und Stein sdheide, fällt unter den überfüllten Tisch des Einheitsglaubens. 125 Kokemohr 134. IM Ebd. 127 Kokemohr 134 f. 128 GOA I, 326.

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Auch der Heilige ist bei Nietzsche ausweglos formalisiert.129 „Der Heilige ist die formale Figur, auf die die enthusiastische Bewegung hinzielt. [ . . . ] Die Berufung auf die Erlösung erstrebende Natur generalisiert und erhebt die enthusiastische Ekstase zur Erfahrung des höheren Selbst. In der Abwehr des ,hier' und der Betonung des ,dort', das nur in ,Funken des hellsten liebevollsten Feuers' in das Bewußtsein tritt, unterschätzt Nietzsche die Bedeutung der ,Brücken', die, um im Bild zu bleiben, in ein inhaltliches Vakuum hinein entworfen werden sollen". Metaphysisch-antizipative Ichlosigkeit verändert die Fähigkeit des Enthusiasmus, Bildung positiv-kritisch zu entwerfen, zur puren Berufung auf eine Chiffre. Unsere Analysen zeigen den Vorlauf der metaphysischen Präjudizierungen der entscheidenden Begriffe ,Ich', ,Erkenntnis' und ,Welt' durch pragmatisch dysfunktionale Axiome wie die abstrakt-dialektische Genesis (vgl. Kokemohr 137: „Eine Tat, die aus dem puren Gegensatz von Haß und Sehnsucht entspringt, gibt es nicht. Die Sehnsucht muß eine Sehnsucht nach etwas sein"), die praxisflüchtige idealistische Theorie (vgl. Kokemohr ebd.: „Das höhere Selbst ist das bloße Nicht-Ich. Es ist nicht die Negation des gewöhnlichen Selbst im hegelianischen Sinn der Negation, welche als Arbeit, als eine Hinwendung auf das Negierte verstanden wird . . . " ) , die mystisch-asketische Ichlosigkeit (vgl. Kokemohr 137 f.: „Der Bildungswille muß sich der Requisiten des Gefühls bedienen, um sich zu sich selbst zu stimulieren"). Alle diese erkenntnis- und praxisdysfunktionalen Theoreme konvergieren in jener Realitätslosigkeit, zu deren Anwalt sich die Schopenhauersche Erkenntnistheorie und insgesamt die Ideologie des Weltgleichnisses der spätromantischen Bürgerlichkeit gemacht hat. Nietzsche verabsolutiert im Rahmen seiner Abstraktheit auch die bestimmbare Opposition zur ding- und wertkonsumierenden Verstelltheit von Welt im Bildungsbürgertum, er tut so, als sei dem Menschen ein Geschichte überspringendes Erstmaliges' von Erfahrung und Intendierbarkeit, von Wahrnehmung und Wertschätzung möglich. „Wer zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Büchtr treten läßt, wer also [ . . . ] zur Historie geboren ist, wird die Dinge nie zum ersten Male sehen und nie selber ein solches erstmalig gesehenes Ding sein; beides gehört aber bei einem Philosophen ineinander, weil er die meiste Be129 Auf die sprachkritisch belegten Beobachtungen Kokemohrs zu dieser Stelle als Idealbeispiel rhetorischer Affirmation sei hingewiesen: „Aber die pathetische Sprache verdeckt nicht, daß sein Heiligsein der bloß formale Gegensatz des bewußtlosen Versenktseins in die Sinnlosigkeit ist. [ . . . ] In der Kontrastierung von Heiligem und Nichtheiligem wiederholt sich der formale Widerspruch von selbstentfremdetem Individuum und sinnstiftender Erlösung zu kultureller Einheit. [ . . . ] So herrschen [bei Enthaltung von inhaltlichen Bestimmungen] die rhetorisch verstärkten, konstatierenden Wendungen vor: ,Es ist kein Zweifel . . . ! , , . . . es gibt Augenblicke ...', , . . . können wir freilich nichts . . . beitragen . . . . Haß . . . , welcher aber so alt ist als es je Sehnsucht nach Kultur gab"'. (135)

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lehrung aus sich nehmen muß und weil er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient" . 13 °

An dieser Form, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit als nicht überspringbare Vermittlung und Verpflichtung abzublenden, wächst Nietzsches „Macht der Wirklichkeitsverachtung" 131 wie ihr Korrelat, der Zwang zur Doppeltheit von Selbst- und Weltverklärung. „Nietzsches Bildungsreflexion gehört in die Geschichte der nach 1848 verinnerlichten Kulturrevolution".132 Sie demonstriert dank ihrer offensiven Radikalität die Wurzeln megalomaner Selbstmachtsteigerung und totalitärer Wirklichkeitsdeutung präziser als die Verklärungsstrategien der unkritisch idealistisch gebliebenen Philosophen, die sich in der Zone der Vermeidung von Konflikten einzukapseln suchten. Wie sehr Nietzsche bereit war, das Zentrum der Konflikte aufzusuchen, ist an seiner unablässigen und mit einem großen Aufwand an Information und Reflexion vorangetriebenen Auseinandersetzung mit dem Anthropomorphismusproblem abzulesen. Hier kommen jene sprachlichen Verhaltens- und Deutungsweisen zur Wirkung, die nun als Voraussetzungen der totalisierenden Denkhaltung zu untersuchen sind.

130 Zit. nach Kokemohr 138 ( = G O A I , 350). 131 Kokemohr 138. 132 Kokemohr 139.

III. Die Etablierung der nihilistischen Skepsis Mit der Analyse von zentralen Begriffen und ihren Verwendungen in der ersten Phase von Nietzsches Denken haben wir nicht nur Widersprüchlichkeiten auf der semantischen Ebene zu verdeutlichen gehofft, sondern zugleich die Bedingungen des Einsatzes dieser Dysfunktionalität im Verlauf des Textes. Die intendierten Entgrenzungen und Verschmelzungen stehen im Kontext einer vorentworfenen, dann durch die Kritik der Metaphysik fordernd zu sich selbst kommenden Begründung der Ästhetisierung der Kultur — in deren Gefolge erst die redundanten Mittel der Ästhetisierung naturphilosophischer ,Begriffe' verständlich sind. Infolge der Totalitätsintention werden nicht nur in der GT „divergente Entwürfe" 1 zusammengeklittert, sondern die Klitterung zieht sich ins Medium des Textes als rhetorische Strategie u n d als philosophischen Zweifel an ihm selbst hinein. Das Mißlingen des Paradigmas „Musik" als eines diskursiven (philosophischen) Mediums realisiert sich als Zusammenbruch der Kulturgläubigkeit und als Auflösung dialogisch und diskursiv konsistenter Sprache.2 Insbesondere die mit der Wahrheitsthematik befaßten Aufsätze lassen Begründungszusammenhänge zwischen Kulturutopie und Ausweglosigkeit der Kulturkonzeption an der ,egologischen' Struktur der Zeitauffassung hervortreten. In dieser wirkt der Widerspruch zwischen verklärender und desillusionierender Kulturkonzeption, den man als zentrales Movens von Nietzsches Produktivität ansehen darf. Hat Nietzsche in seiner Frühphase die Lebensproblematik von „Wahrheit" zwischen affirmativem und tragischem Pathos einerseits und stoischer Frustrationstoleranz anderseits aufgerollt, so läßt sich der Übergang zur mittleren, positivistisch und relativistisch akzentuierten Phase als Raum jener Radikalisierung sehen, in dem die systematische Reflexion des Sprach- und Wahrheitsbegriffs die bewußte Umstellung auf metaphysikkritische ,Wissenschaftlichkeit' bringt. Jedoch kennzeichnen Vor- und Rückgriffe das ex1

2

So Rupp, Rhetorische Strukturen 58: „Der Text der ,Geburt' klittert divergente Entwürfe zusammen unter dem Zeichen der Zwangsform des Gesamtkunstwerks attische Tragödie: eine ephemere gebrechliche Einheit, die für die Fortentwicklung des Werkes weniger zukunftsweisend als die unter ihr fortwirkenden Antagonismen der Entwürfe gewesen ist". „Umkehrung" der Metaphysik und Metaphorisierung der Diskursivität kommen — darauf verweist audi Rupp a. a. O. — in den Entwürfen im Umkreis der GT im Kontext der Hierarchisierung der Sprache durch die Musik vor.

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perimentierende Denken Nietzsches so sehr, daß es verfehlt wäre, proselytischeindeutige Wandlungen anzunehmen, die sich in tendenziell eindeutigen Texten niederschlügen. Es mag mit Nietzsches Sensibilität für die Kulturproblematik zusammenhängen, daß er den radikalsten der Wahrheitsaufsätze, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn", unveröffentlicht hielt — er modite sich dessen nihilistische Konsequenzen vielleicht selbst noch nicht eingestehen. Nihilismus als Verlust des Glaubens an den verklärenden Schein wird darin im Zusammenhang der Anthropomorphismus-Thematik als Verlust des unmittelbaren Rapports zwischen Mensch und Welt gedeutet. Damit stellt sich auf vertiefter Schicht erneut die sprach- und erkenntnistheoretische Frage, ob Bewußtsein genetisch bzw. systematisch begründbar sei, wobei sich die weitere Frage nahelegt, wieweit eine solche Begründung mit Reduzierbarkeit gleichzusetzen wäre.

1. Anthropomorphismuskritik und ihre Aufhebung in totalisierter Sprachskepsis Die Bedeutung der Mischungsphase von Idealismus und Idealismuskritik in der Mitte der siebziger Jahre liegt darin, daß aufgrund der beiden wesentlichen positionsverschiebenden und -verschleiernden Axiome, der dialektischen Genesis und der verklärenden Illusion, eine Reihe von Begriffen, die normalspradilich opponent sind, in synonyme Nähe treten. Das konnte bereits am Begriff der Illusion festgemacht werden: sie gewinnt über das metaphorische Gelenk, eine Form der Lebenssicherung zu sein, Kontakt mit „Erkenntnis", von welcher Nietzsche dasselbe aussagt. Er pflegt nur die Beziehungsebenen auszusparen. Illusion gewinnt dabei deshalb erkenntnisrelevante Werte, weil sie den Status einer für Kultur unabdingbaren Einstellung einnimmt. Sie tritt über Philosophie als einer graduell erkenntnismildernden, wissenschaftliche Radikalität und „Unersättlichkeit" „bändigenden" 3 Instanz mit dem Erkenntnisbereich in Beziehung. Nietzsche denkt in dieser Zeit Naturwissenschaft als die radikalste Praxis von Erkenntnis, unterscheidet sie vom philosophischen Denken wesentlich durch die Gewichtigkeit ihrer Objekte: diesem sei das „Große" vorbehalten, das Menschlidi-Übermenschliche im Sinn des höheren Selbst, das Wesen anthropologischer Erkenntnis. An diese bindet aber Nietzsche gleich3 Vgl. eine zusammenhängende Notiz aus dem Umkreis der Diskussion des Wechselverhältnisses von Wissenschaft, Philosophie und Kunst: „Die Illusion nötig für das empfindende Wesen, um zu leben. / Die Illusion nötig, um in der Kultur fortzuschreiten. / Was will der unersättliche Erkenntnistrieb? — Jedenfalls ist er kulturfeindlich. / Die Philosophie sucht ihn zu bändigen, ist ein Mittel der Kultur". (Zit. nach Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 38.)

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zeitig die Naturwissenschaft zurück; sein Erkenntnisinteresse ist festgelegt auf das die antike, „große" Philosophie motivierende „Erkenne dich Selbst": „Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf dem ungeheursten Umwege immer zum Menschen zurückzukommen. Das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos, um am Ende zu sagen ,du bist am Ende, was du bist'". 4

Eine solche Textstelle belegt in ihrer Struktur aus eigenständig wirkender Reflexion und Zitat- und Toposverwendung eines der wesentlichsten synthetischen Modelle der Urteilsbildung: Eine apodiktische Allaussage formuliert Erkenntnis als Einschränkung (einer weiter ausgreifenden Annahme: eines Wissens, das eigentlich nur Glaube sei). Dabei sind die Partikel „alle" und „nur" sich gegenseitig verstärkende Totalisierungshilfen. Die Beifügung des bildungssprachlichen Bildes und des Zitats bindet die zu leistende Erkenntnis wieder zurück (auch wenn die betreffenden Kulturtopoi in Umkehrung vorgeführt werden) an die Anschaulichkeit bzw. Vorverständlichkeit mythischer Modelle (einschließlich der erkenntnissperrenden bzw. -aufhebenden Tautologie). Schlechte hat die betreffenden Texte als Ausdruck der grassierenden Erkenntnisskepsis untersucht, die mit der zeitgenössischen Anschauung zusammenhängt, daß wahre Erkenntnis sich der „Übertragung" von menschlichen Anschauungsformen, Werten usw. auf das Außermenschliche zu enthalten habe. Wenn Nietzsche in dem letzten Aphorismus die tautologische Selbsterkenntnis als Fazit der Anthropologie bestätigt, verweigert er sich der wesentlichen Erkenntnisdifferenz — die Verallgemeinerung schlägt auf den Ansatz der Frage zurück und löst sie auf. Nur aus dem Generalisierungszwang mit der Zielfixiertheit des Nietzscheschen Denkens auf ,Allerkenntnis' ist zu verstehen, warum die Fülle fruchtbarer Ansätze, in ihr Gegenteil umschlagend, für reale Erkenntnis ergebnislos wird. Das Allurteil diskreditiert Nietzsches Kulturkonzeption. Das dokumentiert eine Stelle, welche die Triftigkeit eines Urteils spezifiziert nicht mehr duldet, sondern die verallgemeinerte Aussage erzwingt: „Von Thaies bis Sokrates — lauter Übertragungen des Menschen auf die Natur — ungeheure Schattenspiele des Menschen auf der Natur, wie auf Gebirgen! Sokrates u. Plato, Erkennen und Gut universal" . 5

Einsicht in die Übertragungshaft gewonnene Universalität des menschlichen Erkenntnistriebes versteht sich hier zwar kritisch, sie realisiert Kritik jedoch 4

5

Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 39. Der argumentative Gebrauch, der hier von einer scheinbar temporalen Form des Makrokosmosgedankens gemacht wird, ist Antizipation — bzw. Präsenz — jener Kreis-Zeitlidikeit, zu der Nietzsche in der Spätphilosophie sich bekennt, nachdem sie längst praktiziert ist. Im Bild oszillierenden Schwellens wird — naturgleichnishaft — qualitative Veränderung überhaupt unterdrückt. Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 40. Über die ruinöse Rezeption des Höhlengleichnisses als Abwehr von Realitätsbeschreibung wäre unter gleichzeitig sprachkritischer und geschiehtstheoretisdier Reflexion zu handeln.

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nicht, da sie dieselbe sofort totalisiert, dadurch umfunktioniert in ein affirmatives Moment. Aus dieser Art der Umwertung ist ein wesentliches Versäumnis des Nietzscheschen Denkens abzuleiten: die Auflösung der Möglichkeit, den bestimmten Widerspruch im Kontinuum der Kulturentwicklung als positive Negation vergangener Phasen zu denken. Die bloßen widerspruchsfreien Gradationen und Stufungen widerlegen in ihrer Einheitserfaßtheit das wahre Moment von Evolution. So heißt es denn am Ende dieses Eintrags, in dem die verschiedenen Ausprägungen des universalistischen Deutungswillens der griechischen Philosophen notiert wurden, zusammenfassend und glattbügelnd: „Die Philosophie ist die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir durch anthropomorphische Illusion mit der Natur verkehren". 6

fortwährend

Nietzsche deutet kritische Einsicht zur Affirmation des Negativen um, wenn er die Differenz zwischen Mythus, Religion und Philosophie einebnet zum bloßen Ausdrucksunterschied für ein und dasselbe an anthropologischem Befund: „Die Religionen sind nur unverhülltere Ausdrücke".7

a) Wahrnehmungs- und Metapherntheorie Hat Nietzsche die Lügenbedürftigkeit anthropologischer Selbstauslegung in seiner pathetischen Phase (der GT) im Rahmen und mit den Vorgaben der Schopenhauerschen Metaphysik der Kunst als Grundlage der Erneuerung deutscher Kultur thematisiert, so enthielt dieses Fundament selbst kulturhistorisch fiktive Voraussetzungen wie die Annahme der pleromatisdhen Existenz des dionysischen Griechentums oder der synthetischen Einheit ihres tragischen Lebenswiderspruchs. Soweit Nietzsche diese historische Rückverlegung der anthropologischen Vorbilder weiterhin reflektiert, kommt er zur Explikation ihrer

6 Ebd. ι Ebd. Volkmann-Schluck kennzeichnet im Vorwort zu seinen Nietzsche-Studien („Leben und Denken") die Einheit und das Wesen „von Nietzsches Denkweg" als „die konsequente Entfaltung der zur unbedingten Anthropomorphie gewandelten Metaphysik. Die äußerste und letzte (von der Nietzsche-Interpretation immer noch kaum beachtete) Entfaltungsphase der Anthibpomorphie ist der Untergang der Metaphysik in die ihr unbekannte Wahrheit des Seins". Er sieht die „durch keine Wissenschaft zu erreichende Aktualität Nietzsches" darin, daß die „in dem Lebenswillen gegründete und dadurch erst ganz zu sich selbst entlassene Wirklichkeit alles Wirklichen für ihre Bestandssicherung eine wahrheitslose Metaphysik braucht und gebraucht, deren Wahrheitslosigkeit sich heute im Denken in Ideologien noch vordergründig verbirgt, und die modernen Wissenschaften zugleich nicht nur in ihren Dienst nimmt, sondern sie um der Selbstsicherung willen in ihrem Wesen dergestalt umprägt, daß sie in der Gestalt der Naturwissenschaften das Wirken der Natur und als Sozialwissenschaften das geschichtliche Wirken der menschlichen Gesellschaft durch [ . . . ] vermögen". (1. c. 7)

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sprachgeschdchtlichen Bedeutung. Er führt sie formal als Stufenmodell durch, ohne die jeweils bestimmbare Differenz herauszuarbeiten. Innerhalb ihrer kulturanthropologischen Applikation verändern sich nun die von Nietzsche verwendeten linguistischen Begriffe, über deren philologisch exakte Bedeutung er zwar unterrichtet war, die er aber im Zuge des „philosophischen" Generalisierungszwangs und des kulturaffirmativen und wissenschaftsfeindlichen Überbietungsbedürfnisses bis zur Unbrauchbarkeit universalisiert. Einige der ästhetischen und philosophischen Grundbegriffe bleiben auf der lebensphilosophischen Stufe axiomatisch topisiert. So der Anschauungsbegriff, der in einem kritischen erkenntnistheoretischen wie in einem affirmativen philosophischen Gebrauch erscheint. Die Chance, ihn wahrnehmungstheoretisch zu präzisieren, bleibt unrealisiert, weil die synthetische Überformung des kritischen Gedankens jeweils den ,philosophisch-totalen' Modus des Begriffsgebrauchs vorzieht. „Unsere Anschauung bereits durch Begriffe modifiziert. Begriffe sind Relationen, nicht Abstraktionen 1. Metaphern beziehen sich auf Tätigkeiten 2. Bilden unter sich ein System, festes Grundgerippe bilden Zahlen 3. Der Kern der Dinge, das Essentielle drückt sich in der Sprache der Zahl aus 4. Worin beruht das Beliebige bei den Metaphern?" 8

Die Notiz führt in der aphoristischen Verhüllung sehr wichtige Umkehrungen und „Stops" der Fragestellung vor. Liefern die ersten beiden Sätze sinnvolle synthetische Urteile, so zeigen die folgenden zunehmend bis zu Punkt 3 eine Sprachverwendung der metaphorischen Verhüllung. Punkt 1 deutet die Praxisrepräsentanz metaphorischen Sprechens an und hängt so mit der Lebenstheorie der ersten beiden Urteile zusammen. Das zweite Moment wechselt aber zur rein theoretischen Ebene über: Sofern den Metaphern Systembildung unterschoben wird, verliert ihr Begriff seine wesentlichen Bestandteile und seine Anwendbarkeit; denn zu ihm gehören jedenfalls semantische Anomalie, Systemokkurrenz oder Innovativität, die sich als Abweichung vom usuellen Wortgebrauch oder als Relation eines Kurztextes in einem konterdeterminierten Kon-

8 Zit. nadi Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 36. Zur abstraktiven Aufhebung von semantisch und operational festgelegten Begriffen vgl. eine analoge Stelle, ibd. 47, wo Nietzsche pauschal feststellt: „Alle Naturgesetze sind nur Relationen eines χ zu y zu z. Wir definieren Naturgesetze als die Relationen zu einem χ y z, davon jedes wiederum uns nur als Relationen zu anderen χ y ζ bekannt ist". An diese Formulierung freischwebender Relationalität, die mit .Naturgesetz' nichts zu tun hat, schließt sich die Annahme des Tautologiecharakters des Erkennens an, die textgenetisch als reflexives Fazit der frustrierten Erkenntnisbemühung zu deuten ist.

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text beschreiben läßt.9 Indem Nietzsche (eine Beobachtung, einen Vorwurf an die Metaphorik?) „systematisiert", totalisiert er den zur Frage stehenden Begriff: »Metapher* tritt aus der linguistischen Verwendungsebene heraus und bezeichnet nicht mehr eine besondere, beschreibbare und in ihrer Innovativität auf ein schon bestehendes Sprachsystem zurückbezogene Form sprachlicher Relation im sprachlichen Tätigkeitszusammenhang, sondern wird zur anthropologischen Leerformel. Eine solche katachretische Umdeutung kommt häufig vor, und zwar dann, wenn ein in einem Subsystem definierter Begriff in das übergreifende System übernommen wird, aus dem das Frageinteresse stammt und in dem er nun Totalaufgaben bewältigen soll. Nietzsches Frageinteresse ist im Umkreis dieser Notizen etwa anzugeben mit: ,die Möglichkeit wahrheitsrelevanten Welterkennens in den kulturellen Systemen Philosophie, Kunst und Wissenschaft'. Aus dem fälschlich applizierten Begriff des „Systems" erwächst als zusätzliche, explizierende Katachrese zur Metapher der Einsatz des Zahlbegriffs, der dabei kennzeichnenderweise über ein Naturbild erfolgt. „Grundgerippe", „Kern der Dinge" sind biomorphe Metaphern der gängigsten Trivialsprachphilosophie; sie stehen in Nähe zur romantischen Tradition wie der katachretische Topos „Sprache der Zahl". Mit diesem Endpunkt substitutioneller Fehlableitung ist die mit Punkt 2 eingebrachte Aporie offengelegt: was zur abschließenden', inhaltlich jedoch die ganze Ableitung rückwärts in Frage stellenden Problematisierung des unterschobenen Begriffs des „Systems" in seiner Anwendbarkeit auf Metaphorik führt. Eine Vielzahl von Notizen dieser Zeit belegt die mißbräuchliche Totalisierung des Metaphernbegriffs. „Der Mensch als Maß der Dinge ist ebenfalls der Gedanke der Wissenschaft. Jedes Naturgesetz ist zuletzt eine Summe von anthropomorphischen Relationen. Bes. die Zahl: die Auflösung aller Gesetze in Vielheiten, ihr Ausdrude in Zahlenformeln ist eine μεταφορά, wie jemand, der nicht hören kann, die Musik u. den Ton nach den Chladnischen Klangfiguren beurteilt". 10

Der Text stellt vor allem das grundsätzliche Problem klar, daß es sich bei Nietzsches Übertragungszwängen im Grunde um die Unfähigkeit handelt, sozialpragmatische Geltungsebenen für bestimmte konventionell fixierbare Wertungen anzuerkennen. Der negative Vergleich supponiert im Vorgriff die totale Negation. Sie kann nur unterstellt werden, wenn grundsätzlich die Differenz von Konstitution (eines Begriffs, einer Geltung), und Abweichung (Varianz, » Vgl. zur Metapherntheorie ergänzend etwa J. Koppersdimidt, Rhetorik (1973), S. 170: „Die für Figuren typische Standardabweidiung realisiert sich in dieser Figur als Verlagerung [ . . . ] der Primärbedeutung eines sprachlichen Zeichens oder [ . . . ] als die Übersetzung eines Wortes aus einem gewissen natürlichen (gewohnten, hochfrequenten) Zusammenhang in einen künstlichen". 1° Zit. nach Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 44 f.

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Opposition im Gebrauch) ausfällt. Wenn mit anderen Worten zwischen der objekt- und der metasprachlichen Funktion kein Unterschied gemacht wird. Das Ergebnis liegt in Nietzsches Erkenntnistheorie vor: sie ist vom Ausfall der (je nur in der Absicht der Kommunizierenden zu bestimmenden) metasprachlichen Funktion geprägt.11 Nietzsche hat die allgemeine Sprachnot des Philosophierens erkannt, aber indem er sie nur als allgemeine reflektiert, bindet er die möglicherweise befreiende Entdeckung an den Totalanspruch des Philosophierens — woraus sich die äußerst rekurrenten Formulierungen von „Wahrheitspathos in unserer Lügenweit" 12 (Hervorhebung von W. G.) ableiten lassen. Da Nietzsche — etwa in der Anwendung des Metaphernbegriffs auf „Naturgesetze", auf die „Formelweit" — j e d e Relation als dysfunktional, als ,Irrelation' ausgibt, zerschlägt sich die Voraussetzung für Relativierungen, nicht zuletzt für die Selbstrelativierung in einem den Widerspruch des Anderen gestattenden, ihn zur Bedingung setzenden Dialog. Der Zusammenstoß Nietzsches mit dem Bewußtwerden der in den Sachproblemen liegenden S p r a c h probleme wird offenbar in zwei gewaltigen Reaktionsmustern ausgelebt: einerseits in der Entfaltung der Relations-Negationen bis hin zu den diversen „Nihilismen" von Wahrheits-, Wertungs- und Moralrelationen, anderseits in der Bestätigung und Hypertrophierung einer im Zusammenstoß schon bestehenden rhetorischen Sprechsituation. Wir möchten Nietzsches „Umkehrungen" als Bewegungen zwischen diesen beiden Reaktionsmustern verstehen, was für die Problematik des Sach/SprachBezugs bedeutet: Nietzsches Texte realisieren sich als Wechselspiele und Wechselschläge zwischen aggressiven und defensiven ^Anstößen', die in immanenten Rückschlägen zum referenzlos werdenden Geflecht von Selbstbeziehungen dieser Bewegung werden, aber keine .Durchdringung' der Sachen gestatten. Sicherlich sind objekt- und metasprachliche Reflexionsebene (vielleicht mit neurotischer Pausenlosigkeit) „aktiviert", aber sie zeigen sich unfähig zur Kooperation, was unseres Erachtens zunächst an den Mängeln der objektsprachlichen Ebene, dann an der „Welt"-Überforderung der philosophischen Ebene liegt. Die allgemeine Verstelltheit des sprachlich-kognitiven Zugangs zur Welt löst sich in ein selbst lügenhaftes „experimentierendes Philosophieren" auf. Den Ii Koller geht in wissenschaftstheoretischen Vorüberlegungen zum Metaphernproblem auf die historisch höchst relevante Bedingung traditionell natürlicher Umgangssprache ein, sidi meist „eindeutig intentional auf außersprachliche Sachverhalte" zu richten. „Solche Sätze dürfen in keiner Weise von Sprachnot tangiert werden oder in irgendeiner metasprachlichen Weise die potentielle Inadäquatheit ihrer sprachlichen Manifestation mitreflektieren. Die Bewußtseinslage, in der solche Sätze produziert werden, muß sprachlich unkritisch und intentional kontemplativ sein, eine Bewußtseinslage, die ja auch dem klassischen Weltbild weitgehend entspricht, wo das denkende Subjekt gleichsam aus extramundaner Position die Welt betrachtet". (Semiotik und Metapher 46f.). 2 ι Vgl. Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 43, 44, 45, 46.

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negativen, „erborgten Glanz, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention": nämlich „metaphorischer Anschauungen" 13 verliert es dabei nicht. Zu ihm gehört die vielfach festgestellte, in ihrer sprachtheoretischen Relevanz kaum ausgewertete Tatsache, daß die für die Negations-, Lügen- und Nihilismus-Problematik poetisch-rhetorisch signifikanten Texte Nietzsches dem Sprecher gerade die im Sinn Kollers extramundane — und extrasoziale Situation zuweisen. Wir sehen darin genau die ,bildliche' Realisierung der denkgeschichtlichen Situation Nietzsches an der Trennstelle zweier Paradigmata.14 Das Bild schlägt sich im hilflosen Bildbewußtsein als opaker unvermittelbarer ,Gegenstand' nieder. In dieser Allgemeinheit kann der Metaphernbegriff funktionsgleich mit Mythos und „Sprachglaube" werden. Damit ist jeder rationale Zugang zum Wesen des Metaphorischen erschwert, und der Vorwurf des „Glaubens" — als einer defizienten Form des Wissens bzw. des Zugangs zu Wahrheit — erhält mit seiner entillusionierenden Kritik ineins seine apodiktisch-universale Rehabilitation. In der völlig generalisierten Metapherntheorie des Aufsatzes „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" realisiert Nietzsche, was er angesichts der kosmischen Situation des Menschen als desillusionierende Relativierung beschreibt, für den Sektor der Selbstrepräsentation der Menschheit. So wenig sich die Teleskopaugen des Weltalls auf ihn wenden, behält die Sprachlichkeit menschlicher Kultur ihre ontologisch-erkenntnistheoretische Dignität.15 υ I I I , 321. Vgl. u. folgende Seite. η Vgl. dazu o. S. 72 f., wo unter dem gewonnenen Aspekt klar wird, daß der philosophiesprachliche „Erscheinungs"-Begriff wesentlich zur Möglichkeit beigetragen haben dürfte, daß an sich fortgeschrittenes philosophisches Sprachbewußtsein auf die Trivialität der Freude und Selbstbefriedigung „an diesem Erscheinungswedisel" zurückfallen konnte. Die bedeutendsten Beispiele sind die Parabelerzählung vom toten Gott und die sowohl in „Das Pathos der Wahrheit" wie in „Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" aufgenommene Passage, die sich als Fabel-Vorschlag versteht (ihr Beginn: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls" . . . ) . Positionsentwertung: Ausgesetztheit, und Zielentzug: Zufälligkeit sind als Motive derartiger nihilistischer Bild-Gedanken auch in kürzesten Notizen enthalten, wobei man den Kontext der paradoxen Metaphorik des Menschen als höchst pathetischen Tieres" zu berücksichtigen hätte. (Vgl. dazu mehrfach bei Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 43 f., 103, mitgeteilte Eintragungen sowie u. S. 124 ff. is In der kulturkritischen Rhetorik des verallgemeinerten Vorwurfs, der gleich fürs ganze historische Geschlecht gilt, verwischt sich der Unterschied zwischen Kritik und anthropologischem Befund: Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel [sie war vorher als Deutung des Raubtiers und seines Daseinskampfes naturtheoretisch begründet worden]: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glänze leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel [ . . . ] , daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte". ( I I I , 310) In der Revue der Eitelkeit kommt toposhaft eine große Menge zentraler Nietzschesdier Bilder des philo·

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Der dritte große Absatz des Aufsatzes stellt die generelle Frage: „Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?" 16 Auch hier ist festzustellen, daß Nietzsche schon in der Frage die Möglichkeit ihrer Beantwortung durch vorgreifende Totalisierung ausschließt. Und im Prozeß des Textes ging dieser rhetorischen Frage denn bereits die implizite Gleichsetzung von Lüge und Wahrheit voraus, und zwar in der zunächst skeptisch-kritischen Reduktion des Wahrheitsinteresses auf das Übervorteilungsinteresse, in welchem gewöhnlicher Betrüger und gewöhnlicher Mensch sich gleich finden. Der betreffende Absatz praktiziert textlich nichts anderes als die Reduktion eines Erkenntnisinteresses auf das Interesse der „Lebenserhaltung"; mit dieser Figur werden die Opponenten „Wahrheitssuche" und „Lüge" gleichermaßen identifiziert: „In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit: er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit" ,17 Im verklärenden, vergessenmachenden und übervorteilenden Täuschungscharakter, auf den hin Nietzsches Egoismuskritik Kommunikation nivelliert, übersteigert sich eine heuristisch sinnvolle Sprachskepsis zur Skepsis an der Möglichkeit einer zunehmenden Adäquation sprachlicher Zugriffe und erkennbarer Welt. Schlechta teilt ein interessantes Metaphernspiel Nietzsches mit, in dem der ruinöse Einsatz des Metaphern- und Bildbegriffs als metaphorische Übertragung von Naturerkenntnis auf geisteswissenschaftliche Theoriebildung sich belegt. Sind „binnen kurzem auch die Vorsokratiker in diese erkenntnistheoretische Skepsis hereingerissen worden", so „muß ihn bereits der Gedanken beschlichen haben, ob es sich nicht auch hier [im Festhalten am Wert einer quietiven philosophischen Weisheit] um edn sehr menschliches Bilderdenken handle, so daß zuletzt nur die Frage übrig bleibe, welcher Art von Bildern man Dauer zu wünschen habe. ,Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus recht: das kräftigere Bild verzehrt das geringere'".18 Nietzsche fällt zwischen generelle Kritik und generelle Verklärung in seiner Konzeption sprachlich-kritischer Weltbewältigung, und die Mitte davon ist sophisdien Nihilismus zur Nennung. — Röttges stellt fest, „die Problematik einzelnes Seiendes — allgemeiner Begriff" sei „für Nietzsche unmittelbar im Sinne des Nominalismus entschieden" (Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung 83). Unabhängig von der Frage, ob hier die Zuordnung der nominalistischen Position philosophiegeschichtlich zu modifizieren wäre, ist doch die Feststellung zutreffend, Nietzsche mache es seine „in diesem Stadium seiner philosophischen Entwicklung unreflektierte Vorstellung von Wahrheit unmöglich, in der Metaphorik der Sprache mehr als nur pure Unwahrheit zu sehen". Nietzsches „unmittelbare Gleichsetzung der Sprache mit einem Zeichensystem" hebe sidi selber auf dadurch, „daß sie selbst nicht mehr als eine Zusammenstellung von Zeichen zu sein beanspruchen kann". (Ebd.)

16 111,311. 17 Ebd. 18 Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 39. Dieser Satz steht auf derselben Seite wie das vorhin zitierte Makrokosmoszitat mit seinem tautologischen Resignationsschluß.

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Tautologie. Diese Konsequenz wird zu Beginn von „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" sofort als anthropologischer Befund ausgesprochen: Wenn der Mensch „sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie, das heißt mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln"."

An dieses Axiom schließt sich der wichtigste Entwurf einer Sprach- und Erkenntnistheorie des jungen Nietzsche an, dessen defizitäre Ergebnisse kurz beleuchtet werden müssen, um die Etablierung der totalen Skepsis unterm Namen des „Perspektivismus" und die Ambivalenz der Hermeneutik verstehen zu können, die ihren sprachpraktischen Beitrag zum Nihilismusproblem bei Nietzsche sehr viel deutlicher geliefert haben, als es eine auf Aphorismenexplikation zuredhtgeschliffene Philologie und Philosophie wahrnehmen wollen. b) Negative Theorie der Sprach- und Begriffsentstehung Nietzsches Skizze der Wort- und Begriffsentstehung bedient sich umgangssprachlicher und trivialer Vereinfachungen der transzendentalistischen Erkenntnislehre, bei welchen jede Prädizierung auf bloße, weder sprachtheoretisch noch erkenntniskritisch begründete „Subjektivität" zurückfällt. Am Beispiel der Einteilung der Pflanze in „männlich" und „weiblich" macht er das Wesen der anthropomorphen Übertragung fest — behauptet also dort eine Analogie, wo eine Homologie vorliegt. Noch krauser und in „Umkehrung" verfälschender ist sein drittes Exempel für die Unwahrheit von Worten. Er abstrahiert den Realbegriff „Schlange" auf Bezeichnung für „das Sichwinden" und stellt dann fest, das „könnte auch dem Wurm zukommen". Mit der Abstraktion des Realbegriffs kommt er auf eine — später von Heidegger analog strapazierte — ,Eigentlichkeit' des zugrundliegenden Wurzelsems „sich schlingen" und glaubt damit den kritischen Kontrast für die Willkürlichkeit herausgefunden zu haben, daß man gerade die Schlange „Schlange" nennt und nicht vielleicht ein Schiffstau oder den Wurm. Ihm fehlt eine Vermittlungsschicht bei der Relation von Wort und Bezeichnetem, was erkenntnistheoretisch dann die These von der generellen Unbrauchbarkeit eben des Abbildcharakters von Sprache und Wirklichkeit erzeugt. Als psychologisierenden Beleg für die generell behauptete Feststellung, 19 III, 312. Vgl. dazu u. S. 123 über die politische Bedeutung der Metapher. 20 1,312. Der Text ist rein persuasiv strukturiert. Sein Erkenntnismodell ist auf der Ebene der topischen Axiomatik ein pures Abbildtheorem, dessen Unhaltbarkeit von Nietzsche hochstilisiert wird zur Unerreichbarkeit von Wahrheit überhaupt. Ein halbwegs zutreffender und sinnvoller Wahrheitsbegriff liegt hier nicht vor; das Wort meint u. a. folgen-

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„daß es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt", setzt er den Hinweis auf die Vielfalt der Sprachen ein.20 Die unglaublichen Mißgriffe dieser Wort- und Bild-Philologie bleiben selbstverständlich weit hinter den linguistischen Erkenntnissen zurück, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Allgemeingut eines Philologen oder eines Professors weicher Sprachkunde audi immer vorauszusetzen sind. Wieweit ein Gefühl davon — nach dem einschlägigen fachwissenschaftlichen Mißerfolg der permanenten Begriffsübertragung und Adäquationsflucht der GT — Nietzsche bewogen habe, diesen allerdings hochsubjektiven Text vor der Veröffentlichung zu bewahren, kann nicht ausgemacht werden. Um die synästhetische ,Kunst' der Metaphernphilosophie des jungen Nietzsche abschätzen zu können, ist der Blick auf die Verwendung des Bildbegriffs zu richten. ,Wort' wird als „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten" 21 definiert. Im Folgesatz wird, entsprechend einer frei ausgelegten Schopenhauerschen Erkenntnishypothese, der Schloß, ,Nervenreizung' impliziere eine außersubjektive „Ursache", als „das Resultat einer falschen [ . . . ] Anwendung des Satzes vom Grunde" zurückgewiesen. Nietzsches explizit nicht entfaltetes, aber implizit angedeutetes Gegenmodell einer semiotisdh differenzierten Erkenntnis leidet unter der topischen Synonymisierung von Bild- und Zeichenbegriff. Wenn Nietzsche sagt, die Empfindung „hart" sei uns nicht anders als „subjektiv" bekannt, impliziert er entweder die generelle Tilgung von Subjektivität als Voraussetzung möglicher Erkenntnis oder die Ausschaltung der semiotischen Vermittlung von Erkenntnis. Mit einem erneuten Einsatz geht er vom „Nervenreiz" aus: der (rein hypothetische, offensichtlich nach einem Ur- und Geniekonzept verbalisierte) „Sprachbildner" verzichte auf die Relation zum „Ding an sich" (damit wird der erkenntnishemmende, antithetische Funktionscharakter dieses idealistischen Konstrukts für die Epigonen greifbar) und bezeichne „nur die Relationen der Dinge zu den Menschen". Damit wird die vermeintlich anthropomorphe Struktur der Semiotik generell vorausgesetzt. Die Tätigkeit des Sprachbildens entfaltet sich denn auch mit ständiger Übertragung des Bildbegriffs: „Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher". Die Sprachbildner seien zum „Ausdruck" der anthropomorphischen Relationen auf die „kühnsten Metaphern" angewiesen. Die zweite Stufe der Sprachbildung ist des: 1) Wahrhaftigkeit 2) Wahrheit als erkenntnisprozeßunabhängiges Beisichsein der Identität von ,Welt' mit sich selbst 3) Wahrheit als unhinterfragbare „Gewißheit bei den Bezeichnungen", also statische soziale Präsenz der Zeichenkonvention. Nicht umsonst lautet eine zwischen die irrelevanten Problemstellungen geschobene Interjektion: „Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewißheit." Welche Bedeutung diesen Textteilen für die adäquate psychologische Mikrointerpretation des Textes zukommt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. 21 III, 312.

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völlig heterogen, kontinuumslos auf die erste zurückbezogen: „Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue". Nietzsche überspringt selbst in seiner Metapherntheorie die entscheidenste Trennung der Sphären: die von Sprache und bezeichneter Wirklichkeit. Sein Metaphernbegrifi ist sprachextern und meint die grundsätzliche erkenntnistheoretische Differenz zwischen Wirklichkeit und Zeichenwelt. Diesen Sprung exemplifiziert Nietzsche mit synästhetischen Prozessen und mit einer Abstraktion des Wahrnehmungsbegriffs: „Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den ,Τοη' nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge" P-

Nietzsche thematisiert die Problematik der Übersetzung in einer Weise, daß durch das Versäumnis der Frage nach dem, w a s übersetzt werden soll, die bloße philosophische' Abstraktion von Übersetzung in den Blick kommt; sie bleibt so leer wie der G l a u b e des seiner Wahrnehmung nicht mehr vertrauenden Perzeptors, seine Wahrnehmung unmittelbar mit einer ihm externen Zeichenwelt (im Beispiel: der dem Tauben heteronom bleibende Raum der Tonwelt) verbinden zu können. Nietzsche kritisiert in diesem Exempel den falschen Glauben und hält in den Voraussetzungen seiner Kritik an ihm fest, indem er Kritik und Wahrnehmungsdifferenz ebenso wenig expliziert wie sozialen Zeichengebrauch.23 Nietzsches kritische Kategorien fallen in jenen Naturzustand der philosophischen Abstraktion zurück, zu dem sich die im Textprozeß unkritisiert und geglaubt bleibende spekulative Erkenntnistheorie zurückentwickelt: Redet Nietz22 III, 312 f. 23 G. Rupp beschreibt unter dem Titel „kommunikative Determinanz und gesellschaftliche Kommunikation" am Ende seiner fundierten Analyse früher philosophischer Texte Nietzsches „den zentralen Perspektivenwechsel von sklavischem Sprachzweifel zur namengebenden Rhetorik" (Rhetorische Strukturen und kommunikative Determinanz, 96) und stellt abschließend fest: „Es bleiben kaum mehr als persuasive Strukturen ohne gehaltliches Zentrum und ohne in dem Kommunikationsprozess konkretisierten subjektiven Rest" (I.e. 98).

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Die Etablierung der nihilistischen Skepsis

sehe im Textsegment, das die experimentell-naturwissenschaftliche Methodik der Erkenntnisfindung zitiert — allerdings nur in der Uneigentlichkeit des Vergleichs — , von den realen Dingen selbst, so unterschiebt er diesem Ansatz in der nachfolgenden philosophischen Erläuterung, die sich als Konsequenz des solchermaßen vermeintlich allgemein Gezeigten ausgibt, den idealistischen Topos vom „Ding an sich": dies wird im Nebensatz jedoch sofort wieder seiner Fundierung im erkenntnistheoretischen Verwendungszusammenhang entzogen und erscheint als metaphorisches Objekt von verfehlter Wahrnehmung und verstellter Welterfahrung. So wenig die Kategorien „Nervenreiz", „Bild" und „Laut" sich logisch kohärent auf eine erkenntnistheoretische Ebene beziehen lassen, so wenig auf eine sprachtheoretische. Nietzsches Nichtunterscheidung von abstraktem Zeichen, ikonischem und gleichnishaftem Bild, von sprachinterner Metaphorizität und allgemeiner Semiotik dokumentiert einen bloß umgangssprachlichen Ansatz der Erkenntniskritik, der an seinen nicht ausreichend reflektierten Metaphern der Zeichenbeziehung gläubig festhält. Ihre Unzulänglichkeit deformiert die geleistete Kritik in verschiedenen Formen der sprachlichen Bewußtheit. Solche reichen von der reinen Infragestellung über die Umkehrung konventioneller Zuordnung bis zum absoluten Erkenntnispessimismus, der sich ebenso theoretisch wie anthropomorph-anschaulich oder auch selbstdestruktiv aussprechen mag. Der kritische Einblick in die weite Verbreitung des illusionär verstellenden Erkenntnisverhaltens führt in seiner Totalisierung zur Umkehr der Geltungsnorm: „eigentlich" und wesentlich wird für den Menschen gerade jene Welteinstellung genannt, der von der bisherigen Sprachkritik als einer uneigentlichen und metaphorischen nur beschränkte Geltung zugewiesen wurde. „Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet. — Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten. Er träumt er imaginiert sich Göttermenschen als Natur. / Der Mensch ist zufällig ein erkennendes Wesen geworden, durch die unabsichtliche Paarung zweier Qualitäten. Irgend wann wird er aufhören und es wird nichts geschehen sein. [Es folgt eine weitere, mit dem Weltende thematisierte Nennung der aus seiner kosmischen Zufälligkeit resultierenden nihilistischen Zweck- und „Missions^"-losigkeit des Menschen.] Der Mensch ist ein höchst pathetisches Tier u. nimmt alle seine Eigenschaften so wichtig als ob die Angeln der Welt sich in ihnen drehten" ,24 So wenig sich Nietzsche ein klares Verständnis der Kantischen Fragestellung erarbeitet hat, das einen umgangssprachlich entleerten Gebrauch des Topos „Ding an sich" auszuschließen fähig wäre, so wenig ist sein vom Moralpessimismus ausgehender kosmologjscher Nihilismus auf spezifische kognitive Fundierung bezogen. Der Grund dafür ist die noch vom radikalsten Willen zur In24

Zit. nach Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 43.

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fragestellung nicht durchbrechbare, in Schopenhauer rezeptionshistorisch am wirkungsvollsten errichteten Mauer der naturphilosophischen Irrationalismen. Wie das Zitat belegt, ist der Illusionsbegriff doppelwertig — er deckt einerseits die pessimistische Erkenntnisverzweiflung, anderseits die naturgläubige Hoffnung auf die imaginierte Einheit. Aus der Doppelwertigkeit der in dieser Phase seines Denkens etablierten kritischen Begriffe erwächst die Möglichkeit zur Ableitung auch der späteren Philosopheme und Mythologeme in der Zeit des „Zarathustra" und vor dem Zusammenbruch. Leerformelaxiome wie das der dialektischen Genesis (hier: „unabsichtliche Paarung") ruinieren die fachwissenschaftlich fündigen Ansätze zur Ableitung naturgeschichtlicher Vorgänge. Wie der latente Anthropomorphismus der Gleichsetzung von „Zufall" und „Unabsichtlichkeit" beweist, spricht Nietzsche noch in der nüchtern erscheinenden skeptischen Desillusionierung die Sprachform der anthropomorphen Illusion. Er fängt sich „in den Netzen der Sprache" ,25 ohne zu erkennen, daß diese Erkenntnis geeignet wäre, sie aufzubrechen, wenn sie sich bereitfände, den Knoten an einer Stelle zu lösen. Statt dessen verfestigt sich Kritik — im selben Ausmaß, wie Nietzsche einsieht, daß „das Hart- und Starr-Werden einer Metapher [ . . . ] durchaus nicht für die Notwendigkeit und ausschließliche Berechtigung dieser Metapher" 26 bürgt — in der wiederkehrenden und als Wiederkehr totalisierten Form ihres Glaubens an sich selbst. Belege für die kontradiktorisch doppelwertige Interpretation von .Metapher' sind in diesen Notizen an Stellen gegeben, die auf die geschichtshermeneutische Funktionszuschreibung der antiken Philosophen sich beziehen. Ward deren überdauernder Kulturwert darin gesehen, daß sie Wissenschaft in ihre Schranken zu weisen vermochten, Weisheit als Einheitsphilosophie suchten und verordneten, so wird sich Nietzsche in systematischer Reflexion auch des sozialen Funktionswerts dieser Haltung bewußt: „Der p o l i t i s c h e Sinn der älteren griechischen Philosophen, ebenso nachzuweisen als ihre Kraft zur M e t a p h e r " . 2 7 „Metapher" steht hier funktionsgleich zu dem, was die idealistische Philosophie der Kunstepoche ästhetische Imagination nannte (und auch Nietzsche noch so nennt) und was in der Verklärung als generellem Modus des psydii25 Vgl. Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 44. Aus demselben Kontext weitere Beispiele für die totalisierende Kritik: „Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existieren". „Denn alle Wissenschaften ruhen nur auf dem allgemeinen Fundamente des Philosophen". (Sperrungen von Totalisierungen von W. G.) „Der Philosoph in den Netzen der S p r a c h e eingefangen". 2 * 111,317. 27 Zit. nach Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 43.

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sehen Überlebens gipfelt, — was anderseits aber als anthropomorphe Metaphorik generell kritisiert wird. Bei der Totalisierung sowohl von Verklärung wie von Desillusionierung bleibt der Erkenntniswert auf der Strecke. Es heißt u. a. in diesen Aufzeichnungen: „Wahrheitspathos in unserer Lügenwelt. Lügenwelt wieder in den höchsten Spitzen der Philosophie. Zweck dieser höchsten Lügen Bändigung des unumschränkten Erkenntnistriebes. Entstehung des Erkenntnistriebes aus der Moral. [Man vergleiche die kontradiktorische Ableitung des Erkenntnistriebes aus det Lebenserhaltung — hier naturwissenschaftliches, dort geisteswissenschaftliches Paradigma: die Auflösungszone beider Paradigmen in der schon zitierten Gleichschaltungsmetapher vom „Zufall" als Ursprung des Erkenntniswesens Mensch.] Jede kleine Erkenntnis hat eine große Befriedigung in sich: doch nicht als Wahrheit sondern als Glaube die Wahrheit entdeckt zu haben. Welcher Art ist diese Befriedigung" ,28

Erkenntnis, die zum „Schattenspiel", zur universalen Metaphorik, zur lebenserhaltenden „Lügenwelt", zur höchsten „Illusion" geworden ist, wird von Nietzsches Sprechen praktisch strukturiert als universale Übertragung; diese etabliert sich synästhetisch in den Subsystemen der Kultur (Wissenschaft, Kunst, Moral etc.) als permanenter Wechsel der Begründungsebene. Der Wahrheitswert wird aus der theoretischen Ebene eliminiert und der psychologischen zugeschlagen. Da Nietzsche kritisch auf die konkrete Ableitbarkeit der kulturellen Universalia reflektiert, den Erfolg dieser Reflexion jedoch als ubiquitäre Desillusionierung verallgemeinert, kommt er nicht dazu, obwohl er die Beziehung sachlich ausspricht, den ideologischen Zusammenhang von Abstraktion und Weltverhüllung sprachkritisch zu durchschauen. Es heißt etwa im engsten Kontext: „Die Moralitätsinstinkte: die Mutterliebe — allmählich zu Liebe überhaupt. Ebenso die Geschlechtsliebe. Überall erkenne ich Ü b e r t r a g u n g e n " . Und dann, relevant für die Position des Autors: „Die Kultur eine Einheit". 29

Wir haben die Behauptung Nietzsches, Begriffe seien keine „Abstraktionen", bereits oben zitiert;30 es ist nun zu erkennen, daß dieses Urteil abzuleiten ist aus der Rückanwendung eines aus kritischer Reflexion gewonnenen Resultats aufs Ganze des Materials: damit verstellt er sich die bescheidene Pflicht, den a u c h abstrahierenden, d. h. die Erlebnisbestimmtheit des Lebens transzendierenden Charakter der in zivilisatorischer Hominisation entwickelten Kulturwerte anzuerkennen. Was als allzumenschlich-eitle Egozentrik entwertet werden soll — etwa das Wahrheitspathos, bleibt als bloß unbestimmt kritisiertes 28 Ebd. 44. 29 Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 44. 3° Vgl. Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 36.

Totalisierte Erkenntniskritik

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Moment lebendig. Die doppelten Vermittlungen und Begründungen verunmöglichen nicht nur die Durchführung der jeweils bestimmten Kritik, sondern auch den Zusammenschluß der einzelnen Kritiken. 31

2. Totalisierte

Erkenntniskritik

Führt man sich summierend die Reihe von Gleichsetzungen vor Augen, die Nietzsche zwischen den Gliedern der ,anthropomorphen Totalität' und der relativistisch in den „Untergang" führenden Wissenschaftlichkeit 3 2 etabliert, so wird die Bedeutung der defizienten Metaphern- und Übertragungstheorie als sprachliche Gelenkzone für die Synonymisierung des Unvereinbaren klar erkennbar: anthropomorphe bzw. transzendentalistisdie Totalität: zunächst qua Pathos affirmiert „Vormacht der innewohnenden Bilder" „Verehrung des Seltenen, Großen" (102) „Mensch als Maß der Dinge"

Übertragungszone (operationale Begriffe)

relativiert/objektivistische Realwelt und Weltdeutung: als depravierende diffamiert

anthropomorphe Erkenntnis

„die Naturwissenschaft, ohne jede Heilung und Ruhe, die Goethe fand" (100)

„Ausdruck in Zahlenformeln"

„Natur um ihn" „Wissenschaft" „Naturgesetz" 4„Zahl"

\

„Summe von anthropomorphen Relationen" „das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos"

„Zufälligkeit" aller Naturwissenschaft (39) ( = „Auflösung aller Gesetze Metaphora in Vielheiten") synchrone Interferenzzone: totalisierende Metaphorierung — dazu kommt die diachrone Interferenzzone der totalen Umwertungen:

Idealismuskritik

führt zur

Realitätsaufwertung:

„Anschauungen, die gute Zahlenverhältnisse darstellen, sind sdiön."

31 Nietzsche notiert sidi als Punkte für den „Hauptteil: das System als Anthropomorphism": „Pathos der Wahrheit, vermittelt durch Liebe und Selbsterhaltung. Nachahmen und Erkennen" . (Zit. nach Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 45) 32 Vgl. GOA X, 508: „Das Wahrheitspathos führt zum Untergang." GOA I X , 72: „Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung." (Ähnlich GOA X , 160: „Die Menschheit hat an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang.") Vgl. Schlechte/Anders 100, auf welche sich die oben beigefügten Zahlen mit Ausnahme von SA I I I beziehen.

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Die Etablierung der nihilistischen Skepsis

anthropomorphe bzw. transzendentalistische Totalität: zunächst qua Pathos affirmiert

Übertragungszone (operationale Begriffe)

relativiert/objektivistische Realwelt und Weltdeutung: als depravierende diffamiert

„Der Künstler schaut nidit .Ideen', er empfindet an Zahlenverhältnissen Lust" (114) •

Glaube

\

an Gesetzmäßigkeitssdiau doppelte „mißt die Welt an lauter von ihm selbst gesetzten Größen: an seinen Grundfiktionen ,Unbedingtes', .Zweck und Mittel', .Dinge', .Substanzen', an logischen Gesetzen, an Zahlen und Gestalten" (111,909)

an die Zahl „Verführung: Totalisierung:

an Grundfiktionen Interpretationen 4totale Subjektivität

durch Zahl und Logik" audi des Negierten „eine Weltinterpretation, die Zählen, Redinen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zuläßt, das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt, daß es keine Geisteskrankheit [ . . . ] ist" (111,909)

„überall herrschende Kraft der Illusion" (101) Durch Täuschung erfolge „Wahrheitspathos" „Metaphysikum" (46)

„Bändigung

des unumschränkten Erkenntnistriebes" „Wahrheitsphantom"

Nietzsches Denkbewegungen entsprechend muß diese Zusammenstellung in vielfachen Richtungen der Begründung gelesen werden. Mit Begründungsumkehrungen ist der Zusammenbruch der Wahrheitsfunktion in dem Modell ihrer wechselseitig vervielfachten Ableitbarkeit ausgesprochen. Wenn der Wert, in dem sich die durch die „Tartüfferie der Wissenschaftlichkeit" 33 erzwungene Partikularisierung des Lebens kultur- und menschheitsbedrohend entfaltet, wenn die „Zahl" zum Synonym der lebenserhaltenden Werte „Lüge" und „Metapher" wird, ist der Wahrheitsbegriff zur absoluten „qualitas occulta" geworden: Nietzsche überträgt seine Sprachskepsis wiederum ontologisierend auf die Natur, weil er sich umgekehrt an die Nichtexplizierbarkeit des unmittelbaren Naturbezugs klammert. Seine Theorie der Begriffsbildung unterlegt derselben „das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis", welchem sich das Wort verdanke; dadurch aber, daß es sich .anschließend' auf eine — bei Nietzsche durch kein methodisch relevantes Merkmal umgrenzte — Klasse ähnlicher Erlebnisse beziehe, werde es zum Begriff — und dieser Begriff wird von Nietzsche im folgenden als platonischer kritisiert, obgleich er ein solcher 33 111,448.

Totalisierte Erkenntniskritik

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keineswegs ist. Der Widerspruch, den Nietzsche nicht aufzulösen vermag, konkretisiert sich sprachlich als Doppelverwendung des platonistischen Suffixes „Ur": während er ein absolut individualisiertes „Urerlebnis" hypostasiert, negiert er die ontologische Ableitung des ebenso individualisierten Blattes u n d der Gesamtheit aller Blätter von einer „Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre".34

Er kritisiert damit eine bedeutende technomorphe Tradition der Kosmologie, die in den Platonischen Dialogen vorliegt, als anthropomorphes Redekonstrukt. Aber er dehnt zugleich das negative Urteil auf das Insgesamt der Bedingungen möglicher Erkenntnis aus: falsch sei „die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das 31att' wäre".

Sicherlich ,gibt es' in der Natur nicht den Begriff ,Blatt' — aber mit der nahegelegten Indifferenz von Sein und Zeichen von ,Blatt' vermischt er den theoretischen Unterschied zwischen Exemplar und Klasse mit dem realen Unterschied zwischen den einzelnen Exemplaren: Jede „Wesenserklärung" ist an Klassifikation gebunden, meint jedoch — im Gegensatz zu Nietzsches genereller, nur am Piatonismus zutreffender Kritik — nicht die ontologisch-kosmologische Genese des Exemplars aus der substanzhaften Präsenz der Gattung. Nietzsche verfehlt das Wesen der Prädikation, da er einseitig das sprachliche Unwesen des Substanzbegriffs kritisiert. Sein Sprachbegriff, der am undurchschauten Postulat anthropomorpher „Entsprechung" festhält und sich nicht mit dem sozialen Verweisen in semiotisch entfaltbaren Systemen begnügt, erzeugt Resignation gegenüber jeder Urteilsbildung. Seine großartige Umkehrungstechnik der Reflexion holt die Irrtümer der platonischen, idealistischen und sprachgläubigen Anschauungen ans Licht, bleibt aber im „umgekehrten Platonismus" und Idealismus hängen. Die fortgeschrittenste Position ist dann die der Urteilsenthaltung, die damit motiviert wird, daß der Begriff als solcher „anthropomorphisch" sei und „nicht dem Wesen der Dinge" entstamme, „wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil" . 34a 3+111,313. 34a III, 313 f. Die Fixierung ans Wesenspostulat ist trotz der wiederholten Kritik an Ausdrücken wie „Wesen", „Substanz" u. ä. im Festhalten an der Formel „an sidi" zu erkennen; Nietzsche gebraucht selbst den Wesensbegriff negativ-affirmierend: in Umformulierung des oben zitierten Potenzierens von Relationen heißt es am Ende des ersten Kapitels von „Über Wahrheit und Lüge", alle relationale Erkenntnis sei referenzlos, schwebend

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Es ist hervorzuheben, daß sich Nietzsches Axiom der konventionssprengenden Individualität als Moment seines Naturglaubens ausmachen läßt, dessen Wesen in einer naturhistorischen Projektion von Freiheitsutopien liegt: Nietzsche ängstigt die von ihm gegen den Idealismus ins Feld geführte Anschauung „von der ewigen Konsequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze" , die „nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt so sicher ausgebaut endlos, gesetzmäßig und ohne Lücken" 35 erscheint. Nietzsches Differenz von den konservativen Naturphilosophen ist zunächst darin zu sehen, daß er den Mut aufbringt, den Zusammenhang der Dinge als Zwangszusammenhang zu sehen. Aber er versucht ihn noch mit dem Gegenkonzept der Geniekultur auszuschalten: „Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müßte es doch irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen". Beide Begriffe sind also Abwehrmomente gegen die Übermacht des Realen und gehören zur Strategie der Verklärung. Was Nietzsche anschließend gegen den Zusammenhang der Dinge als Konnex von Gesetzen zu sagen hat, ist — im Gegenzug zu dessen Radikalisierung — allerdings eine Radikalität von „Wünschbarkeit", die dem höchsten Irrationalismus nichts mehr zu wünschen übrig lassen kann: „Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen".36 Im Systemzwang des egologischen Zeit- und Wirklichkeitsbegriffs nötigt sich Nietzsche dazu, einen absurd negativierten Wahrheitsbegriff für diskutabel und einen universalisierten Metaphernbegriff für erhellend zu halten. Er zieht das Fazit seiner Übertragungen: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach in sich selbst, „diese Relationen [ . . . ] sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch": verständlich sei an ihnen nur, was die anthropologische transzendentale Apriorität an sie heranbringe — eben wiederum die Relationskategorien „Zeit, Raum", „also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen" (III, 318). Damit ist verdeutlicht, daß Nietzsches Sprachtheorie vorab am Mangel bzw. an der Verdrängung semantischer Reflexion leidet. » 111,317. 36 III, 318. Auf diese Stelle folgt die Applikation der Formeln der Kantischen Transzendentalkategorien .

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langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen" .37 Nietzsche vergißt, daß der Begriff der Metapher von der Bewußtheit bzw. Systemokkurrenz ihrer Verwendung abhängt: Gesunkene und unbewußt gewordene Metaphern sind keine mehr, sondern entweder Begriffe oder deren Verhüllungen oder Funktionspartikel. Sein Vergleichsbild demonstriert, wie sehr er sich, elementar denkend, gegen den Umgang mit Elementen wehrt: die nicht in dem Prozeß der Wesenserkenntnis eingeschmolzene Münze figuriert hier — entgegen der zur selben Zeit reflektierten Ablösung der sozialen Geltungsqualität des „Ruhmes" durch die rein theoretisch fundierte des „Wahrheitspathos" — als Repräsentant eben des lebensganzheitlichen, sozial ungestörten Verwendungswertes. Sozialität ist diesen in Gedanken und Umwertungen verkleideten Bedürfnissen nur als Latenz von Befriedigung unterlegt. Wird sie bewußt reflektiert, so schaltet das Pathos des einsamen Wahrheitssudlers auf die negative Einschätzung um, und die Reflexion des theoretischen Wahrheitswertes, frustriert im Erkenntnisnihilismus endigend, von dem sie ausging, wendet sidi ,metaphorisch' dem ergiebigeren Erkenntnisinteresse an der naturhistorischen Ableitbarkeit dieses Wahrheitsinteresses zu: als wäre damit eine historisch-pragmatische Definition möglich, da die theoretisch-unmittelbare nur die Verstelltheit seiner Beantwortung kundtat. Nietzsche wechselt vom „Bildverlust" der Münze auf die Überlegung über, „woher der Trieb zur Wahrheit stammt" ,38 Die genetische Ableitungsreflexion ersetzt und wertet um, was als theoretische Erkenntnis mißlang. Und hier unterstellt er als philologische und sozialgeschichtliche Wahrheit, was er vordem, in den vorausgegangenen Abschnitten, immerhin noch als Aporie gesehen hatte. „Wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen".3' Nietzsche differenziert die Lügenthese dahin, daß es sich um eine Lüge in Unbewußtheit handle, — entwickelt jedoch im weiteren seine einseitige Me37

III, 314. Auf die Tatsache, daß sich die Paradoxalität aus der Unvereinbarkeit heterogener Ansätze herleitet und sich als derer „adäquate Darstellungsform der die begriffliche Explikation übergehende Aphorismus" etabliert, weist Röttges anläßlich des Apho. „Wahrheit als Circe" (1,698) hin (Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung 87). — H. Krüger verunklärt seine Sicht „der paradoxen Koinzidenz von Anerkennung und Ablehnung", wenn er darin begriffslos nur „das Hintergründige seiner Urteile über Philosophie, Religion" etc. erblickt (Studien über den Aphorismus 85). 3 « 111,314. 3 * Ebd.

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taphernauffassung derart, daß Metaphorik identisch mit „Schematik" und „Habitualität" hierarchischer Wort- und Begriffsverwendung wird. Das heißt, daß dem Metaphernbegriff die polare Topik von „Anschaulichkeit" vs. „Erstarrung" übergestülpt wird: einmal handle es sich um eine emphatisch „individuelle Anschauungsmetapher" : Idealtyp künstlerischer Innovation — sodann um einen Begriffsbau von „starrer Regelmäßigkeit": Voraussetzung der anschauungslosen wissenschaftlichen Sprache.40 Er ist nun Resultat des negativen Vergessens der „primitiven Metaphernwelt", die als „in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmende(n) Bildermasse" 41 metaphoriert wird. Schärfer, als es bei Schlechta/Anders geschehen ist, muß die widersprüchliche Doppelwertigkeit der Nietzscheschen Wahrnehmungstheorie gesehen werden. Da sich in den durch Übertragungen entstandenen Aporien der Erkenntnistheorie keine zureichende Adäquation von Verspradhlichung und objektiver Gegebenheit von Welt erreichen läßt, sieht sich Nietzsche zur Eliminierung auch der Kategorien „Quantität" und „Qualität" als erkenntnis- und urteilsdifferenzierender Operatoren berechtigt. Beide fallen unters Verdikt des Anthropomorphisdien: „Audi die Qualitäten müssen wir als eine menschliche Zugabe von der Natur wieder zurücknehmen: .Eine Qualität existiert f ü r u n s , d. h. gemessen an uns. Ziehn wir das Maß weg, was ist dann noch Qualität!' (GOA, X 152) Daraus folgt, daß wir die Dinge nicht wahrnehmen, wie sie sind. Trotzdem aber besteht zwischen unseren Vorstellungen und der Natur selbst eine echte Relation: , . . . alle Qualitäten verraten einen undefinierbaren absoluten Sachverhalt. — Das Verhältnis etwa wie die Chladnischen Klangfiguren zu den Schwingungen'. (ebd. 169)" 4 2

Natürlich ist dieses obsolete X eines undefinierbaren Sachverhalts das Gegenteil einer echten Relation, vielmehr eine Beziehungsaporie. Dem sprachkritischen Beobachter der Verbalisierung und Exemplarisierung von Erkenntnistheorie fällt auf, daß diese der Unterstellung des Absolutheitsbedürfnisses ihre Erkenntnislosigkeit verdankt und daß das Beispiel (der chladnischen Klangfiguren) einmal für die Absolutheit der X-Sachverhalte und gleichzeitig für «ο 111,315. Wie sehr polemisch-umgangssprachlidi diese Sprach- und Begriffskritik sich versteht, ist an der kulturhistorischen Bildverwendung abzulesen: jedes Volk habe „über sich einen solchen mathematisch zerteilten Begriffshimmel und versteht nun unter der Forderung der Wahrheit, daß jeder Begriffsgott nur in seiner Sphäre gesucht werde". — Ober die teleologische Motivation der Vertausdibarkeit von Wahrheit und Lüge im Rahmen einer auf Rhetorik reduzierten Kommunikationstheorie belehrt eine von Sandvoss mitgeteilte Notiz: „Man hat zum Verkehre mit Menschen die Lüge nicht mehr nötig, wenn man genug der Wahrheit hat: mit ihr kann man sie betrügen und verführen, •wohin man nur will". (Sandvoss, Hitler und Nietzsche 160) « 111,316. « Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 107.

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deren Verstelltheit eingesetzt wird. Nach der bei Schlechta-Anders vorgeschlagenen Deutung43 muß die „echte Relation" als vollständig einseitige gesehen werden — demnach als ihr Gegenteil. Diese Deutungsmöglichkeit bezieht sich auf das naturwissenschaftliche Paradigma, in welchem Natur als Grund alles Existierenden und seiner wenn auch verstellten Erkennbarkeit gilt. Dagegen opponiert das geistesgeschichtliche, transzendentalphilosophische Paradigma, dessen Defensivsituation sich in den Werten der geminderten, symbolisch verschleierten, schattenhaft spiegelnden Erkenntnisform erkennen läßt: „Zu jedem Sein verhalten wir uns oberflächlich, wir reden die Sprache des Symbols, des Bildes". Oder: „Es ist das Erfassen der O b e r f l ä c h e n durch Spiegel".44 In diesem mit Topoi der idealistischen Kunstphilosophie ausgestatteten Paradigma erscheint das naturwissenschaftliche umgekehrt als unvermitteltes Moment. Wir dürfen zur Demonstration dieses Sachverhalts auf das bei Schlechte herangezogene Material zurückgreifen. »Zwei innere Kräfte bestimmen nach Nietzsche den W a h r n e h m u n g s p r o z e ß : die eine Kraft läßt uns ,die g r o ß e n Züge des Spiegelbildes intensiver wahrnehmen' und betont ,den gleichen Rhythmus auch über die wirkliche Ungenauigkeit hinweg'. Sie ist eine , K u n s t k r a f t ' , denn sie schafft. ,Ihr Hauptmittel ist w e g l a s s e n und ü b e r s e h e n und ü b e r h ö r e n ' . Diese ,die Bilderfülle erzeugende Kraft' verfährt aber nicht willkürlich; sie erfindet nicht frei, sondern ihre Bilder sind die .Ausstrahlungen von Nerventätigkeit auf eine Fläche gesehen'" .4S Die gemeinte Kraft ist offensichtlich eine Kraft der steigernden, verklärenden Übertragung: Idealtyp des Wirkungshorizonts der anthropomorphisehen Metaphorik! Auf der naturphilosophischen, Argumente der Naturwissenschaft verarbeitenden Ebene wird der Natur die ontisch einseitige Konstitution von Wahrnehmung zugeschrieben, wobei die Wirklichkeit von Wahrnehmung bereits als beschränkte angesetzt wird; in diese Ebene projiziert Nietzsche aber gleichzeitig die Anschauungen und Topoi der idealisierenden und intensivierenden Imaginationstheorie. Da es sich dabei um den permanent bewußten Kampf der Weltanschauungen um die ,Welt' handelt, dessen Grundaxiom auch für Nietzsche in der Lebensbedrohlichkeit des wissenschaftlichen Paradigmas und in der Lebenskonservierung des kunstästhetischen Paradigmas festliegt, muß das letztere durch Totalisierung gegen seine Verletzung durch nachweisliche Er•M Sdilechta, Von den verborgenen Anfängen 107: „Nietzsche faßt das Verhältnis unserer Vorstellungswelt zur realen Natur im Bilde der Chladnischen Klangfiguren. Wenn auch diese Figuren das Wesen der Töne nicht wiedergeben, so sind sie doch durch diese eindeutig bestimmt. In gleicher Weise besteht zwischen der Natur und unserer Vorstellungswelt eine feste Zuordnung". ** Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 107. 45 Ebd.

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kennbarkeit immunisiert werden. Die Immunisierung erfolgt als Totalisierung i n ihrer Kritisiertheit: selbst auf die Gefahr des allgemeinen Nihilismus hin wird postuliert, daß es noch besser sei, an das undefinierbare X zu glauben und Erkenntnis auf Lüge umzudeuten, als sich dem Prozeß der unnachgiebigen Verwissenschaftlichung anzuschließen. Zwar wird dem naturwissenschaftlichen Modell faktische Begründung der Wahrheitstätigkeit zugestanden, — aber dieses ontologische Zugeständnis ist unschädlich durch das in dasselbe eindringende Modell der kritisierten Transzenden tali tat', das defekte Modell der hermeneutischen Ambivalenz jeglicher Wahrnehmung. Die vorausgehenden Untersuchungen machen klar, daß die Ausdrucksweise „hermeneutische Ambivalenz" stark euphemistisch ist — Nietzsche spricht deutlicher von „weglassen, übersehen, überhören" oder von „Verwechslung" und „Lüge": als „Urphänomen" ,46 Diese Wortreihe ist identisch mit der in der frühesten Phase einseitig affirmierten (vgl. das Paradigma des „Traums"); sie gehört in den erkenntnistheoretischen Überlegungen der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zur Ausstattung dieser ersten, der Wirklichkeit am nächsten liegenden, noch relativ positiv bewerteten Wahrnehmungskraft. Dies ist deshalb zu betonen, weil damit der defensiv zurückprojizierte Stellenwert der Ambivalenz offen in Erscheinung tritt: Würde Ambivalenz erst in der prozessual anschließenden, zweiten .Phase' des Wahrnehmungsaktes eintreten, wäre der Weg frei für einen semiotischen Ansatz und für eine relativ selbständige Ausarbeitung der Bedeutung der hermeneutischen Akte. Die zurückprojizierte Ambivalenz begründet demgegenüber vorgreifend „das eigentliche Geheimnis der Wahrnehmung und Erkenntnis" ,47 Die zweite Kraft ist nun spezifisch erkennend und klassifizierend, zugleich auch memorierend, Auswahl des Ähnlichen herstellend: Zit. nach Sdiledita, Von den verborgenen Anfängen 108. 47 Ebd. — Es darf hier schon auf die Weiterführung des Theorems der generellen Bildlichkeit in den achtziger Jahren hingewiesen werden. Zur Tilgung des realen Kausalitätskontinuums diffamiert Nietzsche „die .Regelmäßigkeit' der Aufeinanderfolge" als „bildlichen Ausdrude, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso ,Gesetzmäßigkeit"1. Nietzsdie zieht das Fazit: „Oer Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts". (111,489) Er kritisiert gesunkene und usuelle Metaphorik also dadurch, daß er sie auf ihre volle, hier: soziomorphe Validität zurückführt. (Daraus ergibt sich immer wieder der Sachverhalt für jeden Interpreten, der Nietzsches wörtliche Vorwürfe ernst nimmt und auf die Metaphorik seiner Denkpraxis bezieht: daß Nietzsche seine „Fehler" selbst vorzüglich beschreibt. Der Ausdrude „Regelmäßigkeit" meint jedoch nicht, daß ein Subjekt eine Vorschrift zu befolgen habe — Nietzsdie muß das zu Kritisierende erst unterlegen, selbst auf die Gefahr, aus dem Kode seiner Zeit herauszufallen. Dafür gewinnt er die Lust der Desillusionierung durch Zurückdrehen von Abstraktionen auf hypothetische oder fiktive Phasen ihrer metaphorischen Anschaulichkeit. Die philosophische Metaphorik seiner Denkansätze scheint sich korrigieren zu wollen durch die trivial überanstrengte Entmetaphorierung der Umgangssprache, — sie korrumpiert sich in Wirklichkeit nur „umgekehrt".)

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„Ähnliches mit Ähnlichem identifizieren — irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem anderen anderen Dinge ausfindig machen ist der Urprozeß. Das G e d ä c h t n i s lebt von dieser Tätigkeit und übt sie fortwährend. Die Verwechslung ist das Urphänomen" ,48

Nietzsches Formulierung übersieht das Korrelat von Identifizierung und Klassifizierung, die Differenzierung, und interpretiert einen Sachverhalt, der allenfalls als Merkmalsdifferenz oder nicht stringente Klassifizierung zu bezeichnen wäre, apodiktisch-negativ als „Verwechslung". Diese Unterstellung gehört zur totalen Negationsstrategie. Nietzsche ist gar nicht an der Differenzierung interessiert, sondern greift auf die identifizierenden Totalanschauungen der Naturphilosophie zurück, um die These seiner ideologiekritischen Hauptentdeckung, der transzendentalen Bildlichkeit aller Sprache, gegen die zeitgenössische naturwissenschaftlich fundierte Wahrnehmungstheorie erfolgreich abdichten zu können. Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildlichkeit schließen demnach den Erkenntnisprozeß sowohl theoretisch wie historisch von jeder Chance einer dem Subjekt zugänglichen Kritik und Korrektur ab. Nietzsches Umdeutung eines Sprachbegriffs auf generelles „Bilderdenken" ist selbst noch gegenüber Schopenhauer reaktionär: „Nietzsche wendet sich damit gegen die Theorie der unbewußten Schlüsse, die den Wahrnehmungsakt als einen unbewußten Denkakt versteht (Schopenhauer, Helmholtz, Zöllner)".49 Radikal ist Nietzsches Abdichtung der nicht mehr als empirisch oder als an sich bestehend differenzierten Welt vor der Erkenntnis des Menschen in der im Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge . . . " ausgesprochenen Konsequenz, wegen der Relativität von „Weltperzeptionen" 50 (an der Differenz von Insekt, Vogel und Mensch verdeutlicht) seien die Begriffe .Subjekt' und ,Objekt' selbst als operationde aufzugeben. Dies hängt wiederum mit einer von Schopenhauers Kausalitätsverdammung stammenden Umdeutung des Schließens als einer Fehlform der Kausalitätsanwendung zusammen. In der generalisierten Ablehnung von Kausalität im Fragekreis der Weltperzeption überlebt jenes verdunkelnde, antihermeneutische Prinzip der Schopenhauerschen Weltlehre, das jede Auslegung in die Kluft zwischen (naturwüchsiger) Notwendigkeit und (kunstästhetische) Willkürlichkeit preßt. Sofern die kunstästhetische Perzeption von Welt auch in dieser kritischen Epoche seines Denkens der wissenschaftlichen und begrifflichen Perzeption positiv entgegengesetzt wird, überlebt das Theorem der ästhetischen Rechtfertigung als Apologie eben jenes „Residuums einer Metapher" 51 als welches Nietzsche die Begriffswelt dekuvrieren zu können glaubt. 48 Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 108. 49 Ebd. Insofern ist seine Philosophie als Überbietung der Sdiopenhauerschen Intellektfeindlichkeit aufzufassen. 50 111,316. 51111,315.

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3. Die Ambivalenz der Hermeneutik Der Zerfall des Denkens als einer in begrifflichen Systemen versuchten praxis- und sprachvermittelten Ordnung der Weltperzeption ist, wie zu zeigen versucht wird, nicht nur auf den Totalismus zentraler Anschauungen und Begriffe zurückzuführen, sondern ebenso mitbegründet von der Begriffsverdrehung im einzelnen. So ist der Topos von der „Verwechslung" als Verhinderung richtiger Wahrnehmung zugleich auf der wahrnehmungstheoretischen und der hermeneutischen Ebene verwendet. Wenn Nietzsche nicht unterscheidet zwischen Metapher und Metonymie, dann unterläuft er von vornherein jede Möglichkeit, einen Begriff von Wahrheit zu kritisieren. Beide Begriffe werden synonym mit „Abstraktion", so daß „Metapher" eben als kontradiktorische Äquivokation von „Anschauungsmetapher" (der primären Wahrnehmung) und von „Begriffsmetapher" der versprachlichten und in ihrer Sprachlichkeit als ,wesenhaft' und .eigentlich' vermeinten Schematisierung erscheint. „Die Abstraktionen sind Metonymien d. h. Vertauschungen von Ursache und Wirkung. Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie u. in Begriffen geht das Erkennen vor sich. .Wahrheit' wird zu einer M a c h t , wenn wir sie erst als Abstraktion losgelöst haben" ,52 Es ist nur eine Möglichkeit der Metonymie, die Nietzsche unter dem Zwang der Zuschreibung der Kausalitätsbeziehung zu jeder Verstandeserkenntnis bei Schopenhauer herausgreift; trotz der berechtigten Warnung vor der sozialen Macht angewandter Abstraktion bleibt er bei einer mangelhaften Metonymieund Begriffsauffassung. Nietzsche spricht in „Über Wahrheit und Lüge . . . " sehr wohl die operationale Brauchbarkeit der Begriffsschemata aus, von deren Gewinn seiner Meinung nach „alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt", abhängt: „Im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen zu schaffen, die nun der andern anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische" .53 Diesen Ansatz einer Differenzierung gibt Nietzsche jedoch gegen Ende des ersten Kapitels bereits auf, indem er — abstrakt — sich am bloßen Wertungsbegriff „richtig" orientiert: wieder unterstellt sich ihm, da er nach der Relation

52 Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 43. 53 III, 314.

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des Richtigen fragt, unbewußt das Absolute einer dogmatischen Wahrheit: die Frage nach der relativen Adäquation unterschiedlicher Weltperzeptionen sei „eine ganz sinnlose, da hierzu bereits mit dem Maßstabe der richtigen Perzeption, das heißt mit einem nicht vorhandenen Maßstabe, gemessen werden müßte".54 Nietzsche weigert sich zu messen, solange er nicht weiß, daß sein Maßstab ein absoluter: unkorrigierbarer ist. Darin drückt sich die Schwäche einer Erkenntnisposition aus, die sich in dem Problem des Gleichen verfängt. Die Verfangenheit ist sprachgeschichtlich zu deuten als unbewußte Fixierung an den idealistischen Subjektbegriff, bzw. an die idealistische Hypostasierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Erkenntnis wird in der umgangssprachlichen Trivialisierungszone der vordem kritischen Erkenntnistheorie des Idealismus wieder auf den unbegrifflichen „Ausdruck" des einen im anderen zurückgestutzt — bis hin zu der oben schon zitierten Tautologie vom „anderen anderen Ding". Nietzsche fährt nach dem letzten Zitat fort: „Überhaupt aber scheint mir ,die richtige Perzeption' — das würde heißen: der adäquate Ausdrude eines Objekts im Subjekt — ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung .in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre bedarf. Das Wort »Erscheinung* enthält viele Verführungen, weshalb ich es möglichst vermeide: denn es ist nicht wahr, daß das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint. Ein Maler, dem die Hände fehlen und der durch Gesang das ihm vorschwebende Bild ausdrücken wollte, wird immer noch mehr bei dieser Vertauschung der Sphären verraten, als die empirische Welt vom Wesen der Dinge verrät".56 Was wir oben bereits dargestellt haben, wird hier als reaktive Konsequenz und Radikalität der Gedankenführung ausgesprochen: nach der totalen Zerreißung einer Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt müssen die absoluten Idealwerte in die isolierte Mittelzone verlegt werden, wo sie allerdings als die alten Ideale denn doch nicht überleben: weder die absolute Freiheit des Subjekts, noch die absolute Verbindlichkeit des Objekts halten sich in dieser personifizierten, zum Produktionsmedium an sich aufgewerteten „Mittelsphäre". Die vom Subjekt in der Vermittlung von Wirklichkeit und Eigenwelt nidit

5+ III, 316 f. III, 317. Anschließend revoziert Nietzsche seine These von der Notwendigkeitsbeziehung zwischen „Nervenreiz" und „hervorgebrachtem Bild": hier herrscht idealistischer Kontext, und die Natur wird in ihrer Notwendigkeit auf „millionenmalige" Wiederholung und Vererbung zurückgeworfen, um Wirkstabilität zu erreichen!

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mehr geleistete Produktivität wird dem Ästhetischen als Medium von freier, realitätsunabhängiger Produktivität an sich delegiert. Poetologisch und zeithistorisch höchst relevanter Ausdruck dieser Übertragung, in der humane Position und Entscheidung ausgespart werden, ist die Apologie der extremsten Synästhesie, wie sie schon im dysfunktionalen Erkenntnismodell der chladnischen Figuren erschien: Hyperbeln der Vertauschung metaphorieren „überbietend" die verweigerte Erkenntnis.57 Nietzsches Kritik der tradierten Begrifflichkeit und der ihrem sozialen Zwangsvollzug zugehörigen Begriffsgläubigkeit benimmt sich ihre Realität gerade dadurch, daß sie ihren kritischen Ansatz, den Begriff der „usuellen Metapher", selbst negiert. Der Kritisierende glaubt aus der genetischen Kritik (Begriffe seien a u s Metaphern entstanden und sie seien deshalb selbst n o c h Metaphern) die Wahrheit totaler Kritisierbarkeit ableiten zu dürfen. Sprachlicher Ausweis der Aufgabe der oppositionalen Kultur des Denkens ist jene Ambivalenz und Wechselhaftigkeit der Hermeneutik, die kontradiktorische Äquivokationen und Gänsefüßchenbegriffe erzwingt, die ein Denken in beständiger Umkehrung und Minderung des Gedachten nahelegt. Unbewußt ist Nietzsches Sprachbegriff an ein Theorem der Naturbeziehung gefesselt, statt sich der sozialen Prägung der Sprachkultur systematisch zu vergewissern: er schleppt den historisch bereits obsolet gewordenen Nachahmungsbegriff als kritisch-unkritisdie Fessel weiter: indem, wie bei Schlechte angedeutet wird, „ E r k e n n e n nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern" sein soll, hält sidi seine Kritik in jener historischen Zone zurück, die vor der Entdeckung des innovatorischen Moments im Erkennen liegt. Nietzsches Formulierung: „ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. E s kann also natürlich nicht ins Reich der Wahrheit dringen". 5 8

„Reich der Wahrheit" und „Reich der Anthropomorphismen" stehen sich unvermittelbar gegenüber, auch wenn Nietzsche — allerdings nur im Ferngriff welthistorischer Evolution — eine „allmähliche Befreiung von allzu Anthropo57 Die Frage nach der Vergleichbarkeit der Kunstmedien untereinander war im 18. Jahrhundert innerhalb der Diskussion der Beziehung zwischen Dichtung und Malerei und der Emanzipation der Musik vielfach gestellt. Eine der bekannten Stellen ist die vielfach diskutierte Überlegung, wie weit ein Raffael ohne Hände immer noch als größtes Malgenie gelten könne. Diese Frage darf wohl als relativ bekanntes Bildungsgut im 19. Jahrhundert angesehen werden, — jedenfalls verwendet etwa Bölsdie das Problembild analog zu Nietzsche. 58 Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 111. Audi dieser kurze Text weist die Berechtigung der Methode aus, von der stabilen Schicht der metaphorischen Topoi aus das Denken zu interpretieren: was, der Metapher ansdieinend vorausgehend, reflexiv beredet wird, liegt unbewußt in den Fesseln einer Totalitätsgläubigkeit — hier an den umgangssprachlichen Topos „Reich der Wahrheit".

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morphischem" 5 9 ansetzt. Für das rationale Unvermögen, die generelle Perzeptionsskepsis mit dem Prozeß der „richtiger", „immer wahrer und vollständiger" werdenden Welterkenntnis zu vermitteln, sind Topoi der traditionellen und selbst der manifest idealistischen Ästhetik verantwortlich zu machen. Der Fluchtpunkt, zu welchem hin sich die Frageversuche Nietzsches bewegen, ist mit der transzendentalistischen und panpsychistischen Identitätsanschauung umrissen. Das Wissenschaftsverständnis ist in dieser Zeit nicht aus der psycho· morphen Anschauungslinie herausgetreten. Obwohl im Prozeß der Verwissenschaftlichung „also das Weltbild [ . . . ] immer wahrer und vollständiger" wird, sagt Nietzsche: „Natürlich ist es nur eine Wiederspiegelung, eine immer deutlichere. Der Spiegel selbst ist aber nichts ganz Fremdes und dem Wesen der Dinge Ungehöriges, sondern selbst langsam entstanden als Wesen der Dinge gleichfalls. So spiegeln sich die Dinge immer reiner: allmählich Befreiung von allzu Anthropomorphischem. Für die Pflanze ist die ganze Welt Pflanze, für uns Mensch" , 60 Wiederspiegelungstopos und Wesens-Topos verstellen von zwei gegensätzlichen logischen Ausgangspunkten aus durch ihre bildlich-verhüllende Sprachlkhkeit die Sicht einer konsistenten Fluchtlinie im „Perspektivismus", dessen metonymische Genese an dieser wie an zahllosen anderen Textstellen nachzuweisen ist. „Spiegel" ist jene metonymische Metapher, mit der der Widerspruch zugedeckt werden kann, einerseits .Verstellung', anderseits Wesensausdruck der „Dinge" und der „Welt" zu sein. Es ist interessant, daß Nietzsche in diesem Kontext auf den psychomorphen Fluchtpunkt der im Wissenschaftsprozeß sich selbst approximativ annihilierenden Anthropomorphik zu sprechen kommt. „Nur unter einer Voraussetzung sieht Nietzsche die Möglichkeit, ins Wesen der Dinge einzudringen: d a n n , wenn alle Materie Empfindung hätte. JDer Gang der Philosophie: es werden zuerst Menschen als Urheber aller Dinge gedacht — allmählich erklärt man sich die Dinge nach Analogie einzelner menschlicher Eigenschaften — zuletzt langt man bei der E m p f i n d u n g an. Große Frage: ist die Empfindung eine Ur-Tatsache aller Materie?'" 61 59 Sdüedita, Von den verborgenen Anfängen 111. «»Ebd. 61 Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 111. Auf diese zunächst wie experimentalprobehaft versuchte Frage folgt allerdings die gängige transzendentalitätsgläubige Antwort im Sinn eines durch Kritik verschärften Idealismus: „Wir kennen nur eine R e a l i t ä t — die der G e d a n k e n . Wie? wenn das das Wesen der Dinge wäre? Wenn Gedächtnis und Empfindung das M a t e r i a l der Dinge wäre! / Der Gedanke gibt uns den Begriff einer ganz neuen Form der R e a l i t ä t er ist aus Empfindung und Gedächtnis zusammengesetzt. Der Mensch in der Welt könnte sich wirklich begreifen als einer aus einem T r a u m e , der selbst mitgeträumt wird. [ . . . ] Nicht das Erwachen der Empfindung, sondern das Bewußtsein in der Welt ist das Schwere. Aber doch noch erklärbar, wenn alles Empfindung hat. Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten, größeren und größten Empfindungszentren. Diese Emp-

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Auf der Grundlage der „Wiederspiegelung" und „Nachahmung" läßt sich keine brauchbare Hermeneutik aufbauen. Gerade dadurch, daß Nietzsche sie aus dem kritisch-intentionalen Gebrauch herausholt und zu Formen der primären Naturbeziehung macht, betreibt er selbst jene Übertragung, als deren Beispiel er den Erkenntnistrieb desavouiert.62 Die „Vertauschung der Sphären" ist damit als ein immanentes, die Ideologieund Moralkritik Nietzsches prägendes Verfahren zu erkennen. Daß Metaphernlust und Vertrauschungszwang genuin mit der Defensivsituation gegen den Materialismus zusammenhängen, ist wohl genügend deutlich geworden. Es beweist sich ein weiteres Mal in dem, was Nietzsche aus dem Denken von African S p i r übernimmt.63 Nietzsche besitzt bereits 1872 Spirs Arbeit „Forschung nach der Gewißheit in der Erkenntnis der Wirklichkeit" (1869). Spirs Hauptwerk „Denken und Wirklichkeit" (II. Bd. 1873) ist eine weitgehend unbekannt gebliebene Systematik einer spätidentitätsphilosophischen Erkenntnistheorie. Sie versucht auf der Grundlage von unmittelbaren Gegebenheiten eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, die einerseits nur Einzelempfindungen als solch Gegebenes zuläßt und damit in Affinität zu psychistischen Interpretationen der Identitätsphilosophie rückt, anderseits auf die logische Diskursivität der englischen Empiriker zurückgreift. Nietzsches Differenz von Spir liegt nun in einem wesentlichen Punkt: er übernimmt dessen Unterscheidung von einer „gegebenen Körperwelt" und einem von dieser völlig unterschiedenen „wahren Wesen der Wirklichkeit" nicht, — Nietzsche hält am idealistischen Modell der findungskomplexe [ . . . ] wären ,Wille' zu benennen. / Wenn aber Lust, Unlust, Empfindung, Gedächtnis, Reflexbewegung zum Wesen der Materie gehört, dann reicht die Erkenntnis des Menschen viel tiefer ins "Wesen der Dinge". (Ebd. 112) Nietzsche realisiert also in kritischer Abstraktion die im panpsydiistischen Modell der Weltdeutung liegende Chance, transzendentale Hermeneutik zu verankern. Leider aber fällt sein Erkenntnisbegriff — der zu unterscheiden ist von der hypothetischen Tauglichkeit eines solchen heutiger Medizin und Psychologie näherliegenden Modells — aufgrund sprachtheoretischer Mängel in kruden Irrationalismus zurück. Im unkritisierten Erlebnisbegriff schwindet die Konstituierbarkeit von Erkenntnis. „Wir setzen überall eine Kausalität voraus, weil wir selbst solche Veränderung fortwährend erleben". (ebd. 113) Die Befangenheit im transzendentalistisdien Apriori zwingt Nietzsche, Kausalität als Erkenntnismetapher zu anthropomorphieren: er unterstellt ihr das Schopenhauersdie Axiom, sie sei aus der „Übertragung der einzigen uns bewußten Kausalität: der zwischen Wollen und Tun, entstanden" (Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 113). w Uber die wechselseitige Intentionalisierung von Mensch und Welt vgl. Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 116 f. Hier auch Zitate, die die Bodenlosigkeit der Übertragungen dokumentieren, u. a.: Das Verhältnis des Menschen zur Natur spiegele also nur sein Verhältnis zur Wahrheit wieder: „Der Mensch [ . . . ] jetzt wenn er sich selbst das Gesetz der Wahrhaftigkeit stellt, glaubt er auch an die Wahrhaftigkeit der Natur gegen ihn" — entgegengesetzt kennzeichnenderweise die „Maskeraden" des metamorphotischen Mythus! „Aber der Trieb wahr zu sein, übertragen auf die N a t u r , erzeugt den Glauben, daß audi die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnistrieb beruht auf dieser Übertragung". 63 Vgl. dazu ausführlicher Schlechta, Von den verborgenen Anfängen 119 ff.

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psydiomorphen Vermittlung fest: „Für ihn ist ,das Seiende Empfindung und Vorstellung'«. 4 4 A n der weiterlaufenden Rezeption Spirs (Nietzsche kauft sich 1 8 7 7 die 2 . Auflage des großen Werkes, läßt sie sich 1 8 8 1 von Overbeck zuschicken, arbeitet es mit vielen Anstreichungen und etlichen Randbemerkungen wieder durch) läßt sich die Kontinuität der erkenntnistheoretischen Theoriebildung bis in die Spätzeit hinein belegen. Neu ist dagegen die verschärfte Ablehnung des auch bei Spir gegebenen Weitergehens in die Metaphysik, —

dieser Schritt

wird nun ausdrücklich als eine „irrtümliche Auslegung der Erfahrung"

65

be-

zeichnet. Dank der Entwicklung der Kritik der Metaphysik als eines erstarrten „Begriffshimmels" entlastet sich Nietzsches Denken von der Ambivalenz seiner irrationalen Erkenntnistheorie in der fortgeschrittenen Frühphase. Ausdrücke wie „erstarrte", „ewige Begriffe" markieren das mit solcher Kritik Gemeinte. Gleichwohl ist zu fragen, ob nicht die wiederum nur umakzentuierte Sicht des mittleren, positiv zur Wissenschaft eingestellten Nietzsche auch die Felder der Schiedita, Von den verborgenen Anfängen 121. Vgl. dazu Nietzsches Begriff der „vorstellenden Vernunft", der das transzendentalistisdie Apriori in die Phase der Kritik von „Metaphysik" und spekulativer Grammatik mitträgt. In diesem Theorem lebt Schopenhauers Unmittelbarkeit der introspektiven Selbsterkenntnis weiter — audi für den geistkritisdien Nietzsche der mittleren und späten Phase behält „Vorstellung" den unhinterfragbaren Wert einer Unmittelbarkeitsinstanz. „Vorstellende Vernunft" meint das vor sidi-selbst-hinstellende, sidi auf unbefragt Gegebenes beziehende Denken. Es ist ein Residualbegriff der von der Erkenntniskritik nidit erreichten Transzendental-Ontologie. „Das einzige Sein, welches wir erkennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es richtig beschreiben, so müssen wir die Prädikate des Seienden überhaupt darin sehen. [Affirmation zugleich des Prädikationsbegriffs — der sonst im Zusammenhang der Substanzkritik infragegestellt ist — und des transzendental-metaphysischen „überhaupt" und „an sich".] (Indem wir aber das Vorstellen selber als Objekt des Vorstellens nehmen, wird es da nicht durch die Gesetze des Vorstellens getränkt, gefälscht, unsicher? —)" Nietzsche dokumentiert im Verhältnis von affirmativem Aphorismus und nachgesetzter Infragestellung die in seiner Erkenntnistheorie überlebende, aber von ihr auch kritisierte Spaltung von Sein und Akt. Es ist folgenreich, daß der sonst zugunsten des Begriffs des „Werdens" kritisierte Seinsbegriff im Stützzusammenhang mit dem Vorstellungsbegriff eine Art Rehabilitation erfährt; an sich weiß Nietzsche, daß „Sein" ein Trugbegriff im Verhältnis zu „Werden" sei; — sofern nun das Vorstellen selbst zu einer —• wenn auch nur operationalen — Bestätigung des Seinsbegriffes führt, muß die Behauptung, Seins-Vorstellung sei Erkenntnis, die letzte noch übrigbleibende wahre, revoziert werden, und sie wird es auf derselben Seite: „Es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund aus das Wesen des esse verkennte·, es muß die Substanz und das gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu existieren.Ei braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an beide glauben. —" (KTA 83,58) Dies als Beleg für die aus zirkulärem Denken und Positionsflucht resultierende Synonymisierung kontradiktorischer Begriffe in einer Metaphernreihe: Sein = Erkenntnis = Seinsvorstellung = Subjekt-Objekt-Praxis = Glauben = existenzgewährende Illusion — Verkennen des Seins. 65 Zit. nach Schlechte, Von den verborgenen Anfängen 122.

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Entscheidungslosigkeit und Ambivalenz enthält, auf denen sich dann unter Rückgriff auf Theoreme der Frühphase die Denkwelt des „Zarathustra" und der radikalen Mythologisierung der Spätphase ausbaut. Die Kontinuität des Nietzscheschen Denkens ist wieder entgegen der intentionalistisch zugreifenden unkritischen Geistesgeschichte dort darzustellen, wo das methodische und operationale Material der Sprachfindung sich als kohärent erweist. Wir werden im Folgenden auf spätere Formulierungen eingehen, die sowohl den Schriften vom Ende der siebziger Jahre wie auch dem Nachlaß der achtziger Jahre entstammen, um die Sicht auf das Weiterleben bestimmter, zur hermeneutischen Ambivalenz führender Theoreme und Topoi freizulegen. Dabei muß audi die Forschung berücksichtigt werden, die in letzter Zeit zunehmend auf die metaphorische Verstelltheit in Nietzsches Denken hingewiesen hat. Hatte das zweite Kapitel von „Über Wahrheit und Lüge . . . " den Übergang „der Begräbnisstätte der Anschauungen" ,66 der erstarrten Begriffswelt, in die anthropomorph-naturgläubige, „bunt unregelmäßige", „folgenlos unzusammenhängende", „ewig reizvoll und ewig neu" sich gestaltende „Welt des Traumes" als Voraussetzung für die Selbstübertragung des menschlichen Bewußtseins in eine von der „ganzen Natur umschwärmte" „Maskerade der Götter" 67 als jene im „Glanz der metaphorischen Anschauungen" 68 etablierte Vermittlungszone vielfältig verbalisiert, so sind die späteren ernüchterten Texte von solcher programmatischer Verklärung spürbar befreit. Die Verschärfung des Bewußtseins, daß auch diese halbmythische artistische Verklärung nicht zur Rettung der Glaubensfähigkeit ausreicht, wäre an einer Reihe von Belegen abzulesen, die in Arbeiten wie „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe" (ζ. B. der Schlußpunkt einer Gliederungsnotiz zur Bedeutung des Sokratismus: „5. Ironische Novelle: alles ist falsch. Wie der Mensch sich an einen Balken klammert".69) oder „Die Philosophie im tragischen Zeitalter . . . " vorliegen. Sie ist als Genese des nihilistischen Gedankens bei Nietzsche in groben Umrissen geläufig, in ihrer axiomatischen Struktur jedoch noch nicht interpretiert. Als Beitrag zum Verständnis dieser Entstehung des nihilistischen Gedankens, in dem wir eine Folge der permanenten „Vertauschung der Sphären" zu erblicken haben, darf hier auf die Konstruktion der „perspektivistischen Welt" hingewiesen werden, die im Nachlaß der achtziger Jahre immer wieder thematisiert wird. Im „Perspektivismus" sammeln sich die wahrnehmungsskeptischen Relativierungen der je bestimmten „Weltperzeptionen" mit den Ergebnissen des geistesgeschichtlich-historischen Desillusionsprozesses, so mit dem Abfall von der Teleologie, von der Vermittelbarkeit von Schönheit und Ge III, 334.

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schichte. Wieder vermischt Nietzsche durch Synonymisierung von „perspektivischer Wahrnehmung" und „Illusion" 70 (hier als Kategorie der grob vereinfachenden, oberflächlich-zusammenfassenden Weltperzeption verstanden) die Ebenen seines kritischen Gedankens. Die verallseitigte Kritik führt zum Nahen des Nihilismus: „die Bedeutungslosigkeit schaffen!"

naht sich! Wir haben die Welt, welche Wert hat, ge-

An dieser Stelle wiederholt sich das triviale Totalitätsurteil aus der erkenntniskritischen Frühphase in der Doppelwertigkeit von Kritik und Affirmation: den Illusionismus der bisherigen bewußten und unbewußten Geistesgeschichte — „daß die Verehrung der Wahrheit schon die F o l g e einer I l l u s i o n ist" — gibt Nietzsche nun als Erkenntnispflicht auf, man habe sie, diese alte Illusion, zu überbieten: „daß man, mehr als sie, die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat. .Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!' [Hier folgt die konsequent defensive Definition des Schönen als dessen, was bloß durch seine Opposition zum Noetischen bestimmt sei:] Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das .Wertvolle' ein: an sich ist es ich weiß nicht was".71 Nietzsches überwältigendes Interesse am Ästhetischen ist, als Interesse an der Abwehr des Erkenntnisinteresses, Quintessenz jener ambivalenten Hermeneutik, die auf den anthropologischen Solipsismus des Menschen wie auf ein undurchschaubares und unkritisierbares Metaphysikum verweist, indem sie Hermeneutik „punktualisiert". Nietzsche tut es im transzendentalistisdhen Kurzschluß, den er in sein Theorem der gestaltenden „Urlust" unhinterfragbar einbaut: „Wir können nur eine Welt b e g r e i f e n , die wir selbst g e m a c h t haben" 7 2 Konsequent ist dann die Reduktion von Wahrnehmung, Erinnerung, /ο 111,424. 71 III, 424. 72 III, 424. Darin wiederholt sich die transzendentaüstische Uminterpretation entweder des Welt- oder des Praxisbegrifis. In seinem Aufsatz „Nietzsches Stellung zur überlieferten Metaphysik" geht Volkmann-Schluck unter Einbeziehung der antiken Sprachphilosophie auf die Probleme des Praxisbegrifis ein (vgl. „Leben und Denken" vor allem 72 ff.). Verdienstvoll ist gerade sein Hinweis darauf, daß „Kant zugleich eine erste Erschütterung in den Glauben an das Subjekt" (79) bringe; allerdings bleibt seine weitere Explikation (u. a. des Gleichnisproblems 79 f.) innerhalb der Orientierung an „Kants transzendentaler Ordnung der Gegenstände" (78) und argumentiert mit einer nicht ausgewiesenen Rückinterpretation des „Realismus" als „sich selbst nicht kennender Idealismus" (81 f.) Auf diese Weise entsteht der trügerische Eindruck, als wäre Nietzsche der Vollender der Wahrheiten der transzendentalen Apperzeption — er dürfte der Philosoph sein, der sie unreflektiert verallgemeinert.

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Erkenntnis und Urteilsbildung — also das Insgesamt der Weltperzeption — zum schledithinnigen „Ja-sagen" und „Glauben": Nietzsche redet im Zusammenhang der Bilder-Theorie der Begriffsentstehung in dem von uns herausgearbeiteten Sinn von „Verwechslung zweier ganz benachbarter Empfindungen" und führt zu seinem Axiom weiter: „Das G l a u b e n ist das Uranfangliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein ,Für-wahr-halten' im Anfange!" 73 Von dieser logisch einseitigen, empirisch falsifizierbaren, den Realwiderstand unbekannter Realität übergehenden Position her wird verständlich, wieso Nietzsches Hypertrophie des Jasagens unterschiedslos für jedes, nicht nur das intellektuelle sacrificiutn Legitimation erzwingt: da schon die Wahrnehmung als Ideologie beschrieben wird, da Wahrnehmung also keine zeitliche Instanz ihrer immanenten Korrektur enthält, kann Erfahrung insgesamt nicht mehr nach der Opposition von J a ' und ,Nein', von ,Tun' und ,Erleiden' gegliedert werden. Solche Gegenstandslosigkeit ruiniert den Handlungsbegriff: für den Philosophen des Jasagens wird „Kraft", „Stärke" zum bedingungslosen Wert an sich.74 Nietzsches Glauben an die „unendliche Überlegenheit der inneren Kraft" 75 über Einflüsse des Milieus und äußerer Ursachen ordnet sich in die deutsche Abwehrtradition des „Äußeren", „Mechanischen" bruchlos ein. Der Unmöglichkeit, ein „Genie" aus diesen .Gegebenheiten' zu erklären im Sinn vollständiger Ableitbarkeit, korrespondiert die Vieldeutigkeit von Nietzsches Kraft- und Weltbegriffen. 76 Den Unwissenheitsstand des Menschen verschärft Nietzsche zu jenem des Tiers, um die Apologie des Begriffs betreiben zu können, der beide umfängt: des Lebens. Dabei vereinfacht sich seine Argumentation axiomatisch auf vitalistische Reduktion: man müsse das vorwissentliche Leben „lernen". Deshalb deutet er die Unterstellung, daß ,Glauben' generell zum Leben ,gehöre', zu der Behauptung um: um leben zu können, muß man unwissend sein. „Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt; du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne die Art Unwissenheit das Leben 73 111,432. 74 Vgl. zum Gebrauch der totalisierten Formel „Glaube": „ JEine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit'. Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilidi wäre die Stärke ein Kriterium, z.B. in betreff der Kausalität". (III, 476) Liest man dies .umgekehrt', so ist es die Apologie ideologischen Glaubens, der sidi dadurch immunisiert, daß er sich als lebensnotwendig behauptet. 75 111,481. 76 Vgl. III, 493. Auf die signifikante Redundanz des Gebrauchs des Wortes „Glauben" in den Aufzeichnungen der frühen achtziger Jahre sei hingewiesen.

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selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher allein das Lebendige sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke der Unwissenheit muß um dich stehn" 71 Was wir mit Ambivalenz der Hermeneutik meinen, ist in diesem und vielen analogen Texten von latenter Reduktivität an der unscharfen Ausdrucksweise „eine Art Leben", „eine Art Ja-Sagen", „die Art Unwissenheit" dingfest zu machen. Diese für Nietzsche-Texte nach Verlust der rhetorischen Scheinsidierheit kennzeichnenden ,Probenamen' sind methodisch entschärfte und in eine scheinbare Relativität zur Normalsprache gestellte, aber im Denk- und Textprozeß gleichwohl wirksame Metonymien. Um die vorgeschlagenen Thesen allererst diskutabel zu machen, wäre es nötig, die je spezifische Differenz dieser „Arten", „Formen" vom allgemeinen Namen anzugeben. Das liefe jedoch auf die Bestimmung der pragmatischen Funktion hinaus. Doch weder die lexikalische noch die pragmatische Syntax ist Nietzsche bereit zu leisten. Auch die topische Rede von den „Arten" von „Unwissenheit", „Irrtum", „Glauben", „Stärke", „Willen", „Macht" praktiziert, nur im relativistischen Schein, die alte Rhetorik der Anonymität. Damit werden reale Lebenssituationen immer wieder dem abstrakten Lebensbegriff unterstellt. Eine der eindrucksvollsten und längsten Aphorismenreihen arbeitet III, 535 ff. den Zusammenhang von Subjektivismus und pleromatischer Verklärung heraus: Im animalischen, narkotischen, ästhetischen, ekstatischen, religiösen und sadistischen Rausch [praktizierte Metonymik! ] lägen „Zustände" vor, „in denen wir eine Verklärung und Fülle in die Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsre eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln". Das Pygmalionmotiv des überschüssigen Ausströmens „in die Welt der Bilder und Wünsche" 78 assoziiert sich dem radikalisierten Glaubensmotiv, das die Willenstheorie, die vom Willen zur Macht spricht, in sich aufnimmt: Wieder läßt Nietzsche figürlich reden: „,Ich will das oder das'; ,ich möchte, daß das oder das so wäre'; ,ich weiß, daß das oder das so ist'." Diese Reihe ist zu lesen als metaphorische, absteigende Reihung von Graden der Wunschkraft; Nietzsche fährt erläuternd fort: „Kraftgrade: der Mensch des Willens, der Mensch des Verlangens, der Mensch des Glaubens". Wendet man diese Stufung auf die Gegebenheit der in Nietzsches Texten realisierten Wollensform an, so bestätigt sich, daß hier der Typ des gegen77 III, 481. 78 111,536.

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ständlich kaum ausgreifenden, aber umdeutenden Glaubens vorliegt. Der folgende Aphorismus spricht denn auch die negative Konsequenz dessen aus, was auf der vorausgehenden und auf der nachfolgenden Seite als Großartigkeit der Verklärung und der Überbietung dargestellt wird: „Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch". Der Eingang der letzten größeren Passage S. 566 f. bedarf, als Sprechtopos der widerspruchsfrequenten Überbietung des Negativen, noch einer Erläuterung. Den radikalaufklärerischen Sprechimpuls (Gleichsetzung tierischer und menschlicher Unwissenheit) gibt der Autor als potenzierten Imperativ zur reduktionistischen Abwertung an den Rezipienten weiter. Über den Affirmationsträger „Willen" verbindet Nietzsche den Sprechakt mit einem Grundtheorem seines Reduktionismus, der Behauptung, die ,entdeckten' Grundformen eines nachgewiesenen (Fehl-)Verhaltens seien, obgleich Fehlleistungen, doch zur Lebenserhaltung notwendig. Dann kann aber der Begriff des „Lernens" nicht mehr abgesetzt werden vom empfohlenen allgemeinen Unwissen: wie audi Nietzsche nie ein praktisches Beispiel seiner welthistorischen Entdeckung expliziert. Das Verhältnis von Unwissenheit und Wissen (über sich, sein Leben, und dessen Unwissenheit!) ist nicht mehr angebbar; der Begriff des Lebens ist von der Praxis seiner negativ geistphilosophischen Entlarvung ins Metonymische von ,Fehlleistung' verzerrt. Unwissenheit figuriert als bildlich und therapeutisch willkommener Partner im Widerspruchstopos der „dialektischen Genesis": aus der „großen, festen Glocke der Unwissenheit", die Nietzsche mit Schopenhauer und Fediner vielleicht am wirkungsvollsten im 19. Jahrhundert geläutet hat, tönen gelegentlich Befreiungsklänge — im „Zarathustra" wird sie allerdings identisch mit dem Symbol der residual verklärenden Abgeschlossenheit jedes Einzelnen in sich.79

4. Auflösung des Dingbegriffs Die Depotenäerung des Wissens zum Glauben wird an zahlreichen Stellen der Nachlaßnotizen proklamiert und praktiziert. Sie hängt, wie gezeigt, zusammen mit Identitätsaporie, wie sie die Rekurrenz der Gleichnissprache hervortreibt. Nietzsche kritisiert, sie nützend, Gleichnissprache als eine offene, semiotisch unfestgelegte Form der Analogie. „Das U r t e i l — das ist der Glaube: ,Dies und dies ist so'. Also steckt im Urteil das Geständnis, einem identischen Fall' begegnet zu sein: es setzt also Ver79

Vgl. u. S. 225 f. Zur Umdeutung der Unwissenheit vgl. das 1. Kapitel in W. MüllerLauters Buch über Nietzsches „Philosophie der Gegensätze": „Der Schein der Gegensätze und die wirklichen Gegensätze der Willen zur Madit".

Auflösung des Dingbegriffs

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gleidiung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint" .80 Nietzsche setzt den Akt des Vergleichens mit willkürlicher Gleichsetzung gleich: „Bevor geurteilt wird, tnuß der Prozeß der Assimilation schon getan sein". Anschließend spricht Nietzsche die Vermutung aus, daß „allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw." „entspricht": damit fällt die vorgebliche Einheit wieder in die romantische Entsprechungsformel von „innen/außen" zurück. Man darf es deshalb nicht als Biologismus werten, wenn Nietzsche im vorausgehenden Text seinen „Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie" 81 nimmt: er interpretiert nämlich, fast eine Seite lang, „die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit" rein soziomorph, also mittels der Nicht-Einheit der Subjekte: „nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als .Seelen' oder .Lebenskräfte'), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen". Der hermeneutische bildet sich so zum logischen Zirkel zurück. Denn Nietzsche gebraucht in diesem Aphorismus „Leib" als Ganzheitsfigur in doppelter Abgrenzung gegen zwei von ihm gleichzeitig befehdete Positionen: gegen den tradierten platonisch-schopenhauerschen Idealismus („das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt und alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Tätigkeit nützlich sein könnte, sidi falsch zu interpretieren") — und gegen den tradierten materialistischen Sensualismus (möglicherweise mit einer generellen Spitze gegen „Naturwissenschaft"): wir „lehnen das Zeugnis der verschärften Sinne ab". Nietzsches psychologistisch wirkende Theorie der Identitätsgewinnung fällt in die kritisierte transzendentalistische Apriorität zurück. Deshalb ist seine Philosophie des Ersetzens in prägnantem Sinn Ersatz-Philosophie für die im Säkularisationsprozeß verlorenen Scheinsicherheiten: Glaube an den Leib wird gepredigt, weil der im Ruin totalisierte Glaube an den Geist formalisiert überlebt. Und er überlebt angesichts der sich ihm selbst aufdrängenden Wider80 111,476. Vgl. u.a.: III,523ff.; 536ff.; 541—543; 555. Auf sprachliche Inkorrektheiten dieses Satzes wäre hinzuweisen: 1) Der ontologisierende Gebrauch von „das Urteil schafft", 2) die Mischung von ontologisdiem und phänomenalem Aussagegehalt in der auf die Inexpliziertheit von „schaffen" zurückzuführenden Zusetzung von „scheint": als Glaube schafft es ja nach Nietzsches Einsicht gerade das Urteil, daß der Schein eines identischen Falles vorliegt, ei III. 475.

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sprüchlichkeit in der erkenntnislosen Appellativität, sich niditwissend über sich selbst zur Welt jasagend zu erheben. Infolge der in sich gegenläufigen Hermeneutik wird auch der Dingbegriff aufgelöst, der in allererster Linie operational zu verstehen ist. Den Grund dieser Auflösung haben wir mehrfach benannt: den äquivoken Gebrauch des Topos „Ding an sich" und des wissenschaftstheoretischen Dingbegriffs. III, 486 etwa zeigt sich die Erkenntnismöglichkeit blockiert von der Unbedingtheitsforderung, die sich für Nietzsche mit dem Dingbegrifi automatisch verbindet: er belastet ihn mit der Hypothek des „an sich", obwohl er vor der Einsicht in die funktionale Bestimmbarkeit des Dings steht. — Der Befund läßt sich folgendermaßen formulieren: aufgrund der totalisierten Reduktionsthese, d. h. des Glaubens, daß genetische Ableitung mit dem Begriff der Sache zusammenfalle, verflüchtigt sich Nietzsches Denken zu dem, was er als Wesen des Erkennens ausgibt: zum „regressus in infinitum" .82 Wieder unterschiebt Nietzsche der triftigen Einsicht, daß Erkenntnis ein „Zurückbeziehn" ist, die erkenntnislösdiende These seines Unendlichseins: er fällt in Totalität zurück — und wie immer wieder zu beobachten ist: in das rhetorische Telos der textlichen Apposition. Schlechtes Index liefert genügend Belege für die Auflösung des Dingbegriffs in seiner totalen Entideologisierung, um die Methodik des Versuches, aus den Fesseln der Umgangs-, ja der indogermanischen Sprache herauszukommen, überschauen zu können. Ist „der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von altersher verknotet" ,83 so kann der Kritiker der Metaphysik innerhalb der Vertauschung von ,Eigenschaft' und ,Wesensprädikation' grundsätzlich im Prädikat „eine dogmatische Vorstellung [sehen], mit der man absolut brechen muß" .84 Da Nietzsche mehrfach die semiotische Differenzierung zwischen Signifikat und Signifikant unterläßt, werden die Grundbegriffe, mit denen er seine Kritik der Ideologien und Spekulationen betreibt, großenteils vieldeutig: so sein Fiktionsbegriff, der nicht unterscheidet zwischen hypothetischem Konstrukt und bloßer Annahme, der außerdem teilweise mit .Wunsch' oder ,Wünschbarkeit' synonym verwendet wird; so der Begriff der Übertragung, in dem sehr komplexe Vorgänge zusammengefaßt erscheinen.85 »2 111,491. 83 1,461. 111,669. «5 Vgl. dazu II, 120: „wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt"; III, 767: „daß Dinge — folglich auch Atome nichts wirken: weil sie gar nicht da sind": hier wieder ein Beispiel des als Konsequenz nachgereichten Aussagezieles — es kommt in erster Linie darauf an, den Atomismus zu bekämpfen, und die Existenzabsprache ist als totalbegründende Problembeseitigung zu erkennen. Vgl. III, 776 und 778. Noch in den dreißiger Jahren wurde Nietzsches Verbindung von Heraklitismus und Fiktionalismus in der Literatur diskutiert, vgl. die kritisch triftige Bemerkung von H. Tausend, Das Problem

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Nietzsche analysiert nicht die geschehenden realen Vermittlungs- oder Übertragungsprozesse, sondern pflegt deren Gegebenheit formal festzustellen. So schwankt der Begriff des Fingierens zwischen ,Setzen' im Sinn von Hypothese und von Bestimmen und zwischen .Fürwahrhalten'. Der Term ist weitgehend synonym zu ,Axiom' und ,Grundannahme'. Eine der wesentlichen und immer wiederkehrenden Erkenntnisse der Nietzscheschen Ideologiekritik ist die, daß aus dem „Ich" Projektionen für die Umschreibung der Dingwelt, der Welt schlechthin genommen werden. Nietzsches besonderes Interesse an der Destruktion des SubjektbegrifEs ist an einem argumentativen Ansatz, wie ihn III, 778 zeigt, festzumachen: falsch ist der Subjektbegriff vor allem wegen der im Ichbewußtsein konstituierten Stabilität, mithin wegen seines Widerspruchs zur Philosophie des Werdens. In diesem Widerspruch wäre die Angst vor der Verfestigung neu belebt. Auch ist in diesem (sozialpsychologischen) Zusammenhang die spätere Insistenz auf dem Wechsel bzw. auf der Eigenschaftslosigkeit der Dinge zu sehen. Am Dingbegriff glaubt Nietzsche die äußerste Entschleierung der anthropomorphischen Erkenntnissituation erläutern zu können, auch ihn meint er mit der Aufdeckung seiner projektiven Geschichte dekuvrieren zu können — folglich rational beseitigen zu müssen: „ich kann aus den Dingen nichts anderes herausnehmen, als was mir schon gehört" 86 — oder: „der Mensch hat seine drei inneren Tatsachen, das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Idi, aus sich herausprojiziert — er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die Dinge als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, daß er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?" 87 „Die Entstehung der Dinge ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden".88 Aus dieser immerhin sehr undifferenzierten Behauptung folgert Nietzsche sinnloserweise:

der Wissensdiaft bei Nietzsche, 24: Vaihinger, der Philosoph, der am Ende mit seiner .systematisierten' „Philosophie des Als ob" die denkgeschichtlich vorbereiteten Konsequenzen der Referenzausklammerung zog, teile mit Nietzsche die Voraussetzung, „es müsse Erkenntnis sich mit erkenntnisfremder Wirklichkeit decken". Ebd. 26 Hinweis auf die von uns vervollständigte Reihe spekulativer Negativa („Irrtum" — „Lebensnotwendigkeit" — „Betrug" — „Vorstellung" — „Verstellung" — „Blendung" — „Selbstverblendung" usw.) mit der fatalen Folgerung: wir müßten die „Unwahrheit umarmen" (vgl. KOA XII, 87). es II, 155. 87 11,973. 88 111,487. Vgl. dazu Nietzsches abstraktive Rede von der „Dingheit", „von uns hinzufingiert, aus logisdien Bedürfnissen" (III, 563), „nach dem Vorbilde des Subjekts [ . . . ] erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretiert" (III, 540; audi III, 534).

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Die Etablierung der nihilistischen Skepsis „daß die Dinge eine Beschaffenheit an sich hätten, ist eine gan2 müßige Hypothese" .8»

An diesem Text der Spätphase ist die Orientierungslosigkeit der Erkenntnistheorie und Erkenntnisposition an der sprachlichen und syntaktischen Unscharfe festzustellen. Der Topos des „Dings an sich" ist im verwissenschaftlichten Erkenntnisprozeß umgestellt worden auf die entsubstantialisierte Seite der Prädikation: gerade die ^Beschaffenheit von Dingen' hätte idealistische Erkenntnismethode nicht mit dem „an sich" qualifiziert. In Nietzsches Diktum ist das Partikel „an sich" an eine Stelle gerückt, die es zwischen attributivem und adverbialem Gebrauch schwebend hält — mit der nahegelegten These, die Dinge hätten an sich überhaupt keine Beschaffenheit, nähert sich, was Erkenntnis sein könnte, dem Irrationalismus totaler Prädikationslosigkeit. Es ist die Übertragung der anthropologischen, von Nietzsche für allgemeingültig gehaltenen Projektionsthese auf den einzelnen Erkenntnisakt, was seine Hermeneutik der kreisläufigen Versperrung zuführt. Wenn der Philosoph meint, „die psychologische Ableitung des Glaubens an Dinge verbietet uns, von Dingen an sich zu reden" , 90 so impliziert er bereits die Kontamination oder „Projektion" der verschiedenen Sphären ineinander: keine psychologische Ableitung oder Begründung einer Sache ist eine erkenntnistheoretische Beschreibung derselben. An der Grenze, wo er die Selbständigkeit einer sprachlichen Vermittlung von Erkenntnis anerkennen müßte, substantialisiert Nietzsche diese Grenzerfahrung sofort zu einer ontologischen. Er erkennt zwar, „daß unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heißen, als was sie sind", 91 — aber er zieht aus dieser Beobachtung nicht den ihr zukommenden Schluß, es sei die Aufgabe des Philosophen, den Gründen und Faktoren dieser Tatsache als eines sozialen und medialen Vermittlungssystems nachzuforschen, sondern er stoppt an dieser Grenze den hermeneutischen Prozeß in sich selbst: „die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen" ,92 «s 111,555. 90 I I I , 863. Volkmann-Schlucks Diskussion der „psychologischen Dingableitung" stellt zwar hypothetisch-rhetorisch die Frage, ob sie denn zutreffe, gleitet aber sofort in die autorhörige Paraphrase zurück (Leben und Denken 98 f.). 91 I I , 77 f. 92 1,1045. A. Schmidt nennt in seinem Aufsatz „Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie" nach einer Reihe von apologetisch wirkenden, unentschiedenen Paraphrasen von Zitaten — vornehmlich aus dem Spätwerk (Götzendämmerung) — die von Nietzsche betriebene, „Humes Kritik der naturalistischen Begriffe wiederaufnehmende restlose Liquidation des Dingbegriffs fragwürdig" (Zeugnisse 126) — nicht ohne im Stil der Adornoschule das näher nicht erläuterte „Verabsolutieren" im Zitat zu korrigieren: „ohne ein Moment des Festen", meint Adorno in der „Metakritik der Erkenntnistheorie", sei „Naturbeherrschung" nicht denkbar: „Jenes Moment skeptisch ganz abzustreiten und es einzig im Subjekt zu lokalisieren ist nicht minder dessen Hybris, als wenn es die

Auflösung des Dingbegriffs

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Bei der Übertragung der ideologiekritischen Variante der Erkenntnistheorie auf den Formalgehalt der Erkenntnistheorie kommt nur eine erhöhte und zugleich abstrakt verhüllte Rückverlagerung des Psychomorphismus heraus: „Der Intellekt" — so heißt es in latenter Personalisierung — „setzt ein freiestes und stärkstes Vermögen [ . . . ] als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren"Ρ So wird der Wahrheitsbegriff affekttheoretisch depraviert, regressiv und progressiv gleichzeitig verstanden, einmal als „regressus", das andere Mal als „processus in infinitum": 94 in beiden Fällen aber schließt er Bewußtsein als vermeintlich fixierenden Erkenntnismodus aus. Im Nachlaß der achtziger Jahre, der die früheren Ansätze nach Möglichkeit noch weitertreibt, gerade audi durch Umkehrungen, fällt eine gelassenere Haltung Nietzsches gegenüber der vordem als tödlich bezeichneten Leistung von Rationalität auf. Diese Gelassenheit verdankt sich dem jetzt unverrückbar stabilisierten dauerhaften Prozeß der „Umdeutung" und positiven „Umwertung": da die Umdeutung des Bestehenden in ein Seinsollendes das explizite Programm der Überwindung des Nihilismus geworden ist, kann in seinem Rahmen auch die relative Fixierung von Sachverhalten, also das Syndrom von Substanz-Fiktionen, geduldet werden. Die wiedergewonnene Pathetik des Wahrheitswollens versteht sich in dieser Phase als den „Willen zur Überwältigung" — so kann unter dem Mantel des „Willens zur Macht" auch die „Umdeutung [des Werdens] ins Seiende" 95 legitim werden. Schemata begrifflicher Ordnung verabsolutiert". (Adorno I.e.28) Daß es bei Nietzsche allerdings nicht nur dialektisch-apologetisch gegen Naturbeherrschung geht sondern um die Möglichkeit von weltbezogener Erkenntnis überhaupt, gibt Schmidt in seiner Weiterführung zu erkennen — von der aus jedoch die gegen den „Positivismus" gerichteten Interpretationen dieses Aufsatzes zu überdenken wären: „Aus Nietzsches zahlreichen, fast durchweg negativen Charakterisierungen des Erkenntnisapparates und -prozesses geht hervor, daß er abstrakt-identisch am Maßstab eines kontemplativen, vorsubjektivistischen Begriffs von Theorie festhält, der im passiven Nachbilden an sidi seiender Strukturen aufgeht. [ . . . ] So entstehen bei Nietzsche Alternativen, die spätestens seit Kant keine mehr sind: .Nicht erkennen', sondern schematisieren, — dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut'. Dementsprechend nennt er das Subjekt einen ,Abstraktions- und Simplifikations-Apparat — nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge . . . ' " . (ibd. 127) — Die von Schmidt zitierte Umschreibung E. Finks trifft den Sachverhalt, wenn von einer „negativen Ontologie des Dinges" gesprochen wird, — was wiederum nicht einfach heißt, daß es keine Dinge gibt, sondern daß ein ontologisches Paradigma des Dingbegriffs in der Verbalisierung mit einem wissenschaftlich-kritischen so zusammenstößt, daß beide in der gegenseitigen Negation blockiert werden. (Vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie 162.) » 111,539. w III, 541. '5 111,541. Entscheidende Formulierungen seien im Kontext mitgeteilt: „Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stüde dieser Welt ist, so ist die Moral falsch". Diese Logik ist hermeneutisch interessant. Der erste Satz ist als Ausdruck der anthropomorphen Wünschbarkeit zu verstehen. Die Bewertung der Welt geht vom .Subjektivismus' der menschlichen Moral aus. Nietzsche dreht nun nicht einfach die anthropomorphe Hermeneutik in eine von der Welt her argumentierende naturalistische'

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Die Etablierung der nihilistischen Skepsis

Nunmehr wird „die Annahme des Seienden" % als Voraussetzung des Denkens für „nötig" gehalten und mit ihr „die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, ,Vernunft' usw." — und doch muß Nietzsche den Widerspruch zu seiner Philosophie des Werdens anführen: „Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar, als falsch', als ,sichwidersprechend'. Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich muß .Erkenntnis' etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-madien vorausgehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen" •97 Unerkennbarkeit und .Permanenz des einheitlichen Werdens' — eine Formulierung, die wir als abstrakt explikative Deutung der „Wiederkehr des Gleichen" verstehen — sichern sich gegenseitig; sie sind Analogie- und Konsequenztheoreme, die sich aus der Hypostase des nur als Allurteil richtig zu verstehenden kosmologischen Prinzips des „Werdens" ergeben. Im kritischen Aspekt liefert diese Differenz das Bewußtsein der Fallibilität des Augenscheins, der projektiven Täuschung, — sie ist das kritische Moment gegen die Gefahren des Fixierens. „Der Augenschein lehrt nämlich nicht nur, wie Nietzsche zunächst gemeint hatte, gegenüber dem vergegenständlichenden Intellekt das Entstehen und Vergehen, sondern ebensosehr das tote Sein, das als unmittelbares abstrakt, ein Schein ist" .98 Der Weg der Urteilsfindung läßt sich in diesem rekonstruktium, sondern gibt ein Scheinargument, das kennzeichnenderweise ein Ganzheitsideologem mit Übertragungscharakter ist: die Umkehrung ist die innerhalb eines Teil-Ganzen-Verhältnisses — einmal ist Moral, einmal die Welt das Ganze. Der Ausdruck „Moral ein Stück der Welt" darf als katachretische Totalitätsmetapher interpretiert werden. „Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-waoi>e«, ein Aus-dem-Augeschaffen jenes fälschen Charakters, eine Umdeutung desselben ins Seiende. .Wahrheit' ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden [ . . . ] wäre — sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen — nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sidi fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den .Willen zur Macht'". Die Beurteilung des Falschen bewegt sich hin und her. Aber das begriffssprachliche Reservoir, mit dem Nietzsche hier Wahrheit bedenkt, ist semantisch noch ebenso bestimmt wie in der Frühphase: es ist das Begriffsfeld von „Auslegen", „Hineindichten", „Umdeuten" — mit der Änderung allerdings, daß Nietzsche nicht mehr wie in der Mitte der siebziger Jahre von „Lüge" spricht. Dafür reüssiert „Glaube": „Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierung, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des Lebens". Die Änderung in der Funktionsbewertung gegenüber früher ist eklatant — die Identität des sprachlidi-hermeneutischen Vorgehens ebenso. Die Restitution der Metaphysik läuft gesichert unter dem abstrakten Namen von „Glauben", „Bedürfnis" und „Schaffen": Die metaphysische Welt ist Projektion eines „Ziels" als Stabilitätssphäre, die stützend entgegenkommt. „Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser .Glaube' an die Wahrheit) ist seine Stütze". % 111,542. »7 111,543. 98 Schmidt, Zur Frage der Dialektik 127.

Auflösung des Dingbegrifls

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ven Deutungsverfahren — „Täuschung des Seienden" als Voraussetzung und ,unbegehbarer Weg der Erkenntnismethode' — unschwer als Rückinterpretation durchschauen: aus dem affirmierten Prinzip des Willens erwächst die Philosophie des Werdens — und das Werden muß nun zum Prinzip und Grund des ontologischen Scheins umgedeutet werden, an dem Nietzsche in „negativer Ontologie" festhält. Diese enthält die hermeneutische Aporie, einerseits ein Gesamturteil über ihren Charakter zu enthalten — nämlich „widersprüchlich" und „falsch" zu sein (zwei Attribute, die keineswegs identisch sind), anderseits gerade k e i n Gesamturteil zu ermöglichen: „unformulierbar" zu sein. Wenn immanente Widersprüchlichkeit und extern zu kontrollierende Falschheit nicht unterschieden werden, generalisiert sich jedes konkret widerlegbare Urteil zu einem Exponenten totaler „Fallibilität" — diesen Ausdruck setzen wir ein, um gegenüber dem wissenschaftlichen Korrelatbegriff „Falsifizierbarkeit" die Konnotation eines säkularisierten Gesamttäuschungscharakters für die Beschreibung der Nietzscheschen Hermeneutik zu sichern.

IV. Die Entfaltung der Widersprüche in wissenschaftlich-positivistischer und in verklärender Richtung 1. Die Gleichheitsthematik

unterm Druck von und Herrentheorie

Identitätsphilosophie

Ist einerseits das Werden dem Erkennen unzugänglich, anderseits der Gebrauch fixierter Begriffe und fixierender Sprache als unüberwindbare Fehlleistung der bisherigen Philosophie (Piatonismus) und der falschen Anleitung der grammatischen Funktionen zu sehen, wonach Prädikabilität einzig einem starren grammatischen oder historischen ,Subjekt'-Objekt zukomme, so ist ein Prozeß des Erkennens grundsätzlich in Frage gestellt. Daß — Nietzsche entgegen — Erkenntnis, selbst auf Prozessualität als Bedingung ihrer Ermöglichung angewiesen, sich eher am Wechselnden gewinnt als am magisch Gleichen des Augenscheins und sich historisch erst durch die Befreiimg von magischen Identitätszwängen zu der festzustellenden Selbstbeschleunigung entwickelt hat, darf als einsichtig vorausgesetzt werden. Obwohl das Stichwort des „Gleichen" zu den zentralsten Momenten der Nietzscheschen Philosophie gehört, gibt es merkwürdigerweise bisher kaum eine wissenschaftlich bemühte Analyse dessen, was Nietzsche unter „gleich" und ähnlichen Termen verstanden hat und woraus die offenkundige Aporie in der Verwendung dieser Wörter erwächst. Inhaltsenthobene Geisteswissenschaft hatte ihre Glückschance nicht zuletzt darin, Formeln nicht erfragter Gehaltlichkeit in spekulativen Applikationen in andere Themenbereiche zu übertragen. An der Wiederkehr des Gleichen kann wohl dann ein besonderes Interesse bestehen, wenn die Kategorie des .Anderen' nicht allzu deutlich ins Bewußtsein fällt. Im Aph. 32 von „Der Wanderer und sein Schatten" 1 reflektiert der Altphilologe Nietzsche die mit „Billigkeit" übersetzte Bedeutung des „aequum" als eine Verhaltensnormierung innerhalb der „Gemeinde-Gleichheit": „Aequum heißt eben, es ist gemäß unserer Gleichheit; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, daß wir manches uns nachsehen, was wir nicht müßten. Gleichheit wird hier sinnvoll als relative Einheit bei bestehenden kleinen Verschiedenheiten interpretiert und abgesetzt gegen den Zwang des Gesetzes, ι 1,891.

Gleichheitsthematik in Identitätsphilosophie und Herrentheorie

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das diese Verschiedenheiten abstrakt negiert.2 In seiner Sprachphilosophie ist Nietzsche ebenfalls schon früh davon überzeugt, daß es Gleidies nicht gibt, — und diese Überzeugung ist wiederum nachweisbar abhängig von der Desorientierung zwischen Seiendem und an sich Seiendem. Aphorismus 19 aus der Reihe „Von den ersten und letzten Dingen" thematisiert einen komplexen Zusammenhang im Umkreis der „Zahl", des „Raumes" und der „Zeit" .3 Er baut sich — bis zum ersten Gedankenstrich — auf aus Statements zu Annahmen, die sich kategorisch als „Irrtum" bezeichnen lassen müssen; nach dem Gedankenstrich werden transzendentalphilosophisch allgemeine Überlegungen zur Begründbarkeit dieses Urteils angestellt, die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant und unausdriicklicher auf Schopenhauer eine Verallgemeinerung der Transzendentalität vorschlagen; so wird der Begriff der Zahl selbst gänzlich der menschlichen Welt zugeordnet — damit entsteht eine grundsätzliche agnostische Schranke zwischen „Menschen-Welt" und an sich seiender „Welt, welche nickt unsere Vorstellung ist". Der Beginn des Aphorismus lautet: „Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein JDing'). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. —" Wenn Nietzsche die Grundlegungen der hermeneutischen Vorannahmen rekonstruiert, so realisiert er dies immer wieder als Widerspruch zum Normalbewußtsein und zur Normalsprachlichkeit. Damit zeigt sich die kritische Reduktion als Generalisierunjg derselben auf alle Ebenen des Sprechens. So entfällt der Dingbegriff, wobei die Differenzierung des begriffssprachlichen und des umgangssprachlichen Moments in der Apostrophierung zwar bewußt gehalten wird, für die Praxis der Theorie jedoch nur einen appellativen Wert behält. Der Wechsel von Ding zu ,Ding', also vom gebrauchssprachlichen zum theoriesprachlichen Begriff, wird hinfällig in der Destruktion der Theorie durch eine Gebrauchstheorie, die generell keinen kritischen Gebrauch mehr zuläßt. In den theoriesignalisierenderi Gänsefüßchen lebt, dekuvriert — aber gleichzeitig negativ affirmiert, das Wesen der philosophischen Sprechtradition vom „an sich" weiter. Die Aussage, es gebe nichts Gleiches, ist von der Erkenntnis, „es gibt 2 Dem entspricht die wiederholte Insistenz Nietzsches darauf, daß die Menschen nicht gleich sind (vgl. II, 358, 382; im Nachlaß der achtziger Jahre wird dann in der Gleichstellung der Menschen vor Gott der „Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte" gesehen und als „politisch, demokratisch, sozialistisch, entrüstungs-pessimistisch" angewandte Praxis befeindet — vgl. III, 822). 3 1,461. In Vor- und Rüdeverweisen klärt Heller (Von den ersten und letzten Dingen 197 fl.) die immanente Bedeutung des von Nietzsche Gesagten, ohne zur Richtigkeit desselben Stellung zu nehmen.

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Die Entfaltung der Widersprüche

an sich nidits Gleiches" ,4 gehaltlich nicht mehr unterscheidbar. Umgangssprachliches und philosophiegeschichtliches „an sich" mischen sich in der Einebnung der Differenz von wissenschaftlichem und jederzeitigem Erkenn tnisinteresse. Welche Erkenntnisposition hindert Nietzsche, mit dem Begriff des Gleichen, der Gleichartigkeit zu „rechnen", — sieht man von seinem genuin und wirkungsreich schlechten Verhältnis zur Mathematik ab? Es scheint, daß es sidi hier um die Wirkung des Syndroms der nichtbewältigten Gegensätzlichkeit handelt: seine doppelte Insistenz auf dem Individuellen und dem Totalen scheint ihm den Verzicht auf Klassifizierung und relative Ganzheitsbildung nahezulegen.5 Kritik an der Fixierung von „Wesen, Einheiten, die es nicht gibt", erledigt sich bis auf die Affirmation des bloßen Begriffs von „Rangordnung", die der These von der rechtlichen Gleichheit der Menschen ubiquitär und undifferenziert entgegengehalten wird: die Rangordnung dualisiert, obgleich mehrfach als reiche Stufung behauptet, im Gesamt der Nietzschetexte die Menschheit in das Zweiklassensystem der „Herren", der „höheren Menschen" (im Sinn einer formalisierten Auffassung dessen, was im „Zarathustra" „höherer Mensch" genannt wird) und der „Sklaven", bzw. des „Pöbels". Hatte Nietzsche in MA („Von den ersten und letzten Dingen" Aphorismus 19) merkwürdigerweise die Behauptung gewagt, „unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen [ . . . ] auf logische Widersprüche", und damit unterstellt, daß es von der Ebene der Empfindung einen direkten Weg zur Logik gebe, so läuft neben dieser Kontamination die umgekehrte weiter: die Logik selber sei nichts als verwandelte verfälschende Empfindung. Diese Kontamination ist innerhalb der widersprüchlichen .Methodologie' der Nietzscheschen Erkenntnistheorie kontradiktorisch fungibel: einmal als kritisches, einmal als verschleierndes Moment. Eine Position, aus der sich wesentlich kritisch operieren ließe, besteht nicht mehr. Im Nachlaß der achtziger Jahre sind die Stellen zahlreich, an denen logisches Verhalten vitalistisch de- und reduziert wird, schließlich selbst als Derivat des Generalnenners der Lösung der Welträtsel erscheint: als Spezialfall des „Willens zur Macht". In der Praxis der Nietzscheschen Erkenntniskritik wiederholt sich seine autistische Spaltung der Menschheit zwangshaft, sonst hätte er das Konfinium der unkritischen und der zur Kritik fortschreitenden Erkenntnis berücksichtigen müssen. Seine „Umwertung" der bisherigen „perspektivischen Interpretationen" als lebensnotwendiger Schätzungen der Welt wäre eine Perpetuierung in bloßer Umkehrung, würde — wie es eine große Anzahl von 4

II, 119. (Unterstreichung von W. G.) Zum Gebrauch des Apostrophs in der Sprache Nietzsches vgl. Walter Gebhard, Philosophie auf Gänsefüßdien, in: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980, Bern 1980, 267—274. 5 Nietzsche selbst sieht „scheinbar entgegengesetzt" „zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualistische und die Forderung gleidier Rechte" (III, 474).

Gleichheitsthematik in Identitätsphilosophie und Herfentheorie

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Texten nahelegt — die These zutreffen: „die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen", — Welt und ihre Interpretation würden sich gleichsetzen „als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn — es gibt keine .Wahrheit"1.6 Die negative Axiomatik der generellen Wahrheitsablehnung hält sich seit der Zeit des Aufsatzes „Über Wahrheit und Lüge" durch und blockiert die Realisierung des eigenen aufklärerischen Anspruchs, die Geschichte des Denkens kritisieren zu können. Erkenntnistheoretische Leistung wieder verhüllend, steht die zum Willen zur Macht bekehrte Weltanschauung vor dem Agnostizismus, der sich auf dem Grund des Festhaltens an einem ganz emphatisdien Gewißheitsbegriff ergibt. Dabei entspricht die emotional-emphatische Bedeutungsbelastung der ungeheuren Abstraktheit der Fragestellung: „Man müßte wissen, was Sein ist, um zu entscheiden, ob dies und jenes real ist (ζ. B. ,die Tatsachen des Bewußtseins'); ebenso was Gewißheit ist, was Erkenntnis ist und dergleichen. — Da wir es aber nicht wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann? Es kann nicht einmal sich selbst definieren!" 7 Eine solche Notiz dürfte geeignet sein, die Meinung zu unterbinden, Nietzsche habe nicht das Bedürfnis nach erheblicher Stabilität hinter seiner werdenslustigen Philosophie mit sich getragen. Seine Denkposition ist dadurch definiert, daß sie — im Blick auf den instrumentalen Charakter des Denkens — doch die Bezugnahme des Instrumentums auf seinen komplex-realen .Gegenstand', auf seine Lebenspraxis als Praxis unterläßt — diese Unterlassung sich aber realisiert in der Form der nivellierenden abstrakten Behauptung von Praxisrelevanz. Daß die Kritik des Instrumentariums von seinem wirklichen Gegenteil, nicht von dem instrumentell-immanent gewonnenen „Begriff", den es sich von sich selber macht, sondern vom Zusammenprall mit widerständiger III, 497. Dieser Aphorismus offenbart die Mehrwertigkeit des Prädikats als eine typische Redeform der Gänsefüßdien-Metaphorik: Das „Angehen" von Welt läßt die praktische (ob von Subjekt oder jedoch vom Welt-Objekt ausgehende) Struktur des Vorgangs im Unklaren: vorhermeneutische und hermeneutisch bereits begriffene ,Welt' treten nicht auseinander. 7 III, 499. Auf die gerade im Rahmen einer evolutionär formulierten Ableitung der Erkenntnis-Praxis verwundernde Tatsache, daß Nietzsche sowohl die Treffsicherheit der gattungsgeschichtlich-transzendental gewonnenen „Fiktionen" wie ihre historische Bewährung außer Berücksichtigung hält, verweist Habermas gelegentlich seiner Infragestellung von Nietzsches Perspektivismus (Erkenntnistheoretische Schriften, Nachwort 256 ff.). Er hebt die Nicht-Beliebigkeit des Erkenntnisapparats — in seiner Abhängigkeit „von der bestimmten organischen Ausstattung des Menschen und den Konstanten der ihn umgebenden Natur" (ebd. 258), also von stabil widerständiger Realität — hervor. 6

Die Entfaltung der Widersprüche

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Wirklichkeit abhängen könnte, das hat Nietzsche nicht auswertend einzusehen vermocht. Sein Denken ist methodologisch in einem eminenten, zugleich in einem historisch präzis auf die Situation der monologischen Philosophenexistenz des 19. Jahrhunderts beziehbaren Sinn „theoretisch". Die auf die letzte Notiz folgende Eintragung belegt dies am Beispiel einer Reflexion des Einheitsbegriffs, die ebenso wie das zunächst interpretierte Zitat mit dem Problem des Gleichen zusammenhängt. Wir zitieren aus diesem nach einem typischen Modell der Gedankenabfolge notierten Aphorismus (konditionale Hypothetisierung der als Allaussage vorgetragenen Anschauung, dialektisch-ablenkende Explikation mit großenteils digressiven Theoremen, wiederholend-pointierte Affirmation der Anfangsbehauptung) nur den hier wichtigen Anfang und Schluß (der Mittelteil befaßt sich mit der bekannten Abwehr der Kausalität). „Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das .Ding', an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiedenen Prädikaten hinzuerfunden. [ . . . ] Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nidit eins ist" .8 Die ,soziologische' Spaltung der Einheit der Zusammenlebenden in die voneinander isolierten Herren und Mindertypen ist parallel der Spaltung des Urteils des Satzes in Subjekt und Prädikat. An die Überführbarkeit von Substantiven in Verbalphrasen hat Nietzsche — in seiner abstrakten Fixierung ans ,Wesen' des Substantivs — nicht ausreichend gedacht. Ihre erkenntnistheoretische Sprengkraft erhält diese Spaltungsanschauung dort, wo sie unbewußt Bedeutung und Geltung, Sein und Substanz dissoziiert. Die Realität des EinsSeins im Beherrschtwerden scheint Nietzsche ebenso übersehen zu müssen wie den Geltungscharakter sprachlicher Klassifizierung, die weit davon entfernt ist, kein veränderliches, korrigierbares Zusammenspiel zu sein. Auf derselben Seite steht nun die Notiz, die Nietzsches Abwehr der zutreffenden Explikation von „Gleichheit" als „Ähnlichkeit" belegt. „Gleichheit und Ähnlichkeit. 1. Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit; 2. der Geist will Gleichheit, d. h. einen Sinneneindrude subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert." Zum Verständnis der Logik: „der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht — der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein" .9 s 111,500. 9 III, 500.

Gleichheitsthematik in Identitätsphilosophie und Herrentheorie

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Nietzsches Argumentation ist völlig vom reduktionistischen Impetus getragen. Dessen aus der emphatischen Ichtheorie ableitbare Einseitigkeit besteht darin, den Dingbezug nur als Übermächtigung und nicht auch als Defensivität zu deuten. Aus ihr resultiert die Petitio, der Geist wolle nur Gleichheit, — als ob nicht aus der Erfahrung des Assimilierbaren im Unterschied zum Nichtassimilierbaren das entsprechend große Interesse am Ungleichen erwüchse. Nicht erst das im Denkzusammenhang der achtziger Jahre für Nietzsche festliegende Theorem, Weltbeziehung sei schlechthin nicht anders denn als machtvermehrende Expansion zu denken, liefert ein argumentativ triftiges Moment für die Vereinseitigung der Erkenntnistheorie, diese ist vielmehr formal vorprogrammiert durch die zunächst kritischen Ansätze der frühen Sprachphilosophie, die sich jedoch längst wie nahezu alle Theoreme Nietzsches zu einer fluoreszierenden Formel verselbständigt haben. Es gehört nun zu den interessantesten Erscheinungen der Nietzscheschen Philosophie, daß die Ambivalenz der gefundenen und als kritische Instanzen selbst ,Glauben' erzwingenden Formeln es ermöglicht, sie sem an tisch und funktional widersprüchlich einzusetzen. Die Problematik des Gleichheits-Topos realisiert sich so darin, daß das „Gleiche", schlechtestens beleumundet in der Sozial- und Erkenntnistheorie, doch in der mythologisierenden Rückgewinnung des kritisch verlorenen Terrains des Glaubens gerade zum Herold der Weltverklärung und des affirmativen Weltverständnisses werden kann. Die Entwicklung der Auffassimg von der „ewigen Widerkehr des Gleichen" ist immanent weniger nach dem Modell von Frage und Antwort, trial and error, sondern nach dem Modell von Verlust und Wiedererlangung zu interpretieren. Hier verwirklicht sich eine ,Beseitigung' der durch die Kritik der Substantialisierungen und des Dualismus aufgetretenen Entzüge durch die Anschauung. Der Begriff des Gleichen wird von einem pseudoexplikativen Modell, dem der kreisförmigen Zeit oder der ewigen Wiederkehr, neu gefüllt und gleichermaßen plausibel und fungibel gemacht.

a) Die Abwehr des Vergleichbaren Der dem funktionierenden Denken eigentümliche Wert des Gleichheitsbegriffs als einer operationalen Größe wird innerhalb der pseudokritischen Denktheorie Nietzsches negiert; operational und irrationale Funktionen erhält der Gleichheitstopos zurück im Rahmen der pseudoreligiösen Aufforstungen der Erlebnis- und Deutungsformen. Die logische Gleichheitsformel a = a verweist auf die strenge formale Identität. Nun hat die Tradition der Identitätsphilosophie — sowohl in der Natur- wie in der Geschichtsphilosophie — den Blick auf die Unterscheidung von Identität und Gleichheit getrübt. Die

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Die Entfaltung der Widersprüche

Identitätsphilosophie ontologisiert ihre Einheitslehre zum kosmologischen Prinzip. An der immanenten Explikation der Einheit als ,Zusammenwirken des Polaren, Gegensätzlichen' usw. scheitert nun eine bestimmte Dualismuskritik des 19. Jahrhunderts, da in ihren postulierten Monismus im voraus ein (etwa heraklitischer) ,Urwiderspruch' eingeht. Wie zu zeigen war, weigert sich Nietzsche, obgleich in seine Naturphilosophie Ergebnisse des mathematischen und empirischen Denkens von Leibniz eingehen, infolge der genuinen Empirismus· und Naturwissenschaftskritik, sich mit einer operationalen Fassung des Gleichheitsbegriffs zu beschäftigen: er reduziert ihn, seiner philosophischen Abstammung aus der romantischen Widerspmchs-Einheits-Philosophie treu, auf den Alternativbegriff der puren Identität: mit dieser ist weder logisch Gleichheit noch empirisch die Klasse etwa von Buchenblättern zu fassen. So wird er nicht müde darauf hinzuweisen, es gebe keine völlig gleichen Blätter, und daraus den Fehlsdbluß zu ziehen, die Verwendimg des Begriffs Gleichheit sei unstatthaft. Dies hängt mit seiner totalen Kritik der Prädikation zusammen. Wird unter logischer Gleichheit „seit Leibniz die Ununterscheidbarkeit mit Hilfe von Aussagen aus einem wohlbestimmten Bereich von Aussagen" 10 verstanden, so entfällt diese Chance für ein Denken, das sich dadurch rein zu halten glaubt, daß es gegen den Begriff der Aussage grundsätzlich polemisiert. Selbst die etymologisch triftige Anweisung, vom „aequum" als dem Gleichwertigen auf den Begriff der Äquivalenz und der Äquivalenzbeziehung zu kommen, wird ausgeschlagen unter dem Druck der Identitätsvorstellung. In einer Formel gesagt: die Abwehr des Vergleichens — im unbewußten Gleichnisdenken — zieht den Ausschluß des Gleichen nach sich.11 Am Gleichheitsproblem realisiert sich die Spannung zwischen Abstraktion und Konkretem, allerdings nicht in der kurzgriffig-apodiktischen Gegensätzlichkeit, die Nietzsche deren Verhältnis zu geben versucht hat. Sie vermittelt sich gerade in der Praxis, deren Konkretheit nur durch die Abstraktion gesetzter, d. h. gemeinsamer und gewollter Zwecke vermittelt wird.12 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. J. Ritter, III, 671. Über den Zusammenhang von Eigenschaftsprädikaten und Quantitätsaussagen belehrt der angeführte Artikel des historischen Wörterbuchs der Philosophie: „Reflexivität" und „Komparativität (Drittengleichheit [ . . . ] ) " explizieren die durch Eigenschaften charakterisierte Gleichheit. Gleichheit ist mit Andersheit korreliert und bezieht sich vornehmlich auf die Quantitätskategorie, während Ähnlichkeit sich in Qualitätskategorien ausspricht. „Der Versuch, die Identität als absolute oder unbedingte Gleichheit zu definieren (E. v. Hartmann), ist von der Mehrzahl der Logiker mit der Begründung abgelehnt worden, daß der Begriff der G. als Relationsbegriff den der Andersheit fordere, während Identität eine jede Andersheit ausschließe". (Hist. Wörterbuch der Philosophie, III, 672) Hieraus erhellt schlaglichtartig eine Nietzsches Kritik an E. v. Hartmann relativierende historische Prägung des Denkens in der 2. Jahrhunderthälfte durch die Identitätsphilosophie. 12 Emge reflektiert in dem Aufsatz „Der ethische Fehlgriff nach dem Ganzen" 16 f. „die ganze Kontingenzsphäre des Richtbaren" als voluntaristisch erfaßte Teleologie. Von sei-

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Geht die Setzung von Gleichheitszeichen bei jeder Rechnung davon aus, daß in Bezug auf den Zweck die individuellen Züge der Teile vernachlässigbar sind, daß von ihnen abstrahiert werden kann, so ist die Operation mit Zahlen wie mit Begriffen nicht einseitig auf den polemischen Nenner der puren Utilität oder der leeren Theorie zu bringen, sondern als eine kritische Annäherung audi an Realität zu sehen. Gleichheit wäre als kritisch vorläufiger Totalitätsbegriff zu verstehen, der die Arbeit des Unterscheidens und des wiederholten Entscheid e n , in welche Reihe oder Klasse ein Teil oder Individuum einzuordnen ist, voraussetzt und dauernd erfordert. Die Kritik an dem fälschenden Verfahren wäre keineswegs vorab dem rechnerischen Umgang mit Wirklichkeit allein zuzuschreiben, sondern eher jenem sprachlichen Bewußtsein, das angesidhts der Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit auf jedes korrektive Verfahren verzichtet. Gerade als Wertphilosoph mindert Nietzsche seine Bedeutung, wenn er verkennt, daß Gleichheitsurteile Urteile über äquivalente Werte sind, daß Form-, Maß- und Projektionsgleichheit Spezialfälle von ,Umwertung' sind. Nietzsches skeptische Einstellung zur Mathematik ist bekannt — und offensichtlich wie so vieles an seiner Philosophie auch durch Selbsterfahrung legitimiert. Wie Mittasch nachgewiesen hat, ist Nietzesches Beschäftigung mit der Mathematik anfänglich historischer Art. Seine Position ist dabei traditionell mathematikängstlich. Aphorismus 11 in der Reihe „Von den ersten und letzten Dingen" belegt unsere These, daß sich die von Mittasch kritiklos als „Grundlagen-Kritik" 13 aufgefaßte Ablehnung der Mathematik aus einer analogisierenden, also vergleichsweisen und unkritischen Übertragung der kritischen Sprachphilosophie auf die Mathematik ergibt. Der Aphorismus trägt unter dem Titel „Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft" die Auffassung vor, die Kulturentwicklung sei als Entwurf einer Gegen-Welt in der Wirklichkeit der Sprache aufzufassen, wobei eine latente Antizipation des ,Willens zur Macht' erscheint, eben das, was wir die Fixiertheit an das expansive Moment der Wirklichkeitsauseinandersetzung genannt haben. Katachretisch und totalisierend unterstellt Nietzsche den Operationen des Verwortens, der Namensgebung, der Begriffsfindung das, was er als proton pseudos aller Sprache, gar aller Wirklichkeitsbeziehung aufzudecken habe: der Mensch habe „an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt" .14 Das dürfte äußerst fraglich in historischer Hinsicht sein, ist in systematischer einfach falsch, denn kein Namen konstituiert „Wahrheit": Nietzsche verwechselt Namen und Urteil. Er unterstellt im Grunde ein religiöses Verhaltensnen Ausführungen her wird deutlich, daß Nietzsche vor dem Chorismos des Direktiven von seinem realen Bezug, vor der „Unterscheidung, wodurch ja überhaupt erst ein Sinn menschlichen Verhaltens möglich wird" (ebd. 18), zurückschreckt, υ Mittasch, Naturphilosoph 54. u 111,453.

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modell der Beziehung des Menschen zu seiner Sprache. Für Nietzsches Sprachtheorie sind alle Akte der Versprachlichung sogleich entweder selbst schon Glaubensakte oder Gründe für Glaubensakte. Nietzsches dabei eingesetzte Begriffe von „Wissen" sind in sich inkonsistent: dem „Sprachbildner" (eine höchst totalisierende Figur, wohl an Luther, aber kaum an ethnischer Sprachentstehung explizierbar) wird ein emphatischer Wissensbegriff zugeschrieben (mit dem Vorwurf der Unbesdieidenheit, „das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten" ausdrücken zu können); im selben Satz nennt Nietzsche, wiederum verunklärend, einfachhin „die [Unterstreichung von W . G . ] Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Oer Glaube an die gefundene 'Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind". Diese Argumentation übersieht das der Sprache, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung zur Brauchbarkeit inhärente Moment der Selbstkorrektur. So korreliert dem Ich-Topos „Sprachbildner" der Welt-Topos „eine eigene W e l t " : die realen und praktischen Vermittlungen fallen aus. Die totale Aufklärung über den „ungeheuren Irrtum" des Glaubens an die Sprache schlägt sogleich um in den Seufzer, es sei „glücklicherweise zu spät, als daß es die Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte". So teilt sich die Zeit selbst und bleibt doch ungeteilt. Der Aphorismus überträgt nun nach einem Gedankenstrich diese neue Wahrheitsentdeckung ohne Folgen auf die Logik: „Audi die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, zum Beispiel auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit" , 15 Die Applikation ist mit einer Totalisierung verbunden. Diese gilt audi für die dritte Ebene, auf welche die Einsicht der Sprachphilosophie übertragen wird: „Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiß nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewußt hätte, daß es in der Natur keine exakt gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Größenmaß gebe". Es gehört nicht zu den beruhigenden Ergebnissen der Nietzscheforschung, daß die entwicklungsgenetischen Hypothesen des Autors so selten auf ihre sachliche Brauchbarkeit untersucht wurden. Man hat häufig den Eindruck, daß die Auslegung sich im Höhenflug der Abstraktion, der Gesamtsichten unvergleichlichen Ausmaßes über dunkle Erdteile des Wissens vorführt, zur abstraktiven Überbietung statt zur kritischen Unterscheidung gedrängt fühlt. Nietzsches Befangenheit im theoretischen Problematisieren ist gerade an diesem zentralen Axiom seiner Sprach- und Erkenntnisphilosophie eklatant und steht is III, 453.

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hier im engsten Kontext seiner nur halb gelungenen wissenschaftlichen Ausbildung und Praxis — seine Kritik der „vermeintlichen Wissenschaft" ist auf globales Vermeinen begründet. Nur auf der Grundlage der Unterscheidung „zwischen Schematen der Weltauslegung" „und der Erzeugung illusionären Scheins im Dienste der Herstellung'", sagt Habermas 16 am Ende seines Kommentars zu Nietzsches Erkenntnistheorie, „hätte Nietzsche auch die Vereinbarkeit von zwei Kategorien der Erkenntnis: von Wissenschaft und Reflexion einsehen können". Die Aussparung der Kritik an offenkundigen Unterstellungen und Ungereimtheiten kennzeichnet weithin den an der Etablierung Nietzsches als eines ganzheitlichen Naturphilosophen interessierten, sehr sachkundig vorgehenden Mittasch, der Nietzsches Unzulänglichkeiten nur in parenthetischer Abmilderung zurückzuweisen wagt; er zitiert Aphorismus 19 von MA mit dem einleitenden Zusatz, Nietzsche spreche „in gewisser Verkennung der praktischen Bedürfnisse, die zur Arithmetik geführt haben" . v Wir sehen im Gegenteil mit Nachdruck einen Zusammenhang darin, daß Nietzsche dazu tendiert, alle genetischen Theorien zu transzendentalisieren (was sich geistesgeschichtlich eindrucksvoll und philosophisch keiner Widerlegung bedürftig ausnimmt) und alle sachphilosophischen Fragestellungen unter bio-soziologischem Ideologieverdacht zu hermeneutisieren. Es ist nicht ohne Grund, daß den Philosophen der kategorischen Verklärung des Individuums die juristische und sozialgeschichtliche Ableitung der Mathematik als öffentlicher Form der Grund- und Besitzverteilung nicht interessiert — daß er umgekehrt aus der Weigerung gegen bestimmtes Sehen einen totalen „Perspektivismus" zimmert, in dessen Dunkelraum der Wille zur Macht seine öffentlich und auch sprachkritisch unbeschränkten Expansionen entfaltet.18 Zum Beleg der identitätsphilosophisch gelenkten Umdeutung des Gleichheitsbegriffs seien noch einige Zitate hier angeführt, die außerdem eine leider allzu häufig zu beobachtende Methode in Nietzsches Kritik augenfällig machen: die im voraus verfügende Umänderung von Voraussetzungen in einem aphoristii« Habermas, Erkenntnistheoretische Schriften, Nachwort 260. Mittasch, Naturphilosoph 54. 18 Nur äußerst indirekt verweist Mittasch auf die in Nietzsches Dingkritik latente Abwehr des Atomismus, die sich artikuliert als Unterstellung von Widersprüchen in den Auffassungen von Raum, Zeit und Atom; die Auflösung von Einheiten in „Bewegungen" soll den Perspektivismus fördern, wobei aber Bewegungen und Vorgänge selbst (sie sind ja Ausdrude der Flucht vor dem Fixierten) „gemäß Nietzsches Heraklitisdiem Grundzug immer neu und anders, also im Grunde nicht zählbar sein" sollen (55). Mittasch weist mit Recht darauf hin, daß ein „derartiger Grundton" der Wissenschaftsentwertung „sich auch durch Nietzsches spätere Niederschriften" hindurchzieht, „nur daß statt von .Irrtum' und ,Fälschung' mehr und mehr auch von menschlicher Perspektive' geredet wird". Nietzsche sieht dann metaphorisch selbst „Die Zahl als Perspektive Form", was sich uns nicht als sinnvolles Urteil, sondern als Katachrese darstellt.

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sehen Beweisgang. So hat Nietzsche sicherlich auch die Einsicht in die praktische Bedeutung der Mathematik ausgesprochen, aber selbst diese Einsicht formuliert sich wieder in der Weiterführung zu einem latenten jpnzcÄphilosophischen Allurteil. „Die Zahl ist unser großes Mittel, uns die Welt handlich zu machen. Wir begreifen so weit, als wir zählen können, d. h. als eine Konstanz sich wahrnehmen läßt. — Daß es gleiche Dinge, gleiche Fälle gibt, ist die Grundfiktion sdion beim Urteil, dann beim Schließen" , 19 In einem anderen Aphorismus dokumentiert sich Nietzsches genetisch-totalisierende Ontologie, die auf einen in höchstem Grad formalsprachlichen Extrembegriff zurückgreift: „Die Nebeneinanderexistenz von zwei ganz Gleichen ist unmöglich: es würde die absolut gleiche Entstehungsgeschichte voraussetzen, in alle Ewigkeit zurück".:20 Dieses kosmologische Argument läuft auf die Wiederholung der bloßen Identität der Welt mit sich selbst hinaus und fordert umgangssprachlich die Undenkbarkeit des Gleichen als des Ähnlichen, — obwohl Nietzsche gerade diese Explikation des schwierigen Begriffs durchaus auch gebraucht. Seit den frühen siebziger Jahren hält Nietzsche an der Illusionsthese fest, — mögen die systematischen Beziehungen der Denktopoi nun von einem Sensualismus zu einem Agnostizismus oder Pluralismus wechseln.21 19 Mittasch, Naturphilosoph 56. 20 Ebd. 2 1 Über die Verbindung der Fiktionalitätsthese mit der Verschärfung der transzendentalistischen Trennung von „Außenwelt, Subjekt" (GOA XI, 179) klären die bei Mittasdi 59 zusammengestellten Zitate auf. Nietzsches (gelegentlicher = unsystematischer) Sensualismus impliziert einen Idealismus, wenn er eine von Anbeginn des Denkens an bestehende Verwechslung von Reiz und veranlassendem Ding annimmt·· „Die Gleichheit der Reize gab dem Glauben an gleiche Dinge' den Ursprung: die dauernden gleichen Reize schufen den Glauben an Dinge, Substanzen". (GOA XII, 27) In Umkehrung zu der oben zitierten transzendentalistischen Ableitung des Dingbegriffs aus dem Subjektbegriff versucht Nietzsche auch den entgegengesetzten Weg: Dabei wird der „Irrtum des Gleichen" als Gelenk der Umstellung eingesetzt. In beiden Ableitungen spielen Funktionsannahmen ohne pragmatische Verifizierbarkeit ihre Rolle. Es heißt also hier: „Damit es überhaupt ein Subjekt geben könne, muß ein Beharrendes da sein und ebenfalls viele Gleichheit und Ähnlichkeit da sein . . . Nun aber glaube ich: das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrtum des Gleichen entsteht, zum Beispiel, wenn ein Protoplasma von verschiedenen Kräften (Licht, Elektrizität, Drude) immer nur einen Reiz empfängt und nach dem einen Reiz auf Gleichheit der Ursachen schließt: oder überhaupt nur eines Reizes fähig ist und alles andere als gleich empfindet [ . . . ] — Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit außer uns — und später erst fassen wir uns selber nach der ungeheueren Einübung am Außer-uns als ein Bfharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf". (Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 173 = GOA XII, 26).

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D.e späte Philosophie radikalisiert die Nichtgleichheit alles Vorkommenden in Clemie und Atomismus. „Recht radikal", meint Mittasch, „muten folgende Sätze an, die sich auf die Frage der Gleichheit von Atomen beziehen": „Ähnliche' Qualitäten, sollten wir sagen, statt .gleich' — audi in der Chemie. Und, ähnlich für uns. Es kommt nichts zweimal vor; das Sauerstoff-Atom (soll leißen: jedes Sauerstoff-Atom; d. Verf.) ist ohne seines Gleichen, in Wahrheit: jür uns genügt die Annahme, daß es unzählige gleiche gibt!" 2 2 Dtß sich hinter der Verurteilung des Gleichheitsbegriffes in der Naturphilosophe ein durchaus in die Thematik des Zusammenhangs der Dinge' verweisendes emphatisches Verständnis der Einzigkeit alles Existierenden verbirgt, beleirhtet eine Notiz wie die folgende, die ausdrücklich einen umgekehrten Anthropomorphismus formuliert: JDer Mensch eine Atomgruppe, vollständig in seinen Bewegungen, abhängig v>n allen Kräften, Verteilungen und Veränderungen des Alls — und andererseits wie jedes Atom unberechenbar, ein An-und-für-sich" Ρ Ar dieser Formulierung wird ein sehr häufiger Ansatz zu schlechtem Denken bei Nietzsche greifbar: die Mischung einer bestimmten Aussage mit einem unbeäimmten Allurteil. Abhängigkeitserklärungen müssen bestimmte Aussagen sein, rollen sie nicht leer werden. Wenn Nietzsche nun ,Abhängigkeit', wie es im Zig der monistischen Verabsolutierung des Zusammenhangdenkens als Weltdenken liegt, zurückverweist auf das Totum „aller" Kräfte, so degeneriert sein Gedanke zum Ansdiauungstopos ,alles hängt mit allem zusammen', ohne daß loch eine Bestimmbarkeit dieses Zusammenhangs angegeben werden könnt. Diesem leeren Zusammenhang korrespondiert im Zitat prägnant die I n e f f ü l i t ä t des extrem Einzelnen. Wie die Totalität zum kosmologisch-religiösen Aü avanciert, so das Atom zum hypostatischen An-sidi. Der eigentlich tragfähige Begriff, jener der ,Gruppe' — er würde wiederum zur Annahme des Gleidheitsbegriffs zwingen, — löst sich dabei in sich auf, oder er wird zur methodisch leeren Phrase und Artikulationshilfe. Das Problem der Reihe, der Stufe, der Gruppenbildung — also jeder Kategorisierung — bleibt ungelöst. „Üb es in einer Gesamtlage etwas Gleiches geben kann, zum Beispiel zwei Bätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entsehung hätten . . . eine unmögliche Annahme" . 24 W r kommen bei der Analyse der Totalitätsanschauungen auf das Phänomen cfer leeren Stufenbildung in Nietzsches Denken zurück. 22 Mitasch, Naturphilosoph 67 (vgl. GOA XII, 28 f.). 23 Zit.nach Mittasdi, Naturphilosoph 75 ( = GOA XII, 303). 24 Zit.nadi Mittasdi, Naturphilosoph 75 ( = GOA XII, 52). Anderseits weist Nietzsche die Annahme zurück, das Gewordene sei durch die Totalität der Bedingungen seiner Entstehung schon definiert: „Wenn man die Bedingungen des Entstehens kennt, kennt mar das Entstandene noch nicht! Dieser Satz gilt in der Chemie wie im Organischen". (Zit nach Mittasdi, ebd. = GOA XIII, 277)

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b) Ungleichheit und Lebensbegrifi Hier ist weiterfragend dem Zusammenhang nachzuforschen, der sich für Nietzsches Naturphilosophie als einer Philosophie des Werdens zwischen Ungleichheit und Lebensbegriff auftut. Das Organische ist für Nietzsche mit dem Nicht-Gleichen konnotiert. .Gleichheit', von Nietzsche immer als ,Statisch-Unveränderliches' interpretiert, scheint ihm unverträglich mit dem Wesen des Werdens. Seine Charakterisierung von unorganischer und organischer Gestalt erfolgt nach einem psychologischen Kriterium und argumentiert psychomorph. Mittasch hat S. 76 eine Reihe von Belegen zusammengestellt, die Nietzsche sehr deutlich in die psychomorphistische Tradition des 19. Jahrhunderts einreiht. Zum Verständnis dessen sei verwiesen auf Fechners lernenden, also seine Nichtidentität mit sich selbst geschichtlich und kosmologisch bezeugenden Gott. Eine auffallend biomorphe Auffassung der Materie liegt folgenden Statements zugrunde: „Unorganische Materie, ob sie gleich meist organisch war, hat nichts gelernt, ist immer ohne Vergangenheit! Wäre es anders, so würde es nie eine Wiederholung geben können — denn es entstände immer etwas Stofl mit neuen Qualitäten, mit neuer Vergangenheit". „Alles Organische unterscheidet sich vom Anorganischen dadurch, daß es Erfahrungen aufsammelt·, und niemals sich selber gleich ist, in seinen Prozessen. — Um das Wesen des Organischen zu verstehen, darf man nicht seine kleinste Form für die primitivste halten; vielmehr ist jede kleinste Zelle jetzt Erbe der ganzen organischen Vergangenheit". Nietzsche sieht sich unfähig, die organische Zweckmäßigkeit bloß „durch Steigerung zu erklären" : „Eher würde ich glauben, es gebe ewig organische Wesen". Solche Überlegungen zeigen den Übergang der an Grenzen der Vorstellung gelangenden Naturphilosophie in den Raum der mythischen Symbolisierung, — in diesem Zwischenbereidh der aporetischen Kosmologie siedelt sich der Gedanke der Wiederkehr an. Das „Organische" behält jenen aus seiner romantischen Tradition stammenden Konnex zur Welt des Seelischen und Ewigen: „Ich sehe nicht ein, warum das Organische überhaupt einmal entstanden sein muß". (•= GOA XIV, 35) „Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen". ( = GOA XII, 62) 25 Die oben festgestellte Kenntnisgrenze ist eine Aporie der reduktiven Ableitbarkeit. Von ihr wechselt Nietzsches Philosophie zurück in jene Sprachlichkeit, die Aporetisches in Affirmatives uminterpretiert. In diesem Raum werden 25 Alle Zitate nach Mittasch, Naturphilosoph 76. Vgl. Κ Τ Α X I I I , 231: „Das mächtige organische Prinzip imponiert mir so, gerade in der Leichtigkeit, mit der es unorganische Stoffe sich einverleibt. Ich weiß nicht, wie diese Zweckmäßigkeit einfach durch Steigerung zu erklären ist".

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die im diskursiven Sprech- und Denkbereich verfemten Begriffe erstaunlicherweise gerade zu den Trägern der Verklärung. „Die ewige Wiederkehr des Gleichen" restituiert das rational Hinausgeworfene in der Umdeutung seiner ewigen Selbstwidersprüchlichkeit umso heftiger, je begriffslos-wiederholungsreicher, je ritueller und imperativischer die sprachliche Präsentation dieser neu glaubbaren „Entdeckung" sich auslebt. Dieser Prozeß ist auf rezeptionsgeschichtlicher Ebene vermutlich mit der Lektüre irrationalistischer Naturphilosophie beschleunigt, obgleich er auf der strukturellen Ebene ein längst habitualisiertes Modell der Reaktionsbildung ist. Mittasch meint zu der psychistischen Totalisierung der Evolution Folgendes: „Hier wird eine an FECHNER anschließende und vor allem von WILHELM PREYER vertretene phantastische Auffassung laut, daß v o r dem heutigen Zeitalter der Kohlenstoff-Organismen andere Elemente die Grundlage des Lebenden gebildet hätten, so daß Anorganisches durchweg .Schlacke und Abraum' von einstigen Organismen etwas glühendflüssiger Art wäre! Sätze wie die obigen [ . . . ] machen es höchstwahrscheinlich, daß NIETZSCHE Schriften von PREYER (ζ. B. »Naturwissenschaftliche Tatsachen und Probleme' 1880) gelesen hat". 26 1881 und 1882 bringt für Nietzsche die Lektüre von R. Mayers „Die Mechanik der Wärme" und von Kuno Fischers Spinozaarbeit (mit emphatisch überraschter Zustimmung):

26 Mittasdi, Naturphilosoph 76 f. Mittasch führt im folgenden aus, daß Preyer bereits 1872 auf der Versammlung deutscher Naturforscher psydiistisdie Annahmen vorgetragen hat und mit Fechner und Zöllner auch für Steine ein „Empfindungsvermögen" reklamierte. Er zitiert den Satz: „Wir behaupten, daß die anfanglose Bewegung im Weltall Leben ist, daß das Protoplasma notwendig übrigbleiben mußte". (ebd. 77) Wie entschuldigend macht Mittasch für die Tatsache, „daß bei Nietzsche die Grenzziehung zwischen Organischem und Anorganischem weniger scharf ausfällt [als bei Schopenhauer]" Nietzsches „weit geringere diemische und physiologische Einzelkenntnisse" veraßftjrgftjich. An anderer Stelle, wo er die „Entwicklung des Geistes in der Natur" behandelt, schreibt Mittasdi etwas schärfer, aber immer noch entlastend gegenüber den Umkehruflgs- und Übertragungszwängen Nietzsches: „In ziemlicher gewaltsamer Weise wird die Entstehung der Arten in Beziehung zur Nachahmung gesetzt. ,Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. So bilden sich Arten, daß die ersten nur ähnlichen Exemplare stark nachahmen, d.h. dem größten und kräftigsten Exemplare es [inexplizites Totale eines Prozesses!] nachzumachen. Die Anerziehung einer zweiten Natur durch Nachahmung. In der Zeugung ist das unbewußte Nachbilden am merkwürdigsten, dabei das Erziehen einer zweiten Natur'". (GOA X, 169) Von dieser Stelle wird unsere These, daß in Nietzsches Naturphilosophie latent immer noch eine Umschrift der Evolutionstheorie in die ästhetische Theorie des Genieglaubens vorliegt, erheblich bestätigt. Die Provenienz des Nachahmungstopos aus der Kunstwelt ist vom Kontext der Theorie der altera natura um ein weiteres sinnfällig gemacht. (Vgl. dazu die Arbeit von H. Eizereit, Kunst: eine andere Natur. Historische Untersuchungen zu einem diditungstheoretisdien Grundbegriff, Bonn 1951). Es sei auch darauf hingewiesen, daß die soziomorphe Topik von Naturvorgängen als Erziehungsprozessen in ähnlich reduktiver Anwendung schon bei Fechner zu beachten ist.

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Die Entfaltung der Widersprüche „Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine .Instinkthandlung'. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist — die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen — in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder [ . . . ] ; er leugnet die Willensfreiheit — ; die Zwecke — ; die sittliche Weltordnung — ; das Unegoistische — ; das B ö s e — " 2 7

Weiter verlangt Nietzsche zwei Autoren, die wesentliche Träger der mehr oder weniger psychistisch bestimmten und leibnizianisch beeinflußten Naturphilosophie sind: Otto Liebmann und Otto Caspari.28 Nach Auskunft von Max Oehler sind auf einem wahrscheinlich von 1882 stammenden Notizzettel zwei Bücher verzeichnet, die ins Zentrum der spekulativen Verklärungsphilosophie des Naturglaubens weisen: „Die physikalische und philosophische Atomenlehre" von Fechner in der zweiten Auflage von 1867 und die Arbeit des wichtigsten Fechnerschülers und -propagators Kurd Laßwitz „Atomistik und Kritizismus" von 1878. 29 Die Anfangsjahre der Achtziger bringen gleichzeitig mit dem Rückgriff auf die naturphilosophische Lektüre der Siebziger: auf Spirs „Denken und Wirklichkeit" auch die .Offenbarung' der Wiederkunftsidee im August 1881, im Anschluß daran die Ausarbeitung der beiden ersten Zarathustrateile. Die als Erleuchtung interpretierte Sicht der ewigen Wiederkunft verschafft subjektiv die Erlösung aus einer zentralen theoretischen Aporie. Ehe wir uns der Diskussion dieser Anschauung zuwenden, sei der Blick auf die Bedeutung des Gleichheitstopos und des Gleichnisses im „Zarathustra" gerichtet, wobei die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur präzisiert werden muß. Der Text des „Zarathustra" ermöglicht eine Sichtung der unterschiedlichen Lösung des Gleichheitsproblems, da er neben heftig polemisierenden ebenso verklärende Passagen enthält. Obgleich das Thema der Gleichheit nicht allzu wiederholungsreich erscheint, gehört es, schon am Anfang genannt, implizit zu den Voraussetzungen für die zentrale Absicht der Etablierung des Übermenschen. Am Ende des 5. Abschnitts der „Vorrede" expliziert Nietzsche die Existenz des „letzten Menschen" als die verächtlichste, alles verkleinernde Residualform der ihrer Emphatik verlustig gegangenen Menschheit. Ihr gegenüber ist die Vollform durch Einheit der Widersprüche charakterisiert („man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu kön2 7 Zit. nach Nietzschechronik 76. 28 Von Otto Liebmann besaß Nietzsche drei Werke: „Kant und die Epigonen" 1865, „Zur Analysis der Wirklichkeit" 1880 (1. Auflage 1876) und „Gedanken und Tatsachen", Heft 1: Die Arten der Notwendigkeit — die mechanische Naturerklärung — Idee und Entelechie". 1882, — die beiden letzten Arbeiten tragen Lesespuren. Auf inhaltliche Entsprechungen, vor allem auch mit Casparis Werk „Der Zusammenhang der Dinge" kann erst eingegangen werden, wenn wir die Weltvorstellung des späten Nietzsche thematisieren. 29 Vgl. Mittasch, Naturphilosoph 369.

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nen" 30). Nietzsche weist darauf hin, daß sich Begriffs- und Vorstellungslosigkeit des letzten Menschen („Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?") als Verlust der Intendierbarkeit von Selbst- und Weltbezug auswirkt": „Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu besdiwerlidi. Wer will noch regieren? Wer nodi gehorchen? Beides ist zu beschwerlidi. Kon Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus" .31 Diese berühmte und in ihrer kulturkritischen Bedeutung weiterhin diskutable Stelle mag den sozialphilosophischen Sinn des negativen Gleichheitsbegriffs bei Nietzsche verdeutlichen. Dieser wird in der Polemik des Kapitels „Von den Taranteln" im zweiten Teil des Zarathustra rücksichtslos ausagiert. Die vorausgehende Rede „Vom Gesindel" hat — unter Betonung des biographisch wertkonfliktuösen Charakters der Auseinandersetzung mit dem „Gesindel" — geklärt, daß das „Gesindel" als Brunnenvergiftung des Lebens aufzufassen sei, — unbeschadet des damit entstehenden Konflikts mit der ebenfalls zarathustrischen Lehre, daß das volle Leben seinen ,Gegensatz' in sich brauche (vielleicht ist eine Vergiftung doch etwas anderes als ein heraklitisches Mittel zur Lebenssteigerung).32 „Taranteln" sind für Zarathustra die „Prediger der G l e i c h h e i t " , und als missionarische Konkurrenten „versteckte Rachsüchtige!" 33 Indem Nietzsche diesen Taranteln die „Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind", zuschreibt, unterlegt er die totale Spaltung leerformelhaft: man weiß ja zunächst nicht, worin die Nichtgleichheit besteht. Gerade an Stellen, wo sich die hermeneutische Verdächtigung genetisch-sachlich ausweisen müßte, fehlt die Angabe von Kriterien. Zur Präzisierung taugt es wenig, wenn die Rache als „gegen Alles, was Macht hat," 34 gerichtet dargestellt wird: das formale Überordnungsverhältnis muß vorgreifend mit den Werten ausgestattet werden. Zarathustra rekurriert auf den bloßen Lebensbegriff, aui den Vorwurf der Ketzerverbrennung und der „Welt-Verleumdung"; er leistet sich die Rüddnterpretation, die von der personifizierten Gerechtigkeit empfangene Lehre, „die Menschen sind nicht gleich", sei von seiner „Liebe zum

30 KGWVI, 1,13. « KGWVI, 1,14. 32 Vgl. KGWVI, 1, 120 und 121: „Und nicht das ist der Bissen, an dem ich am meisten •würgte, zu wissen, dass das Leben selber Feindschaft nöthig hat und Sterben und Marterkreuz: — Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner Frage: -wie? hat das Leben auch das Gesindel n ö t h i g ? " Gesindel ist hier erweitert zu denken als eine soziomorphe Metapher der negierten Verklärung: „Sind vergiftete Brunnen nöthig und stinkende Feuer und beschmutzte Träume und Maden im Lebensbrode?" 33 KGWVI, 1, 124. 34 KGWVI, 1, 125.

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Die Entfaltung der Widersprüche

Übermenschen" 35 erzwungen. Er zieht sich denn wirklich auf das im voraus gehenden Kapitel als Aporie eingestandene, jetzt wieder zur leerformalhaften Imperativik verklärte heraklitische Modell der Widerspruchslösung durch Identifikation zurück. Die „grosse Liebe" hofft, daß zwischen den (Über-) Menschen „immer mehr Krieg und Ungleichheit" gesetzt werde, daß „Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und alle Namen der Werthe: Waffen [sein] sollen [ . . . ] und klirrende Merkmale davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss!" 36 Nietzsches Kritik des wissenschaftlichen Lebens als eines auf das „Erkennen wie auf das Nüsseknacken" „abgerichteten" ,37 von sich selbst distanzierten Gelehrtendaseins (auf die autobiographischen Ebenen dieses Textes ist hier nidit einzugehen) entfaltet sich im aufgewiesenen Zusammenhang des Ressentiments gegen die Auseinandersetzung mit der Kontingenz. „Gleichheit" hat für Nietzsche die Konnotation des Miserablen. Das zeigt sich in der Thematik der verklärenden Transzendenz in der Rede „Von den Gelehrten". Zarathustras Rede ist von der Enttäuschung an den Gelehrten motiviert, da sie seiner Mission damit im Wege stehen, daß sie die Relativität, Beschränktheit und Minderwertigkeit des Daseins dem sonnenhaften Verklärer der Transzendenz (vgl. den Schluß der vorausgehenden Rede „Von der unbefleckten Erkenntnis": „Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. / Und diess heisst m i r Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf — zu meiner Höhe! „ 3 S ) vor die Füße werfen: Die affirmative Seite des polemischen Einsatzes wird leer mit dem Formalausdruck des „Über" verbalisiert: „Sie wollen nichts davon hören, dass Einer über ihren Köpfen wandelt; und so legten sie Holz und Erde und Unrath zwischen mich und ihre Köpfe. Also dämpften sie den Schall meiner Sdiritte: und am schlechtesten wurde ich bisher von den Gelehrten gehört. Aller Menschen Fehl und Schwäche legten sie zwischen sich und midi: — ,Fehlboden' heissen sie das in ihren Häusern. Aber trotzdem wandele ich mit meinen Gedanken ü b e r ihren Köpfen; und selbst, wenn ich auf meinen eignen Fehlern wandeln wollte, würde ich noch über ihnen sein und ihren Köpfen. Denn die Menschen sind n i c h t gleich: so spricht die Gerechtigkeit. Und was ich will, dürften s i e nicht wollen!" 39 Zarathustras Ressentiment leitet sich ausdrücklich von der Überlastung seines Bewußtseins durch die Aufforderung her, das Wertnegative — was wir systematisch als ,widerständige Realität' oder Kontingenz bezeichneten — in 35 KGW VI, 1,126. 36 KGW VI, 1, 126. 37 KGW VI, 1, 156. 38 KGW VI, 1, 155. 39 KGW VI, 1, 158.

Gleidiheitsthematik in Identitätsphilosophie und Herrentheorie

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sein Konzept des affirmativen „Wohlan! Wohlauf!" zu integrieren. Es widersteht dieser belastenden Integration mit der Spaltung der menschlichen Welt mittels des reinen „Über", das sich nicht sachlich, sondern nur durdi eine automatisch appellierende Wert-Personifikation (der Gerechtigkeit) auszuweisen vermag. Der egologische Charakter dieser Spaltung zeigt sich in der Schlußpassage, durchsichtig verschleiernd in die Stellung einer Begründung gerückt, mit der ganzen Hilflosigkeit einer verletzten Selbstbehauptung. Realisiert man das ,erkenntnisleitende' bzw. erkenntnisverschleiernde Interesse, das diesem Redeabschnitt zugrundeliegt, so fällt eine Bestätigung der kosmologischen Abwehr der Gleichheit ins Auge: beidemale geht es um die ineffable Affirmation des Individuellen. Diese noch negative Annäherung an die Totalität überzuführen in eine lebenspraktische und sprachgetragene Einheit mit ihr, ist das Erkenntnisziel der Theoreme der abstrakten Dimensionsüberführung: des „Zusammenhangs" und der „Wiederkehr" der Dinge. Die Entdeckung der ewigen Wiederkehr des Gleichen „schafft" diese resdose Überführung. Wie in der Rede „Von den Taranteln" die sachliche Unterscheidung zwischen dem den Gleichheitsaposteln zugeschriebenen „Tyrannen-Wahnsinn" und dem Macht-Wahnsinn der permanenten Selbstüberwindung des Lebens uneinsehbar ist, da dieselbe Struktur einmal positiv, einmal negativ bewertet wird, so ist der Vorwurf gegenüber den „Gift-Spinnen" zugleich eine zum Positiven weiterführende Aufgaben-Zuteilung: „Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen!" 40 In der entscheidungsfreien Spielzone des Kampf- und Kriegsgleichnisses kann in der Mitte der Tarantel-Rede die Uminterpretation der „Tyrannen-Gelüste" 41 in den Macht-Willen rhetorisch anberaumt werden. Die den ganzen Zarithöiffiijfflitden entsprechenden präskriptiven Steigerungen in den späteren Teilen, durchziehende Leerformel für diese Positivierung ist eine abstraktive Naturmetapher: die des „Schaffens" synonym mit „Zeugen". Soweit der Schutz dieser Metapher reicht, kann die egologische Dichotomie des Sozialen zurückgenommen werden und die Vorstellung einer homogenen, nicht von „Stufen" gebrochenen Gruppe ertragen werden. Durchaus kennt Nietzsche das Gleichsein im „Zarathustra" — jedoch immer noch mit der egologischen Rüde- und Gegeninterpretation des christlichen Gleichheitsgebotes. Dessen Abwehr wird in der umfangreichen Rede „Von den Mitleidigen" vorgeführt; sie gipfelt in jener Hybris, die von unserer Interpretation als .Überwindung' einer genuinen Angst « KGWVI, 1,126. « KGWVI, 1,125.

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vor entwertender, Selbstbewußtsein bedrohender Realität einsehbar gemacht wurde: in der Hybris, das Objekt der positiven Zuwendung — in einer pragmatischen Anwendung des transzendentalen Apriori — dadurch der antizipativen „Macht" des Ego zu unterstellen, daß der Schein erweckt wird, der Objektstatus des Liebbaren werde allererst vom Liebenden „geschaffen": „alle grosse Liebe [ . . . ] will das Geliebte noch — schaffen! / ,Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, u n d m e i n e n N ä c h s t e n g l e i c h m i r ' — so geht die Rede allen Schaffenden" .42 Es wäre ungenau, hier mit der Banalität zu erläutern, daß das Geliebte in seinem Geliebtsein erst durch den Liebenden geschaffen werde — diese Banalität ist die einer Metapher, in der für den Objektstatus ein Beziehungsstatus von Begründungstyp unterstellt wird. Ihre volle ideologische Brisanz erhält die Metapher erst dadurch, daß selbst noch der Beziehungsstatus in einen ,theomorphen' „Schaffens" -Status hochgefälsdit wird. Zarathustras „Nädhster" ist die dialektische Rücknahme des altruistisch konzipierten christlichen und erlaubt sich damit selbst die Gruppenbildung einer dem ,Großich' a priori unterstellten Ähnlichkeit der Gleichen. Besonders in dem entschiedener als die beiden ersten und der dritte Teil auf soziale Relevanz bezogenen vierten Teil des „Zarathustra" wird die Gleichheit der Auserwählten als Gesetz aus der Macht Zarathustras propagiert.43 In einer Notiz vom Frühsommer 1885, in der Nietzsche auf die „gelehrtenhafte" Verkleidung des dionysischen Lebensmodells in der GT reflektiert, ist die erkenntnistheoretische und die sozialpragmatische Funktion des „Gleichen" im Kontext der Heilswelt der (griechischen) Heroen einzusehen. Mit seiner höchstpersönlichen „Entdeckung" der Antike überbietet Nietzsche selbst den neuhumanistischen Antikenkult: sogar Goethe und Winckelmann hätten „von dorther nichts gerodien. [ . . . ] Wenn hier je erkannt werden soll [„hier": doppelt bezogen als Positionsmischung', sowohl in der Antike wie in ihrer Nietzschesdien Nachwelt], so gewiß nur das Gleiche durch das Gleiche. Und wiederum — nur Erlebnisse aus aufspringenden Quellen — die geben auch jenes neue große Auge, das Gleiche in der vergangenen Welt wieder zu erkennen" .44 Damit wird Erkenntnis exklusiv und jede Hermeneutik als usurpatorische Auslegung der Welt als eines Eigenen verstanden. Die Lösung in dem Konflikt, das Gleiche kosmologisch zu wollen und soziologisch zu verwerfen, er« KGW VI, 1, 112. 43 „Ich bin ein Gesetz nur für die Meinen, idi bin kein Gesetz für alle. Wer aber zu mir gehört, der muss von starken Knochen sein, audi von leichten Füssen" (KGW VT, 1, 350). Anschließend an den Schluß des „Abendmahls" wird in den Reden „Vom höheren Menschen", im Rüdegriff auf „Zarathustra" I, gegen die Gleichheitsforderungen des nunmehr als „Pöbel" apostrophierten Typs der Mindermenschen polemisiert. 44 KGW VII, 3, 144.

Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra"

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folgt in der von den Ängsten der Auflösung stigmatisierten Gleichnisrede des transzendentalen Verklärungs-Ichs, als welche der „Zarathustra" verstanden sein will, im zweiten Abschnitt des Kapitels „Der Genesende" im III. Teil. Das geschieht unter vollem Einsatz von Totalitätssymbolen: des Kreises, des Tanzes, des Rads des Seins — dessen affirmativer Name lautet „Ring des Seins" (während „Rad", aus der pessimistischen Phase, mit den negativen Konnotationen des Ixion-Motivs behaftet bleibt). Diese Lösung erfolgt naturmetaphorisch als Tierrede, unter rekurrenter Verwendung jener All-Formel, in der die kosmologische Plus-Dominante der Gleichheit sich als intendierte Sache des „über alle Dinge" im närrischen Sprechen hinwegtanzenden und -täuschenden Menschen durchsetzt. Nach der vorausgehenden Selbstlegitimierung des auf transzendental-kosmologische Erquickung („Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narretei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge" 45) vereinfachten Daseins („Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen") wird der Tanz der solchermaßen realitätsentlastenden Dinge als Gleichnis ihrer Wiederkehr proklamiert: „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins" ,46 2. Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra"

„Also sprach Zarathustra" realisiert seinen dem Neuen Testament widersprechenden Kontrafakturcharakter nicht zuletzt darin, daß die Spredimodi des Gleichnisses und des Naturvergleichs, wie sie im religiösen Text vorliegen, übernommen, überboten und gelegentlich travestiert werden; — ihre potenzierte Abhebung vom „hinterweltlerisch"-idealistisch verstandenen Spiritualismus gewinnen sie jedoch erst darin, daß auf dieser Ebene des weit gefaßten Naturgleichnisses Natur, Natürlichkeit, Leiblichkeit selbst affirmiert werden. Um die Relevanz des Naturgleichnisses über die hier nicht erforderte sum45 Die Anspielung auf die berühmte Novalisstelle, den Beginn des „Monologs" (vgl. Schriften, hrsg. v. R. Samuel, 1965, 672), enthält eine Aktivierung des ästhetischen Verfügens „über" die Dinge im Verhältnis zu der distanziert bleibenden Haltung Hardenbergs, wo es heißt: „Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen — sie sprächen um der Dinge willen". Zur exakten Analyse dieser Sätze vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung 252 f. •6KGWVI, 1,268 f.

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Die Entfaltung der Widersprüche

marische Sichtung von Naturbildern hinaus als tragende Struktur der von Zarathustra zu vermittelnden Lehre erkennbar zu machen, müssen jene affirmativen Lehr-Reden vor allem berücksichtigt werden, in denen Zarathustra, in seinem wiederholten Einsatz zur Missionierung der Menschheit, das Neue zugleich kombinatorisch und direkt zu vermitteln sucht. Es ist dabei davon auszugehen, daß Nietzsches Denkbefindlichkeit in der Zeit vor dem Entstehen des „Zarathustra" eine kritisch-präsente Scheidung zwischen rationalem und bildhaftem Sprachgebrauch — trotz der Rezeption naturwissenschaftlichen Schrifttums — nicht mehr erzwingt. Unter dem Druck einer universalistisch verwässerten Hermeneutik, deren Positions- und Strukturlosigkeit analysiert wurde, verschwinden die Tätigkeiten des Träumens, des Ausdeutens, des Denkens und des praktischen Handelns im theoretisch-bildlichen „Zurechtmachen". So .folgert' Nietzsche in einem initial mit dem Selbstverhältnis des hermeneutischen Subjekts befaßten Aphorismus aus dem Herbst 1880 aus dem Bild der „Spaltung" der Persönlichkeit in Einheiten, die „unter einer Mehrheit" stehen, eine prozessual doppelwertige Introjektion von „Gesellschaft" in uns und „Individualität" in Gesellschaft: „wir haben ,die Gesellschaft' in uns verlegt, verkleinert und sich auf sich zurückziehen ist keine Flucht aus der Gesellschaft, sondern oft ein peinliches F o r t t r ä u m e n u n d A u s d e u t e n unserer Vorgänge nach dem Schema der früheren Erlebnisse. Nicht nur Gott, sondern alle Wesen, die wir anerkennen, nehmen wir, selbst ohne Namen, in uns hinein: wir sind der Kosmos, s ο w e i t w i r i h n b e g r i f f e n o d e r g e t r ä u m t h a b e n . Die Oliven und die Stürme sind ein Teil von uns geworden: die Börse und die Zeitung ebenso"." Es ist ein hergebrachter Topos der Zarathustraliteratur, die Anschaulichkeit dieses Textes als Beispiel einer mehr oder weniger durch Gattungsmischung ausgezeichneten „Art philosophischer Gleidhnisliteratur" 48 zu sehen. Die philologische Hermeneutik wäre gut beraten gewesen, die Strukturen des Gleichnissprechens in der ganzen Spannweite zwischen Symbol, Allegorie und Personifikation aufzufächern, statt dem Schein der Konkretheit in der Form personiw KGW V, 1, 5 4 5 f . In der folgenden Notiz wird „unser w a c h e s L e b e n " als „ein A u s d e u t e n innerer Triebvorgänge mit Hülfe des Gedächtnisses an alles Empfundene und Gesehene: eine willkürliche Bildersprache davon, wie das Träumen von der Sensation im Schlafen" genannt. 48 Vgl. W. Taraba, „Der schöpferische Einzelne und die Gesellschaft in Nietzsches Zarathustra", in: Literatur und Gesellschaft vom 19. ins 20. Jh., hg. J . J. Sdirimpf, Bonn 1963, 201. Unpräzis formuliert E. Fink: „Im Zwisdienraum von Denken und Dichten ist — der Form nach angesehen — der Zarathustra angelegt; [ . . . ] Sein Denken vollzieht sich selbst bildhaft, visionär nicht in spekulativen Begriffen, die ihm ja nur als leere Abstraktionen erscheinen, in der Konkretion bildhafter Anschaulichkeit bewegt er sich. Seine höchsten Gedanken nehmen gleichsam selbst Aussehen und Gestalt an, sie verdichten sich in der Zarathustra-Figur". (Nietzsdies Philosophie, Stuttgart 1960, 61 f.)

Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra"

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fizierender oder naturbildlicher Anschaulichkeit naiv Glauben zu schenken. Wir können hier nur an wesentlichen Beispielen die sprachliche und semantische Transformation gleichnishaften Sprechens herausarbeiten und müssen auf eine summative Behandlung der unzähligen Naturvergleiche in der Selbst- und Situationsdeutung der Zarathustrischen Reden verzichten. Die Bedeutung des Naturbildes für die textimmanente Struktur der Aussage des Gesamtwerkes kann sich dabei nur erhellen, wenn oppositional Sprechwelten im Auge behalten werden. Wenn so im ersten Abschnitt der Vorrede des Zarathustra die erste Redesituation in strikter narrativer und semantischer Beziehung zu Natur formuliert wird, wenn Zarathustras erster Son nen-Hymnus als Bittgebet und halbwegs frustrierte Klage so vorgebracht wird, daß er „mit der Morgenröthe" aufstand, „vor die Sonne" hintrat und ihr in romantischer Subjektanalogie die ihn betreffende Kommunikationsproblematik offeriert: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!" 49 — dann liegt hier ebensowenig ein bloßer Naturvergleich wie eine bloße Personifikation vor, sondern der Text empfiehlt eine totale Situationsdefinition im Rahmen von Naturgeschehen; dazu paßt die Einmischung sozialer Bedürfnisse in Naturbildlichkeit: Zarathustra ist seiner „Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat", er „bedarf der Hände, die sich ausstrecken" .50 Eine für das Werk entscheidende Ebene der Naturgleichnissprache ist die Analogie von gestirnhaftem, etwa an der Sonne vergegenwärtigtem Geschehen und human-sozialer Willensentwicklung. Damit ist das Thema des wertenden anthropomorphen Sprechens für dieses Werk genannt, und es wird an einigen der tragenden ,Naturbilder' zu verfolgen sein, wie weit sich Konsistenz bzw. Ambivalenz dieser Wertungsnotwendigkeit einstellen. Zarathustra thematisiert seine Situation und seine Aufgabe — in der Höhe des Gebirges meditativ-überlegen leben und „in die Tiefe steigen", als würde das angebetete Gestirn den Vollzug solchen emblematisdhen Tuns erfordern: „wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!" 51 Was die Schwierigkeit der Rhetorik des Zarathustra 49KGWVI, 1, 5. 50KGWVI, 1, 5. Wieweit hier bereits eine für die Dimension der Naturgläubigkeit relevante Tradition der „poetischen" Lüge im 19. Jahrhundert festzumachen wäre, mag dahingestellt bleiben — jedenfalls zeigt sich daran, daß dieser Naturbezug sowohl von Zarathustras Dasein wie seiner existentialen Selbstdeutung es nicht zuläßt, als die e i n z i g e „res" des Werkes die Problematik der Kommunikation zu verstehen, wie es Anke Bennholdt-Thomsen vorschlägt; denn Zarathustras Weg ist der Versuch einer Antwort auf die in der Natureinöde zunächst asketisch auf sich genommene, dann wiederholt unterbrochene und unfreiwillige Kommunikationsfrustration eben d u r c h kosmologische Kategorien. („Nietzsches ,Also sprach Zarathustra' als literarisches Phänomen") 51 KGWVI, 1, 5.

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ebenso ausmacht wie manche Lust an ihr, ist die Tatsache, daß die dem emblematischen Vorbild-Bezug inhärierende verbale — hier: philosophisch-rationale — Inscriptio ausgespart, verschwiegen, verrätselt bleibt. Sofern Exegesen dieses Werks es versäumen, den axiologischen Sinn von Ausdrücken wie „Untergang" zu konkretisieren, haben sie die denn auch weidlidi genützte Chance, sich paraphrasierend um „Abstraktheit" oder „Konkretheit" dieser Ausdrücke zu kümmern, statt auf ihre erst in der Funktion sinnentlassende Struktur einzugehen. Nietzsche hat es seinerseits nicht versäumt, die durchgehende Naturanalogie für seinen Zarathustra initial und ausdrücklich voranzustellen: „Ich muss, gleich dir, u n t e r g e h e n , wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will" ,52 Seine zitierend-entscheidungsenthaltende Thematisierung „menschlicher'' Sprache als einer Zeichenwelt, die nicht zu den besondere Naturzugänge eröffnenden Höhen der Zarathustrischen Existenz empordringt, wird zu befragen bleiben als Vorschlag einer Überbietung des Gegebenen, die zur Thematik des Übermenschen hinführt. Unsere Untersuchung wird sich demnach in drei Arbeitsgängen durchführen lassen: zunächst wird das Sonnengleichnis als zentralstes Naturgleichnis des „Zarathustra" interpretiert, das sowohl Naturbild wie Weltgleichnis ist, dann wird nach der Relevanz des Gleichnisdenkens in der Reflexion der gedanklich handelnden Zarathustra-Figur(en) zu fragen sein, um abschließend in einem erneuten Abstraktionsschritt mittels einer Untersuchung der Präpositional-Verschiebungen Aussagen über die intendierten Weisen einer „Umwertung" und Transzendierung gegebener Wertungen treffen zu können. Dabei handelt es sich vor allem um das Begriffsfeld von „Unter-" und „Übergang" und „Steigen" und „Fallen".

a) Das Sonnengleichnis In der Vorrede wird die Präsenz der Sonne als religiös-anthropomorphe Göttergestalt in der gebetartigen Anrufung durch Zarathustra definiert. Ihre Vorbildlichkeit impliziert hauptsächlich folgende Werte: ,Überfluß des Schenkens', jNeidlosigkeit' in diesem Schenken und im Anblick des damit vermittelten .Glücks', ,Fähigkeit zum (verlustlosen?) Untergang'. Solche Werte sind nicht kategorisch von den Werterwartungen unterschieden, die Zarathustra als führender, seiner „Weisheit überdrüssig" und übervoll gewordener Lehrer der Menschen an sich selbst richtet. Die Distanz zwischen .Naturwert' und ,Humanerfahrung' formuliert sich hier in der Verwendung traditioneller, goethesprachlicher Topoi: Zarathustra versteht seine Mission als Ausfluß und „Abglanz 52 KGWVI, 1,6.

Die Relevanz des Naturgleichnisses im „Zarathustra"

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deiner Wonne" .53 Im übrigen ist die Analogie im Bereich der kommunikativen Reaktionsbildung nachdrücklich eingesetzt: ist die Sonne, ihres autonomen Weges „ohne" Zarathustra, Adler und Schlange „satt" werdend, als Vorbild einer ohne Reaktionsbildung von erwarteter Dankbarkeit auskommenden Kraft gedacht, so erwartet Zarathustra doch, indem er sich und seine Tiere als Uberfluß „abnehmende" und den Spender Sonne dafür „segnende" .Partner' einerseits und die angerufene Sonne im Sinn eines Missionsauftrags als Segensgewährdan anderseits beschreibt, die Realisierung eines menschlichen Kommunikationsprozesses. Bedürfnis-, Erwartungs- und Entlastungsbildung in diesem kurz angedeuteten Schema wiederholen die Struktur der Naturbeziehimg, die wir an dem jugendlichen Modell des Gewittererlebnisses nachgewiesen haben, vor allem scheint uns die Ambivalenz der nicht eindeutig positiv gewerteten ,pleromatischen' Ausgangslage interessant: im Wechsel von „satt" und „überdrüssig" ·— jenes für das verklärt-entlastete Sonnengestirn, dieses für den bedürfnis-belasteten Menschen eingesetzt — scheint ein Doppelaspekt versteckt, der seineheraklitische Widerspruchspotenz sehr wohl zur Entfaltung der Wertaspekte in einem prozessual unedndeutig verlaufenden Klärungsweg zu bringen vermag. Auf den Zusammenhang zwischen „Überfülle" und „Untergang", wie er im 4. Abschnitt der Vorrede thematisiert wird, haben wir im folgenden Untersuchungsschritt näher einzugehen. Um die thematische Verschiebung ambivalenter Strukturen im Blick zu behalten, muß hier bereits auf die in Natur gleichnissen entfaltete Bewegung der Selbstdeutungen Zarathustras Bezug genommen werden: In der Gewittermetaphorik, die vom 3. Abschnitt der Vorrede an eine Linie der Selbstdeutung Zarathustras im ganzen Werk einzeichnet, expliziert Zarathustra seine ,Bedeutung' als Überfluß-Moment jenes kommenden Ereignisses, des „Übermenschen", der den eigentlichen „Blitz" bildet, als dessen untergehenden Verkündiger — im Naturbild: als „schwerer Tropfen" „einzeln •{>»..] aus der dunklen Wolke" 54 fallend — Zarathustra sich versteht. Das UfltSFgängsmotiv enthält hier einen bemerkenswerten Verweis auf die Thematik des pleromatischen Überflusses und der universalen Weltbeziehung. „Ich liebe den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang".55 Mit dieser .Erläuterung' wird eine mehrwertige Rückdeutung des aus Überfluß aufbrechenden Zarathustra nahegelegt: die im Topos „alle Dinge" formulierte Totalität der Weltbeziehung erzwingt ,Selbstvergessenheit' als Modus einer zunächst nicht näher festgelegten oder bewerteten Entgrenzung, Situations- und Daseinsveränderung; deren Kulmination ist jedoch in paradox wirkender Engstellung 53KGWVI, 1, 6. 54 KGW VI, 1, 12. 55 KGW VI, 1, 12.

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als „Untergang" an eben der audi den Aufbruch erzwingenden Fülle der ,Totalitätserfahrung' gedeutet. Damit wird, was wir das Moment heraklitischer Widersprüchlichkeit nannten, bestätigt, und der 5. Abschnitt der Vorrede bringt denn audi einen in Nietzsches Denken seit der Frühzeit, seit der Konzeption des Dionysischen etablierten Topos dieser psychologisch-erfahrungsgenetisdien Widersprüchlichkeit: „man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können".56 Das Denkmotiv der dialektischen Genesis klärt innerhalb der Zarathustra-Vorreden die zunächst anscheinend rein religiösaffirmativ und anbetungs-naiv angesetzte ,emblematische' Beziehung Gestirn/ Mensch im Sinn einer heraklitisch-heroischen, Totalität und Untergang verbindenden Synthesis der Gegensätze. Wieweit jedoch gerade das Naturbild der Sonne, nur zum Teil äquivalent der Motivik des zu gebärenden Sternes, auf die affirmative und verehrend-ver klärende Struktur der Weltbeziehung bezogen bleibt, offenbart seine weitere fast ausschließlich in Erhebungszusammenhängen stehende Verwendung. Diese verlautet am Ende des ersten Zarathustrabudies, dort, wo die positive Lehre verkündet wird: in den drei Kapiteln der Rede „Von der schenkenden Tugend". Die Motivkonstanz zeigt sich hier wie durchgehend an Verklärungstexten als Wiederholung des Wertsymbols „Gold" F Das genannte Doppelmotiv von Schlange und „goldener Sonne" enthält seinerseits eine dialektische Brisanz, deren Bedeutung in der ersten Rede von den Tugenden geklärt wird. Hier arbeitet Zarathustra die generelle Bedeutung des „Glänzenden" und des „Gleichnisses" heraus. „Alles Glänzende" vermag „mit dem Auge des Diebes", des egozentrisch „entartenden Sinnes" gesehen zu werden — im Gegensatz zu dem, was zu Anfang des „Zarathustra" das „ruhige Auge" 58 der Sonne genannt ward. Nietzsche nützt hier den gesamten Bedeutungskontext dessen, was christlich „Erhebung der Seele", „dankvertrauende Aufgehobenheit in Gott" und philosophisch „Erhöhung", „Idealisierung" genannt ist. Gleichzeitig bringt er aber die Umwertung dieser traditionell spiritualistisdi verstandenen Gleichnisbeziehung ein: KGW VI, 1, 13. 57 So sollte die Sonne den überfließenden Becher segnen, „dass das Wasser golden aus ihm fliesse" (KGW VI, 1, 6), und zu Beginn des genannten letzten Rede-Kapitels von Zarathustra I wird das Gold-Motiv in erheblicher ornamentaler Pracht entfaltet: „seine Jünger aber reichten ihm zum Abschiede einen Stab, an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte" — das regt Zarathustra zu Reflexionen über den Wert des Goldes an, in deren Klimax die Motiwerbindung von gelingender Kommunikation und Gestirnsgleichnis wieder auftaucht: „Goldgleidi leuchtet der Blick dem Schenkenden. Goldes-Glanz schliesst Friede zwischen Mond und Sonne (KGW VI, 1, 93) 58 KGW VI, 1, 6. 56

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„Aufwärts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleichniss unsres Leibes, einer Erhöhung Gleidhniss. Solcher Erhöhungen Gleichnisse sind die Namen der Tugenden. Also geht der Leib durch die Geschichte, ein Werdender und Kämpfender Und der Geist — was ist er ihm? Seiner Kämpfe und Siege Herold, Genoss und Wiederhall. Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Böse: sie sprechen nicht aus, sie winken nur. Ein Thor, welcher von ihnen Wissen will!" 59

Im Gegensatzverhältnis zur spiritualistischen Erhebungstradition, in der die Erhöhung das Gleichnis des Geistes war — in letzter Begründung die Gleichnisverweisung der von Gott her gedachten Gottebenbildlichkeit des Menschen, wird die Spannweite einerseits immanentisiert, anderseits das Gleichnis umgekehrt gelesen: scheint das „sursum"-Motiv des Eröffnungssatzes den analogen Anschluß an die spiritualis tische Geistesbindung der Gleichnisfindung nahezulegen, so wird doch im antithetischen Doppelpunkt die Umkehr unterstellt. Die Umwertung des Geistes ist darin zu sehen, daß er nicht mehr „dux" als Zielwert, sondern „ comes" als Begleiter und Ausdrucks-Symptom des Leibes ist. Gleichwohl hält Nietzsche an der Elevation im Gleichnisprozeß fest. Er grenzt dessen Wert hier jedoch gegen die Welt des Wissens ab, deren Möglichkeit und Wertschätzung hier nicht expliziert werden. Nur in anschaulicher Bildbeziehung wird am Ende der Rede „eine kluge Seele" als „Schlange der Erkenntnis" vorgeführt, die sei es ein Jenseits, sei es nur eine neue Form „von Gut und Böse" ankündigt.60 Nietzsche liefert im weiteren Text — zwischen der Nennung des Aufrufungscharakters des Gleichnisses und der Nennung der Macht als seines Gehalts — eine kontrafakturale Umstellung der spiritualistischen Gleidinisbeziehung; sie bedient sich gleichwohl im Sprachmaterial gerade der wörtlich eingesetzten, aber metaphorisch erhöhten biblischen Rede: in der „Stunde, wo euer Geist in Gleichnissen redet", die zugleich die Ursprungsstunde eurer Tugend ist, gilt: „Erhöht ist da euer Leib und auferstanden; mit seiner Wonne entzückt er den Geist, dass er Schöpfer wird und Schätzer und Liebender und aller Dinge Wohltäter. Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Strome gleich, ein Segen und eine Gefahr den Anwohnenden: da ist der Ursprung eurer Tugend" ,61

Innerhalb der hier artikulierten formalen Befindlichkeit des Überfließens wird eine intentionale Einheitsstiftung vorgeschlagen, die zwischen Formalund Gehaltsaussage schwankt: die Totalitätsbeziehung der pleromatischen 59KGWVI, 1, 94. Μ In ambivalenter Disjunktionslosigkeit wird von der schenkenden Tugend gesagt, sie sei „ein neues Gutes und Böses", „ein neues tiefes Rauschen und eines neuen Quelles Stimme!" — dann erst wird der neue Name genannt als „ein herrschender Gedanke": „Macht". Sie symbolisiert sidi in der goldenen Sonne, womit die Ersatzsituation des Machtgedankens im Rahmen der Erhebungsthematik verdeutlicht ist. 61 KGWVI, 1,95.

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Stunde wird als aggressiv-aktive Liebesbeziehung („wenn [ . . . ] euer Wille allen Dingen befehlen will, als eines Liebenden Wille"), dann in einer diese Einheit unter heroischen Vorzeichen und unter Abrücken gerade vom „weichen Bett" formalisierenden Weise angesetzt: „Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese Wende aller Noth euch Nothwendigkeit heisst: da ist der Ursprung eurer Tugend".62 Die Textstruktur dokumentiert den Versuch einer Synthesis aus Liebeserfahrung, Willen zur Macht und Naturgläubigkeit. Dabei wird, wie audi am Ende der Rede „Von Kind und Ehe", das dem gegenwärtigen Status des Menschlichen mögliche, „verzückte Gleichnis" 63 als vorläufigantizipatorische Leitfunktion verstanden. Das im Doppelsymbol Sonne/Schlange angelegte Spannungsverhältnis wird im ersten Buch des „Zarathustra" im Sinne der Affirmation der Erkenntnis gelöst: „Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich" .61 Folgerichtig steht an seinem emphatischen Ende die Metapher von der „Sonne seiner Erkenntnis" ,65 Die Stellung des Gleichnisbegriffes in der Reflexion der Zarathustra-Figur wie in der ihr zugehörigen Redepraxis ist von der Problematik der Beziehung von Wissen und Glauben durchtränkt. Soweit der in Gleichnissen sprechende Zarathustra sich nur als Vorläufer und Verkündiger des Eigentlichen, der Lebensform des Übermenschen, verstehen kann, enthält seine Gleichnisrede ein Moment religiöser Verkündigung: die nur annäherungsweise, defiziente Beziehung zum Wahren. Aus der Funktionstüchtigkeit von Gleichnisrede erwächst deren Schätzung: sie opponiert dem bloß wünschenden, bloß poetischen Objektivationsmodell der „Muthmaassung" ,66 Der Konflikt führt mitten hinein in die Spannung zwischen kritischem und affirmativem Anthropomorphismusgebrauch. Zarathustra definiert die Denkbarkeit Gottes mit einem kritisdien Imperativ: „Aber diess bedeute euch Wille zur Wahrheit, dass Alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares! Eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken!" 67 « Ebd.

« KGW VI, 1, 88. μ KGW VI, 1, 96. 65 KGW VI, 1, 98. 6 6 Vgl. „Auf den glückseligen Inseln": „Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schallender Wille". Als zweite kritischkorrektive Instanz nennt Nietzsche in anaphorischer Wiederholung den Imperativ: „dass euer Muthmaassen begrenzt sei in der Denkbarkeit". (KGW VI, 1, 105) 67 KGW VI, 1, 106.

Die Relevanz des Naturgleidmisses im „Zarathustra"

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Es läßt sich erkennen, in welcher Weise sich Nietzsches religiöse Ideologiektitik infolge ihrer durch die defekte Sprachphilosophie erzwungenen Unklarheit über die Differenz zwischen kritischem und affirmativem Anthropomorphismus zur Ambivalenz verurteilt. Ist im Postulat, menschliche „Sinne" „zu Ende zu denken", das kritische Reflexionsmoment einer wahrgenommenen täuschungshaltigen Konstitution des menschlichen Objektivierungsapparats enthalten (als deren Zielmotiv eben die Sinnlichkeit desselben, als Reduktionshorizont gegenüber spiritualistischer Überhebung, erscheint), so wird in der substantivisch-unkritischen Verwortung dieses kritisch gemeinten Prozesses doch vorausgehend das statisch-bildhafte, unkritische Moment bestärkt: denn gerade mythische oder personalistische .Sichtbarmachung' Gottes als Menschen ist ja das, wovon Nietzsche abheben will. Seine Kritik tritt, wie es unzählige Stellen auch der philosophisch gemeinten Texte belegen, nicht aus der Zone der affirmativen Bildlichkeit heraus. Dies belegt hier der weitere metaphorische Prozeß, der auf eine undifferenzierte anthropozentrische Leerformel hinausläuft: „Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden! Und wahrlich, zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden!" 68 Der kritische Reduktionshorizont wird — unter kennzeichnendem Einsatz des Weltmotivs nach der Gottesthematik! — innerhalb des Sprechimpulses der Seligkeitsverheißung zurückgeholt auf den Horizont der transzendentalistischen Subjektivitätsphilosophie, deren anthropologische Grundkategorien — entgegen der Apostrophierung der Angeredeten als „Erkennender" — kein Erkenntnismomeot enthalten soll, da die hybride These der total-transzendentalen ,Umschaffung' und Identifizierung eine widerständige Welt-Realität tendenziell bereits getilgt hat. Der Text setzt sich jedoch dem Problem der Widerständigkeit, gegenüber dem ersten Zarathustra-Buch, in erhöhtem Maß aus; und zwar dufch 21 f. ιοί II, 597 f. 102 So im übernächsten Aphorismus II, 598.

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nähme. Die monologisch verkürzte Zeichendefinition, die ohne Vorstellung eines Zeichenkodes auszukommen sucht, leidet unter dem Ausfall einer relativ stabilen Pragmatik. Daraus ergibt sich der Widerspruch zwischen Auflösung und verklärender Affirmation von „Willen". Nietzsches Theorie des „Willens zur Macht" ist deutbar als die kosmologische Umleitung des Destruktiv-Ergebnisses der abgebauten Moral in die gegenstandslose, dafür ,weltbewußte' Ersatzform der Übermenschen-Rechtfertigung.103 Die Willenstheorie Nietzsches hat sich in den achtziger Jahren nicht zuletzt durch die Analogien zu Robert Mayers Auslösungstheorie naturalisiert. Mittasch hat in dieser zu Recht „die vollkommene Grundlage seiner auszubauenden Trieblehre" gesehen.104 Der Auslösungslehre glaubt Nietzsche eine Unterstützung seiner generellen, besonders auch Psychologie und Produktionsästhetik bestimmenden Unmittelbarkeitsannahmen verdanken zu können.105 Im Sinn des defizienten Zeichenbegriffs vereinfacht Nietzsche eine so komplexe sozialpsychologische Struktur wie „Mitleid" zum rein ästhetischen Zeichengebrauch: „Mitleid, von uns zurückgeführt auf unwillkürliche Nachahmung von Zeichen, die man sieht." 106 Diese abstrakte Zeichenlehre deckt einerseits eine wesentlich ungeschichtliche Kulturtheorie, anderseits eine Naturmetaphorik, die ebenso leerformelhaft und ungeschichtlich auf die Verdrängung von Praxis hinausläuft. „Blitz" und „Tat" treten in metaphorischen Konnex: „Aus dem Drude der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich . . b i s schließlich „den aufgestauten Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren" .107 Sozialpsychologischen Strukturen des Intentions- und Praxisstaus entsprechend, wie sie zu den Auffüllungen etwa faschistischer Kraft- und Ordnungsbewegungen führen, wird die objektlos gewordene und aus dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft herausgenommene, total frustrierte Willentlichkeit mit der Beliebigkeit von Explosionen — und Implosionen der Selbstaufhebung ausgelöst, — und das ist traditionssprachlich-unnaturwissenschaftlich zu lesen als: „erlöst". Eine solche Lehre braucht, wie Nietzsche es wußte, praktizierte und missionierte, „durchaus keine Glückslehre zu sein; indem sie Krafi 103 Vgl. dazu Heftrich 217: „Der Wille selbst war gerettet'. Diese Formel faßt Nietzsches welthistorische Rechtfertigung der Moral zusammen". im Mittasdi, Naturphilosoph 123. 1 0 5 „So findet R. MAYERS Satz über Auslösung von Bewegungen durch starke Gefühle bei NIETZSCHE unmittelbaren Widerhall: ,Leidenschaften — Zustände unserer Organe und deren Rückwirkung auf das Gehirn — mit einem Suchen nach Auslösung". (Mittasch, Naturphilosoph 123) 106 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 123 ( = GOA XII, 180). 107 Ebd. ( = XVI, 375)

Die Verschiebung des Anthropomorphismus in die Latenz auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt Glück."

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„Die Natur, die wir sind", ist einerseits abstrahiertes reines Objekt des Geschehens, anderseits reines Verklärungssubjekt. Der transzendentalistisdie Charakter verabsolutiert sich zu dem Doppelten von „Willens-Überwindung" und „Willensaushängung". Das wird in Nietzsches Genieästhetik ebenso wie in der Zarathustra-Religion verkündet. Und auch hier ist wieder die Funktion des Bild-Gedankens nachzuweisen, durch welche die Ausblendung von objektiver Realitätsbeziehung gesteigert wird. Nietzsche hat den Produktionsprozeß des Künstlers nach dem an sich erfahrenen Erlebnis im Bild solcher Explosionen beschrieben. Die Funktion der Explosion ist emphatischer Selbstverlust durch Teilhabe an Bewegungsvorgängen, die aus dem Sog der Ichleere und Handlungsstauung vor dem ,Loch' der Intentionslosigkeit scheinbar automatisch entstehen. 1 0 9 ίο» Ebd. 1 0 9 Den präzisen strukturellen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang der durch Explosionsauslösung vermittelten autogenen Schockentlastung und Selbstzerstörung hat Rudolf Kassner im 17. Abschnitt der „Rede an die Erben" im Schlußteil seines „Neunzehnten Jahrhunderts" mit der Anschaulichkeit des Erlebens beschrieben. Er skizziert die alltägliche Szene des Entzündens von Platzpatronen in einem Schweizer Nachkriegsfasching: „Der Führer — nennen wir den so, der durch reichere Geldmittel in den Besitz von Patronen gelangt ist — bringt eine davon zum Zünden, und um den jetzt entstehenden Knall herum, eben den Schock, das Plötzliche desselben, um diese Fülle aus Leere be- und entstehend, wenn das so gesagt werden darf, bildet sich augenblicklich eine veritable Runde, ein Kreis, durchaus das Kollektiv zugleich Erschreckter und staunend Belebter. In das sich auch der Führer, der Zünder, durch einen Sprung einreiht . . . " (Das neunzehnte Jahrhundert 354) Kassners Kommentar erfaßt Voraussetzungen und Konsequenzen dieser .leeren Entstehung* aus unbestimmter ,Fülle' als Strukturproblem totalitärer .Zusammenhänge': „Wenn wir alle zusammen, die wir über ein Ich verfügen, ohne ein solches sozusagen als bloße Atome, Elektronen, Protonen, kurz als kleinste Teilchen irgendeines Ganzen, eines Gases meinetwegen [ . . . ] zu existieren hätten, so müßte dieses unser Dasein sich dauernd in einer Schockwelt abspielen, so müßten ' [ . . . ] alle unsere Freuden, Leiden, Handlungen, Gedanken, Revolten, Kriegserklärungen, Friedensschlüsse und dergleichen aus mehr oder weniger heftigen Schockwirkungen, glücklichen, unglücklichen Zusammenstößen bestehen und einem von außen Zusehenden, mit einem Ich Versehenen als ziel-, zweck- und sinnlos erscheinen", (ebd. 355) Kassner verweist auf den Mangel an Einbildungskraft, der sich in der Form von Entlastung aus Selbstbestimmung in einem vorher geordneten, nicht-chaotischen Kreis und als Traditions- und Maßlosigkeit einer „ohne das Interferieren von gelebter und meßbarer Zeit" auskommenden „Natürlichkeit" der Existenz auslebt. Sofern sich in einem Raum, „darin Wirkung und Zerstörung sich das Gleichgewicht halten und der Mensch nie mehr gewinnt als er verliert", das „Dämonische" als aussagelose Selbstspiegelung und als Selbstabbau der metaphorischen Interferenz bewußter Erfahrung vollzieht, kann es in einem so reduzierten System — in Kassners Worten — „nicht zum Ebenbild, zur Idee kommen" und es muß „bei der Verzerrung des Kollektivgesichtes bleiben." (ebd. 356) — Zur Reflexion des Zusammenhangs zwischen Selbstüberforderung in abstrahierter Willentlichkeit, Unfähigkeit zu humaner Didaktik und kataklystischer Selbstverwirklichung vergleiche man die Darstellung der Auseinandersetzung zwi-

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Nietzsche hat soziale Willensverwirklichung und internale Existenz von Willensbewegungen mit Recht als „Hemmungsapparat" verstanden. Sein Künstler zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, ihn „auszuhängen"; in ihm lebt „ein Bedürfnis, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von sich durch hundert Sprachmittel zu reden — ein explosiver Zustand. Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Druck denken, durch alle Art von Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden; sodann als unfreiwillige Koordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden) — als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize —; Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern-, der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt". Und damit steht die Deutung des Bildes als der maßgeblichen transzendentalen Apriorität des Geistes in Zusammenhang: es löst gerade diese ,Aushängung' von Willen aus: „Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder —, eine gewisse Willensaushängung . . . (Schopenhauer!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin — [ . . . ] " 110 Um die sozialpsychologische Dimension des „pleromatischen" oder „exuberanten" Naturbegriffs zu messen, ist eine der zentralen Kategorien der Selbstdeutung Nietzsches heranzuziehen: „Zur Verschwendung der Natur". 111 Nach dem Bild ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber Verlusten konstruiert Nietzsche den vom Philosophen und Übermenschen zu erstrebenden „wohltätig verschwenderischen Geist" . m Die volle Verschwendung erreicht sich nur in der Selbstverschwendung, die ambivalent zur Selbstüberwindung und Selbstverklärung neigt. Daß Nietzsches Spontaneitäts- und Unmittelbarkeitsaxiome auf die Möglichkeit „vollkommener Eigenauslösung, nebst ihren Sondererscheinungen Selbsterregung, Selbstregulierung, Selbsthemmung, Selbstbestimmung" bezogen sind, hat Mittasch in die Nähe „einer neuen Formulierung des Problems menschlicher Willensfreiheit als der gedachten Fähigkeit einer vollkommenen Erstsetzung des Anfangsgliedes einer Auslösungskette" 113 gerückt. Wir haben

sehen Naphtha und Settembrini in Thomas Manns „Zauberberg". — Zum Zusammenhang von Überraschung als Form rhetorischer Usurpation, Überstürzung und Explosion als Verhaltensstruktur, die sidi u. a. in der autobiographischen Naturmetaphorik von „Wolke von Melancholie", „Gewitter", und „Blitz" manifestiert, vgl. E. Sandvoss, Hitler und Nietzsche 113 fi.; er sieht in ihnen „Symptome eines schwachen, ohnmächtigen, regressiv-dekadenten Daseins, dem keine andere Wahl bleibt, als nicht Erreichtes und nicht Erreichbares zu überbieten [ . . . ] und todsicher zu scheitern." (Ebd. 114) no Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 124. in Ebd. 126 ( = GOA XII, 73). "2 Ebd. ( = GOA XVI, 224). 113 Mittasdi, Naturphilosoph 126.

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diese „Erstsetzung" — die sich in den bekannten selbstüberheblichen Aufwertungen Nietzsches in welthistorischen Überwindungen aller möglichen bisherigen Fehlleistungen auswirkt — strukturell als die in den Metaphern „Blitz", „Umkehr" mitzudenkende usurpatorische Selbstübersteigerung zum kosmologischen Ersatzschöpfer beschrieben. Von Mittasch wird eine Stelle aus dem Brief an Peter Gast vom 23. Juli 1885 zitiert, in dem Nietzsche gerade am Beispiel seiner Korrespondenz auf die Struktur der monologischen „ Selbstbeantwortung" zu sprechen kommt: „Aus meinem eigenen Briefschreibe-Leben kenne ich das Phänomen nur zugut, welches ich ,Selbstbeantwortung' nenne . . . , diese natürliche .Auslösung' (Herstellung der persönlichen Souveränität) . . . " 114 Nietzsches Soziomorphismus, der nicht erst in der Phase des „Willens zur Macht" besteht, prägt die aufgezeigte bildliche Vermittlung zwischen Willen als ,Setzen' und Gewolltem als ,Gesetztem' aus. Sofern das Bildliche des Denkens von Nietzsche als sein Primäres und Unaufhebbares gedacht wird, trägt es zu archaischer Verkürzung und Aufhebung von Komplexität bei. Wenn Nietzsche im „Zarathustra" die Tilgung von Erkenntnis in der Formel ausspricht, „daß zwischen Setzendem und Gesetztem ,das Rad des Grundes' rollte," 115 so dokumentiert dies den totalistischen Verschleierungscharakter des Weltgleichnisses, — denn Gründe sind nur als relative Bestimmungen zu finden, nicht als Reversionen und Inversionen. Aber das „Rad" der Welt soll ja auch,Leitbild' des Subjekts werden, dessen Wesen in Nachlaßnotizen als „die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit", als „,sterbliche Seele'" 1 1 6 apostrophiert wird. Nur einige Beispiele für die Wechselseitigkeit von kosmologischen und transzendentalen Urteilen in der Thematisierung des Wesens der „Dinge" wie der „Seelen" seien zur Veranschaulichung dafür herangezogen, daß der „Wille zur Macht" psychomorph strukturiert ist. „Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Eine Art Aristokratie von ,Zellen', in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?" Unter den nachfolgenden „Hypothesen" steht dann: „Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern".117

Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 126. us Bartusdiat, Selbstsein und Negativität 78. Zur Entfaltung der Ambivalenz von „Willen" vgl. ebd. 180—184; zum Subjektivismus der Willenstheorie auch Jaspers, Nietzsche 311 f. i " III, 474. 1 1 7 III, 473. Eine Sammlung von Belegen zum „Kampf"-Topos liefert Mittasdi, Naturphilosoph 129 f., 140 f.

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In den folgenden Nomen wird vielfach die „Subjekt-Einheit" in einem totalitären Herrschaftsmodell gesehen.118 Wie stark das soziomorphe Bedeutungsfeld in die Hermeneutik-Auffassung Nietzsches eingegangen ist, war bereits daran deutlich, daß „Interpretation" als „Einverleibung", „Machtbestimmung" verstanden wird. Da sich Nietzsche fernhält den Möglichkeiten einer Bestimmung der theoretischen Funktion des Erkennens, wird der Einheitsbegriff selbst soziomorph ausinterpretiert. Dabei kommen pragmatisch undifferenzierte Strukturen des Konnexes wie „Organisation" und „Herrschaft" in den metaphorischen Kontakt bloßen Zusammenhangs' und „Zusammenspiels": „Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? [ . . . ] Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistisdien Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist" .ι«

Die sprachliche Präsentation der Überlegung macht deutlich, daß sich als Motor der Widerspruchsentfaltung in Metaphernreihen die Unfähigkeit auswirkt, zwischen „Zusammenspiel" und .Unterdrückung' begriffliche Differenz anzuerkennen. Auf ihre Axiomatik befragt, entlassen die Deckmetaphoriken (wie „Zusammenhang", „Zusammenspiel": das Insgesamt der abstraktiven Soziomorphismen) nichts anderes als die Spaltungsangst vor „Anarchismus" als Begründung für die indirekte Axiomatisierung von „Herrschaft" unter den Decknamen von kosmologischen und organologischen Beschreibungskonzepten. Dabei tritt im soziomorphen Modell das antirationale Element in der Ängstlichkeit vor Öffentlichkeit — die Fixierung erzwingen würde — ebenfalls auf der metaphorischen Ebene unverhüllt in Erscheinung. Auch der Herrschaft Ausübende darf nicht so genau wissen, wie wenig Zusammenhang das Beherrschte — außer dem des Beherrschtwerdens — in sich habe: „Zu unserer ,Subjekt-Einheit', in der wir .Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens' denken müssen, gehört ,die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens': als Bedingung für die organisierende Regentschaft." 120

Am Gebrauch des sowohl soziologisch wie naturwissenschaftlich in voller Eigentlichkeit verwendbaren Gesetzesbegriffes läßt sich Nietzsches notwendiger, aber unfreiwillig und uneinsichtig geführter Kampf gegen die eigene Bildlichkeits-Voraussetzung im Denken erkennen. 118 Vgl. etwa III, 475 f., 4&9. Ii» III, 500. 120 So zitiert und analysiert Müller-Lauter, ohne auf die Fraglichkeit des bloß metaphorischen Explikats „organisierende Regentschaft" einzugehen, im Aufsatz über „Nietzsches Lehre vom Willen zur Madit", in: NS III (1974) 46.

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d) Der „Wille zur Macht" als soziomorph reduktives Redemodell: egologische Totalüberwältigung Nietzsche denkt „Gesetz" im Rahmen seiner ,genealogisierenden Anthropologie' je in der Herrschaftsspaltung entwickelter widerständiger Befehlsform: in diesem Modell wird der zu kritisierende Psychismus regenerativ bestätigt, — die Argumentation g e g e n ,das Soziomorphe' in der eigenen Sprachlichkeit vermag sich sprachlich nicht anders zu verwirklichen als mit dem abstrakten Appellativ des „Wesens", das in seiner Einheit doch gar nicht die Spaltungskomplexität enthalte, zu der das Bild verführt. Diese Verhältnisse sind in einem Nachlaß-Aphorismus prägnant ausgesprochen: „Dass etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder daß der Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom .Gesetz', Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen".121

Gegen die wissenschaftsabsttakttn Verwendungen des Gesetzesbegriffes stellt Nietzsche polemisch sein Aufklärungswissen über ihren verdeckenden Bildgehalt, — für seine eigene Kosmologie verwendet er ihn manifest; so geraten ihm die Gänsefüßchen, auf denen seine Philosophie schwankt, durcheinander: Das erstgenannte Wesen des Textes müßte — folgt man dem dominanten Zeichengebrauch Nietzsches — in Apostroph stehen, da es redensartlich negierbare Sprachverwendung zitiert. „Gesetz" und Gesetz explizieren die geistesgesdhichtliche Nahtstelle, wo ein genuin anthropomorpher Begriff in seine wissenschaftliche Abstraktion entlassen wird, was ein wissenschaftskritischer Totalphilosoph zum Anlaß unablässiger gegenseitiger Supposition der fortgeschrittenen und der regressiven Toposverwendung nimmt. Weil Nietzsche nicht bereit ist, den metaphorischen Prozeß an Punkten gesetzter Eigentlichkeit zu stoppen, treten in den Reduktionshorizonten seiner Genealogien die ,abgeleiteten höheren' Bestimmungen wieder auf. So ist der „Leitfaden des Leibes" selbst nur ein ,Leitbild', in dem synthetisch' das Antlitz des vertriebenen Geistes wiedererscheint. „Der Leib als Herrschaftsgebilde'': mit dieser soziomorphen Metapher restituiert sich jene axiomatische Ausschaltung gerade von Sozialbewußtsein als Moment jedes Bewußtseins, die audi Gesellschaftlichkeit zur „Fiktion" abwertet. Denn „die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist." 122 Der Mangel der 121 Zit. nach Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NS III (1974) 47 ( = GOA XVI, 110). 122 II, 221. Vgl. dazu den Abschnitt „Der Mensch als Gesellschaft" bei Schipperges, Am Leitfaden des Leibes 108 ff. — allerdings affirmativ-paraphrastisdi.

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kommunikativen Konstitution von Semiotik führt dazu, daß die bildsprachlichen Bestimmungen der transzendentalistisch angelegten Ästhetik, die wir oben S. 302 im Zusammenhang der egologischen Setzung von ,Anfang' und ,Auslösung' zitierten, nahezu wörtlich als Bestimmung des sozialen Seins des Menschen wiederkehren: „Gesellschaft, das mag zunächst nichts anderes sein als ein .MenschenKlumpen' (I, 995). Unvermittelt aber werden die Nächsten darin schon zu ,Satelliten unseres eigenen Systems' (I, 1093). Wir haben den auffallenden Sachverhalt aus dem Auge verloren, daß unsere Nächsten' keine soziale Erscheinung sind, sondern ebenfalls nur ein physiologischer Zustand. ,Das Bild des Nächsten, wie es uns immer vorschwebt, ist entweder das Erzeugnis einer Fülle, die nach Entladung begehrt, oder einer Leere, die nach Füllung begehrt — es ist immer ein physiologischer Zustand, für den wir kein eigentliches und bezeichnendes Wort haben."' 123 Der extreme semiotische Kurzschluß, eine wissenschaftliche Reduktion unter dem Zeichen der Zeichenlosigkeit durchzuführen, erzwingt den Zerfall von Sprache in reine Funktion, den Zerfall von Sozialität in reine Selbstbeziehung und „schaffend" sich „verklärende" „Selbstbeantwortung".124 Noch einmal: die Ausklammerung relevanter Zeichenrelation erfolgt unterm irrationalen Diktat des Bildbegriffs. Nietzsches Bild des Nächsten ist — von den systematischen Voraussetzungen der defekten Pragmatik und Hermeneutik her — zum solipsistischen Spiegel eines wissentlich-geglaubten Selbstgefühls verkümmert. Nietzsches Sprachbewußtsein ist blind dafür, daß die seinem Sprachgebrauch innewohnende Axiomatik „der natürlichen Grade und Ränge" 125 dem ideologiekritischen Großunternehmen, „daß man die Gesellschafts-Idiosynkrasie aus 123 Schipperges, Am Leitfaden des Leibes 109. Was sozialtheoretisch aus diesen Axiomen folgt, die Fiktionalisierung von „Gesellschaft", belegt Sdoipperges ohne einen Ansatz zu Kritik mit Zitaten, u. a. mit folgendem: „Es ist ein Irrtum, auf .soziale Notstände' oder .physiologische Entartungen' oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus". Nietzsche behauptet auch für die Genese dieser — anderwärts gleichwohl von ihm dergestalt „realistisch" begründeten — Erscheinung den Vorrang der transzendentalen Hermeneutik als Selbstgenügsamkeit von Geistesgeschichte: „Sondern: in einec ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus". (III, 881) Wie wenig es dem Totalgenealogen der Moral und des Nihilismus gelungen ist, beide Phänomene auseinanderzuhalten bzw. die Bestimmbarkeit des Nihilismus zu belegen, ist allgemein bekannt. 12* G. Rupps überlegene Untersuchung „Rhetorische Strukturen und kommunikative Determinanz" faßt „formelhaft die nietzsdiesdie Rhetorizität" zusammen als „Wahnsinn durch Sprache" (38). 125 So III, 533, wo Nietzsche „die Gegensätze [ . . . ] aus den Dingen" herausnehmen will, — während in Wirklichkeit seine Philosophie ihr Wesen darin hat, abstrahierte Gegecsätzlichkeit in alle Dinge einzusetzen, aus welcher jede beliebige Sozialdifierenzieruns wieder abgeleitet werden kann. Vgl. zur apodiktischen „Heterogeneität zwischen Ursache und Wirkung" [ ! ] Mittasch, Naturphilosoph 130.

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dem Dasein überhaupt herausnimmt (Schuld, Strafe, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe usw.)" — worin er einen „Fortschritt zur Natürlichkeit" erblickt, immer schon widerlegend vorausläuft.126 Die „Gesellsdiafts-Idiosynkrasie" regeneriert sich in der Kosmologie der beherrschten, überwundenen, zur eigenen Nichtigkeit gebrachten „Natürlichkeit" des „Übermenschen", weil Nietzsches LebensbegrifE genuin soziomorph gesteigert ist. Damit sind nicht nur die vielzähligen soziomorphen Metaphorierungen desselben gemeint, sondern der nur selbst sozialtheoretisch beschreibbare Zwang zur totalen Legitimation alles „Daseins", wie er Nietzsches Rechtfertigungsthese innewohnt. In dieser Totalisierung fallen Abstraktion und Verdinglichung des Lebens ineins. ,)rDer Wert des Lebens.' — Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, — das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht".127

Es ist bekannt, in welchem Ausmaß es gerade auch die philologische Nietzschekritik fertig gebracht hat, das Grundaxiom seiner gesamten philosophischen Entwicklung, das, was deren immense Anstrenglichkeit ausmacht, unberücksichtigt zu lassen: das Theorem der „Rechtfertigung". Deren totalistisdier Anspruch ist weitgehend theologischer Herkunft und Struktur. In ihm realisiert sich eine Folgelast des Schöpfungsprinzips — in einer Zeit, in der Schöpfung selbst, mit Ausnahme der Kunst, mythisch geworden ist und anfängt, als archaische Synthesis von der differenzierten Produktion überholt zu werden. Es ist unwahrscheinlich, daß es ein Sozialsystem geben kann, in dem „alles" der Rechtfertigung bedarf. Die Rekonstruktionshybris der kosmos-ideologischen Rechtfertigung arbeitet unter der Voraussetzung derselben Bedürftigkeit, welche die Theodizee hervorgetrieben hat. Gerade Nietzsches Formulierung macht — gestattet man einen Substitutionstest — schlagend deutlich, daß das „rechtfertigende Prinzip" als genetisches Prinzip ursprünglich angelegt war: nur aus dem „schöpferischen Prinzip" „erklärt" sich das Leben. „Rechtfertigung" bezeichnet den Versuch, Existenz und Dasein durch eine Transformation des anthropozentrischen Anspruchs auf Erlösung in emotionale Festverzinslichkeit unter Verwendung juristisch-soziomorpher Metaphorik zu beglaubigen. So bösartig diese Umschreibung zunächst wirken mag, — sie ist bei Nietzsche nachzulesen, wenn er seine „Prinzipiellen Neuerungen" bezeichnet. „An Stelle der .moralischen Werte' lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral. An Stelle der .Soziologie' eine Lehre von den Herrschaftsgebilden. An Stelle der ,Gesellschaft' den Kultur-Komplex als mein Vorzugs-Interesse 12« III, 531. 127 III, 560.

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Der Zusammenhang der Dinge (gleichsam als Ganzes bezüglich in seinen Teilen). An Stelle der .Erkenntnistheorie' eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte: deren höhere Ordnung, deren ,Geistigkeit').

An Stelle von .Metaphysik' und Religion die Ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl)" , 128 Nicht zuletzt an der .Transfiguration' — anthropozentrische Verbildlichung! — von eingerichteten Wissenschaften und der damit intendierten Ausblendung von sozial bestimmter Realität ist der Hybrischarakter dieser egologischen und totalistischen Umwertungsutopie abzulesen: Wissenschaften regredieren zu Lebenslehren, in deren scheinaufgeklärter Systematik des Paradoxes die gleichzeitig verurteilten „höheren Ordnungen" in einer um eine Stufe weiter potenzierten Hochstellung von Gänsefüßchen wieder erscheinen. Und den transzendentalistischen Gegenzug im intendierten Naturalisierungsvorgang belegt nicht zuletzt der hybride Vorschlag eines Dunkelzimmerphilosophen, genozidale Effekte durch Verabreichung in sich widersprüchlicher Heilslehren zu erzielen. Diese idealistisch gehemmte Position wird immerhin in Nietzsches letzten Jahren, nach der Rezeption historisch archaischer Sozialordnungen wie der indischen Kastenordnung, zugunsten praktischerer Vorstellungen überwunden.129 Will man den im Horizont einer versprachlichten Ausdrucksweise „rhetorisch" gewordenen Sinn der etwa bei Mittasch eindrucksvoll summierten Äußerungen zum lebensphilosophisch-metaphysischen Totalkonzept „Willen zur Macht" im Hinblick auf die Differenz regressiver und progressiver Tendenzen untersuchen, so ist im Auge zu behalten, daß die hochgradige Abstraktheit gerade der reduktiven und synthetischen Formulierungen sowohl ein regressives wie ein progressives Bedeutungsmoment enthalten können: laufen sie einerseits als Leerformeln, so haben sie gerade in dieser Offenheit auch die Chance, wegweisend und historisch .verifizierbar' zu werden. Wenn Nietzsche sagt, „ich setze Gedächtnis und eine Art Geist bei allem Organischen voraus",130 so könnte die Frage, wieweit hier eine „Übertragung" vorgenommen wird, erst beantwortet werden, wenn auszumachen wäre, wie weit die semantische Extension von „eine Art Geist" [! ] geht. Die seit Nietzsche eingetretene praktische Verifizierung der genannten Annahme belegt die hypothetische Brauchbarkeit dieser vorsichtigen Formulierung.131 Leerformelhafte Regressivität ist je128 I I I , 560. 129 Vgl. die im Gefolge der Rezeption von Manus Gesetzbuch des Kastenwesens eintretende Züchtungs- und Zerstörungsutopie. " θ Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 139. ( = G O A X I I I , 232) 131 Man vergleiche die Ergebnisse moderner Neurologie, der Janovsdien Primärtherapie, der Embryonalpsychologie, die alle in der Tatsache einer traditionalsprachlich blockierten und deshalb unterschätzten .geistigen' Merkfähigkeit organischer Instanzen konvergieren.

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doch dadurch bestimmt, daß der differentiell-metaphorische Sinn eines Ausdrucks verschleiert bzw. ein affirmativer Gebrauch metaphorisch-rhetorischer Redeformen veranstaltet wird. Dieser kommt unter anderem dadurch zustande, daß Glieder der Metapher ohne Verweisimg auf die mögliche künftige, historisch-pragmatische Differenzierung direkt nebeneinandergesetzt werden. Dabei können sicher „umschreibende'' Formulierungen ihrerseits auf den damit gemeinten Wert hinweisen, daß nämlich noch keine sprachlich präzise Erfassung, keine Kodierung eines angezielten Fragezusammenhangs besteht. Das Verhältnis von reduktiver Abstraktion und explikativer Konkretisation dürfte nicht so eingerichtet sein, daß diese wiederum den als metaphorisch bestimmbaren Sinnbezirk affirmativ bestätigt. Wir können nach diesen Vorüberlegungen eine Aussage zum Zusammenhang der Dinge wie die folgende als — dominant — verschleiernd beschreiben, audi wenn die synthetische Intention einer differentiellen Neuformulierung grundsätzlich nicht im Wege stünde: „Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraussetzen, als ihre Außenwelt. Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten, Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit".132 Das affirmative Verhältnis von konkret beziehbarer, also metaphorischer Explikation zu diskursiver Abstraktion ist daran zu bestimmen, daß die Explikante (das „Erdichten") nicht in distanzierender Apostrophierung erscheint bzw. daß sie in hypothetischem und in explikativem Kontext gleich .direkt' oder ,eigentlich' verwendet wird. Damit hängt dann zusammen, daß die unvermittelte, bruchhafte Reihung der Metaphern-Glieder die intendierte Zusammenhangsbehauptung bereits desavouiert: mit dem Rückgriff auf das traditionssprachliche, vor allem idealistisch kursierende Redeelement „Außenwelt" wird eine (latente) Dichotomie in das intendierte „Ganze" des Zusammenhangs wieder eingeführt· die „kleinen Welten" der organischen ,Dinge' wirken wie vergrößerte Monaden ihrer bloß nach dem transzendentalistischen Schöpfungsmodell aus sich herausprojizierten Gestaltungskraft': die Interdependenz echter Erfahrungsbildung ist in der pragmatisch unbestimmten Adverbialphrase „Erfahrungen außer sich" egologisch verschleiert, zumindest dichotomistisch ausgelegt. Sichtet man eine größere Reihe von Aussagen zum soziomorphen Lebensmodell innerhalb der Thematik des „Willens zur Macht", so belegt sich der egologische Charakter, der in der frühen Zeitkonzeption, in der dionysischen 132

Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 140. — Man vergleiche die Kulturerfahrung des jungen Nietzsche, die sich als je solipsistisdie Eigenwelt strukturiert: „Mitten in diesem ,Wollen' darin, in der Konzeption und dem Ausbau unserer Welt, ist mir's, als ob es außer uns (im Sinne des Wagner'schen ,Wir') gar niemanden gäbe". (Zit. nadi Sandvoss, Hitler und Nietzsche 135)

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Ästhetik und in der Herrentheorie etabliert war, gerade auch in der Konzeption der „Zusammenhänge". Nietzsche versucht im „Willen zur Macht" eine nichtvereinfachende, sondern komplizierende Reduktion des Daseins zu geben, — darin realisiert sich die Inadäquatheit der ideologischen', nämlich Komplexität je voraussetzenden und in ihr vorausliegende Verhältnisse restaurierenden Rückführungen der selbsterfahrungshaft gewonnenen anthropologischen Deutungen. Aus diesem Grunde ist Nietzsches Ablehnung der reduktiven Elemente, in welche etwa die Darwinistische Evolutionstheorie die Bedingungen der Wachstumsmöglichkeiten des Lebens gegliedert hat, so das interdependente Verhältnis von Selbsterhaltung und Anpassung, als Versuch zu verstehen, genetische Explikation biologischer Vorgänge je durch totale, undifferenziert-ganzheitliche zu überholen. „Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nidit aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, ,es erhält sich' damit nicht, sondern zerfällt" . ,33 Das nicht weiter begründete Axiom der unsinnigen Einverleibung — wir halten es für ein Grundaxiom der in die Angstlatenz verschobenen Lebenshermeneutik des gesamten Denkens Nietzsches, Voraussetzung für die Etablierung der „Entsetzlichkeit" des Daseins — ist bereits die Spaltung von Innen- und Außenwelt, die zwar kritisiert, aber immer wieder aus dem angstaxiomatisdien Fundus von Beobachtungskonzeptionen gespeist wird. Die Zusatzbegründung, den biologischen Zerfall als Widerlegung des reduktiven Konzepts der Selbsterhaltung einzubringen, argumentiert in typisch ressentimenthafter Form der Begründungsumkehr. Sie enthält latent eine Apologie der egologischen Trennung von Eigen- und Außenwelt. Der Selbsterhaltungsbegriff wird hybrid gesteigert. Indem Nietzsche organische Vorgänge immer wieder als „Kampf" metaphoriert, 134 setzt er eben jene Einheiten von „Wesen", die seine Sprachreflexion 133 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 140 ( = GOA XVI, 121). 134 Vgl. folgende Belege aus Mittasch, Naturphilosoph: „Protoplasma: eine Vielheit mit einander kämpfender Wesen." ( = GOA XIII, 227) „Das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht — nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben". (Mittasch 141, = GOA XVI, 162) Über die extremisierende Gegensatz-Metaphorierung biologischer Sachverhalte belehrt ein Komplex von Formulierungen zur „Zeugung", in dem sie „aus Spaltung und Kampf in einem unmäßig mit Beute überladenen Organismus, der nicht Macht genug hat, alles Eroberte einzuorganisieren", abgeleitet wird (Mittasch ebd., = GOA XIII, 113); in dieser Extremisierung schlägt „Fülle"-Metapher um in „Ohnmachts" -Metapher: „Die Teilung eines Protoplasmas in zwei tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht". (Mittasch ebd., = GOA XVI, 122); die rhetorisch-metaphorische Verschiebungs- und Umkehrstruktur

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in Frage gestellt hat. Die Begründungsumkehr im reduktiven Erkenntnisinteresse veranschaulicht nicht nur Nietzsches Unfähigkeit zur wissenschaftlichen Abstinenz von Totalurteilen, sondern die permanente Verdrängung nichtegologischer Einsicht. Nietzsches Reflexion von „Macht" ist selbst so defizient, weil sie das relativ-stationäre Bedeutungsmoment, das Macht immer erst als ,wiederholt und gesichert ausgeübte Fremdbestimmung' zeigt, kosmologisch verdrängt. Sie ist blind dagegen, daß die Sättigung noch keine „Macht" impliziert: diese wäre erst nach der Institutioniertheit von Voraussetzungsformen der Sättigung festzustellen. Daraus resultiert die unvertretbare Synonymisierung von „Kampf" und „Macht". Man kann die rückwärts laufende Konstituierung des egologischen Prinzips an einer großen Reihe von Fragestellungen Nietzsches ablesen, so wenn Nietzsche „Selbsterhaltung nur als eine der Folgen der Selbst-Erweiterung" verstehen will, — er setzt die Frage nach: „Und .Selbst'?" 135 Sind Infragestellung und Affirmation in solchen Redeformen kaum zu trennen, so beruht das darauf, daß sich dieses Sprechen nicht mehr im syntaktischen Kontinuum von differenzierenden Urteilen, sondern in der Struktur metaphorischer Reihung realisiert. „Leben" wird darin immer gemäß dem Expansionsmodell gesehen, das von einem vorgängig gestörten Umweltbezug ausgeht und seinen „Lebensraum" erweitern muß. „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung" ,136 Die vielfachen Formulierungen zum „Akkumulations"-Willen von Kraft gehen von der Sichteinstellung des egologischen Prinzips aus: „Jedes Lebendige greift so weit um sich mit seiner Kraft, als es kann, und unterwirft sich das Schwächere: so hat es seinen Genuß an sich" .137 Mit der Insistenz auf dem Modus der Ausübung und „Auslassung" von Macht und „Machtgefühl" 138 setzt sich ein durchaus teleologisches Prinzip wieder ein. Doch das will Nietzsches synthetisches Reduktionsbewußtsein nicht trägt verständlicherweise dazu bei, Nietzsches »Einsicht' in den Wahnsinn der Sprache zur Behauptung ontologischer „Verrücktheit" voranzutreiben: im Kontext einer Überlegung, „wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge geht", folgt die Negativ-Konsequenz: „Der Charakter der Verschwendung, der Verrücktheit ist im Gesamt-Haushalt normal. Die .Intelligenz* erscheint als eine besondere Form der Unvernunft." (Mittasch 146, = GOA XIV, 323) 135 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 140 ( = GOA XIII, 259). 136 Ebd. ( = GOA VII, 237) 137 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 140 ( = GOA XVI, 203). Μ. H. Kerkhoff, Physis und Metaphysik, weist im Rahmen umfangreicher Parallelisierung von antikem Denken und Anschauungen Nietzsches auf das „Mehr-haben-wollen", die πλεονεξία der Sophisten hin (77). 138 Vgl. GOA XIII, 157, 245, 259; XVI, 163, 238.

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anerkennen, das „Selbsterhaltung" als teleologisch diffamiert, weil es das vermeintlich einfache, aber längst synthetisch konstruierte ,Prinzip' des „Willens zur Macht" ihr unterschoben hat und an der Erhaltung der Machtkämpfe und der Herrschaftsteleologie des Übermenschen interessiert ist. Nietzsche glaubt — immer: im Rahmen seiner sprachdefekten Hermeneutik — das gesamte von den Naturwissenschaften seiner Zeit bereitgestellte Instrumentarium von Funktionsbegriffen auf die von ihm konstruierten Teleologismen vereinfachen zu können, da es die komplexe Funktion auf Nomenklatur reduziert: „Andre Arten teleologischer Ausdrucksweise, wie ,Selbstregulierung', ,Anpassung', .Arbeitsteilung', sind einstweilen nicht zu entbehren, obwohl sie [ . . . ] nur als Bezeichnungen für Tatbestände, nicht als Erklärungen gelten können" ,139 Da Nietzsche häufig Ganzheitsfunktionen, Interdependenzen und Regularitäten mit kritisierbarer axiomatischer (d.h. intentionalistischer) „Teleologie" verwechselt, ist ihm die grundsätzliche systemtheoretisch bedeutsame Unterscheidung zwischen hermeneutischen und funktionstheoretischen Kategorien verstellt. Einerseits versucht er Naturwissen und Wissenschaft überhaupt auf Hermeneutik festzulegen, anderseits geht seine ,genealogisch' totalisierende Hermeneutik reduktiv vor: So werden sinnvolle Ergebnisse beider Forschungsformen zu bloßen Beschreibungen von Tatbeständen relativiert. Auf den „Geschehnischarakter von Interpretationen" und den damit „hinsichtlich seiner Selbstkonstitution" ohnmächtigen Willen zur Macht verweist mit Recht W . Müller-Lauter.140 Mittaschs zwar fortgeschritten funktionsteleologische, Zit. nach Mittasch, Natuiphilosoph 139 f. Bei ihm eine Vielzahl von Belegen für die genannte Unterstellung des synthetischen Modells „Wille zur Macht", u.a. 142: „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen — Leben selbst ist Wille zur Macht — : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. Kurz, [ . . . ] Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! — wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inkonsequenz Spinozas —)." Noch in der geistesgeschichtlichen Ableitung der naturwissenschaftlichen Beschreibung wiederholt sich das erstaunliche Verhaftetsein an die Geschichte des Transzendentalismus. — Walter Bröcker hat in seinem Aufsatz „Nietzsches Narrentum" die Leerformelhaftigkeit des „Willens zur Macht" benannt: „Wenn Nietzsche aber sagt, alles, was überhaupt ist, sei der Wille zur Macht und nichts außerdem, so wird der Erklärungsgrund, indem er für alles in Anspruch genommen wird, zugleich völlig entleert. Wenn Nietzsche ζ. B. das Atom ein Quantum Wille zur Macht nennt oder behauptet, ohne auch nur den Versuch zu machen, die Behauptung zu beweisen: ,Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle' [Wille zur Macht Nr. 6 1 9 ] — so ist damit in Wahrheit gar nichts gesagt und nichts erklärt. Ebenso aussichtslos ist der Versuch, Erkenntnis oder Kunst als Produkte des Willens zur Macht zu erklären". (NS I, 142) ho Vgl. NS III, 60.

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ganzheitsphilosophische Deutung der Naturphilosophie ist als historisch unkritisch und systematisch naiv zu werten. 141 Nietzsches „Willen zur Macht" ist eben nicht nur biologisch, energetisch oder physikalisch konzipiert, sondern enthält als Orientierungslinie der metaphorischen Anwendungen unübersehbar den Glauben an „die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre" „im Organismus" . U 2 Sie erst regulieren den Zusammenhang des Ganzen, ohne daß Nietzsche Formen dieser Organisation relativer Regulierung aufzusuchen bereit wäre. E r registriert richtig, daß „alle Erhaltungs-Tendenzen nicht aus der Mechanik abzuleiten" sind, setzt aber sofort eine Totalforderung dagegen: „sie setzen eine Vergegenwärtigung des Ganzen voraus" 143 . Das Bewußtsein des Ganzen kommt nicht zur Ruhe seiner Selbsterfassung, weil unterm Axiom der Aggressivität, das gegen die Fixierungsangst gerichtet ist, nur das expansive Moment des Lebens zur Geltung kommt. Subjektimmanente und soziologische Aussagen werden im soziomorphen Vergleich identifiziert. Die Staffelung der Triebe erfolgt nach beliebigen sozialen Hierarchisierungsvorstellungen. Hier treten neben „Kampf" vornehmlich die Topoi „Wettkampf", „Wettstreit", „Gehorchen" und „Befehlen" auf, die alle audi zum bloßen „Zeichen" abstrahiert werden können.144 Die Motivation 1« Vgl. dazu Mittasch, Naturphilosoph 139 f. 1 4 2 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 142 f. Nietzsches wissenschaftsgeschichtliche Position ist daran, wie schon in anderm Zusammenhang gezeigt wurde, abzulesen, daß er sich gegen die Herausnahme der soziomorphen Wertungsmodelle aus der Naturwissenschaft wehrt: „Die demokratische Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will, der moderne Misarchismus [ . . . ] hat sich allmählich dermaßen ins Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, daß er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivesten Wissenschaften eindringen darf-, ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein [ . . . ] , indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotiert hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die .Anpassung' in den Vordergrund, das heißt eine Aktivität zweiten Ranges, eine bloße Reaktivität [.... hier Verweis auf H. Spencer]. Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht-, damit ist der prinzipielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die .Anpassung' erfolgt; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint". (GOA VII, 372) 143 Zit. nach Mittasch, Naturphilosoph 144 ( = GOA XIII, 211). 144 Vgl. u. v. a.: „Die herrschenden Triebe wollen auch als höchste Wert-Instanzen überhaupt, ja als schöpferische und regierende Gewalten betrachtet werden. Es versteht sich, daß diese Triebe sich gegenseitig entweder anfeinden oder unterwerfen (synthetisch auch wohl binden oder in der Herrschaft wechseln)". (GOA XVI, 142) „Viele Triebe kämpfen in mir um die Oberherrschaft, darin bin ich ein Abbild alles Lebendigen und kann es mir erklären". (GOA VIII, 181) Die Rückübertragung von Mensch und Natur ist vollständig: „Jetzt hat man den Kampf überall entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen. Aber man kann sämtliche uns bewußte Affekte in ihnen wiederfinden". (GOA XII, 147)

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Der Zusammenhang der Dinge

Nietzsches zum ungeheuer rekurrenten Gebrauch der Kampf- und HierarchieMetapher ist in der Anarchismus-Angst zu suchen; Nietzsche hat damit eine Position gegen den Darwinismus zu finden gehofft, daß er die naturwissenschaftliche Beschreibung mit der weltgeschichtlichen Deutung der Degeneration zum Übrigbleiben der Schwachen unterlief: seine politische Aktivität in den letzten Jahren ist als Realisierung längst angelegter Anschauungshaltungen zu verstehen, nicht als Neueinsetzen oder krankhafte Veränderung sozial nicht ausdifferenzierter Theoreme. Die Theoretik des „Willens zur Macht" ist die kosmologische Vorbereitung der Nietzsches Denken durchlaufenden abstrakt-politischen naturphilosophischen Restituierung von „Rängen" und .neuen Werttafeln'. Dem Regreß auf die leere analogistische Anschaulichkeit des kosmischen Transzendentalismus kommt dabei die Funktion zu, die herbeigerufene .Natur' als Legitimation einer schon vorliegenden Rangordnung einzusetzen, um dieselbe überbieten zu können. Daß die Versprachlichung der pragmatischen Dimensionen dessen, was auf der ,natürlichen' bzw. auf der .übermenschlichen' Ebene erreicht werden soll, schwankt, ist selbstverständlich, da der Kontext unterschiedliche Stufen der Konkretheit nahelegt. In der Kosmologie tritt der „Wille zur Macht" als inhaltlich unbestimmter Versuch auf, leeres natürliches Geschehen als Selbsterfahrung zu bestimmen — diese Leere auszufüllen, muß der haltlose Wandel des Fatums mit der Gesamtheit der wünschenden Subjektivität aufgefüllt werden. Dadurch entsteht im Verklärungszwang die kategorische Fälschung von Intentionalität zur retrospektiven Affirmation: was weder gewollt noch nicht gewollt werden kann — Natur in der Gestalt ihrer Vorgegebenheit —, muß durch einsatzlose („mechanische"!) Wiederholbarkeit und wertuntersdieidungslose Anerkennung zur Identität mit einer aus nichts als Wandlung und Selbstverleugnung bestehenden Subjektität „gesetzt" und umgedeutet werden. Diese Tendenz kulminiert im Theorem des „gewollten Nichts". — In der Zone der relativen Sozial- und Kulturnähe verwirklicht sich das egologische Prinzip des Expansionskampfes, „Willen zur Macht" wird zur Kategorie einer dogmatischen, autarken Unbestimmtheit. Aus dem Doppelbezug beider Denk-,bewegungen' versteht sich, daß soziomorphes Denken sich ontologisiert und dabei zur Abstraktion der Metaphorik zwingt.145 Indem Soziomorphismus nur als Modell ins Denken tritt, widerspricht er der Möglichkeit, Normbegriffe abzuleiten: die ,Überbietung' der je gesellschaftlich entstehenden Normativität hat wiederum bereits .Natur' zu leisten, und sie tut es in der Indifferenz des „Jaund-Amen-Sagens". Soziomorphismus wird naturalistischer Anthropomorphismus und damit sein Gegenteil: Totale Ablehnung von Fremdbestimmung gerät zur antizipativen Zustimmung. Nietzsches geläufige Verwechslung von 145 Vgl. dazu Bartuschat, Selbstsein und Negativität 63 ff.

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Autonomie des Willens und Bezugslosigkeit des Wollens beruht auf der analogistischen Indifferenzzone, welche die in unserer Arbeit aufgezeigte Tradition des Makro-/Mikrokosmos-Denkens etabliert hat.146 Natürlich wird eine derartige Indifferenzzone überlastet, soll sie Gegensätze wie die des egologischen Prinzips und der Gesamtverklärung bewältigen: Gedieh die hyperbolische Willensmetaphysik unter dem Schutz der transzendentalistischen „Vorstellung" noch einmal zur Dominante eines Gegenentwurfs in der Machtphilosophie Nietzsches, so wird sie doch von ihrer genuinen Weltlosigkeit eingeholt: der Anschluß des Guten, des Herzens an die Grausamkeit der Natur gelingt nicht, — es sei denn unterm Zeichen des gebrochenen Stabes des Herzens.147 Erst Aufhebung aller Liebe liefert die Voraussetzung des totalen Willens zum „Mittag" : der Dithyrambus fordert, als Panegyrikus des subjektlos gewordnen Weltganzen, das autistisch-masochistische Opfer des Herzens. Damit realisiert sich der Widerspruch zwischen den beiden genannten Extremprinzipien in der tragischen Variante des Totalitätsdenkens, neben der und in der die verklärende weiterläuft.

3. Modelle des Totalitätsbezugs a) Kritik am Totalitätsanspruch und Totalität als regressive Integration In der Zeit der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", in der Nietzsche eine differentielle Kritik idealistischen Denkens anstrengte, bildet die Kritik des totalistischen Denkens einen integrierenden Bestandteil der positiven Einforderung von „Ganzheit". Sie bezieht sich auf unterschiedliche Formen wie das Weltprozeß-Denken, auf religiöse Gesamtdeutungsansprüche u. ä. Nietzsches Historismus- und Wissenschaftskritik verweist auf die psychische Zersplitterung, welche im Gefolge der partikulären Betätigung sich einstelle. Dazu rechnet Nietäsdhe gerade audi das Syndrom der „Innerlichkeit", wo „die sichtbare Tat nicht die Gesamttat und Selbstoffenbarung dieses Inneren ist, sondern nur ein schwächlicher oder roher Versuch irgendeiner Faser [das Bild der in „einen kräftigen Knoten" geschlungenen „schönen Fasern" ging voraus], zum Schein einmal für das das Ganze gelten zu wollen".148 „Ganzes" ist dabei nicht zufällig am Praxisproblem entfaltet: darin wird es von dem anderen idealistischen Modell der Innen/Außen-Korrelation strukturiert. „Selbstoffenbarung eines Inneren", die Sicht des „ästhetischen Phäno146 Deshalb wäre an Bartusdiats Ausführungen 90 fl. Kritik zu üben, die diesen Unterschied nicht reflektieren. 147 Vgl. dazu Schlechta, Mittag 62. i « I, 235.

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mens" als des ganzheitlichen „Moments", welcher „gerade der kräftigste und selbsttätigste Zeugungsmoment im Innern des Künstlers ist, ein Kompositionsmoment allerhöchster Art", 149 — all dies weist doch auf die zentrale Bedeutung des Innerlichkeitsmomentes hin. War nach Nietzsches Ansicht Schillers Totalitätsglaube seiner eigenen Subjektivität sich bewußt,150 so relativiert sich der Wert solcher Subjektivität in der historischen Unzeitgemäßen von der kosmologischen Entwertung des Menschen her. Nietzsche radikalisiert den Anspruch von Objektivität in einem naturwissenschaftlichen Bild: „Das Menschengeschlecht [ . . . ] will nicht nach Jahrtausenden, ja kaum nach Hunderttausenden von Jahren in seinen Schritten — vorwärts und rückwärts [sinnlose Totalisierungshyperbel! ] — betrachtet werden, das heißt, es will als Ganzes von dem unendüdi kleinen Atompünktchen, dem einzelnen Menschen, gar nicht betrachtet werden" ,151 Daß sich „das Ganze" dem Begreifen entziehe, wird von Nietzsche hier als Einschränkung kosmologischer und geschichtsphilosophischer Aussagen behauptet; aber er verbindet die negative Grenzziehung aussagbarer Erfahrung doch wieder mit der Affirmation des Negativen in der „Perspektivismus"-Formel: „alles begreifen — das hieße alle perspektivischen Verhältnisse aufheben: das hieße nichts begreifen, das Wesen der Erkenntnis verkennen." 152 Daß aber auch die anthropologische Ganzheit der Entwicklungsgeschichte der Anschauung entzogen sei, liefe auf ein Verdikt historischer Anschauung überhaupt hinaus und wäre nur aus rhetorischer Hyperbolik abzuleitende Annahme. Die Wissenschaften verzichten — Nietzsche argumentiert ja selbst damit — gerade nicht von vornherein auf derartige Anschauungen. Nietzsche spaltet im Bild vom „Atompünktchen Mensch" die Weltsituation des Menschen grundsätzlich. Ohne Plausibilität versucht er welthistorische Betrachtung auf theologischen Chiliasmus zurückzuführen, wenn er das „universale historische Bedürfnis" vom Bewußtsein des „memento mori" ableitet. Hinter den kritischen Impulsen der Destruktion welthistorischer Totalitätsgläubigkeit erscheint, wie es der nachfolgende Text belegt, die unbestimmte Bejahung des „Werdenden" als vorausgehendes Motiv. Aus dieser semantischen Struktur ergibt sich, daß die vorwegnehmende Kritik der „Welthistorie" im Textaufbau den versetzten Stellenwert eines vor« » I, 247. 150 Nietzsche zitiert Schillers Wort von „einem übereinstimmenden Ganzen — das freilich nur in seiner [des Historikers] Vorstellung vorhanden ist" (I, 248). 151 I, 259. 1 5 2 Zit. nach Bartuschat, Selbstsein und Negativität 166 ( = „Unschuld des Werdens" II, 245). Bartuschat stellt, ohne die unterschiedlichen Bedeutungen von „Totalität" zu erfragen, für den kosmologischen Gebrauch des Begriffs fest: „Erkenntnis ist also für Nietzsche wesentlich so bestimmt, daß sie sich nie auf eine Totalität bezieht".

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ausgenommenen Exempels hat — eine Struktur, die als spezifisch rhetorische Umkehr von Argumentationsabläufen anzusprechen ist. In der Frühphase ist die Ambivalenz „des Werdenden" — in den Polen der emblematischen Figur des Genius als einer Verklärungsfigur des Werdens und der naturpoetisciien Figur des Flusses als der Realitätsfigur der Vergänglichkeit — noch manifester als im Spätwerk.153 Im sozialpsychologischen Anwendungsaspekt jener unbestimmten „Kulturkritik" wird freilich die positive Ganzheitsanschauung bejaht; Schopenhauers „Größe" als Erzieher besteht gerade darin, „daß er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellt, um es als Ganzes zu deuten." 154 Da der erkenntnistheoretisch-abstrakte Anwendungsbereich nun gleichzeitig den Wert des „Bildes" negiert, wird dasselbe zum Sündenfall des Erkennens überhaupt perhorresziert. Dies gilt in der Auflösungsstufe der Hermeneutik seit dem Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge . . . " . Daß Hermeneutik schon funktionsunfähig ist, dokumentiert selbst die zitierte Stelle. In Weiterführung der technomorphanthropomorphen Latenzen des Bild-Topos heißt es rühmend von Schopenhauer und in Opposition zu jener Praxis der Bilder-Analyse, die „Farben" und „Stoff" „peinlich untersuche": „Man muß den Maler erraten, um das Bild zu verstehen — das wußte Schopenhauer" . 15s Würde man den „Maler" des „Lebens" erraten, so restituierte sich eine sehr wohl theologischere und regressivere Anthropomorphik als die historistisdie. Unterm Präskript der erratend-verdächtigenden, umkehrenden und Kontradiktionen bejahenden Denkweise verschließt sich die Chance, eine mit diiierentiellen Ansätzen arbeitende Hermeneutik aufzubauen; die Gesamtdeutungen setzen immer wieder zum radikalen Totalsprung ins Bild an, vollziehen ihn — und setzen ihre Ergebnisse dann der eigenen Kritik wieder radikal aus.156 Die transzendentalistisch-immanente, pragmatologisch blinde Unterstellung von „Über Wahrheit und Lüge", „wir wissen immer noch nicht, woher der 15J In einem zusätzlichen Motiv für die Enthaltung von Totalwertungen wird die Aufwertung des geniaüsdi-egologisdien Prinzips in einem Bild versucht, das dieser Ambivalenz genau entspricht, ihre Pole zu vereinen trachtet: „der Weg zur Erlösung" verläuft hier bereits auf jener „durch Heiterkeit" verklärten Enthaltung vom wissenschaftlichen „Eulen-Ernste" in eine „Zeit, in der man sich aller Konstruktionen des Weltprozesses oder auch der Menschheits-Geschichte weislich enthält, [ . . . ] in der man überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die Einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden" (I, 270). „Welthistorie" ist also auch deswegen negiert, weil sie Anerkennung der Relevanz der Massen impliziert. 154 I , 303. 155 I, 303. 156 Nietzsches — vielleicht wachsende — Unfähigkeit zu wissenschaftlichem Prozeß ist daran abzulesen, daß er sich weder methodologisch noch sachlich ausreichend zu sichern wußte, sondern als hermeneutische Praxis die je totale Anwendbarkeit einzelwissenschaftlicher Theorien experimentierte, um eine „allumfassende genetische Lehre" (Heller, Von den ersten und letzten Dingen 12) zu konstruieren.

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Trieb zur Wahrheit stammt", ist mit der geglaubten negativen Totalität der ,Lügenkonvention' („herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen" 157) gekoppelt. Von dieser nihilistischen und doppelt negierenden Totalitätskonzeption werden die zwar auch leerformelhaften, über ihre Immanenz jedoch hinausweisenden und je komplettierbaren Totalitätsformeln der klassischen Polaritäten in ihrem Wert als Ausgleichs-Konzeptionen aufgelöst. Am äußersten abstrakten Horizont des Nietzscheschen Denkens soll die letzte derartige Polarität, die von „Sein" und „Werden", in der Totalitätsanschauung der ewigen Wiederkehr des Gleichen zur Zwangseinheit gebracht werden. Damit ist das je noch bestimmbare Gegensatzverhältnis klassischer Polaritäten in die Unbestimmtheit der ubiquitären Erlösung aufgehoben; das Ausgleidisdenken, das sidi um Vermitdung weiterhin real bestehender Gegensätze bemüht, ist zum transzendentalistischen Rechtfertigungsdenken geworden. Nietzsche hat die Identität von Ausgleich und Rechtfertigung in den achtziger Jahren nicht ohne Rückgriff auf spinozistische und goethesche Totalitätsmodelle konzipiert. In geschichtsphilosophischen Überlegungen, die Totalitätsaussagen bezwecken, werden Schematisierungen der „drei Jahrhunderte" (17. bis 19. Jh.) gesucht, um am Ende der Zuordnungen bei Goethe einen „Fatalismus" festzustellen, dei sich sehr dem Nietzscheschen genähert hat: „Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, dei nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint".158 Auf den folgenden Seiten erscheint gelegentlich die Rede von einem „Ge samtzustand" im Sinn des klassischen Ausgleichs widersprüchlicher Kräfte, angewandt auf Einheiten wie Person, Volk, Kultur. 159 „Totalität" weist intentional immer auf eine relativ unaussprechliche, diskursiv angeblich unerreichbare Integration bzw. auf eine „Aufhebung" des Einzelnen; in ihr geht jedoch del soteriologische Effekt nun weniger von der Gesamt-Einheit ,aus' als von den: Einheits-Wert des ,kleineren', als individuell artikulierten Ganzen. Die schor zitierte Notiz über seine „prinzipiellen Neuerungen" ist unterm Gesichtspunk) kritischer Totalitätskonzeption zu lesen als systematische Abwehr des normverpflichteten Ganzen jeweiliger Kulturbereiche durch den je sich selbst heroisierenden Einzelnen. Wogegen Nietzsche sich wehrt, ist das Ganze in der Forir «7 Hl, 314. "β HI, 512. KGW VIII, 2, 107 liest statt „im Glauben" „ein Glauben". „Totalität" ist hier durchaus praktisch und weltoffen konzipiert: Goethe „separiert sich nicht von Leben; er ist nicht zaghaft und nimmt soviel als möglich auf sich, über sidi, in sich, — er will Totalität, er bekämpft das Auseinander von Vernunft, Sinnlidikeit, Gefühl Wille, er diszipliniert sidi, er bildet sich ...". 159 III, 516.

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seiner wissenschaf tlich-fixierenden sozialen Repräsentanz; was er an die Stelle der „alten Werte" heben will, sind offenkundig partiale Segmente, die er aber — und zwar im Sinn der transzendentalistischen Bild- und Partial-Korrelation — aufwertet zu Totalitäten. Darin ist richtig, daß in dieser je vereinfachenden' Partialität der Widerspruch zum kulturell schon geleisteten Ganzen lebt — man vergleiche hier (s.o. S. 310 = III, 560) die Rolle der Affekte: sie gehören zu einem regressiv erweiterten Begriff von ,Geist'; falsch ist jedoch die Rückanwendung: sie gehören eben nicht zu einer „Erkenntnistheorie". Nietzsches Ersetzungen sind Versuche historischer, aber aus der historischen Bestimmtheit ausbrechender Regressiv-Integrationen der Werte, gegen deren Partialität er polemisiert, ohne sie zu beschreiben. „Totalität" wird in den achtziger Jahren für Nietzsche zum Synonym nicht nur kultureller, sondern vital-geistiger Gesundheit nach dem Vorbild einer regressiv erweiterten Konzeption des „Naturmenschen", der antithetisch zu dem Rousseaus am Doppelvorbild von Goethe und Napoleon konzipiert wird.160 Nietzsches „neues Ja" — das seiner Meinung nach von Schopenhauer schon gesucht, aber in Regression zum theologischen 17. Jahrhundert verfehlt war („mit Pascalischen Werturteilen ohne Christentum") — ist verbildlicht in der „Totalität" Napoleon: „die notwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der ,Mann' wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die ,Totalität' als Gesundheit und höchste Aktivität, die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht".161 Es ist an der Gleichsetzung von konkreter personaler Totalität und Totalität als Erklärungsprinzip wiederum jene hermeneutisdie Unsicherheit (um nicht zu sagen: das journalistisch-rhetorische Denken) Nietzsches festzustellen, in der Explanans und Explanatum zusammenfallen. Beim späten Nietzsche, der sich zunehmend aufs Verallgemeinern wirft, werden Wiederholungen und Wechsel von „Gesamt-Einsichten" immer häufiger.162 Gleichzeitig aber streitet er gegen Gesamtdeutungen, Gesamtsichten im 160 über den Vorbild-Topos „Goethe-Napoleon" vgl. Brose, Geschichtsphilosophisdie Strukturen 17: „Wenn immer der Name Goethes auftaucht, ist der Napoleons assoziiert". Nietzsche hat in beiden einen Namen für den Übermenschen gesehen. — Nietzsches Festhalten am positiven Ganzheits-Begriff gilt unter den Spaltungsbedingungen seiner Ambivalenz der Moral. Es heißt auch 1884 noch eine Unterscheidung zwischen dem „gewöhnliche(n), moralische(n) Urtheilen" und dem übermenschlichen: dieses bestimmt sich davon, ob der Urteilende „noch genug" sieht: „hat er Einsicht, Phantasie, Erfahrung genug, sich ein Ganzes vorzustellen" (KGW VII, 2, 177). 1« III, 633 ( = KGW VIII, 2, 122 f.). Vgl. eine frühere Notiz: „Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht". (III, 500) i « Vgl. bes. etwa von III, 600 an: III, 624, 625, 626 („in summa"), 690 („Gesamt-Anblick").

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Sinn nicht nur finaler Teleologie.163 Der Totalitätsgedanke schwankt so wie andere Zentraltheoreme Nietzsches zwischen apologetischer und kritisierter Gebrauchsdefinition. Nietzsche fragt sich in einer Eintragung, „wo der Gesichtspunkt ,Wert' unzulässig ist: — Daß im ,Prozeß des Ganzen' die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht) gar nicht gibt; daß es kein .Ganzes' gibt; daß alle Abwertung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existiert." 164 Beide Feststellungen setzen in der Begründung eine andere Fragestellung nach, als die vorausgenommene Konklusio impliziert. Mit dem negativen Existenzurteil wird die gesamte Fragestellung negiert und damit das für einen kleineren Geltungsbereich angesetzte Relevanzurteil hinfällig gemacht. »Arbeit der Menschheit' und ,Wertung menschlichen Daseins und seiner Ziele' fallen unters Verdikt einer nicht explizierten Totalität. Daß diese kritisch negierte Totalität Zusammenhang mit der irrationalistisch dualisierenden Weltkonzeption des Philosophen hat, offenbart die Weiterführung des Eintrags, in dem zunächst die Negation der Kausalitätsbegriffe, dann die Substitution von „Steigerung der Macht" an die Stelle von „Vermehrung des Bewußtseins" erfolgt; die dualistisch unexplizierte Begriffsspaltung tritt im vorletzten Statement offen hervor: „daß die Welt durchaus kein Organismus ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der ,Geistigkeit' nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist;" i « Ist sicherlich „Organisation" als Abstraktion des zeittypisch idealistischen Organismus-Begriffs gefaßt, so zeigt der sprachliche Duktus der figura etymologica doch dasselbe unklare Umwertungsverhältnis wie in der topischen Verwendung von Termen in einer negierenden Apostrophe und in einer affirmierenden .Eigentlichkeit': „Organismus" müßte hier in Gänsefüßchen stehen, während „Organisation", als Bezeichnung für die Organismus-Form der existierenden geistigen Wesen, eigentlich gebraucht wird; aber das Gegenstandsfeld ist 163 Vgl. etwa Kritik am Lebensalter-Topos: „Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie is; eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, — sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter". (III, 662; in diesem rationalen Kontext enthistorisierte Nietzsche das ansonsten durchaus welthistorische Konzept seiner d&adence-Theorie!) im III, 682. ( = KGW VIII, 2, 279) Daß die Ganzheits-Relation widersprüchlich gedadic wird — einmal als Verhängnis, einmal als Heil —, hängt mit der Sozialspaltung in Nietzsches Bewußtsein zusammen; Angst vor „dem Vielen" prägt sein Lebensbewußtsein. — So heißt es an Rohde: „Wir müssen uns in etwas Ganzes hineinlegen, sonst macht das Viele aus uns ein Vieles". (Zit. nach Podach, Notizbücher 130) i « III, 683.

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gewechselt: was nur innerhalb eines unbewußten Vergleichsrahmens von „Welt" und „Subjekt" geschehen kann. Jene, völlig gereinigt vom erkennenden Subjekt, wird zum negativen Totum „Chaos". Folgerichtig wird im letzten Statement die Sinnlosigkeit „aller ,Wünschbarkeit' [ . . . ] in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins" festgestellt. Hatten wir in den vorausgehenden Untersuchungen die Widersprüchlichkeit von Nietzsches Weltbegriff bereits herausgearbeitet, so läßt sich die analoge Widersprüchlichkeit auch seiner Aussagen zur Totalität feststellen. Aussagen, die kritisch nur dem „Gesamtcharakter des Seins" gelten sollen, werden dadurch, daß sie eine totale Kritik der Sinnmöglichkeiten auch in der Immanenz des Subjekts enthalten, zugleich als „hic et nunc" relevante Behauptungen von Sinnlosigkeit, als nihilistische Totalisierung gesetzt. „Sein", „unser Sein", „unser So-und-so-sein" sind im Sprachgebrauch Nietzsches gleichwertig eingesetzt, — woraus nicht zuletzt die Widersprüchlichkeit seiner Nihilismus-Begriffe resultiert. So heißt es in einer analogen späteren Aufzeichnung, es sei „ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt", 166 nämlich ein welt-intendierendes, das Schicksal der menschlichen Daseinsformen verantwortendes, etwa .göttliches' Wesen. In Anknüpfung an die Ablehnung aller Teleologie wird die Kategorie kosmologischer Intendierbarkeit unter der Voraussetzung der Religionskritik negiert („wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches [ . . . ] , wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte [ . . . ] " ) . Dann folgt eine Totalitätsreflexion, die den Widerspruch zur eben behandelten ausdrückt: „Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser Sound-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? — Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen . . . Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins".167 Dieser die eigene argumentative Schwäche rhetorisch decouvrierend zudeckende Eintrag müßte als zentraler Widerspruch in jeder Reflexion der Ge: gensätze im Nietzscheschen Denken thematisiert werden. Er steht im Kontext der genealogischen Ableitung theologischer Kosmologie aus dem „Instinkt der Rache", dem seinerseits totalisierten „Ressentiment", das sidi in Chaos-Apotheosen realisiert.168 i « I I I , 823. 167 I I I , 823 f. III, 822 f. Nietzsche hat in den späten achtziger Jahren eine empirische Widerlegung der biopositiven Selektionstheorie Darwins versucht, indem er die universale Geltung der „philosophischen" Decadence-Werte behauptet: vgl. die Eintragungen „Anti-Darwin" (KGW V I I I , 3, 95: „Mein Gesamtaspekt der Welt der Werthe zeigt, daß in den obersten Werthen, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glüdbtätte,

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Deshalb steht die Reflexion auf der Ebene sozialpsychologischer Begrifflidikeit: auf ihr wird rahmenhaft — als im Ergebnis verhüllte Motivation und verschleiertes Axiom — die totale Verantwortungsentlastung erstellt. Der kosmologisch-theologische Aspekt ist in sie zurückgestuft zum bloßen Beispiel einer kritisch durchschaubaren theoretischen Konstruktion von „jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments." 169 „Totalität" bezeichnet dann jene absolute Grenze der Intendierbarkeit, die aus der kritischen Negation der religiösen Weltauffassungen konstruiert wurde. Sie ist weiter nicht begründungsfähig, da Urteilsbildung gegenüber dem Inhalt des Urteils irrelevant wird. Als absolute Grenze der Auslegbarkeit von Welt realisiert sich ihre Relevanz nur noch in der Praxis des Widerspruchs, daß es kein Ganzes gebe und gleichzeitig nichts als das Ganze. Der sachlich triftige Gehalt des Widerspruchs von kosmologischem Totalund immanentem Existenzialurteil wird auf denotativer Ebene jedoch immer wieder deshalb störend bemerkbar, weil er in vorausgehenden Axiomen der negativen Hermeneutik Nietzsches konkrete Anwendungen erzwingt, selbst nicht als ,Grenzurteil' beschränkt bleibt. So wird „Totalität", funktionsgleich zu einer Reihe anderer Total-Theoreme wie dem „Willen zur Macht", der „Scheinbarkeit", der „Welt des Werdens", zu jener Leerformel und zur Funktion der argumentativen Entlastung, innerhalb derer sich die kritisierte Religiosität bis zum Wahn der ewigen Wiederkehr restituiert. Bartuschat hat in einer explikativ präzisen Form eine Darstellung der Totalisierung von Willen als in sich rückläufigem Kreisprozeß gegeben. Die Widerspruchswertigkeit der Totalitätsfunktion erscheint am Beispiel der latent auf uneingeschränkte Machtexpansion fundierten Willenskonzeption als unbestimmbarer Wechsel von Zwang und Spiel. Diese Wechselhaftigkeit füllt, was Nietzsche als „Olymp des Scheins" und Willens-Artistik der Umkehrung und der Wiederkehr-Volten glo-

die Selektionstypen, die Oberhand [haben] — vielmehr die Typen der decadence"), „Philosophie als decadence" (KGW VIII, 3, 102), „Anti-Darwin" (ebd. 107 f.) und „Meine Consequenzen" (ebd. 108), die wieder ins totale Chaos münden: „Meine Gesammtansicht. — Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben. Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar. Die gesammte Thier- und Pflanzenwelt eniwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren . . . Sondern Alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander". Die generalisierende Analogiebildung schlägt einen Bogen von philosophischen Normen über die Gattung des Menschen zun widerspruchs-natürlichen Einheitsbild der Animalität, — sie endet im „dritten Satz* mit der These einer manifest regressiven „Rückkehr zur Natur" im Sinn des „wilde(n)* und „böse(n) Menschen", in der „seine Wiederherstellung, seine Heilung von der ,Cultur' ..." zu sehen sei. Zur Totalisierung der decadence vgl. auch KGW VIII, 5, 206 f. ιω III, 823.

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rifiziert: „Schein ist die Realität, die sich nicht mehr in etwas anderes verwandeln läßt, weil sie selber schon die Totalität dessen, was überhaupt ist, in sich schließt." 170

b) Das Ganze als Verhängniszusammenhang und als Verantwortungsentlastung Könnte „Schein" Kategorie poetologischer Verwandlung sein, so ist er doch wesentlich nur denkabstrakte Wechselwertung. Ihm fehlt das praktische Ingredienz. Es gibt im Grunde aus der chaotischen Welt Nietzsches keinen Austritt und keinen strukturierenden Zutritt. Die ihr einverleibte Handlungslosigkeit realisiert sich sprachlich in der positions- und individuumsflüchtigen Kategorie des „man", in der sich seine .naturebenbildliche' Emanzipation des Menschseins von der „Verantwortlichkeit in Gott" als Erlösung der Welt mythisiert. Daß es „nichts außer dem Ganzen" gebe, muß tröstlich sein und ist doch gleichzeitig Fatum, Verhängnis selbst. Im achten und letzten Aphorismus in der Reihe „Die vier grossen Irrtümer" der GD formuliert Nietzsche „Fatalität" zu totalentlastender, Willen und Selbstkorrektur ausschaltender Daseinsverklärung um, in der sakrale Sprachpartikel legitimierend eingesetzt sind: „Niemand ist dafür verantwortlich, daß er überhaupt da ist, daß er so und so beschaffen ist, daß er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird". „Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, — es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen . . . Aber es gibt nichts außer dem Ganzen\ — Daß niemand mehr verantwortlich gemacht wird, [ . . . ] daß die Welt weder als Sensorium, noch als ,Geist' eine Einheit ist, dies erst ist die große Befreiung — damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt . . . Der Begriff ,Gott' war bisher der größte Einwand gegen das Dasein . . . Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt" .i" Hält man diese Formulierung neben die oben zitierte, so erkennt man den entlastenden Wechsel in der Subjektsetzimg der Sätze: Das „es" der vorliegenden Formulierung ist die neutrale Negation des in der hermeneutischen Reflexion als deutungsimpotent ausgewiesenen Subjekts — es ist aber im Kontext zugleich das Gesamt dessen, was als ,Gott' gedacht wurde. In der End170 Bartuschat, Selbstsein und Negativität 97. Bartusdiat erkennt die reduktive Realitätskonzeption Nietzsches, wenn er schreibt: „Der Wille zur Macht hat dann seine höchste Form erreicht, wenn er sich so durchsetzt, daß er im Vollzug des Sichdurchsetzens sich selber als einzige Realität zu setzen vermag". (Ebd.)

171 II, 977 f.

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phase der entlastenden Substituierungen der sozial- und normbestimmenden theologischen Kategorien wird die als Austausch-, Vergleichs- und Umwertungsinstanz eingesetzte Welt weiter reduziert auf das durch seinen Zusammenhang mit ihr sich von aller Norm entlastende „Ich-Fatum". Soweit es sich gänzlich eingekettet findet in den negativen Zusammenhang der Dinge, hebt sich seine so ungeheuer belastende Differenz zur Wertwidrigkeit der Welt auf.172 Hier ist die fatale Auswirkung von Nietzsches Nichtunterscheidung von Täter und Tun, von Prozeß und Intention, von Gefährdung und Steigerung anzusetzen. Im fatalistischen Regreß erschleicht sich das Subjekt Erlösung als Einheit von Opferndem und Opfer. Der kategorische Doppelimperativ der Wertungslosigkeit und der permanenten Aufwertung realisiert sich in der Ineinssetzung von ego und fatum, die „zwischen beiden keine Trennung, die erst noch ein Zusammenkommen forderte, sein läßt." 173 Da totale Gleichwertigkeit in der Dauerverklärung allen Geschehens gefordert wird, gewinnt die Intellektfeindschaft eine verstärkte Motivation. Walter Schulz hat in seiner Untersuchung des Spätidealismus auf die Primärfunktion der Opferbereitschaft im sacrificium intellectus verwiesen: „Es ist ein Wille zum Nichtbegreifen, zur Anerkenntnis der in Sinnlosigkeit und Gleich-gültigkeit um sich kreisenden Bewegung, was seinen paradoxen Ausdruck im amor fati findet, der besagt, ,daß der Mensch sich selbst seiner Freiheit begibt, weil er schon immer durch den sinnlosen Kreis von ihr losgesprochen ist'." 174 Ohne hier die komplexen Zusammenhänge des Motivs der Opferung, des Selbstopfers und der Hinfälligkeit der sozialen Adressierung des Opfervorganges entfalten zu können, muß doch die Radikalität der Opferbereitschaft als Konsequenz des Totalitätsdenkens umrissen werden.175 Der Ausfall der Instanz, für welche vom Opfernden das Opfer geopfert wird, also das egozentrische Moment der Umdeutung des Opfers liegt auch dort vor, wo Nietzsche die mora172 l m NadJaß der achtziger Jahre heißt es: „In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort ,das sollte nicht sein', ,das hätte nicht sein sollen* ist eine Farce . . . Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinn schädlich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja Besser!" (III, 728) 173 Bartuschat, Selbstsein und Negativität 172. 174 Bartuschat, Selbstsein und Negativität 173. Bartuschats unklare Kritik an W. Schulz (Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings 284) ist von seiner thematischen Sichtfixierung auf die psychologische Dimension herzuleiten: „Nicht wird im Jasagen die Sinnlosigkeit und Unbegreifbarkeit der reinen Bewegung im Ganzen erkannt, sondern in ihm wird das Wollen bejaht, das sich so selber will, daß es auf kein Sein verweist" (Bartuschat 174). Wie sich zeigt, liegt tatsächlich eine totalistischganzheitliche Legitimation der Sinnlosigkeitserfahrung vor. 175 Man vergleiche zusammensehend einige wesentliche Stellen: I, 770, 1044, 1052, 1163, 1209,1244; II, 684; III, 655, 907.

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lisdie Funktion des Opfers kritisiert; dies geschieht, indem er sie egologisch transzendentalisiert und zum Beispiel einer genialen, irrationalen Unio mit dem Mächtigen reduziert: „Indem ihr eudi begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, genießt ihr jenen Rausdi des Gedankens, nunmehr Eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht... In Wahrheit scheint ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und genießt euch als solche" .176 Alle Momente der Nietzscheschen Entwertungshermeneutik sind eingesetzt: Entwertung des Verbindlidikeitsanspruchs sozialer Praxis zur bloß egologischnarzißtischen Scheinbarkeit, Aufdeckung des verborgenen Selbstermächtigungsmotivs und damit der Dialektik von Selbstentfremdung und Selbstgewixm, beides jedoch gebunden an die These von der unüberwindlichen Einheitssehnsucht: die Totalität ist die Großartigkeitsform der selbstgenüßlich-immanenten, scheinbaren Selbst-Transzendierung.177 Innerhalb der Vertauschbarkeit von Affirmation und Negativität ist „Opfer" unmittelbare Konsequenz der Selbstentmächtigung der Erkenntnis durch das alle „Wahrheit" überbietende zwangshaft Irrationale. Sein gedanklicher Kontext ist durch den Erlebnis-Mechanismus der unfreiwilligen Argumentation geprägt. Dialogische Strukturen werden axiomatisdi auf egologische reduziert — das gilt ausgesprochenermaßen schon für die Konstitution jeder Gesprädisgemeinschaft: „Ich will nie zum Widersprechen herausfordern; vielmehr: helft, mit mir das Problem zu gestalten! Sobald ihr gegen mich empfindet, versteht ihr meinen Zustand und folglich meine Argumente nicht! Ihr müßt das Opfer derselben Leidenschaft sein!" 178

i « Zit. nach Kaempfert 233 ( = GOA IV, 216). Vgl. in der Notiz „Der deutsche Mystiker" die Feststellung des Zueinandergehörens der „großen Selbst-Bewunderungen und [ . . . ] Selbst-Verachtungen [ . . . ] : der Mystiker, der sich bald Gott, bald Wurm fühlt". (KGW VII, 2, 266) Am Ende des Eintrags dann das Motiv des Einheits-Anschlusses: „Fatum ein erhebender Gedanke für den, welcher begreift, daß er dazu gehört." 177 Die Überführbarkeit dieser Erhabenheits- und Großartigkeitsattitüde in die geistesgesdiiditlichen Figuren der Genie- und Heroen-Tradition prägt die kulturelle Metaphorik auch von Nietzsches Denken. „Jeder großgesinnte Mensch hat die Verbrechen getan" — „man denke an Luther usw. Und Christus — der die, welche ihn nicht liebten, in der Hölle braten ließ!" Tun und Aushalten „vieler schlimmer Handlungen" macht innerhalb der Unabschätzbarkeit des Leidens sogar Bismarck und Napoleon kompatibel, — dessen Erscheinen als säkularisierte Parusie des Heils verbalisiert wird: „ein Wohlgefühl sonder Gleichen gieng durch Europa: das Genie soll Herr sein [ . . . ] " (KGW VII, 2, 75). 178 Zit. nach Brassard, Untersuchungen zum Problem des Übermenschen 10. Brassard geht auf die etymologischen Momente im Zusammenhang von opfernder „Überwindung" und „wenden" S. 14 f. ein.

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Namen für den leeren Bezugsraum des totalen Opfers sind „Schicksal", „Fatalität" , „Zusammenhang der Dinge". Auch „Nihilismus" muß in der Struktur einer Selbstopferung, etwa von Wertempfinden oder Erkenntnisfähigkeit, gesehen werden. 179 Durch die immanente Gesamtzerstörung, die sich als Erfüllung der Negationsstruktur ergibt, soll die ,transzendierende', in positive Qualität umschlagende Funktion der Verklärung ermöglicht werden. Aus dem spekulativ angestrengten „heiteren Totalismus" 180 erwächst, wenn „alles besiegt" 181 ist, die Wandlung des Fatums ins frohe Opfer; diese Wandlung verdankt sich den religiösen Säkularisationen, zuvörderst der Konzeption der pleromatischen, genialen Unerschöpflichkeit des Lebens in sich selbst.182 Nietzsches dionysische Selbst- und Weltvergöttlichung ist nach dem Modell eines pleromatisch-überschwänglichen Allwesens gedacht, das als „Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen", als „der Wille zum Leben" eine je sich selbst überbietende Instanzierung leisten soll. Sein Wesen liegt in einer durch Negativierung sich steigernden Selbstaffirmation, wie es die Weiterführung der bekannten Stelle aus GD sagt: „im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend." 183 Produktionsästhetische und kosmosreligiöse Bedeutung verschmelzen ununterscheidbar in dieser Konzeption, deren Ausgangspunkt das dionysische Totalitätsbedürfnis ist. „Mit dem Wort dionysisch ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens" .184 Zeitweiligkeit der „Identifikation mit dem Prinzip des Lebens" 185 und Kreisläufigkeit der Zeitauffassung ermöglichen jenes Ineins von Affirmation und Negation als Strukturmoment der totalistischen Hermeneutik, in der die Form 179 „Wenn Denken dein Schicksal ist, so verehre dies Sdiicksal mit göttlichen Ehren und opfere ihm das Beste, das Liebste". (Zit. nach Brassard 14) Vgl. das o. S. 325 angeführte Zitat von der Fatalität des Zusammenhangs des Ganzen (dazu auch G. Schulte, Das Verhältnis von Kunst und Erkennen 109). 180 1886 wurde im Zusammenhang stark autorbezogenen Sprechens eine Notiz niedergeschrieben, die auf die Korrelation von positiviertem Totaldenken und verfälschter Subjektwahrheit hinweist: „Ächt in seiner Objektivität, in seinem heiteren Totalismus, ist er falsch und gewollt in seinen Affekten, künstlich und raffinirt im Erfassen des Einzelnen, selbst in den Sinnen" (KGW VIII, 1, 54). 181 „Mit Jedermann leutselig, auch mit Gräsern noch", — so wird in Kennzeichnungen des Zarathustra formuliert, worauf folgt: „Humor eines, der über Alles gesiegt hat." (KGW VII, 3, 20) 182 P. Köster, Der sterbliche Gott, belegt den geistesgeschichtlichen Zusammenhang in seinem 1. Kapitel „Bedingungen der Größe", darin vor allem Abschnitt c) „Das Genie und die Idee des Schöpferischen" 17 ff. Vgl. ebd. 67. 183 So im 5. und letzten Aphorismus von „Was ich den Alten verdanke", II, 1032. 184 HI, 791. 185 III, 912.

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der entfalteten Totalität sich als Wille zur Selbsterhaltung des „Kampfes" aller kosmologisdhen Einheiten bestimmt.186 Soweit dieser Kampf jedoch eine Bewegung ist, die „über den Abgrund des Vergehens" hinausgreift, wird verständlich, daß er mit „Erlösung" identisch wird, wieso Nietzsches Positionsflucht in den Kreis der Lebenswiederkehr doch auch wieder der Versuch ist — wie es im engsten Kontext der letztzitierten Stelle heißt, als den „Schluß von ,der Wille zur Macht'" „die Wege zum Heiligen" zu entwerfen.187 Die Umwandlung des sakralen Wertes von Einmaligkeit und Vorbild zum Konzept der Dauerverklärung ist von der Unbestimmtheit des Lebensbegriffs erzwungen. Die negative Hermeneutik wird religiös aufgeladen zur automatisch sich erzeugenden Heiligungs-Hermeneutik: „— es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken: und nicht nur im Gedächtniß an sie, oder im Eins-Werden mit ihnen, sondern immer von Neuem und auf neue Weise soll diese Welt verklärt werden".«» Und in den nächsten beiden Einträgen rücken „organische Wesen" und „Heilige" in metaphorische Ähnlichkeit, weil sie spezifisch „auslegende" Wesen sind. „— das Wesentliche des organischen Wesens ist eine neue Auslegung des Geschehens [ . . . ] " — „die Heiligen als die stärksten Menschen (durch Selbstüberwindung und Freiheit, Treue usw.)" 189 c) Die religioide Erlösungsfunktion des dionysisch-regressiven Selbst- und Allbezugs als theomorphe Ästhetisierung Nur anscheinend ist das Verhältnis des Teiles zum Ganzen rein funktional, latent ist es in einem religioiden Erlösungsbezug im herrschaftlich-verklärenden Wollen des Lebens eingebunden. Soweit sich übermenschliche Herrschaftsentfaltung vollzieht, integriert dieser Vollzug alle Formen transzendentalistischer Selbsterziehung, Selbstüberwindung; er hat sein Beispiel in der im Gottgedanken gedachten Beziehung des Menschen zu seinem ,Schöpfer' und gleichzeitig im Bild der Natur. Beide Aspekte werden in Notizen zum dritten Zarathustrateil im Herbst 1883 kontextuell vorgebracht: Hier definiert Nietzsche Ϊ86 Den Umschlag der totalitären Subjektivität in totalitäre Objektivität formuliert u. a. eindrucksvoll eine Notiz, welche die Entstehung der „perspektivischen Sphäre" beleuchten will: „nicht ein Wesen" wolle sich erhalten, „sondern der Kampf selber" — Nietzsche denkt an „einen perennirenden Kampf concentrirt auf viele kleine Wesen" (KGW VIII, 1, 36). »7 KGW VIII, 1, 36. iss KGW VIII, 1, 36. 189 KGW VIII, 1, 37.

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das von Bennholdt-Thomsen allzu ungenau nach Maßstäben menschlicher Kommunikation interpretierte Bezugsproblem zwischen Zarathustra und den Menschen theomorph. „Zarathustra wie ein Gott darüber sinnend, ob er seinen Gedanken den Menschen mittheilt. Welche Motive empfindet ein Gott gegen Menschen? / Die Religion umzudeuten von diesem Standpunkte: der Gott in seiner Beziehung zu den Menschen".190 In diesem Ansatz ist das Ergebnis unserer Untersuchung bestätigt, daß im Komplex des Zarathustra-Denkens eine affirmative Überbietung der Religionshypothese, wonach Welt- und Menschsein „von Gott her" zu denken seien, versucht wird. 191 Zarathustra ist Inbild eines „schöpferischen" Prinzips, das sich seines Bedarfs an Widersprüchen bewußt zu werden begann: „Der große Erzieher wie die Natur: er muß Hindernisse thürmen, damit sie überwunden werden". 192 Zwischen beiden Zitaten wird die transzendentalistische Analogie von Fremdherrschaft und Selbstbeherrschung formuliert: „Wenn die Menschen nur eine Art von unseren Empfindungen sind: so ist folglich Herrschaft nur eine Art von Selbst-Beherrschung·, und der Wille, Herr zu sein, ist = der höchsten Besiegung von eigener Furcht und Mideid und Verwandlung des Anderen in unsere Funktion — also Herstellung eines Organismus" . 192a Diese zwar konditional relativierte, gleichwohl häufig wiederholte, umspielte und als apodiktische Konsequenz Problematisierungen des sozialen Gehaltes des „Willens zur Macht" zugrundeliegende Formulierung braucht nicht künstlich an altromantische Topoi herangerückt zu werden, wie sie im Umkreis von Schelling und Novalis bestehen. Hier bleibt die soteriologische OrganismusVorstellung als Hypothese eines ,heilen Zusammenhangs' ungetrübt greifbar — manifest allerdings auch der verschärfte Problemgehalt in der Sozialdimension: unübersehbar die Wechsellegitimation von Fremd- und Selbstherrschaft. Für den auch als „Reformator" gesehenen Zarathustra besteht nicht bloß eine Problematik von „Kommunikation" oder gar von „Erkenntnis". Seine Angst, ° KGW V I I , 1, 554. In einer Notiz über „das, was kommt" vom Sommer 1882 benennt Nietzsche die Leistung der „neuen Guten" und ihres Imperativs „ich will": „Befreiung der Kunst als Abweisung der unbedingten Erkenntniß. Lob der Lüge. / Rüdegewinnung der Religion." (KGW VII, 1, 42) Nietzsche sah in den achtziger Jahren sowohl in der Religion im allgemeinen wie in seiner „Lüge, Verstellung, Herrschsucht, Grausamkeit" rehabilitierenden Überbietungs-Religion „wesentlich Lehre der Rangordnung, sogar Versuch einer kosmischen Rang- und Machtordnung" (zit. nach Podach, Notizbücher 87). 192 K G W VII, 1, 557. 192a KGW VII, 1, 556 f. Diese Sicht blieb ambivalent. Vgl. die Notiz zu Zarathustra 3: „Herrschen? Gräßlich! Ich will nicht meinen Typus aufnöthigen. Mein Glück ist die

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Vielheit'. / Problem!" (KGW VII, 1, 509)

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sein nahezu vollzogenes Scheitern beziehen sich auf die Flucht vor dem aus der Verkündigung der Einheit von Herrschaft und Verklärung resultierenden Zwang, sich dem totalsten und höchsten „Gedanken" zu stellen, da schon alles, was ihm an Menschlichem begegnet, zu tief unter ihm liegt; und dieser Gedanke ist der, der sich in Nietzsches letzten Jahren auch in der schriftstellerischen Realität des Autors durchzusetzen beginnt, nachdem er in der NapoleonsTopik vorbereitet ist: die Weltherrschaft. „Aber du sollst die Welt überreden und den Menschen überreden, sich zu zertrümmern" .193 Die „Weisesten", deren kaum graduelle Differenz von den „Philosophen" und „Heiligen" bekannt ist, sind Figuren jener totalen Kompensation, die in der Fixierung an ,ein' Schicksal, .einen' höchsten Wert vorliegt: „Sie opfern Alles für Eins — das ist irgend eine Liebe; [ . . . ] " 194 Liegt hier eine ambivalente Fassung des totalitären Dienst-Verhältnisses vor, so spricht Nietzsche mehrfach auch eindeutig eine positive an. Nietzsches Machtgedanke hat letztlich theozentrische Voraussetzungen bzw. kulminiert in solchen. Das in den metaphorischen Mittellagen der Genieästhetik vorliegende Verweisungsspiel emanzipatorisch-produktiver Selbstlegitimationen im Zusammenhang der säkularisierten Aktualisierung des „Pieromas" gewinnt in Nietzsches Extremismus seine Vollwerte zurück. „Nun", heißt es im Sommer-Herbst 1883, „heitre Himmel der Ewigkeit berücken meine Sinne, der Tropfen Thau [Beschwörung des Gegners.] Werth des Menschen 1) die Fülle, Vielheit 2) die Gesammt-Madit 3) die Mittheilungs-Kraft" i» Vielheit des einzelnen, das sich je selbst bejaht, ist im Bild des Leibes soziomorph und ganzheitstheoretisch legitimiert. Der Sozialgehalt des Ganzheitsbezugs wird nun kaum, wie in der traditionalistischen Natur- und Geistphilosophie, als Dienstverhältnis verbalisiert — Nietzsche spricht, gemäß seinem theomorphen Ansatz, ,νοη oben' und sucht „Macht", „Herrschaft" mit jener kompensatorischen Verbissenheit, der allzuleicht ihr Gegenstand verloren geht. Dementsprechend wird aus dem traditionell intentionalistischen und normver193 KGW VII, 1, 558. Daß die Entstehung auch dieses Gedankens alibihaft darauf zurückgeführt wird, daß Zarathustras „Feinde [ . . . ] nidit stark genug" sind (ebd.), darf als spezifische Umdeutung aus dem geschlossenen Kreis Nietzschescher Monologik angemerkt werden und wäre gesonderter Untersuchung im Rahmen einer Arbeit über den nicht zustandekommenden Dialog wert. — In Gegenrichtung zu der in Anm. 192a mitgeteilten Problematisierung heißt es auf der nächsten Seite: „Zarathustra 3 wenn du auch nur dein Ideal willst, mußt du alle Welt dazu zwingen. [ . . . ] Die Masse muß man zu ihrer Vernunft zwingen und selbst zu ihrem Nutzen noch peitschen / Zarathustra — ich verlernte das Mitgefühl mit mir. / das Selbst vergessen". (KGW VII, 1, 510) 194 KGW VII, 1, 561. 195 KGW VII, 1, 503.

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pflichteten Bezug des Einzelnen zum heilen Ganzen eine unintentionelle, automatische Anerkennung: „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen. / Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg" .ι»« Nietzsches Rede vom „Ganzen" ist weit aus den anthropomorphen Bildbeziehungen der vorausgehenden Theodizeen herausgenommen. „Jene Bejahung, die im Theodizee-Gedanken impliziert ist, kann für Nietzsche nicht den Sinn haben, daß das einzelne im Hinblick auf das Ganze bejahenswert ist, weil es innerhalb dieses Ganzen eine diesen [diesem?] dienende Funktion einnähme; vielmehr kann der Wille als reine Tätigkeit immer nur die Momentaneität seines Vollzuges bejahen." 197 Radikal u n d abstrakt benennt Nietzsche diese Momentaneität als „Macht" — die dann kompatibel für Liebe ist. Wäre ,Dienst' ein Begründungsverhältnis, so soll doch die von Nietzsche angestrebte Reduktion des Willens zur Macht auf die kleinsten Einheiten zu jener Selbstaffirmation hinführen, die zu tun hat mit dem Selbstverweis eines ästhetischen Wertes. Der im leeren Komparativ verbleibende Ausdruck, daß bestimmte Wesen „in höherem Maaße Herrschende" seien, wird in Nietzsches Denken nicht qualifiziert, nicht auf Seiendes hin aufgeschlossen. A l l e s , Atome und Menschen, ist eines jener „Gebilde, das konstituiert ist durch ,Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben'." 198 Die Punktualisierung, die mit derartigen Beschreibungen verordnet wird, ist zugleich die naturverklärende Verallgemeinerung. Sie bildet den wissenschafts-sprachlichen Gegenpol für die nur im Erlebnisaugenblick, nur vom genialen Subjekt zu erzeugende Poetisierung, die „der naturhaften Punktualität des je einzelnen zugesprochen" 199 wird. Der durch die Punktualisierung und die ihr folgende symbolistische Beliebigkeit des Gleichnissprechens erreichte Gewinn der Weltlosigkeit ist die to196

KGW VII, 2, 282. Vgl. in ähnlichem Sinn, mit ausgesparter Funktionsbeschreibung: „NB. Zuletzt -war das Ganze einer griediischen Stadt doch mehr werth als ein Einzelner! [ . . . ] — so gewiß der Leib mehr werth ist als irgend ein Organ. Gehorchen lernen, 1000 Mal im Leibe, das höchste leisten!" (KGW VIII, 1, 50) 197 Bartuschat, Selbstsein und Negativität 136 f. ι»« W. Müller-Lauter, Willen zur Macht NS III, 17. 199 So J. Simon am Ende seiner präzisen Darstellung der erkenntnistheoretischen und spraditheoretisdien Beziehung zwischen „Grammatik und Wahrheit", in: NS I, 26. Er fügt die mehrfach gewonnene Einsicht hinzu: „Aber audi mit einer solchen ,Theorie' des Poetischen ist nichts anderes als ein nochmaliges Durchlaufen des schon zuvor als sinnlos eingesehenen Schemas des verdinglichenden Begründens geschehen. In einem aufschließenden Sinn ist damit, auch Nietzsche zufolge, wiederum nichts gesagt".

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tale Ästhetisierung: der Künstler, der nur noch in Gleichnissen denkt und redet, verschlüsselt die Welt wie ein Gott, macht sie zum Ebenbild seiner strukturfreien Selbstbeziehung: wenn alles Geschehen und Empfinden verklärt ist, kann nichts mehr aus dem Zusammenhang des Ganzen herausfallen, der Schein der Erlösung ist perfekt.200

d) Totalität, Indifferenz und Mißlingen der Umkehrung: „Eins ist Alles" Der Gedanke der „Welt" als der übergreifenden Instanz aller verklärenden Auslegung impliziert nach Auffassung des späten Nietzsche jene total legitimierende Beziehung, die alles Geschehen, jede Handlung, jeden Augenblick „rechtfertigt". Ist im blinden „Spiegel", in Nietzsches „Philosophie des verbotenen Wissens", die Sicherheit der moralischen und der kosmologisdien Erkenntnis positiv aufgehoben, so muß jederzeit die Negativrelation des Teils zur Totalität ins Positive umschlagen.201 Der verschärfte Totalitätsgedanke schließt die Vorstellung einer absoluten Bestimmtheit aller Ereignisse ein, so daß kein Moment isolierbar ist oder aus dem Zusammenhang des Ganzen genommen werden kann. Auf diesem Denkmodell beruht eine Reihe von Formulierungen, die nicht nur in Nietzsches Denken, sondern aufgrund ihrer assoziativen Kompatibilität zum Evolutionsgedanken in der zweiten Jahrhunderthälfte besonders im Umkreis neuromantischer Dispositionen reüssiert haben. Es ist ein Konditionsmodell, das von jedem einzelnen aufs Ganze extrapoliert. In ihm werden Gegebenheitsrückschlüsse sowohl vom Ganzen zum Einzelnen wie umgekehrt vollzogen. „Wenn nur Ein Augenblick der Welt wiederkehrte, — sagt der Blitz — so müßten alle wiederkehren absolute Notwendigkeit als Schild mit Bildwerken gescbautl"202

Gleichgültig, wieweit in dieser Formulierung Reminiszenzen an den bei Homer dargestellten Schild anzusetzen sind, das Bild soll ohne Zweifel den konnektiven Superlativ des Zusammengehörens verdeutlichen. Nietzsches Formulierungen der Totalität des Zusammenhangs kann eine beliebige Menge von 200 Masini spridit von „questa coimplicanza reciproca, ,amorosa', della totalita, quasi a stringere insieme miticamente tutte le cose, fosse ancora una volta la φιλία di Empedocle". (La .Überwindung' nello Zarathustra. in: Miscellanea II, 454) 201 Herbst 1884 heißt es: „Welt-Unabtrennliche Laßt uns sein! Das Ewig-Männlidie zieht uns hinein". (KGW VII, 3, 5). „Das Dionysische" ist „Die Verklärung"; sie forciert „die Umdeutbarkeit der Welt" (KGW VII, 3, 270). 202 KGW VII, 1, 503.

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unterschiedlichen Auffassungen untersteilt werden. Das Wesentliche ist daran immer wieder, daß sowohl für Realien wie für Erlebnisse die temporale und ontische Totalität der Welt als Bedingung vorausgesetzt wird. So heißt Nietzsches „Grundsatz: jedes Erlebnis, in seine Ursprünge zurückverfolgt, setzt die ganze Vergangenheit der Welt voraus. — Ein factum gut heißen, heißt Alles billigen! Aber indem man Alles billigt, billigt man audi alle vorhandenen und gewesenen Billigungen und Verwerfungen!" 203 Wäre dieser Einwand gegen die Totalisierungshypothese von Nietzsche stringent gedacht und auf seine kulturgeschichtlichen Globalkonstruktionen angewandt worden, wäre die negative Ausprägung der Redeweise von „allem Bisherigen" , die zunehmend das letzte Jahrzehnt seiner missionarischen Werbung für seine Umwertung bestimmt, als Musterfall einer sinnlosen Verallgemeinerung wohl audi ihm deutlich geworden. Aber selbst dann wäre ein Erfolg kritischer Selbstaufklärung über totaldeterminierenden Sprachgebrauch noch in Frage gestellt, da auf der Grundlage der Einsetzung von „Erlebnis", „factum", „Wertung" und „Geltung" eine differentielle Aitiologie kaum zu leisten ist.204 Aus der logisch aporetischen Situation dieser Totalitätshyperbeln ergibt sich eine neue Sicht auf eine Reihe seiner zentralen Gleichnisse und Symbole, die als Bilder der erzwungenen Indifferenz zu werten sind. So ist das im „Zarathustra" rekurrente Meer-Gleichnis das Bild einer Widerspruchs-Ganzheit, in dem nicht nur die Differenz der Situation, sondern auch der Intention des Individuums totalistisch gelöscht ist. Im Sommer 1885 hat sich Nietzsche ein evolutionistisches Gleichnis für die in seiner Existenz notwendig gewordene, kosmologisch zumutungsreiche ,Umdrehung' notiert: „Niemals ist lebendigen Geschöpfen mehr zugemuthet worden, als bei der Entstehung des Fesdandes: da mußten sie, gewöhnt und eingerichtet für das Leben im Meere, ihren Leib und ihre Sitten umdrehen und umstülpen [ . . . ] es hat 203 KGW VII, 2, 103. Vgl. strukturanalog KGW VII, 3, 58: „Wer ein einziges Erlebniß wiederhaben will, muß alle sich wieder wünschen". 2°+ Als Auswahl zum Topos „alles Bisherigen" seien einige Stellen angegeben: „1 Grundsatz. Alle bisherigen Werthschätzungen sind aus falschem vermeintlichem Wissen um die Dinge entsprungen: — sie verpflichten nicht mehr [...]" (KGW VII, 2, 85); „die gesammte Erziehung bisher hülflos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werthe behaftet —" (KGW VIII, 3, 12); vgl. ähnlich ebd. 280, wo Nietzsche eine Generalisierung behauptet, wonach totalevolutionistisch „alles Gute ein dienstbar gemachtes Böses von Ehedem" sei; in den letzten Jahren ist Nietzsche dann von selbstaufwertender Totalisierungsblindheit so besessen, daß sich die in der Forschung vielzitierten Phrasen wiederholen, daß er „das Schicksal der Menschheit in der Hand habe —: ich breche sie unsichtbar in 2 Stücke auseinander, vor mir, nach mir ...", anschließend heißt es: „Ich kenne mein Loos", er sieht sich als Krisenheros, der „eine Entscheidung heraufbeschworen [habe] gegen Alles, was geglaubt, gefordert, geheiligt worden war." (KGW VIII, 3, 453)

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bisher auf Erden keine merkwürdigere Veränderung gegeben. — Wie nun damals, durch Einstürze, durch ein langsames Zusammenbrechen der Erde das Meer sich in die Brüche Höhlen und Gruben senkte und Tiefe bekam: so möchte das, was jetzt unter Menschen geschieht, im Gleichniß zu reden, vielleicht das gerade Gegenstück dazu abgeben: nämlich ein Ganz- und Rundwerden des Menschen, ein Verschwinden der Brüche Höhlen und Gruben und folglich auch — ein Verschwinden des festen Landes. Für einen Menschen, den meine Denkweise rund und ganz gemacht hat, ,ist Alles im Meere', ist das Meer überall: aber das Meer selber hat an Tiefe verloren. — Doch ich war auf dem Wege zu einem ganz anderen Gleichnisse und habe mich verlaufen! Ich wollte sagen: ich bin gleich Jedermann als Landthier geboren — und nun muß ich trotzdem MeerThier sein!" 205

Zunächst handelt es sich hier um ein einfaches Totalitätsgleichnis, das — unter der Voraussetzung, daß alles Bisherige unter dem Rahmen eines identischen Bedingungskomplexes von Leben subsumiert werden könne — brauchbar ist für die Darstellung der totalen Veränderung, die sich durch Nietzsches Lehre eingestellt hat. Das erste Gleichnis wird nach dem Gedankenstrich nun durch die Opposition von Meer und Erde elaboriert, bei welcher jedoch ein ganz anderes tertium comparationis hinzutritt: nicht mehr um das Leben geht es jetzt, sondern um das Verhältnis der gegenseitigen Gestaltung von Festland — als relativ Starrem, Fixem — und Meer als liquider Auffüllung des Reliefs. Bezog sich das erste Gleichnis wirklich auf eine gestalt-qualitativ und ontologisch triftige Veränderung, so geht es im zweiten nur um eine Formveränderung. Deren Bedeutungskorrelat müssen dann, nach erfolgter Eintiefung des Meeres in die zerbrochene Geotektonik, notwendig .Aufwertungen' und Dimensionierungen der ,Geltung' der veränderten Räumlichkeit sein: der emphatisch hervorgehobene Ausdruck „Tiefe" signalisiert denn auch seine zunächst latente anthropozentrische Metaphernqualität. Seine offene anthropozentrische Bedeutung erhält das zweite Gleichnis erst in einer Umkehrung, die sich wieder auf die Thematik der Bedeutung der Lehre bezieht; von ihr suggeriert das Gleichnis, daß sie den Menschen zu heiler Totalität, zur .Füllung' seiner „Brüche, Höhlen und Gruben" bringe. Das tertium comparationis im Verhältnis der ,Gegengleichnisse' (im zweiten Gesamtgleichnis) wäre durch den Begriff der Nivellierung präzis zu benennen — wofür eigentlich auch der zeitgeschichtliche Verweis auf das, „was jetzt unter den Menschen geschieht", spräche. Aber gerade die Fixierung dessen f e h l t : ist es das „Heute" oder doch schon das „Morgen" der ,Gesamtgeschichte' der „Modernen Seele", auf die sich dieses leere Geschehen bezieht? 206 Im Zentrum dessen, was Nietzsche aussprechen, 205 KGW VII, 3, 274. 206 Dem Gleichnis geht unmittelbar voraus die Formulierung eines „Anhangs" zum „Gai saber" als einem „Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft": „Die moderne Seele. Versuch einer Aufklärung über Heute und Morgen." (KGW VII, 3, 273)

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genauer: durch gleichnishafte Verbilderung sich klarzumachen sucht, steht die Problematik der Konstitutierung von Zeit-Ganzheit — und die Analyse dieser Doppelparabel zeigt seine Schwäche gerade darin als zentrale Denkschwäche. Wenn Vergangenheit nur totalistisch nivelliert wird, kann kein Heute bestimmt und kein Morgen entworfen werden. Was heute geschieht, ist doppelwertig unterm totalitätssüchtigen Anspruch der Nietzscheschen Lehre selbst: das „Heute" ist gleichzeitig definiert von grassierender Decadence wie von der Sonne Zarathustras. Soweit wir das sprachliche und denkerische Material des Gleichnisses bisher interpretiert haben, ist es doppelt und kontradiktorisch verstehbar: sowohl als Gleichnis für die in der Existenzform der „letzten Menschen" manifeste Nivellierung wie als .Voraussetzung' für die Nivellierungsaufhebung durch Nietzsches Herrenlehre. Doch mit der dialektischen Assoziation in der zweiten Hälfte des Gegengleichnisses, mit der Extrem-Totalisierung, daß das feste Land überhaupt verschwinde (deren Analogie im Eingangsgleichnis keineswegs angelegt ist), schiebt sich strukturierend ein Nietzschesches Zentraltheorem unter: der Topos der dialektischen Genesis dem einfachen Naturgleichnis. Das „Verschwinden des festen Landes" ist eine stehende Metapher im Umkreis der Zarathustra-Thematik, die sich auf die Deutung von Nietzsches bzw. Zarathustras Beziehung zu seiner Lehre und gleichzeitig auf die Beziehung seiner Lehre zur Vergangenheit angewendet findet. Wenn Nietzsche im nächsten Satz nun die Totalitätsfunktion auf seine „Denkweise" bezieht, meint er damit pleromatischen Ganzheitsgewinn: und nun tritt der Widersinn zwischen geforderter „Tiefe" der Lehre und aus dem Gleichnis nahegelegter Verflachung im Totalitätsbild des Meeres offen zutage. — Nach dem zweiten Gedankenstrich realisiert Nietzsche die Ablenkung und Verschiebung von Aussagepositionen und die Veränderung des elokutiven Ansatzes unter Einbeziehung des Selbstbezugs und vereinfacht den labyrinthischen Gleichnisgang auf das relativ triviale Ausgangsgleichnis, ohne sich noch auf die Lehrinhalte zu beziehen. Im gesamten Text ist die Schwäche der thematischen und der selbstbezüglichen Konstitutierung von Aussagegehalten als Generator des gehäuften und dysfunktionalen Gleichnissprechens aufzuweisen. Nicht in einer besonderen Diffizilität der Denkinhalte scheint es begründet, wenn Nietzsche sich verläuft, sondern in seiner Neigung, gleichzeitig in alle Richtungen laufen zu wollen: was sich im Kreis- und Totalitätsdenken und in seiner Kontradiktionstoleranz verwirklicht. Dieses Totalitätsbewußtsein tendiert dazu, Eindeutigkeit und Funktionalität von Sachbestimmungen und Geltungen indifferent zu machen. Die Dissoziation von Einheiten führt zu der früher bereits festgestellten Selbstummauerung von Dingen, Aussagen und Geltungen, wie sie im Bild von der ,Welt um jedes Existierende' und im entsprechenden Verklärungstopos der „azurnen Glocke"

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auftritt.207 Mehrfunktionalität und entdifferenzierende Rückintegration prägen dem Text selbst den Charakter eines Kreisens in wfaersprüchlicher, namensetzender und namenaufhebender, nur noch auf die Aktivität der Selbstmetaphorierung verweisender Bewegung auf. Am Beispiel der Egologik Zarathustras: „Ich bin Gesetzgeber, ich schreibe Neues auf meine Tafeln: den Gesetzgebern selber bin ich Gesetz und Tafel und Herolds-Aufruf'" .208 In potenzierender Überbietung mischt Nietzsche die Funktionen der pragmatischen Ebene. Das ist als Vorbereitung einer Metonymienreihung zu verstehen. Die Mischung der praktischen Prozesse und Prozeßphasen führt zur metonymischen Funktionsmischung. Gegenüber dem vornehmlich statischen Charakter der stilistischen Metapher ist die Vorgangsmetaphorik widersprüchlicher Gleichzeitigkeit sukzessiver Verläufe als Methode sinnvoll, Gegensätze des Geschehens zu tilgen. Erst in der Herstellung der Einheit des Geschehens, manifest in der wiederholten bildlichen Behauptung der ohne bestimmende Kausalität gedachten Einheit der Wirklichkeit, gleicht sich fundamental die Spannung der Gegensätze im Sein des Werdens aus. Wenn von der „Ewigkeit für jegliches", auf deren Suche sich Nietzsches Philosophie aufgemacht hat, gesagt wird, daß ihr Tröstliches darin bestehe, „daß alles, was war, ewig ist — das Meer spült es wieder her" ,209 so kompensiert die Naturmetapher die vorausgehend genannte Problematik der Wertschätzung („dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen?") in ihrer eigenen Dimension: „Meer" ist zuerst Metapher des Verlustes und der Vergänglichkeit, im Folgesatz Metapher des Heils und Wiedergewinns. Weil Nietzsche die aus der metonymischen Tendenz seiner Ausdrucksweise ermöglichte Widerspruchsvereinheitlichung im Prozeß der Selbstaufwertung seiner Philosophie als „Einsicht" auszugeben gelernt hat, kann er die generelle Aussage, daß „die Moral [ . . . ] gerade so ,unmoralisch' wie jedwedes andere Ding auf Erden" 210 sei, als „große Befreiung" erleben: „Der Gegensatz ist aus den Dingen entfernt, die Einartigkeit in allem Geschehen ist gerettet." 211 207

Vgl. dazu eine Notiz, in der sich die defensive Selbstummauerung zugleich als Selbstübersteigerung umdeuten möchte: „Jeder Gedanke, wie die flüssige Lava, baut um sich selber eine Burg und erdrückt sich mit .Gesetzen'." Und anschließend, den Bildzusammenhang von Meer-Land-Relief weiterführend: „Nicht mein Meer fällt, mein Land wächst, meine neue Gluth hebt es empor. / Selig der, welcher über seinen Erfolg hinauf wächst. An diesem Gedanken ziehe idi die Zukunft hinter mir her". (KGW VII, 1, 511) Besser kann im Real- und im Zeitbezug die Struktur der verklärend usurpierenden Realitätsumkehrung vulkanischer Egozentrik kaum veranschaulicht werden, as KGW VII, 1, 609. 2» III, 680. ao III, 527. 21 M. Hamburger weist darauf hin, daß „Nietzsches dichterischer Stil selten irgendein Bewußtsein von den Einzelheiten der menschlichen oder nicht-menschlichen Natur" ver-

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Der Zusammenhang der Dinge

Jede Untersuchung der Philosophie der Gegensätze in Nietzsches Denken hätte diese Zielangabe zu berücksichtigen: es handelt sich um die ,Falsifizierung' von Denkmöglichkeit als jeder der Verklärung von Wertverlusten entgegenstehenden Real-Wirklichkeit. Damit wird der Zusammenhang zwischen „Logik"-Kritik und Einheits-Intention greifbar. Soweit sich im Begriff des Werdens die Problematik der Relation von Gegensätzlichem einstellt, ist Nietzsches „Philosophie des Werdens" die versuchte Praxis einer scheinhaften Widerlegung des Werdens selbst, indem sie auf die gegensatzlose „Einartigkeit" allen Geschehens verklärend und apodiktisch verweist. Kategorien, in denen die Differenz-Problematik von „Gleichem" und „Ähnlichem" ganzheitsanschaulich getilgt wird, sind jene zugleich abstrahierenden und totalisierenden Erlebnisinstanzen wie „Jasagen", „Augenblick", „Wiederkehr" und „Einartigkeit". Sie machen, im Überbietungs-Verhältnis zur bestimmten Geltung des in ihnen Gedachten, dieses zum „Totalisat". Ihre abstraktiv gewonnene Funktion der Entzeitlichung und Entdifferenzierung des Denkens und seiner Gehalte schließt sich auf dem ,religiösen* Umweg des aufklärerischen Denkens Nietzsches an die Frühphase der bestimmbaren Kulturkritik an. Aber indem deren latente Unbestimmtheit (im Zeitbegriff) sich auf die prädikative und objektive Schicht der Gegenstandsbestimmungen des kritischen Denkens erweitert, gerät der Bezug des Teils zum Ganzen generell in Auflösung. Naiv und unkritisch wird das in J. Stambaughs Arbeit zitiert: „Weißt du das nicht? in jeder Handlung, die du tust, ist alles Geschehens Geschichte wiederholt und abgekürzt" . 2 1 2

Praxis selbst wird so zum Totalisat von Geschichtlichkeit — und damit aufgehoben. Stambaugh macht von der präzis verfolgten Fragestellung her diese Aufhebung selbst als Aporie des Nietzscheschen Totalitätsbewußtseins sichtbar, wenn sie von der „Zeit der perspektivischen Sphäre" 213 handelt. Ist der Sehlußteil ihrer Arbeit insgesamt als widerstrebende Anerkennung der kontradiktorischen Widerspruchsbindung zu lesen (kein „Wieder" sei in Wirklichkeit ein „Wieder"), so ergibt sich als Ergebnis der Untersuchung der Wiederkunftslehre (in welcher die philologisch kaum triftige Unterscheidung zwischen „Wiederkehr" und „Wiederkunft" etabliert wird, um in einer vorläufigen logischen Differenzierung mit Nietzsdies Selbstwidersprüchen fertig zu werden) das Einmittelt (Sehnsucht nach der Hölle, in: Μ. H.: Vernunft und Rebellion 105). Hamburger merkt an, Nietzsche lasse „die Metaphern in einer Weise überhandnehmen", die seinen „größten Fehler als Dichter und Denker" zeige (ebd. 104). 212 Zit. nach J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche 204 ( = GOA XII, 370). 213 Ebd. 207 ff.

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geständnis, daß mit der von Nietzsche inaugurierten „Ewigkeit" im Grunde nichts erreicht ist: „Wird dagegen das Ewige als das gedadit, was ,alle Lust will', so ergibt sich die unerschöpfliche Wiederkunft des Sicherreichens der Zeitmomente in jedem Augenblick. Der ,Ring der Ewigkeit' ist gerade dieses Sicherreichen. .Sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring. [Zarathustra, „Von den Tugendhaften"]'' 2U

Stambaugh setzt dieses Denken im Ring ab gegen die Vorstellung der Kontinuierlichkeit der Linie der „Zeitpunkte": „Bei einer endlosen Wiederholung der zerstreuten Zeitpunkte kann überhaupt nicht die Rede von einem .Erreichen' sein. / Zum Gleichen gehört die Wieder-Kunft. Wiederkunft ist Wieder-Kunft des Gleichen". Dazu ist zu sagen: Die als Totalisat gedachte „Gleichheit" ordnet jedem Sein, das der ontologischen Differenz sich verdächtig erweist, das Totum seines Zusammenhangswesens vor. Diese Verhältnisse sind in der Einheit und Einartigkeit vorausverfügenden Lehre von der totalen Zeitperspektivik bereits vollstreckt: dem als anthropozentrisch Gewünschten und in der Ring-Metaphorik totalistisch Gedachten „hinkt" das Bewußtsein als eine an differentielle Sprachlichkeit immer noch latent gebundene Instanz „nach" .215 Daraus wird zwingend ersichtlich, daß sich die auf dem Boden der anthropomorph-analogistisdien Wünschbarkeit und der Leidverklärung errichtete Totalitätsform des Denkens, wie sie im „Ring" (der Zeit, der Geschehnisse, überhaupt „aller Dinge") versprachlicht wird, als ontologisch und kosmologisch verdeckte metaphorische Elaboration des gestörten Selbstbezugs verstehen läßt. Die genuine, vielfach verdeckte Form des Leidens, in dem es nicht gelingen will, „sich selbst zu erreichen", ist jener Gegenstand der anthropomorphen Kosmologie, dessen Heil durch Modelle der Summierung, des Teil-Ganzen-Bezugs und df? Rückwendung auf sich selbst „immanent" erreicht werden soll. Deshalb ist der Zusammenbruch der Logik und der differentiellen Sprachlichkeit sowohl der Rehabilitierung des Teils im Ganzen gleichwertig, wie er auch Voraus214 Ebd. 229. 215 Richtig realisiert Stambaugh, daß die als „Kraft" gedachte „Zeit" den kosmologischen Kreislauf immer schon, will überhaupt nodi ein Wechsel in der Einartigkeit erhalten bleiben, voraussetzt. Daß in der Kategorie der zur „perspektivischen Sphäre" gehörenden Zeit-Form aber ein Analogon dieser kosmologischen Konzeption vorliegt, belegt wiederum den Übertragungszwang in Nietzsches Denken. „Die Zeit als eine zur perspektivischen Sphäre gehörige Form kann zwar nicht als eine immer schon vorhandene Dimension bezeichnet werden, aber sie entspricht dieser, insofern sie immer schon als die Form erzeugt worden ist, in der das Leiden ausgelegt und verstanden wird. Das heißt zwischen der ursprünglichen empfindungsmäßigen Resonanz und der eigentlichen Vernehmung derselben hat sich eine Umkehrung, beziehungsweise eine Kehre der Zeit überhaupt immer schon vollzogen. Wie Nietzsche es ausdrückt: ,das Bewußtsein hinkt immer nach'." (Ebd. 207)

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Der Zusammenhang der Dinge

Setzungen dafür zu schaffen scheint, daß die ontologische Differenz gar nicht „gedacht", bewußtheitlich vollzogen werden kann. Ist schon in jeder singulären Handlung die Totalität alles je Gewesenen, Geschehenen und Gehandelten präsent, so ergibt sich die totale Entlastung von Handeln: Kann man — im diskursiven Sinn — nicht mehr „reden", wenn es nur noch die Philosophie der vereinartigten Widersprüche gibt, so gilt gleichwohl: man kann nur noch — ästhetisch und rhetorisch — reden. Die Widerspruchsbücher sind geschrieben für alle und „Keinen". Nietzsches Philosophie, die ihre latente Voraussetzung eines idealistisch-dogmatisch konzipierten Monismus einholt, indem sie zur Totalitätsthese vordringt, „es gibt nur das Ganze", manifestiert im Verhältnis irrationaler Axiomatik und sprachlicher Selbstdestruktivität die Verifizierbarkeit des idealismuskritisch formulierten Adornoschen Satzes „das Ganze ist das Unwahre". Realisiert sich die Unwahrheit des Ganzen philosophisch als Unsinn der Formel „Unschuld des Werdens", so ästhetisch als Fragwürdigkeit einer Verklärungskunst, die von trivialeren Erscheinungen des 19. Jahrhunderts so entfernt nicht ist. Auch wenn — nach Stambaugh — der späte Nietzsche den „Versuch, das Eine W e l t a w e » selbst sein zu wollen" deshalb aufgegeben haben sollte, „weil es dieses ,Wesen' gar nicht gibt", hält doch die von der Analytikerin unkritisch als Antwort bereitgehaltene Formel „Unschuld des Werdens" am Wesensanspruch fest: ihr gemäß sei „das Zerbrechen des Bannes der Gegenwart und der Zukunft kein Frevel, sondern ein Spiel, das Spiel der ,Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens*, als .Verewigen', . . . .gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend'".™ Dürftigkeitserfahrung, die sich selbst verklärt zum Verkehr mit großen Aufgaben, suggeriert sich den Schein der Souveränität, obwohl sie an die verneinte Tradition gegenständlich gebunden bleibt. 217 Was Nietzsche in seiner Spätphilosophie als Individuum konzipiert, ist ein ,Totalisat' gerade der Kontingenz seiner Bedingtheit. Nietzsche nennt, was „.Individuum'" genannt wurde, „sinnlos" — und übersetzt es in seine Eigentlichkeitssprache, die jenem die Totalität seiner Antezedenz als Wesen zuspricht: 216 Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche 230. 217 Symptomatisch dafür zwei von Stambaugh verwendete Zitate aus der Symptomphilosophie Nietzsches, die Schein als Voraussetzung des Wesens bestätigt: „Ich kenne keine andere Art mit großen Aufgaben zu verkehren als das Spiel·, dies ist, als Anzeichen der Größe, eine wesentliche Voraussetzung". (Ebd.) „Neue Form der Überlegenheit: das Spiel mit dem Heiligen". (Ebd., = GOA XIV, 405). Auf die Zusammenhänge zwischen „Mangel an Ernst" und „Momentcharakter der Ordnung", zwischen nicht erreichter Subjektivität im Sinn von Hegels „Philosophie der Geschichte" und „Monologik der reinen Weltimmanenz" geht Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung 243 ff. ein.

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„Es rächt sich", sagt er mit deutlicher Absetzung gegen das relativierende Denken der Rationalität, „daß von der Wissenschaft das Individuum nicht begriffen war: es ist das ganze bisherige Leben in Einer Linie und nicht dessen Resultat".219 Was die Evolutionstheorie an Informationen über genetische Zusammenhänge erbrachte, formuliert Nietzsche in eine extrem weitergetriebene Egologik im Stil universalistischer Genielehre um. Das erfolgt im Zeichen einer antimoralischen Aufwertung des „ego", nachdem der alltags- und philosophiesprachliche Ich-Begriff annihiliert ward: „Mit der moralischen] Herabwürdigimg des ego geht auch noch in der Naturwissenschaft eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundert Mal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Thatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation".219 So zeigt sich, daß der verallgemeinerte Gedanke des Konnexes und des Zusammenhangs, dem Teil imputiert, eine radikal-immanente Lösung und Erlösung ermöglichen hilft. Der Topos der Behauptung der Einheit mit dem Gesamt vorausgegangener menschlicher, organischer, ja kosmischer Geschichte wird in der Ausprägung der neuromantischen Binnenreaktion im Naturalismus eine vergleichbare bedeutende Rolle spielen. Innerhalb seiner analogistischen, aber Analogie zur perennierenden Identität aufhöhenden Geltung erfolgen die naturmystischen Aufwertungen fiktionaler Berliner Autoren-Ichs, etwa bei Dehmel, den Gebrüdern Hart, Arno Holz, Wilhelm Bölsdie, zu biologisdien und soteriologischen Wesen wie Buddha und Christus.

218 KGW VIII, 2, 42. 219 KGW VIII, 2, 199. Audi hier zeigt sich die Metapher (der Kette) als Rekonkretisationsversuch des wissenschaftlichen Ausdrucks „Gattung". Der Zusammenhang mit der Aufwertung des Egoismus wird vielfach deutlich, vgl. z.B. KGW VIII, 2, 23: „Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral [auffaßt], etwas das mit der Geburt beginnt): stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Werth in der That außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgerathenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt)" — darauf folgt die Sorge, daß man „so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathenen wegnimmt".

VII. Zusammenfassung

1. Entfunktionalisierung und Ideologiekritik Faßt man das Gesamt der Umkehrungen Nietzsches ins Auge, also audi die Aufwertungen im Zuge der Überwindung des Nihilismus, so ergibt sich, daß die entwerteten Inhalte und Praktiken dadurch restituiert werden, daß ihnen eine gleichnishafte, .symbolistische* Bedeutung im universalisierenden Geltungsprozeß zugesprochen wird. Dies erfolgt in einem Denken von Zusammenhängen', das die sprach- und ideologiekritische Zone des Abbaus (Grammatikkritik, Wahrheits-, Piatonismuskritik als Beispiele) durchläuft; indem dieser Abbau jedoch selbst im Medium der Analogiebildung stattfindet (Gleichnissprache, transzendentalistisches Apriori, Anthropo- und Soziomorphismus etc.), kann sich keine Ebene kritisch-alternativer Erkenntnisweise bilden, vielmehr bleiben die negierten Inhalte auch im Negationszusammenhang erhalten und können mittels einer „Überbietung" erneut bestätigt werden. War so beispielsweise ein zentraler Fortschritt in der Kritik des Ich-Begriffs erreicht, so entfällt er in der Praxis jener Egologik, die den eben erworbenen kritischen Begriff zum analogistischen „Totalisat" macht. So entwickelt sich in Nietzsches totalisierender Kritik die Möglichkeit, das relativierende Denken gerade im Zuge universeller Reduktivität in ein affirmativ-verklärendes umzudeuten. Ist das Zusammenhangsdenken (manifest als biologistische, psychologistische und kosmologische Einheitsvorstellung) einmal in die radikale Kontingenz vorgestoßen, so entheben sich die universalisierenden Aussagen dem Aussagemodus selbst und werden Einheits- und Funktionsverweise, Konnexbehauptungen, leere Relationierungen. Dieser Vorgang ist mit der geistesgeschichtlichen Konditionierung des von Nietzsche vorgefundenen und in der Kritik selbst weiterentwickelten ,Sprachspiels' — nämlich der totalisierenden Welt-Anschauung — bereits gegeben, da sie sich genuin gegen pragmatische Relevanz und historische Konkretisation versperrt. In der Perspektivismus-Hermeneutik wird nicht nur „die Sicht auf die Partikularität der Funktionen freigegeben," 1 sondern sogar die völlige Affirmation dieser Partikularität programmiert.

ι Monika Funke, Ideologiekritik 272.

Entfunktionalisierung und Ideologiekritik

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Dank dem geringen analytischen Aufwand herkömmlicher Nietzsche-AusLegung blieb die Sichtung des totalisierenden Moments in der ,Mikrostruktur' von Nietzsches w e n i g e r spiachkritischen als sprachverbrauchenden: rhetorischen Gewohnheiten verstellt. Wenn bei ihm die Voraussetzungen der romantischen Einheits- und Weltsituierung eines jeden Gedankens das Denken selbst ,zur Explosion bringen', realisiert sich ein versuchsweise sprachlich elaborierter Zwang, den .Verkehr mit dem Unendlichen' im Nachweis permanenter Unendlichkeitsaufhebung durchzuhalten. „Der Wahrheitsentscheid wird der Ideologiekritik wieder entzogen, nachdem sie ihn so emphatisch beanspruchen zu können glaubte; denn durch die niemals identischen Bezüge ordnen sich die ,unendlichen Interpretationen' nach den in Betracht gezogenen Funktionen [ . . . ] . Die Vielfalt der Erscheinungen wird nicht aus einer Grundform hergeleitet, sondern ein Gesamtbild formiert sich als Näherungswert aus der Vielfalt der betrachteten Relationen, aus der Zusammensetzung nicht identischer Perspektiven und Funktionen [ . . . ] . " 2 Wenn Monika Funke von einem „Beginn bei partikularen Funktionen" in der Ideologietheorie Nietzsches spricht, auf welchen „ihre Zusammenziehung zu immer übergreifender gewählten Einheiten und die erneute Partikularisierung des Bezugskontextes" 3 erfolge, so wird der sprachliche Vollzug der Nietzscheschen Ideologiekritik übersehen. Er zeigt nämlich keine Bedingungsanalyse bestehender Funktionen und Verhältnisse, die sich hierarchisch aufbauen ließe. Sicherlich sind Nietzsches Restitutionen nicht einfach als „spiegelbildliche Wiederholung und Rückkehr zur Ausgangsbasis" 4 anzusprechen. Aber Funke betont zu wenig den Überbietungscharakter, den Nietzsches Ideologiekritik — dank ihrer religiösen Herkunft und weitergehenden Begleitintention — auf der Ebene der Axiomatik der Topoi aufweist. Dieser Überbietungscharakter ist gebunden an die Aufhebung des Wahrheitsprinzips und verlöre ohne seinen Leerformelcharakter gerade seine problemgeschichtliche Signifikanz. Ihm ist sicherlich jene „Toleranz" gegenüber anderen „Sprachspielen" zu verdanken, welche Funke als Differenz zu den „klassischen" Ideologiekritiken etwa von Marx und Freud führt. Diese beiden Positionen enthalten nämlich eine mehr oder weniger konsistente Handlungstheorie: sie thematisieren — anders als Nietzsche — Wahrheit auch als sozial positive Konsensuserfahrung. Und dadurch erst wird eine zeitlich und gesellschaftlich sinnvolle Voraussetzung des Wahrheitsbegriffs eingebracht: seine Korrigierbarkeit. Den Nachweis, daß die Aufgabe dieser Wahrheitsmöglicbkeit bei Nietzsche nicht nur jenen geistesgeschichtlich überfällig gewordenen „ontologischen Wahrheitsbegriff" betrifft, sondern die anthropologische Fähigkeit und —

2 Ebd. 3 Ebd. 273. * Ebd.

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Zusammenfassung

streckenweise — die soziale Motivation, analytisch Wahrheit zu suchen, haben wir mehrfach geliefert: durch den Aufweis der für Nietzsches Ideologiekritik eigentümlichen Verfehlung der Unterscheidung von Zeichen und Referenz, der Aporie seiner Hermeneutik und eines weitgehenden Verzichts auf analytische Heuristik. Auch wenn zutrifft, daß die sprachkritischen Perspektiven Nietzsches sich distanzieren „von der Seinsorientierung der klassischen Philosophie" und ihrer latenten Statik, so ist doch die Behauptung fragwürdig, sie lösten die „Vergleichsbasis und damit auch den Bezugspunkt der Ideologiekritik, nämlich das Bedürfnis als verursachenden Seinsgrund von Denkgebilden, auf." 5 Der Gehalt von Nietzsches Ideologiekritik spricht ebenso dagegen wie ihre Praxis. Die einzelnen Bezugsebenen von .Gründen' werden vielmehr nur mit gleichnishaften Bedürfnissen gefüllt; diese Füllung kann nicht als heuristisch ausgegeben werden, da sich nur das Immergleiche (oder Immerandere) finden läßt. Unscharf erscheint Funkes Behauptung, Nietzsche ersetze „das in der Ideologiekritik noch unterstellte Realschema von Ursache und Wirkung durch eine rein analytisch-heuristische Funktionsgleichung, eine ,Gleichnisformel' (III 768 N), deren Variablen es gestatten, innerhalb von ihrerseits durch Variabilität gekennzeichneten Systemen von Sprachspielen .Äquivalente aus(zu)denken' (II 811 GM), Alternativen in Betracht zu ziehen". Gerade „Äquivalente" und „Alternativen" beziehen sich notwendig auf eine ihnen externe Ebene von Gültigkeit, die ihre Verwirklichung nicht in irgendeiner bloßen „Wiederholung" haben kann: dies wäre gerade das alternativ bloß scheinende Auf-der-StelleTreten des Gleichen. So ist formal richtig, aber inhaltlich zu wenig expliziert die folgende Feststellung Funkes, weil sie sich nur in einer funktionalistischen Fragestellung ohne semantische Relevanzbeziehung versteht: „Die Funktionsgleichung ist rein formal, ihres ,Inhalts entleert' (III 768 N)." 6 Damit verliert sie ihre analytische Kraft — und korrekterweise müßte man von .synthetisch-heuristischen Funktionsgleichungen' sprechen, — womit in die Richtung einer rein ästhetischen Metaphorik gewiesen wäre. Wir glauben an einer nicht zu geringen Reihe von Beispielen nachgewiesen zu haben, daß sich die immanente Funktionalisierung von Kritik selbst, dank ihrer Reversibilität, ihrer Spielhaftigkeit und Entleertheit, weithin aufhebt — bis zur eminenten Dysfunktionalität. Nietzsches Gleichnisformeln haben deshalb nur einen beschränkten analytisch-heuristischen, dafür einen prägnant synthetisch-verschleiernden Funktionswert. Nietzsches Hermeneutik und Ideologiekritik geht nicht bloß bis zu jener immer wieder festgestellten „Loslösung 5 Ebd. 274. Vgl. o. S. 13, Anm. 23, Nietzsches frühen Willen, Bedürfnisse „durch Bedürfnis auszurotten".

6 Ebd.

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des Funktionsgedankens von seinen alten mechanistischen oder teleologischen Implikaten einer real eindeutigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung, Resultat und Motiv," 7 sondern so weit, daß, fern aller Eindeutigkeit, selbst das Postulat, daß eine Funktion überhaupt sich einstellen soll, aufgegeben wird. Das kann freilich nur einer noch umfangreicher im Material fundierten Gesamtsicht Nietzsches als zwingend erscheinen. Ohne Zweifel hat Nietzsches Philosophieren unschätzbare Beiträge zur „Kritik von Identität und Einheit" 8 erbracht; aber da diese Kritik allzu totalistisch — im negierenden wie im affirmierenden Sinn — verfährt, kann sie ihren eigenen Fortschritt gegenüber dem Überwundenen nicht artikulieren: Das verhindert immer wieder die sprachlich und erkenntnistheoretisch begründete Aporetik der Begriffe ,Gleichheit' und .Ähnlichkeit'. Es kann nicht übersehen werden, daß Nietzsches Kausalitätskritik ein methodisch irrational negierendes Prinzip innewohnt, womit ihr die differentielle Entwicklung eines .funktionaleren' Anordnungsverfahrens äußerst erschwert wird. 9 Wie die Synopse von Nietzsches Aussagen erweist, betreibt er nicht nur eine „Kritik vereinfachter Ursachen" ,10 sondern eine vereinfachte Kritik aller Ursachen. 7 Ebd. 275. « Ebd. 276. 9 Ebd.: „da es nach Nietzsche in der Welt der Erscheinungen keine identischen Fälle gibt, ist die kausale Erklärung, die gleiche Wirkungen mit gleichen Ursachen verbindet, ein theoretisches Anordnungsverfahren, das seine Relevanz erst aus der Absetzung gegen weniger Ähnliches, durch den Vergleich von Wahrscheinlichkeiten erhält." Ebendiese Absetzung mißlingt permanent in Nietzsches Sprache. 10 Ebd. 279. Auf die extremisierte Ablehnung von Kausalität im allgemeinen macht Wurzer in seiner Studie „Nietzsche und Spinoza" aufmerksam, nachdem er die ihrerseits totale Auffassung einer immanenten Substanz-Kausalität bei Spinoza als „synthetisierende Kraft der ,naturenden' und saturierten' Natur" (172) präzisiert hat. Seine Explikar tion dieser Einheitsvorstellung vermag auf die unten diskutierte Problemstellung in der Arbeit von Rodingen vorauszuweisen, da sie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von „Subsistenz und Inhärenz" Kausalitätsvermeidung als Form der unnötigen Prädikationsenthaltung in einer Verabsolutierung erkennen läßt. Da „die Vorstellungen der ,causa transiens', des Weltanfangs, des ,ex nihilo' und der .Emanation' [ . . . ] in der ewigen Ursächlichkeit der Natur undenkbar" geworden sind, verabsolutiert sich „die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung — trotz des Existenzunterschiedes der Subsistenz und Inhärenz [ . . . ] . Der KausalitätsbegrifE Spinozas ist nicht mehr von transzendenter Bedeutung. Dennoch scheint Nietzsche mehr zu beanspruchen, wenn er die Kausalismusidee überhaupt bezweifelt. Mit diesem Zweifel fällt die immanente und die empirische Voraussetzung der modernen Naturwissenschaften. Das prädikative Verhältnis von Inhärenz und Subsistenz wird von Nietzsche in Frage gestellt, teilweise nämlich auf der Basis der Gewohnheit des Zwedcdenkens: Das Suchen nach einem zureichenden Grunde verursacht in mir die Frage nach der Absicht, die Frage nach dem Willen des Bewirkenden." (172 f.) Mit dieser Beobachtung finden wir unsere Analyse bestätigt: die partiell zutreffend negierte Seite der Kritik wird durch die totale Übersteigerung wieder positiviert und setzt sich gegen die Kritik erneut durch.

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Zusammenfassung

Wenn für Nietzsche mit dem Identitätsbegriff zugleich der Dingbegriff entwertet wird, hebt sich die Möglichkeit zur Arbeit auch mit logischen Einheiten auf. Und gerade darin, nicht in einer gar nicht nachzuweisenden progressiven' Entwicklung analytischer Modelle, dürfte der Grund dafür liegen, daß bei ihm „Ideologiekritik und Ideologie in ihrer Struktur vergleichbar"11 werden. Erst in ihren abschließenden Erwägungen nähert sich Monika Funke dem augenfälligen und argumentationsstrukturierenden Befund, daß „Nietzsches Radikalisierung der Ideologiekritik ein Beispiel für das Verfahren [ist], die in partikularen Zusammenhängen beobachtete Herrschaftsmotivation auf alles Geschehen zu übertragen und es ,reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht' (III 500 N) zu deuten"12 — und stellt Nietzsches Infragestellung dieser Einheitserklärung daneben. Nietzsches Hermeneutik, auf den Boden eines tendenziell totalen „Fiktionalismus" gestellt, versucht den Nachweis, daß die komplexen heuristischen und interpretatorischen Akte auf das Modell von Machtausübung zu reduzieren seien; damit fordert man einen „schöpferischen Akt der Dauerinterpretation, des Dichtens in Permanenz": „Interpretation" und „Hermeneutik" selbst werden zu abstraktiven Metaphern des organischen Prozesses und entschlagen sich durch solche Verflüssigung des sozialen Zeichencharakters, der ohne relative Fixierung nicht auskommt.13 Diese Verhältnisse widerlegen die von Monika Funke nietzsche-extern verwendete Terminologie von „Partikularität" von Erkenntnissen: gerade diese wird von Nietzsches Methodik der fließenden Metaphorik, der kontinuierlichen Assimilierung von Begriffen vermieden und verworfen. Unfähigkeit, partikulare Erkenntnisse funktional zu stabilisieren und auf umfassende Bereiche bzw. „Regionen" anzuwenden, bildet einen Faktor dafür, daß Nietzsche Wissenschaft nicht bewältigte. Werden die unterschiedlichen Abstraktionsniveaus in Nietzsches Begriffsmetaphorierungen nicht berücksichtigt, metaphorische Sprache vielmehr je auf ein stringentes kohärentes Aussageniveau nivelliert, kommen 11 M.Funke, Ideologiekritik 281. 12 Ebd. 283 f. 13 Habermas, Erkenntnistheoretische Schriften 259 f., zitiert die Sätze: „In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. Der organische Prozeß selbst setzt fortwährend Interpretieren voraus." Damit sei freilich „der Vorgang des Interpretierens zum Wesen einer natura naturans erhoben. Eine solche, zum Willen zur Macht hypostasierte Sinnschöpfung ist absolut." Schärfer formuliert J. Simon die Folgen der in ihrer bloßen Erdichtetheit verbleibenden, „insgesamt nichtssagenden Reflexion": „Das Subjekt identifiziert sich, zumindest als Denken, damit affirmativ mit seiner Vor-Geschichte", kann „sich selbst nur noch positiv als ein sich dann unbegreiflich bleibendes Leben benennen. Es sieht sich in ihr fixiert und behält, gegenüber diesem verdinglichten Begriff von seiner Sprache und seinem Bewußtsein, sich selbst nur noch als ,ganz und gar individualisierte' und nicht zu reflektierende Natur-Existenz zurück" (so der Schluß seiner Abhandlung in NS I, 26).

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jene Verwischungen des Sprechniveaus und der Aussagehaltung zustande, die gerade systematisch und philosophisch interessierten Analysen immer wieder den Blick auf die Widersprüchlichkeit der Aussagehaltung nehmen. Analog zur entschärfenden Arbeit von Habermas nennt Funke nur am Ende das Moment der Widersprüchlichkeit. Sonst werden die illokutiven Präferenzen von Nietzsches taumelnder ,Systematik' explikativ auf das Niveau einer rationalen Komplexität erhoben, das ihnen von der Texteinrichtung des Autors her kaum zukommt. Würde das Corpus der Nietzscheschen Texte insgesamt berücksichtigt, müßten auch die Imperativisch anweisenden und verklärend beschönigenden Momente eine ausführlichere Berücksichtigimg erfahren, als dies bei Funke der Fall ist. Das Phänomen äußerster Schärfe der Ideologiekritik und ihrer Verschwisterung mit höchster Ideologiebildung (nicht η u r im „Zarathustra") muß von geschichtlichem und systematischem Interesse aus angegangen werden. Vor der funktionalistisdh-systemtheoretischen Analyse muß die philologische die Arbeit leisten, Nietzsches subversive, Sprachvorrat und Sprachverwendimg verändernde Strategie „zur Mobilmachung aller Argumente gegen das Recht der Reflexion"14 — gerade der Sprache auf sich selbst! — zu beschreiben und mit den kulturkritischen und selbstaffirmativen Totalintentionen zu verbinden. Wäre die von Nietzsche betriebene Operationalisierung — unscharf: die Entwertung von „Wahrheiten" zu tauglichen, weiterführenden .Geltungen' — nicht mit dem Verdikt von Prädikabilität verbunden, müßte sie notwendig von sich aus den Prozeß der Erkenntnis fördern. Aber Nietzsche rezipiert Erkenntnis, schreibt sie nach, deutet und wertet sie um, verallgemeinert sie vor allem. Im Fokus seiner auf Religionsersatz — keineswegs nur in einem trivialen Sinn! — zielenden Welt-Gleichnis-Anschauung wird vieles, was Erkenntnisschritt sein könnte, zur usurpatorischen, nicht-reflexiven Behauptung des Totum, — zum Element jenes „Mythus", den Dauenhauer als „Welt" analysiert hat: zum Versuch einer primordialen Selbstbeziehung auf Einheit und Zusammenhang der Welt.15 Nicht Fechners naive, auf dem status quo des synkretistischen „Tagglaubens" verschmolzene Affirmation realisiert Nietzsches kritisch verdächtigende Welt-Exegese, sondern die Inversion des Ich-Glaubens zur Minimalität der „nachkopernikanischen" Ich-Geltung; — sie treibt allerdings das im „Augenblick" verbleibende eschatologisch erfüllende Moment zur Protuberanz der ewigen Wiederkehr. Aus der prädikativen Inkonsistenz seines totalen Lebensbegriffs ergibt sich die Struktur des analogistischen Sprungs in u 15

Habermas, Erkenntnistheoretisdie Schriften 261. „The activity of thinking about the world is that activity whereby one primordially relates himself to myth. The world, as we think it, is that myth which provides a unity and consistency to our thinking about things other than the world". (Dauenhauer, Thinking about the „World", Kantstudien 62 [1971] 173)

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einer radikalen Verschärfung, die sich auch einer negativen Zeiterfahrung verdankt: „Das Leben besteht ans seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns bestenfalls die Schattenbilder jener Momente umschweben" —

als doppelte Totalaussage dann: „alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt" . 16

Was hier als negative Totalitätserfahrung erscheint, hängt mit der pessimistisch-tragischen Weltanschauung der monologisch frustrierten Existenz schon in Nietzsches Frühphase zusammen. „Totalistische" und imprädikative Aussagehaltung ,ergänzen', ja vertauschen sich. Das gibt den Fundus für die eiserne Grenze zwischen den „unzählig vielen" und den seltenen „Höchsten" im zugleich implizierten sozialen Sinn.17

2. Totalismus und Aussagelosigkeit Die Vertauschbarkeit der Inhalte der Ebene „kosmologischer Aussagen" mit denen der Ebene „sozialer Anweisung" ist als wesentliches Ergebnis unserer Analyse im Auge zu behalten, wenn wir auf die sprach theoretisch begründeten Befunde einer interessanten Untersuchung eingehen, die Hubert Rodingen unter dem Titel „Aussage und Anweisung, Zwei Auslegungs- und Verständigungsmuster dargestellt an Texten von Leibniz und Nietzsche" vorgelegt hat. 18 Rodingen sieht in drei Zentraltheorien des Nietzsdheschen Werkes, in der ästhetischen Überwindung der erkenntnis-theoretischen Subjekt-Objekt-Spaltung, im Nihilismus und im Willen zur Macht „nur aussagemäßige Hinführungen und AbStützungen, [ . . . ] gleichsam Brücken zum anbefohlenen tragischen Welterleben." 19 Was will der Ausdruck „aussagemäßige Hinführung" sagen? Ohne hier auf die linguistischen Probleme der von Rodingen an der Grammatik von Port Royal (Antoine Arnauld) explizierten Frage nach dem „Rang der Aussage gegenüber der Anweisung" (so der Titel des ersten Teils der Untersuchung) kri16

17

18

19

So heißt es in dem 586. Apho. des I. Bands von ΜΑ, I, 708, unter dem Titel „Vom Stundenzeiger des Lebens". Vgl. E. Roth-Bodmer, Schlüssel zu Nietzsches Zarathustra 193. Der zitierte Apho. zieht am Ende selbst das soziomorphe Fazit. Auf den Sdiwundtopos der platonischen Ideal-Beziehung im Ausdruck „Schattenbilder" sei hingewiesen. Als Bd. 139 der Monographien zur Philosophischen Forschung, Meisenheim a. Glan 1975. Vgl. dazu meine Rez. in Nietzsche-Studien 8 (1979) 440-448. Rodingen, Aussage und Anweisung 86.

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tisch eingehen zu können, läßt sich die Opposition von „Aussage" und „Anweisung" vereinfacht folgendermaßen umreißen: Aussage erfolgt nach dem „Urteilsmuster" , wobei die Syntax dem Modell Subjekt-Prädikat-Objekt folgt (von Rodingen kurz als „SP-Schema" bezeichnet); das Objekt werde „in der syntaktischen SPO-Fügung zum Zweck abstrahiert; in der pragmatischen PO-Reihe bleibt es als Ziel der Handlung im Handeln." 20 So unterscheidet Rodingen einen spezifisch syntaktisdi-prädizierenden von einem „ursprünglichen aktionistischen Ansatz" ,21 dessen Modell er am imperativen Infinitiv und am Aufforderungssatz exemplifiziert: „Füße abtreten" 22 und „hol das Faß" Ρ Rodingen geht davon aus, daß man, um das Objekt eines komplexen Satzes syntaktisch definieren zu können, es an die Subjektstelle rücken müsse,24 und er erblickt darin eine „Einfassimg des Anweisens ins Aussagemuster" bzw. „eine Syntaktisierung von Pragmatik, die PO-Reihen auf SP-Fügungen zurückführt" (so seiner Ansicht nach Chomskys Transformationsgrammatik). Rodingen sieht nun einen fundamentalen Unterschied zwischen Alltagssprache, „die zumeist wechselseitige Bezüge" 25 (zwischen Anweisung und Aussage) ausdrücke, und der wissenschaftlichen „Axiomatik", die „einen einsinnigen Ableitungszusammenhang" durch die Gewohnheit erzwinge, „sich in Aussagen zu verständigen", wodurch „aussagenverbindende Kausalität oder Rationalität zur Gewohnheit" werde. Jedenfalls geht er von der sprach- und sozialkritischen Annahme aus, daß prädikative Rede „auf der falschen Voraussetzung [beruhe], daß die aussagende (apophantische) Sprache das Prinzip des Satzes sei und nicht die anleitende (rhetorische) Rede." 26 Die Problematisierung der Redeformen der beiden zur Diskussion stehenden Philosophen ist greifbar: „Während sich Leibniz überwiegend im logischen Räsonnement und damit im ableitenden Sprechen aufhält, bringt Nietzsche, aphoristisch-assoziativ hier und da einsetzend, vor allem Gleichnisse und Anreihungen." 27 „Nietzsche stellt inhaltlich das Anweisen vor das Aussagen oder a Ebd. 29.

21 Ebd. 29.

22 Ebd. 10. 23 Ebd. 12. Wenn Rodingen für seine systematische Unterscheidung sprachgeschichtliche und sozialgeschichtliche Differenzierungsbefunde wie Primat der Anweisung und — im letzten Beispiel — das Eintreten der „Arbeitsteilung" reklamiert, so scheint uns eine allzu direkte Verknüpfung von Syntax und Sozialgeschidite gegeben. Einwände bestehen u. E . durchaus gegen die von sozialtheoretischen Axiomen getragene Negativierung des Wertes der Aussagehaltung, wie sie in einer Reihe von immer wieder gebrauchten, jedoch nicht begründeten Negativ-Prädikationen wie „verorten", „verdinglichen", „verinnerlichen", „vergedanklichen" auffällt. 2 4 Rodingen, Aussage und Anweisung 4. 25 Ebd. 13. 26 Ebd. Die Gleichsetzung von „Anweisung", „Anleitung", „Rhetorik" wäre jedenfalls im Hinblick auf propositionale und intentionale Akte zu differenzieren. 27 Ebd. 16.

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das Benennen vor das Erkennen, und er spricht formal in angereihten Sprüchen, vielfach auch predigerhaft im Bibelton, wodurch jede begrifflich aufschichtende oder ableitende Ordnung gesprengt wird." 28 Wenn Rodingens Gesamtanalyse von Nietzsche unter den Satz gestellt wird, „Nietzsche erzeugt durch Aussagen Gegenstände, zu deren Abbau er anweist," 29 so ist das ebenso treffsicher formuliert wie in seiner Bedeutung offen: Gerade das nach Rodingen im Sprechen primäre illokutive Moment, die Anweisung, muß sich auf das „ Vorgedachte " beziehen — konkret: Nietzsche müßte g e n a u e r wissen, zu welcher Verhältnisse, Dinge, Erzeugnisse „Abbau" er anweist. Die These unserer Arbeit, daß die auf Begriffsverschleiß beruhende Unbestimmtheit der Anweisung den immanenten Ruin von Nietzsches Gleichnisdenken erzwingt, wäre von Rodingens Untersuchung unterstützt, würde der Verfasser eine ausführlichere Reflexion pragmatischer Theorie beibringen. Diese wesentliche Einschränkung von Rodingens Position vorangestellt, sind viele seiner Erläuterungen gerade zum angemessenen Verständnis von Nietzsches Kulturwillen unentbehrlich und geeignet, die vorwiegend im kritischen Griff erfolgte Untersuchung des Gleichnisdenkens mit Formulierungen der qualitativen Leistung Nietzsches zu bereichern. „Übermensch" und „ewige Wiederkehr" seien „Metaphern für das Schaffen, das seinen Wert in seinen Schöpfungen findet und vernichtet, für das Tun, das sich nur aus seinen Werken weiß, nicht jedoch aus seiner Reflexion über den Urheber der Werke." 30 Da der Satz, „das Selbst Nietzsches ist das Schaffen, das sich seiner Werke bewußt wird," 31 eine wohl zutreffende Formulierung des auf Unbewußtheit abhebenden Theorie- und des Praxisbegriffs Nietzsches impliziert, ist hier bereits die Reduktion von Wissen, Selbstbestimmung und Interaktion auf das Va-banc-Spiel des bloß und begriffslos ,entworfenen' Selbst-Werkes mit dem totalistischen Doppelwillen absoluter Selbstübersteigerung und Selbstdestruktion zu reflektieren. Die sich erst im Nachhinein einstellende Objektivität des ,Werkes' desavouiert alles, was an bestimmter Fremdeinwirkung seine egologische Wurfweite beeinträchtigen könnte: sie zerfällt in totale Verklärung und Verwerfung dieses Selbst-Werkes. Da Rodingen sich auf die Problematik der 28

Ebd. 17. Damit verbindet Rodingen zu Recht die Opposition von „Analogien" und „Syllogismen", und er stellt sicher ebenso zu Recht fest, daß, „da die Ableitung mehr Denkarbeit kostet als die Anreihung, [ . . . ] lange Deduktivketten nicht durch Gleichnisse und Erlebnisse ausgeräumt werden [können], sondern nur durch noch mehr Denkarbeit". (18) Unreflektiert bleibt die pragmatische Differenz bzw. Verwandtschaft von „Aussagen" und „Benennen" — daß Nietzsches „Benennen" aufgrund ambivalenter und widersprüdilidier Lexikaüsierung so thesenhaft eindeutig nicht ist, wie es Rodingen darstellt, macht jede textuale Interpretation klar. 2? Ebd. 57. 30 Ebd. Damit wäre der „Verdinglichung" eine „Verwerklichung" entgegengestellt. 31 Ebd.

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Allurteile in seiner Arbeit nicht bezieht, entgeht ihm der ruinöse Effekt einer Anweisungshaltung, die sich genuin und grundsätzlich gegen das noch in ihr selbst enthaltene ^Bestimmen* wehrt: darin, und nicht in den Aussage-Strukturen als solchen, ist die Nichteffizienz, die Nicht-Effizierbarkeit sowohl der Nietzscheschen Totalabwertungen wie seiner Totalaufwertungen zu sehen, — mithin das Scheitern seiner Sprache.32 Vermißt Rodingen eine adäquate wissenschaftliche „Rezeption der Nietzscheschen Kommunikationstheorie",33 so versäumen seine eigenen Ausführungen deren Fundierung an Nietzsches Texten wie bisher. Seine ungenaue Gleichsetzung von „Prädikat" und „Werden" 34 ist sicher nicht geeignet, die Struktur der Nichtbewältigung des Werdens bei Nietzsche zu erhellen, auch wenn er in Nietzsches Leiblehre den Versuch moniert, doch wieder zu einer „causa prima" zu kommen, und „in einer übersteigerten semantischen [ ? ] Produktion und Destruktion" den Grund für eine Irreführung des semantischen Vertrauens findet, — die sich allererst auf Nietzsches eigenes Bewußtsein beziehen ließe. Rodingens Behauptung, Nietzsche habe nur „die Bedeutungen des Aussagesatzes zerstört, ohne die Form zerstören zu können," 35 widerspricht der triftigen Beobachtung der Gleichnis-Reihungen. Es wäre zwischen semantischer und pragmatischer Bedeutung der intendierten Zerstörung zu unterscheiden: dann würde sich erweisen, daß eben nicht der Satz den Gedanken elaboriert, sondern die (sich wiederholende, annihilierende) Praxis des unfertigen Gedankens seine Syntax (die ja ihrerseits nur ein Formungsmoment der Hierarchisierung von Gedachtem ist). Wir haben im Unterschied zu einer bloß auf syntaktisch-grammatischer Ebene eingerichteten Untersuchung audi auf der Ebene des Topos und der Bedeutungsverschiebungen die Voraussetzungen für die Entstehung der Unfähigkeit analysiert, zu gerichteter Praxis zu kommen. Auf die genuine Leerstelle des Nietzscheschen Systems — entgegen wesentlichen Momenten seines System-Willens — weist Rodingen hin, wenn er feststellt: „der Gedanke, das Individuelle im Handeln zu sehen, kam ihm nicht." 36 Von dieser Feststellung her müßte die Rückbeziehung von Semantik auf Pragmatik vor Nietzsches absoluter Trennung reflektiert werden, die Rodingen seinerseits mitmacht 32 Das übersehen Sätze wie der, daß die Zarathustra-Lehre „kein objektiver Heilsplan" sei, „sondern der Aufruf zur Selbstwerdung durch Umkehrung der bisherigen Vorrangigkeit" (ebd. 59). 33 Ebd. 60. 34 Ebd. 61. 35 Ebd. 71. 36 Ebd. 87. „Da er den Übermenschen als real-gesdiichtlidi versteht und nidit als Metapher für einen Lernschritt, -wirft er sich am Schluß dem selbst geschaffenen Götzen in die Arme". (Ebd. 86; wir würden glauben, er versteht ihn durchaus als Metapher audi, und — er warf sich ihm, gemäß dem von Rodingen explizierten Theorem des .SelbstWerk-Entwurfs', bereits mit der genuinen Asozialität der Theorie in die Arme.)

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und bei Nietzsche als Mangel der situativen positiven „Ortung" zu beschreiben unterläßt, wenn er „dem" Semantiker unterstellt, er beziehe „den Erweiterungssatz [zur Explikation des Subjekts] nicht auf die situative Anweisung." 37 Die komplizierte Aporie von Sinn und Situation bei Nietzsche entsteht doch dadurch, daß — fern einem bloß „syntaktisch-prädikabilistischen Aussagen" — das Aussagen jeweils auf die doppelte Transzendenz seiner selbst im „Selbst" und in der „Welt" ,angewiesen' ist: die von Nietzsche ins ,reine Anweisen' verwiesene Sprache rhetorisiert sich zur letzten Praxis, die übrigbleibt, zur „nihilistischen" Entfesselung eines Unbedingtseinwollens, das als romantisches Unendlichkeitsstreben begann.38 Halten wir fest, daß sich die Ausdrücke „Unbedingtes", „Absolutes", „Unendliches" und „Unmittelbares" als Ausdrücke für den inhaltlichen Anspruch metaphysischer Dimension zueinander metaphorisch verhalten, so wird die zugleich ideologie- und sprachgeschichtliche Bedeutung des oben S. 133, in der Analyse der Frühschriften, zitierten Begriffs „Residuum der Metapher" einsehbar. Die genannten Ausdrücke stehen der Verwendung in Verbphrasen weitgehend widerständig entgegen: ihre Domäne ist das anweisende Nomen (spezifisch als ,unerreichbares Objekt'). Fragt man, wozu die Anweisungen der Nietzscheschen Metaphorierungen anweisen, so ist die Antwort, abgelesen an dem seiner Sprachpraxis zukommenden Rezeptionsvollzug, daß zum metaphorischen, analogischen: zum vertauschenden Verstehen angewiesen wird. Im strapazierten „Glanz metaphorischer Anschauungen" 39 erfolgt jene „Vertauschung der Sphären", die ohne semantische Markierung — vielmehr: ohne sozialkontrollierte Markierung in die Dimension der metaphysischen Einheit auszukommen hofft. Nietzsche denkt, um die Möglichkeit der metaphysischen Welt zu restaurieren, die „wirkliche Welt" als auch nur irgendeine Negation erlaubende in der Verklärungsaxiomatik „weg": 40 Vorgängig stigmatisiert und interessiert an der „Rekrudeszenz des Chaos" , 41 wird das „Residuum der Metapher" zum totalistischen „Asylum ignorantiae" aufgeforstet. Aus der Analogisierung und Metaphorisierung der Sprache wird der „Glanz" herausgeholt, mit dem die kontinuierliche Verklärung sich ermöglicht, weil die als „Trennung" gedeutete Begrifflichkeit in jenem Subjekt sich aufhebt, das von sich, seinen Lebensumständen, seiner Beschränktheit im Weltgleichnis zur Welt-Vergessenheit flüchtet und

37 Ebd. 109. 38 „Da Nietzsche das unbedingte Selbst nicht im Tun findet und da er auf der anderen Seite das durch das Subjekt bedingte Tun verwirft, kommt er zum sozialethischen Kahlschlag: ,Idi träume von einer Gesellschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und .Vernichter' heißen wollen'." (Ebd. 92) 39 I I I , 321. to Vgl. o. S. 325 f. « Vgl. o. S. 243.

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dadurch die dauerhafte Eschatologie des „Zusammenhangs" ermöglicht, daß „alle Dinge in ihm sind" .42 Die sprachkritische und semantische Analyse des Zusammenhangsdenkens ergibt, daß sich durch das metaphorisch-verweisende Sprechen vom Weltzusammenhang — durch die Daueranweisung des Weltgleichnisses — die Tradition der Verabsolutierung ambivalent wiederherstellt. Zwar scheitert „die Intention der Verabsolutierung der reinen Unmittelbarkeit" daran, „daß es das rein Unmittelbare, das nicht das Negative, die Vermittlung enthält, gar nicht geben kann",43 aber mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr als einer Gleichnislehre der W>r/«»gi-Metaphorik wird doch die Verabsolutierung jedes Zufälligen angezielt. „In der ewigen Wiederkehr des Gleichen können sich alle möglichen Bestimmtheiten realisieren [ . . . ] und zugleich hält sich die Einheit des Unmittelbaren durch. Die ungebrochene reine Unmittelbarkeit soll also, da nicht im Augenblick möglich, als die Totalität des kosmischen Spiels der möglichen Kombinationen nicht sich e r g e b e n , [Sperrg. von W. G.], sondern sein und immer schon gewesen sein. Die Lehre von der Wiederkehr des Gleichen, die als Theodizee versucht, den Gegensatz aus der Welt zu entfernen, die Einheit alles Geschehens zu erkennen, treibt den Monismus so weit, daß in der Konsequenz selbst der Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit letztlich irrelevant wird." 44 Bedenkt man die Problematik von Aussage und Anweisimg von diesem Ergebnis her, wird verständlich, inwiefern selbst die Spreehhaltungen von Aussage bzw. Anweisung in metaphorische Vertauschbarkeit geraten. Sie heben sich auf unter dem Zwang der Totalitätssuche, die je begrenzte Sprechhaltungen selbst nicht erträgt. Ihre Interferenz liegt in der horrenden Umwertung aller Werte, die auf wertungslose Akkreditierung alles Daseienden als des vergöttlichten Relativistischen' Weltbegriffs hinausläuft. Dies ist letztlich auch der Sinn der ,unendlichen Interpretation', die auf dem Weg des im vollendeten Kreis sich umkehrenden Wechsels vom Ich-denke zum Ich-will die Welt als ,Text' (ganz gern) verliert. Denn die totale Negation der Aussageform erfordert die entleerte Aussage der Negation, die zur Anweisung werden bzw. als solche verstanden werden muß, sobald ein pragmatisdher Horizont der Rede erscheint. Soweit die Differenz von Ganzem und Teil, von Bedingtem und Unbedingtem im Erkenntnisveto und im Verklärungsgebot nicht mehr gedacht werden darf, entsteht — auf ,fiktional-abstrakter' Ebene — erneut eine ,Zweiweltentheorie', die sich nicht mehr a u f Dinge beziehen, sondern nur noch in ihnen liegen kann. Unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung der Spaltung in Dualismen kombiniert Nietzsche den manifesten Widerspruch. Das berücksichtigt Inge« KGW VI, 1,12 (vgl. o. S. 175 f.). Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung 242. 44 Ebd.

43

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borg Heidemann am Ende der Darstellung von „Nietzsches Kritik der Metaphysik": Nietzsches „Interpretation darf nicht zurückgreifen auf die Setzung eines denkenden Wesens, das einem zu bestimmenden Gegebenen, sei es im einzelnen, sei es das Ganze des jeweils Gewordenen, gegenübersteht. [ . . . ] Sie darf weder eine bedingte Welt sein, noch eine unbedingte." 45 Diese Verhältnisse müssen als Aporien des Unendlichkeitsbegriffs verstanden werden, weil — gleichgültig, ob es sich ums Subjekt oder um dessen ,Gegen-stand' handelt — tendenziell jede bestimmte Setzung aufgelöst wird. Dementsprechend kommt Heidemann zur analogen Interpretation der späten Philosophie Nietzsches als einer Aporie der Unendlichkeit: „Für die Thematik von Endlichkeit und Unendlichkeit muß nach Nietzsche die Endlichkeit selbst als unendlich verstanden werden, oder audi das Unendliche als endlich." Während sie ihre weiterführende Überlegung in völlige Unentschiedenheit zurücknimmt — „vielleicht ist es unmöglich, ein Verständnis der Welt und des Menschen in einem monistischen Ansatz zu erreichen, wie immer die grundlegende Bestimmung als unendlich und rangordnend begriffen werden" 46 — möchten wir die Aporie daraus ableiten, daß Nietzsche in der Praxis seines metaphorischen Denkens die Trennung von Beschreibungs- und Wertungsebene aufhebt: wie sich gezeigt hat, scheut der Philosoph der Rangordnungen sich davor, Rangbestimmungen einzurichten. Da er den Konflikt zwischen bestimmter Anweisung und unbestimmter Verweisung nicht austrägt, geraten ihm Unendlichkeit als natura naturalis und Gesellschaft als ordo ordinans ständig ineinander 47

3. Unbedingtbeit

und

Rhetorisierung

Der Gang durch die naturwissenschaftlich herausgeforderten und poetologisch verankerten Philosophien des 19. Jahrhunderts hat die Hypothek des idealistischen Erbes in einer Reihe von Begriffen fraglicher Rationalität deutlich gemacht: Unter den verunsichernden und letztlich durch ihre Doppeldeutigkeit katastrophal sich auswirkenden Unbedingtheitstopoi dürfte Kants Prägung vom „Ding an sich", nicht erst seit der Ausrufung des Neu-Kantianismus 1862 durch Eduard Zeller eine zentrale Rolle spielen.48 Wie sehr gerade 45

Heidemann, Kritik der Metaphysik, in: Kanstudien 1962/63, 539. « Ebd. 542. Diese Begriffe kombiniert der 1881 von Nietzsche gelesene Otto Liebmann in der 2. „Meditation" des Abschnitts „Zur Naturphilosophie und Psychologie" seines 1877 erschienenen Werks „Zur Analysis der Wirklichkeit" in einem stark an Goethes Redeformen und Ideen orientierten Sammelpassus alles dessen, was „Natur" sei (269 fl.). 48 Vgl. dazu Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie 599 ff., wo auf eine Reihe von Bahnbrechern hingewiesen wird, zu denen auch Otto Liebmann mit seinem Jugendwerk „Kant und die Epigonen" (1865) zu rechnen ist, der „den von den Epigonen nicht verbesserten, sondern noch verschlimmerten Fundamentalirrtum Kants in dem Unbegriff des Dinges an sich" sah (ebd. 600). 47

Unbedingtheit und Rhetorisierung

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Schopenhauers und Nietzsches hermeneutische Ansätze durch die Amalgamierung des empirischen und transzendentalen Ding-Begriffs aufgelöst wurden, könnte gezeigt werden. Die Möglichkeit dazu ergab sich aus dem Bewußtsein, daß der Topos „an sich" in die Dimension der Differenz ,eigentlicher' und ,uneigentlicher' Bedeutung gehört, also (hier) in die Theorie einer philosophischen Metaphorik. Nietzsches Kampf gegen das „Ding an sich" radikalisiert sich zu einem Verdacht gegen alles „an sich": er mischt Eigentlichkeits- und Übertragungsebene so grundsätzlich, daß nur einer „Textexegese, die in der empirischen Lektüre beides, das ^Eigentliche' und das .Übertragene' am selben Gegenstand zusammennimmt," 49 ein adäquates Verständnis ermöglicht wird. Da sich Nietzsches Einsatz für das Rhetorische auf alle Ebenen der Versprachüchung und Textualisierung erstreckt, „rhetorische Theorie und rhetorische Praxis [ . . . ] ununtersdiieden beieinander" 50 liegen, wirft sich die Frage nach dem in der Kommunikation »eigentlich' Verbleibenden, nach dem dialogischen Ernst des Gespräches auf. Zwei Pole seiner Absicherung erscheinen gegeben, beide in Nietzsches Existenz von auffälligster Irrelevanz: die Referenzebene (der selbständig analysierten bzw. in eindeutiger Deixis gezeigten Dinge) und die Kommunikationsebene (des im kritischen Dialog stehenden und kontrollierten Partners).51 Theoretisch-negativ verfemte Selbstbestimmung (in dem projektiven „existentialistischen" Werk-Entwurf) und maskenhaft sich variierende „Aktualisierungsgestalten" eines immer in Totalität Hinübergedachten verschränken sich dazu, daß jeder Begriff, jeder Name, jede Relation ihr eigener Mythus wird. Verselbständigung des Sprachmaterials und assimilatorische Rhetorik verbinden sich in fiktiven Wirkungszusammenhängen ohne Chance einer ihnen immanent zugesprochenen Korrektur zum aphoristisch-monadischen Jeweiligkeitsentwurf. 52 Diese Verhältnisse sind sowohl in den Elementen wie in deren Gebrauch durch Nietzsches „Stil" vorausverfügt und allererst in seinen Allurteilen und textstrukturierenden Metaphern- und Symbolreihen greifbar. Sie lassen, nach je unausgesprochenen Kriterien der argumentativen Situierung, die ,Dinge' in ihre ,Widersprüche' übergehen. Wie gezeigt, bilden sich vom Frühwerk an Bedeutungsreihen, deren Elemente — komplexe Geschehenszusammenhänge enthaltend — dank Abstraktion und unkontrollierter Applikation auf heterogene Bereiche gerade den Verlust ihrer pragmatischen Komplexität er49

Rupp, Rhetorische Strukturen 33. so Ebd. 35. 51 „Dem Theorem des unmöglichen Rückgangs von der Metapher zum Ursprung entspricht die Verfaßtheit der Texte, deren Semantiken die Referenz verloren gegangen ist." (Rupp, Rhetorische Strukturen 35). 52 Rupp spricht von der „Praxis einer assimilatorischen Rhetorik, in deren Ausübung die sprachpraktische Konstitution intersubjektiver (literarischer) Kommunikation und thematisch besonders die Inkommensurabilität individuellen Ausdrucks und Wertes nur noch der Theorie nach problematisiert wird" (93).

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Zusammenfassung

leiden. Wir haben Modelle der Synonymisierung untersucht, und es ist sinnvoll, sich wiederholt ihre konnotative Übergänglichkeit vor Augen zu stellen: „Bild" — „Schein" — „neuer Schein" — „Traum" — „Auge" — „Sonne" — „Licht" (vgl. o. S. 29 ff.) liefern ein referenznahes Feld von Metaphorik; auf philosophischer Ebene dazu analog: „Verzauberung" — „Verschleierung" — „Illusion" — „Versöhnung" — „Erlösung"; oder die bekannte Reihe der selbstbiographischen Wertung: „Bilden" — „Bildhauer" — „mit dem Hammer arbeiten" — „schaffen" — „mit dem Hammer philosophieren" — „philosophieren" — „schlagen" — „zerschlagen" — „zerstören" — „vernichten". Ein Denken, das sich in den Strudel der Aspekte reißt — den Menschen immer sogleich und gleichzeitig „als Dichter, Denker, Gott, Liebe, Macht" 53 ins Auge faßt, verfällt mit verständlicher Vehemenz der wortlosen Sehnsuchtsgestalt des Totalitätsbewußtseins, dem Schein der Musik. Von einer Form geführt, die sich nicht an bleibender objektiver Gestalt und nicht an fixierbarem Werden festhalten läßt, öffnet dem Subjekt sich ein Entgrenzungsbewußtsein, das alle Brunnen der Mystik vor und in sich zu haben glauben kann.54 Die vielfach aufgewiesene Entfunktionalisierung der semantisch-situativen Gehalte in den von Nietzsche zur Intentionsverstärkung verwendeten Metaphern und Gleichnissen ist nur als Folge jener progressiven Verselbständigung des Sprachmaterials zu verstehen. (Vgl. o. S. 33 ff., 39, 41, 49 ff., 52 f., 59, 61 ff., 82).

Die Umkehrungsstruktur selbst ist mit der Auflösung der gerichteten, einsichtigen Funktion an die Wiederholung des Ganzen des Gleichnisses, der Metapher, der symbolischen Andeutung gekettet. Natürlich behält sie den Charakter ungebrochenen Wunschdenkens, der ihr denn auch von einem Interpreten wie J. Granier als gültig attestiert wird: sie „verkörpert das Paradox einer existentiellen Option", ja wird selber zur „absolut originellen [ ? ] Gabe, die jeden Widerspruch ausschließt." 55 Sehr viel schärfer als Rodingen erkennt Ruppdank seiner Textnähe diesen Sachverhalt: „Die Wiederholung sistiert dabei jedesmal durch reflexive Verweise innerhalb des Werkes und seiner Cor53 Vgl. III, 680. Oswald Spengler hat das „wortlose Bewußtsein" der Deutschen dem „sadistischen Geiste" Frankreichs gegenübergestellt, nicht ohne die Totalitätsbefähigung jener Stummheit anzumerken: ist es doch ein Bewußtsein, „das den einzelnen in ein Ganzes fügt, unser Heiligstes und Tiefstes, ein Erbe harter Jahrhunderte, das uns vor allen anderen Völkern auszeichnet." So in seiner Schrift Preussentum und Sozialismus, München 1925, 8; vgl. J. Goth, Nietzsche und die Rhetorik, 30. Dazu E. Sandvoss: „Ohne die musikalische Vorarbeit Wagners und Nietzsches paralogische, gesundes Sprachempfinden lähmende Überredungskunst hätte Hitler kaum Erfolg gehabt." (Hitler und Nietzsche 148). 55 Le probleme de la νέπΐέ dans la philosophie de Nietzsche 559 f., zit. nach der vorzüglichen Rez. v. M. Funke in NS III (1974) 206.

54

Unbedingtheit und Rhetorisierung

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pus-Organisationen den diskursiven Fortgang. Die Einlinigkeit des Räsonnements wird durch parallele Bezüge, parametrische Äquivalenzen und Serienbildungen gleicher Thematik aufgebrochen und dezentralisiert." 56 „Die Wiederholung ist unter diesem Aspekt die Ursache für die semantische Polyvalenz der Texte. Mit dem wiederholten Wort und mit der wiederholten Formel werden Satz u n d Gegensatz verknüpft." 57 Topos und Wiederholung sind als strategische Abdeckungsphrasen gegen argumentative Bloßstellung einzuschätzen. Sie elaborieren sich u. a. in den Praktiken der Verschiebung, der Tilgung, des Aufschubs und der Überhöhung.58 Ohne das an sich erlebte und transzendentalistisch theoretisierte Moment der reduktiven Wiederholung negierter Urteile bzw. der destruktiven Erhaltung von Wertinhalten wäre Nietzsches Überwältigung von dem Un-Sinnserlebnis des Wiederkehrgedankens kaum vorstellbar: es ist ein präreflexiver Zeitentwurf, der seine emotionale Verifizierung nach langen Phasen des Widerstands einholt.59 So kann man Rupps schematisierende Rede von der „rhetorischen Phase" und Rodingens Vorschlag eines seine Wahrheit bloß entwerfenden und annullierenden Denkens zusammensehen: „Die rhetorische Phase sanktioniert die Ohnmacht der Form, das Spätwerk ratifiziert die Unabgeschlossenheit des Gedankens" 60 — aber nur, weil auch sie der Ohnmachtserklärung der Form bereits unterstellt war. Die durch analogistische, sich selbst zu Negativwertungen überredende Übertragung aufgerissene Chaotisierang der Lebenswertung (in einer Reihe von Chaos-Annahmen und Entheiligungs-Axiomen, vgl. o. S. 38 f., 47 f., 56, 70 ff.) war Voraussetzung zur affirmativen Tendenz der Totalisierung; nun ist Nietzsches manifest irrationalistische .Phase', in der die Selbstüberredung positiv umfunktioniert wird, mit der an sich erlebten und den Sprachbegriff bereits umgestaltenden Rhetorik als komplexer Versuch einer Selbsttherapie zu begreifen: mittels des immer wieder aufgewerteten Modells des „Menschen als Maßstab der Dinge" 61 und des Theorems „Homo natura. Der ,Wille zur 56 Rupp, Rhetorische Strukturen 112 f. Analoge Strukturen sind bei Schopenhauer, Fediner und Eduard von Hartmann aufzuzeigen. Vgl. Walter Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1983. 57 Ebd. 113. 58 Rupp bringt dazu Belege von unterdrückten Passagen aus den Vorstufen der GT, ebd. 133 f. 59 Jaspers hielt — vgl. Podadi, Notizbücher 192 — „einige Vorkommnisse zur ZarathustraZeit für pathologisch, darunter die überspannte Reaktion auf das sog. Wiederkunftserlebnis". 60 Rupp, Rhetorische Strukturen 147. 61 Auf dem Satz des Protagoras, „aller Dinge Maß ist der Mensch, der Seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie sind", baut E. Sandvoss seine methodisch wenig unterlegte, jedoch plausible Parallelisierung von Denkhaltungen Nietzsches und Hitlers auf; auf die seine eigene Position bezeichnende Polemik gegen Sophistik (als Urbild der Sprach- und Ideenverfehlung) braucht hier nicht eingegangen zu werden.

358

Zusammenfassung

Macht"' 62 — um Formulierungen der Früh- und der Spätphase gegeneinander zu halten — wird die zerfallene Welt in permanenter und folgenloser Chaosmeisterung mit einem Vorhang ständig neu sich diaotisierender Bedeutungen, „Interpretationen" und Verklärungen zugehängt. Dabei verbinden sich in der Strategie der Texteinrichtung, wie gezeigt, vorkehrend-vorgreifende und nachträglich uminterpretierende Maßnahmen. Die Tilgung logischer und pragmatischer Oppositionen ist Bestandteil dieser doppelt abwehrenden Texteinrichtung. Darauf hat am Beispiel der Formel „Willen zur Macht" Röttges hingewiesen, und davon hat er mit Recht die Konsequenz der ,Fiktionalisierung' abgeleitet. „Das Weltanschauliche und Blind-Magische teilt die Vorstellung des ,Zuviel an Macht' mit der Wendung ,Wille zur Macht'; als ob Nietzsche auch nur die Möglichkeit eines Willens zur Ohnmacht eingeräumt hätte, es sei denn als verdeckte Form des Willens zur Macht! Wenn aber ein Wille zur Ohnmacht nicht denkbar ist, dann ist die Wendung .Willen zur Macht' eo ipse eine Tautologie, ein hendiadioin. Das Überschreiten aller gegenständlichen Schranken durch den ,Willen zur Macht' liegt begrifflich schon im Willen selbst, der als Reflexion die ontologische Kategorie des Maßes negiert, eo ipse maßlos, unendlich ist, — oder eine Fiktion." 63 Nietzsches Verlust einer sinnvollen Zeitauffassung, wie er sich in der Zarathustra-Phase einstellt, halten wir für eine system- und selbstbezugsimmanente Konsequenz der vordem betriebenen Zeitvermeidung.

4. Entzeitlichung und Anpassung Aus dem Zusammenhang unserer Analyse ergibt sich die zunächst frappierende, jedoch systematisch zwingende Einsicht, daß sich die im Umkreis der Gedankenwelt von Schopenhauer und Nietzsche vorliegende Entgeschichtlichung und Entzeitlichung des Denkens auf die latente soziomorphe Wertung und Wahrnehmung der Natur zurückbezieht: Die beiden wichtigsten bürgerlichen nachhegelschen Denker des 19. Jahrhunderts halten sich an den Glauben an eine verborgene „Aristokratie der Natur" angesichts des Aufstandes des zum „Pöbel" diffamierten 3. Standes. Soviel Affirmativ-Unsinniges gerade über Nietzsches kreisende Zeit geschrieben wurde, so gibt es doch schon in der älteren Forschung auswertbare Hinweise auf diesen strukturell so entscheidenden Sachverhalt. E. Weber-Colonius hat in der Studie über „Nietzsche und Plotin" von der Ähnlichkeit der Zeitauffassung her Analogien der Persönlichkeitsstrukturen angesetzt. „Für beide ist die Welt im Großen und Kleinen aufgebaut nach dem (orientalischen) Gesetz der aristokratischen Rang- und Stufenordnung 62 III, 491. 63 Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung 98.

Entzeitlichung und Anpassung

359

[ . . . ] . Für Nietzsche wie für Plotin herrscht auch in der anorganischen Natur, die nach Kraftquanten gestuft ist und keine Materie kennt, das Gesetz der Rangordnung sowie das waltende Prinzip der Zahl, von dem aus sich für beide die ewige Wiederkehr ergibt." 64 Diese ideologiekritische und metapherntheoretische Feststellung wirkt erhellender als die in philosophischen Arbeiten übliche Paraphrasenkunst.65 Eine adäquate textpragmatisch differenzierte Untersuchung der Zeitbegriffe Nietzsches hätte wohl von den drei Geltungsebenen der wissenschaftlichen, der philosophischen und der ästhetisch-religiösen Begriffskonstitution auszugehen. Sie in wissenschaftlicher Darstellung ihrerseits durch Paraphrasen und Metaphern zu verwischen, gehört zur kritisierbaren Praxis der Einheitstradition. Einheit wird Nietzsche selbstaffirmativ immer nur als „Sieg über . . . " glaubhaft; sie wird erreichbar, wie durch die Analyse von Entschämung, Übertragung, Selbstbestätigung, Entdifferenzierung gezeigt werden konnte, in Erlebnissen der Naturverklärung. Nehmen wir biographische Beobachtungen aus dem ersten Teil unserer Analyse auf, beziehen wir sie auf psychologische Konstrukte der Selbstdeutung im „Zarathustra", so schließt sich ein Legitimationskreis, der die ideologisch entlastende Funktion sowohl der Zeitvermeidung wie der Willensaffirmation im widersprüchlich entfalteten Denken Nietzsches verdeutlicht. „Schönheit" — eine der Totalitätshülsen neben „Welt", „Wille", „Zusammenhang der Dinge", „Himmel", „Ewigkeit", „Leben" intentional der gemeinsame Nenner aller in ihnen enthaltenen Verklärungspotenzen — wird von Zarathustra als überbietend-zwingende Integrations- und Selbstpotenzierungsfunktion erlebt: 64 65

Zit. nach Μ. H. Kerkhoff, Physis und Metaphysik 179. Als Beispiel dafür muß unter philologiegeschichtlichem Aspekt auf die Arbeit von Ilse-Nina Bulhof-Rutgers hingewiesen werden, die wirklich versucht, „mit einem von Nietzsche geschliffenen Fernrohr etwas von der Beschaffenheit der Zeit und der Geschichte zu sehen" (Apollos Wiederkehr 13 f.) Das Ergebnis ist demgemäß tautologisch: Bulhof-Rutgers unterscheidet eine „Linienzeit" ( = „die Zeit der Neuzeit" 150) von der „kreisenden Zeit", sie hält „sukzessive Zeit" für „nicht naturgegeben" (ebd.). Ihre Explikationsfähigkeit bleibt ,umgangsphilosophisch\· „Wenn Zeit wirklich mehr ist als eine Reihe von sukzessiven Augenblicken, wenn das Sein ein lebendiges Sein ist, dann sind die Termini Zeit und Geschichte, und vielleicht auch [ . . . ] Mensch und Natur, sowie [sie!] wir sie gewöhnlich auffassen, nicht mehr adäquat." (165) Die analogistische Methode der Denker des Zusammenhangs der Dinge reproduziert sich auf gemäßigtem Niveau: Alle Widersprüche werden zu mythischen „Aspekten" „des einen Gottes Dionysos. Die Erde lebt aufs Neue. Und so wie die Erde nicht ist als lebloser Gegenstand, sondern ist in der Weise einer Bewegung, so gibt es nirgendwo auf Erden tote Objekte. Die Dinge sind nicht nur da, sie sind, sie sind schön, weil jedes Ding das Zusammenspiel von Zeit und Welt, von Jetzt und Nicht-Jetzt ist". (161) Zu solch dürftig-emphatischer Sprachregelung gehört die Gleichsetzung von „Einsicht" und „Erfahrung" und die exegetische Rede von Nietzsches „lebendem Kreis": „Seine Philosophie der ewigen 'Wiederkunft des Gleichen ist das Testament eines Propheten, der den lebenden Dionysos gesehen hat und mit seinem Blut Zeugnis seiner Gott ablegt" [sie!] (ebd.).

360

Zusammenfassung „Wo ist Schönheit? W o ich mit allem Willen wollen muss: w o ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. W i l l e zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode".«

Bulhof-Rutgers bemerkt zu Recht, daß „für Nietzsche Schönheit sowohl Wendepunkt eines Kreises als auch der Kreis selber ist. Schönheit ist Sichselber-sein. Symbol des Sich-selber-seins ist der Kreis. Der Kreis ist sich selber [Dativ? Nominativ? adverbialer Topos?], weil er sich selber will, und demzufolge in sich selber zurückkehrt." 67 Studiert man die zwischen Ganzheitsund Partikularitätsauffassung hin- und hergehende Wertung des Liebesbegrifls anhand von Sdilechtas Index, so erhält man auf einen Blick den Beleg für die These, daß sich der Antinomien-Ausgleich sprachlich als widersprudisanweisende Doppelaussage realisiert: sie repräsentiert die Vollwerte von „Illusion" (II, 1191), der Selbstemanzipation durch Naturverklärung und das Zurückübersetzen „in Natur" (II, 907) und die „vollkommen gewordene Welt" (III, 870): „Liebe", „Widerspruchszeit", „Kreis" sind Totalisate der Funktionssynthese durch Entfunktionalisierung.68 In der ,wissenschaftlichen' Paraphrase wird der mythisch-tautologisdie Charakter der Totalitätsbegriffe häufig deutlicher als in der inkonsistent-widersprüchlichen und bildüberfüllten Thesen-Textierung Nietzsches, in welcher das Zeitproblem als erhebliche Störquelle wirkt. Zeit von der Funktion einer Differenzierungsinstanz in die einer erlösenden Ganzheitsinstanz zu überführen, war im Zusammenhang des Ausgleichs von Sein und Werden wohl eine der schwierigsten Leistungen Nietzsches. Auch sie erfolgt als Synthesedenken — möglicherweise unter Einfluß von Casparis These, daß „die Natur mit einem Male unendlich gleichzeitig schafft: nämlich den Zusammenhang von Theilen oder [ . . . ] den realen Organismus." 69 Funktionsgleich zur Totalitätspotenz der Liebe soll kreisende Zeit leisten, was sich im Referenzbezug als Qual der Weltzertrümmerung, der gegebenen Dissoziiertheit, und im Medialbezug als Qual

19 Anthropomorphisierung 31, 61, 89 anthropomorphisieren 181 Anthropomorphismus 12, 52, 76 f., 89 f., 109 f., 123, 128 ff., 136, 179, 239 f., 265 f., 274, 281, 283, 316, 342 anthropozentrisch 19, 93, 179, 186, 233, 239 f., 242, 267, 310, 335 antimaterialistisch 2 Antiteleologismus 247, 250 antithetisch 105, 177, 321 Antizipation 85, 95, 97, 102, 106, 112, 159, 365 Anweisung 348 ff., 363, 366 ff. Apokatastasis 51 apologetisch 1, 65, 148, 185, 322, 364 apollinisch 27 f., 35 f., 39, 41 f., 44, 47, 51 f., 58 ff., 67, 105

386

Sachregister

Aporie 5, 11, 34, 44 f., 60, 68, 85, 93, 115, 129 f., 151, 152, 164 ff, 207, 217, 225, 227, 230, 240, 252, 256, 290, 293, 295 f , 338, 344, 352, 354 Apotheose 56, 70,180, 226 Apperzeption 141 Aristokratie der Natur 5, 358 artistisch 4, 45, 324 Askese 54, 238 asketisch 108 Asketismus 11 Assimilation 95, 145 Atome 89, 104, 146, 161, 163, 241, 285, 289 f., 303, 314, 332 Atomismus 89 ff., 146, 161, 163, 241 atomistisch 91, 104 Aufklärung 4, 7, 52, 77, 97, 160, 249, 290, 340, 365 Aufwertung 6, 21, 26, 47, 51, 94, 103 f., 189, 234, 266, 272, 305, 319, 326, 335, 341 f. Auslösung 302, 305, 308 Aussage 51, 112, 153, 158, 163, 181, 202, 213, 222, 230, 259, 261 f., 315, 323.. 336, 342, 345, 348 f., 353 Aussagelosigkeit 348 ff. Bedeutung 156, 176, 182, 186, 190, 216, 218, 296, 318, 328, 335, 342, 350 ff., 355, 358, 361, 364 Bedürfnis 13, 49, 75, 103, 106, 150, 276, 304, 318, 344 befehlen 315 Begriff 4, 10, 16, 24 f., 30, 35 ff., 43, 53, 55, 57, 63, 65, 78, 80 ff., 91, 100, 107 f., 114 f., 123, 126 ff., 134, 152, 155, 159, 165, 231, 237, 258, 307, 346, 354, 366 begrifflich 13, 134 Begrifflichkeit 53 Begriffsdichtung 26 Begriffshimmel 130, 139 bejahen 257, 318, 331 f. Beliebigkeit 31, 45, 53, 266 Bestimmen 150, 227, 351 Bestimmung 200, 204, 207, 305, 307 f., 367 Bestimmungslosigkeit 203 Bild 5, 8, 11 f., 27 ff., 31 ff., 41 ff., 44, 51, 65, 74, 76, 103, 112, 117 ff., 129, 131, 135, 143, 147, 169, 172, 182, 199, 204, 215, 219, 223, 244, 260, 288, 294 f., 300 ff., 318 f., 333, 360 Bilddenken 32, 118, 133, 282

Bilderdienst der apollinischen Kultur 29 Bilderwelt 29, 41, 52 bildlich 4, 28, 32, 34, 55, 57, 74, 117, 137, 144, 205, 248, 254, 289, 305, 337 Bildlichkeit 5, 14, 28, 31, 33, 35 f., 53, 132 f., 179, 200, 206, 228, 230, 260, 280, 361 Bildung 29, 35, 69, 76, 78 ff., 86, 95 f., 102, 106 f., 225, 264 Bildungsreligiosität 8, 47 bildungsreligiös 20, 264 biomorph 48, 115, 238 Blitz 15, 17 ff., 175, 198, 223, 276, 302, 304 f., 333 das Böse 166, 180, 187, 243, 267, 334 Buddhismus 264, 298 Chaos 48, 53, 61 f., 104, 149, 166, 176, 192, 213 f., 238 f., 241, 243, 254 f., 269, 322 ff., 352, 368 f. Chaosannahme 66, 210, 368 Christentum 51, 68, 257, 321 Christlich 7, 12, 17, 43, 49 ff., 102, 169, 201, 238, 264, 268, 278, 369 Dasein 6, 19, 29, 34, 39, 45, 53 f., 60, 64 f., 68, 85 f., 90 f., 105 f., 168, 171 ff., 186, 189 ff., 218, 233 f., 238, 243, 247 f., 263, 282, 294, 298, 303 f., 309, 312, 322 f., 369 Deckmetapher 46, 64, 228 Dekomplexierung 362 Denken 2, 3 f., 9, 12 f., 35, 53, 61 f., 73, 87 f., 96 ff., 110 f., 123, 133 ff., 139 f., 146, 150, 155 ff., 162 f., 172, 176, 198, 210, 216, 221, 225, 230 f., 234 ff., 243, 245 ff., 254 f., 263, 266, 272 ff., 281, 283, 286, 288 f., 292, 300, 305 f., 313, 316, 338 ff, 354, 356 ff, 367 f. Determinismus 299 Dialektik 4, 63, 96 f , 106, 191, 224, 327 Dialektik der Aufklärung 4 dialektisch 9, 31, 35 f , 39, 62, 79, 87, 97 f , 104, 108, 111, 123, 144, 156, 170, 176, 238, 244, 266, 276, 336 Dichtung 2, 15, 24, 37, 136, 184, 194 Dienst 79, 113, 332 Dienstverhältnis 331 Ding(e) 1, 5, 18, 22, 25, 87 f , 101, 108, 114 f , 120 f , 125 f , 130 ff, 143, 147 ff, 156, 159 ff, 171 ff, 185 ff, 193 f , 200, 202, 205, 212, 214 f , 223 ff, 232, 235, 242 f , 250 f , 253, 256 f , 266, 269, 273, 275 f , 281 f , 285, 288, 294 f , 305,

Sachregister 308, 313, 334, 336 ff, 350, 353, 355, 357, 359, 361, 365, 369 Ding an sidi 22, 24, 25, 120 f , 146, 14«, 201, 203, 285, 354 f. Dionysisch 6, 27 f., 30 f., 38 f , 42 ff., 53 f , 56 ff, 66 ff, 113, 170, 176, 214, 234, 263, 266, 292, 311, 328 Doppelbedeutung 30 Doppelgebrauch 31 Doppelt 46, 62, 65, 83, 109, 125, 145, 154, 196, 207 f , 224, 228, 269, 282, 293, 297, 301, 320, 336, 348, 352, 358, 367 Doppelung 293 Doppelverwendung 28, 30, 127 Doppelwertigkeit 49, 123, 141, 190 ff. Ego 170, 297 f , 326, 341 egologisch 110, 128, 169, 201, 226, 299 f , 307 ff, 316 f , 327, 350 Egozentrismus 6, 242 Egozentrik 124 Einbildungskraft 47, 303 Einheit 14, 20 f., 32 f , 36 f , 38, 40, 44 f., 48, 62 f , 65, 80, 87, 100, 107 ff, 123 f. 145, 152 ff, 166, 169, 172, 178, 183 f , 192, 196, 212, 215 f , 222, 233, 248, 255 f , 261, 271, 274 ff, 294, 296, 306 f., 312, 325 f , 328, 331, 336 ff, 345, 347, 352 f , 359, 362 ff. Einheitsannahme 1 Einheitsglauben 24, 107 Einheitsvorstellung 33, 44, 88, 342, 345 Einsamkeit 17, 21, 181, 201, 223, 246 einverleiben 294 Einverleibung 300, 306, 312 f. Einzelnes 6, 36 f , 48, 55, 145, 163, 319, 328, 362, 366 Ekel 50, 54 f , 218, 226 f , 230, 236 Emphatik 20, 166 emphatisch 3, 7, 15 f , 19, 72, 130, 155, 157, 160, 163, 178, 180 ff, 258, 303, 335, 343 Empirie, empirisch 23, 24, 38, 86, 92, 98, 100, 133, 135, 142, 158, 250, 283, 323, 345, 361 Empirismus 92 Enthusiasmus 100 Entlastung 10, 35, 80, 200, 235, 273, 277, 299, 303 Entsagung 23, 103 Entsdiämung 187, 202, 223, 359, 363 Entsetzen 48, 69, 207 entweltlichen 265

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Entwertung 1, 15, 193, 196, 232, 293, 318, 327 Entwicklung 14 f , 38, 78, 160, 165, 268, 309, 341, 345 f. Entzeitlichung 267, 338, 358 Erbauung 25 f. erdichten 294, 311 Erfahrung 2, 12, 24, 42, 70, 98 f , 108, 139, 142, 164, 180, 184, 208, 210, 212, 241, 270, 272, 281, 283, 288, 303, 311, 321, 359 erhaben 17, 54, 187, 190 Erhabenheit 17 f , 21, 47, 269 Erhebung der Seele 176 Erhöhung 18, 38, 46, 61, 176 f , 191 f. Erkenntnis 11, 43, 50, 52, 55 f , 66, 71 f„ 76, 79, 83 f , 96, 98 ff, 111, 118 f , 123 ff, 132 ff, 142, 146 ff, 159 ff, 168 f , 177 f , 182, 185, 188 ff, 206, 216, 218, 226, 228, 248, 251, 254 f , 268 f , 273, 286, 305, 314, 318, 327, 330, 333, 346 f , 366 f. Erkenntniskritik 25, 122, 125 ff, 139, 154 erkenntnistheoretisch 32, 36, 117, 122, 139, 155 f , 170, 260, 286, 292, 295, 332, 345 Erkenntnistheorie 27, 40, 91 f , 98, 108, 119 f , 130, 135, 138 f , 148 f , 154, 157, 161, 187, 269 f , 301, 310, 321 Erlebnis 5, 16, 18, 20, 21, 23 f , 47, 102, 126, 133, 170, 197, 205, 275, 278 ff, 303, 334 erlösen 33, 268, 302, 320, 325 Erlösung 8, 31, 32, 34, 47, 62, 100, 107 f , 166, 185, 188 f , 206, 208, 222, 228, 230, 254, 268, 273, 276, 279, 300, 309, 319, 325 f , 329, 333, 356, 368 Erscheinung 22, 35 ff, 39, 58, 67, 69 f , 117, 132, 135, 183, 233, 242, 259, 276, 288, 292, 294, 300, 308, 343 Esdiatologie 224, 265, 299, 353, 363 eschatologisch 15, 33, 65, 70, 194, 201, 226, 246, 347, 361 Evolution 77, 113, 136, 165 evolutionistisch 78, 334 ewiges Leben 39, 65 Ewigkeit 8, 67, 74, 162, 213, 226, 228, 239, 248, 250, 288, 290, 331, 337, 339, 359, 361 Explosion 302 ff. Fabel 117, 191, 198, 215 Fälschung 161,301,316 Fatalismus 6, 267 f , 320

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Sachregister

Fatum 14, 191, 218, 276 f., 297, 316, 325 ff. Fiktion 126, 149, 155, 270, 300, 307, 358 Fingiertes 38 Fixiertes 161 Fixierung 19, 31, 75, 78, 87, 127, 135, 149, 154, 156, 227, 251, 294, 306, 315, 331, 335, 346 Flucht 54, 56 f., 84, 96, 107,161, 228, 263, 331 Fortschritt 10, 12, 75, 98, 309, 324, 342, 345 Freiheit 41 f., 78, 107, 135, 188 f., 201, 203, 242, 277, 294, 307, 309, 326, 329 Frömmigkeit 56, 279 Frustration 35, 61, 110, 193, 257, 276 Fülle 143, 179, 302 f , 308, 312, 331 Gänsefüßchen 31, 136, 153, 230, 251, 263, 276, 307, 310 Ganzes 5, 14, 27, 66, 78, 94, 103, 124, 145, 150, 215, 218, 225, 227, 236, 252, 254, 259 ff., 269, 288, 303, 310 f., 315, 317 ff., 324, 329, 332, 336, 340, 353 f., 356, 362 Ganzheit 5 f., 79, 98, 103, 232, 269, 317 f., 336, 361 Ganzheitsbewußtsein 97 Gedächtnis 133, 138, 145 Gefühl 6, 35, 42, 48, 58, 103, 108, 190, 200, 211 ff., 270, 280 f., 295, 302, 320 Gegensatz 28, 45, 52, 63, 87, 106 f., 144, 156, 167, 176, 192, 204, 215 f., 223, 277, 281 f., 306 ff., 317, 323, 337, 353, 357 Geist 3, 10 f , 22, 33, 47, 62, 69, 87, 99, 145, 147, 156 f., 165, 177, 186, 194, 220 f., 224, 246 f., 258, 264, 267, 287, 301, 304, 307, 310, 321, 325, 331 Geistbegriff 194, 255 Geisthypothese 13 Geistphilosophie, geistphilosophisch 1, 13, 69, 74, 144, 331 Gelehrter 5, 168 Gemeinschaft 286 Generalisierung 57, 112, 114, 153, 186, 334 Genie 8, 77 f., 120, 142, 267, 290, 327 Genieästhetik, genieästhetisch 77, 98, 104, 303 Genius 31, 33 f., 57, 64, 77, 103 f., 266, 319, 361 Genuß 35,50,64,313 Gerechtigkeit 167 ff., 309 Gesamtaspekt 269, 323

Gesamtheit 28, 57, 99, 127, 316 Gesamtorganismus 8 Gesamtreditfertigung 186 f., 243 Gesamtsystem 290 Gesamtzustand 320 Geschehen 83, 145, 173, 246, 248, 252 f.. 277, 295, 303, 316, 321, 326, 329, 333, 335, 337, 340, 346, 353, 363, 365 Geschichte 3, 11, 13 f., 18, 22, 69, 75 ff., 79 f., 86, 94 f., 100, 102, 108 f., 140, 147, 177, 236, 246, 250 f., 341, 359, 365 Geschichtsphilosophie, geschichtsphilosophisdi 41, 77, 157, 237, 246 Gesellschaft 308,328 Gesellschaftlichkeit 6, 109, 307 Gewalt 46, 61, 82, 253, 256, 315, 366 Gewitter 17 f., 21, 302, 304 Glauben 6, 12, 23, 53, 65 f., 72, 75, 79, 87, 97,111 ff., 121, 123, 126, 132, 138 f., 141 ff., 150 f., 156, 160, 162, 178, 193 f., 209, 216, 248 f., 256, 264, 268, 295, 301, 315, 320, 358, 363 Gleichgewicht 75,282 Gleichnis 8, 31, 32, 34 f., 37, 42, 55, 78, 94, 141, 166, 171, 176 ff., 190 ff., 199 ff., 209, 215 ff., 224, 227, 230 ff., 242, 272 f , 278, 333 ff., 356 gleichnisartig 32, 44 Gleidinisfindung 177 Gleichnis-Rede 171, 191 f., 194 f., 203, 205,218, 220 ff., 231 Gleichniswelt 33 Glied 11 f., 216, 278, 288 f. Glocke 13 f., 143 f., 188, 336 Glorie 49,51 Götterspiegelung 56 Gott 2, 3, 8 f., 12 ff., 17, 21, 23, 41, 47, 50, 66, 71 f., 76, 105, 117, 153, 164, 172, 176, 178 f., 183, 195, 215, 219, 234, 239, 243, 246, 24« f., 252, 266, 271, 278 f., 323 ff., 333, 356, 359, 369 Gottesrede 218 Gottessymbol 195 Großartigkeit 144 Grund der Dinge 34, 38 Grundfiktion 126, 162 Gut 9,23,243,334 Gut und Böse 5 f., 168, 177, 215, 277 handeln 40, 73, 172, 216 f., 321, 340, 351 Handlung 79, 103, 301, 303, 327, 333, 338, 340, 368 Harmonie 57, 77 f., 106

Sachregister Heil 21, 104, 185, 218, 238, 322, 327, 337, 339 der Heilige 102 ff, 108 f., 340, 361 Heiligendes 55, 189 Heiligung 5, 56, 104, 299 Heilmittel 56, 62 Heilung 24, 125, 324 Heimat 201 heimkehren 201, 224 Heiterkeit 6, 59 Held 42, 59, 70, 182, 206, 214 heraklitisdi 36, 65, 71, 81 f., 98, 158, 161, 167 f., 175 f., 190, 202, 288, 300, 364 Heraklitismus 70 ff., 146 Hermeneutik 11, 61, 64, 119, 134-144, 146-149, 151, 170, 172, 181, 184, 188, 198, 215, 223, 226, 235, 238, 256, 261, 267, 271, 273, 292 ff., 308, 314, 319, 324, 328 f., 344, 346, 364, 367 hermeneutisch 27, 77, 88, 93 f., 101, 132, 145, 149, 153, 155, 167, 181, 188, 191, 196 f., 259, 264 Hermeneutik, transzendentale 138 heroisch 9, 77, 178 Heroismus 2 Herrschaft 17, 49, 65, 79, 156, 305 f., 315, 330 f. Herrsciiaftsspaltung 307 Herrschsucht 202, 321 Herz 17, 19, 21, 37 f., 104, 177, 207, 209, 211, 213, 317 Herz der Welt 33, 37 f., 233 Himmel 11, 24, 180, 183, 185, 188 f., 193 f , 213, 227 ff., 243, 359 Himmelskörper 10 f., 17 Hinterwelt 225,228,264 historisches Bewußtsein 3, 235 Höhe 168, 173 f., 182 f., 189, 206 f. höher 10, 84 f., 95, 180, 270, 276, 280 höherer Mensdi 154, 170, 214, 321 höhere Ordnung 310 höhere Prinzipien 14 höheres Selbst 84, 86, 97, 106 f., 111, 275 höhere Sphäre 50 f., 53 höhere Wahrheit 30 höhere Welt 269 höheres Wesen 11 Hölle 338 Hoffnung 102, 105, 123, 193, 202, 206, 208, 212, 222, 225, 272, 361 Horizont 6, 76 f., 85 f., 99 f., 179, 195, 206, 237, 293, 297, 320, 353

Idi

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20, 32, 33 ff., 43, 63, 85, 107 f., 147, 181, 189, 224, 227, 258, 279, 299, 301, 303 - lyrisdies 21 Ichidentität 35 Ichlosigkeit 108 Ideal 6, 23, 47, 50 f., 53, 135, 192, 194, 202, 268, 293, 331, 363 Idealisierung 3, 5, 46 f., 53, 176, 191 Idealismus 2, 14, 22, 25, 36, 53, 69, 79, 111,125, 135 ff., 141, 145, 162, 280, 287, 292 f. Idealismuskritik, idealismuskritisch 2, 22, 24, 111, 340 idealistisch 3, 23, 30, 33 ff., 46 f., 51 f., 59, 63, 75 ff., 82, 92 f., 106, 109, 120, 123, 127, 131, 135 ff., 148, 171, 192 ff., 202, 236, 250, 269 ff., 285, 289, 296, 310 f , 317, 322, 361 f., 364 Idee 22, 23 f., 54, 65, 76, 98, 126, 166, 221, 237, 303 Identität 5, 38, 52, 62, 72, 85, 120, 145, 150, 157 ff., 183, 185, 202, 208, 220, 243, 257 ff., 294, 298, 316, 320, 341, 345 Identitätsbereich 34 Identitätsphilosophie, identitätsphilosophisdi 22, 138, 152, 158, 161 Ideologie 108, 142, 146 Ideologiekritik 138, 147, 179, 230, 261, 264, 278, 281, 342 ff. ideologiekritisdi 4, 35, 133, 149, 241, 253, 255, 278, 301, 308, 342, 359 ideologisch 20, 49, 101, 124, 170 Illusion 5, 40, 45, 50, 53, 56, 73, 99, 103 f., 111, 113, 119, 122 ff, 129, 139, 141, 232, 250, 256, 264, 295, 356, 360 Immergleiches 344 Immoralität 6, 247 f. Imperativ 50, 53, 144, 178, 196, 222, 330, 365, 368 Imperativik 168, 198 individuell 33, 63, 80, 130, 154, 159, 169, 320, 351 Individuum 69, 78, 81, 108, 291, 340 Innen/Außen 24, 84, 90, 95 f , 145, 188, 264, 312 Inneres 37, 94, 317 Innerlichkeit 52, 65, 84 f., 90, 93 f., 317 Instinkt 38, 79, 96, 273, 321, 323 Intellekt 18, 19, 32, 73 f., 98, 133, 149 f., 271, 287 Intentionalisierung 85, 138, 180, 182, 198, 205, 209, 271

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Sachregister

Intentionali tat 2, 14, 33, 216, 268, 316 Interesse 12, 83, 105, 118, 147, 152, 157, 188, 267, 301, 368 Interpretation 38, 49, 75, 87 f., 107, 123, 126, 138, 154 f., 169, 237, 245, 249, 259, 261, 271, 285, 294, 306, 314, 341, 343, 346, 350, 353 f., 358 Introjektion 172 Intuition 94, 98 f., 106 Inversion des Sehens 35 Irrationalismus, irrational 98, 123, 128, 138 Irrtum 143, 153, 160 fi., 171, 188, 232, 239, 278, 362 Jenseitigkeit 105 Jenseits 177, 215, 264, 277, 361 Jenseitshoffnung 8 Kampf 36, 56, 70, 87, 101, 131, 169, 177, 282, 288, 297, 305, 312 ff., 329, 332 Kausalität 2, 33, 133, 135, 138, 142, 156, 231, 252, 282, 293, 337, 345, 349, 362 Kette 11, 70, 186, 189, 276, 278 f., 341, 364 Ketten-Krankheit 278, 364 f. Kind 7, 12 f., 66, 182, 211, 230, 258, 276, 298, 361 Koaktivität 182, 189, 201, 289 kommandieren 305 Konstitution 1, 90, 115, 131, 179, 200, 234, 278, 286, 291, 298, 308, 327, 355 Konstitutionalismus 289 f. Kontemplation 30 kontemplativ 43 Kontinuität 76, 78, 139 f., 213, 265 kosmisdi 32, 34, 40, 117, 122, 184, 268, 294 f., 341, 353 Kosmodizee 61 Kosmologie 3, 33, 127, 164, 225, 234, 241, 245, 252 256 ff., 266, 287 ff., 307, 309, 316, 323, 339 kosmologisch 2, 10, 14, 27, 31 f., 34, 40 f., 88, 122, 127, 150, 158, 162, 164, 169 ff., 192, 202, 231, 240, 244 f., 255 ff., 265, 271, 283, 295 f., 305, 313, 316, 318, 324, 329, 333 f., 339, 342, 348, 361 f., 364 f. Kosmos 18, 31, 61, 87, 172, 258, 279, 289 Kraft 42 f., 56, 59, 61, 66, 75 f., 79 f., 84, 89, 91 f., 98 ff., 104, 106, 123, 131 f., 141 f., 162 f., 175, 218, 250, 283 ff., 295, 302, 305, 311, 313 f., 339

Krankheit 24, 179, 219 Kreis 112, 160, 171, 235, 260, 303, 326, 329, 331, 353, 359 f. Kreislauf 5, 27, 250, 254 f., 263, 283 ff., 339 Krieg 168, 242, 258, 267, 300 Kritik 2 f., 22 ff., 26, 43, 69, 74 f., 77, 83 f., 86, 90, 93 ff., 101 f., 106, 110 f., 117 f., 122 ff., 133, 136 f., 141, 146 ff., 155, 159, 161, 168, 179, 188, 194 f., 246, 261 ff., 270, 279, 286 ff., 296, 317, 319, 323, 342, 344 f., 362, 364 Kultur 8, 12, 27, 39 f., 51 f., 63, 69 ff., 75 ff., 86 f., 95, 99 f., 104 f., 110, 113, 117, 124, 136, 217 f., 268, 324, 361 Kultus 218, 268 Kunst 8, 23 ff., 26 f , 29, 35 f., 41, 44, 50 f., 53 f., 56 f., 61 f., 67 f., 75 ff., 85, 94, 97, 100, 106, 111 ff., 124, 187, 231 f., 236, 256, 262, 265 f., 293, 309, 314, 330, 340 Kunstgewalt 68, 234 Kunstkomödie 35, 64, 74 Kunstphilosophie 3, 34, 131 Kunstreligion 33, 58, 73 Kunstwerk 22, 47, 50, 53 f., 66, 257, 262, 268 Latenz 56, 58, 70, 129, 185, 283, 319 Lauf der Welt 240 Leben 9 f., 14, 17, 21 f., 24, 26, 29, 39, 46, 50, 53 f., 67 ff., 77, 80, 94, 100 f., 106 f., 118, 124 ff., 142 ff., 150, 165, 167 ff., 180, 210 f., 216, 221 f., 227 f., 234, 239 f., 246 f., 259, 262, 266, 279, 282, 290, 295, 309, 312 ff., 328, 334, 346, 348, 359 f., 366 Lebenskern 43 Lebensphilosophie, lebensphilosophisch 7, 48, 267, 366 Legitimation 75, 77, 83, 142 Leid 12, 52, 62, 253, 303, 339 Liebe 87, 100, 124 f., 166 ff., 179, 181 ff., 231, 238, 242, 267, 269, 276, 297, 309, 317, 331 f., 356, 360 Lüge 52, 56, 85, 105, 117 f., 124 ff., 130, 132 f., 150, 173, 179, 187, 206, 208 ff., 219, 238, 330 Lust 28, 48, 52, 60, 62 f.,132, 174, 186, 228, 233 f., 295, 339 Lyrik 35, 54, 58 Lyriker 33 lyrisch 11, 34

Sachregister Macht 9, 16, 18, 66, 85, 104, 109, 134, 143, 167, 169 f., 177, 183, 206, 223, 236 f., 245, 252, 258, 271, 288, 295 f., 309, 312 f., 321 f., 331 f., 355, 358, 365 Madhtbestimmung 306 Machtexpansion 324 Machtkampf 314 Machtwillen 169 Magie 248 Makrokosmos 78, 112, 118, 125, 283, 285, 290, 317 Maske 33,56 Maskerade 138, 140 Materialismus 1, 14, 24 ff, 88 f., 138, 253, 287 materialistisch 25, 88 f., 145, 285, 289 Materie 87, 90 f., 137, 164, 231, 239, 252, 359 Mathematik 154, 159 ff., 289 Mechanismus 1, 248 f., 251, 283, 286, 295 Meergleichnis 195, 334 melancholisch 15, 17 Mensch 5, 10 f., 13 f., 18, 23, 26, 29 ff., 39, 46 ff., 61, 65, 70 f., 78, 84, 98,100 f., 104, 107, l l l f . , 117 ff., 124 f., 133 ff., 144, 147, 159 f., 163, 166, 171, 175 ff, 188, 192, 199, 202, 204 ff, 215, 218, 230 f , 236 f , 258, 265, 268, 271, 276, 280, 297 f , 303, 315, 318, 324 ff, 341, 354, 359, 361, 363 Metapher 12, 14, 21, 27, 29, 34, 41, 46, 51, 64, 71 f , 107, 114 ff, 120 f , 126 ff, 133 ff, 167, 169 f , 178, 185, 189, 195, 199, 204, 224, 230 f., 233, 241 f , 246, 252, 255, 279, 305 ff, 336 ff, 346, 350 ff, 366, 369 Metaphorik 46, 65 f., 80, 96, 115, 117 f., 124, 130 ff, 180 f , 190, 195, 206, 232, 243, 253, 293, 316, 344 metaphorisch 6, 10, 12, 20 ff, 28, 30, 46, 69 f., 73, 82, 91, 100, 102, 111, 117 f , 122, 129, 136, 140, 143, 161, 177, 179 ff, 187, 189 ff, 193 ff, 203 ff, 211, 215, 221 f , 228, 230, 241, 244 ff, 255, 259, 262, 271, 275, 282, 302, 306 f., 311 ff, 329, 331, 339, 352 ff, 366, 369 Metaphysik 8, 26, 34 £, 45, 50, 61 f , 77, 87,90, 110,113,139,146,150, 217, 239, 258, 261, 267, 287, 296, 310, 365 metaphysisch 1, 17, 23 f , 35, 38, 45, 58 f , 62 f , 68, 70 f , 79 f , 90 f , 97, 105 f., 150, 220, 231 f , 239, 258, 273, 278, 286 f , 301, 352, 361 Metaphysik der Kunst 35, 75

391

Metonymie 14, 72, 128, 134, 143, 367 metonymisch 14, 66, 137, 144, 337, 367 Mikrokosmos 5, 78, 317 Mittag 9, 15, 182, 188 ff, 206, 211 f., 229, 242, 317 Mitte 205 f , 226, 269 Mittelpunkt der Welt 34 Mittelwelt 44, 54 f. Mitternacht 17,228 modem 1, 66, 81 f , 87 f , 94, 113, 154, 237, 286, 292, 315, 345 moderne Seele 335 monistisch/Monismus 2, 77, 106, 158 Moral 106, 116, 124, 149 f , 220, 258, 260, 264, 275, 299, 301 f , 308 f , 321, 337, 341, 368 Musik 9, 31 ff, 41 ff, 55, 58, 61, 64 f , 78, 110, 115, 121, 136, 230 f , 233, 356 Musikalisierung 15 Mystik 44,356 mystisch 1, 33 f , 39 f , 46, 48, 62, 105 f , 164, 179, 183, 289 f. mythisch 112, 210, 224, 309, 367 Mythus 39, 41 f , 48, 59, 61, 69, 100 f , 113, 138, 189, 347, 355 Nachahmung 34, 60, 61, 102, 136, 138, 165, 216, 231, 302 Nächster 170,308 das Naive 39 f , 105 Namen 10, 143, 150, 159, 168, 171 f , 177, 183, 255, 328, 355 Narrentum 212 natürlich 6, 9, 13, 18, 39, 76, 94, 100, 182, 286, 289, 291, 316 Natürlichkeit 6, 171, 298, 303, 309 Natur 2, 3, 5 f , 9, 15 f , 17 f , 19, 20-23, 31, 38 ff, 47 ff, 52 f , 57 ff, 66 f , 70 ff, 75, 82 ff, 94 ff, 102 ff, 112 f , 122, 126 ff, 135 ff, 155, 160, 165, 171 ff, 180, 184 f., 188 f , 196, 220, 239, 241, 244 f , 247 ff, 263 ff, 275 ff., 287, 291, 296 ff, 315 ff, 329 f , 345, 354, 358 f , 361, 364 Natur, erste 95 f. Natur, sprechende 69 Natur, zweite 86, 95 f , 98, 105, 165 Naturabwertung 18 Naturbeherrschung 148 Naturbewußtsein 3, 22 ff, 107 Naturbild 14 f , 39, 107, 115, 172 ff, 198, 204 Naturfunktion 18 Naturgenuß 15, 22

392

Sackregister

Naturgesetz 114 f., 125, 128, 204, 245, 289 Naturgewalt 47 Naturglauben 16, 17, 128, 166, 186, 267, 361, 363 Naturgläubigkeit, naturgläubig 17, 19, 33, 39 f., 50, 58, 140, 173, 178, 241 Naturgleichnis 171 ff., 185, 190, 196, 209, 272, 278, 336 Naturgott 33 Naturheilkraft 54 Naturkräfte 77 Naturmetaphorik 10, 31, 96, 302, 304 Naturmetapher 169, 337 Naturpersonifikation 16 Naturphilosophie, naturphilosophisch .1, 2 f., 5, 23, 27, 40, 51, 64, 78, 80, 84 f., 89 f., 94, 110, 122, 131, 133, 157 f., 163 ff., 249 f., 266, 278, 280, 283, 285 f., 289 ff., 314, 331, 365 naturreligiös 3, 163, 183, 195 Naturstimmung 18, 21 Naturverklärung 102 ff., 359 f. Naturwissenschaft 1 f., 23, 83, U l f . , 125, 131, 145, 158, 247 ff., 289, 294, 314 f., 341, 345 naturwissenschaftlich 14, 82 f., 87, 93, 124, 131 f., 172, 186, 247, 250, 275, 288, 306, 314, 316, 369 naturwüchsig 22, 133 Negation 85, 98, 108, 113 ff., 149, 181, 186, 189, 194, 196, 200, 215, 219, 225, 236, 239 ff., 262, 267, 269, 277, 287, 294, 297, 301, 322, 324 f., 328, 352 f. negativ 9, 40, 69, 75 f., 113 Neid 187,258 Neuromantik, neuromantisch 5, 333 Nichts 76, 200, 231, 247, 257 ff., 273, 316 Nihilismus 76, 110, 116 f., 122, 132, 141, 149, 190, 247 ff., 258, 264, 266, 268, 281, 299, 308, 328, 342, 348, 368 Not 19, 49, 56, 95, 104, 178, 189, 191 f., 208, 211, 361, 368 Notwendigkeit 98, 133,178, 192, 195, 203, 207, 211, 223, 239 f., 244 ff., 252, 254, 276, 294, 298, 333, 368 Oben/Unten 61 objektiv 5, 6, 61, 72 f., 85, 130, 300, 303, 338, 351, 356 objektivieren, Objektivierung 36, 51 Objektivation 33, 77, 97 Objektivität 35, 79 Offenbarung 20, 33, 44, 59, 65, 183, 223, 229

Offenbarungsbegriff 2 Offenbarungsgeschehen 20 Offenbarungstopos 47 ontologisch 2, 38, 107, 117, 127, 132, 145, 149 f., 226, 240, 247, 253, 258, 295, 313, 335, 339 f., 343, 358, 364 Opfer 6, 35, 183, 221, 273, 275, 317, 326 f., 361 f. Optimierung 186 Optimismus, optimistisch 49, 234, 236 Ordnung 5, 61, 134, 149, 239, 290, 295, 340, 350 Ordnungsdenken 368 Organ 25, 38, 84, 156, 209, 315, 332 Organisation 24 f., 78, 156, 306, 315, 322 organisch 22, 145, 155, 163 f., 239, 271, 291, 310, 314, 329, 341, 346 Organismus 37, 48, 82, 239, 312, 315, 322, 330 panpsydiistisch 87 f., 137 f. pantheistisch 8 f., 16, 193, 259, 290, 362 parabolisch 215, 222 Paradoxalität 42, 46, 129 Partikularisierung 86, 126 Passivität 51, 197, 211, 368 Personifikation 8, 172 f., 197 Perspektivismus 119, 137, 140, 155, 161, 266, 273, 279 f., 342 Perzeption 83 f., 133 Pessimismus/pessimistisch 49 f., 62, 99, 103, 105, 123, 153, 257, 266 f. Phantomisierung 103 f. physiologisch 13, 18, 83, 103, 165, 308 pietistisch 6, 20 f., 62 Plastik, Plastiker 33, 54, 67 platonisch 26, 76, 126 f., 145, 288, 348 Piatonismus 2, 23, 51, 79, 127, 152, 253, 291 platonistisch 43, 127 pleromatisch 45, 47 f., 70, 72, 103, 113, 143, 175, 177, 180, 189, 215, 267, 269, 279 ff., 304, 328, 336 Poesie 15, 26, 29, 192, 216 Prädikation 127, 148, 158 pragmatisch 12, 63 f., 68, 81, 108, 143, 162, 188,196, 206, 210, 215 f., 231, 241, 255, 279 f., 296, 306, 311, 316, 337, 342, 350 f., 353, 355, 358, 365 Pragmatik 107, 277, 308 Produktionsästhetik 97, 268, 302 Projektion 32, 51, 61 f., 128, 147 ff. 230 fi„ 269, 273, 296, 361, 368 projektiv 35, 147, 150, 355

Sachregister Projizierung, projizieren 28, 49, 131 psychologisch 5, 36, 40, 49 f., 53, 60 f., 75, 81, 86, 107, 120, 124, 148, 164, 176, 180, 186, 192, 200, 205 f., 213, 237, 255, 293, 295, 300, 326, 359, 366 psydiomorph 10, 62, 87 f., 137 ff., 164, 186, 253 Punkt 84, 91, 160, 242, 360 Punktualisierung 91, 332 Qualität 130, 163 f., 197, 211, 230 f. Quanten 248, 256 Quantität 130, 224 quietistisch 7, 42, 44 Rache 167 Rad des Seins 171 Rad der Zeit 71 Rang 145,316 348 Rausch 28, 38, 45 f., 52, 55, 58, 66, 143, 327 Reaktion 54, 116, 214, 304 reaktionär 3, 133 Reaktionsbildung 1, 5, 55, 62, 165, 175, 210 reaktiv 72, 135 Realität 2, 3, 31, 45, 47, 51, 60, 80, 93, 103, 118, 136 f., 142, 155 f., 159, 168, 170, 189, 201, 208, 211, 233, 236, 268, 310, 325, 328 Realitätsbegriff 186, 300, 368 Realitätsflüditigkeit 35 Realitätslosigkeit 34, 108 Rechtfertigung 5 f., 28, 34, 37, 61-65, 74, 105, 133, 180, 186 f., 208, 220, 233, 242 f , 251, 253 f , 256, 265, 280 ff., 299, 303, 309 320, 368 Rede 43, 180, 185, 193, 199 f., 200, 216, 218, 224, 227, 229, 231, 233, 238, 252, 270 Rede, - gerade 221 reduzieren, Reduzierbarkeit 13, 15, 350 regieren 167, 294, 305 regredieren 25, 292 Regression 6, 321 regressiv 47, 100, 149, 257, 307, 310, 319, 321, 324 Reinheit 183 religiös 1, 5, 7 ff., 12 ff., 20 f., 37 ff., 53, 58, 72, 85, 102, 105, 143, 159, 171, 175, 178, 185, 188, 190, 196, 202, 219, 225, 228, 245, 264, 273, 275, 278 f., 291, 317, 324, 328 f., 338, 343

393

religioid 15, 33, 65, 102 f., 202, 278 f., 329 Religion 8, 9, 13, 26, 50, 53, 113, 129, 179, 191, 217, 220, 222, 230 f., 236, 241, 280, 293, 310, 323, 330, 363, 365 Religiosität 2, 8, 11, 59, 65, 72, 238, 258, 264, 277, 280, 324 Religionskritik 1, 196, 323 Resignation 23, 297 Ressentiment 168, 187, 210, 323 f., 368 Restitution 2, 3, 45, 150, 270, 343 retten, Rettung 33, 42, 140 Rhetorik 42, 66, 80, 117, 121, 128, 130, 143, 173, 182, 195, 253, 310, 349, 355, 357 rhetorisch 11 ff., 28, 40 f., 43, 70, 107 f., 116 f., 143, 146,169, 186, 203, 212, 216, 219, 222, 224, 238, 259, 304, 318 f., 323, 340, 343, 349, 355, 357, 361 f. Ring 13, 181, 267, 277, 339 Ring des Seins 171, 226, 255 romantisch 1, 14, 22, 23 f., 37, 71, 78, 97, 115, 145, 158, 164, 171 ff., 182, 194, 232, 236, 243, 258, 266, 272, 286, 288, 291 f., 296, 343, 362 Rückdeutung 35, 72, 75, 96, 175, 296 Rüddnterpretation 36, 72, 94, 141, 151, 167 f., 194, 198, 206, 210, 226, 247, 293 Rückkehr 197,279,285 Rückkehr zur Natur 6, 324 Ruhe 125, 266 f., 315, 369 Säkularisation 5, 12, 328 Säkularisierung 102 Sakralisierung 103 Satyr 38 ff., 58, 61 Seele 17, 21, 22, 24, 87, 95, 101, 175 ff., 187, 195, 202, 205, 212 f., 225, 227 f., 268, 272, 282, 286, 293, 295, 299, 305, 369 segnen 175, 227 Sehnsucht 189, 202, 205, 209, 211, 258, 270, 338 Sein 3·, 10, 33, 41, 127, 131, 139, 147, 150, 155 f , 171, 200, 202, 224, 226, 236, 246 f , 252 f., 255 ff., 288, 293 f., 296, 301, 308, 320, 323, 325, 337, 339, 359, 365 Selbst 40, 86, 106, 108, 276, 282, 301, 352 Selbstabbau 303 Selbstachtung 190 Selbstanschauung 1,2, 50 f. Selbstbeantwortung 305 Selbstbehauptung 169

394

Sachregister

Selbstbeobachtung 21 Selbstbestätigung 359 Selbstbestimmung 54, 241, 277, 303 f., 350, 355, 364 Selbstbetrachtung 35 Selbstbewunderung 327 Selbstbewußtsein 1, 55, 170, 231, 287, 293 Selbstbeziehung 116, 184, 186, 189, 209 f., 234, 271, 308, 333, 347 Selbstdestruktion 350 Selbstdistanzierung 20 Selbstdisziplinierung 6 Selbstentäußerung 33, 56 Selbstentmächtigung 327 Selbsterfahrung 1, 2, 20, 61, 97, 159, 183, 243, 255, 271, 316 Selbsterkenntnis 139 Selbsterregung 304 Selbsterweiterung 313 Selbsterziehung 329 Selbstgefühl 1, 308 Selbstgewinnung 182 Selbstgleichnis 32 Selbsthemmung 304 Selbstinterpretation 5, 44, 222, 243, 264 Selbstmetaphorierung 337 Selbstoffenbarung 94, 233, 317 Selbstopfer 221, 275, 326, 328 Selbstregulierung 249, 271, 304, 314 Selbstsegnung 230 Selbstspiegelung 190, 303 Selbsttherapeut 229 Selbstüberforderung 212, 303 Selbstübersteigerung 305, 337, 350 Selbstüberwindung 169, 182 f., 222, 271, 275, 277, 304, 329 Selbstummauerung 336 f. Selbstvergöttlichung 21, 328 Selbstverklärung 109, 276 Selbstverschwendung 304 Seligkeit 179,281 Semiotik 11, 55, 116, 120, 122, 294, 308 semiotisdi 27, 38, 55, 107, 120, 127, 132, 144, 146, 231 Sensualismus, sensualistisch 25, 90 f., 145 Sinne 145, 178 f., 219, 258, 289, 301, 328, 331 Sinnenwelt 25 Sinnlichkeit 6, 58, 320 Sokratismus 43, 66, 140 Sonne 16 f , 168, 173 ff., 178, 181 f., 186 f., 189-191, 195 f., 204, 206, 227, 243, 356

Sonnengleichnis 174 ff., 183, 186, 189 f., 204 soteriologisch 106, 217, 320, 330, 341 soziomorph 5, 41, 77,132, 221, 253, 282 f., 285, 288 f , 291, 294, 306 ff, 309, 315, 331, 348, 359 Soziomorphik, Soziomorphismus 282, 292, 300, 316, 342 Spiegel 5, 22 f , 35, 51, 131, 137, 202, 221, 244, 259 f., 269, 272, 283, 301, 308, 333 Spiegelbild 76 Spiegelung 32, 145, 259, 266 Spiel 44, 51, 53 f , 60 ff, 65, 87, 98, 210 f , 260, 298, 300, 340, 353, 361 Spiritualismus 90, 171, 283, 299 spirituell 1, 70 Spontaneität 61, 364 Sprache 5, 10, 37, 53, 58, 66, 77, 93, 110, 114 f , 118 f , 123, 130 ff, 136, 146, 152, 159 f , 174, 192, 200 f , 216, 218, 222, 227, 229 ff., 241, 261, 286, 291, 308, 313, 345 ff, 360, 367 Sprachskepsis 27, 57, 111 ff, 126 Sprechhaltung 67, 191, 353 Subjekt 20, 25, 35, 48, 52, 63 f„ 65, 67, 77, 79 f , 83, 85 f , 92 ff, 116, 132 f. 139, 141, 145, 147, 149 f , 155, 162, 172, 182, 185, 222 f , 233, 252, 259, 263, 266, 273, 287, 296, 300, 305, 323, 325 f , 332, 349, 352, 354, 356 Subjektbewußtsein 24 subjektiv 12, 24 f , 32, 46, 82, 120 f , 166, 198, 200, 210, 259, 300 Subjektivität 21, 25, 32, 97, 106, 119 f , 126, 183, 201, 223, 273, 296 f , 316, 318, 329, 340 Subjektivismus 97, 149, 305 subjektivistisch 91, 97 Subjekt/Objekt-Spaltung 34, 348 Substanz 2, 43, 45, 77, 82, 126 f., 139, 149 f, 156, 162, 239 ff, 262, 295 Substanzkritik 139 symbolisch 34, 37, 131, 356, 367 symbolisieren 32, 191, 241 symbolistisch, Symbolismus 187, 281, 332, 342, 360 Synonymisierung 120, 125, 139, 141, 285 f„ 313, 356 Synonymität 92 Synthese, Synthesis 25, 27, 33, 61, 90, 176, 178, 182, 195, 205, 214, 217, 260, 263, 266, 270 f , 277, 280, 285, 288, 292, 362 Synthetiker 99, 296

Sachregister synthetisch 2, 37, 60, 80 f., 88 f., 93, 98, 112 f., 195, 207, 222, 228, 230, 232, 238, 245, 249, 271, 277, 280 ff, 307, 309 ff., 368 Schaffen 150, 152, 180 f., 230, 237, 272, 282, 311, 350, 356 Schätzung 178 Schauspiel 43,63,94,210 Schauspieler 35,55,63,210 Schein 20, 27, 28-32 f., 40, 45, 46, 50 ff., 54 ff., 60 ff., 70, 94, 101, 111, 128, 143 ff., 150 f., 161, 170, 172, 190 225, 233, 245, 252, 254, 270, 273, 317, 324 f., 333, 340, 356 Scheinwelt 31 f. Schicksal 3, 10, 12, 15, 54, 85, 103 f., 189, 191, 204, 210 f., 230, 297, 323, 328, 331, 334 Schleier 30, 44, 101 f , 233 Sdimerz 9, 17, 54, 62, 67, 100, 234, 236, 277 schön, Schönheit 23, 28, 54, 125, 141, 183, 239, 242 f., 359 Schöpfer 17, 35, 64, 72, 177, 192, 224, 281, 329 Schöpferisches 9, 309 Stabilität 15, 147, 155 Stern 176, 181, 185, 188, 238, 244 Stoff 10, 24, 90, 99, 164, 271, 2"83, 289 Stufenleiter 9 f. Stufentheorie 31 Täuschung 40, 42 f., 59, 72 f., 83, W , 126, 150 f., 270, 361 Tanz 42, 57, 78, 171, 193, 200, 206, 215, 278 Tat 94, 100, 108, 251, 302, 317 tedinomorph 127, 204, 319 Teil 22, 25, 159, 227, 287 f., 310, 329, 333, 338, 341, 353, 360 Teleologie 5, 26, 77, 82, 158, 246, 250, 314, 322 f. teleologisch 10, 76, 80, 87, 290 Text 5, 17, 34, 40, 64, 67, 74, 103, 110, 115, 118 f., 171, 181, 200, 294, 307, 353 Textkonstitution 6, 28, 43 Theodizee 253, 288, 309, 332, 365 Theologie 7, 8, 9 f., 11, 140 theologisch 63, 75, 103, 106, 309, 321, 323, 368 Theorie 6, 35, 38, 40 f., 48, 51, 63, 82, 88, 93, 108, 126, 133, 145, 149, 153, 159, 161, 165, 171, 216, 233, 251 ff., 292,

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319, 332, 350 f., 355, 364, 366 Therapeutik, therapeutisch 18, 54, 102, 144, 210, 225 Tiefe 7, 18, 74, 128, 168, 173, 182 f., 204 ff., 228, 335 f. Tier 47, 66, 71, 106, 122, 134, 142, 175, 204, 206, 211, 225, 227, 230, 237, 278, 314, 324 totalisieren 27, 35, 94, 99, 109 ff., 123 f., 125 ff., 145 f., 342 Totalisierung 2, 34, 37, 57, 83, 92, 94, 105, 115, 118, 122 ff., 131 f., 160, 165, 181, 287, 293, 309, 323 f., 357 Totalismus 4 f , 6, 134, 328, 348 ff. totalistisch 6, 214, 261, 334, 336, 339, 348, 350, 352, 366 Totalität 4-6, 22, 59, 74, 80 f., 83, 86, 88, 94 f., 125 f., 146, 163, 169, 175, 192, 200, 205, 214 f., 223, 228, 236, 243, 251, 259, 261 f., 271, 279, 288, 293, 299, 318, 320 ff., 324 f., 329, 333 ff., 353, 355, 362, 366 Totalitätsbewußtsein 1, 5, 253 f., 280, 336, 338, 356 Totalitätssudie 94, 353 Totalitarismus 6 Tradition 1, 7, 13, 32, 45, 51, 56, 61 f., 75, 79 f., 90 f , 98, 115 127, 164, 173, 231, 243, 249, 259, 262, 273, 280, 317 tragisch 33, 38 f., 41 f., 49, 54, 59 f., 63 f., 68, 78 ff., 87, 99, 103, 110, 113, 237, 276, 317 transzendental 86, 92, 128, 133, 138, 171, 208, 255, 273, 282 transzendentales Apriori 10, 138, 170, 243, 249 transzendentalisieren 161, 236 Transzendentalismus 92 f., 314, 316 transzendentalistisdi 2, 3, 31, 34, 93, 119, 125 f., 137, 141, 162, 179, 181, 200, 210, 215, 228, 254 ff., 268, 272, 286, 296, 298, 301, 303, 308 ff., 320 f., 329 f., 357 transzendentalphilosophisch 22, 61 f., 131, 153 transzendentalistisdies Apriori 1, 22, 78, 85, 138 f., 208, 247, 259, 283, 292, 296, 300, 342 transzendentalistisdie Apriorität 145 transzendieren, Transzendierung 47, 60, 61, 106, 124, 174, 195, 206 Transzendentalität 132, 143, 200, 279 Traum 27, 28 f., 45 ff., 52, 66, 71 f., 105, 137, 140, 167, 196 ff., 228, 356

396

Sachregister

Traumbild 32, 46 Traumszene 33 Traumwelt 29, 47, 56 Überbietung 30, 33, 41, 52, 99, 105, 144, 160, 174, 189, 196, 243 , 246, 248, 264, 316, 330, 337, 363 Überforderung 116, 199 Übermensch 166, 168, 174 f., 178, 191, 195,, 198, 204, 206, 209, 240, 267, 300, 304, 309, 314, 321, 350 f. Ubermenschlichkeit 6, 18 übertierisdi 23 Uhr 14, 250 Uminterpretation 90, 105, 141, 169, 196, 202, 241 f., 245, 293 f. Umkehr/Umkehmng 6, 17, 110, 116, 119, 122, 136, 149 f., 154, 177, 187, 218, 221, 225, 248, 268, 273 f., 298 ff., 319, 324, 333 ff., 342, 351, 367 Umwertung 6, 70, 72 ff., 90, 94, 97, 113, 125, 129, 149, 154, 159, 174, 176 f., 197, 208, 212, 226, 271, 334, 353 Unbedingtes 126, 162, 261, 296, 330, 352, 354 Unbestimmtheit 21, 261, 316, 329, 338, 354 unbildlich 28,31 unendlich, Unendlichkeit 2, 10, 96, 236, 343, 352, 354, 361, 369 Unglück 210, 273 Universalität 25, 47, 112 Universum 235 f., 248, 253, 280, 283, 290 Unlust 138,234,252 Unmittelbares, Unmittelbarkeit 2, 106, 139, 222, 224, 227, 230, 263, 302, 352 f., 364 Untergang 125, 174 ff., 190 f., 204 f., 211, 214, 237, 361, 366, 369 Urcharakter 14 der Ur-Eine 31, 33, 36 f., 41 f., 66 Urgeist 10 f. Urintellekt 32 Urlust 33, 65, 141 Urnatur 66 Urphänomen 132 f. Urquelle 10,37 Ursache 88, 95, 120, 134, 142, 147, 227, 264, 269 f., 278 f., 294 f , 300, 308, 344 f., 357, 360 Urschmerz 31, 32 f., 37, 65 Urseele 9 f. Ur-Tatsache 137 Urwiderspruch 33, 158 Unviederklang 65

Vater der Dinge 31, 36 Verabsolutierung 345, 353 Verbilderung 97, 336 Verbildlichung 63 Vereinfachung 94 ff., 100 f., 272 Vergeistigung 22 Vergöttlichung 63 Verhüllung 45, 114, 129, 209 Verjenseitigung 58 verklären, Verklärung 3, 37, 45 f., 49, 51, 53 ff., 60 f., 67 f., 73, 76 f., 84, 101, 103 f., 118, 123 f., 128, 140, 143 f., 161, 165 ff., 175, 180 f., 186-189, 207 , 210, 215, 218, 228, 269, 272, 278, 281, 297 f., 328, 331, 338, 350, 352, 358 f., 361, 365, 368 Verkürzung 79, 278, 305 Verlust 12, 28, 39, 48 f , 85, 95, 111, 143, 157, 167, 240, 304, 337, 358, 366 Vermittler 105 Vermittlung 38, 43, 55, 77, 85, 90, 94, 102, 106, 109, 120, 125, 135, 139, 148, 160, 263, 265, 282, 305, 353, 364 f. verneinen, Verneinung 6, 23, 54, 104, 288 Vernichtung 39, 53, 56 f., 60, 73, 291 Vernunft 6, 10, 23, 98, 139, 150,160, 179, 239 f., 255, 258, 265, 277, 301, 320, 331, 364 Verschleierung 2, 52, 59, 68, 71, 73, 75, 79, 210, 356 Verschmelzung 14 f., 33 f., 64, 110 versöhnen, Versöhnung 15 f., 56, 195, 268, 276, 356, 365 f. Vertausdiung 134, 136, 138, 140, 187, 369 Verwechslung 132 ff., 142, 232 Verweltlichung 238, 264 Verwerfung 4, 72, 75, 334 Verzauberung 30 ff., 51, 56, 58, 59, 61 f., 356 Vision 32 ff., 58, 214, 267 Vitalismus 14, 65 Vollendung 75, 102 Vollkommenheit 29, 106, 213, 269, 278 f. Vorstellung 29, 32, 40 f., 49, 57, 61, 70, 79, 91 f., 97 f., 102, 118, 127, 130, 139, 145 ff., 153, 164, 169, 231, 245, 265, 278, 286, 299, 302, 310, 317, 333, 339, 363 Vorstellungsästhetik 62 Vörstellungswelt 131 Wahn 40 f., 43, 56, 71, 237, 264, 270, 324 Wahnbild 32,40 Wahngebilde 268

Sachregister Wahnvorstellung 62, 80, 104 Wahnwelt 80 Wahrheit 26, 39, 50, 52, 54 ff., 61, 69 fi., 80, 87, 99 f., 104 f., 110 ff., 120 £., 125, 128 f., 134 f., 141 f., 150, 155, 159 f., 178, 188, 190, 194, 200 f., 219 f., 224, 227, 230, 237, 273, 276, 301, 320, 327, 343 f., 357, 362, 366 Wahrnehmung 27, 53, 92, 108, 121 f., 131 ff., 141 f., 214, 270, 278, 358 wahrnehmungstheoretisch, Wahrnehmungstheorie 22, 113, 114, 130, 133, 134, 238 Wechsel 7, 14, 15, 19, 39, 59, 80, 88, 124, 147, 153, 175, 213, 215, 232, 236, 252, 278, 285, 290, 321, 339, 353 Weisheit 3, 52, 55 f., 59, 69, 80, 87, 118, 123, 173 f., 183, 202, 239, 273, 300 Welt 3, 9 f., 13, 14, 20 ff., 25 f., 29, 31, 32 ff., 38, 42, 50 ff., 54, 58 ff., 63, 65 f., 69 ff., 76, 80, 85, 87, 91, 94 ff., 100 f., 108 f., 116 f , 120 ff, 128 ff, 137 ff, 146 ff, 153 ff, 160 ff, 170 f , 177, 179, 181 ff, 191 f , 201 ff, 211 ff, 222,225 ff, 235 ff, 245 ff, 254 ff, 265 ff, 279 ff, 288, 293, 297 ff, 311, 322 ff, 333 ff, 345 f , 352, 354, 358 f , 361, 364 ff. Welt, Auge der . . . 28 Welt, Herz der . . . 33 Weltall 17, 71, 73, 117, 165, 250, 252, 287 f , 290 Weltanschauung 1, 2, 4, 23, 25, 29, 45, 47 f , 50, 52 f , 56 f , 131, 155, 198, 282, 342, 348 Weltbegriff 10, 142, 233 ff, 241, 262 ff, 323, 353 Weltbewegung 251 Weltbildung 26, 292 Weltennacht 41, 55 Welterfahrung 26, 36, 52, 122, 185, 286 Weltfrömmigkeit 279 f. Weltgeist 3, 76 f. Weltgenius 33 f. Weltgeschichte 71 f , 103 Weltgleichnis 31, 37, 102 f , 108, 174, 201, 225, 254, 272, 298, 305, 347, 352 f , 367 Weltherrschaft 331 Weltherrscherin 76 f. Weltkampf 268 Weltkind 364 Weltparadigma 9 ff. Weltplan 288 Weltperzeption 133 f , 140, 142

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Weltprozeß 3, 75, 235 ff, 246, 251, 265, 319 Welträtsel 37, 48, 154 Weltsdiöpfung 70 Weltsdirecken 37, 48 Weltsymbolik 37, 57 ff. Weltverklärung 35, 102 ff, 109, 157, 266, 276, 369 Weltverlauf 264 f. Weltverleumdung 167, 261 Weltvernichtung 125 Weltvollendung 70 Weltvorstellung 105, 166 Weltzugehörigkeit 227 Weltzweck 250 Werden 15, 75, 80, 83 ff, 88, 94 f , 107, 139, 147, 150 f , 164, 180, 182, 185, 201 ff, 219 f , 224, 234, 237, 245 ff, 254 ff, 267, 278 f , 285, 288, 293, 296, 300 f , 320, 324, 337 f , 340, 351, 356, 360 f. Widerschein 31, 32 Wiederspiegelung 31 Widerspruch 2, 8, 13, 31, 33 f , 36, 40 ff, 60 f , 78, 80, 98 f , 104, 106 f , 113 f , 127, 137, 147 f , 153 f , 161, 166, 175, 180 f , 185 f , 190 ff, 205 f , 209, 222, 225, 230, 248, 254, 260, 267, 281, 302, 317, 321, 323 f , 334, 353, 355 f , 360 Widerspruchslösung 168 Widerstand 208, 295, 357 Widerständigkeit 179, 201, 253 Wiedergeburt 20, 39, 59, 103 Wiederherstellung 32 Wiederkehr 16, 48, 123, 150, 152, 157, 164 f , 169, 171, 197, 204, 219, 221, 225 f , 232, 243, 245, 247 f , 250, 254, 265, 276, 291, 301, 320, 324, 338, 347, 350, 353, 359, 362, 366, 368 Wille 6, 18, 29, 35, 37, 41 f , 48, 50 f., 53, 57 f , 61 f , 70, 75 f , 87, 104, 122, 138, 141 ff, 150 f , 156, 178 f , 182, 188, 192 ff, 207 ff, 219 ff, 232, 256, 263, 267, 271, 273 ff, 294, 297 f , 302, 304 f , 312, 317, 320, 323 ff, 332, 340, 345 f., 359 f., 363, 368 Wille zur Macht 19, 34, 48, 143, 149, 154 ff, 161, 178, 244, 251, 254 ff, 271, 282, 293 ff, 305, 307 ff, 320 ff, 330, 346, 348, 358 Wille zur Ohnmacht 358 Willkürlichkeit 119, 133, 249 Winter 185, 187

398

Sachregister

Wirklichkeit 25, 27, 29, 30, 56, 80, 103, 109, 113, 119 f., 131 f., 138, 147, 159, 219 f., 231, 253, 263, 269, 280, 291, 299, 337, 353, 365, 368 Wissen 9, 13, 33, 44, 64, 66, 73, 94 ff., 112, 117, 144, 160, 177 f., 183 f., 191, 194, 226, 228, 236 f., 252, 262, 273, 333 f. Wissenschaft 1, 11, 23, 25, 69, 75, 78, 87 f., 94, 106, 111 ff., 123, 125, 139, 160 f , 230 f , 238, 241, 245, 247, 256, 262, 310, 314 f., 318, 341, 346, 364 f. wissenschaftlich 12, 25, 68, 86, 99 f., 105, 130 ff., 168, 185, 220, 229 f., 236, 240 f., 245, 247, 251, 261 ff, 278,, 307 f , 313, 341, 349, 351, 359 f. Wissensdiaftlidikeit 7 f., 23 f , 110 f., 125 f , 151, 161, 217 Wissenschaftsentwertung 123, 161 wissenschaftsfeindlich 114 Wonne 16, 31, 177, 224 Wort 41 f , 66, 119 f , 126, 160, 201, 224, 227, 230, 357 Wunder 41, 105, 107, 193 Wunderbarkeit 58 Wünschbarkeit 16, 26, 45, 128, 146, 149, 265, 293, 323, 339

WunsA

45, 143, 146, 181, 275, 323

Zahl 11, 115, 125 f , 153, 159, 161 f , 186, 232, 294, 359 Zauber 61,248 Zeit 10, 70, 83, 90 f., 98 f , 128, 153 f , 157, 160 f., 179 f., 191, 203, 213, 218 ff., 231, 247 f , 255, 263, 267, 270 f., 275, 288, 338 f , 358 f , 361 f. Zeitbewußtsein 255, 258, 361 f. Zeitlosigkeit, zeitlos 49, 364 Zeitpunkte 48, 91, 339, 361 zentral 4, 22, 30, 36, 53, 63, 66, 74, 105, 110, 117, 121, 134,166, 174, 181 f., 192, 201 f , 209, 223, 231, 240 f , 251, 255, 280, 304, 318, 323, 334, 336, 354, 365 Zerstörung 21, 72, 95, 303 Zusammenhang 1, 3, 6, 30, 45, 59, 79, 86, 99, 111, 124, 128, 139, 153, 161 f , 169, 199, 214, 224 f , 238, 262, 267, 276, 278 ff, 289, 291, 306, 311 f , 315, 326, 330, 333, 338, 341, 347, 353, 360, 364 f. Zusammenhang der Dinge 1, 5, 163, 218, 249 ff, 260, 272 f , 275 ff, 287, 291 f , 297, 311, 326, 328, 359, 369 Zyklus, Zyklizität 240, 243, 264, 363 Zweck 14, 159, 166, 183, 204, 212, 239 f.. 246, 256, 266, 277, 294, 349

M O N O G R A P H I E N U N D T E X T E ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG Herausgegeben von M. Montinari, W. Müller-Lauter, H. Wenzel

Peter Heller

Von den ersten und letzten Dingen Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedridi Nietzsche Groß-Oktav. XLII, 512 Seiten. 1972. Ganzleinen DM 130— (Band 1) Heinz Röttges

Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung Untersuchungen zum Problem einer humanistischen Ethik Groß-Oktav. VIII, 296 Seiten. 1972. Ganzleinen DM 115— (Band 2) Richard Frank Krümmel

Nietzsche und der deutsche Geist Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867—1900 Groß-Oktav. XX, 290 Seiten. 1974. Ganzleinen DM 132,— (Band 3) Ruediger Hermann Grimm

Nietzsche's Theory of Knowledge

Large-octavo. XIV, 206 pages. 1977. Cloth DM 78,— (Volume 4) Frederik R. Love

Nietzsche's Saint Peter

The Genesis and Cultivation of an Illusion Large-octavo. XVI, 296 pages. 1981. Cloth DM 88,— (Volume 5) Preisäoderungen vorbehalten

Walter de Gruyter

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