"Bestreben, Musik und die Rolle des Chors in der Tragödie zu würdigen und mithin den performativen und multimediale
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German Pages 328 [329] Year 2016
Table of contents :
NIETZSCHES MUSIKPHILOSOPHIE: Zur Performativität des Denkens
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Vom Lesedrama zur performativen Verbindung der Künste
2. Euripides und die Musik
3. Überschreitungen
4. Der Wille zum Schein
5. Das Erhabene und die Tragödie
6. Nietzsches geheime Lehre
7. Der Philosoph als Tragiker
8. Die Inszenierung des Widerspruchs
9. Die Semiotik der Maske
10. Performativität
11. Die Musik des Nordens
12. Der europäische Wanderer und sein asiatischer Schatten
13. Die Musik des Südens
14. Zarathustras Musik
15. Die Verwindung der romantischen Musik
16. Komischer Ernst
17. Die „Lüge des grossen Stils“
Werkausgaben Nietzsches und Siglenverzeichnis
Abkürzungen
Zitierte Literatur
Personenverzeichnis
Federico Celestini NIETZSCHES MUSIKPHILOSOPHIE
Federico Celestini
N IETZSCHES USIKPHILOSOPHIE M Zur Performativität des Denkens
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Vom Lesedrama zur performativen Verbindung der Künste . . . . . . . . 11 2. Euripides und die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Überschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Der Wille zum Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
5. Das Erhabene und die Tragödie . . . . . . . . . . . . . . 81
6. Nietzsches geheime Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7. Der Philosoph als Tragiker . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 8. Die Inszenierung des Widerspruchs . . . . . . . . . . . . 143 9. Die Semiotik der Maske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 10. Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 11. Die Musik des Nordens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 12. Der europäische Wanderer und sein asiatischer Schatten 201 13. Die Musik des Südens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 14. Zarathustras Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
15. Die Verwindung der romantischen Musik . . . . . . . . 247
16. Komischer Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 17. Die „Lüge des grossen Stils“ . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Werkausgaben Nietzsches und Siglenverzeichnis . . . . 293 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Vorwort
A
ls Altphilologe wusste Nietzsche sehr wohl, dass in der griechischen Antike der moderne Begriff „Musik“ nicht vorhanden war, weil bis in die klassische Zeit hinein das Wort musiké (es ist dies die weibliche, meistens substantivierte Form des Adjektivs musikós, d. h. musisch, die Musen betreffend) die Konstellation von Dichtung, Musik und Tanz meinte. Aus der Einsicht in die multimediale Verfasstheit der musiké leitete Nietzsche die Vorstellung von der Verbindung verschiedener Künste untereinander her, die er in den frühen Basler Jahren noch in enger Beziehung mit Richard Wagner zu entwickeln pflegte. Die Aufwertung der Musik und der Rolle des Chors in der klassischen Tragödie ist ein Anliegen, mit dem sich Nietzsche bereits in seiner Schulzeit in Pforta befasste. Damit ist Nietzsches grundlegendes Bestreben verbunden, entgegen der in der Nachfolge des Aristoteles durch die alexandrinischen Philologen durchgesetzten Reduktion des antiken Dramas auf eine literarische Überlieferung den performativen, kultischen und multimedialen Charakter der Tragödie hervorzuheben. Nietzsches Programm eines postmetaphysischen Denkens erfolgte im Wesentlichen auf der Basis jener Konsequenzen, die er aus der Aufwertung des Performativen in der Kulturbetrachtung zog. Entscheidend zur Umsetzung dieses Programms war es, dass Nietzsche ab der Mitte der 1870er Jahre Schreibweisen zu entwickeln begann, in der die Hypostasierung von Gedanken, die bereits den antiken Philosophen ein Gräuel war, zugunsten von der Beweglichkeit des Denkens gemieden wird. Die Aphorismen der mittleren Werke, die prophetisch-allegorische Rede des Zarathustra, die satirische Schreibweise in Der Fall Wagner sowie Nietzsches intensive Hingabe an Parodie und Selbstparodie – nicht zuletzt in Ecce homo – sind fulminante Beispiele dafür, wie im Sinne des Performativen sich Inhalte und Formen der Mitteilung durchdringen. Dazu gehört jene fiktive Intermedialität, welche Nietzsche, zweifellos durch seine Bewunderung der antiken musiké angeregt, in allen seinen späten Schriften umsetzt. Ich meine damit Nietzsches Bestreben, den Zarathustra und die Dionysos-Dithyramben zu „komponieren“, wie man Musik komponiert, aber auch das Schreiben als eine Art des Tanzens zu praktizieren sowie im Allgemeinen die geschriebene Seite als eine imaginäre Theaterszene aufzufassen, in der Gedanken wie
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maskierte Figuren inszeniert werden. Sobald mir diese Zusammenhänge bewusst geworden waren, wurde mir auch klar, dass meine Aufgabe nicht diejenige sein konnte, die ich mir noch am Beginn meiner Arbeit vorgestellt hatte, nämlich Nietzsches implizite Musikästhetik explizit zu machen. Denn Inhalte aus Nietzsches Texten zu abstrahieren, diese so zu betrachten, als ob ihre eigentümliche Schreibweise lediglich eine extravagante Nebensache wäre, hätte bedeutet, nicht nur das zu machen, was bereits unzählige Male gemacht wurde, sondern, und dies ist schwerwiegender, das Denken Nietzsches zu normalisieren und mithin zu entstellen. Dieses Buch stellt einen zweifellos prekären Versuch dar, bei der Auseinandersetzung mit Nietzsche dessen Ausdrucksweise mit einzubeziehen und dabei die Beweglichkeit des Denkens, anstatt es durch Erklärungen still zu legen, durch weitere Gedanken in Gang zu halten. Deshalb ist aus der ursprünglichen Absicht, Nietzsches Musikästhetik zu rekonstruieren, die Idee hervorgegangen, seine performative Musikphilosophie zu thematisieren. An dieser Stelle möchte ich mich bei einigen Personen und Institutionen bedanken, welche dieses Projekt ermöglicht haben. Zunächst sei der Humboldt-Stiftung für die Gewährung eines zweijährigen Stipendiums und der Druckkostenbeihilfe herzlich gedankt. Die Förderung erlaubte mir, an der Freien Universität Berlin den Großteil der Arbeit zu vollenden. Von Anfang an konnte ich besonders von den Ideen, Anregungen und Kritiken Albrecht Riethmüllers profitieren. Ihm und Sherri Jones verdanke ich auch viele schöne Abende und Gespräche in Berlin, die nicht nur meinem Nietzsche-Projekt zugutekamen. Außerdem hatte ich das Glück, am musikwissenschaftlichen Seminar der FU auf eine außerordentlich anregende Gruppe von Kolleginnen und Kollegen zu stoßen. Beide am Seminar verankerten Sonderforschungsbereiche – „Kulturen des Performativen“ und „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ – haben in meiner Arbeit deutliche „Spuren“ hinterlassen. In Berlin kam ich auch mit weiteren Humboldt-Fellows in Kontakt. Mit Matteo D’Alfonso, Angela Ida De Benedictis, Pietro Cavallotti und Francesco Del Bravo habe ich während unseres gemeinsamen Aufenthaltes in Berlin viel über Philosophie, Musik und über die nicht immer erfreulichen Dinge, die in Italien passieren, diskutiert. Zur Berliner Zeit gehören auch einige sehr anregende Gespräche mit Hermann Danuser an der Humboldt-Universität. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung konnte ich vor einem Jahr die Arbeit an dem Nietzsche-Buch wieder aufnehmen und vollenden. Für diese zweite und letzte Phase waren mir die inspirierenden „ästhetischen“ Diskussionen mit Nikolaus Urbanek und
Vorwort
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Tobias Janz besonders wichtig. Matthias Schmidt, Arne Stollberg und Matteo Nanni verdanke ich die Möglichkeit, in Basel einige Gedanken über Nietzsche und die Ästhetik der Intermedialität darzustellen. Andreas Dorschel bin ich dafür sehr dankbar, dass er das gesamte Manuskript kritisch gelesen und mir anregende Kommentare zukommen hat lassen. Bei der Vorbereitung der Drucklegung leisteten Michaela Krucsay, Peter Oberosler und Milijana Pavlovic wertvolle Arbeit, für die ich mich herzlich bedanke. Federico Celestini
Graz, Januar 2016
1. Vom Lesedrama zur performativen Verbindung der Künste
N
ietzsches frühe Beschäftigung mit dem Drama der Antike erreichte im Jahr 1872 mit der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie einen publizistischen Höhepunkt. Jedoch fand die erste öffentliche Darstellung seiner Tragödientheorie, freilich in einem kleinen Kreis, bereits durch eine zweiteilige Vortragsreihe über Das griechische Musikdrama und dessen Auflösung, Socrates und die Tragoedie, statt, die Nietzsche am Beginn des Jahres 1870 im Basler Museum hielt.1 Neben Einsichten, die später in sein Buch einfließen werden, treten hier auch Probleme und Widersprüche zutage, welche die Notwendigkeit späterer Änderungen sinnfällig machen. Bereits der Titel des ersten Vortrages verdeutlicht, dass die Aufwertung der Musik im griechischen Drama zu Nietzsches ältester Gedankenschicht gehört. Hierin ist Nietzsche bedacht, den ursprünglich multimedialen Charakter der attischen Tragödie entgegen deren geläufige, durch die schriftliche Überlieferung bedingte Reduktion auf das Lesedrama als literarisches Werk hervorzuheben. Zu diesem Zweck greift er auf die Thesen des Archäologen Joseph Anselm Feuerbach zurück, der in seiner Schrift Der vaticanische Apollo (1833) nicht nur den Nachweis erbrachte, dass die antike Skulptur im Gegensatz zur damaligen allgemeinen Überzeugung polychrom gewesen sei, sondern darüber hinaus das „dramatische Festspiel“ in Athen als ein „Wiedervereinigungsfes[t] der griechischen Künste“ bezeichnet hatte, sowie auf jene des mit Wagner befreundeten Architekten und Theoretikers Gottfried Semper, der 1834 eine Schrift mit dem Titel Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten veröffentlicht hatte.2 Nietzsche betont seinerseits, dass die Betrachtung der attischen Tragödie als „Gesammtkunst“ dazu verhelfen würde, die in der Moder-
1 Janz, Nietzsche I, S. 410; eine Beschreibung der Inhalte ist zu finden in von Reibnitz,
Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, S. 36 – 40.
2 Feuerbach, Der vaticanische Apollo, zit. nach GMD , S. 518. Siehe dazu Pfotenhauer,
Die Kunst als Physiologie, S. 136 – 138. Zu Nietzsche und Semper siehe Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 15 – 55.
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ne verloren gegangene Ganzheit der Wahrnehmung wiederzugewinnen (GMD , S. 519). Die Vermutung, dass Nietzsches auffällige Bezeichnung „Musikdrama“ für die griechische Tragödie durch den Einfluss Wagners zu erklären sei, liegt nahe. Zwar verwendet Letzterer in Oper und Drama die adjektivische Wendung „musikalisches Drama“, jedoch spätestens seit der Veröffentlichung von Franz K. F. Müllers Essay Richard Wagner und das Musikdrama im Jahr 1861 wurden jene Form und die substantivische Wortbildung als synonym betrachtet und auf die Bühnenwerke Wagners bezogen.3 Es ist allerdings zu beobachten, dass hinter Nietzsches offensichtlicher Anlehnung an Wagner ein gedanklicher Vorstoß steckt, der einigen Widersprüchen zum Trotz den Rahmen bestehender Vorstellungen sprengt. Denn es ist keineswegs gleichgültig, ob die angesprochene Bezeichnung wie bei Wagner im Zusammenhang einer Opernkritik die Akzentverschiebung zugunsten des Dramas kennzeichnen soll, oder ob sie wie bei Nietzsche in Bezug auf die antike Tragödie die Aufwertung desjenigen Momentes zum Ausdruck bringt, das in der gesamten Tragödientheorie stets als marginal betrachtet wurde. Zwar übernimmt Nietzsche die Einsicht Wagners, dass die griechische Tragödie im Unterschied zu den neuzeitlichen Formen des Dramas, die vielmehr als Literatur-Dramen zu bezeichnen wären, ein wirkliches Drama gewesen sei,4 nämlich das, was Nietzsche als „Gesammtkunst“ bezeichnet. Jedoch gefährdet er mit seiner massiven Aufwertung der Musik gerade das Ziel der Wagner’schen Polemik, nämlich die zu tadelnde Dominanz der Musik in der Oper. Obwohl Nietzsche mit 3 In der 1872 – kurz nach der Veröffentlichung von Nietzsches Die Geburt der Tragö-
die – verfassten Schrift Über die Benennung ,Musikdrama‘ verwirft Wagner sowohl die adjektivische Form als auch die substantivische Wortbildung als inadäquat, bevor er die Lösung „Bühnenfestspiel“ für die Bezeichnungen seiner Werke mitteilt. Siehe ders. Über die Benennung ,Musikdrama‘, S. 274 bzw. 277. Wagner teilte seine Ablehnung des Terminus „Musikdrama“ Nietzsche bereits vorher mit, und zwar in Tribschen am 11. Juni, als Nietzsche mit seinem Freund Erwin Rohde dort zu Besuch erschienen war und seinen ersten Basler Vortrag vorlas. Darüber schreibt Cosima von Bülow in ihrem Tagebuch: „Pr[ofessor] N[ietzsche] liest uns abends seinen Vortrag über das griechische Musikdrama, über welche Benennung R[ichard] ihn anhält und sie ihm mit Gründen verweist. Der Vortrag ist schön und zeigt, daß er das griechische Kunstwerk recht empfunden hat“ (dies., Die Tagebücher I, S. 243). Infolgedessen schreibt Nietzsche in seinen Aufzeichnungen: „Name: Musikdrama verwerflich (nach Richard Wagner)“ (NL 7, S. 79). Ab diesem Zeitpunkt erscheint diese Bezeichnung in den Schriften Nietzsches nie wieder. 4 Wagner, Oper und Drama, S. 149. Zu Wagners Auffassung des Mythos als unbewusste Schöpfung des Volksgeistes und zu seiner Ablehnung der schriftlichen Überlieferung siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagner, S. 182 f.
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diesem Vortrag darauf abzielt, zu zeigen, dass Wagners Musikdrama eine Aktualisierung der attischen Tragödie darstellt, beinhaltet seine Beweisführung Argumente und Wertungen, die nicht immer mit jenen des Meisters übereinstimmen. Nietzsches hohe Einschätzung der Musik im Drama hängt mit der prominenten Rolle zusammen, die er dem Chor zuschreibt. Dieser zentrale Gedanke seiner Tragödienschriften ist zugleich einer seiner ältesten. In einer Schularbeit aus der Zeit zwischen April und Mai 1864 über Oedipus rex befindet sich der Paragraph Gedanken über die chorische Musik in der Tragoedie, mit Anwendung auf dieses Chorlied, der folgendermaßen beginnt: Während sich das Drama der Germanen aus dem Epos, aus der epischen Erzählung religiöser Stoffe entwickelt hat, nahm das griechische Drama seinen Ursprung aus der Lyrik, vereint mit musikalischen Elementen (HKG II , S. 374).5
In den ältesten der uns erhaltenen Tragödien des Aischylos habe der Chor noch eine dominierende Stellung eingenommen, allmählich habe freilich die Handlung ihn zurückgedrängt. Dank der musikalischen Elemente konnte der Chor dennoch eine gewisse Bedeutung bewahren, denn letztlich sei es die Musik gewesen, die im Stande war, den eigentlich tragischen Eindruck zu erwecken: Ueber diesen tragischen Eindruck dachten die Griechen anders als wir; er wurde bei ihnen besonders durch die großen Pathosscenen herbeigeführt, breit angelegte Gefühlsergüsse, größtentheils musikalisch, in denen die Handlung nur eine geringe, die lyrische Empfindung dagegen alles war (HKG II , S. 375).
In dieser erstaunlichen, auf Lateinisch, Griechisch und Deutsch verfassten Schrift aus der Jugendzeit in Schulpforta ist nicht nur die Hauptthese von Nietzsches späteren Tragödienschriften bereits enthalten, sondern auch die Verbindung dieser mit der musiktheatralischen Aktualität – eine Verbindung freilich, die Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner bereuen wird. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Musik und Text im von ihm untersuchten Chor findet nämlich der junge Schüler die Gelegenheit, die Oper seiner Zeit zu tadeln, davon aber die „genialen Reformpläne und Thaten R. Wagners“ auszunehmen (HKG II , S. 376). 5 Darauf weist von Reibnitz in ihrem Kommentar hin (von Reibnitz, Ein Kommentar
zu Friedrich Nietzsche, S. 11).
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Aus diesem Gedankengut schöpft Nietzsche über fünf Jahre später beim Verfassen seines Vortrags über Das Griechische Musikdrama. Hier ist nämlich zu lesen, dass die Tragödie „ursprünglich“ „nichts als ein großer Chorgesang“, also eine dichterisch-musikalische Ausdrucksweise gewesen sei (GMD , S. 524 f.).6 Aber auch in den späteren Zeiten sei die Tragödie durch die Eigenschaften des Chors bestimmt gewesen: „Daß der Chor mehrere große Gelegenheiten zu lyrisch-pathetischen Kundgebungen hatte, das ist eigentlich der wichtigste Satz in der Ökonomie des alten Dramas“ (GMD , S. 526).7 Dies führte notwendigerweise dazu, dass die Handlung in der Tragödie sehr „arm“ war, ja dass „im griechischen Drama der Accent auf dem Erleiden, nicht auf dem Handeln ruht“ (GMD , S. 526; 528). Dass diese Ansicht mit den Thesen Wagners in Oper und Drama nicht kompatibel ist, zeigt deutlich Nietzsches folgende Äußerung: Die alte Tragödie war, mit ihr [der Komödie] verglichen, arm an Handlung und Spannung: man kann sogar sagen, daß es auf ihren früheren Entwicklungsstufen gar nicht auf das Handeln das drama abgesehen war, sondern auf das Leiden das páthos (GMD , S. 527).
Nietzsches Verhältnis zu Wagner erweist sich also von vornherein als ein spannungsvolles.8 Freilich ist Nietzsches Vorstellung eines Dramas, das in Wirklichkeit keines war, sondern ein lyrischer Ausdruck von Pathos, paradox. Die heikle Frage nach dem Verhältnis zwischen Chor und Drama in der frühen Tragödie wird kurz nach den beiden Basler Vorträgen durch die Einführung der Dichotomie von Dionysischem und Apollinischem neu aufgerollt, jedoch nicht wesentlich anders beantwortet werden: Hier liegt der Fokus von Nietzsches Tragödientheorie, die zugleich eine Ästhetik der Intermedialität darstellt. Nietzsches Relativierung der Handlung zugunsten des lyrisch-musi kalischen Ausdrucks des Leidens führt dazu, dass er die eigentliche Form der Tragödie beim frühen Aischylos zu erkennen glaubt, bei dem hingegen sämtliche Kommentatoren nur Vorformen sahen, und die all6 Nietzsche notiert im Herbst 1869: „Der Chor herrscht musikalisch vor“ (NL 7, S. 14). 7 In einer Notiz aus dem Herbst 1869 ist zu lesen: „Die Musik als Mutter der Tragödie“ (NL 7, S. 13). 8 In Bezug auf diesen Vortrag schreibt Pfotenhauer: „Zum einen zeigt [Nietzsches
Vortrag] schon die Wirkung der Autorität Wagners und versucht, wenn auch verhalten und ohne direkte Namensnennung, den Zuhörer für dessen ästhetisches Konzept einzunehmen. Zum anderen erweisen sich die dafür verwendeten Argumente bereits als zwiespältig. Sie enthalten Möglichkeiten der Affirmation ebenso wie die Ansatzpunkte für eine spätere Kritik (Pfotenhauer, Die Physiologie der Kunst, S. 136).
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gemein bewunderte Hochblüte der Gattung – sei sie nun bei Sophokles oder bei Euripides – bereits als deren Dekadenz betrachtet.9 Auch die auffällige Tatsache, dass er in seinen Tragödienschriften kaum auf die Inhalte der Dramen eingeht, ist durch diese im Kontext der herkömmlichen Tragödientheorie abweichende Einschätzung zu erklären. Der Umwertung der Teilmomente innerhalb des tragischen „Gesamtkunstwerkes“ entspricht somit die Umdeutung der historischen Entwicklung. Beide Verschiebungen in der Wertung der antiken Tragödie stellen das Ergebnis einer radikalen Kritik an der traditionellen, von Aristoteles’ Poetik geprägten Tragödienexegese dar. Die Perspektive, aus der Nietzsche diese Kritik übt, ist nicht nur für das Verständnis seiner Tragödienschriften wichtig, sondern auch für sein gesamtes Denken, welches von der Reflexion über das Phänomen des Tragischen ausgeht. Sie soll nun im Folgenden rekonstruiert werden. Dafür sind auch die Vorlesungen, die Nietzsche in den Basler Jahren hielt, von großer Bedeutung. Führt Nietzsche zufolge die Einschränkung der vom Chor getragenen musikalischen Komponente zum Niedergang der Tragödie, so erscheint sie in Aristoteles’ Poetik als notwendige Voraussetzung zur Entwicklung einer dichterischen Form, die der Stagirit entgegen der Überzeugung seines Lehrers Platon zu rehabilitieren versucht: Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt.10
Aristoteles zählt in Folge die sechs Teile der Tragödie auf, namentlich „Mythos, Charaktere, Sprache, [Gedankenführung] (diánoia), Inszenierung und [musikalische Komposition] (melopoiía)“. Unter Mythos versteht er die „Zusammenfügung der Geschehnisse“, das heißt, die Handlung. Er lässt auch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass dies „der wichtigste Teil“ sei, denn die Tragödie stelle „nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit“ 9 Nietzsche zufolge sei „der Höhepunkt des griechischen Musikdramas […] Aeschy
lus in seiner ersten großen Periode“, mit Sophokles beginne „der ganz allmähliche Verfall“, bis endlich Euripides „das Ende mit Sturmeseile herbeiführt“ (ST , S. 549). Hier unterscheidet sich Nietzsche auch von den Brüdern Schlegel, die zwar bei Euripides den Verfall der Tragödie, jedoch deren Höhepunkt bei Sophokles orteten. Über die Tragödienauffassung der Brüder Schlegel siehe Behler, „A. W. Schlegel und die Damnatio des Euripides im Neunzehnten Jahrhundert“. Ausführlich dazu im nächsten Kapitel. 10 Aristoteles, Poetik, 1449a 15 – 20.
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dar. Die Handlung sei „Ziel“ der Tragödie und somit auch deren wesentlicher Teil, ohne welchen sie nicht zustande kommen könnte.11 Demgemäß werden ihr in der Poetik sieben Kapitel gewidmet (7 – 14). Charaktere (Kap. 15), Gedankenführung (Kap. 19) und sprachliche Form (Kap. 19 – 22) folgen mit Abstand, während die hierarchisch untergeordnete Musik, wie übrigens die Inszenierung, gar nicht behandelt wird. Aristoteles geht in seiner Wertung so weit, dass er sich die Tragödie als Lesedrama gut vorstellen kann: „Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“.12 Gegen diese Auffassung äußert sich Nietzsche in seinem Notizheft (Winter 1869 – Frühjahr 1870) unmissverständlich: Gegen Aristoteles, der die ópsis [Inszenierung] und das mélos [Melodik, Musik] nur unter die hedýsmata [Zutaten, Gewürze, metaph. für Nebensachen] der Tragödie rechnet: und ganz bereits das Lesedrama sanktioniert (NL 7, S. 78).13
Wie Barbara von Reibnitz hervorhebt, können Nietzsches Tragödienschriften „insgesamt als Gegenentwurf gegen die aristotelische Poetik gelesen werden“.14 Nietzsches auffällige Ablehnung der philologischen Methode erscheint als Absage an die Reduktion der attischen Tragödie auf die Textüberlieferung, welche die alexandrinischen Philologen ausgerechnet in der Zeit des Aristoteles zu systematisieren und kanonisieren begannen. Im bereits erwähnten Basler Vortrag über das griechische Musikdrama schreibt Nietzsche: Ich behaupte nämlich, daß der uns bekannte Aeschylus und Sophokles uns nur als Textbuchdichter, als Librettisten bekannt sind, das heißt daß sie uns eben unbekannt sind. Während wir nämlich im Bereich der Musik über das gelehrte Schattenspiel einer Lesemusik längst hinaus sind, ist im Gebiete der Poesie die Unnatürlichkeit der Buchdichtung so allein herrschend, daß es Besinnung kostet, sich zu sagen, in wie fern
11 Ebd., 1450a. 12 Ebd., 1450b 18. 13 Siehe auch Nietzsche, Geschichte der griechischen Litteratur, S. 328:„[Aristoteles]
geht von der Lesetragödie aus zur Beurtheilung der tragischen Kunst u[nd] meint, Aufführung Aktion Musik usw. sei nebensächlich, Zuthat, oder hédysma“. 14 Reibnitz, „Vom ,Sprachkunstwerk‘ zur ,Leseliteratur‘“, S. 62. Reibnitz bezieht sich auf die Geburt der Tragödie, aber ihr Befund kann auf die früheren Schriften erstreckt werden. Ähnlich äußert sich Enrico Müller dazu: „Die Geburt der Tragödie lässt sich in weiten Teilen als geradezu systematisch antiaristotelische Tragödientheorie beschreiben“ (Müller, „,Aesthetische Lust‘ und ,dionysische Weisheit‘“, S. 137).
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wir gegen Pindar Aeschylus und Sophokles ungerecht sein müssen, ja weshalb wir sie eigentlich nicht kennen (GMD , S. 517).
In den Aufzeichnungen für die im Sommersemester 1871 gehaltene Vorlesung zur Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben ist zu lesen: Da die Überlieferung gewöhnlich die Schrift ist, so müssen wir wieder lesen lernen. Wir müssen wieder lesen lernen: was wir, bei der Übermacht des Gedruckten, verlernt haben. Dabei ist die Hauptsache, zu erkennen, daß für die antike Litteratur Lesen nur ein Surrogat oder eine Erinnerung ist. Die Tragödien zB. sind keine Lesedramen.15
Am Beginn der späteren Vorlesung über die Geschichte der griechischen Litteratur (WS 1874 – 75) gibt Nietzsche eine begriffliche Erläuterung, in der die Anwendung des Literaturbegriffes für die griechische Antike als anachronistisch abgelehnt wird: Das Wort ,Litteratur‘ ist bedenklich und unterhält ein Vorurtheil. Ähnlich wie es der alte Fehler der Grammatik war, vom Buchstaben und nicht vom Laute auszugehen, so ist es der alte Fehler der Litteraturgeschichte, zuerst als Schriftenthum eines Volkes und nicht an das kunstmäßige Sprachthum zu denken d. h. von einer Zeit auszugehen, in welcher das sprachliche Kunstwerk vom Leser allein genossen wird. Nun sollte man aber gerade von dem werthvollsten Theile der griech. Litt. den Gedanken an Schreiben und Lesen möglichst fern halten […].16
Damit führt Nietzsche in die Betrachtung der antiken „Litteratur“ eine zweifellos modern anmutende Unterscheidung zwischen literarischer und unliterarischer Kultur ein. Diese ist mit einem bloßen Gegensatz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit nicht zu verwechseln: […] nicht daß die Schrift gefehlt hätte – aber sie diente nur dem sprachlichen Künstler, der erst als sprechender oder singender vor das Publikum trat.17
Am Beginn des dritten Teiles der Vorlesung, den er im folgenden Wintersemester 1875 – 76 hielt, stellt Nietzsche eine für seine Be15 Nietzsche, „Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben“, KGW II , 3, S. 373. 16 Nietzsche, „Geschichte der griechischen Litteratur“, KGW II , 5, S. 7. 17 Ebd. Noch in seinen letzten produktiven Jahren hielt Nietzsche an diesem Gedanken fest, siehe JGB , § 247.
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trachtung der griechischen Literatur grundlegende These auf: Die „Bildung der neueren Zeit“ beruhe auf dem Lesen und sei daher als eine literarische zu bezeichnen. Nun sei aber die „klassische Litteratur der Griechen“, welche die moderne Bildung in einem so wesentlichen Ausmaß prägt, „Erzeugniß einer unlitterarischen Bildung“ gewesen.18 Die „klass[ische] Litt[eratur] d[er] G[riechen]“ sei nicht Text, sondern „wie [die Kunst] des Mimen, für den Augenblick gemeint, für den gegenwärtigen Hörer u[nd] Zuschauer“. Zugleich sei „sie jedesmal eine Verknüpfung von Künsten, mindesten die der Aktion u[nd] Deklamation, sonst aber Musik, Gesang, Orchestik“ gewesen.19 Nach einigen Gedanken über die lähmende Wirkung der Tradition auf die Produktion, die Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) zu dieser Zeit bereits ausführlich dargestellt hatte, kommt er zu einem weiteren Aspekt, der neben dem Ereignischarakter und der Verbindung der Künste die „klassische Litteratur der Griechen als Erzeugniß einer unlitterarischen Bildung“ auszeichnet, nämlich dem „Verband zwischen Dichtung Anlaß u[nd] Publikum“.20 Selbstverständlich war Nietzsche bewusst, dass das altgriechische Wort musiké nicht dem modernen Begriff „Musik“ entspricht, sondern die multimediale Konstellation von Dichtung, Musik und Tanz meinte. Ebenso gut wusste Nietzsche, dass der Terminus chorós bei Homer, Pindar sowie allgemein in der griechischen Tragödie „Gesang mit Reigentanz“ bedeutet.21 Im dritten Teil der Vorlesung über die Geschichte der griechischen Litteratur gibt er Einblicke in die kultischen Ursprünge der griechischen Dichtung. Die diesbezüglichen Thesen sind in unserem Zusammenhang bedeutend, weil Nietzsche zufolge die Verbindung zwischen Sprache, Rhythmus, Musik und Tanz im Ritual zustande kommt. Die Entstehung der Dichtung und deren multimediale Ausprägung in der musiké sind also laut Nietzsche durch die kultischen Handlungen bedingt: Die ältesten Anlässe zur Entstehung von Poesie sind die gleichen Anlässe, bei denen man die Anwendung von Musik u.[nd] deren Rhythmus für 18 Nietzsche, „Geschichte der griechischen Litteratur“, KGW II , 5, S. 275. 19 Ebd., S. 278. Ausführlicher dazu und zur Rekonstruktion der Kritik Nietzsches am
Literaturbegriff von der Studienzeit in Leipzig über die Tragödienschriften bis zu den Vorlesungen der Jahre 1875 – 1876 siehe Reibnitz, „Vom ,Sprachkunstwerk‘ zur ,Leseliteratur‘“. 20 Ebd., S. 278. 21 Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen, S. 37. In die nächsten Abschnitte sind Gedanken und Formulierungen eingeflossen, die ich bereits in Celestini, „Nietzsches Philologie des Tanzes“, publiziert habe.
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nöthig befand. Wozu wandte man nun Musik u.[nd] Rhythmus an? Zur (magischen) Einwirkung auf die Götter im Cultus oder außer dem Cultus, nachdem man ihre Wirkung u.[nd] Gewalt auf die Menschen gelernt hatte.22
Somit sind wir im Herz des Performativen angelangt, nämlich dort, wo Nietzsche die Ursprünge der Dichtung sieht: „Also dies sind die ursprüngl.[ichen] Anlässe zu dem, was man später Litteratur nennt: wenn man eine Handlung durch einen rhythm[ischen] Spruch magisch fördern will […]“.23 Der Tanz gehört ebenfalls zu diesem kultischen Zusammenhang: Ganz in gleicher Weise, wie wir hier den Rhythmus auf die Rede übertragen sehen, um die Wirkungen, die der Musik eigenthümlich sind, zu steigern, ist der Rhythmus auch auf die körperliche Bewegung übertragen worden. Man vergißt gar nicht leicht die ursprüngl.[iche] magische Wirkung aller Tänze; man glaubt durch Stampfen des Bodens mit den Füssen die Götter herbeizurufen.24
Die kultischen Ursprünge der Dichtung manifestieren sich auch darin, dass der enthusiastische Zustand der Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Kultus demjenigen entspricht, in dem die Dichter und Dichterinnen ihre Lieder dichten. Diesbezüglich kann Nietzsche sich auf Platon berufen, der in Ion einen solchen Vergleich anstellt (Ion, 534a). Nietzsches Übersetzung dieser Stelle lautet folgendermaßen: 22 Nietzsche, „Geschichte der griechischen Litteratur“, KGW II , 5, S. 283 f. In einer
Fußnote fügt Nietzsche hinzu: „Grund zur Verknüpfung von Wort und Musik (Poesie). Die Lyrik ist die älteste Poesie: ihre älteste Bestimmung eine religiöse. (Wo ist Poesie u.[nd] Musik in eine so enge Verbindung gerathen? Im Cultus. Und warum?) Hier ist die Musik u.[nd] der Tanz mit ihr zusammengekommen: hier der Rhythm[us] in die Folge von Worten u.[nd] Sylben absichtlich hineingelegt“ (ebd., S. 283). Noch in Die fröhliche Wissenschaft (1882) hält Nietzsche an dieser These fest: „Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtnis behält, als eine ungebundene Rede […]. Vor allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören von Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht nach dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um“ (FW , S. 440). 23 Ebd., S. 287. 24 Ebd.
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[G]erade wie die von Korybantentaumel Überfallenen nicht mit klarer Besinnung ihre Tänze u[nd] Sprünge machen, so dichten auch die guten lyrischen Dichter nicht mit solcher ihrer schönen Lieder, sondern wenn die Gewalt der Harmonie u[nd] der Rhythmen über sie kommt[.]25
Der „dionysische“ Zusammenhang dieser Stelle wird noch klarer, wenn man die darauf folgenden Sätze, diesmal in der Übersetzung von Hellmut Flashar, liest: [die Liederdichter schwärmen], und zwar in Besessenheit, wie die Bacchantinnen aus den Flüssen Milch und Honig schöpfen, wenn sie im Zustand der Ergriffenheit, nicht aber, wenn sie bei Besinnung sind, so vollzieht sich das auch in der Liederdichter Seele, wie sie auch selbst sagen.26
Im Dialog Ion spricht der platonische Sokrates dem gleichnamigen Rhapsoden jegliche technische Kompetenz bei der Ausübung seiner Tätigkeit ab. Wie bereits der Dichter, welcher „nicht eher in der Lage zu dichten [ist], bevor er in göttliche Begeisterung geraten und von Sinnen ist und der Verstand nicht mehr in ihm wohnt“,27 sei der Rhapsode nicht von Wissen, sondern von einer geheimen Kraft, einer göttlichen Besessenheit bewegt. Die Dichtung sei deshalb keine téchne und ließe sich von keiner Theorie erfassen, weil sie eine autonome Macht freisetzt, die darin besteht, die identifikatorischen Grenzen zu überschreiten. Offensichtlich beklagt hier Platon die von ihm als störend empfundene Nähe zwischen Dichtung und Ritual, welche sich darin manifestiert, dass erstere auf keiner rationalen und rationalisierbaren Basis erfolgt, sondern im rituellen, performativen, durch Besessenheit und Enthusiasmus geprägten Bereich des Kultus verblieben sei. Nietzsche ließ diese Einsichten in die kultischen Ursprünge der Dichtung und in den multimedialen Charakter der musiké in seine kulturtheoretische Deutung der alten und modernen Kulturen einfließen.28 Mehr noch: Er leitete daraus eine performative Auffassung der 25 Ebd., S. 284 f. 26 Platon, Ion, 534a. 27 Platon, Ion, 534b. In Bezug auf Die Geburt der Tragödie siehe Schmidt, Der ethische
Aspekt der Musik, S. 86.
28 Mehrmals hebt Nietzsche hervor, dass die mündlichen Traditionen, deren Nieder-
schlag die Schrift darstellt, durch die textkritische Methode der Philologie nicht erfasst werden können. Daher vermag die Philologie keine Einsicht in die Anfänge und frühen Entwicklungen der griechischen Dichtung und Kultur zu gewinnen. Nietzsche formulierte bereits im Jahr 1869 anlässlich seiner Basler Antrittsvorlesung „Homer und die klassische Philologie“ diese Kritik an die Altphilologie seiner Zeit
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Sprache und des Denkens ab, auf der seine Kulturphilosophie gründet. Wertvolle Einblicke in Nietzsches „Labor“ bieten die Vorlesungen über griechische Metrik und Rhythmik, die er in Basel im Wintersemester 1870 – 71 hielt, sowie weitere Schriften über das Thema, die aus diesen Vorlesungen hervorgegangen sind.29 Die erkundete Einheit von Wort, Rhythmus und Bewegung in der altgriechischen Dichtung dient Nietzsche als Vorbild für die eigene Rhetorik und darüber hinaus für seine Leib-Philosophie. Nietzsches Hauptanliegen in seinen Studien über den Rhythmus in der antiken Dichtung besteht darin, die quantitierende Metrik in ihrer Besonderheit zu begreifen, ohne Vorstellungen von der späteren Akzentrhythmik auf diese zurückzuprojizieren. Denn im Unterschied zu manchen Altphilologen seiner Zeit wie etwa Rudolf Westphal, die das Gefühl für den Rhythmus als eine anthropologische Konstante ansahen,30 vertritt Nietzsche eine historisierende Betrachtungsweise, nach der tiefgreifende Differenzen in der Auffassung des Rhythmus und in der Hörweise unterschiedlicher Epochen angenommen werden.31 Durch die Analyse des Sprachgebrauchs versucht er, Einblicke in die ursprüngliche Auffassung der Altgriechen zu gewinnen. Dabei stellt er fest, dass die wichtigsten Termini poús (Fuß), thésis (Senkung) und ársis (Hebung) aus der Orchestik, nämlich aus der Tanzkunst stammen. Die beiden letzten Ausdrücke beziehen sich somit auf die Bewegung der Füße beim Gehen und beim Tanzen. Eben durch den Tanz, der „kein Wirbeltanz war, sondern ein schönes Gehen“, „regelte [der Sänger] sich (KGW II , 1, S. 247 – 269). Im Sommersemester 1871 hielt er in Basel eine Vorlesung über die „Encyclopaedie der klassischen Philologie“, in der neben einer Einführung in die Geschichte, Methodologie und in die wichtigsten Themenbereiche der Disziplin wiederum kritische Bemerkungen zu finden sind (KGW II , 3, S. 339 – 437). Im Wintersemester 1874/75 begann Nietzsche eine dreiteilige Vorlesung über die „Geschichte der griechischen Litteratur“. In der Einleitung des ersten Teils merkt er an, dass die klassische Philologie einen Literaturbegriff anwendet, der der griechischen Antike fremd ist (KGW II , 5, S. 7). Anfang 1875 plante er eine Schrift mit dem Titel „Wir Philologen“, in der er sich kritisch mit der positivistischen Philologie seiner Zeit auseinandersetzen wollte. Die Notizen zu diesem nicht mehr durchgeführten Projekt befinden sich in NL 8, S. 9 – 127. Siehe zu Nietzsche und die klassische Philologie seiner Zeit Emden, „Sprache, Musik und Rhythmus“. 29 In einem späteren Brief an Carl Fuchs weist Nietzsche darauf hin, dass er das Jahr 1871 „in der erschrecklichen Lektüre der griechischen und lateinischen Metriker verbracht“ hatte (SB 7, S. 177 f.). 30 Westphal, Die Fragmente und die Lehrsätze der griechischen Rhythmiker, S. VII . 31 Siehe dazu Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 2. Zu Nietzsches Studien über die Rhythmik und zu seiner Kritik an den zeitgenössischen Deutungen derselben siehe Bornmann, „Nietzsches metrische Studien“.
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selbst“.32 Die philologische Auseinandersetzung mit den griechischen und lateinischen Metrikern bringt Nietzsche dazu, die prägende Rolle der körperlichen Bewegung für die metrische Gestaltung der poetischen Sprache zu entdecken: Bei den Griechen ist das begleitende Gedicht feiner nach den Bewegungen ausgeprägt, dh. Aufheben und Niedersenken des Fußes hat entsprechenden metrischen Ausdruck – – | – – | – – | Nun ist jede Geste in der metrischen Symbolik wieder belebt durch ∪ –, so dass jetzt auch die metrische Folge etwas Sprungartiges bekommt.33
Die Differenzen zwischen kurzen und langen Silben sind nicht erst durch die Dichtung eingeführt, sondern bereits in der Sprache angelegt.34 Es ist aber die „Poesie, welche die vorhandene Sprache nach rhythmischen Proportionen betrachtet und ein Gefühl dafür fest macht“.35 Durch diese in der Sprache angelegte, dichterisch gestaltete Differenz der Zeitproportionen wird die körperliche Bewegung des Tanzens rhythmisch belebt, zugleich wird der Rhythmus der Sprache durch den Tanz verkörpert und als Bewegung in den Raum projiziert. Die Höhenverhältnisse der Melodie stellen eine zusätzliche Projektionsebene dar, wobei die Einheit von Dichtung, Musik und Tanz ihren Zusammenhalt im Rhythmus findet. Der Rhythmus bewirkt nicht nur die Koordination der drei Dimensionen der musiké, sondern auch die Verbindung zur Physiologie des Menschen: Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen. Der Einfluß des Rh.[ythmus] scheint mir eine unendlich kleine Modifikation jener rhythm.[ischen] Bewegung zu sein.36
Es verwundert daher nicht, dass Nietzsche daran dachte, auf dieser Basis eine „Philosophie des Rhythmus“ zu entwickeln.37 32 Nietzsche, „Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik“, KGW II , 3, S. 270. 33 Nietzsche, „Rhythmische Untersuchungen“, KGW II , 3, S. 289. 34 Ebd., S. 331: „[…] die Positionsgesetze sind nicht dichterische Willkür, sondern in
der Sprache verborgen“.
35 Ebd., S. 309. Friederike Felicitas Günther hebt den ästhetisch-dichterischen Cha-
rakter in Nietzsches Auffassung des Rhythmus entgegen einer vermeintlichen Naturhaftigkeit desselben hervor, siehe dies., Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 7 – 15. Die Betonung der artistischen Gestaltung beim symbolischen Ausdruck unterscheidet Nietzsche von den Apologeten des Irrationalismus wie etwa Alfred Baeumler. 36 Nietzsche, „Rhythmische Untersuchungen“, KGW II , 3, S. 325. 37 Ebd., S. 309.
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Dieses Projekt blieb zwar unausgeführt, dennoch zehrt Nietzsches spätere „Philosophie des Leibes“ von der Auffassung des Rhythmus als Bindeglied zwischen Sprache, Körper und Denken. Die philologische Einsicht in die innerhalb der griechischen Sprache wirksamen „Zeitverschiedenheiten“ hat tiefgreifende Konsequenzen für die Auffassung von Sprache als Performanz, da der Rhythmus in den Signifikanten lebt. Diese erscheinen somit nicht länger als bloße, an sich unbedeutende Träger der Bedeutung, sondern als sinnstiftende Manifestation eines vitalen, physiologischen Prinzips. Behauptet die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts den Vorrang des Geistes über den Buchstaben, so führt Nietzsches Auseinandersetzung mit der altgriechischen musiké zur Aufwertung der Signifikanten als Träger jenes rhythmischen Impulses, welcher durch den tanzenden Körper die Verbindung zwischen Sprechen und Leben herstellt. Der Aufstellung eines Kanons von Lesewerken für die moderne literarische Bildung setzt Nietzsche eine Betrachtungsweise entgegen, die man „wohl im florierenden Bereich der Kulturwissenschaften situieren“ könnte.38 Diese geht einerseits von der Einbettung der Tragödie und darüber hinaus von der gesamten griechischen Dichtung in einen rituellen Zusammenhang aus und versucht andererseits deren multimedialen Charakter gegen die Reduktion auf bloße Schriftlichkeit hervorzuheben. Beide Perspektiven führen dazu, dass die Dimension des Performativen, welche in der durch Aristoteles geprägten Tradition der Tragödienexegese vollkommen ausgeblendet wurde, ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird. Das betrifft auch die Rolle der Zuschauer. Durch seine kulturanthropologisch erweiterte Betrachtungsperspektive erscheinen nun diese Nietzsche nicht länger als passive Objekte einer Wirkung, sei diese kathartischer oder anderer Art, sondern als mitwirkende Akteure in einem performativen Kontext. In den Aufzeichnungen für die im Sommersemester 1870 gehaltene Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles ist zu lesen: Weihvoll war die Stimmung des Zuhörers: es war ein Cultus. Ursprünglich waren alle Mitspieler gewesen (KGW II 3, S. 18)
Bereits im Vortrag über das griechische Musikdrama warnt Nietzsche davor, den Zuschauer der attischen Tragödie mit dem modernen, sich passiv verhaltenden Theaterbesucher zu verwechseln:
38 Müller, „,Aesthetische Lust‘ und ,dionysische Weisheit‘“, S. 141.
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[Der Zuschauer] war kein fatiguirtes allabendliches Abonnements publikum, das mit müden abgehetzten Sinnen zum Theater kommt, um sich hier in Emotion versetzen zu lassen (GMD , S. 522).
In der Geburt der Tragödie nimmt Nietzsche diesen Gedanken auf und entwickelt ihn in polemischer Absetzung zur Auffassung August Wilhelm Schlegels, wonach der Chor „der idealische Zuschauer“ sei. Dabei hebt Nietzsche die aktive Teilnahme der Zuschauer in einer Weise hervor, dass Schlegels Ansicht vollkommen umgedreht wird. Nicht der Chor sei der idealisierte Zuschauer, sondern dieser ein Choreut: Der Chor ist der ,idealische Zuschauer‘, insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die gesamte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen (GT , S. 59).
Nietzsche sah bald ein, dass seine Absicht, die griechische Tragödie gegen die aristotelische Tradition in ihrem kultischen und performativen Kontext zu betrachten, nicht nur eine neue methodische Profilierung der philologisch verfahrenden Texthermeneutik gegenüber darstellte, sondern eine kulturphilosophische Wende bedeutete. Seine wachsende Unzufriedenheit mit seiner Funktion als Professor für klassische Philologie und die damit verbundene Hinwendung zur Philosophie zeugen davon. Die aristotelische Reduktion der attischen Tragödien auf Lesedramen ist für Nietzsche mehr als eine durch die ausschließliche Fixierung auf die Schriftlichkeit herbeigeführte Beengung eines Kulturphänomens. Sie sei selbst Ausdruck eines neuen Menschentyps, den er „theoretischen Menschen“ nennt und dessen früheste historische Manifestation er im „sokratischen Rationalismus“ erkennt (GT , S. 98). Nietzsche sieht in der Degradierung der attischen Tragödie zur bloßen Textüberlieferung das Produkt einer „alexandrinischen“ Kultur, welche das „Wissen“ ins Zentrum stellt und das „Tragische“ verdrängt. Sein Interesse gilt nun dem, was durch diesen Prozess der Rationalisierung, die als Literarisierung ihren logozentrischen Charakter deutlich zeigt, verloren ging.
2. Euripides und die Musik
S
okrates wird häufig sowohl in der literarischen Überlieferung als auch in der bildenden Kunst mit dem weisen Silen in Verbindung gebracht.1 Dies deutet auf eine Spannung zwischen den widerstrebenden Eigenschaften des rationalen Denkens und des naturhaft-instinktiven Handelns hin, welche allerdings sowohl von Platon als auch von Nietzsche durch die einseitige Hervorhebung des Dialektikers – sei es zum Zweck der Apologie oder der Ablehnung – vollkommen ausgelöscht wird. In Platons Gastmahl erscheint der trunkene Alkibiades zusammen mit einer Aulosspielerin beim Symposion im Haus des tragischen Dichters Agathon und beginnt den dort anwesenden Sokrates zu preisen, indem er dessen Ähnlichkeit mit dem Satyr Marsyas feststellt: Ich behaupte nämlich, am ähnlichsten sei er jenen sitzenden Silenen in den Werkstätten, welche die Bildhauer mit Syrinx und [Aulos] in der Hand darstellen […]. Und wieder behaupte ich, er gleiche dem Satyr Marsyas.2
Alkibiades scheint zunächst auf die erwähnte Tradition anzuspielen, wonach Sokrates als weiser Silen dargestellt wird. Der Vergleich geht jedoch wohl über diese Anspielung hinaus, da Alkibiades die rhetorische Frage stellt, ob Sokrates nicht auch etwa als Aulet dem Marsyas gleiche.3 Der mythologischen Überlieferung zufolge wagt der Satyr Marsyas, Apollo und dessen feine Kithara mit seinem Aulos herauszufordern. Sein virtuoses Spiel beeindruckt zunächst die als Jurorinnen wirkenden Nymphen, welche sich nach dem Auftritt beider Kontra1 Siehe dazu Scheibler/Zanker/Vierneisel, Sokrates in der griechischen Bildniskunst
bzw. Martens, Sokrates, S. 24 – 45. Die Silenen waren nach den älteren Mythen „zunächst Naturdämonen, halb Mensch, halb Pferd, mit starker Behaarung, tierischem Gesichtsausdruck, Pferdeschweif und Tierohren“, wurden aber im Laufe der Zeit „zusammen mit den Mänaden und Satyrn dem Gefolge des Dionysos zugesellt und schließlich mit den Satyrn gleichgesetzt“ (Martens, Sokrates, S. 30). Herodot, Neun Bücher der Geschichte, VII , 26 nennt Marsyas „Silen“. 2 Platon, Das Gastmahl, 214D. 3 Ebd. Ähnlich in Platon, Phaidon, 61a. Hier behauptet Sokrates, dass die Philosophie die vortrefflichste Musik sei.
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Euripides und die Musik
henten nicht entscheiden können, wer von ihnen besser spielte. Als Apollo jedoch verlangt, die Instrumente umzudrehen, erringt er listig den Sieg, da der Aulos Marsyas diese Änderung der Spielweise nicht erlaubt. Letzterer wird als Verlierer des Wettkampfes grausam bestraft: Der Satyr hängt gefesselt kopfüber mit den Bocksbeinen an einem Baum und wird von Apollo bei lebendigem Leib geschunden.4 Sokrates’ äußerliche Ähnlichkeit mit den Silenen5 sowie seine sagenhafte Trinkfestigkeit, welche im Gastmahl ebenfalls gepriesen wird, sind die Elemente, die Platon nützt, um eine scheinbare Affinität zu evozieren und dadurch die Dominanz der rationalen Unterredungskunst über den Satyr und dessen naturhafte Weltbetrachtung noch wirksamer zu inszenieren: Der platonische Sokrates schmückt sich mit den Zügen des geschundenen Marsyas wie der Sieger mit den Kennzeichnen des Besiegten. Nietzsche macht den „sokratischen“ Rationalismus für den Verfall der Tragödie und derjenigen Kultur verantwortlich, die diese als die eigenste künstlerische Ausdrucksweise hervorbrachte. In der Hauptfigur der platonischen Dialoge sieht er weder den „wirklichen“ Sokrates noch eine Erfindung Platons, sondern die Verdichtung des Einflusses, welcher ersterer auf den jüngeren Philosophen ausgeübt habe. Die Bewunderung Platons schlägt bei Nietzsche zunächst in eine tief empfundene Empörung um. Dabei kann er sich an Aristophanes anlehnen, der in den Wolken (um 423 v. Chr.) Sokrates verspottet, so wie er später in den Fröschen (405 v. Chr.) Euripides veralbern wird.6 Der Tragiker und der Philosoph sind in Nietzsches Sicht zutiefst verbunden: Um Euripides liegt dagegen ein modernen Künstlern eigenthümlicher gebrochener Schimmer: sein fast ungriechischer Kunstcharakter ist am kürzesten unter dem Begriff des Sokratismus zu fassen. „Alles muß bewußt sein, um schön zu sein“ ist der euripideische Parallelsatz zu dem sokratischen „alles muß bewußt sein, um gut zu sein.“ Euripides ist der Dichter des sokratischen Rationalismus (ST , S. 540).
4 Die ausführlichste Fassung des Mythos findet sich in Diodoros, Bibliotheke, 3, 59, f.;
siehe auch Apollodor, Bibliotheke, 1, 4, 2; Hygin, Fabulae, 165; Ovid, Metamorphosen, 6, 382 ff. 5 Nietzsche dazu: „[…] das silenenhafte äußere Wesen des Sokrates, seine Krebsaugen, Wulstlippen und Hängebauch […]“ (ST , S. 544). 6 Die Verspottung des Sokrates und dessen Kreises war nicht nur bei Aristophanes ein beliebtes Thema, sondern bei den meisten Komödiendichtern der Zeit. Siehe dazu u. a. Seel, „Nachwort“, S. 128 – 130.
Euripides und die Musik
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Die Sokrates-Kritik Nietzsches ist wie jede Vernunftkritik der Gefahr ausgesetzt, reaktionäre Inhalte mitzutragen oder dafür instrumentalisiert zu werden. Dies betrifft bekanntlich dessen gesamte Philosophie. Aristophanes’ satirische Verspottung des Sokrates ist ebenso durch wertkonservative Vorstellungen getragen – was Nietzsche selbst anmerkt: „Die Anhänger der ,guten alten‘ Zeit pflegten den Namen des Sokrates und des Euripides als der Volksverderber in einem Athem zu nennen“ (ST , S. 540). Bei aller Gegensätzlichkeit in der Einschätzung des Phänomens Sokrates stimmt Aristophanes – wie die meisten Komödiendichter – mit Platon darin überein, die Erneuerungen im musikalischen Bereich, die sich im Laufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. ereigneten, abzulehnen. Ähnlich wie bei Platon wird in Aristophanes’ Wolken die Freude an der musikalischen Überbietung des Tradierten als Ursache des kulturellen Verfalls denunziert und sogar mit sittlicher Unflätigkeit assoziiert: Da lernten die alten Hymnen sie dann, die Beine in züchtiger Haltung: Das „Pallas, die Städtezerstörerin“ und das „fernhindringende Rufen“, Und hielten sich streng an den alten Ton, wie die Ahnen ihn vordem gesungen. Probiert’ aber einer aus Geltungssucht es mit Trillern und Koloraturen, Wie jetzt nach des Phrynis Manier man sie liebt, dies widrig-verschnörkelte Girren, Da bekam er sofort mit dem Stecken was drauf, weil die echte Kunst er verdürbe.7
Der Kitharode Phrynis von Mitylene, im Jahr 456 v. Chr. Sieger in den Panathenäen, wird unter anderem mit der Vermehrung der Saitenzahl auf seinem Instrument und dem Wechsel der Tonarten 7 Aristophanes, Die Wolken, 966 – 971. Es handelt sich dabei um die berühmte An-
tilogie zwischen „Recht“ und „Unrecht“. Siehe dazu Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 8: „[…] Aristophanes verkörpert in seinen Stücken so etwas wie das musikalische Gewissen Athens; die traditionelle Musikerziehung gibt die Ausgangsposition zu einer überaus engagierten Kritik aller kulturellen Ereignisse. Sein ganzes Werk ist durchzogen von gepfefferten Ausfällen gegen die modernistischen Musikverderber; gerügt und karikiert werden beispielsweise ihre gewundenen Koloraturen (nub. 967 ff., Thesmoph. 53), ihre weitläufigen ätherischen Vorspiele (aves 1387 ff.), die stammelnd wirkenden Silbenüberdehnungen (ran. 1314, 1348), das musikalische ,Ameisengekribbel‘ (Thesmoph. 99 f.), Gesangsimitation von Instrumenten (ran. 1285 ff., Plut. 290 ff.)“. Siehe dazu auch Riethmüller, „Musik zwischen Hellenismus und Spätantike“, S. 215.
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(harmoníai ) in Zusammenhang gebracht.8 In der späteren Musikschrift des Pseudo-Plutarch wird ein allegorischer Dialog aus dem verschollenen Stück Cheiron des Komödiendichters Pherekrates (um 430, Autorschaft umstritten) zitiert, in dem die personifizierte Musik sich bei der ebenfalls personifizierten Gerechtigkeit mittels einer Metaphorik der körperlichen Gewalt, die bis zur sexuellen Vergewaltigung reicht, über die „avantgardistischen Komponisten“ und die durch diese erlittenen „Angriffe“ beklagt: Von meinen Unglücksbringern war Melanippides der erste, denn er faßte mich und schwächte mich und machte durch der Saiten zwölf mich windelweich. Ich darf jedoch trotzdem mit ihm zufrieden sein, gedenk ich meiner gegenwärtigen großen Not. Darauf hat Kinesias, der verfluchte Attiker, mit seinen unharmonischen Strophenwindungen mich so geschändet, daß, wie einst im Kriegsheer, so auch in seinen Dithyrambenpoesien zur rechten Hand sich seine linke Seite zeigt. Doch zu ertragen war mir selbst noch dieser Mann. Auch Phrynis hat durch Drehen, wie man Kreisel dreht, und Biegen mich zugrundegerichtet ganz und gar, darstellend auf zwölf Seiten seine Harmonien. Doch auch mit diesem könnt ich noch zufrieden sein, denn was er fehlte, macht’ er später wieder gut. Jetzt aber hat Timotheos aufs schmählichste mich ruiniert, o Freundin […] Er übertrifft weit alle andern, singt Ameisenkribbelein, ganz unerhört verruchte, unharmonische, in hohen Tönen nach der Pickelpfeifen Art, und hat mich gänzlich kurz und klein wie Kohl zerhackt und angefüllt mit üblen Ingredenzien. Und als ich einst allein ging, übermannt’ er mich, entblößte mich und band mich mit zwölf Saiten fest.9
Der musikalische Umbruch des 5. Jahrhunderts v. Chr., von dem diese Stelle eine Genealogie der Vorkämpfer liefert,10 lässt sich folgenderma8 Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 12. Harmon, Phrynis,
Sp. 972 f.
9 Pseudo-Plutarch, De musica, 30. Übersetzung nach Zaminer, „Musik im archai-
schen und klassischen Griechenland“, S. 195.
10 Die „Tondichter“ sind nicht strikt chronologisch, sondern nach dem Lehrer-Schü-
ler-Verhältnis angeführt: Melanippides von Melos war Lehrer von Kinesias
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ßen zusammenfassen: Zum Ersten wird eine Lockerung der metrischen und strophischen Bestimmungen im Dithyrambos eingeführt, der dem zufolge durch das Adjektiv „neu“ in Abgrenzung zum „alten“ qualifiziert wird; ferner werden laufende Übergänge zwischen unterschiedlichen Tonarten und Metren ermöglicht sowie eine Relativierung der gattungsmäßigen Grenzen erzielt; schließlich ist eine Aufwertung des solistischen Gesangs gegenüber dem chorischen festzustellen, was den Aufstieg des Verzierungswesens und des Virtuosentums bedeutete.11 Im vierten Buch des Staates stellt der platonische Sokrates eine Verbindung zwischen musikalischen Neuerungen und politischen Veränderungen her und verurteilt beides aufs Schärfste: Vor einer Musikerneuerung muß man sich hüten, sonst rüttelt man am Ganzen! Nirgends rüttelt man an den [Arten] der Musik (musikês trópoi), ohne an die wichtigsten politischen Gesetze zu rühren – sagt Damon, und ich glaube es ihm!12
Im Unterschied zu Damon, Plutarch zufolge Musiklehrer und Berater Perikles’,13 stand Euripides den musikalischen Erneuerungen seiner Zeit offen gegenüber und zog auch auf diese Weise den Spott der Komödiendichter auf sich. Phrynis’ Schüler Timotheos von Milet (um 450 bis 360 v. Chr.), der nicht zuletzt wegen seiner frechen Einstellung gegenüber der Tradition zum Inbegriff des musikalischen „Revoluti(450 – 390 v. Chr.), während Phrynis Lehrer von Timotheos war. Siehe dazu u. a. Anderson, Music and Musicians in Ancient Greece, S. 127 – 134. 11 Riethmüller, „Musik zwischen Hellenismus und Spätantike“, S. 209. Siehe auch Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“ und II ; Barker, The Musician and his Art, S. 93 – 98; Zaminer, „Musik im archaischen und klassischen Griechenland“, S. 193 – 200. 12 Platon, Der Staat, IV 3, 424c. 13 Plutarch, Perikles, 4, 1 ff., wobei Damon in die Nähe der Sophisten gestellt und seine musikalische Kompetenz als Deckmantel seiner politischen Tätigkeit betrachtet und somit angezweifelt wird. Bei Platon hingegen, der ihn in Laches 180d als „vortrefflichen Mann in der Tonkunst nicht nur“ bezeichnet, sowie in der späteren Überlieferung erscheint Damon als Theoretiker der Ethoslehre in der Musik, die er seinerseits von der pythagoreischen Schule übernommen haben soll. Damon, der angeblich Schüler des Pythagoreer Pythokleides war (Plutarch, Perikles, 4, 1. Platon, Laches 180d nennt hingegen dessen Schüler Agathokles als seinen Lehrer), könnte daher der Mittler zwischen dieser und den späteren Fassungen der Ethoslehre bei Platon und Aristoteles gewesen sein. Jedenfalls beriefen sich die Anhänger dieser Theorie stets auf ihn. Eine angebliche Rede an den Aeropag (Philodemos, De musica IV , 21), in der er seine musikalische Ethostheorie schildert, ist verloren gegangen. Über Damon siehe u. a. Wallace, „Damone di Oa ed i suoi successori: un’analisi delle fonti“; Barker, The Musician and his Art, S. 168 f.
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onärs“ wurde,14 soll mit Euripides befreundet gewesen sein und nach einigen Zeugnissen auch dessen Grabepigramm verfasst haben.15 Auswirkungen des neuen Musikstils auf die späten Werke Euripides’ hat unter anderem Lukas Richter hervorgehoben: Er verwendet dithyramboide, von der Handlung gelöste Chorgesänge und bringt neben und statt des Wechselgesanges von Schauspieler und Chor expressive Sologesänge. Unter seinen Monodien mit durchkomponiertem Bau und potpourriartig wechselnden Metren berührt sich die monströse Arie des phrygischen Sklaven in „Orestes“ v. 1400 bis 1502 auch in ihrer radebrechenden Sprache mit den Klagen gefangener Barbaren der „Perser“ [des Timotheos, siehe Anm. Nr. 14].16
Ausgerechnet ein Euripides-Fragment aus dem Orestes (v. 338 – 344) ist das einzig erhaltene authentische Dokument der „neuen Musik“.17 In Aristophanes’ Fröschen wird Euripides vorgeworfen, im musikalischen Bereich Gattungsgrenzen verletzt, das der Tragödie angemessene hohe Niveau verlassen sowie sinnliche, ungezügelte Musik nach der Art des Aulosspiels eingeführt zu haben: Der hier aber macht überall Anleihen – bei lockeren Mägdlein, Kneipgesängen des Meletos, karischen [Aulos-]dudeleien, Trauerchören und Tanzliedern.18
Die Betrachtungen Richters, die ihrerseits auf den Untersuchungen Egert Pöhlmanns über die griechischen Musikfragmente basieren,19 warfen am Ende der 1960er Jahre auf die musikalischen Erneuerungen im 5. Jahrhundert ein neues Licht und entlarvten die empörte Ablehnung des zeitgenössischen Musikschrifttums als konservative „Mu14 Von ihm sind folgende Verse überliefert (Athenäus, Deipnosophistae, 122c–d): „Ich
singe nicht das Alte, / denn meine Stücke sind besser / Zeus der junge regiert, / einstmals war Kronos Herrscher, / geh fort, alte Musik“ (zit. nach Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 17). Von Timotheos ist 1902 ein Fragment aus dem nomos Die Perser in einem griechischen Grab in Ägypten gefunden worden. Siehe dazu Wilamowitz-Möllendorff, Timotheos. 15 Andere Quellen nennen dafür Thukydides, siehe Wilamowitz-Möllendorff, Timotheos, S. 67 und ebd. Anm. 3. 16 Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 17. 17 Siehe dazu Richter, „Die neue Musik der griechischen Antike II “, S. 134 – 140 und die dort angeführte Literatur. 18 Aristophanes, Die Frösche, 1300 ff. Siehe dazu Georgiades, Der griechische Rhythmus, 85 f.; Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 17 f. 19 Pöhlmann, Griechische Musikfragmente.
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sikideologie“.20 Anhand hellenistischer Musikfragmente, die noch die Merkmale der „neuen Musik“ des 5. Jahrhunderts v. Chr. aufweisen, lässt sich Richter zufolge „der Nachhall der nun schon Jahrhunderte zurückliegenden Neuerungsbewegung vernehmen“ und mithin der allgemeine Trend der hellenistischen Entwicklung, die Steigerung ihrer Ausdrucksmittel, die Perfektionierung des Vortrages, das Abzielen auf Massenwirksamkeit, vor allem aber die Etablierung einer autonomen Tonkunst.21
Angesichts der Verstrickung Euripides’ in die musikalischen Entwicklungen des 5. Jahrhunderts v. Chr. stellt sich die Frage, wie Nietzsche sich in Bezug auf jene empörte Ablehnung der Erneuerungen im Musikbereich verhält, die im zeitgenössischen und im hellenistischen Schrifttum reichlich belegt ist. Die Wirkung jener mächtigen Verurteilung der „neuen Musik“ ist in der Euripides-Kritik der Brüder Schlegel offensichtlich. Dies ist im Hinblick auf Nietzsche insofern von Belang, als dessen Euripides-Kritik vom Herausgeber der August Wilhelm Schlegel-Ausgabe und eine Zeit lang der Nietzsche-Studien Ernst Behler und vom klassischen Philologen Albert Henrichs auf jene der beiden Schlegel zurückgeführt worden ist.22 Nietzsche kannte mit Sicherheit August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die er in Bezug auf die Funktion des Chores in der griechischen Tragödie zitiert.23 Sowohl Behler als auch Henrichs heben die breite und anhaltende Wirkung 20 Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 3: „Umfangreich genug
bieten sich die Testimonien dar, freilich durch Voreingenommenheit getrübt, seien es die extrem polemischen Stimmen der Zeitgenossen, sei es das retrospektive Fachschrifttum klassizistischer Autoren des Hellenismus. So eindrucksvoll Instrumentarium und Musikleben aus den Bildzeugnissen zu uns sprechen, so wird doch die Qualität des Neuen nur aus der Beleuchtung vom Schrifttum her evident, dessen Animosität das Bewusstsein einer Epochenzäsur wachruft“. 21 Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike II “, S. 146. Freilich wirkt die Bezeichnung „autonome Kunst“ für eine musikhistorische Erscheinung des 5. Jahrhunderts v. Chr. anachronistisch. Über die Wirkung der negativen Wertungen der antiken Theoretiker auf die neuere Musikhistoriographie und die paradigmatische Gegenüberstellung von „alter“ und „neuer“ Musik siehe Riethmüller, „Musik zwischen Hellenismus und Spätantike“, S. 207 – 215. 22 Behler, „Sokrates und die griechische Tragödie“; ders., „A. W. Schlegel und die Damnatio des Euripides im Neunzehnten Jahrhundert“; Henrichs, „The Last of Detractors“. 23 In den Vorlesungsaufzeichnungen für das Sommersemester 1870 erwähnt Nietzsche August Wilhelm Schlegel im Zusammenhang mit einer Wende in der Einschätzung Euripides’, siehe ders., „Einleitung in die Tragödie des Sophocles“, S. 45.
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dieses zum ersten Mal im Jahr 1809 veröffentlichten Werks hervor.24 Fraglich ist hingegen, ob Nietzsche Friedrich Schlegels Schriften zur klassischen Literatur kannte, da sie „zu seiner Zeit bereits zu Raritäten geworden waren“ und erst „1882 von Jakob Minor gesammelt und neu herausgegeben wurden“.25 Dessen Ansichten haben allerdings auf den älteren Bruder nachhaltig gewirkt. Obwohl fragmentarisch und verstreut vermitteln Friedrich Schlegels Äußerungen über Euripides ein komplexes Bild, in dem aber deutlich kritische Akzente gesetzt werden. Dies wird bereits in der im Aufsatz Von den Schulen der griechischen Poesie (1794) vorgenommenen Periodisierung der dramatischen Dichtung Athens ersichtlich, bei der Euripides und sein Kritiker Aristophanes gemeinsam die dritte „Stufe“ vertreten: Der Charakter der ersten Stufe ist harte Größe, ein gewaltsames Streben nach dem Höchsten, welches nicht ganz befriedigt wird. Der Schönheit des Äschylus fehlt es an Anmut, seiner Darstellung an Leichtigkeit, seinem Drama an innrer Vollständigkeit; das Tragische hat das Übergewicht über das Schöne. Das höchste Streben des Kunsttriebes (des Genies) erreichte in der zweiten Periode sein äußerstes Ziel, das höchste Schöne; in den Werken des Sophokles verschwindet die vollendete Kunst, und seine Schönheit ist das Maximum der Griechischen Poesie. […]. Das Griechische Genie verlor die Harmonie und versank in der dritten Periode in eine kraftvolle, aber gesetzlose Schwelgerei. Nicht bloß der Mensch, auch die Kunst vergaß ihre Gesetze, und erlaubte Rhetorik und Philosophie einen schädlichen Einfluß auf die Tragödie, wie persönlichen Absichten auf die Komödie. […] Die gesetzlose Schönheit des Euripides und Aristophanes ist hinreißend, verführerisch, glänzend; aber bald folgte auf Schwelgerei in der vierten Periode Ermattung, welche sich nicht mehr über das Feine und Liebenswürdige erheben konnte […]. Die poetische Grazie der neueren Komiker ist die letzte Stufe der Schönheit.26
Zweifellos findet Schlegels Feststellung eines schädlichen Einflusses von Rhetorik und Philosophie auf die Tragödie bei Nietzsche eine Entsprechung. Im Aufsatz Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern aus demselben Jahr bekräftigt Schlegel diese Ansicht: 24 Behler, „A. W. Schlegel und die Damnatio des Euripides im Neunzehnten Jahrhun-
dert“, S. 98 f.; ders., „Sokrates und die griechische Tragödie“, S. 143 f.; Henrichs, „The Last of Detractors“, S. 373 – 376. 25 Behler, „Sokrates und die griechische Tragödie“, S. 143. 26 F. Schlegel, „Von den Schulen der griechischen Poesie“, S. 14 f. Der Aufsatz erschien 1794 in der Berlinischen Monatsschrift.
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Er [Euripides] läßt zum Beispiel seine Personen gern philosophieren, und tut es zu oft; denn nicht selten hört man aus ihnen nur den philosophischen Dichter reden. Er liebte lange, glänzende Reden; sie sind immer schön, aber er verschwendet sie oft am unrechten Orte.27
Diese Einschätzung wird von August W. Schlegel in seine Vorlesungen übernommen: Euripides hatte die Schulen der Philosophen besucht; (er war ein Schüler des Anaxagoras, nicht des Sokrates, wie manche irrig gesagt haben, sondern nur durch Umgang mit ihm verbunden): da setzt er dann eine Eitelkeit darein, auf allerlei Philosopheme anzuspielen […].28
Kurz darauf unterscheidet August W. Schlegel zwei „Personen“ in Euripides, den „Dichter, dessen Hervorbringungen einer religiösen Feierlichkeit gewidmet waren“, und „den Sophisten mit philosophischen Ansprüchen, der mitten unter den mit der Religion verknüpften Wundern […] seine freigeisterischen Meinungen und Zweifel anzubringen suchte“.29 Lessing hatte in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767 – 69) Sokrates als „Lehrer und Freund“ des Tragikers genannt. Dies wurde jedoch von Lessing positiv beurteilt, zumal er, wie es auch sonst im französischen Klassizismus üblich war, Euripides den beiden älteren Tragikern vorzog: Aber den Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat – und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!30
Längst vor den Brüdern Schlegel hatte allerdings Aristophanes die tragische Dichtung des Euripides mit der sophistischen Bewegung gleichgestellt, zu der er auch Sokrates zählte.31 Dies relativiert die Annahme 27 F. Schlegel, „Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern“, S. 61. 28 A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 105. 29 Ebd., S. 105 f. 30 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 49. Stück, S. 254 f. 31 Darauf weist auch August Wilhelm Schlegel mehrmals hin, z. B. AWS SW 9, 203
und Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 102. Siehe dazu auch Behler, „A. W. Schlegel und die Damnatio des Euripides im Neunzehnten Jahrhundert“, S. 90.
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einer Abhängigkeit Nietzsches von den Brüdern Schlegel, denn der wichtigste Punkt, in dem die Euripides-Kritik Nietzsches mit jener der Gebrüder Schlegel übereinstimmt, nämlich die vermeintliche Übernahme des „philosophischen Diskurses“ in die Tragödie und deren negative Beurteilung, wird bereits von Aristophanes, den Nietzsche ausdrücklich zitiert, dargelegt.32 Im Bezug auf die möglichen Quellen für Nietzsches Euripides-Kritik darf ferner Diogenes Laertios nicht unerwähnt bleiben, den Nietzsche gerade in den Jahren seiner Tragödienschriften wiederholt zum Gegenstand philologischer Forschungen gemacht hatte.33 In Diogenes’ allerersten Zeilen seiner Sokrates-Darstellung wird die Verbindung zwischen diesem und Euripides unter Berufung auf mehrere Komödiendichter hergestellt, und zwar derart plakativ, dass Nietzsches Bild des Euripides als eines „sokratischen“ Dichters vorgezeichnet wird: [Sokrates] soll dem Euripides zugearbeitet haben, worauf Mnesilochos hindeutet: „Die Phryger hat als neues Drama ausgekocht Euripides wofür das Feuerholz besorgte Sokrates.“ Und dann: „der mit Sokratischen Nägeln zusammengehaltene Euripides“; auch Kallias in Gefangene: „A: Warum tust du so feierlich und bläst dich auf? B: Das kann ich wohl, denn Sokrates ist Mit-Autor.“ Und Aristophanes: „Der hier macht für Euripides die Trauerspiele, die voll Geschwätz und voll Sophismen sind.“ 34 32 Nietzsche, ST , S. 544: „Wer wird im Hinblick auf die sehr tief greifenden, hier nur
angerührten unkünstlerischen Wirkungen des Sokratismus nicht dem Aristophanes Recht geben, wenn er den Chor singen läßt: ,Heil, wer nicht bei Sokrates sitzen mag und reden mag, nicht die Musenkunst verdammt und das Höchste der Tragödie nicht verächtlich übersieht! Eitel Narrheit ist es doch, auf gespreizte hohle Reden und abstraktes Spintisieren einen müßigen Fleiß zu werden!‘ [Aristophanes, Die Frösche, 1491 – 1499] 33 Nietzsche, „De Laertii Diogenis fontibus“ (1868), KGW II , 1, S. 77 – 167; ders., „Analecta Laertiana“ (1870), KGW II , 1, S. 169 – 190 und ders., „Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes“ (1870). Siehe dazu Barnes, „Nietzsche and Diogenes Laertius“. 34 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, II , 18.
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Behler, der Diogenes Laertios als mögliche Quelle für Nietzsche übersieht, anerkennt die Rolle Aristophanes’ für dessen Euripides-Kritik: Aristophanes war zweifellos das wichtigste Zeugnis für Nietzsches Bild von der griechischen Tragödie. So ergibt sich also auch hier eine Menge an Evidenz, die eine Vorläuferschaft der Brüder Schlegel und eine gemeinsame Textbasis mit Nietzsche in der Theorie des ästhetischen Sokratismus stützen könnte.35
Henrichs hingegen, bei dem das Ressentiment des Philologen gegenüber dem „Renegaten“ Nietzsche über hundert Jahre nach der harten Kritik des jungen Wilamowitz-Möllendorff an dessen erstem Buch noch nicht nachgelassen hat,36 rückt die vermeintliche Abhängigkeit Nietzsches von den Brüdern Schlegel in den Vordergrund und unterschlägt Nietzsches Bezugnahme auf Aristophanes: The negative Euripidesbild created by Aristophanes and reinforced by the younger Schlegel pointed the way for the more painstaking and damaging criticism of the poet by August Wilhelm in his celebrated Vienna lectures of 1808 (published in 1809), which inaugurated, in Ernst Behler’s apt phrase, the nineteenth century’s damnatio of Euripides. The verdict pronounced in these lectures prejudiced the entire world of European letters against the poet. Nietzsche was no exception. His own criticism of Euripides echoes August Wilhelm’s at every turn, but he apparently had no direct access to Friedrich’s earlier thoughts on the three tragedians.37
Henrichs’ pauschale Behauptung, Nietzsches „criticism of Euripides echoes August Wilhelm’s at every turn“, verdeckt wichtige Unterschiede zwischen beiden. Denn trotz der Übereinstimmung im Tadel der Rolle der Philosophie und der Rhetorik in der Tragödie erfolgt die Euripides-Kritik bei Nietzsche aus sehr unterschiedlichen Prämissen und ist auf andere Ziele gerichtet als jene der beiden Schlegel. Auf 35 Behler, „Sokrates und die griechische Tragödie“, S. 145. Weniger vorsichtig äußert
sich aber Behler kurz davor: „Genauer gesprochen ging es Montinari und mir aber um die Beziehung von Nietzsches These über den Tod der alten Tragödie zur romantischen Theorie. Bei dieser Frage darf es heute als eine ausgemachte Tatsache gelten, dass Nietzsche diese These direkt von Wilhelm August Schlegel übernommen hat, der sie seinerseits von seinen Bruder Friedrich aufgriff“ (ebd. S. 144). 36 Siehe Gründer, Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie“. 37 Henrichs, „The Last of Detractors“, S. 373. Siehe auch ebd., S. 384: „The fundamentals of Nietzsche’s case against Euripides are demonstrably derived from Schlegel’s Vienna lectures“. Diogenes bleibt auch bei Henrichs unerwähnt.
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diese Differenzen weist bereits die auffällige Tatsache hin, dass sich die Wertungen der Brüder Schlegel und jene Nietzsches nicht entsprechen. Hatten die ersteren dem im 18. Jahrhundert üblicherweise favorisierten Euripides Sophokles vorgezogen, so betrachtete Nietzsche bereits den späteren Aischylos als Beginn des Verfalls.38 Der wesentliche, für die gesamte Entwicklung von Nietzsches Denken kaum zu überschätzende Unterschied wurde bereits von Bruno Snell hervorgehoben, der, anders als Behler und Henrichs und übrigens lange vor ihnen, zu einer differenzierten Darstellung des Sachverhaltes gekommen war: Bei Nietzsche kehren also die drei Vorwürfe [Schlegels] wieder: der Realismus, der Rationalismus und die Zersetzung. Leicht hört man Schlegel aus seinen Worten heraus, aber dahinter steht wieder Aristophanes; besonders der Gedanke, daß wer bei Sokrates hockt, die Tragödie ruiniert, ist von Nietzsche eindrucksvoll weitergebildet. Nur in einem charakteristischen Punkt unterscheidet sich Nietzsche von Schlegel; Sokrates ist ihm nicht der Immoralist, sondern der Moralist, aber eben als Moralist und theoretischer Geist löst er das Alte, Lebendige und Heilige auf. Moral wird hier zum zersetzenden Gift.39
Im Bezug auf die für die Tragödie auflösende Rolle der Moral unterscheidet sich also Nietzsche sowohl von Aristophanes, als auch von den Brüdern Schlegel, die dem Komödiendichter diesbezüglich fol38 So trifft die Bemerkung Henrichs, Nietzsche habe A. W. Schlegels „romantic
concept“ von Wachstum, Reife und Verfall übernommen, nicht zu (Henrichs, „The Last of Detractors“, S. 380; 381). Nietzsche ging vielmehr von einem Ursprung-Verfall-Modell aus (siehe dazu auch Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 77 – 88). In einem aus den letzten Leipziger Zeiten (Herbst 1868 – Frühjahr 1869) stammenden Text über „Die drei griechischen Tragiker“ setzt Nietzsche dem Modell Entwicklung-Blüthe-Verfall, welches vor allem in Deutschland zur Erfassung der Geschichte der Tragödie geeignet scheinen mag, die Sichtweise der Philologen entgegen, wonach der „Höhepunkt schon bei Aeschylus“ anzusetzen sei, „von dem der Verfall in zwei Stufen abwärts geht“. „Nach dieser Vorstellung“, welche hinsichtlich der Musik bereits Aristoxenos ausgedrückt habe, sei „Euripides noch tiefer gesetzt“. Aristoteles habe hingegen diesen als „den Höhepunkt der dramatischen Entwicklung“ gesetzt (HKGW V, S. 218). Die Formel Wachstum-ReifeVerfall als „romantisch“ zu bezeichnen ist problematisch, da sie bekanntlich, wie Henrichs selbst anmerkt (Henrichs, „The Last of Detractors“, Anm. Nr. 42), von Winckelmann stammt. Henrichs neigt dazu, alles was sich mit Schlegel verbindet, als romantisch zu bezeichnen. So ist auch „the Romantic premise of an organic balance between a dramatic work as a whole and its constituent parts“ (ebd., S. 385) vielleicht doch nicht ganz romantischer Herkunft. 39 Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 133.
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gen. Denn Aristophanes betrachtete Euripides, der ihm zufolge nur Huren und Bettelpack auf die Bühne gebracht hatte, gemeinsam mit den Sophisten, zu denen er ihn zählte, als Verderber der Jugend und Zerstörer des festen staatlichen Gefüges der Tradition.40 Die von Nietzsche bemerkte Funktion der Moral in den Werken Euripides und in der sokratischen Tradition wird von Snell nicht nur betont, sondern als das wesentliche Element betrachtet, um die geistesgeschichtlichen Veränderungen in der griechischen Kultur am Ende des 5. Jahrhunderts zu deuten. Snell zeigt am Beispiel von Medea und Hyppolitos, wie bei Euripides ein „modernes psychologisches, individualistisches Moralbewußtsein“ zum ersten Mal zu Tage kommt. Neu sei daran, dass das „Moralische als rein innere Bewegung, als moralische Hemmung“ auftritt und somit das alte unkritische Festhalten an herkömmlichen Werten in Frage stellt. Und wenn die „Werte problematisch“ werden, dann geht die „seit Solon im Recht gefundene Festigkeit der Attiker verloren, und damit löst sich das dramatische Widerspiel der Kräfte auf in eine Diskussion unter Menschen, denen ihr eigenes Leben fragwürdig wird“. Nietzsches Diagnose, freilich vom negativen Werturteil bereinigt, entspricht durchaus der Darstellung Snells: „So spielt die Tragödie hinüber zum moral-philosophischen Dialog“.41 Die Brüder Schlegel übernehmen die aristophanische und platonische Kritik an den musikalischen Erneuerungen und wenden diese auf Euripides an. Dabei wird dieser immer wieder als unsittlicher Dichter angeprangert. Friedrich Schlegel erklärt dies in einer Anmerkung, die er anlässlich einer Revision seinem Aufsatz Von den Schulen der griechischen Poesie hinzufügt: So ist zum Beispiel Euripides nach jenem künstlerischen Begriff der Alten von Sittlichkeit ein unsittlicher Dichter; weil er gegen die strenge Harmonie fehlt, als dem höchsten Gesetz erhabener Schönheit, und sich ganz von der Leidenschaft hinreißen läßt; wie jene aufschweifende Musik, deren Emporkommen die Pythagoräer und nach ihnen Plato in so vielen Stellen seiner Schriften als ein Kennzeichnen von dem Verfall des Staats und der Sitten bezeichnet.42 40 Aristophanes, Die Frösche, 826 ff. 41 Ebd. S. 142 f. Vgl. dazu Nietzsche GT , S. 94: „Sokrates, der dialektische Held
im platonischen Drama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen verteidigen muss und dadurch so oft in Gefahr gerät, unser tragisches Mitleiden einzubüßen“. 42 F. Schlegel, „Von den Schulen der griechischen Poesie“, S. 27 f. Der Hinweis auf die Pythagoräer ist wahrscheinlich auf Damon zu beziehen, siehe oben Anm. 13. In einem Fragment von 1803 verbindet Schlegel Sophokles mit dem reinen Drama,
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August W. Schlegel entwickelt diesen Vergleich des jüngeren Bruders in einer Fülle von tadelnden Bemerkungen, in denen der Nachhall Platons und des Musikschrifttums jener Zeit nicht zu überhören ist: […] der Stil Euripides ist weich und üppig, ausschweifend in seiner leichten Fülle, er opfert das Ganze glänzenden Stellen auf.43 So hat [Euripides] zugleich das innere Wesen der Tragödie aufgehoben und in ihrem äußeren Bau das schöne Ebenmaß verletzt. Er opfert meistens das Ganze den Teilen auf, und in diesen sucht er wiederum mehr fremde Reize als echte poetische Schönheit. In die begleitende Musik nahm er alle die Neuerungen auf, welche Timotheus erfunden hatte, und wählte die Weisen, welche der Weichlichkeit seiner Poesie am angemessensten waren. Ebenso verfuhr er beim Gebrauch der Silbenmaße; sein Versbau ist üppig und geht ins Regellose über.44 Überall bringt er im Überfluß jene bloß körperlichen Reize an, welche Winckelmann eine Schmeichelei des groben äußeren Sinnes nennt; alles was anregt, auffällt, mit einem Worte lebhaft wirkt, ohne wahren Gehalt für den Geist und das Gefühl. Er arbeitet auf die Wirkung in einem Grade, wie es auch dem dramatischen Dichter nicht verstattet werden kann.45
Diese Ansicht kulminiert in der folgenden Feststellung: Die Beschuldigungen des Plato gegen die tragischen Dichter, sie gäben die Menschen allzusehr der Gewalt der Leidenschaften hin und machten sie weichlich, indem sie ihren Helden übermäßige Klagen in den Mund legten, halte ich mich berechtigt insbesondre auf den Euripides zu beziehen, weil in Bezug auf seine Vorgänger ihr Ungrund allzu einleuchtend wäre.46
Wie die folgende Stelle nahe legt, steht die Euripides-Kritik August W. Schlegels vielmehr der Opernkritik Wagners nahe, welche sie beinahe vorwegnimmt und vielleicht sogar inspiriert, als der Tragödienauffassung Nietzsches:
Euripides aber mit dem „musikalischen Schauspiel“, das heißt mit dem „romantischen“, siehe dazu Behler, „A. W. Schlegel und die Damnatio des Euripides im Neunzehnten Jahrhundert“, S. 87. 43 A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 72 f. 44 Ebd., S. 104 f. 45 Ebd., S. 105. 46 Ebd., S. 102.
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So wird auch auf die allgemeine Angabe hin, die alte Tragödie sei mit Musik und Tanz begleitet gewesen, noch oft die Vergleichung zwischen ihr und der Oper erneuert, welche doch die unpassendste von der Welt ist und von gänzlicher Unbekanntschaft mit dem Geiste des klassischen Altertumes zeugt. Jener Tanz, jene Musik haben mit dem, was bei uns so heißt, nichts als den Namen gemein. In der Tragödie war die Poesie die Hauptsache: alles Übrige war nur dazu da, ihr, und zwar in der strengsten Unterordnung, zu dienen. In der Oper hingegen ist die Poesie nur Nebensache, Mittel, das Übrige anzuknüpfen […]. Diese Anarchie der Künste, da Musik, Tanz und Dekoration durch Verschwendung ihrer üppigsten Reize sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das eigentliche Wesen der Oper.47
Der gravierende Unterschied, der durch Behlers und Henrichs’ These einer Abhängigkeit Nietzsches von den Brüdern Schlegel in Hinsicht auf die Euripides-Kritik unterschlagen wird, ist, dass Friedrich und in seiner Nachfolge August Wilhelm Schlegel ihre Position aus den Schriften Platons und Aristoteles’ her entwickeln, während Nietzsche seine Ästhetik der Antike ausgerechnet in entgegengesetzter Haltung zu diesen formuliert.48 Wenn eine zeitgenössische Beeinflussung angenommen werden soll, dann ist es vernünftiger, eine solche in Wagner zu vermuten, der – wahrscheinlich in Folge seiner Schlegel-Rezeption – bereits 1849 in seinen Aufzeichnungen notiert hatte: „Geburt aus der Musik: Äschylos. Décadence – Euripides“.49 Im ersten Vortrag über Das griechische Musikdrama lehnt auch Nietzsche die von ihm auf Voltaire zurückgeführte Meinung scharf ab, wonach die moderne Oper der alten Tragödie entspreche. Er führt jedoch andere Argumente als Schlegel für seine Zurückweisung an: Das, was wir heute die Oper nennen, das Zerrbild des antiken Musikdrama’s, ist durch direkte Nachäffung des Althertums entstanden: ohne die unbewußte Kraft eines natürlichen Triebes, nach einer abstrakten Theorie gebildet […] (GMD , S. 516).
47 Ebd., S. 59. Man vergleiche diese Stelle mit Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“,
S. 95; Oper und Drama, S. 18 – 21 sowie auf Rossini bezogen ebd. S. 43 f.
48 Siehe zu Nietzsche und Platon u. a. Bremer, „Platonisches, Antiplatonisches“; B robjer,
„Nietzsche’s Wrestling with Plato and Platonism“.
49 Wagner, Grundlegende theoretische Schriften I, S. 227. Diese Meinung hat bereits
Borchmeyer vertreten (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagner, S. 155). Vogel hebt diese Stelle zur Unterstützung seiner These hervor, Nietzsche habe im Grunde nur Gedanken Wagners weitergeführt und nichts Eigenes zustande gebracht. Siehe ders., Apollinisch und Dionysisch, S. 121 f.
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Dort, wo Nietzsche den Vorwurf der Effekthascherei gegen die Oper erhebt, tut er dies überdeutlich aus dem Geiste und mit der Sprache Wagners: Jene vornehmen und gelehrt gebildeten Florentiner, die im Anfange des 17t. Jahrhunderts die Entstehung der Oper veranlaßten, hatten die deutlich ausgesprochene Absicht, die Wirkungen der Musik zu erneuern, die sie im Alterthume, nach so vielen beredten Zeugnissen, gehabt habe. Merkwürdig! Schon der erste Gedanke an die Oper war ein Haschen nach Effekt! (GMD , S. 516)50
Das Ziel seiner Polemik ist aber keineswegs die „Wirkung ohne Ursache“, sondern die „Gelehrsamkeit, das bewusste Wissen und Vielwissen“: Die Geschichte der Musik lehrt es, daß die gesunde Weiterentwicklung der griechischen Musik im frühen Mittelalter plötzlich auf das stärkste gehemmt und beeinträchtigt wurde, als man in Theorie und Praxis mit Gelehrsamkeit auf das Alte zurückgieng (GMD , S. 516 f.).
Nietzsches deutlichste Äußerung über die neue Musik des 5. Jahrhunderts v. Chr. befindet sich in den Aufzeichnungen für die Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles, die er im Sommersemester 1870 hielt. Am Ende des zweiten Paragraphen Die Musik in der Tragödie ist zu lesen: Durch das Überherrschen der Reflexion u[nd] des Sokratism [sic] tritt dann eine Verkümmerung des Dionysischen in der Tragödie ein. Aber eine neue Form der Entwicklung erlebt der Dithyramb außerhalb der Tragödie, nachdem er aus ihr herausgedrängt ist. Hier erreicht er völlig das Saturnalische jener ecstatischen Frühlingsfeste, bei Philoxenos aus Kythera u[nd] Timotheos aus Milet, unterstützt von einer reich entwickelten Instrumentalmusik. Schlußsatz der a-dur Beethovens.51
Die „neue Musik“ wird also für Nietzsche geradezu zur Rettung des aus der Tragödie verdrängten Dionysischen. Das Finale von Beethovens Siebter Symphonie hatte er bereits in einer Notiz aus dem Jahr 1868 als „Bacchisch-orphisch“ bezeichnet.52 Es dient nun in der Vorlesung 50 Ebd.; Wagner, Oper und Drama, S. 98: „Das Geheimnis der Meyerbeerschen
Opernmusik ist – der Effekt“.
51 Nietzsche, „Einleitung in die Tragödie des Sophocles“, KGW II , 3, S. 17. 52 Ebd., S. 17. Im Kunstwerk der Zukunft (1849) hatte Wagner die „über alles herrliche
A-dur-Symphonie“ Beethovens als eine „Apotheose des Tanzes“ und deren Wirkung als eine „bacchantische Allmacht“ bezeichnet (Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“, S. 66).
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dazu, die vermeintliche Wirkung jener antiken Musik zu evozieren. Am Rande fügt Nietzsche noch eine Anmerkung hinzu, in der er sich nicht nur von der Verdammung der „neuen“ Musik vonseiten der Komödiendichter distanziert, sondern diese als „dramatische Nachgeburt“ des Dithyrambus preist: (Philoxenos Timotheus Telestes) Unendliche Erweiterung der Rhythmik u[nd] der Musik. Man darf nicht den Komikern recht geben, die über das Schlechtwerden der Welt klagen. Also es kommt noch eine dramatische Nachgeburt: so unverwüstlich ist der Dithyramb. (Kyklops des Philoxenos) Diese hat ganz den Charakter des Musikdramas: alle dialog[ischen] u[nd] monodischen Partien gesungen.53
Im Aufzeichnungsheft U I 4a (1871) deutet Nietzsche den neuen Dithyrambus als Musikerweiterung und erwähnt auch die platonische Kritik aus den Gesetzen, wobei wiederum diese ins Positive umgekehrt wird: Die unerhörte Musikerweiterung bei den Dithyrambikern gilt zunächst als ein Übermaß der Musik: Bei Pratinas ist nicht wahr, daß er die Herrschaft des Textes über die Musik verlangt, sondern das Überwiegen des Gesanges über die Instrumente. Jene übermächtige Musik der Dithyrambiker suchte nach einer größeren Gattung, in der die verschiedensten Charaktere der Musik nach einander Platz hatten. Sie thaten dies, indem sie, nach Plato, den Threnos den Hymnus usw. in den Dithyramb zogen. Es war jetzt eine mehrtheilige große Musikcomposition, die als Ganzes durch eine Handlung versinnlicht wurde. Die antike Symphonie (NL 7, S. 323).54
Der Vorwurf der sinnlichen Verführung, des Pochens auf körperliche Reize, welchen die Gebrüder Schlegel von Platon übernehmen und 53 Ebd., S. 16 f., Anm. Nr. 3. Einige Jahre später (WS 1875 – 76) schreibt Nietzsche in
den Aufzeichnungen für den dritten Teil der Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur, dass diese neue Musik nicht die Kunst war, „welche die Leute zur Scham, zur Rückkehr, zum Ernste zwang: sie war aber aufregend u[und] berauschend u[nd] jedenfalls etwas überaus Herrliches“ (ders., „Geschichte der griechischen Litteratur“ III , KGW II , 5, S. 307). 54 Ähnlich äußert er sich im Heft U I 5a (Winter 1871/71 – Herbst 1872), NL 7, S. 240. Von Aischylos’ Zeitgenossen Pratinas aus Phleius ist ein Fragment überliefert, in dem er sich dagegen wendet, dass das Aulosspiel auf der Bühne das gesungene Wort übertönt. Siehe dazu Zaminer, „Musik im archaischen und klassischen Griechenland“, S. 193 f. Zu dieser Deutung Nietzsches im Zusammenhang mit der Wagnerschen Musikästhetik siehe Bruse, „Die griechische Tragödie als ,Gesamtkunstwerk‘“, S. 175 f.
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zum Hauptargument ihrer Euripides-Kritik machen, spielt bei Nietzsche zur Zeit der Basler Vorträge überhaupt keine Rolle. In der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche die Beziehung Euripides’ zur „neuen“ Musik ausdrücklich an, diese bildet jedoch zunächst keineswegs das Ziel seiner Kritik. Die Tragödie befinde sich bereits in statu moriendi und Euripides’ Mittel seien nicht hilfreich, diese wieder zum Leben zu erwecken: Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden [den Mythus] noch einmal zu deinem Frohdienste zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik (GT , S. 74 f.).
Die musikalischen Erneuerungen erscheinen nicht als die Ursache des Verfalles, sondern als ein vergeblicher, die entgegengesetzte Wirkung herbeiführender Versuch, das Verfallende zu retten. Der Vorwurf des „Unechten“ der neuen Musik gegenüber nimmt allerdings erkennbare Gestalt an.55 In jenem Teil der Geburt der Tragödie schließlich, der durch die Wagner-Apologie am schwersten belastet ist, erscheint plötzlich eine Ablehnung der in den Vorlesungen und Notizheften positiv bewerteten Musik des neuen Dithyrambus. Dabei zögert Nietzsche nicht, sich auf die von ihm erkannte konservative Weltbetrachtung der Komödiendichter zu stützen: Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte (GT , S. 112).
Selbst hier übernimmt Nietzsche jedoch keine der Argumente der Brüder Schlegel, sondern greift auf die Schopenhauer’sche und Wagner’sche Verdammung der Tonmalerei zurück:
55 Zum späteren Lob der Maske und zur Entwicklung einer Masken-Semiotik bei
Nietzsche siehe unten § 9.
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Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Konterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden (GT , S. 112).56
Worauf Nietzsches Feststellung des imitatorischen Charakters dieser Musik beruht, bleibt freilich unergründlich. Die einzige Erklärung seiner erstaunlichen Kehrtwendung ist eine psychologische, nämlich die Absicht, Wagner durch die Übernahme von dessen Urteilsmustern samt der Schopenhauer’schen Begründungsmaschinerie, zumal im apologetischen Teil des diesem gewidmeten Buches, entgegenzukommen: Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes, als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sklavin der Erscheinung herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höheren Sinne eine durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambischen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre Effectstücke und Manieren (GT , S. 113).
Dort, wo Nietzsche der Versuchung nachgibt, die Kritik an der „neuen“ Musik im Sinne Wagners anzuwenden und zeigen zu wollen, dass bereits in der Antike mit Euripides eine „opernhafte“ Verderbung des Dramas erfolgt war,57 kommt er ernsthaft in Gefahr, in die platonische Abneigung gegen das Sinnliche zu verfallen. In den Aufzeichnungen für die Vorlesung Einführung in das Studium der platonischen Dialoge, die Nietzsche im Wintersemester 1871 – 72 hielt, befindet sich ein Abschnitt, der den Titel Kampf gegen die Sinnlichkeit trägt: Die Verachtung u. der Haß des Socrates gegen die Wirklichkeit war vor allem ein Kampf gegen die allernächste Wirklichkeit, die den Denker belästigt, Fleisch und Blut, gegen Zorn Leidenschaft Wollust Haß: nach dem Zeugniß des Zopyrus war er stark dazu disponirt und hatte hier gesiegt. Er überträgt diesen Haß gegen die Sinnlichkeit auf Plato: möglichst frei sich von den Sinnen machen wird zur sittlichen Aufgabe. Die Sinne als Störenfriede des sittlichen Menschen, die Sinne als Störenfriede des Denkers. Ist es möglich sich von ihnen zu lösen: so mochte dann wohl
56 Siehe auch GT , S. 126. 57 Siehe ebd., S. 120: „Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Kultur
nicht schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt“. Die Argumentation dieser Gleichsetzung ist nicht konsistent. Nietzsche fügt einfach sein Feindbild mit jenem Wagners zusammen, um das Bündnis zu verstärken.
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die wahre Erkenntniß möglich sein. Oder giebt es ohne die Sinne keine Erkenntniß? Giebt es ein Denken, zu dem nicht die Sinne den Stoff liefern? Nicht erst in sensu, sondern gleich in intellectu. So etwas fand er!58
Es ist bezeichnend für Nietzsches allgemeine Haltung Platon gegenüber, dass er ausgerechnet den Vorwurf, den dieser gegen die „Neutöner“ erhob, nämlich jenen der Stilmischung, auch Platon und seinen Dialogen machte: Das Wesen des platonischen Kunstwerks, des Dialogs ist aber die durch Mischung aller vorhandnen Formen und Stile erzeugte Formlosigkeit und Stillosigkeit (ST , S. 543).59
In seiner Euripides-Kritik riskiert Nietzsche, unmerklich auf die Seite des „Feindes“ zu geraten. Er erkennt jedoch diese Gefahr und verzichtet daher auf jene kritischen Argumente, die die Brüder Schlegel aus der platonischen Tradition aufgegriffen und gegen Euripides angewendet haben. Nietzsches Hauptkritik richtet sich auf die vermeintliche „rationalistische Ästhetik“ des Euripides, deren „Hauptgesetz war: ,es muß alles verständig sein, damit alles verstanden werden kann“. Nicht Effekthascherei, sondern die Suche nach einer „verwegenen Verständigkeit“ im Dienst der Moral wirft Nietzsche ihm vor (ST , S. 537 f.). Der Tragiker ist aber bei Nietzsche im Unterschied zur Euripides-Kritik der Brüder Schlegel nicht wegen seines persönlichen Stils Gegenstand der Rüge, sondern als Manifestation einer neuen Kultur. In den Aufzeichnungen für die Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles schreibt Nietzsche: Mit Eurip[ides] entsteht ein Bruch in der Tragödienentwicklung: derselbe der um diese Zeit sich in allen Formen des Lebens zeigt.60
58 Nietzsche, „Einführung in das Studium der platonischen Dialoge“, KGW , II ,
4, S. 152 f. Bei der Verteidigung der Sinnlichkeit gegen die platonischen Angriffe konnte Nietzsche mit dem Wagner der Reformschriften rechnen. In Das Kunstwerk der Zukunft (1849) schreibt Letzterer: „Wahr und lebendig ist aber nur, was sinnlich ist und den Bedingungen der Sinnlichkeit gehorcht“ (S. 12). 59 Kurz darauf (S. 544) fällt in Bezug auf Sokrates das Wort „Buntscheckigkeit“, mit dem gewöhnlich der Ausdruck poikilía übersetzt wird, der immer wieder im Zusammenhang mit der Kritik an den neuen musikalischen Schöpfungen fiel. Siehe über die Verwendung dieses Wortes Richter, „Die Neue Musik der griechischen Antike I“, S. 9 f.; Riethmüller, „Musik zwischen Hellenismus und Spätantike“, S. 215. 60 Nietzsche, „Einleitung in die Tragödie des Sophocles“, KGW II , 3, S. 42.
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Diese Diagnose entspricht grundsätzlich derjenigen, die Snell fast hundert Jahre später dargeboten hat: Wenn die späte Tragödie in eine abstrakt-rationale Betrachtung dessen hinüberführt, was sie einst in lebendigen Gestalten dargestellt hatte, so erfüllt sie ein Gesetz der griechischen Geistesgeschichte; auch die übrigen großen Dichtgattungen sind die Wegbereiter wissenschaftlicher Betrachtung geworden. Das Epos führt zur Historie; die theogonische und kosmogonische Dichtung löst sich auf in die jonische Naturphilosophie, die nach dem arché, dem Grund und Anfang der Dinge fragt; aus der lyrischen Poesie entwickelt sich das Fragen nach Geist und Sinn. So steht die Tragödie vor der attischen Philosophie, für die das Handeln des Menschen, das Gute, im Mittelpunkt steht. Platons Dialoge führen die Diskussionen der Tragödienfiguren in theoretischer Form fort.61
Euripides ist für Nietzsche keineswegs der Auslöser der „Dekadenz“, sondern deren dichterische Stimme. Wenn Nietzsche in der Geburt der Tragödie behauptet, „Euripides war in gewissem Sinne nur Maske“ (GT , S. 83), und zwar die des Sokrates, so gilt dies umso mehr für ihn selbst. Denn das eigentliche Ziel seiner Polemik ist keineswegs Euripides, auch nicht der historische Sokrates, sondern der von ihm im Athen des ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr. verortete Rationalisierungsprozess. Viele Jahre später weist Nietzsche in Ecce homo darauf hin, dass Platon sich des Sokrates als einer „Semiotik“ für sich selbst bedient (EH , S. 320). Dasselbe habe er in seinen letzten beiden Unzeitgemäßen Betrachtungen mit Schopenhauer und Wagner getan. Nietzsche übernimmt somit von seinem Gegenpol Platon die Geste der philosophischen Allegorik. Seinen Kampf gegen Sokrates allzu wörtlich nehmen zu wollen, wäre genauso wie im Falle Euripides irreführend. Im Nachlass aus dem Sommer 1875 ist zu lesen: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe“ (NL 8, S. 96).
61 Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 143.
3. Überschreitungen
I
m Sommer 1870, wenige Monate nach den beiden Basler Vorträgen, entsteht die Schrift Die Dionysische Weltanschauung, in der Nietzsche zum ersten Mal die Dichotomie des Apollinischen und des Dionysischen in seine Tragödienauffassung einführt. Nietzsches erste Erwähnung dieses Gegensatzes kommt in den Aufzeichnungen für die Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles vor, die er im Sommersemester 1870 hielt. Gleich im ersten Paragraphen, welcher den Titel Die antike und die neuere Tragödie in Ansehung des Ursprungs trägt, äußert sich Nietzsche folgendermaßen: Die Lyrik, aus der sich die griech[ische] Tragödie entwickelte, war die dionysische, nicht die apollinische. Dies giebt für die gesamte griechische Kunst einen Stilunterschied: das gesetzmäßig-Architektonische in der Musik ist charakteristisch für die apollinische Kunst, das rein Musikalische, ja Pathologische des Tons für die dionysische.1
Nietzsche verlieh dem Begriffspaar zweifellos die insgesamt mächtigste wirkungsgeschichtliche Prägung; die geschichtlichen Spuren reichen allerdings mindestens noch weitere hundert Jahre zurück: Johann Joachim Winckelmann führte diese Dichotomie in die Kunstgeschichte ein, Friedrich Schlegel in die Literatur und Josef Schelling in die Philosophie. Besonders einflussreich und für den jungen Nietzsche von großer Bedeutung war Friedrich Creuzers mehrbändiges Werk über die Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1810 – 1812, zweite erweiterte Ausgabe 1819 – 1821). Im dritten Teil unterscheidet Creuzer zwischen mehreren „orphischen Schulen“, von denen eine ältere sich dem Apollokultus widmete, während eine jüngere die orgiastischen und enthusiastischen Dionysoskulte einführte.2 In einer Anmerkung werden die beiden „orphischen Schulen“ jeweils mit zwei „Perioden der Priestermusik“ in Zusammenhang gebracht: „die erste und die älteste, durch das Organ der Saiten, Saitenspiel, wohin der 1 Nietzsche, „Einleitung in die Tragödie des Sophocles“, KGW II , 3, S. 11. Eine Be-
schreibung dieser Vorlesung ist zu finden in Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, S. 28 – 35. 2 Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker III , S. 148 – 159.
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erste Olympus zu gehören scheint; dann die zweite, durch das Organ der Flöte, Flötenspiel, mit Hyagnis Marsyas und dem zweiten Olympus“. Creuzer erkannte in dieser Unterscheidung einen „Gegensatz der religiösen Zwecke und der Priesterschaften“. Das Saitenspiel sei ein „Beruhigungs- und Besänftigungsmittel“ gewesen, während durch die Flöte „die Erweckung der Gefühle“ gegeben sei. Ein Ausdruck dieses Gegensatzes sei im Wettstreit zwischen Marsyas und Apollo zu sehen.3 Über die Bedeutung von Creuzers Auffassung des Symbols für Nietzsche wird ausführlich weiter unten die Rede sein. Im Hinblick auf Nietzsches Tragödienauffassung ist ferner die Feststellung wichtig, dass dessen akademischer Lehrer Friedrich Ritschl Creuzers Gegensatz zwischen Kithara-Musik und Auletik übernimmt und durch zusätzliche Hinweise auf die entsprechenden dorischen und phrygischen Modi weiterführt. Ritschls Aufsatz Olympus der Aulet erschien 1832 und wurde 1866, als Nietzsche bereits bei ihm in Leipzig studierte, im ersten Band der Sammlung eigener Schriften Opuscula philologica neu gedruckt.4 Weitere Anregungen könnte Nietzsche in Ferdinand Christian Baurs Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums (1824 – 1825), Karl Otfried Müllers Die Dorier (1824), Friedrich Gottlieb Welckers Griechischer Götterlehre (1857 – 1863), Johann Jakob Bachofens Versuch über die Gräbersymbolik der Alten (1859), sowie in Bezug auf die Tragödie in Julius L. Kleins Geschichte des römischen und griechischen Drama’s (1865) gefunden haben. Eine Entgegensetzung zwischen Kithara- und Aulos-Musik ist schließlich in Rudolph Westphals Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik (1864) enthalten – einem Buch, das sich in Nietzsches privater Bibliothek befindet.5 3 Ebd., S. 154, Anm. 97. 4 Ritschl, „Olympus der Aulet“, S. 259 f.: „Die Bedeutung der beiden Olympus für
griechische Cultur beruht nun hauptsächlich auf dem durchgreifenden Gegensatze zwischen Kitharmusik und Auletik, der sich gleichmässig in Poesie wie in Cultusund Stammverhältnissen offenbart. Die Kitharmusik, althellenischen Ursprungs, insonderheit dem dorischen Stamme, dem Apollocultus und dem gesammten Apollinischen Sagenkreise eigenthümlich, entsprach diesen Beziehungen auf das Innigste durch die strenge Einfachheit und hohe Ruhe, die sie charakterisirte, und die sie zur Besänftigung der Leidenschaften, zur Erhebung des Gemüths und zur Erhaltung eines harmonischen geistigen Gleichgewichts nach allen Zeugnissen des Alterthums durchaus geeignet machte. Den geraden Gegensatz dazu bildet die Auletik, wie sie als wesentlicher Theil aller orgiastischen Culte erscheint, mit unsteter Leidenschaftlichkeit das Gemüth bald zu wildem, glühendem Enthusiasmus aufregend, bald zu weichlicher Erschlaffung herabstimmend.“ 5 Siehe dazu Schmidt, Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“, S. 131 f. Zur Betrachtung des Dionysischen vor Nietzsche siehe Gründer, „Apollinisch/dionysisch“; Baeumer, „Nietzsche and the Tradition of the Dionysian“; von R eibnitz,
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Es fällt die Entschlossenheit auf, mit der Nietzsche nun diese Dichotomie umdeutet und zum Fundament seiner gesamten Theorie macht, denn bereits im ersten Satz von Die Dionysische Weltanschauung werden beide „Gottheiten“ zum „Doppelquell“ der griechischen Kunst erklärt. Diese „repräsentiren“ „Stilgegensätze“, „die fast immer im Kampf mit einander neben einander einhergehen und nur einmal, im Blüthemoment des hellenischen ,Willens‘, zu dem Kunstwerk der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen“.6 Diese „Stilgegensätze“ seien Ausdruck von „Weltanschauungen“, die die „Griechen“ eben durch beide Götter „aussprechen und zugleich verschweigen“, aber auch verbunden mit zwei unterschiedlichen „Zuständen“, in denen „der Mensch das Wonnegefühl des Daseins“ erreicht, nämlich „Traum“ und „Rausch“.7 Zu den jeweiligen Bündnissen von Weltanschauungen, „Apollinisch – dionysisch“; Schmidt, Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“, S. 91 – 98. Baeumers unvorsichtig von Martin Vogel übernommene Annahme, die Idee einer Dichotomie zwischen Apollinischem und Dionysischem sei aus den Gesprächen in Tribschen am 11. und 12. Juli 1870 zwischen Nietzsche, Rohde und Wagner entstanden, wird durch die oben angeführte Stelle aus den Vorlesungsaufzeichnungen sowie durch die von Vogel ignorierte Vorarbeit Ritschls entkräftet. Fehlerhaft ist auch Baeumers Behauptung, Nietzsche habe in Tribschen „Die dionysische Weltanschauung“ vorgelesen, weil der Text zu jener Zeit noch nicht geschrieben war. 6 Der Begriff „Stilgegensatz“ wurde in die erste Ausgabe der Geburt der Tragödie zunächst importiert. Carsten Zelle diskutiert die in Folge der Kritik Wilamowitz’ von Nietzsche in der zweiten Auflage der Geburt der Tragödie (1874/78) durchgeführte Ersetzung des Ausdrucks durch „ungeheurer Gegensatz“. Dadurch sei die Herkunft von Nietzsches anthropologischer Unterscheidung in einem rhetorischen Schema verschleiert worden (Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 321 f.). 7 Die Geste der Herstellung von typisierenden Dichotomien ist bei Schiller häufig anzutreffen. Siehe beispielsweise die von Nietzsche ausdrücklich zitierte Gegenüberstellung von naiver und sentimentalischer Dichtung, ferner diejenige von Realismus und Idealismus (beide in Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“), die von Schönem und Erhabenem (ders., „Über das Erhabene“) sowie von Anmut und Würde (ders., „Über Anmut und Würde“). Siehe dazu auch Mann, „Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, S. 29. Eine Beziehung zwischen Nietzsches und Schillers Dichotomien hatte bereits Carl Gustav Jung festgestellt, siehe Jung, Psychologische Typen, S. 144 – 155. Zur Schiller-Rezeption bei Nietzsche siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 168 – 174. Georg Picht erkennt in Schillers philosophischen Schriften Nietzsches stilistisches Vorbild für die Abhandlungen der Basler Zeit, siehe Picht, Nietzsche, S. 20. Jean Paul unterscheidet zwischen „plastischer“ oder „objektiver“ Poesie der Griechen und „romantischer“ Poesie der „Neuen“, siehe Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 67 – 101. Ähnlich verfährt August Wilhelm von Schlegel in der ersten seiner Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Siehe zu den Brüdern Schlegel in Bezug auf diese Frage Behler, „Die Theorie des Dionysischen bei den Brüdern Schlegel und bei Friedrich Nietzsche“. Zu erwähnen ist auch die Entge-
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Stilmerkmalen und Zuständen gesellen sich auch bestimmte Kunstarten, wobei Nietzsche allerdings zunächst die „apollinische Kunst“ allein in diesem Sinne bestimmt: „Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst und, wie wir sehen werden, auch einer wichtigen Hälfte der Poesie“, nämlich der epischen (DW , S. 553). In dem von Nietzsche auf diese Weise beschriebenen apollinischen Kunstbereich ist im Ansatz das Bild des klassischen Griechentums wiederzuerkennen, so wie es in Deutschland seit Winckelmann gepflegt wurde.8 Darauf weist die von Hand des Bildhauers geschaffene schöne Gestalt hin, in der „das Spiel mit dem Traum“ derart ausgetragen werde, dass die „Traumgestalt“ des lebendigen Gottes in das „Wirkliche“ der „Statue als Marmorblock“ übersetzt wird. Im Unterschied zur Bestimmung der apollinischen Kunst, welche aus der Tätigkeit des Bildhauers erfolgt, geht Nietzsche bei der Beschreibung der dionysischen, wie bereits im Vortrag über das Griechische Musikdrama, von dem menschlichen Zustand aus, in dem eine solche Kunst möglich wird.9 Dieser sei derjenige des „Rausches“, von Nietzsche auch „Verzückung“ und „Verzauberung“ genannt. Beide „Mächte“, die diesen Zustand herbeiführen, nämlich der „Frühlingstrieb“ und das „narkotische Getränk“, „steigern“ den „naiven Naturmenschen“ zur „Selbstvergessenheit“: „Das principium individuationis wird in beiden Zuständen durchbrochen, das Subjektive verschwindet ganz vor der hervorbrechenden Gewalt des Generell-Menschlichen, ja des Allgemein-Natürlichen“ ( DW , S. 554 f.). Nietzsches „Umkehrung des Platonismus“ kommt deutlich zum Tragen: Diese Überschreitung der identifikatorischen Grenzen, Platons „göttliche Begeisterung“, führt zur Unterminierung der sozialen Ordnung. Hatte Platon diese Wirkung als einen der Gründe
gensetzung zwischen Schönem und Hässlich-Groteskem in Victor Hugos Préface de Cromwell (1827). Eine Unterscheidung zwischen „Musikalischem“ und „Plastischem“ im künstlerischen Bereich findet sich in E. T. A. Hoffmanns berühmter Rezension der 5. Symphonie Beethovens (Hoffmann, Schriften zur Musik, S. 34). Dieser Gedanke Hoffmanns wird von Ambros, dessen Geschichte der Musik Nietzsche gelesen und zitiert hatte, beinahe wörtlich übernommen – allerdings ohne Hinweis auf Hoffmann, siehe Ambros, Geschichte der Musik, Bd. 1, Breslau 1862, S. 220 f. Eine gründliche Untersuchung des dichotomischen Charakters in der neuzeitlichen Ästhetik ist zu finden in Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. 8 Nietzsche selbst weist darauf hin, siehe DW , S. 561. 9 Diese Art, nach der Kunst zu Fragen, ist Nietzsche eigentümlich. Sie signalisiert eine zukunftweisende Abwendung von der Werkästhetik hin zur Theorie der ästhetischen Erfahrung und des ästhetischen Verhaltens.
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für die Verbannung der Kunst aus dem idealen Staat angeführt,10 so wird sie nun von Nietzsche als regenerative Beseitigung von willkürlich gesetzten gesellschaftlichen Abgrenzungen gewertet: Alle die kastenmäßigen Abgrenzungen, die die Noth und Willkür zwischen den Menschen festgesetzt hat, verschwinden: der Sklave ist freier Mann, der Adlige und der Niedriggeborene vereinigen sich zu denselben bacchischen Chören (DW , S. 555).11
Nietzsche weist darauf hin, dass die Weltanschauungen des Apollinischen und Dionysischen, denen die Zustände des Traums und des Rausches entsprechen, ihren künstlerischen Ausdruck in unterschiedlichen Kunstarten finden, die deshalb jeweils dem einen oder dem anderen Gott zugeordnet werden. Lediglich im Fall der attischen Tragödie werde dieses „Nebeneinander“ zu einer Verschmelzung (DW , S. 553). Bevor aber das Apollinische und das Dionysische in der Tragödie „verschmolzen“ werden, ereignet sich eine erste Kontamination zwischen den beiden, zu deren Erklärung Nietzsche eine kulturhistorische Perspektive entwirft: […] ursprünglich ist nur Apollo ein hellenistischer Kunstgott und seine Macht war es, die den aus Asien heranstürmenden Dionysos so weit mäßigte, daß der schönste Bruderbund entstehen konnte (DW , S. 556).
Nietzsche beschreibt den Prozess eines kulturellen Transfers, im dessen Verlauf der aus Asien stammende Dionysos-Kult nach Griechenland „heranstürmt“ und mit der dortigen, vorher von Apollo allein geprägten Kunst zu interagieren beginnt.12 Freilich habe der Transferprozess 10 Platon, Der Staat, III , 398a. 11 Vgl. dazu Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, S. 238: „Wenn
der staatliche, zivile Gesichtspunkt überall Schranken errichtet, die Völker und Individuen trennt und das Prinzip der Individualität bis zum vollendetsten Egoismus ausbildet, so führt dagegen Dionysos alles zur Vereinigung, alles zum Frieden und zur philía des ursprünglichen Lebens zurück. An seinen Mysterien haben Sklaven wie Freie gleichen Anteil, und vor dem Gotte der stofflichen Lust fallen alle jene Schranken, welche das staatliche Leben mit der Zeit zu immer größerer Höhe erhebt“. Zu den Beziehungen zwischen Bachofen und Nietzsche siehe Meuli, „Nachwort“, S. 510 – 515; Baeumer, „Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ,Entdeckung‘ durch Nietzsche“, S. 151 f. 12 Vgl. dazu Creuzer, Symbolik und Mythologie III , S. 154: „Mittlerweile bereitet sich in Kleinasien eine große Revolution, die bald ganz Griechenland erschüttert. Auf den Cybelischen Gebirgen in Phrygien erscheint das Bild der Göttermutter. Hyagnis erfindet in Celänä die Flöte, und stimmt in Phrygischer Weise der Mutter der Götter, des Dionysus und des Pan neue Lieder an“, sowie S. 162: „Aber nun lesen
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nicht nur die Kunst in ihren stilistischen Ausprägungen betroffen, sondern der kultischen Dimension des Phänomens entsprechend seien sämtliche Sphären der hellenischen Kultur einer tief greifenden Transformation unterzogen worden. Durch die „Macht“ des hellenischen Apollos sei die überwältigende Kraft des „barbarischen“ Dionysoskultus gebändigt worden (DW , S. 556; 558).13 Ein ursprünglicher „Naturkult, der bei den Asiaten die roheste Entfesselung der niederen Triebe bedeutet“, sei bei den Griechen zu einem „Welterlösungsfest“, einem „Verklärungstag“ geworden (DW , S. 556). In einer Stelle aus der Geburt der Tragödie, bei welcher Nietzsche diesen Vergleich zwischen dem „barbarischen“ und dem „griechischen Dionysischen“ aufgreift und leicht variiert, bringt er die angestrebte Unterscheidung zu einer deutlichen Formulierung: „[…] erst bei ihnen [den Griechen] wird die Zerreissung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen“ (GT , S. 33). Das griechische Dionysische stellt also Nietzsche zufolge das Ergebnis der Begegnung zwischen dem „barbarischen Dionysischen“ und dem „griechischen Apollinischen“ dar.14 Dabei weist diese Begegnung zunächst zwei unterschiedliche wir auch von Versöhnung und von einer Aufnahme des neuen Gesetzes […]. Eine genaure Aufmerksamkeit auf diese und ähnliche Angaben wird uns von selbst auf die anderen Orphischen Schulen leiten, in denen Apollo mit Bacchus versöhnt und die Lyra mit der Flöte verbunden erscheint“. Man vergleiche auch die folgende Stelle bei Nietzsche DW , S. 565: „Zum ersten Mal erbrauste der dämonisch fascinierende Volksgesang in aller Trunkenheit eines übermäßigen Gefühls: was bedeutete dagegen der psalmodierende Künstler des Apoll, mit den nur ängstlich andeutenden Klängen seiner kithára?“ mit dieser bei Creuzer, Symbolik und Mythologie III , S. 156 f.: „Jetzt übertönen die Phrygisch-Lydischen Cymbeln und Flöten die sanfte Melodie des Saitenspiels, und die stillere Andacht mußte dem neuen Getöse Platz machen“. 13 Biebuyck, Praet und Vanden Poel bezeichnen diesen Prozess als „intercultural negotiation“ (dies., „Cults and Migrations“, S. 158; 163) bzw. „intercultural translation“ (ebd., S. 161). Ihnen zufolge besteht dieser im von Nietzsche dargestellten Fall darin: „When confronted with atrocity and savagery, symbolized by Dionysus, the Greeks did not look away, as the Orphics did; rather, they attempted to discipline this primordial violence into new forms of cultural behavior“ (ebd., S. 159). Die Autoren weisen ferner darauf hin: „Thus intercultural negotiation did not lead the Greeks to annihilate their opponent (the barbarian mode) or to remove him from their scope (the Orphic option)“ (ebd., S. 163). Ihr Schluss lautet folgendermaßen: „In the end, Nietzsche’s model of intercultural negotiation is consistent with the mythological tradition, which attributed to Apollo the role not just of Dionysus’ opponent, but also of his rescuer“ (ebd.). 14 In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Opposition gegen Creuzer vor allem eine Opposition gegen die Asiatisierung des traditionellen, durch Winckelmann geprägten Bildes des klassischen Griechenlands ist. Siehe dazu Howald, Der Kampf um Creuzers Symbolik, S. 14 f. Fritz Neumeyer verweist auf
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Geltungsebenen auf. Denn in der Auffassung Nietzsches bildet das in der Figur des Dionysos Verdichtete nicht nur einen aus Asien stammenden Kult und daher eine Instanz kultureller Differenz: Als Gott des Vor-Individuierten und der irreduziblen Vielheit repräsentiert Dionysos eine vom Selbst grundverschiedene Art des menschlichen Seins.15 Das Dionysische stellt also nicht bloß ein anderes Selbst dar, sondern vielmehr das Andere des Selbst und als solches eine paradigmatische Instanz der Andersheit. Aus dem „historischen“ Phänomen der Begegnung zwischen dem apollinisch Eigenen und dem dionysisch Anderen leitet Nietzsche den „Gedanken des Tragischen“ her, nämlich die Auffassung des Tragischen als Überschreitung der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen des Selbst. Zu diesem Gedanken gehört wesentlich dazu, dass diese Überschreitung ein ästhetisches Phänomen darstellt, und zwar im engeren Sinne des Wortes: Sie ist durch ein ästhetisches Phänomen darstellbar, nämlich in der attischen Tragödie, in welcher der Überschreitung der identifikatorischen auch jene der medialen Grenzen entspricht und beide zum Kunstwerk werden. Nietzsches „tragischer Gedanke“ erscheint somit als das Ergebnis eines kulturellen Transfers, im Laufe dessen eine radikalere Instanz der Differenz zum Tragen kommt. Nietzsche betont stets den Massencharakter der dionysischen Feier, weil dieser in Opposition zur Verherrlichung des Individuums in der apollinischen Kunst wesentlich zu seiner Deutung des Dionysischen gehört. Anders als bei August Wilhelm Schlegel und Schiller bereitet der Chor in Nietzsches Tragödienauffassung kein Verständnisproblem,16 im Gegenteil: Aus diesem heraus wird die Tragödie erklärt. Denn dem Helden als der vornehmsten Verwirklichung des principii individuationis steht die „dionysische Masse“ gegenüber, deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Rausch des Festes den Zustand der Selbstvergessenheit erreichen und als „Sa tyrchor“ zum Ausdruck bringen. Die Vernichtung des Helden im Laufe des tragischen Geschehens bedeutet daher die lusterregende Affirmadie Schlussszene der Geburt der Tragödie, in der die Tragödie als Vereinigung von Apollo und Dionysos mit dem „Tempel beider Gottheiten“ (GT , S. 156) in Verbindung gebracht wird, wobei dieser Tempel nach der ionischen Ordnung gebaut ist, weil Nietzsche „diese Ordnung als die harmonisch proportionierte Verbindung des Dionysischen und Apollinischen“ betrachtet, denn „der ionische Stil, aus der kleinasiatischen Heimat des Dionysos stammend und in Hellas neubeheimatet, ist das Symbol für eine glückliche Verbindung beider Gottheiten“ (Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 90). 15 In der Steigerung der „dionysischen Regungen“ schwindet „das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit“ hin (GT , S. 29). 16 Siehe dazu von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, S. 182 – 196.
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tion des entgegengesetzten Prinzips des Dionysischen und des damit verbundenen Zustands des Rausches, welcher sich auf der Bühne in „einer apollinischen Bilderwelt“ entlädt.17 Das Verhältnis zwischen beiden Prinzipien erweist sich als ein verstricktes: Die Zerstörung der apollinischen Individuation durch die Vernichtung des Helden als deren edelsten Repräsentanten und die damit einhergehende Behauptung des ihr entgegengesetzten Prinzips des Dionysischen werden selbst apollinisch dargestellt. Nietzsche selbst drückt das Paradoxon der Tragödie als intermediales Maskenspiel aus, wenn er in der Geburt der Tragödie schreibt: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus“ (GT , S. 140). Nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie wurde der Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen bald, wie Martin Heidegger in seinen Nietzsche gewidmeten Vorlesungen anmerkt, „zur Zuflucht alles verworrenen und verwirrenden Redens und Schreibens über die Kunst und über Nietzsche“. Für Nietzsche selbst aber, fährt Heidegger fort, „blieb dieser Gegensatz eine ständige Quelle unbewältigter Dunkelheiten und neuer Fragen“.18 Damit hebt Heidegger die prinzipielle Offenheit dieser Gegenüberstellung als deren grundlegendes Merkmal hervor, sowie die Unmöglichkeit, zu einer endgültigen Lösung zu gelangen. Im Unterschied zur Hegel’schen Dialektik stellt Nietzsches Gedanke des Tragischen keine Negation einer Setzung dar, keinen Widerspruch, welcher in einer höheren Instanz aufgelöst werden kann, sondern die Überschreitung einer Grenze, ein Außer-Sich-Geraten, in dem das Andere des Selbst, die radikale Differenz weder angeeignet noch aufgehoben werden kann. Die Hegel’sche Synthese als Versöhnung des dialektischen Gegensatzes auf einer höheren Ebene ist Nietzsche darum fremd – selbst dort, wo seine sprachlichen Schwankungen auf das Gegenteil hinzuweisen scheinen19 –, weil das Dionysische keineswegs die 17 Ebd., S. 62. Dazu auch ebd., S. 108: „Der Held, die höchste Willenserscheinung,
wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird“. Siehe auch NL 7, S 219: „Der Held siegt, indem er untergeht. Die Vernichtung des Individuums als Einblick in die Vernichtung der Individuation, höchste Lustspiegelung“ (Heft U I 5 a (Winter 1870 – 71 – Herbst 1872)). 18 Heidegger, Nietzsche I, S. 104. 19 Z. B. DW , S. 566, wo die „Geburt des tragischen Gedankens“ als eine „neu[e] und höher[e] mechané des Daseins“ bezeichnet wird. In Ecce homo (1888) äußert sich Nietzsche sehr kritisch über die Anklänge an Hegel in der Geburt der Tragödie: „[…] sie riecht anstössig Hegelisch, sie ist nur in einigen Formeln mit dem Leichenbitter-parfum Schopenhauer’s behaftet. Eine ,Idee‘ – der Gegensatz dionysisch und
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Negation des Apollinischen darstellt, sondern dessen Überschreitung. Hegels Außer-Sich-Sein steht bei Nietzsche ein Außer-Sich-Geraten gegenüber, das die Instanz des Werdens schon in sich trägt. Daher erweist sich die Modalität der Differenz bei Nietzsche nicht als das Negative wie bei Hegel, sondern als ein Überschuss. Dies wird von Nietzsche bereits in der Dionysischen Weltanschauung dadurch klar gemacht, dass er dem apollinischen Maß das dionysische Übermaß entgegensetzt (DW , S. 564 bzw. 565). In der Geburt der Tragödie hebt Nietzsche die in der Dionysischen Weltanschauung hergestellte Verbindung des Apollinischen mit der Individuation nachdrücklich hervor und bearbeitet diese Stelle auf ebenjene Betonung hin, sodass nun das Maß ausdrücklich auf die Individuation und auf die Selbsterkenntnis bezogen wird (GT , S. 40). Die entsprechenden Stellen in der Dionysischen Weltanschauung und in der Geburt der Tragödie laufen sozusagen parallel, nur die Emphase nimmt in letzterer zu. Dabei wird der Schmerz im dionysischen Übermaß hervorgehoben: Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntnis, bis zum durchdringenden Schrei laut wurde: denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten konnte! Die Musen der Künste des „Scheins“ verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausch die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Übermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herz der Natur heraus (GT , S. 40 f.). apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ,Idee‘; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben“ (EH , S. 310). Gilles Deleuze hat seine Deutung der Philosophie Nietzsches auf der Annahme einer Entgegensetzung zu Hegel basiert (Deleuze, Nietzsche et la Philosophie). Die Meinung, dass Nietzsches Auffassung des Gegensatzes sich nicht auf die Hegel’sche Dialektik zurückführen lässt, wird vertreten u. a. in Mattenklott, „Nietzsches ,Geburt der Tragödie‘“ als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution, S. 108, sowie Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 323 f. Sarah Kofman schreibt diesbezüglich: „Le conflit entre Apollon et Dionysos n’est pas réductible à une contradiction entre deux idées qui pourraient être ,relevées‘ en une troisième, il est une guerre eternelle entre deux frères ennemis“ (dies., Nietzsche et la scène de la philosophie, S. 69).
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Nietzsches Vorstellung des dionysischen Übermaßes entspricht einer Hinwendung zur Andersheit, welche sich sowohl von der hermeneutischen Horizonterweiterung als auch von der Hegel’schen Aufhebung des Anderen im selbstreflexiven Ich unterscheidet.20 Nietzsche fasst im mit dem Zustand des Rausches assoziierten Außer-sich-Geraten das Verhältnis des Selbst zum Anderen paradigmatisch als Grenzüberschreitung auf. Im performativen Kontext des Dithyrambus und der attischen Tragödie verbindet sich die Überschreitung der identifikatorischen mit derjenigen der medialen Grenzen und wird somit zum ästhetischen Phänomen. Die Differenz und der Widerspruch werden im Tragischen keineswegs aufgehoben, sondern geradezu gesteigert und gemeinsam mit dem damit verbundenen Schmerz betont.21 Darin unterscheidet sich Nietzsches Einstellung der Tragödie gegenüber, wie er selbst später hervorheben wird, erheblich von derjenigen Schopenhauers. Dieser hatte den Sinn der Tragödie für die Menschen wie folgt zusammengefasst: Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigentümlichen Schwung zur Erhebung gibt, ist das Aufgehen der Erkenntnis, daß die Welt, das Leben kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht wert sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin.22
Nietzsche setzt dem resignativen Pessimismus Schopenhauers einen heroischen entgegen und sieht im Tragischen keineswegs einen Grund zur Resignation, sondern im Gegenteil einen Zustand, in dem die vitalen Kräfte des Menschen potenziert werden. In Die Dionysische Welt anschauung widmet er dieser Wirkung einige Gedanken (DW , S. 555; 577), die er in die Geburt der Tragödie leicht variiert übernimmt (GT , S. 33 f.). Der dionysische Zustand des Rausches bedeute eine Steigerung der alltäglichen Fähigkeiten des Menschen: Das Sprechen und das Gehen werden zum Singen und Tanzen. Dadurch werde der Mensch „erhoben“, er werde selbst zum „Kunstwerk“ und somit jenen Traumbildern ähnlich, welche der apollinische Künstler zu Statuen macht (DW , S. 555). Die dionysische Steigerung im Menschen erscheint so20 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 145 – 155. Siehe dazu Bloch, Subjekt – Objekt,
S. 68 f.
21 Siehe dazu Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 13 – 15. 22 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II , § 37, S. 556 f. In seinem im
Jahr 1886 für eine neue Ausgabe der Geburt der Tragödie verfassten Versuch einer Selbstkritik zitiert Nietzsche selbst diese Stelle, um seine Distanz von Schopenhauer zu betonen, siehe GT , S. 19 f.
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mit als die „höchst[e] Steigerung aller seiner symbolischen Vermögen“ (DW , S. 577): Die alltäglichen, zweckmäßigen und bestimmten Tätigkeiten werden überboten, der Mensch „fühlt sich verzaubert und er ist wirklich etwas Anderes geworden“ (DW , S. 555). In der Geburt der Tragödie wird diese Verwandlung als ein dem „dramatischen Urphänomen“ zugrunde liegender Prozess dargestellt. Im Unterschied zum epischen Dichter, der zwar „Bilder“ erzeugt, ohne jedoch sich selbst mit diesen zu verschmelzen, erfährt der Dithyrambiker „ein Aufgeben des Individuum durch Einkehr in eine fremde Natur“ (GT , S. 61). Die Umwertung der Platonischen Werte ist radikal: [D]er dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden (GT , S. 61).
Die „Verwandelten“ werden somit Verkörperungen jener „phantastische[n] und so anstössig scheinende[n] Figur des weisen und begeisterten Satyrs“, eines Abbildes „der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person“ (GT , S. 63). Im dionysischen Rausch wird der Tanz zur Ausdrucksform einer gesteigerten symbolischen Fähigkeit, welche den gesamten Körper miteinbezieht, und mithin geradezu zum Symbol für die intermediale Ästhetik Nietzsches: Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde (GT , S. 33 f.).23
Der mit dem Dionysos-Kult verbundene orgiastische Tanz übersteigt die alltägliche Ausdrucksweise aufgrund der „Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte“ und fördert eine neue symbolische Welt zutage. 23 In die nächsten Abschnitte sind Gedanken und Formulierungen eingeflossen, die
ich bereits in Celestini, „Nietzsches Philologie des Tanzes“, publiziert habe.
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Nietzsches Schilderung der dionysisch gesteigerten Ausdrucksweise verweist auf zwei miteinander eng verflochtene Themenkreise, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Es handelt sich erstens um die Bestimmung des symbolischen Ausdrucks und zweitens um die Selbstreferenzialität der performativen Zeichen sowie die Verkörperung derselben durch Tänzer und Tänzerinnen. Durch die Betrachtung des ersten Themenkreises wird die Verbundenheit Nietzsches mit der zeitgenössischen, hauptsächlich durch Creuzer initiierten und von Bachofen weitergeführten Deutung der Symbolik und Mythologie in den antiken Kulturen sichtbar. In der Auffassung der griechischen musiké und in deren performativen Folgen sind hingegen die Voraussetzungen für die auffällige Rolle des Tanzes in Nietzsches mittleren und späten Werken zu finden. Im allgemeinen Teil von Creuzers bereits erwähntem Hauptwerk Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen werden Symbol und Begriff in gegenseitiger Abgrenzung definiert. Ein erster Schritt, um die von Nietzsche dargestellte Trennung der alltäglichen und der im dionysischen Taumel gesteigerten Ausdrucksweise besser zu verstehen, besteht darin, Nietzsches Schilderung auf diese Unterscheidung zu beziehen. Denn Nietzsche kannte Creuzers Werk und den Streit, der zwischen den Philologen um die dort aufgestellten Thesen über das Bestehen einer mysterischen, orphischen und orgiastischen Seite in der Religion der alten Griechen ausbrach.24 Mit dieser düsteren Seite ist Creuzer zufolge die symbolische Ausdrucksweise, die sich von der heiteren Darstellung des Mythos in der homerischen Epik grundsätzlich unterscheidet, unauflöslich verbunden. Laut Creuzer teilt das Symbol mit der bildlichen und metaphorischen Ausdrucksweise die Fähigkeit, „mehrere Eigenschaften“ in den „Brennpunkt eines einzigen Eindrucks“ zusammenzudrängen: Immer bleibt es wesentliche Eigenschaft dieser [symbolischen] Darstellungsart, daß sie ein Einziges, ein Ungetheiltes giebt. Was der sondernde 24 Howald, Der Kampf um Creuzers Symbolik. Nietzsche entlehnte den 3. Band des
Werks Creuzers in der zweiten Auflage am 18. Juni 1871 und am 8. August 1872 aus der Basler Universitätsbibliothek, siehe Crescenzi, „Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869 – 1879)“, S. 407 und 418. In diesem Band befindet sich u. a. die Darstellung der „Bacchischen Religionen und Mysterien“ der alten Griechen. Eine von Nietzsche im März 1875 niedergeschriebene Notiz lautet folgendermaßen: „Wer keinen Sinn für das Symbolische hat, hat keinen für das Alterthum: diesen Satz wende man auf die nüchternen Philologen an“ (NL 8, S. 29). Siehe zur klassizistischen Ablehnung von Creuzers Antike-Bild Frank, Der kommende Gott, S. 89 f.
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und sammelnde Verstand in successiver Reihe als einzelne Merkmale zur Bildung eines Begriffs zusammenträgt und ebenso successiv wieder in seine Bestandttheile trennt, das giebt jene anschauliche Weise [d. h. die symbolische] ganz auf einmal. Es ist ein einziger Blick; mit Einem Schlage ist die Intuition vollendet […].25
In einer weiteren Bestimmung des Symbols spricht Creuzer jene Konzentration der Seelenkräfte an, von der auch bei Nietzsche die Rede ist. Ebenfalls an Nietzsche erinnert der darauffolgende Hinweis, dass durch das Vernehmen des Symbols eine Verbindung zum dunklen Grund der menschlichen Existenz hergestellt wird: In einem Augenblicke und ganz gehet im Symbol eine Idee auf, und erfasst alle unsere Seelenkräfte. Es ist ein Strahl, der in gerader Richtung aus dem dunkelen Grund des Seyns und des Denkens in unser Auge fällt, und durch unser ganzes Wesen fährt.26
In Bezug auf die Zeitlichkeit sind Creuzer zufolge Symbol und allegorische bzw. mythische Erzählung diametral entgegengesetzt, denn die Idee erscheint plötzlich im Symbol, während sich dieselbe in der Allegorie und im Mythos diskursiv entfaltet,27 wobei die diskursive Entfaltung des Symbols dessen Exegese darstellt. Es handelt sich dabei um eine Auslegung der symbolischen Unmittelbarkeit durch die Begrifflichkeit der Rede, welche zugleich auch den Ursprung des Mythos erklärt: Die priesterliche Deutung, der Ausspruch eines Exegeten über eines Symbols Sinn und Absicht, gab ohne Zweifel vielen Mythen zuerst das Daseyn. Welchen Charakter musste ein solcher ältester Mythus haben? Keinen andern als den des Symbols selber, nur natürlich in der Verwandlung, die die Rede mit sich brachte.28
Nietzsche geht es in seinem ersten Buch um die umgekehrte Verwandlung, nämlich diejenige, die der Mensch erlebt, wenn er vom diony25 Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker I, S. 57. 26 Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker IV , 3. Aufl., S. 541. Man vergleiche Nietzsche, GT , S. 35 f. 27 Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker IV , 3. Aufl., S. 541: „Die Alle-
gorie locket uns aufzublicken, und nachzugehen dem Gange, den der im Bilde verborgene Gedanke nimmt. Dort ist momentane Totalität; hier ist Fortschritt in einer Reihe von Momenten. Daher auch die Allegorie, nicht aber das Symbol, den Mythus unter sich begreift.“ 28 Ebd., S. 559.
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sischen Rausch erfasst wird und dadurch die alltägliche Ordnung der diskursiven Vernunft verlässt. In Bachofens Versuch über die Gräbersymbolik der Alten ist eine Gegenüberstellung zwischen Symbol und Mythos bzw. Rede zu finden, die Creuzers diesbezüglichen Darstellungen durchaus entspricht: Der Mythus ist die Exegese des Symbols. Er entrollt in einer Reihe äußerlich verbundener Handlungen, was jenes einheitlich in sich trägt. Dem diskursiven philosophischen Vortrage gleicht er in so fern, als er, wie dieser, den Gedanken in eine Reihe zusammenhängender Bilder zerlegt, und dann dem Beschauer überlässt, aus ihrer Verbindung den letzten Schluß zu ziehen. Das Symbol erweckt Ahnungen, die Sprache kann nur erklären. Das Symbol schlägt alle Saiten des menschlichen Geistes zugleich an, die Sprache ist genöthigt, sich immer nur einem einzigen Gedanken hinzugeben. Bis in die geheimsten Tiefen der Seele treibt das Symbol seine Wurzel, die Sprache berührt wie ein leiser Windhauch die Oberfläche des Verständnisses. Jenes ist nach Innen, diese nach Außen gerichtet. Nur dem Symbole gelingt es, das Verschiedenste zu einem einheitlichen Gesammteindruck zu verbinden. […] Worte machen das Unendliche endlich, Symbole entführen den Geist über die Grenzen der endlichen, werdenden in das Reich der unendlichen, seienden Welt.29
Manfred Frank, der in Anlehnung an Alfred Baeumler Nietzsches Tragödienauffassung auf die romantische Mythentheorie insbesondere Creuzers und Bachofens bezieht, fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: Symbolik: das ist real und leiblich – in Rausch, Tanz und Musik – vollzogener Ritus; der Mythus entfaltet – in der Repräsentation des Sprachlichen – nur die Geschichte, die im Symbol zur Handlung zusammengedrängt war. Die Symbolik ist die myst(er)ische, ekstatische, die dionysische Seite der Religion: im Apollinischen kondensiert sie sich zu klar gegeneinander artikulierten, d. h. distinkten Bildern, die zugleich vergegenwärtigen und in die Ferne rücken: der Mythos, das ist Dionysos, von Apoll ausgelegt. Anders gesagt: es ist die trunkene Le-
29 Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, S. 46 und 48. Nietzsche ent-
lehnte Bachhofens Werk gemeinsam mit dem 3. Band von Creuzers Symbolik am 18. Juni 1871, siehe Crescenzi, „Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869 – 1879)“, S. 407.
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benseinheit, artikuliert – d. h. gegliedert, vom Gott der epischen Kunst, von Apollon.30
Eine Reihe von Dichotomien bildet sich in der Folge dieser Deutungen der symbolischen Ausdrucksweise: symbolische versus mythische Darstellung; rituelle Handlung versus sprachliche Repräsentation; leibliche Symbolik versus abstrakte Semiotik; augenblickliche Plötzlichkeit versus sukzessive Entfaltung; Epiphanie versus Stellvertreterschaft; Präsenz versus Repräsentation; Gegenwärtigkeit versus Vergegenwärtigung; Dionysisches versus Apollinisches. Es ist bezeichnend für Franks scharfen Blick, dass er in einer Zeit, in der im deutschsprachigen Raum die Performativitäts- und Rituals-Forschung kaum noch entwickelt war, die Verbindung zur Sprechhandlungstheorie herstellte und somit bereits am Anfang der 1980er Jahre eine weitere Dimension zur Erfassung der Phänomene, die hier zur Rede stehen, eröffnete: Entscheidend ist also [im Ritus] die Handlung; und auch die Formel – z. B. die Einsegnungsworte, die das Ritual begleiten – kann Handlung sein, woran uns die Sprechhandlungstheorie erinnert hat: Liturgische Texte sind in diesem Sinne – obwohl sie Worte verwenden – nicht wie die mythische Erzählung narrativ und gegenstandsdistanzierend, sondern sie tun das selbst, wovon sie reden.31
Der englische Philosoph John L. Austin führte in den 1950er Jahren im Rahmen seines sprachtheoretischen Projektes, das Sprechen als Handeln aufzufassen, eine Unterscheidung zwischen performativen und konstatierenden Äußerungen ein. Austins erste Beispiele von Performativa sind Sprechakte, die den Status von Ritualen aufweisen: Heirat, Schiffstaufe, Testament, Wette.32 Die Performativität dieser Aussagen besteht darin, dass sie, im Unterschied zu den konstatierenden Äußerungen, nicht einfach eine Handlung beschreiben, sondern genauso das vollziehen, „was mit [ihnen] beschrieben wird, und zwar durch den Akt der Äußerung selbst“.33 Ihre gemeinschaftsbildende Kraft beruht auf der Wiederholung einer Formel, während ihre Performativität darin besteht, das, was sie benennen, zugleich auch zu vollziehen.34 Solche 30 Frank, Der kommende Gott, S. 94. Zu Nietzsches Deutung der Mysterien und deren
Rolle zur Begegnung zwischen Dionysischem und Apollinischem siehe Hemelsoet/ Biebuyck/Praet, „,Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung‘“. 31 Ebd., S. 84. 32 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 28 f. 33 Krämer, „Sprache, Sprechakt, Kommunikation“, S. 138. 34 Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift“, S. 40 – 43.
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Sprechakte stellen die Idee der Sprache als Repräsentation in Frage, indem sie die Trennung zwischen Darstellen und Sein unterminieren: Wort und Sache, Sprechen und Handeln sind zu unterscheiden, und das bildet den Angelpunkt eines nicht-magischen, eines aufgeklärten Weltverhältnisses. Mit den ursprünglichen Performativa scheint Austin nun auf eine Art quasi magischer Sprechereignisse gestoßen zu sein, insofern ihr Status darin besteht, das, was sie sprachlich darstellen, zugleich auch wirklich zu sein.35
Die Aufwertung des performativen Momentes in der Kulturanalyse gehört zu einem gedanklichen Kern, von dem Nietzsche von den ersten Basler Jahren an bis zum Zusammenbruch in Turin immer wieder zehrt. Seine Auffassung der attischen Tragödie gründet auf der Voraussetzung, sie entgegen der von Aristoteles eingeleiteten und von den alexandrinischen Philologen durchgeführten Reduktion des Dramas auf Textüberlieferung im ursprünglichen Zusammenhang ihrer kultischen Veranlassung und performativen Hervorbringung zu betrachten. Wie bereits erwähnt, hebt Nietzsche in den Notizen zum dritten Teil der Vorlesung über die Geschichte der griechischen Literatur (Wintersemester 1875/1876) nachdrücklich hervor, dass die Tragödie wie die gesamte Dichtung der Griechen kein Text, sondern „eine Verknüpfung von Künsten“ war, die für „den Augenblick“, für „den gegenwärtigen Hörer u[nd] Zuschauer“ gemeint war.36 Die Einbettung der Tragödie im Kultus führte ihrerseits dazu, dass die moderne Trennung zwischen Schauspieler und Publikum nicht vorhanden war: „Weihvoll war die Stimmung des Zuhörers: es war ein Cultus. Ursprünglich waren alle Mitspieler gewesen“.37 Immer wieder weist Nietzsche darauf hin, dass im Rausch des dionysischen Dithyrambus Trennungen aufgehoben werden, die im Alltag das kulturelle und soziale Leben ordnen – bis hin zur Auflösung der Individuation. Mit diesem Zustand, in dem die Einheit zwischen Menschen, Natur und Gott wiederhergestellt wird, ist jene Ausdrucksweise verbunden, die Creuzer als symbolisch bezeichnet und die ebenfalls durch eine besondere Einheit charakterisiert ist. Denn die für die begriffliche Sprache konstitutive Trennung zwischen Signifikant und Signifikat bleibt in der symbolischen Darstellung aus. Nur auf diese 35 Krämer/Stahlhut, „Das ,Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphiloso-
phie“, S. 41.
36 Nietzsche, „Geschichte der griechischen Litteratur“, KGW II , 5, S. 278. 37 Nietzsche, „Einleitung in die Tragödie des Sophocles“, KGW II , 3, S. 18.
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Weise kann im Symbol – in der Formulierung Creuzers – ein „Einziges“ und „Ungetheiltes“ zum Ausdruck kommen. Dadurch, dass in der symbolischen Darstellungsweise der semiotische Verweisungsprozess zwischen den beiden Teilen des Zeichens nicht stattzufinden hat, kann jene blitzartige Totalität zustande kommen, die Creuzer zufolge das wesentliche Merkmal des Symbols darstellt. Während jedoch Creuzer und Bachofen vor allem die bildlichen Darstellungen des Symbols und mithin eine Betrachtungsweise thematisieren, nämlich die visuelle, welche tendenziell gegenstandsdistanzierend wie die begriffliche Rede wirkt, kommt bei Nietzsche die Performativität des Symbolischen uneingeschränkt zum Tragen, da er sich auf das Singen und Tanzen im Dithyrambus bezieht. Nirgendwo erfolgt das Zusammenfallen von Bezeichnendem und Bezeichnetem so deutlich wie im Fall des Tanzes, denn die Tanzenden repräsentieren „sich selbst […] in der rhythmischen Bewegung ihrer Körper“.38 Semiotisch betrachtet besteht die Performativität des Tanzens aus drei unterschiedlichen, wenn auch miteinander verflochtenen Momenten: die Hervorbringung des Sinnes, die Selbstrepräsentation und die Verkörperung des Zeichens. Die Tanzenden verweisen nämlich auf keinen bereits bestehenden Sinn, sondern bringen diesen erst im Augenblick des Tanzens hervor. Ferner geht im Tanz das zeichenhafte Tun der sich selbst repräsentierenden Tänzer und Tänzerinnen keineswegs in der Bedeutung auf, weil es sich selbst bedeutet und somit zugleich als Ursprung und Ziel der semiotischen Bewegung fungiert. Im selbstrepräsentativen Zeichen wird die zeichenhafte Distanz dergestalt zur materiellen Präsenz, ohne dass die Zeichenfunktion kollabiert: Zeichen und Bedeutung verschmelzen zur Einheit. Zu diesem semiotischen Phänomen, das denjenigen besonderen Zeichen eigen ist, die Creuzer Symbole nennt, kommt schließlich im Fall des Tanzes eine zusätzliche, von Nietzsche nachdrücklich betonte Dimension des Performativen hinzu, nämlich die Verkörperung des Zeichens: Die Tanzenden agieren als verkörperte, selbstrepräsentative Zeichen. Betrachtet man den Tanz als künstlerisches Tun, dann werden die tanzenden Künstler und Künstlerinnen selbst zum Produkt ihrer Kunst. In einer in unserem Zusammenhang sehr wichtigen Stelle gleich am Beginn der Geburt der Tragödie beschreibt Nietzsche die dreifache, im rituellen Rahmen des Dionysos-Festes erfolgende Verwandlung der Choreuten. Die drei eben besprochenen Momente der symbolisch-performativen Ausdrucksweise werden dadurch exemplarisch veranschau38 Müller Farguell, Tanz-Figuren, S. 277.
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licht. Es geht dabei zunächst um die Transformation des Körpers ins Zeichen, ferner um dessen Identifizierung mit der Bedeutung – d. h. um die Identifizierung des tanzenden und singenden Menschen mit dem Gott Dionysos – und schließlich um die Selbstrepräsentation des zum lebendigen und sich rhythmisch bewegenden Zeichen gewordenen Menschen als Kunstwerk: Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Träume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden (GT , S. 30).39
In der Deutung Nietzsches erscheint der dionysische Dithyrambus und mithin der Kern der Tragödie als eine Konstellation zwischen De-Individuation, Performanz und Überschreitung der medialen Grenzen.
39 Zu den Anklängen dieser Stelle an die Orpheus-Figur siehe Dieminger, Musik im
Denken Nietzsches, S. 52 – 54.
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ietzsches in der Schrift Die dionysische Weltanschauung erstmals formulierte und in Die Geburt der Tragödie reichlich ausgebaute Darstellung der „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ in der Kunst (GT , S. 25) wird gewöhnlich als Versuch betrachtet, die Ästhetik von der Gegenüberstellung von Visuellem und Akustischem aus zu entfalten. Dabei wird jedoch unterschlagen, dass Nietzsches Augenmerk vielmehr auf dem intermedialen Übergang, welcher in der Tragödie stattfindet, liegt. Nietzsche entwickelt einen kulturanthropologischen Diskurs, den er einerseits durch die Schopenhauer’sche Metaphysik zu fundieren versucht, andererseits durch Übernahmen aus Wagners Theorie des musikalischen Dramas sowie durch apologetische Hinweise auf dessen Musiktheater zu aktualisieren bestrebt ist und schließlich durch einen emphatischen Ton verkündet. Wie so oft bei Nietzsche mutet das erste Ergebnis paradox an: Obwohl er angeblich auf eine begeisterte Verherrlichung der Musik abzielt, führt er eine Aufwertung des Scheins durch, welche die metaphysische Basis seines Projektes destabilisiert und einen tiefen Riss in seiner Darstellung hinterlässt: Fundierung und Bewegung seiner Gedanken gehen auseinander. Die Geburt der Tragödie stellt ein mehrschichtiges Buch dar, in dem unterschiedliche Deutungsebenen bestehen, welche einander noch dazu in wesentlichen Punkten widersprechen.1 Der metaphysischen Trennung von Schein und wahrem Wesen samt deren Zuordnung zum Apollinischen und Dionysischen steht ein Maskenspiel zwischen den beiden Gottheiten entgegen, in dem die gerade erstellten metaphysischen Hierarchien und medialen Anordnungen unterminiert werden.2 Im Folgenden sollen zunächst weitere musikästhetische Positionen – und darunter freilich die Nietzsche
* In dieses Kapitel sind Gedanken und Formulierungen eingeflossen, die ich bereits
in Celestini, „Nietzsches Ästhetik der Intermedialität“, publiziert habe.
1 Aldo Venturelli bezeichnet die Geburt der Tragödie als das „vorläufige Resultat eines
zerbrechlichen momentanen Gleichgewichts, das immer wieder in Frage gestellt wurde“ (Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, S. 15). 2 Bertram Schmidt ist einer der wenigen Kommentatoren, die bei der Betrachtung von Nietzsches erstem Buch die Besonderheit von dessen Darstellungsweise zu beachten versuchen (Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 29).
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nahestehenden Schopenhauers und Wagners – nicht zum Zweck der Einflussbestimmung oder der ideengeschichtlichen Darstellung, sondern zur vergleichenden Analyse des diskursiven Feldes herangezogen werden.3 Bertram Schmidt hat „Hanslicks Gegenposition zu Wagner“ in Bezug auf Nietzsche untersucht und daraus den Schluss gezogen, dass Nietzsche sich auch unter Wagners Einfluss kritisch gegenüber Hanslick positioniert, dieser ihn jedoch „in seiner Selbständigkeit gegenüber Wagner“ bestärkt.4 Christoph Landerer und Marc-Oliver Schuster haben versucht, darüber hinaus aufgrund eines im Nachlass 3 Versuche, die Ableitungsverhältnisse zwischen der Musikästhetik des frühen
Nietzsche und jener Wagners aufzuzeigen, unternehmen Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 151 – 175 sowie Bruse, „Die griechische Tragödie als ,Gesamtkunstwerk‘“ und gelangen zu einseitigen Ergebnissen. Beide reduzieren die Schrift Nietzsches auf eine Theorie des musikalischen Dramas, nämlich auf jene Schicht, die zweifellos von Wagner am meisten abhängig ist, und blenden somit die ästhetische Bedeutung der Schrift vollkommen aus. Borchmeyer geht so weit, Thomas Mann paraphrasierend anzudeuten, dass Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ Nietzsches Tragödienschrift „überflüssig“ macht (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 172). Vergleichbar einseitig argumentiert Vogel, Apollinisches und Dionysisches, S. 202. Differenzierter urteilen Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 364 ff., und Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 332 f. Bei seinem Versuch, Nietzsches Abhängigkeit von Friedrich Schlegels Studien des klassischen Altertums (1822) nachzuweisen, übersieht Ernst Behler selbst Nietzsches ausdrückliche Ablehnung der Schlegel’schen Auffassung, wonach die Lyrik eine Gattung der Subjektivität im Gegensatz zur objektiven Epik sei. Nietzsche äußert sich folgendermaßen darüber: „[…] und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzufügen, dass hier [mit Archilochus] dem ,objectiven‘ Künstler der erste ,subjektive‘ entgegen gestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen […]“ (GT , S. 42 f.). Zwar würde eine solche Stellungnahme noch nicht eine partielle, womöglich unbewusste Übernahme der Schlegel’schen Einsichten gänzlich ausschließen, zumal Nietzsche sich oft mehrerer Argumentationsebenen bedient. Jedoch ist dieser Fall besonders deutlich, denn Nietzsche widmet die gesamten Paragraphen fünf und sechs der Widerlegung der Schlegel’schen These von der Lyrik als subjektiver Gattung. Die Annahme Behlers ist also grundlos und irreführend (Behler, „Die Theorie des Dionysischen bei den Brüdern Schlegel und bei Friedrich Nietzsche“, S. 16). Auch von solchen groben Missgriffen abgesehen, wird die Einflussbestimmung – selbst die philologisch fundierte wie im Fall Borchmeyers und Bruses – durch die systematische Ausblendung der Umdeutungen und Umfunktionalisierungen, welche die Folge von Kontextwechseln darstellen, dem Denken niemals gerecht. Denkprozesse und Kulturphänomene lassen sich rein philologisch weder erfassen noch nachvollziehen. Nietzsche kam übrigens sehr früh zu dieser Einsicht und zog daraus seine Konsequenzen. 4 Nietzsche erwarb die dritte Auflage von Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen im Jahr 1865. Siehe dazu Love, Young Nietzsche and the Wagnerian Experience, S. 33, Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 195; Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 31; Landerer/Schuster, „Nietzsche Vorstudien“, S. 119.
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befindlichen Textes Nietzsches Nähe zu Hanslick in der Zeit vor dem Bruch mit Wagner nachzuweisen.5 Davon wird in § 6 ausführlich die Rede sein. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass Schmidt neben der strategischen Funktion Hanslicks für Nietzsches Entwicklung einer selbständigen Position auch das wesentliche Moment erwähnt, das die beiden trennt, und zwar sowohl vor als auch nach dem Bruch: Hanslicks Musikästhetik nimmt das künstlerische Schaffen des Komponisten als prototypisch für Musik überhaupt und versteht es analog zur „plastischen“ Arbeit des Bildhauers [folgt Zitat aus Hanslick]. Nietzsche setzt Hanslick ein anderes Verständnis von Musik entgegen, das sich an einem anderen Aspekt von Musik orientiert, dem des Tuns, des Selbstmusizierens, -singens und ‑tanzens.6
Dem, was Schmidt „Musik als musisches Tun“ bezeichnet,7 entspricht Nietzsches Aufwertung des Performativen, welche nicht nur seine Musikauffassung, sondern auch sein Verständnis der griechischen Antike und darüber hinaus seine Kulturtheorie prägt.8 Während Hanslick auf eine objektivierende Ästhetik des musikalischen Kunstwerks zielt, die dem rezeptiven Modus der ästhetischen Anschauung entspricht, richtet Nietzsche sein Augenmerk auf die ästhetische Erfahrung und auf die Steigerung der „symbolischen Fähigkeiten“ (GT , S. 33), die der Mensch beim leibhaften Vollzug von Musik erlebt. Die Distanz, welche beide Betrachtungsweisen von Musik trennt, bringt Nietzsche zum Ausdruck, wenn er betont, dass der Mensch im dionysischen Dithyrambus nicht länger Künstler, sondern selbst Kunstwerk geworden ist (GT , S. 30). Bedenkt man, dass die Aufwertung des Performativen für das gesamte Denken Nietzsches ausschlaggebend ist, erscheint dieser Unterschied zu Hanslick in seiner ganzen Tragweite. Unglücklicherweise mischt Schmidt Einblicke in das Musikdenken des jungen Nietzsche mit anderen Zwecken und Gegenständen, die damit wenig zu tun haben. Dennoch ermöglicht ihm die offensichtlich 5 Landerer/Schuster, „,Die Musik kann niemals Mittel werden‘“; dies., „Nietzsche
Vorstudien“. Eric Dufour führt den Bruch mit Wagner auf die vermeintliche Übernahme der Positionen Hanslicks vonseiten Nietzsches in der Zeit um Menschliches, Allzumenschliches zurück (Dufour, „La Physiologie de la Musique de Nietzsche“, S. 222). Siehe auch Dufour, „L’Esthetique musicale formaliste“. 6 Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 42. 7 Ebd. 8 Die gegenwärtige Aufwertung der Betrachtung von Musik als performance in der Musikwissenschaft zeugt von der Modernität dieses Ansatzes Nietzsches. Siehe zu dieser Tendenz u. a. Cook, Beyond the Score.
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durch Thrasybulos Georgiades angeregte Fokussierung auf die altgriechische musiké, wesentliche Momente der Tragödientheorie Nietzsches zu erschließen. Neben der Betonung des performativen Moments, welches Nietzsche deutlich und unmissverständlich von jeglicher Art von Klassizismus und Formalismus – in primis jenem Hanslicks – trennt, ist auch eine weitere Beobachtung Schmidts zu erwähnen, die, wenn auch von ihm nicht weiter verfolgt, sich als durchaus treffend erweist. Er hebt nämlich hervor, dass die griechische Lyrik als musiké „dem Musikverständnis Schopenhauers diametral entgegensetzt ist“; deshalb sei es „ein Dilemma von Nietzsches ,Geburt der Tragödie‘, griechische Musiké mittels einer Metaphysik der ,absoluten Musik‘ erfassen zu wollen“.9 Auch hier ist Schmidt zweifellos beizupflichten: Der von Schopenhauer und Wagner abgeleiteten Musikmetaphysik in der Geburt der Tragödie steht die intermediale Performanz der altgriechischen musiké kontrastiv gegenüber.10 Aus seiner Auseinandersetzung mit der musiké der griechischen Antike entwickelt Nietzsche eine Philosophie des Performativen, welche ihn bald zu einer expliziten Kritik an der abendländischen Metaphysik führt. In anderen Worten erklärt Nietzsches Festhalten am Konzept der performativen Hervorbringung von Kunst und Kultur sowohl – gegen Hanslick – dessen Nähe zu Wagner, besonders was bei diesem die Würdigung des Ereignishaften, Improvisatorischen und Kontextuellen im Musiktheater betrifft,11 als auch seine Distanz zu ihm, denn dieses Konzept unterminiert die metaphysische Trennung von Wesen und Erscheinung samt der Zuordnungen der verschiedenen Künste zum einen oder zum anderen Bereich. Bevor wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt richten, sei ein weiteres Moment untersucht, das in Nietzsches erstem Buch die Anlage der Wagner’schen und Schopenhauer’schen Musikmetaphysik destabilisiert, nämlich die anfangs erwähnte Aufwertung des Scheins. 9 Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 26; 28. 10 Schopenhauer betrachtet gerade die für die altgriechische musiké konstitutive
Intermedialität sowie die kultisch-kulturelle Kontextualisierung als akzidentelle „Dienstbarkeit“, die dem Wesen der Musik fremd ist: „Nun aber das Verhältnis der Tonkunst zu dem ihr jedes Mal aufgelegten bestimmten Äußerlichen, wie Text, Aktion, Marsch, Tanz, geistliche oder weltliche Feierlichkeit usw., ist analog dem Verhältnis der Architektur als bloß schöner, d. h. auf rein ästhetische Zwecke gerichteter Kunst zu den wirklichen Bauwerken, die sie zu errichten hat, mit deren nützlichen, ihr selbst fremden Zwecken […]“ (Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II , S. 508). Diese Einstellung Schopenhauers bereitete auch Wagner Probleme, siehe dazu Kropfinger, „Wagners Musikbegriff und Nietzsches ,Geist der Musik‘“, S. 9. 11 Siehe dazu Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 40 – 74.
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Die bildende, apollinische Kunst, zu der Nietzsche auch die epische Dichtung zählt, hat ihm zufolge als „Voraussetzung“ den „schöne[n] Schein der Traumwelten“ (GT , S. 26). Bei der Erläuterung dieser Annahme entwickelt er eine Theorie des ästhetischen Scheins, die von Karl Heinz Bohrer bereits analysiert wurde und daher hier nur zusammengefasst zu werden braucht.12 Nietzsche konstruiert zunächst im vierten Paragraphen der Geburt der Tragödie das Modell eines apollinischen Künstlers und exemplifiziert es am Beispiel von Raffaels Gemälde der Transfiguration. Ausschlaggebend ist dabei die Verdoppelung des Scheins. Diese erfolgt dadurch, dass die empirische Realität als „ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität“ nach Schopenhauer bereits einigermaßen eine Welt des Scheins ist, genauer gesagt eine „in jedem Moment erzeugte Vorstellung“ des „Wahrhaft-Seiende[n] und Ur-Eine[n]“ als des „ewig Leidende[n] und Widerspruchsvolle[n]“. Auf diese Weise erscheint die künstlerische Traumvision als „Schein des Scheins“, nämlich als ein in einer Welt des Scheins erzeugter ästhetischer Schein (GT , S. 38 f.). Freilich würde Schopenhauer den Begriff des Scheins für die Welt als Vorstellung nicht verwenden, da er diesen als Synonym von Täuschung versteht. Die Welt als Vorstellung ist Schopenhauer zufolge nicht trügerisch, sondern bedingt, und zwar durch den Willen. Zur Widerlegung des Skeptizismus äußert er sich folgendermaßen: Insofern ist also die angeschaute Welt in Raum und Zeit, welche sich als lauter Kausalität kundgibt, vollkommen real und ist durchaus das, wofür sie sich gibt und sie gibt sich ganz ohne Rückhalt als Vorstellung, zusammenhängend nach dem Gesetz der Kausalität. […]. Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt: d. h. sie hat transzendentale Idealität. Sie ist aber dieserwegen nicht Lüge noch Schein.13
Für Nietzsche sind aber im Scheinbegriff die Bedeutungssphären des Leuchtens und Glänzens sowie des Zum-Vorschein-Kommens und Sich-Zeigens miteingeschlossen, wobei letztere Bestimmungen die Brücke zu Schopenhauers Vorstellung bauen. Die platonische Struk12 Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“. 13 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 45 f. Anders sieht dies Bohrer,
dem zufolge bei Schopenhauer „der Begriff der ,Erscheinung‘ im Unterschied zum ,Ding an sich‘ gerade den falschen ,Schein‘“ bedeutet, siehe ders., „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“, S. 117.
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tur von Nietzsches Verdoppelung des Scheins ist offenkundig, ebenso die ihm eigentümliche Umkehrung der Prioritäten und Wertungen: Der ästhetische Schein, obwohl weit entfernt von der Wahrheit des Ur-Einen wie Platons Nachahmung einer Nachahmung und daher als „Depotenziren des Scheins zum Schein“ bezeichnet, wird nun keineswegs abgewertet, sondern als „eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein“ eingeschätzt (GT , S. 39).14 Nietzsche betrachtet demnach den Schein als eine anthropologische Notwendigkeit, die sich jedoch als metaphysisch motiviert erweist: Die in der apollinischen Kunst stattfindende „Erlösung durch den Schein“ sei ein „ewig erreichte[s] Ziel des Ur-Einen“ selbst (ebd.), wozu der „naive Künstler“ diesem lediglich als ein Instrument dient. Das im fünften Paragraphen dargestellte Modell des dionysischen Künstlers wird am Beispiel des Lyrikers Archilochos erläutert. Dabei beschreibt Nietzsche wiederum einen zweistufigen Prozess künstlerischer Produktion, welcher sich allerdings in seinem ersten Schritt von jenem der apollinischen Kunst unterscheidet, indem er Schillers briefliche Aussage Goethe gegenüber ins Feld führt, dass die dichterische Empfindung anfänglich keine bestimmten Inhalte, Bilder oder logische Verknüpfung von Gedanken beinhalte, sondern vielmehr aus einer „gewisse[n] musikalische[n] Stimmung“ bestehe (GT , S. 43).15 Trotz der Erläuterungen in diesem und im folgenden Paragraphen der Geburt der Tragödie lässt dieser Hinweis deutlich erscheinen, dass die Priorität des musikalischen Momentes in der Lyrik nicht wörtlich als Produktion eines Textes aus einer bestehenden Musik, sondern als die Annahme einer „musikalischen Stimmung“ als vorbereitender Zustand des dichterischen Schaffens zu verstehen ist – oder zumindest verstanden werden kann. Diese Einsicht, in Verbindung mit der antiken Vorstellung, wonach die „Vereinigung, ja Identität des Lyrikers 14 Siehe dazu auch Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des
,Scheins‘“, S. 122 f.
15 Der von Nietzsche zitierte Brief Schillers an Goethe trägt das Datum 18. 3. 1796.
Siehe dazu Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 88 – 94; Venturelli, „Das Klassische als Vollendung des Sentimentalischen“. Zu den Entsprechungen mit ästhetischen Positionen des frühen Benjamin, die nicht zuletzt durch die Ausein andersetzung mit Goethes Wahlverwandtschaften und der frühromantischen Ästhetik entwickelt wurden, siehe Celestini, „Zwischen Konvention und Ausdruck“. Borchmeyer hebt hervor, wie Wagner hingegen trotz der Schopenhauer-Rezeption für den Kompositionsprozess die hervorbringende Funktion von Musikbildern feststellt (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 110). Cosima berichtet am 1. März 1871, dass Richard zufolge „der Musiker durch eine Idee, ein Bild bestimmt wird, demgemäß seine Musik entwirft“ (Cosima Wagner, Tagebücher I, S. 365).
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mit dem Musiker“ als „natürlich“ gegolten habe, sowie mit der bereits erläuterten, als „ästhetische Metaphysik“ bezeichneten Theorie des Scheins, ermöglicht Nietzsche, den Lyriker als Archetyp des dionysischen Künstlers zu „erklären“. Dieser sei „gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und produciert das Abbild dieses Ur-Einen als Musik“. Erst aus diesem „bild- und begrifflose[n] Wiederschein [sic] des Urschmerzes in der Musik“ erzeuge der Lyriker eine „zweite Spiegelung“, die als „Erlösung im Scheine“ durchaus bildhaft ist und daher als apollinisch zu bezeichnen wäre (GT , S. 43 f.). Wie der apollinische Künstler, bringt der Lyriker eine doppelte Spiegelung hervor, wobei jedoch die erste eine bildlose ist, was Nietzsche in die offensichtliche Schwierigkeit versetzt, von einem scheinlosen „Wiederschein“ zu sprechen. Nietzsches Bestimmung der Musik als „Abbild“ des Ur-Einen weist zweifellos auf Schopenhauers Musikphilosophie hin. Im berühmten 52. Paragraphen von dessen Welt als Wille und Vorstellung I ist diesbezüglich zu lesen: Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und [ein] Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs gleich den anderen Künsten das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.16
Durch die Betrachtung dieser Stelle fällt auf, dass Nietzsche in seinen Tragödienschriften den Begriff der „Idee“ meidet.17 Denn ihm zufolge bildet die apollinische Kunst des Bildhauers keineswegs wie bei Schopenhauer die platonische Idee ab, sondern den „schöne[n] Schein der Traumwelten“. Daher wird sie der „Kunstwelt“ des Traumes, in Abgrenzung zur mit dem Rausch verbundenen dionysischen Kunst, zugeordnet (GT , S. 26). Wagner nimmt in der Nachfolge Schopenhauers die platonische Idee in seine Musikphilosophie auf und fasst in Beethoven seine durch die Schopenhauer-Rezeption erheblich modifizierte Theorie des musikalischen Dramas folgendermaßen zusammen:
16 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, § 52, S. 359. 17 Dazu bereits Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“,
S. 122.
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Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt, dagegen selbst eine, und zwar eine umfassende Idee der Welt ist, schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt.18
Nietzsche teilt mit (dem späten) Wagner die Überzeugung, dass die Musik das Drama in sich einschließt, wobei er an zwei Stellen, in denen er Schopenhauers Musikauffassung und Wagners Theorie des musikalischen Dramas referiert, auf den Begriff der Idee zurückgreift: „Wir glauben an das ewige Leben“, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist (GT , S. 108). Die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben (GT , S. 138).
Nietzsches erste Erwähnung der Idee folgt im 16. Paragraphen auf ein langes Zitat aus dem Musikparagraphen von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I, die zweite auf wiederholte Hinweise auf Tristan und Isolde im 21. Paragraphen.19 Seine Theorie des Scheins hat Nietzsche aber gleich am Beginn des Buches dargestellt. Sie gehört sozusagen einer anderen Schicht an und läuft daher Gefahr, unter den emphatischen Verweisen auf Schopenhauer und Wagner unterzugehen. Es ist indessen wichtig hervorzuheben, dass Nietzsche durch die Verankerung im Traum selbst die bildende Kunst von der klassizistischen Herrschaft der „Objektität der Ideen“ als deren einzig zugelassenen Gegenstand zumindest prinzipiell befreit und ihr die durchaus moderne Möglichkeit des Irrealen samt der noch zu diskutierenden Verbindung mit dem Unbewussten eröffnet. Dass dies auf die griechische, „apollinische“ Kunst zurückprojiziert wird, ist Teil des häufig diskutierten Phänomens, nach dem Nietzsche bei aller philologischen Unangemessenheit neue Dimensionen der griechischen Kultur erschließt, und zwar
18 Wagner, „Beethoven“, S. 87. 19 Borchmeyer hebt zu Recht hervor, dass Wagners Theorie des Dramas, worauf die
zweite Stelle Nietzsches hinweist, sich von Schopenhauer unterscheidet, siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 161 – 162. Beide hier angeführten Stellen decken sich auch miteinander nicht restlos, denn das Leben und die Welt sind nicht dasselbe. Zweifellos steht die erste Formulierung Nietzsches eigenen Positionen näher.
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selbst im „urklassischen“ Bereich des „Apollinischen“.20 Denn dieser erscheint Nietzsche nun ebenso doppelbödig wie die Schiller’sche Kategorie des Naiven, hinter deren kindlicher Frische die Überwindung schrecklicher Abgründe stecke: Wo uns das „Naive“ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss (GT , S. 39).21
Ausgerechnet diese Beziehung der apollinischen Kunst auf die Sphäre des Traumes ermöglicht Nietzsche, auf einen weiteren Aspekt des griechischen Kultus des Apollo hinzuweisen, nämlich darauf, dass „Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte“ zugleich „der wahrsagende Gott“ ist (GT , S. 27). Die aus der Antike stammende Assoziation zwischen Traum und Hellsehen wurde ebenfalls von Schopenhauer behandelt, allerdings nicht in seinem Hauptwerk, sondern in den 1851 erschienenen Parerga und Paralipomena. Im hier enthaltenen Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt macht dieser darauf aufmerksam, dass „Traum, somnambules Wahrnehmen, 20 Bertram Schmidt unterscheidet zwischen Erkenntnis des klassischen Altertums und
historisch-wissenschaftlicher Philologie und meint auf dieser Basis, dass Nietzsches Deutung des Altertums „zu einer Veränderung des Griechenbildes geführt“ hat (Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 24). Schmidt verweist auch auf ähnliche Äußerungen von Walter Kaufmann, Ludwig Curtius und Ernst Langlotz. 21 Siehe auch dazu GT , S. 129 f. sowie NL 7, S. 183 f. Carsten Zelle weist darauf hin, dass bei Schiller erst der Blick des Sentimentalischen die Dinge naiv werden lässt (ders., Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 193 – 200; 332 f.). Dies bedeutet zweifellos eine Absage an die vereinfachenden Lektüren einer – ontologisch sowie geschichtsphilosophisch verstandenen – bloßen Opposition zwischen den beiden Kategorien, indem diese nun dialektisch aufeinander bezogen werden. Eine Dialektik, die geradezu Hegelianisch anmutet, wenn man auch die Kategorie des „Idealischen“ als die Aufhebung beider heranzieht (ebd., S. 200 – 207). Diese Konstruktion ist dennoch mit der von Nietzsche georteten Doppelbödigkeit nicht gleichzusetzen, welche keineswegs erst bei der Wahrnehmung naiver Dinge, sondern bereits bei der Hervorbringung von Kultur ansetzt. Nietzsche unterscheidet übrigens die neuzeitliche Sehnsucht nach dem Naiven von der antiken, und zwar aufgrund der Rohheit, die die Figur des Satyrs verkörpert: „Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten!“ (GT , S. 57 f.).
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Hellsehn, Vision, Zweites Gesicht und etwaniges Geistersehn nahverwandte Erscheinungen“ seien.22 All diese Phänomene bestehen Schopenhauer zufolge darin, Anschauungen hervorzubringen, die, obwohl sie denjenigen vollkommen gleich sind, welche auf äußere Anregung der Sinne zurückgehen und daher in Zeit und Raum entstehen, unmittelbare Einwirkungen des Willens als Wesen der Dinge an sich darstellen und als solche den Schranken der Individuation enthoben sind.23 Die von Nietzsche hergestellte Verbindung zwischen Traum und bildender Kunst findet allerdings bei Schopenhauer keine Erwähnung. Es könnte auch kaum anders sein, da Schopenhauer die bildende Kunst als Abbild der Idee betrachtet, welches nicht im willensnahen Zustand des Traumes, sondern in einer kontemplativen Stimmung entsteht, in der die Menschen zu „reinen willenlosen Subjekt[en] des Erkennens“ werden.24 Gleich am Beginn seines Buches gibt Nietzsche selber Kunde von seinen Quellen, wobei neben denjenigen, die aus der Antike stammen,25 Wagners Meistersinger von Nürnberg von besonderer Evidenz sind. Daraus zitiert Nietzsche Hans Sachs’ Verse im dritten Akt, in denen dieser, die Schopenhauer’sche Terminologie aufgreifend, aber inhaltlich von ihm abweichend, die „Dichtkunst und Poëterei“ als „Wahrtraum-Deuterei“ bezeichnet (GT , S. 26).26 Was aber bei Wagner zum Schaffen eines „Meisterliedes“ führt, wird bei Nietzsche als „Voraussetzung aller bildenden Kunst“ erklärt (GT , S. 26). Eine deutliche Unterscheidung zwischen den Sphären des Visuellen und Akustischen führt Wagner in seiner im Sommer 1870 verfassten 22 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, S. 327. 23 Ebd., 364 f. 24 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, S. 297. Schopenhauer beschreibt
auf diese Weise die ästhetische Erfahrung von der Seite des Betrachters. Der dabei analysierte Zustand lässt sich jedoch auf den Schaffenden übertragen. 25 Im Nachlass befindet sich folgende, aus der Zeit zwischen Ende 1870 und April 1871 stammende Notiz: „Zur Lehre vom Traum: Lucretius V und Phidias, Heracles, dann Sophocles“ (NL 7, S. 162). 26 Schopenhauer nennt „Wahrträumen“ das gewöhnlich als „Schlafwachen“ bezeichnete „Wachwerden im Schlafe“, welches bei Somnambulen zu beobachten ist und darin besteht, dass „eine Wahrnehmung durch das Traumorgan stattfindet“, siehe ders.: Parerga und Paralipomena I, S. 290 f. Über die Schopenhauer-Rezeption in Wagners Meistersinger siehe u. a. Kienzle, „Die Nachwirkung von Schopenhauers Philosophie in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 84 f. Zur Rezeption der Traumtheorie Schopenhauers bei Wagner siehe Windrich, „Bestimmung und Bildlosigkeit“, S. 323 f. Über Traum und Geistersehen im 19. Jahrhundert siehe Pfotenhauer, „Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu“.
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Beethoven-Festschrift durch. Hier greift er abermals auf Schopenhauers Traumtheorie zurück, um die von diesem im 52. Paragraphen der Welt als Wille und Vorstellung I postulierte unmittelbare Nähe der Musik zum Willen zu erklären. Dabei unterscheidet Wagner die sowohl im Wachen als auch im Traum erfahrbare, als „sichtbar“ sich darstellende „Lichtwelt“ von einer nur durch das Gehör wahrnehmbaren „Schallwelt“.27 Die Verbindung des Akustischen mit dem Traum besteht nun Wagner zufolge darin, dass der Mensch aus „den beängstigendsten“ unter den prophetischen Träumen „mit einem Schrei“ erwacht, „in welchem sich ganz unmittelbar der geängstigte Wille ausdrückt“.28 Beiden Welten schreibt Wagner unterschiedliche Eigenschaften zu: Täuschung, Licht, Schein und Schönheit gehören der „Lichtwelt“ an, während „Schrei, Klage- und Wonnenlaut die unmittelbarste Äußerung des Willensaffektes“ bedeuten.29 Dementsprechend sind auch die ästhetischen Kategorien verschieden, denen Musik und bildende Kunst zuzurechnen sind. Gehört letztere zur Kategorie der Schönheit, so kann die Musik „an und für sich einzig nach der Kategorie des Erhabenen beurteilt werden“, und zwar deshalb, weil sie „die höchste Ekstase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit erregt“.30 Wagner spricht der Musik keineswegs die „Wirkung der Schönheit auf das Gemüth“ ab, sondern ordnet diese, welche „die allererste Wirkung des bloßen Eintrittes der Musik“ sei, jener des Erhabenen unter, welche eine „Offenbarung ihres eigensten Charakters“ darstelle. Die Musik erweckt also Wagner zufolge zwar eine „schöne“ Wirkung, die darin besteht, „als reine, von jeder Gegenständlichkeit befreite Form uns gegen die Außenwelt gleichsam“ abzuschließen. Diese sei jedoch keineswegs das Wesentliche an der Musik, denn eine Musik, die „beim prismatischen Spiele mit dem Effekte ihres ersten Eintrittes verweilte“, wäre eine „recht eigentlich nichtssagend[e]“.31 Es ist unschwer, in dieser Einschätzung eine Antwort auf die Auffassung von Musik als arabeskenhaftes Spiel tönend bewegter Formen, die 27 Wagner, „Beethoven“, S. 46. Siehe dazu und zu den Beziehungen zu Herder Stoll-
berg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 122 – 129; 175 – 191.
28 Wagner, „Beethoven“, S. 47. 29 Ebd., S. 48 f. 30 Ebd., S. 56. 31 Ebd., S. 57. Wagner spricht auch an einer vorausgegangenen Stelle die ablehnen-
de Haltung vieler Ästhetiker – und darunter sind neben Hanslick mit Sicherheit Kant und Schiller zu zählen – dem „pathologischen Elemente“ der Musik gegenüber an und weist auf Schopenhauer als den ersten hin, der, anstatt Musik an die Anschaulichkeit der bildenden Künste anpassen zu wollen, das pathologische an der Musik mit metaphysischer Bedeutung auflud und somit eine Aufwertung von Musik erzielte, siehe ebd., S. 49 f.
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Hanslick in seiner Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (Erstausgabe 1854) dargestellt hatte, zu erkennen.32 Die von Hanslick angefochtene subjektivistische Gefühlsästhetik kann jedoch nur eingeschränkt mit Wagners Kategorie des Erhabenen gleichgestellt werden. Denn in dieser wird die „Ekstase“ der Schrankenlosigkeit ausgerechnet durch die Sprengung der Subjektivität bewirkt. In der auf die Wirkung von Schönheit ausgerichteten Musik sei Wagner zufolge das „systematisch[e] Gefüge ihres rhythmischen Periodenbaues“ derart entwickelt, dass sich sowohl der „Vergleich mit der Architektur“ als auch die Analogie mit der bildenden Kunst aufdrängt.33 Als Beispiele einer solchen Musik nennt Wagner Tanzmusik, tanzmusikartige Symphoniesätze und Oper.34 Diese Art von Musik ist Wagner insofern verdächtig, als sie eben nur schön ist. Bei ihrer Verurteilung wird ersichtlich, wie Wagner die Kategorie des Erhabenen in seine Polemik gegen französische und italienische Oper einspannt: Die Musik tritt hierdurch aus dem Stande ihrer erhabenen Unschuld; sie verliert die Kraft der Erlösung von der Schuld der Erscheinung, d. h. sie ist nicht mehr Verkünderin des Wesens der Dinge, sondern sie selbst wird in die Täuschung der Erscheinung der Dinge außer uns verwebt.35
Gegen Ende der Schrift steigert sich Wagners moralischer Ton im Kampf gegen die vom „Pariser Geschmack“ diktierten „Gesetze der Mode“ 36 bis zur Behauptung eines analogen Verhältnisses zwischen Christentum und Musik: Wie aus der korrupten Welt der Römer „das Christentum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen“, durch die Mode geprägten „Zivilisation die Musik hervor“.37 Die Beethoven’sche Symphonie, in den französischen „Ursit[z] der ,frechen Mode‘“ noch vor der Preußischen Armee eingedrungen, stelle daher „die neue Religion, die welterlösende Verkündigung der erha32 Dass Wagners Beethovenschrift als eine theoretische Entgegensetzung zu Hanslicks
Vom Musikalisch-Schönen zu betrachten sei, weist Kropfinger nach (Kropfinger, Wagner und Beethoven, S. 157 – 163). Siehe dazu auch Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 117 – 121, Eichhorn, Beethovens Neunte Symphonie, S. 199 – 204 sowie Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 191 – 205. 33 Wagner, „Beethoven“, S. 57. 34 Wagner, „Beethoven“, S. 58 f. 35 Ebd., S. 59 f. Zu Wagners Verquickung des ästhetischen und moralischen Urteils vor allem in Bezug auf die Oper siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 85 – 88. 36 Wagner, „Beethoven“, S. 97. 37 Ebd., S. 103.
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bensten Unschuld“ dar, welche als solche dort „wie bei uns“ „schon verstanden“ wurde.38 Nietzsche erhielt das Manuskript von Wagners Beethovenschrift Anfang November 1870.39 Am 10. November schriebt er an Wagner einen Brief, in dem er neben dem Ausdruck von Lob und Wertschätzung auch die eigene Schrift Die dionysische Weltanschauung erwähnt, um die Nähe zu betonen, welche seines Erachtens in musikästhetischen Fragen zwischen ihnen besteht.40 In der Tat hatte Nietzsche bereits in dieser im Juli verfassten Schrift eine Gegenüberstellung von „Schein“ und „Ton“ erzielt, die aufgrund der gemeinsamen Anlehnung an Schopenhauer sowie der Gespräche in Tribschen mit jener Wagners in vielem übereinstimmt.41 In der Geburt der Tragödie nähert sich Nietzsche an Wagners in der Beethovenschrift geäußerte Auffassung zusätzlich an, indem er das Künstlerische schlechthin mit dem Traum und dadurch mit dem Apollinischen verbindet.42 Eine Konsequenz davon ist freilich, dass das Dionysische stärker als in der früheren Schrift als eine im Grunde außerästhetische, vom Außen in den Bereich der Kunst einstürmende Kraft dargestellt wird.43 38 Ebd., S. 109. 39 Janz, Nietzsche I, S. 391 f. 40 Nietzsche wird den etwas gekürzten Text mit dem Titel Die Geburt des tragischen
Gedankens Cosima Wagner zu Weihnachten 1870 schenken, siehe Cosima Wagner, Tagebücher I, S. 360, hier als Die Entstehung des tragischen Gedankens erwähnt. In einem Brief vom 4. Januar 1871 teilt Cosima Nietzsche mit, dass dessen Abhandlung Thema von Abendgesprächen gewesen sei, allerdings nicht die dabei enthaltenen Ideen über das Verhältnis zwischen Musik und Drama, sondern die „Vergleichung von Eschylus und Sophokles“ (Cosima Wagner, Brief an Nietzsche vom 4. 1. 1871 in: KGB II , 2, S. 308). Wagner erwartete offensichtlich von Nietzsche keinen originellen Beitrag über das Thema „Musik und Drama“, sondern bloß eine klassisch-philologische Fundierung seiner eigenen Vorstellungen. Daher übersah er auch diesbezügliche Ansichten Nietzsches, die von den seinigen abweichen. 41 Siehe insbesondere DW , S. 562 f. 42 Andererseits war aber die Auffassung, dass Kunst im eigentlichen Sinne im „Erschaffenkönnen von Bildern“ besteht, bereits in Die dionysische Weltanschauung ausgedrückt, siehe DW , S. 564. 43 Giorgio Colli stellt diese Verschiebung fest, ohne sie allerdings in Verbindung mit Wagners Beethovenschrift zu bringen, siehe ders.: „Die nachgelassenen Schriften der Basler Jahre“, S. 914. Das aus Asien stammende „barbarische Dionysische“ sei durch „ein[e] überschwengliche geschlechtlich[e] Zuchtlosigkeit“ geprägt ( GT , S. 32), wobei „die wildesten Bestien der Natur“ entfesselt wurden. Erst durch die Begegnung mit dem „griechischen Apollinischen“ wird die dionysische „Zerreissung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen“ (ebd., S. 33). Zu den jeweiligen Auffassungen und deren Nähe zueinander siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 102 – 125; 151 – 175.
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Aus dieser Nähe zwischen Nietzsche und Wagner die Identität der jeweiligen ästhetischen Konzepte zu postulieren, wäre allerdings irreführend. Im Gegenteil sind neben den auffälligen Konvergenzen wichtige Unterschiede festzustellen, die sowohl für die Zeit der Geburt der Tragödie als auch für die späteren (musik-)ästhetischen Positionen Nietzsches und noch darüber hinaus von großer Bedeutung sind. Die oben angesprochene Verdoppelung der dionysischen „Spiegelung“ führt, obwohl durch die Annäherung an Wagners Anwendung der Schopenhauer’schen Traumtheorie in der Kunst bedingt, paradoxerweise zu einem mit Wagners Ansichten nicht übereinstimmenden Ergebnis. Denn bei Wagner stellt die Wirkung der Schönheit in der Musik nur ein vorübergehendes Moment dar, welches, wenn nicht durch die Wirkung des Erhabenen überboten, deren Minderwertigkeit und Schuldhaftigkeit bedeutet.44 Obwohl Nietzsche am Beginn der Geburt der Tragödie weiterhin vom Apollinischen und Dionysischen als zwei Kunstprinzipien spricht, wird durch die exemplarische Darstellung des Schaffensprozesses des Archilochos ersichtlich, dass das Dionysische eines apollinischen Momentes bedarf, um zum ästhetischen „Vorschein“ zu kommen. Dies gilt nicht nur für Lyrik und Tragödie, sondern betrifft selbst die dionysische Kunst schlechthin, die Musik. In ihr stellt Nietzsche wiederum ein apollinisches Moment fest, welches in der „bildnerische[n] Kraft“ des Rhythmus bestehe.45 Dieses wird zwar von den eigentlich dionysischen Komponenten des Tons, der Harmonie und der Melodie erschüttert (GT , S. 33), jedoch kommt schließlich das dionysische Musikwerk ebenso wie die Tragödie durch eine „Paarung“ des Dionysischen mit der gestalterischen Kraft des 44 Indem Stollberg den frühen Nietzsche zum Interpretant von Wagners Beetho-
venschrift einsetzt, verwischt er die Differenzen zwischen den beiden. Wären bei Wagner die Kategorien des Schönen und des Erhabenen komplementär, wie Stollberg meint, dann wäre die moralische Entgegensetzung, die Wagner auf jene Unterscheidung gründet, unmöglich (Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 135 – 146). Stollbergs Annahme, Wagner denke an eine „Wechselwirkung von Musikalisch-Schönem und Musikalisch-Erhabenem“ (S. 231), ist meines Erachtens genauso wenig haltbar, wie die postulierte Identität mit Herders diesbezüglichen Ansichten (ebd.), da dieser im Unterschied zu Wagner beide Kategorien tatsächlich als komplementär betrachtete (Herder, Kalligone, S. 201). 45 Hinter dieser Auffassung des Rhythmus als bildnerischer Kraft steht wahrscheinlich Hanslicks Definition der Form als Rhythmus im Großen. Siehe Hanslick, Vom musikalisch Schönen, S. 58. Zu dieser Auffassung und deren Voraussetzungen siehe Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, S. 73 f.; 291 – 298. Wagner lässt dies lediglich als vorübergehendes Moment in der ansonsten auf das Erhabene ausgerichteten Musik zu, siehe oben Anm. 19.
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Apollinischen zustande. Ohne eine solche würden Musik Schrei und Tragödie Empfindung des Urschmerzes bleiben, nämlich vorkünstlerische Äußerungen und Zustände.46 Als dionysische ist daher nicht eine Kunst zu bezeichnen, die ohne den Rekurs auf den apollinischen Schein auskommt, sondern eine, in der letzterer aus der dionysischen Bejahung der Existenz samt „Schrecken und Entsetzlichkeiten“ erzeugt wird. Auf diese Weise entsteht der „dionysische Schein“, nämlich ein nicht mehr schöner ästhetischer Schein, der dennoch, und die Tragödie zeugt davon, ästhetische Lust auf eine besondere Weise bereitet (GT , S. 152 f.).47 Hätte Nietzsche Wagners moralische Verurteilung des Scheins übernommen, so hätte dessen Verschmelzung mit dem Klang keineswegs zum „erhabene[n] und hochgepriesene[n] Kunstwerk der attischen Tragödie“ (GT , S. 42)48 führen können, sondern vielmehr nur zu einem verdammenswerten Verlust der Unschuld durch Korrumpierung und Verunreinigung. Wie in den vorausgegangenen Kapiteln gezeigt, distanziert sich Nietzsche deutlich von der überkommenen, von Platon her stammenden Gleichsetzung des ästhetischen Scheins mit Täuschung und lehnt darüber hinaus die platonische Verachtung des Sinnlichen konsequent ab. Der ästhetische Schein wird durch die Zuweisung zu dem wahrsagenden Gott Apollo veredelt und über den Verdacht des Trügerischen erhoben: „[…] man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ,Scheines‘, samt seiner Schönheit, zu uns spräche“ (GT , S. 28). Die apollinische Täuschung ist bei Nietzsche niemals bloß Irrtum oder – wie bei Wagner – Schuld, sondern lebensnotwendige „Illusion“ (GT , S. 37): „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste 46 Im § 21 unterscheidet Nietzsche aus diesem Grund das griechische Dionysische
von einem Orgiasmus, aus dem nur „der Weg zum indischen Buddhaismus führt“ (GT , S. 133). Darin sieht Schmidt eine implizite Kritik an der Musik Wagners und an der Wirkung dieser auf die Zuhörer (Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 71). In den späten Schriften kommt diese Kritik explizit wieder, siehe dazu § 16. 47 Siehe auch GT , S. 62: „Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden“. Im Nachlass ist diesbezüglich zu lesen: „Das, was wir ,tragisch‘ nennen, ist gerade jene apollinische Verdeutlichung des Dionysischen“ (NL 7, S. 192). Kurz davor schreibt Nietzsche, dass das Dionysische „Schein des Seins“, während das Apollinische „Schein des Scheins“ sei (NL 7, S. 184). 48 Dieser Ausdruck ist ein Zitat aus Platon, Gorgias, 502b.
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er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen“ (GT , S. 35).49 Durch diese Einschätzung des Scheins gelangt er zu einer ästhetischen Theorie, die sich bei aller Begeisterung und Apologie sowohl von Wagners moralischen – oder polemischen – Verdächtigungen des Schönen als auch von Schopenhauers Rückgriff auf die platonische Idee absetzt, und zwar derart, dass spätere Entwicklungen sowohl bei seinem eigenen Denken als auch in der künstlerischen Moderne vorgezeichnet sind.50 Nietzsches im vierten Paragraphen der Geburt der Tragödie geäußerte Auffassung des ästhetischen Scheins als anthropologischer „Urbegierde“ weist bereits prinzipiell auf die spätere Auffassung von Kunst als Stimulans des Lebens hin. Sie braucht freilich nur noch von ihrer metaphysischen Verankerung befreit zu werden. Letztere führt in der Geburt der Tragödie dazu, dass der apollinischen Schönheit die dionysische Wahrheit gegenübergestellt und somit die für die Metaphysik klassische Unterscheidung von schöner, aber dennoch – oder deshalb – trügerischer Erscheinung und wahrem Wesen wieder hergestellt wird. Nietzsches spätere, gleichzeitig mit der Entfernung von Wagner zutage tretende Metaphysik-Kritik wird die wertende Trennung zwischen Schein und Wahrheit unterminieren und dadurch die bereits in der Geburt der Tragödie angelegte positive Wertung des ästhetischen Scheins aus dem metaphysischen Klotz freilegen. Zugleich wird die genealogisch geführte Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffes das Überdenken des Dionysischen erfordern, welches, ebenfalls vom metaphysischen Joch befreit, neue Dimensionen des Denkens erschließen wird.
49 Am Ende der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der
Historie für das Leben (1874), definiert Nietzsche die Kultur als „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“, ebd., S. 334. Signifikanterweise setzt Nietzsche das moralisch geprägte Vokabular der Täuschung und der Verführung in Bezug auf die Wissenschaft ein, siehe GT , S. 118. 50 Karl Heinz Bohrer betont die Autonomie des Scheins bei Nietzsche in Entgegensetzung zu Schiller, der dem schönen Schein die „Würde des Begriffes“ und der „Wahrheitsverbergung“ zugestanden habe (Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“, S. 111 f.). Zur Relativierung dieses Urteils siehe von Seggern, Nietzsche und die „Weimarer Klassik“, S. 46 f.
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agners Einordnung der Beethoven’schen Musik in die Sphäre des Erhabenen knüpft an E. T. A. Hoffmanns Rezension der Fünften Symphonie an und darüber hinaus auch an eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Tradition, in der die Symphonie mit den aus der Poetik der Ode übernommenen Kategorien der Größe, Erschütterung und des Erhabenen assoziiert wurde.1 In Hoffmanns musikkritischen Schriften konnte Wagner auch das Modell einer metaphysischen Musikauffassung erkennen und damit die argumentative Voraussetzung, um zwischen einer „edlen Tonkunst“, die in den himmlischen Höhen des Absoluten schwebt, und einer „trivialen Musik“, die zur Erfüllung vermeintlich niederer Bedürfnisse sowohl der Produzenten als auch der Rezipienten erzeugt wird, wertend zu unterscheiden.2 Die Musikmetaphysik Schopenhauers, welche die diesbezüglichen, in dichterischer Sprache formulierten Gedanken Ludwig Tiecks, Wilhelm Heinrich Wackenroders und Hoffmanns in ein System bringt, liefert Wagner eine philosophische Fundierung, die ihm in Verbindung mit der deutsch-nationalen Ausrichtung ermöglicht, die ästhetische Kategorie des Erhabenen für seine antifranzösische Polemik zu instrumentalisieren und dadurch zur Apologie des Eigenen zu gelangen. Der Musik als unmittelbarem Abbild des Willens können einerseits diejenigen Eigenschaften zugeschrieben werden, die der Sphäre des Dunklen und Erschreckenden angehören und spätestens seit Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) den Kern des dem Schönen entgegengesetzten Erhabenen ausmachen.3 Andererseits kann das ebenso den überkom1 Siehe dazu Dahlhaus, „E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Kritik und die Ästhetik des
Erhabenen“, S. 98 – 111. Zu Wagner und dem Erhabenen siehe Riethmüller, „Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert“, insbesondere S. 41 – 49. Zu Wagner und Hoffmann siehe Wolzogen, „E. T. A. Hoffmann und Richard Wagner“; Eberl, „Richard Wagner und E. T. A. Hoffmann“; Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 100 f.; 2 Siehe dazu Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. 3 Die Komponente des Schrecklichen wurde in die Diskussion um das Erhabene durch eine sich vor allem in England um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert durchgesetzt habende neue Betrachtungsweise der alpinen Landschaft eingeführt, welche in den Schriften von Thomas Burnet, John Dennis, Joseph Addison und
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menen Bestimmungen des Erhabenen angehörende Element des ästhetischen Wohlgefallens durch die „höchste Ekstase des Bewusstseins der Schrankenlosigkeit“ erklärt werden, welche die willensnahe Musik herbeiführe.4 In Wagners zu apologetischen Zwecken angefertigtem Dispositiv des Erhabenen tritt freilich das erste, durch die Verbindung mit dem Schrei kenntlich gemachte Moment des Schreckens zugunsten des zweiten, ekstatischen zurück. Denn für Wagner bedeutet das Erhabene grundsätzlich einen moralisch sowie ästhetisch durch die unmittelbare Nähe zum metaphysischen Wesen der Dinge veredelten künstlerischen Bereich. Dessen Unterscheidung vom Schönen stellt daher nicht länger wie bei Kant oder Schopenhauer bloß eine kategoriale Differenzierung dar, sondern eine direkte Konsequenz der kardinalen Trennung von Wesen und Erscheinung, die bei Wagner mit jener von Wahrheit und Täuschung zusammenfällt. Die ethisch-sittliche Komponente des Erhabenen, welche bereits in Pseudo-Longins rhetorischer Abhandlung Perì hypsous (De sublimitate, 1. Jh. n. Chr.) eine wesentliche Rolle spielt und in der deutschen Aufklärung, insbesondere bei Kant, hervorgehoben wurde, bietet Wagner die Gelegenheit, das „deutsche Wesen“ in Abgrenzung zum vermeintlich durch Mode und schöne Gefälligkeit geprägten französischen geradezu als asketisch zu bestimmen – eine Gelegenheit freilich, die von Wagner im Jahr des deutsch-französischen Krieges als besonders aktuell empfunden wurde. Dass die Kategorie des Erhabenen zur Bekundung patriotischen Stolzes besonders geeignet ist, zeigt die Tatsache, dass bereits 1770 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg in einem Aufsatz zur Würdigung Händels als Oratorienkomponisten auf die Idee kam, eine Gegenüberstellung zwischen dem „männlichen, erhabenen Deutschen“ und dem „Geklingel der neuern Italiener“ zu konstruieren.5 Die im Zusammenhang mit dem Erhabenen relevante Polarität von Würde und Anmut geht auf die Rhetorik von Cicero und Quintilian zurück – gravitas und venustas sind hier die entsprechenden Begriffe. Earl of Shaftesbury zum Tragen kommt. Burke brachte diese neue Sensibilität zu einer systematischen Darstellung, in der die Bereiche des Schönen und des Erhabenen deutlich voneinander getrennt sind. Siehe dazu u. a. Monk, The Sublime; Zelle, Angenehmes Grauen; ders., „Schönheit und Erhabenheit“. 4 Wagner, „Beethoven“, S. 56. Zum Erhabenen als Mittel für apologetische Zwecke in Wagners Beethovenfestschrift siehe Riethmüller, „Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert“, S. 41 – 43. 5 Zit. nach Finscher, „,… gleichsam ein kanonisirter Tonmeister‘“, S. 275. Über die deutsche Händel-Rezeption im Zusammenhang mit dem Erhabenen siehe Zelle, „Die Ästhetik des Erhabenen und das englische Vorbild in Deutschland nach dem Tod Händels“.
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Sie wurde im 18. Jahrhundert samt ihrer geschlechtsmäßigen Zuschreibungen durch Henry Home und Shaftesbury sowie im deutschsprachigen Raum durch Winckelmann und Schiller zu einem privilegierten Ort der Durchdringung von Ästhetik und Ethik, wobei freilich neben der Unterscheidung stets das harmonierende Ganze von beiden Eigenschaften im Menschen hervorgehoben wird. Deren klangliche Auswirkungen sind unter anderem in der berühmten Arie des Uriel Mit Würd’ und Hoheit angethan in Haydns Oratorium Die Schöpfung zu vernehmen, in der die Unterscheidung zwischen männlicher Würde und weiblicher Anmut einen stilistischen Niederschlag in den zwei jeweils dem Mann und der Frau gewidmeten Teilen der Arie findet. Der Zuordnung des Erhabenen zum männlichen und des Schönen zum weiblichen Geschlecht ist der dritte Abschnitt in Immanuel Kants vorkritischer Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahr 1764 gewidmet. Im vierten Abschnitt werden beide Kategorien unterschiedlichen „Nationalcharakteren“ zugewiesen. Der Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz verleiht das Primat des musikalischen „Anmuthigen und Lieblichen“ den italienischen Opernkomponisten, allerdings verwandelt sich im Laufe seiner Begründung das Lob in Tadel, und zwar mit Argumenten, die jene Wagners vorwegnehmen: […] denn in diesem Felde [des Anmutigen und Lieblichen], wo die Sinnlichkeit schon mehr in Anspruch genommen wird, werden auch die Mode und der Zeitgeschmack, mag man sich noch so sehr dagegen sträuben, ihre Herrschaft durchsetzen.6
Für seine Instrumentalisierung des Erhabenen konnte Wagner ferner in Schillers Deutung der Kant’schen Kritik eine allgemein anerkannte und angesehene Grundlage finden. In der 1801 erschienenen Schrift Über das Erhabene weist Schiller dem Erhabenen die Aufgabe zu, „uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt“ zu verschaffen, worin „uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte“. Schiller evoziert die Schönheit in der Gestalt der Göttin Kalypso, welche den tapferen Helden so lange in Gefangenschaft hielt, bis dieser durch einen „erhabenen Eindruck“ an seine höhere Aufgabe erinnert und vom Joch der Kalypso befreit wird.7 Zu Wagners späterer Assoziation von weiblicher, gefälliger 6 Rochlitz, „Ueber den zweckmässigen Gebrauch der Mittel der Tonkunst“, S. 245. 7 Schiller, „Über das Erhabene“, S. 214 f. Zur gesamten Frage der geschlechtlichen
Konnotation ästhetisch-moralischer Kategorien siehe Immerwahr, „Sublime Manliness and Lovely Feminity in the Age of Goethe“.
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Schönheit und Oper passt besonders gut, dass im fünften Gesang der Odyssee die Nymphe Kalypso „mit schöner Stimme singt“.8 Beethovens historischer Verdienst besteht Wagner zufolge darin, die Musik aus dem schuldhaften Zustand gerettet zu haben, in den sie durch die Verstrickung mit „trügerischer Schönheit“ geraten sei. Diese Rettung sei dadurch erfolgt, dass Beethoven die Musik vom „Gebiet des ästhetischen Schönen in die Sphäre des durchaus Erhabenen“ überführt habe.9 Der entscheidende Schritt im Wagner’schen Konzept erfolgt allerdings in Opposition zu Schopenhauer, und zwar insofern, als Wagner aus der vermeintlichen Nähe der Musik zum Willen als dem Wesen der Dinge eine moralische Wertung zu subsumieren gedenkt und die empirische Welt, zumal die schöne, wiederum entgegen Schopenhauers Lehre als schuldhafte Täuschung verdammt.10 Demzufolge sei die von ihm als einzigartig bezeichnete Heiterkeit von Beethovens A-Dur und F-Dur Symphonien nur insofern zu erklären, als deren „Wirkung“ in der „Befreiung von aller Schuld“ bestehe. Diese „wundervollen Werke“ predigen, wie er meint, „Reue und Buße im tiefsten Sinne einer göttlichen Offenbarung“, und dazu sei „der ästhetische Begriff des Erhabenen“ als Überwindung der „Befriedigung durch das Schöne“ einzig anzuwenden.11 Die im Parsifal inszenierte Sakralisierung des Erhabenen12 ist in der Beethoven-Festschrift bereits gründlich vorbereitet. Der eigentliche Ausdruck des Erhabenen bei Beethoven sei erwartungsgemäß im Finale der Neunten Symphonie zu erkennen. Zu dessen Charakterisierung greift Wagner auf eine weitere Bestimmung des Erhabenen zurück, nämlich jene der „Naivität“, welche, wiederum zugleich ästhetisch und moralisch geprägt, der „gekünstelten Gefälligkeit“ italienischer und französischer Oper entgegengesetzt wird.13 Die 8 Homer, Odyssee, V, 61. 9 Ebd., S. 83. Dazu Nietzsche im Frühling/Sommer 1878: „[Wagner] verdächtigt
die Schönheit, die Grazie, er spricht dem ,Deutschen‘ nur seine Tugenden zu und versteht auch alle seine Mängel darunter“ (NL 8, S. 491). 10 Siehe dazu oben § 4. 11 Wagner, „Beethoven“, S. 73. 12 Siehe dazu Riethmüller, „Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert“, S. 43. 13 Ebd., S. 78. Zu Beethovens Neunter Symphonie als Paradigma des Erhabenen siehe Eichhorn, Beethovens Neunte Symphonie, S. 214 – 298. In FW 103 äußert sich Nietzsche über den Sachverhalt folgendermaßen: „Schon die Grazie tritt nicht ohne Anwandelung von Gewissensbissen in der deutschen Musik auf; erst bei der Anmuth, der ländlichen Schwester der Grazie, fängt der Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen – und von da an immer mehr bis hinauf zu seiner schwärmerischen, gelehrten, oft bärbeissigen ,Erhabenheit‘, der Beethoven’schen Erhabenheit“.
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Spuren eines durch „Größe“ und „Einfachheit“ bestimmten Erhabenen, welches der traditionellen Zuordnung desselben zu dem hohen Stil in der Rhetorik teilweise widerspricht, sind in Johann Joachim Winckelmanns berühmter Definition der „edle[n] Einfalt und stille[n] Größe“ als Kennzeichnen griechischer „Meisterstücke“ (1755) sowie in den wenige Jahre danach erschienenen Überlegungen Moses Mendelssohns Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften leicht zu verfolgen.14 Sie reichen bis auf Nicolas Boileau-Despréaux zurück, der 1674 mit seiner französischen Übersetzung des Traktates von Pseudo-Longin die Diskussion um das Erhabene in Gang setzte.15 Christian Friedrich Michaelis wird diese Bestimmungen in seinen 1801 erschienenen Aufsätzen über das Erhabene direkt auf die Musik beziehen: Uebrigens ist der erhabene Styl der Musik zugleich der einfachste […]. Da Reize und Lockungen der Sinnlichkeit sich nicht mit dem Erhabenen vertragen, so sind künstliche Verzierungen, schmeichelnde Koloraturen und andre schimmernde Ausschmückungen in Tonstücken, welche erhaben zu heißen verdienen sollen, von dem Tonsetzer, Virtuosen oder Sänger gewiß sehr zweckwidrig und unglücklich angebracht. Das Erhabene erscheint uns am bewunderungs- und ehrwürdigsten in einem einfachen prunklosen Gewande.16
Nietzsches Haltung der Kategorie des Erhabenen gegenüber ist als vorsichtig zu bezeichnen. Achim Geisenhanslüke stellt das Fehlen ei14 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
und Bildhauerkunst, S. 20 und öfter; Mendelssohn, „Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften“. Gemäß der Episteme der Zeit verfährt Mendelssohn taxonomisch und gibt eine Klassifikation der unterschiedlichen Arten des Erhabenen wieder, wobei die erste „Gattung“, bei welcher die erhabene Wirkung von dem Gegenstand selbst ausgeht, einen ungeschmückten Ausdruck erfordert und „nicht anders, als vermittelst einer edlen Einfalt“ erreicht werden kann (ebd., S. 213): „Daher muß sich der Künstler, bey der Vorstellung des Erhabenen von dieser Gattung, eines naiven ungekünstelten Ausdrucks befleißigen, der den Leser oder Zuschauer mehr denken läßt, als ihm gesagt wird“ (ebd., S. 215). In England hob Hugh Blair die einfache Diktion in den Dichtungen Ossians als Zeichen moralischer Perfektion hervor, siehe Blair, Critical Dissertation on The Poems of Ossian (deutsche Übersetzung 1769); ders., Lectures on Rhetoric and Belles Lettres (deutsche Übersetzung 1785 – 89). 15 Siehe dazu Begemann, „Erhabene Natur“, S. 78 f.; Jäger, „Naivität. Eine kritisch-utopische Kategorie in der bürgerlichen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts“, insbesondere S. 55 – 64. 16 Michaelis, „Über das Erhabene in der Musik“, S. 172. Siehe auch ders., „Über das Erhabene“, S. 161; 163.
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ner Theorie des Erhabenen bei Nietzsche fest, was sich nicht zuletzt in der unspezifischen Verwendung des Terminus niederschlägt.17 Ein ästhetisch relevanter Hinweis auf das Erhabene kommt in Die Geburt der Tragödie am Schluss des siebten, der Bedeutung und Funktion des tragischen Chores gewidmeten Paragraphen vor. Es handelt sich dabei um eine Stelle, die aus Die Dionysische Weltanschauung stammt, wo sie allerdings auf mehrere Seiten angelegt war.18 Sie schrumpft nun auf wenige Zeilen zusammen, in denen auf „das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden“ hingewiesen wird (GT , S. 57).19 Eher als an Wagner ist hier an Friedrich Theodor Vischer als mögliche Referenz zu denken, der 1837 eine Abhandlung Über das Erhabene und Komische veröffentlicht hatte.20 Indem Nietzsche das Erhabene mit dem Entsetzlichen verbindet, hebt er diejenigen von John Dennis, Joseph Addison und Edmund Burke in den ästhetischen Diskurs eingeführten Bestimmungen des Schrecklichen und Furchtbaren hervor, die seit den literaturkritischen Schriften der Schweizer Gelehrten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit der Tragödie assoziiert wurden.21 Schillers Theorie des Erhabenen ist ebenfalls auf die Tragödie gerichtet. Zuletzt hatte Schopenhauer im Ergänzungsband zu seinem Hauptwerk behauptet, dass unser „Gefallen 17 Geisenhanslüke, Le sublime chez Nietzsche, S. 11. 18 DW , S. 567 – 569. 19 GT , S. 57: „Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende,
heilkundige Zauberin, die Kunst: sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende Tat der griechischen Kunst; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.“ 20 Zu Nietzsches Vischer-Rezeption siehe Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, S. 190 – 202. 21 Die Schweizer Gelehrten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger schreiben in ihrem Brief „Lehrsätze von dem Wesen der erhabenen Schreibart“ (1746) folgendermaßen: „Wir sehen also deutlich genug, was das für Sachen seyn, welche mit Recht erhaben genannt werden; es sind nämlich die grossen Würkungen und Thaten der freyen Wesen [erdichteten Wesen und allegorischen Personen der Poeten], denen der Charakter eines grossen Gemüthes eingepräget ist, welche die menschlichen Kräfte zu übersteigen scheinen, und vermögend sind, in Erstaunen, in tiefes Nachsinnen, in Furcht und Schrecken zu setzen, und das Mittleiden auf hohen Grade rege zu machen.“ (Bodmer, Breitinger, Critische Briefe, S. 101). Das Vorkommen von Furcht, Schrecken und Mitleid weist eindeutig auf die Tragödie hin. Dazu äußert sich auch Kant in seiner vorkritischen Schrift
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am Trauerspiel […] nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen“ angehört.22 Unter den Notizen, die Nietzsche zwischen Ende 1870 und April 1871 niederschrieb, befindet sich der Versuch, eine Gegenüberstellung von Schönem und Erhabenem zu konstruieren, die jener vom apollinischen Traum und dionysischen Rausch entspricht, wobei freilich die etlichen Fragezeichen den hypothetischen Charakter der Gedanken kenntlich machen: Wenn das Schöne auf einem Traum des Wesens beruht, so das Erhabene auf einem Rausche des Wesens. Der Sturm auf dem Meere, die Wüste, die Pyramide. Ist das Erhabene der Natur eigenthümlich? Wodurch entsteht ein schöner Akkord? Wodurch wird die Freiheit vom Willen erzeugt, vom Ausdruck des Willens? Das Übermaß des Willens bringt die erhabenen Eindrücke hervor, die überladenen Triebe? Die schaurige Empfindung der Unermeßlichkeit des Willens. Das Maaß des Willens bringt die Schönheit hervor. Das Schöne und das Licht, das Erhabene und das Dunkel (NL 7, S. 149).
Dieser Versuch wird allerdings in Die Geburt der Tragödie nicht übernommen. Nietzsche war der moralistische Charakter von Wagners Instrumentalisierung des Erhabenen durchaus bewusst. Im Nachlass ist diesbezüglich zu lesen: Wenn Richard Wagner der Musik den Charakter des „Erhabenen“ zuschreibt, im Gegensatz zum Gefällig-Schönen, so zeigt sich hierin die moralische Seite der neueren Kunst (NL 7, S. 313).
Ferner lässt die Tatsache, dass Nietzsche die ursprünglich ausführlichere Behandlung des Erhabenen in seinem ersten, in Auseinandersetzung mit der Wagner’schen Beethovenschrift verfassten Buch zum bloßen Hinweis verkürzt, auf eine gewisse Zurückhaltung schließen. Dies erscheint umso bedeutsamer, als er im Vorwort an Richard Wagner die Konstellation „Beethoven“, „Deutschtum“ und „Erhabenes“ im Zu„Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen“, S. 212: „Das Trauerspiel unterscheidet sich meiner Mahnung nach vom Lustpiele vornehmlich darin: daß in dem ersteren das Gefühl fürs Erhabene, im zweiten für das Schöne gerührt wird.“ 22 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II , S. 556. Nietzsche zufolge ist jedoch das durch das apollinische Prinzip vertretene Moment des Schönen in der Tragödie wesentlich beteiligt, denn diese sei der Begegnung zwischen Apollo und Dionysos zu verdanken.
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sammenhang mit der Entstehung seines Buches beschwört.23 Ebenfalls auf Wagner weist Nietzsches Bemerkung hin, dass der Satyr „etwas Erhabenes und Göttliches“ sei (GT , S. 58): Der darauf folgende Vergleich zwischen dem „Waldmenschen“ der Griechen und dem „Hirten“ als Projektionsfigur der Natursehnsucht neuzeitlicher Menschen mündet auf Wagner’sche Weise in die Unterscheidung zwischen wahrem Wesen und lügenhaftem Schein, eine Unterscheidung nämlich, die, wie gezeigt wurde, Nietzsche ansonsten verwirft: Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus (GT , S. 58 f.).
Schließlich verweist Nietzsche am Beginn jenes Teils der Geburt der Tragödie, welcher der Apologie Wagners gewidmet ist, auf dessen Ansichten über die Unvereinbarkeit zwischen Musik und Schönheit sowie auf die implizite Hanslick-Kritik, ohne jedoch den Begriff des Erhabenen zu erwähnen (GT , S. 104). Alles deutet darauf hin, dass Nietzsche sich eine Pluralität von diskursiven Ebenen verschafft, um gleichzeitig Verehrung und Eigenständigkeit, Verkündigung und Reflexion, Apologie und Kritik zu betreiben – eine Strategie freilich, die nicht nur das Erhabene zu betreffen scheint.24 Auf der Ebene der ästhetischen Reflexion ist letzteres eher 23 GT , S. 23: „Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre
herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheit des eben ausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte.“ Noch deutlicher klingen die Wagner’schen Töne in einer früheren, emphatisch mit der Angabe „am Geburtstage Schopenhauers“ signierten Fassung desselben Vorwortes: „Mein edler Freund, ob ich wohl bis hierher mich auch in Ihrem Sinne geäußert habe? Fast möchte ich’s vermuthen: und jeder Blick, den ich in Ihren ,Beethoven‘ werfe, führt mir auch die Worte zu: ,der Deutsche ist tapfer: sei er es denn auch im Frieden. Verschmähe er es, etwas zu scheinen, was er nicht ist. Die Natur hat ihm das Gefällige versagt; dafür ist er innig und erhaben‘“ ( NL 7, S. 356). 24 Die Opernkritik, welche auf der These einer Zusammengehörigkeit zwischen „Cultur der Oper“ und „Sokratismus“ (GT , § 19) beruht, führt zur emphatischen Begrüßung von Wagners Musiktheater als der lang ersehnten Neubelebung der „tragischen Cultur“ (GT , § 20) und „Widergeburt des deutschen Mythus“ (GT , § 23). Darin liegt die Substanz der apologetischen Schicht in Nietzsches Geburt der
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implizit wirksam. Dies heißt aber nicht nur, dass es nicht oder selten ausdrücklich erwähnt wird, sondern dass anstelle einer begrifflichen Einspannung zu heuristischen oder polemischen Zwecken die selektive Übernahme von Teilbestimmungen und Elementen, welche aus dem ästhetischen Diskurs stammen, festzustellen ist.25 Die für Wagners moralische Deutung des Erhabenen ausschlaggebende Bestimmung der edlen Naivität spielt in Nietzsches Dionysischem keine Rolle, zumal sie mit dem Naiven Schiller’scher Prägung, von Nietzsche entschieden der Sphäre des Apollinischen zugewiesen, in Konflikt gerät. Karl Heinz Bohrer hat die These aufgestellt, dass Nietzsche „den ästhetischen ,Schein‘ im Sinne der rhetorischen Tradition als Phänomen einer Wirkung begriff“, wobei die Kategorie des Erhabenen eine besondere Rolle spiele.26 Beim Pseudo-Longin ist „die klassische Ausgewogenheit zwischen der emotionellen und intellektuellen Funktion zugunsten der ,Erschütterung‘ aufgelöst“.27 Denn Pseudo-Longin zufolge geht es in der Rede nicht um den Wahrheitsbezug, sondern um die überwältigende Wirkung: Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt.28
Darauf sei Bohrer zufolge Nietzsches Aufwertung des Pathos in der Tragödie zuungunsten der Handlung zurückzuführen.29 In der Tat beruft Tragödie. Dort, wo Nietzsche sich eifrig zum Sprachrohr Wagners macht, kennt er keine apollinische Mäßigung: Sein in diese Seiten ergossener deutsch-nationaler Pathos übertrifft selbst jenen des Meisters. 25 Nicht zuletzt scheint die Tatsache, dass Nietzsche das Erhabene in adjektivischer Form mehrmals auch dem Apollinischen zuschreibt, darauf hinzuweisen, dass er der Wagner’schen plakativen Polarisierung zwischen Erhabenem und Schönem nicht folgt. 26 Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“, S. 113. 27 Ebd., S. 128. 28 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 1, 4. Siehe auch ebd., 15, 11: „Naturgemäß aber hören wir an solchen Stellen immer den stärkeren Ton und lassen uns vom nüchternen Beweis weg zu dem hinziehen, was als Bild erschüttert und mit seinem Glanz den Sachbeweis überstrahlt“. Es wäre allerdings unzulässig, daraus auf die Gleichgültigkeit des Pseudo-Longins der inhaltlichen Verbindlichkeit gegenüber zu schließen, da ihm zufolge die Erhabenheit der Rede durch jene des Redners ethisch gesichert ist: „Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße“, ebd., 9, 2. 29 Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“, S. 120 f.
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sich Nietzsche im Laufe der Darstellung seiner Tragödienauffassung ausdrücklich auf die Rhetorik: Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Szenen, in denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich (GT , S. 85 f.).
Bohrer zufolge sei aber bei Nietzsche nicht nur die Wirkung des Tragischen rhetorisch geprägt, sondern dessen Theorie des Scheins insgesamt. Um diese Annahme zu untermauern, weist er darauf hin, dass Platon im Phaidros der Schönheit (kállos) die besondere Eigenschaft des Glanzes (phéngos) zuschreibt, während hingegen die anderen Ideen, unter denen sich keine geringeren als die Gerechtigkeit (dikaiosýne) und die Besonnenheit (sophrosýne) befinden, diese vermissen. Ausgerechnet diese blendende Wirkung des Schönen wird im späten 18. Jahrhundert zur Zeit der deutschen aufgeklärten und vor-idealistischen Philosophie als bedenklich betrachtet. Im schönen Schein ortet Kant eine betrügerische Wirkung, sobald dieser nicht eindeutig auf die Sphäre des Ästhetischen beschränkt bleibt.30 Während die „Dichtkunst“ über den Verdacht des Betruges insofern erhaben sei, als sie ein erklärtes Spiel mit dem Schein darstellt, sei die „Beredsamkeit“ als die Kunst „zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen“, davon schwer betroffen.31 Kant verurteilt die Beredsamkeit, weil sie über die Vernunft hinweg auf die „Gemüter“ wirkt und auf diese Weise die Freiheit des Zuhörers untergräbt. Ausgerechnet die Kategorie der Wirkung bildet bei Kant die Verbindung zur Musik, welche daher, obwohl in der Wertung weit entfernt von der Dichtkunst, unmittelbar danach angesprochen wird. Dabei handelt es sich um die berühmte Stelle, in der Kant behauptet, die Musik sei „mehr Genuß als Kultur“.32 Schiller knüpft daran an, wenn er im 22. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen vermerkt, dass „schöne Musik“ rege Empfindungen im Hörer hinterlässt. Die „Ursache“ dafür sei darin zu suchen, dass „auch die geistreichste Musik durch ihre Materie noch 30 Ähnlich Schiller, siehe dazu Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff
des ,Scheins‘“, S. 114.
31 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53, S. 266. 32 Ebd., S. 267 f.
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immer in einer größern Affinität zu den Sinnen steht, als die wahre ästhetische Freiheit duldet“.33 Kants Terminologie im 53. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft weist darauf hin, dass der schöne Schein keineswegs auf den Bereich des Visuellen einzuschränken ist. Gleichfalls über die Grenze zwischen Reden und Sehen hinweg spricht Bohrer vom rhetorischen Moment im ästhetischen Schein, wobei er das Phänomen der Wirkung meint. Nietzsches Leistung bestehe ihm zufolge ausgerechnet darin, „die rhetorische Seite des ,Scheins‘-Problems“ wiederentdeckt beziehungsweise rehabilitiert zu haben.34 Die Anknüpfung an die rhetorische Tradition stellt zweifellos ein wichtiges Element in Nietzsches früher Ästhetik und darüber hinaus auch ein solches dar, das in seinen späteren Werken noch verfestigt und ausgebaut werden wird.35 Dennoch muss festgehalten werden, dass die von der idealistischen Ästhetik aus der Kunst getilgte Kategorie der Wirkung nicht nur der Rhetorik, sondern – vor Kant – dem Schönem insgesamt angehört. Am Beginn des Symposion beschreibt Xenophon die Wirkung, welche die Schönheit des Knaben Autolykos auf die weiteren Teilnehmer des Gastmahls ausübt. Nachdem Xenophon die Schönheit als „königlich“ (basilikós) bezeichnet und somit bereits die Macht, die mit ihr verbunden ist, angesprochen hat, greift er auf die übliche Metapher des glänzenden Lichtes (phéngos) zurück, um sie näher zu konnotieren. Die Anwesenden sind davon betroffen: „Einige wurden schweigsamer, manche nahmen unwillkürlich eine andere Stellung ein“.36 Die Schönheit bewirkt eine Änderung im Verhalten und Fühlen derjenigen, die ihrem Glanz ausgesetzt sind. Sie werden davon beeinflusst, ja, sie werden dadurch selbst sehenswert, sodass Xenophon diesen Einfluss als einen göttlichen Bann betrachtet. Die Besessenheit des Eros unterscheide sich aber von jener anderer Gottheiten: Während aber die von anderen Gottheiten Besessenen dazu neigen, schauerlich dreinzublicken, erschreckende Laute hören zu lassen und überhaupt gewalttätig zu werden, lassen die vom [maßvollen, enthaltsamen] Eros (sóphron éros) Begeisterten ihre Augen gütiger und ihre 33 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 22. Brief, S. 67 f. 34 Bohrer, „Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des ,Scheins‘“, S. 115. 35 Siehe dazu u. a. Goth, „Nietzsche und die Rhetorik“; Niehues-Pröbsting, „Rheto-
rische und idealistische Kategorien der Ästhetik“; de Man, „Rhetorik der Persuasion“; Ellrich, „Rhetorik und Metaphysik. Nietzsches ,neue‘ ästhetische Schreibweise“. 36 Xenophon, Das Gastmahl, 1, 9.
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Stimme sanfter erscheinen, und ihre Bewegungen sammeln sie zu einer gelösten Anmut.37
Aus dieser Stelle so wie aus Sokrates’ berühmter Preisrede auf Eros in Phaidros wird ersichtlich, dass zu dieser Zeit Wirkung und Pathos wesentliche Merkmale der Schönheit darstellten.38 Es gilt vielmehr zu bestimmen, welche Arten von Wirkung und Pathos der Schönheit angemessen waren. Die oben zitierte Stelle der Schrift Xenophons gibt bereits Hinweise in diese Richtung. Platon behauptet im Symposion und im Phaidros mehrmals, dass die Wirkung der Schönheit eine göttliche sei, und preist diese im letztgenannten Dialog als die edelste unter den Gott-Begeisterungen.39 Etwa vier Jahrhunderte später stellt Pseudo-Longin in seinem Traktat fest, dass das Erhabene keineswegs mit Pathos schlechthin gleichzusetzen sei, sondern nur, wenn überhaupt, mit edlen Leidenschaften.40 Wenn es ihm in Folge der Darstellung darum geht, ein Vorbild für die Gestaltung der pathetischen Rede, insbesondere was die Harmonie in der Syntax betrifft, zu empfehlen, weist er ausgerechnet auf die Musik hin: Flößt nicht schon das [Aulos] den Hörern gewisse Affekte ein, versetzt sie in Entzückung und rauschhaften Taumel (korybantiasmou)? Zwingt sie nicht durch den Gang des Rhythmus, den sie angibt, den Hörer dazu, in ihrem Takt zu schreiten und sich der Musik anzupassen, mag er noch so unmusikalisch sein? Und wenn sogar die Töne der Kithara, für sich allein ohne Bedeutung, durch den Wechsel der Tonhöhe, durch Zusammenklingen und harmonische Mischung oft, wie du weißt, einen wunderbaren Zauber ausüben […].41
Die in Nietzsches Theorie des Scheins erfolgte Aufwertung der Rhetorik entspricht somit der antiken Auffassung des Schönen, welche die Momente der Wirkung und des Pathos einschloss. Diese wurden von Kant und von der idealistischen Ästhetik zugunsten eines unverbindlichen „bloßen Spiels“ mit dem Schein sowie im anderen Fall eines 37 Ebd., 1, 10. Platon stellt in seinem Symposion fest, dass Eros kein Gott, sondern
ein Dämon sei, weil er die Schönheit begehrt und sie daher nicht besitzt. Wirklich göttlich sei aber der Besitz von Schönheit, dämonisch hingegen das Begehren danach, siehe Platon, Das Gastmahl, 201A–202E. 38 Für weitere Belege siehe Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 38 – 78. 39 Platon, Phaidros, 249D–E. 40 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 8, 2. 41 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 39, 2. Zur Frage, ob und wie gut Nietzsche Longin kannte, siehe Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 309 f., Anm. 137.
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Höhenfluges „in die Gefilde der platonischen Idee“ verworfen.42 Eros, von Platon im Symposion als Dämon des Begehrens und Drängens geschildert,43 wird in der Kant’schen Ästhetik sowie in deren Folge in der Schopenhauer’schen Auffassung vom Bereich des Schönen getrennt.44 Dieses hört infolgedessen auf, auf das Gemüt zu wirken und wird somit zum Gegenstand einer kontemplativen Betrachtung. Darin unterscheidet es sich scharf vom erschütternden Erhabenen.45 Eine kategoriale Trennung oder gar eine Gegenüberstellung von Schönem und Erhabenem, wie sie im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts leicht zu verfolgen ist, ist im Traktat des Pseudo-Longins nicht vorhanden. Die folgende Stelle kann als Beleg dafür herangezogen werden: Erhabenheit und Pathos sind deshalb Mittel gegen den Argwohn beim Gebrauch von Redefiguren und eine wunderbare Hilfe, und ein geschickt herangezogener Kunstgriff bleibt ansonsten durch Schönheit und Größe (mégethos) verborgen und entgeht jedem Verdacht. Ein guter Beleg ist der zitierte Schwur ,bei den Helden von Marathon‘. Wie nämlich verbarg der Redner hier die Figur? Offenbar gerade durch den Glanz.46
Erhabene Größe und Schönheit sind in Hinblick auf ihre Wirkung nicht zu unterscheiden, denn beide erzeugen Glanz und tragen wesentlich dazu bei, die künstliche Konstruktion der Rede zu verdecken.47 42 Erstes Zitat aus Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53, S. 266. Zweites aus Niehues-
Pröbsting, „Rhetorische und idealistische Kategorien der Ästhetik“, S. 101.
43 Platon, Das Gastmahl, 199D – 202E. 44 Eine Kritik an dieser Kantisch-Schopenhauer’schen Auffassung führt Nietzsche in GM , S. 346 – 349 aus. 45 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 27, S. 181: „Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung
des Erhabenen in der Natur bewegt: da es in dem ästhetischen Urteile über das Schöne derselben in ruhiger Kontemplation ist. Diese Bewegung kann (vornehmlich in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden […].“ 46 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 17, 2. Im Gegensatz dazu siehe Burke, A Philosophical Enquiry, S. 83: „It is my design to consider beauty as distinguished from the sublime“. Siehe auch ebd., Part III , Section XXVII , „The Sublime and Beautiful Compared“. 47 Kurz darauf schreibt Pseudo-Longin den Glanz erneut den erhabenen und pathetischen Elementen einer Rede zu, siehe ebd., 17, 3. Im auffälligen Gegensatz dazu weist Burke das Erhabene der Sphäre des Dunkeln und Obskuren zu, während das Schöne seine traditionelle Eigenschaft des Glanzes behält, vorausgesetzt, es wird nicht zu stark. Siehe Burke, A Philosophical Enquiry, Part II , Section III , „Obscurity“; und Part III , Section XXVII , „The Sublime and Beautiful Compared“. Ansätze einer Differenzierung sind höchstens dort zu finden, wo Pseudo-Longin
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Darüber hinaus sind zahlreiche Stellen bei Xenophon und Platon zu finden, in denen Schönheit und Größe aufeinander bezogen werden. Ernesto Grassi hat einige davon in seiner Theorie des Schönen in der Antike gesammelt,48 denen nun eine spätere aus Aristoteles Poetik hinzugefügt sei, weil sie die Tragödie betrifft. Im siebten Kapitel dieser Schrift befasst sich Aristoteles mit der Handlung, welche er entgegen Nietzsches Überzeugung für den wichtigsten Teil der Tragödie hält, und stellt dabei fest, dass diese „eine bestimmte Grösse“ (mégethos) haben muss.49 Prinzipiell behauptet Aristoteles, dass das Schöne auf der Größe und der Anordnung beruhe.50 Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Ausdehnung fährt er folgendermaßen fort: „Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt“.51 Sämtliche diesbezügliche Stellen bei Xenophon, Platon und Aristoteles legen nahe, dass Schönheit und Größe durchaus zusammen gehören, allerdings nur solange letztere eine begrenzte ist. Denn, so Grassi, lediglich was „innerhalb von Grenzen erscheint, nennt der Grieche eîdos oder schêma“.52 Xenophon spricht in der oben zitierten Stelle aus dem Symposion von séphrōn eros, wobei das Adjektiv sowohl die Bedeutung von „enthaltsam“ als auch von „maßvoll“ hat. In ähnlicher Weise plädiert Aristoteles für die Größe der Handlung in der Tragödie, stellt aber die Bedingung, dass diese fasslich bleibt.53 An diese Bestimmungen knüpft Nietzsche offensichtlich an, wenn er die Eigenschaften des Begrenzten und Maßvollen wesenhaft dem Apollinischen zuschreibt. Diesem setzt er das dionysische Übermaß entgegen, nämlich eine Kategorie, die sich außerhalb der phänomenalen
eine Schönheit ohne Größe ortet und verwirft, wie im Fall der Reden des Hypereides (Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 34, 4). 48 Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 72 f. 49 Aristoteles, Poetik, 1450b 20 – 25. 50 Ebd., 1450b 35 – 40. 51 Ebd., 1451a 5 – 15. Vgl. Burke, A Philosophical Enquiry, S. 103: „In short, the ideas of the sublime and the beautiful stand on foundations so different, that it is hard, I had almost said impossible, to think of reconciling them in the same subject, without considerably lessening the effect of the one or the other upon the passions. So that attending of their quantity, beautiful objects are comparatively small“; ebd., S. 105: „An air of robustness and strength is very prejudicial to beauty. An appearance of delicacy, and even of fragility, is almost essential to it.“ 52 Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 138. 53 Aristoteles, Poetik, 1451a 5 – 15.
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Sphäre des Schönen als bestimmter Größe, ja des Scheins überhaupt befindet. Nietzsches Gegenüberstellung von apollinischem Maß und dionysischem Übermaß findet zwar keine Entsprechung bei Pseudo-Longin, sehr wohl jedoch in Kants Unterscheidung zwischen schönem, begrenztem und erhabenem, also unbegrenztem Gegenstand der Natur: Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird.54
Wie man sieht, stellt das Erhabene, seinem Kant’schen Inhalt entsprechend, keineswegs eine Kategorie mit festen Grenzen dar. Man sollte vielmehr von einer Überlieferung sprechen, die im Laufe der (Neu) Zeit neue, ja zum Teil widersprüchliche Elemente gewann oder auch einbüßte. Daher kann es nicht nur geschehen, dass das Erhabene zur selben Periode unterschiedlich aufgefasst wird, sondern dass im Sprachgebrauch einzelner Personen das Wort mit verschiedenen Bedeutungen auftaucht.55 Selbst Wagner und Nietzsche in den Jahren des Tribschener Idylls meinen damit keineswegs dasselbe und zwischen Pseudo-Longins Auffassung des rhetorisch Erhabenen und den Kant’schen Bestimmungen liegen die bei Burke kulminierenden sensualistischen Vorstellungen des Dunklen, Schrecklichen und Unermesslichen. Diese Umdeutungen knüpfen meistens an bereits bestehende Elemente an, deren Konstellation durch Verschiebung und Umakzentuierung umstrukturiert wird. Beispielsweise wird die für den ästhetischen Diskurs im 18. Jahrhundert charakteristische Vorstellung des inkommensurabel Großen und der überwältigenden Kraft der Natur zumindest an zwei Stellen bei Pseudo-Longin evoziert. Es handelt sich erstens um die Erwähnung des biblischen „Und es ward Licht“ als Exempel göttlicher Erhabenheit,56 dessen musikalische Umsetzung in Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung einen der berühmtesten loci sublimes der Musikgeschichte darstellt. Erhaben ist hier der unvorstellbare Gedanke des vorweltlichen Chaos, das ebenso unvorstellbare Ereignis der 54 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 165. 55 Zur Unterscheidung zwischen „Überlieferung“ und „Begriff“ anhand der ebenso
vielschichtigen „Kategorie“ des Grotesken sowie über deren Folge in der kulturwissenschaftlichen Forschung siehe Celestini, Die Unordnung der Dinge, S. 9 – 18. 56 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 9, 9.
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Schöpfung der Welt überhaupt sowie jenes eines absoluten Beginnes des Lichtes. Dass hierin bereits diejenigen Elemente vorkommen, die Burke als konstitutiv für die Bestimmung des Erhabenen betrachten wird, ist leicht ersichtlich und durch jene Diskussion bestätigt, welche die biblische Stelle im 18. Jahrhundert erfuhr.57 Dadurch wird auch offenbar, dass in Pseudo-Longins erster Quelle des Großartigen in der Rede, nämlich dem erhabenen Gedanken,58 die Möglichkeit einer Überführung des Erhabenen in Gebiete, die über die Rhetorik hinaus reichen, enthalten ist. Nietzsche greift bei seiner Tragödientheorie selektiv auf diese Überlieferung zurück, wobei die für ihn wichtigste Komponente zweifellos der antike Begriff des Enthusiasmus darstellt. Wird das apollinische Maß mit der Individuation verbunden und auf die Selbsterkenntnis bezogen, so zeigt sich das dionysische Übermaß als Instanz der Andersheit, denn es verweist sowohl auf eine archaische, vor-apollinische Zeit als auch auf eine barbarische, außer-apollinische Welt (GT , S. 40). Dadurch wird bei Nietzsche eine nationalistische Instrumentalisierung der mit dem Dionysischen verwandten Kategorie des Erhabenen von vornherein ausgeschlossen. Die dionysische Überschreitung des Selbst wirkt Nietzsche zufolge befremdend (GT , S. 40). Diese Verbindung des dionysischen Übermaßes zugleich mit einer überwundenen „titanenhaften“ Vergangenheit und einer „barbarischen“ Andersheit weist eine auffällige Ähnlichkeit mit Sigmund 57 Siehe dazu Riethmüller, „Die Vorstellung des Chaos in der Musik. Zu Joseph
Haydns Oratorium ,Die Schöpfung‘“; Horn, „Fiat lux. Zum kunsttheoretischen Hintergrund der ,Erschaffung‘ des Lichtes in Haydns Schöpfung“; Webster, „The Creation, Haydn’s Late Vocal Music, and the Musical Sublime“. 58 Pseudo-Longin, Vom Erhabenen, 9, 1 – 4. Die Licht-Stelle fällt formal in den nächsten, dem starken Pathos gewidmeten Abschnitt, gehört aber inhaltlich zum vorausgegangenen. Im Hinblick auf den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts ist ferner folgende Stelle bei Pseudo-Longin hervorzuheben: „Deshalb genügt dem Schauen und Sinnen der menschlichen Kühnheit nicht einmal die ganze Welt, sondern oft überschreitet unser Denken sogar die Grenzen, die uns einschließen. Und wer beim Blick ins Leben ringsum sieht, welchen Vorrang das Ungemeine, Große und Schöne überall genießt, dem wird die Bestimmung des Menschen bald offenbar werden. Daher bewundern wir aus einem natürlichen Trieb wahrhaftig nicht die kleinen Bäche, wenn sie auch klar und nützlich sind, sondern den Nil, die Donau oder den Rhein und viel mehr noch den Ozean; auch das Flämmchen, das wir auf Erden entfacht haben, bewundern wir deshalb, weil es sein Licht rein bewahrt, nicht mehr als die Himmelslichter, die sich doch oft verdunkeln, noch halten wir es für staunenswerter als die Krater des Ätna, dessen Ausbrüche Steine und ganze Felsmassen aus der Tiefe emporschleudern und manchmal Ströme des erdgeborenen, elementaren Feuers ergießen“ (ebd., 35, 3 – 4). Hier ist ein möglicher Anknüpfungspunkt für die späteren Bestimmungen des Erhabenen der Natur als etwas schrecklich Großen und Mächtigen anzusehen.
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Freuds Bestimmung des Unheimlichen als die mit Schrecken empfundene Wiederbegegnung mit einem verdrängten oder überwundenen, einst Vertrauten auf. Diese strukturelle Analogie soll im Folgenden näher untersucht werden. Durch eine Analyse des Sprachgebrauchs, die Freud anhand verschiedener Lexika unterschiedlicher Sprachen durchführt, kommt er zum Ergebnis, dass das Unheimliche keineswegs in der beunruhigenden Wirkung des Fremdartigen und Nichtvertrauten besteht, wie es bis dahin angenommen worden war, sondern auf ein Altbekanntes und Längstvertrautes hinweist. Zugleich stellt er fest, dass das Wort heimlich „seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“.59 Indem Freud die Bedeutungen des Versteckten und Verborgengehaltenen heranzieht, die ebenfalls dem Gebrauch des Wortes „heimlich“ entsprechen, kommt er zur Bestimmung dieses Altbekannten als Verdrängtes und somit zu einer Erklärung der eigentümlichen Wirkung des Unheimlichen. Dabei kann er sich auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling stützen, der in der 28. Vorlesung aus seiner Philosophie der Mythologie die „homerische Götterwelt“ als poetische Verklärung eines älteren „unheimlichen Princips“ deutet und somit auch noch Nietzsches im dritten Paragraphen der Geburt der Tragödie dargestellte These über die Entstehung und Bedeutung derselben Götter vorwegnimmt. Schelling zufolge schließt die homerische Götterwelt „schweigend ein Mysterium in sich, und ist über einem Mysterium, über einem Abgrund gleichsam errichtet, den sie wie mit Blumen zudeckt“.60 Wie später Nietzsche erscheint auch Schelling die homerische Heiterkeit als die Folge einer Verklärung: Der reine Himmel, der über den homerischen Gedichten schwebt, konnte sich erst über Griechenland ausspannen, nachdem die dunkle und verdunkelnde Gewalt jenes unheimlichen Princips (unheimlich nennt man alles, was im Geheimnis, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist) […], das in den früheren Religionen herrschte, in dem Mysterium niedergeschlagen war; das homerische Zeitalter konnte erst alsdann daran denken, jene rein poetische Göttergeschichte auszubilden, nachdem das eigentliche religiöse Princip im Innern geborgen war und den Geist nach außen völlig frei ließ.61
59 Freud, „Das Unheimliche“, S. 250. 60 Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 649. 61 Ebd.
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Die Göttergestalten, denen man im homerischen Epos begegnet, entstehen Schelling zufolge keineswegs bloß durch Poesie, „sondern sie verklären sich in Poesie; die Poesie selbst entsteht erst mit ihnen und in ihnen“.62 Freilich ist bei Nietzsche die Bestimmung von dem, was durch die Ausbildung einer „rein poetischen Göttergeschichte“ verhüllt wird, anders als bei Schelling. Denn Letzterer spricht von einer „falsche[n], irrthümliche[n] Religion“,63 während bei Nietzsche „das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle“ dasjenige ist, was durch die apollinische „Vision“ verklärt wird (GT , S. 38). Jedoch ist die Struktur der Verklärung durchaus dieselbe: Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckenslos des weisen Ödipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, samt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier zugrunde gegangen sind – wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen (GT , S. 35).64
Schellings in Klammer ausgeführte Definition des Unheimlichen wird unter den zahlreichen Belegen in Daniel Sanders Wörterbuch der Deutschen Sprache (1860) zur Erklärung des Wortes „heimlich“ angeführt und dadurch von Freud zur Kenntnis genommen, der im Laufe seiner Abhandlung auf sie wiederholt Bezug nimmt.65 Diese Bestimmung des Unheimlichen als etwas, das verborgen bleiben sollte und dennoch hervorgetreten ist, weist auf die Wirkung von dem hin, was das Fortbestehen der Verdrängung gefährdet oder gar beendet. Denn was sich in Freuds etymologischer Forschung als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses erweist, kann auch in der Folge eines Erlebnisses geschehen, 62 Ebd., S. 647. 63 Ebd., S. 645. 64 Im Nachlass dieser Zeit sind Andeutungen an die Mysterien als Gegenstand der Betrachtung zu finden (NL 7, S. 136; 147; 158). Schelling am nächsten steht diese
Notiz: „Der Mysterienvorgang ist in einen analogen Traum übersetzt und dieser wieder wird von wachen Menschen nacherzählt“ (NL 7, S. 160). 65 Freud, „Das Unheimliche“, S. 248; 250; 264.
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nämlich die Entdeckung, dass sich im unheimlich wirkenden Fremden ein einst vertrautes, mittlerweile verdrängtes oder überwundenes Eigenes verbirgt. Ausgerechnet diese Entdeckung wird von Nietzsche dargestellt, wobei die Nähe zu Freud verblüffend wirkt: „Titanenhaft“ und „barbarisch“ dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein, mit aller Schönheit und Mässigung, ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde (GT , S. 40). Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn [den dithyrambischen Dionysusdiener] blicken! Mit einem Erstaunen, das umso grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke (GT , S. 34).
Es interessiert hier nicht die Feststellung von Einflüssen,66 sondern vielmehr im Sinne einer systematischen Analyse des diskursiven Feldes hervorzuheben, dass Schellings, Nietzsches und Freuds diesbezügliche Gedanken aus derselben Konfiguration von Verklärung bzw. Sublimierung, Verdrängung und Aufdeckung des Verdrängten entspringen und das damit zusammenhängende Phänomen künstlerischer Produktion thematisieren. Mit den ästhetischen Implikationen, welche die Freisetzung des einst Verdrängten hervorruft, hat sich freilich Nietzsche am intensivsten befasst. Der Gedanke einer apollinischen Sublimierung spielt für Nietzsche wohl über diese frühe Phase hinaus eine zentrale Rolle.67 Denn darauf basiert die später in Auseinandersetzung mit Wagner erfolgte Auffassung des „großen Stils“. Im 1880 erschienenen Der Wanderer und sein Schatten gibt Nietzsche eine erste Bestimmung seiner Genese: „Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt“ (WS , S. 596). Zu dieser Doppelschichtigkeit bekennt sich Nietzsche gleich am Beginn des Kapitels Von den Erhabenen in Also 66 Über die Nietzsche-Rezeption und Nietzsche-Anklänge bei Freud siehe Figl (Hg.),
Von Nietzsche zu Freud; Gödde, Traditionslinien des „Unbewußten“. Schopenhauer – Nietzsche – Freud; Gasser, Nietzsche und Freud. 67 Nietzsche spielte zeitlang mit dem Gedanken, sein erstes Buch Griechische Heiterkeit zu betiteln, siehe NL 7, S. 163 f.
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Sprach Zarathustra: „Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Rätseln und Gelächtern“ (Za, S. 150). Nietzsche zufolge unterscheidet sich der ersehnte große Stil von Wagners vermeintlich formlosem Großen durch die Sublimierung des Abgründigen ins Halkyonische und Heitere, deren Modell er in der Geburt der Tragödie am Beispiel der Olympischen Götter entwarf. Nebenbei sei angemerkt, dass im Begriff der Sublimierung der lateinische Ausdruck für das Erhabene, sublimitas, enthalten ist. Ja, „sublimieren“ heißt laut Duden „ins Erhabene steigern“.68 Nietzsches großer Stil erscheint somit als eine Art des Erhabenen, bei dem das Schreckliche sublimiert wird.69 Geisenhanslüke erinnert daran, dass der große Stil auf den g rande dicendi genus der Oratoren verweist. Indem Geisenhanslüke den diesbezüglichen Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten auf die bereits erwähnte Stelle aus der Geburt der Tragödie bezieht, in der Nietzsche das Erhabene als „die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen“ definiert (GT , S. 57), stellt er eine Verbindung zwischen dem großen Stil und der für den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts über das Erhabene charakteristischen Fokussierung auf das Grauen her. Beide Aspekte, hoher Stil und schrecklicher Inhalt, treffen zweifellos auf die Tragödie zu, die deshalb in Geisenhanslükes Nietzsche-Deutung zum Ort avanciert, in dem der Übergang vom Schrecken zum Erhabenen stattfindet: „dans la tragédie, il s’agit de la sublimation de l’horreur de la nature dans l’art“.70 Diese durch die Folie des Erhabenen gewonnene Deutung von Nietzsches Tragödienauffassung ermöglicht unter anderem, zwischen der homerischen Verklärung und der tragischen Sublimierung des Schreckens zu unterscheiden. Denn erfolgt die homerische Verklärung unbewusst im Inneren der individuellen, psychischen Prozesse, um erst als dichterisches Ergebnis in die Dimension des Kollektiven zu gelangen, so wird hingegen die tragische Sublimierung in einem kultischen Rahmen performativ inszeniert und mithin von vornherein öffentlich erlebt. Dadurch wird das Augenmerk vom Resultat auf den Prozess der Sublimierung verlegt: Der Übergang 68 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, S. 1495. 69 Zelle weist darauf hin, dass Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie das bar-
barisch Dionysische vom Dionysischen der Griechen unterscheidet, wobei der Verdacht aufkomme, dass „es sich dabei bloß um die vergebliche Mühe sublimierter Entsublimierungen handeln könnte“ (Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 328. 70 Geisenhanslüke, Le sublime chez Nietzsche, S. 12.
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vom Schrecken der Natur in die Kunst stellt den eigentlichen Inhalt der Tragödie dar. Auf diese Weise wird ein psychischer Vorgang durch Wort, Szene und Musik entäußert, bei allem Bewusstsein das Unbewusste in kunstvolle Performanz verwandelt und dabei der besondere psychische Inhalt, welcher in der homerischen Antike der Verdrängung preisgegeben war, feierlich freigesetzt und umgewandelt. Der homerischen Heiterkeit als Folge einer Verdrängung steht somit die attische Tragödie gegenüber, in der die Wiederkehr des Verdrängten dionysisch bewirkt und apollinisch dargestellt wird. Eine Affinität zwischen der Nietzsche’schen Dichotomie des Apollinischen und Dionysischen und jener neuzeitlichen doppelten Bestimmung des Ästhetischen als Schönen und als Erhabenen ist offensichtlich.71 Nietzsche bringt jedoch in letztere eine neue Dynamik. Die dionysische Kunst bedarf der apollinischen Bilderwelt, um überhaupt ästhetisch wahrgenommen zu werden. Die apollinische Schönheit ihrerseits deckt jenen Abgrund des Schreckens und des Grauens, den sie in der tragischen Kunst sublimiert zum Erscheinen bringt. Groß ist die Distanz zu Wagners plakativer Gegenüberstellung von Schönem und Erhabenem, denn bei Nietzsche besteht der tragende Gedanke keineswegs in der Trennung zwischen Visuellem und Akustischem, sondern in den Übergängen und Transformationen, die das eine in das andere verwandeln. Die mediale Sonderung stellt bei Nietzsche die Voraussetzung für das intermediale Maskenspiel dar. Grenzziehung und Grenzüberschreitung bedingen sich bei der apollinischen Sublimierung des dionysischen Schreckens gegenseitig.
71 Diese wurde bereits von Charles Andler behauptet, der von einer neuen Psychologie
des Schönen und des Erhabenen spricht (Andler, Nietzsche, sa vie et sa pensée, 2, S. 25 – 37; siehe ausführlicher dazu Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 304 – 336; Geisenhanslüke, Le Sublime chez Nietzsche, S. 55 – 102. Mit großer Vorsicht ist Lipperheide, Die Ästhetik des Erhabenen bei Friedrich Nietzsche zu behandeln.
6. Nietzsches geheime Lehre
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ngesichts der Wagner’schen Instrumentalisierung des Erhabenen, welche in Arthur Seidls Versuch, Eduard Hanslicks ästhetische Thesen durch die Betrachtung Vom Musikalisch-Erhabenen (1887) zu „ergänzen“, eine epigonale Fortsetzung erfährt, erweist sich Nietzsches Einstellung dieser ästhetischen Kategorie gegenüber als vielschichtig und differenziert.1 Jeweils unterschiedliche Momente, die aus jener Tradition stammen, wirken sowohl im Bereich des Apollinischen als auch in jenem des Dionysischen. Auf der einen Seite stehen diejenigen aus der Diskussion des 18. Jahrhunderts stammenden Bestimmungen des Erhabenen, bei denen die Wirkung des Schreckens und die Eigenschaft des Übermaßes zum Tragen kommen und welche, wiederum jenem Diskurs entsprechend, mit der Tragödie und darüber hinaus mit Nietzsches Auffassung des Dionysischen zusammenhängen. Auf der anderen Seite entpuppt sich Nietzsches These einer apollinischen Transfiguration des existenziellen Leidens als eine Sublimierungstheorie der Kunst, nämlich die Auffassung des ästhetischen Scheins als eine durch Bildproduktion erfolgte Steigerung triebhafter Energie ins Erhabene. In der auf diese Weise zustande gekommenen apollinischen Bildlichkeit wirkt die Kategorie des Erhabenen durch ihre älteren, aus der Tradition der Oratoren stammenden Bestimmungen des Hohen und Edlen. In der Tragödie treffen beide Auffassungen des Erhabenen, nämlich als hoher Stil und als Schrecken, aufeinander. Darin spiegelt sich die merkwürdige Doppeldeutigkeit der Kategorie des Erhabenen wider, welche in sich sowohl eine besondere Intensität des Schönen als auch des-
1 Arthur Seidl war in den Jahren 1898 und 1899 Archivar im Weimarer Nietz-
sche-Archiv und brachte in dieser Funktion die Werkbände der sogenannten Großoktavausgabe (Bd. 1 – 8) heraus. Siehe dazu Hoffmann, „Zur Geistes- und Kulturgeschichte des Nietzsche-Archivs“, S. 14 – 16. Zur Dissertation Seidls siehe Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 231 – 242. Carsten Zelle blendet in seiner ansonsten wertvollen Analyse der doppelten Ästhetik der Moderne Wagners Instrumentalisierung des Erhabenen vollkommen aus. Dadurch wird freilich die Kontextualisierung von Nietzsches Position verfehlt.
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sen Gegeninstanz vereint.2 Nietzsches Ästhetik der Duplizität vom Apollinischen und Dionysischen ermöglicht unter anderem, in diese Doppeldeutigkeit vorzudringen. Er verwendet mehrmals das Adjektiv „erhaben“ zur Konnotation der apollinischen Transfiguration des Schreckens,3 während zugleich auch seine Darstellung des Dionysischen in mehreren wesentlichen Aspekten der Ästhetik des Erhabenen entspricht, ohne sich jedoch explizit auf diese zu berufen. Als schön ist die Erhebung (Verherrlichung) des Individuums im apollinischen Schein zu bezeichnen, als tragisch hingegen die paradoxe Darstellung des dionysisch Undarstellbaren, die erhabene Verbildlichung des Bildlosen.4 Aufgrund dieser Verdoppelung des Erhabenen entfällt bei Nietzsche jegliche Möglichkeit zu dessen polemisch, chauvinistisch oder apologetisch bedingter Entgegensetzung zum Schönen nach dem Wagner’schen Muster. Zur Zeit der Geburt der Tragödie ist zwar von Nietzsches späterer Aversion gegen die deutschnationale Gesinnung noch keine Spur vorhanden – im Gegenteil5 –, jedoch findet bei 2 Carsten Zelles These einer doppelten Ästhetik der Moderne müsste demnach durch
den Hinweis ergänzt werden, dass diese Verdoppelung sich im Erhabenen selbst reproduziert. 3 Dabei ist anzumerken, dass Nietzsche das Adjektiv „erhaben“ eher in Bezug auf das Apollinische als auf das Dionysische verwendet, siehe GT , S. 28 (erhabenster Ausdruck, auf Apollo bezogen); S. 37 (erhaben, auf Homer bezogen); S. 39 (erhabene Gebärde, auf Apollo bezogen); S. 134 (erhabenes Gleichnis, auf den Mythus als den apollinischen Teil der Tragödie bezogen); S. 137 (erhabene Formen, auf das Apollinische bezogen). 4 Hieran setzt idealiter Lyotard, „,Réponse à la question: qu’est-ce que le postmoderne?‘“ sowie ders., „Das Erhabene und die Avantgarde“, an. 5 Die frühesten diesbezüglichen Äußerungen sind im Heft PI 20b (Sommer 1872 – Anfang 1873) zu finden, siehe NL 7, S. 480. Am Beginn der ersten Unzeitgemässen Betrachtung: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873) warnt Nietzsche die „öffentliche Meinung“ davor, zu glauben, dass mit der deutschen Armee auch die deutsche Kultur in Frankreich gesiegt hätte. Der militärische Sieg riskiere dadurch, sich in eine Niederlage zu verwandeln, nämlich „in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches‘“ (UBI , S. 159 f.). In derselben Schrift, die ihm übrigens von Wagner in Auftrag gegeben wurde (siehe dazu Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 533 – 536), schätzt Nietzsche die Möglichkeit als „ganz erstaunlich unwahrscheinlich“ ein, in Deutschland „ein guter Schriftsteller zu werden“, und zwar aufgrund des Fehlens einer „künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede“ (UBI , S. 220). In der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1873 – 74), ortet Nietzsche bei den „Deutschen der Gegenwart“ „Schwäche der Persönlichkeit“ und mangelnden „Formensinn“ (UBZ , S. 275 – 278). Bei einem Besuch in Bayreuth Anfang August 1874 irritierte Nietzsche seine Gastgeber zutiefst. Nachdem er darauf bestanden hatte, den Wagners das von ihm gerühmte Triumphlied op. 55 Johannes Brahms’ am Klavier
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ihm Wagners bereits in der Beethovenfestschrift reichlich ergossenes religiöses und moralistisches Pathos keinerlei Anklänge. Nietzsches bereits diskutierte Verbindung zwischen der apollinischen Kunst und dem Traum verweist zwar auf Schopenhauers Traumtheorie sowie auf deren Anwendung bei Wagner,6 sie wird jedoch von ihm derart umgedeutet, dass die Schopenhauer’sche Identifikation des Schönen mit der platonischen Idee zugunsten einer prinzipiell nicht mehr metaphysischen Begründung der Kunst in der Psychologie des Menschen verabschiedet wird. Die einzelnen Phasen dieser Entwicklung sind aufgrund der vorausgegangenen Darstellungen leicht zu verfolgen. Eine Verbindung von Kunst und Kultur mit dem Trieb stellt Nietzsche bereits in Das Griechische Musikdrama her, nämlich in seinem ersten öffentlich vorgetragenen Text über den Zusammenhang von Musik und Tragödie aus dem Frühjahr 1870 (GMD , S. 516; 521). Einige Monate später bezieht er in Die Dionysische Weltanschauung (Sommer 1870) zum ersten Mal die apollinische Schönheit auf die Welt des Traums (DW , S. 553 f.). In Analogie mit dem Goethe’schen Symbol des durch Rosen versteckten Kreuzes erklärt er ferner die homerische Götterwelt als eine Verdeckung der Entsetzlichkeit des Daseins und als Folge eines Triebes: Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, eine Welt der Schönheit, der Ruhe, des Genusses (DW , S. 560 f.).
Die vermeintliche „griechische Heiterkeit“ wird somit als doppelbödig entlarvt. Dabei erscheinen die Kunstgestalten als Willensgeschöpfe, die „gleichsam in’s Ideale emporgehoben“ werden (DW , S. 562). Diese Erhebung ins Ideale stellt Nietzsches terminologisch noch von Schopenhauer abhängige, frühe Formulierung seiner Sublimierungstheorie der vorzuspielen, äußerte er im Gespräch Meinungen, die Wagner nicht gerne hörte. Darüber berichtet Cosima in ihrem Tagebuch: „tags darauf entfernte sich Pr. N.[ietzsche], nachdem er R. manche schwere Stunde verursacht. Unter anderem behauptet er, keine Freude an der deutschen Sprache zu finden, lieber lateinisch zu sprechen usw.“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher I, S. 844). Die erste veröffentlichte Kritik an dem Nationalismus ist in MA I, § 475 (1878) anzutreffen. Sie hängt hier mit der Formulierung des Europa-Gedankens und der Zurückweisung des Antisemitismus zusammen. Siehe zu diesem Fragenkomplex Rupschus, Nietzsches Problem mit den Deutschen, S. 15 – 51. 6 Siehe oben § 4.
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Kunst dar.7 Neben lexikalischen Überresten des Schopenhauer’schen Platonismus sind auch inhaltliche Spuren des Wagner’schen Moralismus anzutreffen, und zwar dort, wo Nietzsche die Schönheit als verführerisch bezeichnet. Seine antiplatonische Einstellung bewirkt allerdings, dass selbst hier der schöne Schein keineswegs als schuldhaft empfunden wird. Im Gegenteil zeigt das oben angeführte Zitat, dass Nietzsche die durch die olympische Welt exemplifizierte Schönheit demselben vitalen Trieb zuschreibt, dem auch die Kunst ihre Existenz verdankt. Der schöne Schein ist Nietzsche zufolge weder Ausdruck einer gefälligen, schuldhaften Kultur wie bei Wagner, noch intuitive, vom Willen abgewandte Erkenntnis der Ideen wie bei Schopenhauer,8 sondern das Ergebnis einer zum Leben notwendigen Erhebung und Verklärung primärer Energien. Schopenhauers Erklärung der Kunstgestalt als Darstellung der platonischen Idee, Wagners moralische Verdächtigung des Schönen als schuldhaft und gefällig sowie Nietzsches Deutung des schönen Scheins als Sublimierung einer triebhaften Energie sind zwar terminologisch und „emotional“ miteinander verbundene Konzepte, sie weisen jedoch auf drei sehr unterschiedliche Richtungen hin, die jeweils durch die Stichwörter „kontemplative Resignation“, „Kunstreligion“ und „Vitalismus“ bezeichnet werden können. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Nietzsches Nachlass Spuren eines regelrechten Ringens mit der Schopenhauer’schen Auffassung des Schönen auftauchen. Das auf die Zeit zwischen Ende 1870 und April 1871 zurückgehende Heft U I 2b enthält einige Gedanken zum Verhältnis zwischen platonischer Idee und schönem Schein. Hier erscheint Nietzsches Bemühung, divergierende Auffassungen zusammenzuhalten, als ebenso deutlich wie vergeblich. In einem der Frage „Was ist das Schöne?“ gewidmeten Fragment ist zu lesen, dass „der Individualwille auch träumen kann, ahnen kann, Vorstellungen und Phantasiebilder hat“, wobei das Schöne „ein glücklicher Traum“ sei (NL 7, S. 144). Kurz darauf stellt Nietzsche fest, dass die „Schöpfungen der Kunst“ das „höchste Lustziel des Willens“ seien. Im merkwürdigen Gegensatz dazu steht die folgende Anmerkung, wonach das Schöne, wie jede „griechische Statue“ lehren kann, „nur Negation ist“ (NL 7, S. 145). Die nächste Notiz präzisiert
7 Eine solche Verschränkung zwischen der Sublimierungsterminologie und dem Be-
griff der Idee und des Idealen ist auch bei Freud nachweisbar, siehe beispielsweise ders., „Das Unbehagen in der Kultur“, S. 224. 8 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 34, S. 256.
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diesen von Schopenhauer abgeleiteten Standpunkt und liefert einen zusätzlichen Beleg: Die platonische Idee ist das Ding mit der Negation des Triebes (oder dem Schein der Negation des Triebes). Der Wohlklang beweist, wie richtig der Satz von der Negation ist (ebd.).
Die Auffassungen vom künstlerischen Schönen als „höchstes Lustziel des Willens“ einerseits und als Negation des Triebes andererseits sind schwer miteinander vereinbar. Nietzsches Entscheidung fällt zugunsten der erstgenannten, denn die Bestimmung des Schönen als Negation, welche vielmehr einer Verdrängungs- als einer Sublimierungstheorie der Kunst entsprechen würde,9 wird in die Geburt der Tragödie nicht übernommen. Hier stellt Nietzsche die bereits in Die Dionysische Welt anschauung initiierte Bloßlegung der doppelbödigen Beschaffenheit griechischer Heiterkeit ausführlicher dar und bezieht sie auf die ebenso als ambivalent gedeutete Schiller’sche Kategorie des Naiven (GT , § 3). Der gesamte vierte Paragraph wird der Darstellung der Sublimierungstheorie gewidmet, die Nietzsche terminologisch als Transfiguration auffasst und am gleichnamigen Gemälde Raffaels exemplifiziert.10 Lexikalische Spuren seiner Verbundenheit mit Wagner sind am häufigen Vorkommen von dessen Lieblingswort „Erlösung“ zu erkennen, welches jedoch stets – wie übrigens schon bei Schopenhauer – in einem von jeglichem christlichen Gedanken freien Zusammenhang fällt.11 Dafür sorgt ja bereits Nietzsches Festhalten an der griechischen Antike, die eine romantisierende Anknüpfung an das christliche Mittelalter ausschließt. Nietzsches Sublimierungstheorie der Kunst wird also bereits in den Tragödienschriften aufgebaut und stellt daher eine wichtige Verbindungslinie zwischen den scheinbar so divergierenden Gedankenwelten dieser frühen Zeit und der mittleren und späteren Werke dar.12 Um 9 Als eine solche Verdrängung kann die oben in § 5 angedeutete Entfernung des
Eros aus dem Schönen durch die Kant’sche und in deren Folge in der Schopenhauer’schen Ästhetik aufgefasst werden. 10 Siehe dazu oben § 4. 11 Zu den unterschiedlichen Auffassungen siehe Revers, „,Erlösung dem Erlöser‘“. 12 Über einen anderen Weg kommt auch Helmut Pfotenhauer zu dem Schluss, dass „Nietzsche von Anfang an, also seit seinen frühesten Entwürfen zur Geburt der Tragödie, die Alternativen zu deren Kunst-,Metaphysik‘ mitbedenkt – wenn auch wenig dezidiert und undeutlich formuliert“ (Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 45). Walter Kaufmann zufolge stellt Nietzsches Auffassung der Sublimierung das Zentrum von dessen später Philosophie dar (Kaufmann, Nietzsche, S. 245 – 298).
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den Unterschied zwischen Negation und Transformation der Trieb energie zu markieren, erarbeitet Nietzsche – im Einklang mit Schelling – die These, wonach die homerische Mythologie als Ergebnis eines Verklärungsprozesses zu betrachten sei. Die Ausdrücke, die Nietzsche dafür verwendet, sind zunächst „Erhebung“, „Verklärung“, „Erlösung“, „Depotenzirung“ [sic], „Projicieren“ [sic] und „Transfiguration“. Der Begriff der Sublimierung kommt in verbaler Form erst in der 1873 verfassten und unvollendet gebliebenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen vor (PHG , S. 815), bevor er gleich im ersten Aphorismus des 1878 veröffentlichten ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches eingesetzt wird.13 In allen diesen Formulierungen geht es um eine ins Erhabene gesteigerte Transformation triebhafter Regungen bzw. Angstzustände, deren wiederum erhabenstes Vorbild die attische Tragödie darstellt. Die Verbindung zwischen Kunst und Trieb gehört also zu Nietzsches ältester Gedankenschicht, wobei Goethes, Schillers und Schellings Schriften sowie Schopenhauers Willensphilosophie die Voraussetzung dafür bieten. Nietzsches philosophischer Weg kann dennoch als der hartnäckige, wenn auch nicht geradlinige und restlos erfolgreiche Versuch verstanden werden, die triebhafte Struktur des Menschen als den wesentlichen Auslöser von Kunst und Kultur anzuerkennen und dabei das durch Schopenhauer verkörperte metaphysische und idealistische Erbe zu verabschieden. Die ersten Ansätze dafür sind bereits in einer Phase festzustellen, in der Nietzsche noch tief in die metaphysische Terminologie und Begrifflichkeit verstrickt ist. Sie bestehen darin, den Willen entgegen Schopenhauers Ansichten in die empirische Welt der Sinne zurückzuführen. Am Ende des bereits erwähnten Notizheftes aus dem Nachlass sind Versuche notiert, den Willensbegriff zu bestimmen. Dabei erwächst inmitten der Begeisterung für Schopenhauer auch die Häresie, wenn hier zu lesen ist: „Der Wille ist die allgemeinste Erscheinungsform“. Das Prinzip der Sublimierung wird – in der Form der Projektion – als Voraussetzung der Welt betrachtet: Voraussetzung der Welt, als der fortwährenden Heilung vom Schmerz durch die Lust des reinen Anschauens. Das Alleine leidet und projiciert zur Heilung den Willen, zur Erreichung der reinen Anschauung (NL 7, S. 202). 13 Siehe dazu auch Kaufmann, Nietzsche, S. 254 f. sowie diesen ergänzend und fort-
führend Gasser, Nietzsche und Freud, S. 313 f.
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Das Ergebnis dieser Überlegungen ist durchaus kompatibel mit den Darstellungen in der Geburt der Tragödie und lautet: „Der Schmerz, der Widerspruch ist das wahrhafte Sein. Die Lust, die Harmonie ist der Schein“ (NL 7, S. 202). In der übernächsten Notiz hält Nietzsche diesen Gedanken fest: „Das Projicieren des Scheins ist der künstlerische Urprozeß. Alles was lebt, lebt am Scheine. Der Wille gehört zum Scheine“. Diese bedeutende Abweichung von der Schopenhauer’schen Willensmetaphysik wird nochmals bestätigt und daraus eine erste Konsequenz gezogen: „Der Wille bereits Erscheinungsform: darum ist die Musik doch noch Kunst des Scheines“ (NL 7, S. 203). Das hierin steckende Konfliktpotential mit Wagner, der zu jener Zeit keine Kritik an Schopenhauer duldete – umso weniger bei einem so zentralen Aspekt von dessen Philosophie –, brachte wahrscheinlich Nietzsche dazu, in der Geburt der Tragödie zwar die Folgen einer solchen Abweichung zu entfalten, deren ausdrückliche Darstellung allerdings nicht allzu sehr hervorzuheben. Die explizite Kritik an Schopenhauers Auffassung der lyrischen Dichtung im 5. Paragraphen der Geburt der Tragödie (S. 46 f.) ist in dieser Hinsicht bereits eine gewagte Stellungnahme.14 Im 6. Paragraphen stellt sich Nietzsche die folgende Frage: „als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?“ Die Antwort lautet: „Sie erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauerischen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenslosen Stimmung“ (GT , S. 50). Der oben aus dem Notizheft zitierte Satz (NL 7, S. 203) stellt die logische Konsequenz dieser Antwort dar: Wenn die Musik in der Lyrik als Wille erscheint, dann ist der Wille – „im Schopenhauerischen Sinne genommen“ – eben eine „Erscheinungsform“. In der Geburt der Tragödie vermeidet es Nietzsche vorsichtigerweise, ausdrücklich den Willen in die Welt der Vorstellung zu versetzen, und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kunst des Lyrikers. Um die Erscheinung der Musik in „Bildern auszudrücken“, greife dieser auf „alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns“ zurück (GT , S. 51). Wenn auch implizit belassen, ist darin immerhin eine weitere Abgrenzung von Schopenhauer beinhaltet, die Bertram Schmidt folgendermaßen formuliert: „Für Schopenhauer ist Musik ,Abbild‘ von Gefühlen und ,Willens‘-Regungen, für Nietzsche sind umgekehrt die Gefühle, z. B. in der Lyrik, ,Bilder‘ (Symbole) für die Musik“.15 Die enge Beziehung, welche zwischen Nietzsches Sub14 Siehe dazu u. a. Bracht, Nietzsches Theorie der Lyrik und das Orchesterlied, S. 53 – 64. 15 Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 85. Siehe dazu auch Perrakis, Nietzsches
Musikästhetik der Affekte, S. 47 – 54.
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limierungstheorie, der daraus entwickelten Auffassung der lyrischen Dichtung und der gleichsam häretischen Betrachtung des Willens als Schein besteht, wird jedoch im auf den Frühling 1871 zurückgehenden und zunächst unveröffentlicht gebliebenen Fragment über Musik und Wort schonungslos dargestellt, und zwar anhand des im fünften und sechsten Paragraphen der Geburt der Tragödie behandelten Themas der Lyrik.16 Darauf soll im Folgenden eingegangen werden. Das Fragment wird durch ein Zitat von Schopenhauer eröffnet, in dem dessen Sicht des Verhältnisses zwischen Musik und Drama dargestellt wird. Freilich sei Schopenhauer zufolge die Musik selbstgenügsam, doch können Wort und Handlung dazu dienen, dass „unser anschauender und reflektierender Intellekt“ eine Beschäftigung erhalte. Ferner können sie als „Schema“ oder als ein „Exempel“ „den Eindruck der Musik erhöhen“.17 Dieser letzte Hinweis regt Nietzsche dazu an, seine Theorie der Lyrik nochmals darzustellen. Dabei dient das Verhältnis zwischen Wort und Ding als Ausgangspunkt seiner Gedanken. In eher unscheinbarer Weise setzt hier Nietzsche einen wichtigen Schritt, um die Schopenhauer’sche Metaphysik zugunsten einer neu konzipierten Rhetorik zu verlassen. Er beobachtet nämlich, dass Wort und Ding sich nicht decken, und dass zwischen ihnen eine symbolische Relation besteht (NL 7, S. 360).18 Das Wort symbolisiere aber „nur Vorstellungen“, seien diese nun bewusst oder unbewusst. Die entsprechende Erklärung führt wiederum über Schopenhauer hinaus, was Nietzsche diesmal auch explizit anmerkt: denn wie sollte ein Wort-Symbol jenem innersten Wesen, dessen Abbilder wir selbst, sammt der Welt, sind, entsprechen? Nur als Vorstellungen kennen wir jenen Kern, nur in seinen bildlichen Äußerungen haben wir eine Vertrautheit mit ihm: außerdem giebt es nirgends eine direkte Brücke, die uns zu ihm selbst führte. Auch das gesammte Triebleben, das Spiel der Gefühle Empfindungen Affekte Willensakte ist uns – wie ich hier gegen Schopenhauer einschalten muß – bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach, bekannt: und wir dürfen wohl sagen, daß selbst der „Wille“ Schopenhauers nichts als
16 Dahlhaus äußerte sich dazu folgendermaßen: „Nietzsche, Philosoph und Publizist,
war als Philosoph ebenso unbeirrbar, wie er als Publizist ein Taktiker war“ (Dahlhaus, „Musik – Zur Sprache gebracht“, S. 325). 17 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II , S. 510, zit. von Nietzsche in NL 7, S. 359 f. 18 Später wird Nietzsche diese Relation als metaphorisch bezeichnen. Siehe dazu ausführlich in § 14.
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die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren ist (NL 7, S. 360 f.).
Schopenhauers Willensmetaphysik wird dadurch in Frage gestellt, dass die von ihr eigentlich bezweckte Wesensergründung mit einer geradezu Kant’schen Ernüchterung, die auf Nietzsche zweifellos durch Friedrich Alexander Langes Geschichte des Materialismus wirkte,19 für unmöglich gehalten wird. Mit diesem Einwand leitet Nietzsche eine metaphysikkritische Reflexion ein, die er allerdings erst nach dem Bruch mit Wagner in Menschliches, Allzumenschliches veröffentlichen wird. Das Gewicht dieser Kritik wird einsichtig, wenn Nietzsche 1873 im Zuge einer erneuten Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann zu einer noch schärferen Formulierung derselben gelangt: In der ganzen Welt redet man nicht vom Unbewussten, weil es seinem Wesen nach ungewusst ist; nur in Berlin redet und weiss man etwas davon und erzählt uns, worauf es eigentlich abgesehn ist (NL 7, S. 654).
Nietzsche hebt dadurch den offenen Widerspruch einer Metaphysik hervor, die vom Unbewussten zu wissen glaubt, und vergleicht diese Auffassung des Unbewussten mit „mythologischen Wesen“ wie der Idee oder der Logik, welche alle als Ersatz Gottes fungieren sollen (NL 7, S. 671).20 19 Bereits in einem Brief an Gersdorff von Ende August 1866 berichtet Nietzsche von
der Lektüre des gerade erschienenen Buches Friedrich Alexander Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart (1866). Nietzsche bezeichnet die Schrift als „in ihrer Art vortrefflich und sehr belehrend“ und zitiert daraus ausgerechnet eine Stelle, in der Langes Position in Hinblick auf die Unmöglichkeit der Erkenntnis vom Ding an sich dargestellt wird: „Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob es außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat“ (SB 2, S. 159 f.; Lange, Geschichte des Materialismus, S. 268 f.). Siehe zu Nietzsches Lange-Rezeption Salaquarda, „Nietzsche und Lange“; Stack, „Lange und Nietzsche“. Thomas Böning konnte anhand von Notizen, die aus Nietzsches Universitätsstudienjahren stammen, nachweisen, dass Nietzsches Metaphysikkritik beinahe so alt ist, wie seine Schopenhauer-Rezeption überhaupt (Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, S. 1 – 12). 20 Zu Nietzsches Hartmann-Rezeption siehe Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, S. 15 – 48, sowie Gerratana, „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869 – 1874)“. Gunter Gödde meint, dass Nietzsche den Terminus „Unbewusstes“ meidet, um sich von Hartmann deutlich zu distanzieren, siehe ders., „Dionysisches – Trieb und Leib – ,Wille zur Macht‘. Nietzsches Annäherungen an das Unbewusste“, S. 203.
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Im Fragment über Musik und Wort wird somit Nietzsches Abwendung von der Metaphysik greifbar, eine Abwendung wohlgemerkt, die erstaunlicherweise im Ansatz auf die Leipziger Studienjahre zurückgeht und am Beginn des Jahres 1871 eine schriftliche Niederlegung, aber zunächst keine Veröffentlichung fand. Hier wird der Wille nicht länger als metaphysisches Wesen der Dinge, sondern als „allgemeinste Erscheinungsform“ betrachtet. Als solche stelle er eine „Hauptgattung“ menschlicher Vorstellungen dar, und zwar derjenigen, die sich „uns als Lust- und Unlustempfindungen“ offenbaren und alle übrigen Vorstellungen „als nie fehlender Grundbaß“ begleiten (NL 7, S. 361). Solche Empfindungen, die Nietzsche nun als „Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes“ betrachtet, seien „im Tone des Sprechenden“ symbolisiert, während „sämmtliche übrigen Vorstellungen durch die Geberdensymbolik [sic] des Sprechenden bezeichnet werden“ (ebd.). Die Sprache enthalte somit bereits jene Duplizität von allgemeinem „Tonuntergrund“ und kulturspezifischer „Geberdensymbolik“, die in der Lyrik durch die musikalische Umsetzung der ersten Komponente verstärkt zum Tragen kommt. Die „Entwicklung der Musik“ sei übrigens als ein „historische[r] Prozeß“ zu betrachten, im Laufe dessen diese „ursprünglichste Erscheinungsform, der ,Wille‘, mit seiner Scala der Lust- und Unlustempfindungen“ zu einem „immer adäquateren symbolischen Ausdruck“ komme (NL 7, S. 362). In den darauf folgenden Ausführungen versucht Nietzsche die These zu entkräften, wonach die Musik durch Texte, Bilder oder Gefühle angeregt werden könnte, um die Ansicht ihrer genealogischen Priorität zu untermauern. Dabei distanziert er sich deutlich von der Gefühls ästhetik und scheint sich Hanslick, der diese Ästhetik im Vorwort seiner Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen als eine „verrottete“ bezeichnete, anzunähern:21 […] das Gefühl, die leisere oder stärkere Erregung jenes Lust- und Unlustuntergrundes ist überhaupt im Bereich der produktiven Kunst das an sich Unkünstlerische, ja erst seine gänzliche Ausschließung ermöglicht das volle sich Versenken und interesselose Anschauen des Künstlers (NL 7, S. 364).
Nietzsches Revision der Musikmetaphysik Schopenhauers führt zu einer dreifachen Unterscheidung, nach der das „Unentzifferbare“ den 21 Die These, Nietzsche habe in diesem Fragment die Argumente Hanslicks über-
nommen, ist in Landerer/Schuster, „Nietzsches Vorstudien“ vertreten, insbesondere S. 125 ff.
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Ursprung der Musik, der Wille den Gegenstand und die Gefühle bloß symbolische Ausformungen darstellen.22 In aller Klarheit behauptet Nietzsche, dass das musikalische Schaffen weder im Gefühl noch im in den Erscheinungsbereich versetzten Willen, sondern „jenseits aller Individuation“ liegt (NL 7, S. 365). Deshalb lehnt Nietzsche wie im fünften Kapitel der Geburt der Tragödie die Auffassung der Lyrik als Gattung der Subjektivität sowie jegliche feste Bindung zwischen der Musik und ihren jeweiligen Deutungen ab: Wenn also der Musiker ein lyrisches Lied componiert, so wird er als Musiker weder durch Bilder, noch durch die Gefühlssprache dieses Textes erregt: sondern eine aus ganz andern Sphaeren kommende Musikerregung wählt sich jenen Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst. Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein; denn die beiden hier in Bezug gebrachten Welten des Tons und des Bildes stehn sich zu fern, um mehr als eine äußerliche Verbindung eingehen zu können; das Lied ist eben nur Symbol und verhält sich zur Musik wie die ägyptische Hieroglyphe der Tapferkeit zum tapferen Krieger selbst. Bei den höchsten Offenbarungen der Musik empfinden wir sogar unwillkürlich die Roheit jeder Bildlichkeit und jedes zur Analogie herbeigezogenen Affektes: wie z. B. die letzten Beethoven’schen Quartette jede Anschaulichkeit, überhaupt das gesammte Reich der empirischen Realität völlig beschämen (NL 7, S. 366).
Angesichts der Tatsache, dass Wagner in der kurz zuvor erschienenen Beethoven-Festschrift einen knappen Programmentwurf zu Beethovens cis-Moll Quartett op. 131 ausgeführt hatte,23 nimmt Nietzsches Äußerung über die „Rohheit“ jeglichen Versuches, diese Musik mit Bildlichkeit und Analogien in Verbindung zu bringen, eine auffällige Schärfe an. Kurz darauf bezeichnet er noch Wagners in Das Kunstwerk der Zukunft vertretene Position,24 dass Beethoven „mit jenem vierten Satz der Neunten selbst ein feierliches Bekenntniß über die Grenzen der absoluten Musik“ abgegeben habe, als einen „ungeheuerlichen aesthetischen Aberglauben“ (NL 7, S. 367).25 Aus dieser schroffen 22 Siehe auch Dahlhaus, „Die doppelte Wahrheit in Wagners Ästhetik“, S. 419. 23 Wagner, „Beethoven“, S. 77 f . 24 Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“, S. 68. 25 Siehe dazu Dahlhaus, „Die doppelte Wahrheit in Wagners Ästhetik“. Dahlhaus
befasst sich in erster Linie mit den Unterschieden zwischen Nietzsche und Wagner und hebt auch Nietzsches Differenzen zu Schopenhauer hervor, sieht darin aber lediglich eine im Bereich der Wagner’schen doppelten Ästhetik verbleibende Position.
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Kritik an Wagner einen Einfluss von Hanslick abzuleiten, wäre dennoch irreführend. Denn Nietzsche hebt hervor, dass die dionysische Kunst, zu der er die lyrische Vokalmusik aller Zeiten von Pindars Chorlyrik bis zum Finale der Neunten Symphonie Beethovens zählt, keine „Rücksicht auf den Zuhörer“ kennt (NL 7, S. 368). Die dionysische Begeisterung, die Nietzsche hier wie in der Geburt der Tragödie als die Voraussetzung zum Verständnis dionysischer Kunst betrachtet, hat wenig mit der ästhetischen Anschauung tönend bewegter Formen zu tun, die Hanslick als die einzig adäquate Rezeption von Musik betrachtet. Vielmehr trifft Hanslicks Bestimmung die apollinische Kunst, welche jedoch nur eine Seite von Nietzsches Musikauffassung ausmacht.26 Mit der Annahme, der Ursprung der Musik läge in einer Sphäre jenseits der Individuation, welche der Erkenntnis – auch der metaphysischen – notwendig unerreichbar bleibt,27 knüpft Nietzsche nicht nur, wie Dahlhaus anmerkt, an die frühromantische Musikästhetik, insbesondere an Friedrich Schlegel, der ebenso kritisch wie Nietzsche der Gefühlsästhetik gegenüberstand, an,28 sondern auch, und zwar ausdrücklich, an Friedrich Schiller. Nietzsche zitiert im fünften Kapitel der Geburt der Tragödie zustimmend dessen Brief an Goethe vom 18. März 1796, in dem Schiller vom eigenen Schaffensprozess spricht und dem Freund mitteilt, dass bei ihm „die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand“ ist, weil der poetischen Idee eine „gewisse musikalische Grundstimmung“ vorhergeht.29 In einem späteren Brief (27. März 1801) ortet Schiller den Anfang des kreativen Prozesses, in dem die „Total-Idee“ des Werks sich dunkel manifestiert, im „Bewußtlosen“:
26 Siehe dazu auch Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 37 – 47. Dass Schmidt
jedoch Nietzsches Überzeugung, der Ursprung der Musik läge jenseits der Individuation, stark relativiert, hat wenig mit Nietzsche selbst zu tun, sondern vielmehr mit dem Versuch Schmidts, eine Verbindung zwischen Nietzsches Musikästhetik und der Ästhetik der Wiener Klassik, so wie diese von Thrasybulos Georgiades gedeutet wurde, herzustellen. Landerers und Schusters Einschätzung der Beziehung zwischen Nietzsche und Hanslick erweist sich also als einseitig, denn sie schaltet den dionysischen Anteil der Musikauffassung Nietzsches aus. Siehe dies., „Nietzsche Vorstudien“. 27 Nietzsche, NL 7, S. 361: wir müssen „uns also schon in die starre Nothwendigkeit fügen, nirgends über die Vorstellungen hinaus zu kommen […]“. 28 Siehe dazu Dahlhaus, „Die doppelte Wahrheit in Wagners Ästhetik“, S. 421. 29 Gräf/Leitzmann (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 144. Nietzsche zitiert diese Stelle in GT , S. 43.
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[…] in der Erfahrung fängt auch der Dichter nur mit dem Bewusst losen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewusstsein seiner Operationen nur soweit kommt, um die erste dunkle Total-Idee seines Werks in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wieder zu finden.30
Zugleich eröffnet Nietzsche durch das Festhalten an der musiké und der „Duplicität“ des Dionysischen und Apollinischen die durchaus moderne Perspektive einer intermedialen Ästhetik, welche gegen Wagner einige Momente der Hanslick’schen Musikauffassung unter dem Apollinischen subsumiert, diese aber als Ganze zugunsten einer breiteren, über die kontemplative Werkästhetik weit hinausgehenden performativen Musikphilosophie hinter sich lässt. Anhand der Lyrik arbeitet Nietzsche eine Unterscheidung von Klang und Bild heraus, welche diejenige, die Wagner in der Beethoven-Festschrift zwischen Schall- und Lichtwelt postuliert, empfindlich modifiziert. Denn Nietzsches abweichende Auffassung vom Willen als „allgemeinste Erscheinungsform“ lässt die von Wagner aus der Schopenhauer’schen Musikmetaphysik abgeleitete Gegenüberstellung von erhabenem Ton als unmittelbarer Manifestation des Wesens der Welt und schönem Schein als Darstellung von dessen Vorstellung nicht mehr zu.31 Ton und Bild bleiben zwar weiterhin klar voneinander getrennt, jedoch verweisen sie nicht länger auf Wesen und Erscheinung. Das einzige übrig gebliebene Konstrukt der Schopenhauer’schen Lehre ist der Begriff der Individuation, worauf nun der Unterschied zwischen der Entstehung des Tons und derjenigen des Bildes im künstlerischen Prozess gründet. Stellte aber bei Schopenhauer die Individuation das Prinzip dar, wonach der Wille sich in der Welt als Vorstellung objektiviert, so wirkt nun selbst in der empirischen Welt eine von Nietzsche nicht genauer bestimmte „Kraft“, die „unter der Form des ,Willens‘ eine Visionswelt aus sich erzeugt“ (NL 7, S. 365), das heißt: zur Individuation führt. Diese Kraft manifestiere sich in der Musik als Willen, jedoch derart, dass dieser selbst eine Deutung durch den Hörer oder durch den Lyriker hervorruft. Die Musik stellt demnach jene „Lust- und Unlustempfindungen“ dar, aus denen der Wille besteht (NL 7, S. 365) und die wir uns vielleicht als noch nicht besetzte Triebe vorzustellen haben. Selbst wenn sie als Ton zu Gehör gebracht werden, seien solche Empfindungen – im 30 Ebd., S. 731. Siehe dazu Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 88 – 94. 31 Es sei jedoch hervorgehoben, dass Wagners moralistische Ablehnung des schönen
Scheins mit Schopenhauers Auffassung des schönen Kunstbilds als Darstellung der Idee nicht vereinbar ist.
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Unterschied zu Gefühlen, Affekten und Begriffen –, auf kein Objekt bezogen und auf kein Subjekt als dessen Äußerung zurückzuführen, sondern in ihrer ursprünglichen Beweglichkeit gehalten.32 Eine Objektivierung erfahren sie in der Form der Verbildlichung erst durch die von ihnen angeregte Bildproduktion des Lyrikers, wie Nietzsche es in diesem Fragment andeutet und in den fünften und sechsten Paragraphen der Geburt der Tragödie am Beispiel des Archilochus und des Volkslieds ausführlich darstellt. Das Fragment über Musik und Wort und die entsprechenden Paragraphen der Geburt der Tragödie stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie die esoterische und die exoterische Lehre des aristotelischen Peripatos.33 Nietzsche meidet zwar in seinem Wagner emphatisch gewidmeten ersten Buch jegliche Erwähnung seiner Abweichung von der Schopenhauer’schen Doktrin und greift immer wieder auf die jeglicher Metaphysik zugrunde liegende Unterscheidung von Wesen und Erscheinung zurück. Die von ihm durchgeführte Aufwertung des Scheins widerspricht jedoch der Wagner’schen Musikphilosophie genauso effektiv, wie seine Sublimierungstheorie der Kunst die Schopenhauer’sche idealistische Ästhetik in Frage stellt. Trotz der Unterschlagung einer expliziten Kritik bleibt die Substanz seiner Theorie in der Geburt der Tragödie erhalten, nur deren Erkennbarkeit ist durch eine Fülle an apologetischen Gesten und irreführenden Aussagen wesentlich erschwert. Zentrale Bedeutung erlangt zweifellos die Nebeneinanderstellung von apollinischer Sublimierung und dionysischer Entsublimierung, deren paradigmatische Form Nietzsche in der griechischen Chorlyrik, woraus sich die Tragödie entwickelte, erblickt. Durch die Betrachtung des Fragments über Musik und Wort ist deutlicher geworden, dass darin die historisch und kulturell veränderliche Konstellation von der Fixierung von Symbolen und deren Verflüssigung einerseits und von der Festigung von Formen und deren Infragestellung andererseits als Voraussetzung einer ununterbrochenen Bildproduktion zu verstehen ist. Dass beide Momente Nietzsche wichtig sind, wird durch sein leidenschaftliches Plädoyer für die Causa des Dionysischen verschleiert. Diese unausgewogene Einstellung ist aber außer durch Nietzsches persönliche Neigung zweifellos durch 32 Die Beweglichkeit des Wunsches war ein Lieblingsthema Walter Benjamins –
dessen Nietzsche-Rezeption übrigens immer wieder auffällt. Siehe dazu Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche, S. 119 – 154. Dieses Thema liegt Deleuze/Guattari, L’Anti-Œdipe zugrunde. 33 Zum Unterschied zwischen esoterischer und exoterischer Lehre äußert sich Nietzsche in JGB , § 30.
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die kulturhistorischen Umstände zu erklären, die in Nietzsches Augen eine klare Stellungnahme zugunsten des durch die Denkfigur des Dionysischen Verdichteten erforderten. Ihm zufolge soll uns der im Klassizismus verdrängte dionysische Orgiasmus daran erinnern, dass Ratio, Geist und Kunst nicht das Andere des Triebes, sondern dessen Transformation darstellen und daher ihn nicht negieren, sondern von ihm zehren. Ausgerechnet der Kunst kommt die Aufgabe zu, die „Triebe in die Kultur [zu] übertragen“ (NL 7, S. 400). Eine solche Kultur würde demnach nicht auf der Repression, sondern auf der Entladung der Triebenergie gründen und davon profitieren. Im Nachlass aus dem Sommer 1875 ist ersichtlich, dass Nietzsche die Griechen als Vorbild einer solchen Kultur betrachtete: Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als eine solche Macht! Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit – alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mäßige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung (NL 8, S. 78 f.).
Walter Kaufmann meint, dass der „Gegensatz von Verleugnung, Verwerfung und Ausrottung der Leidenschaften auf der einen, und ihrer Beherrschung und Sublimierung auf der anderen“ Seite, einer „der wichtigsten Punkte in Nietzsches gesamter Philosophie“ darstellt.34 Dennoch sind die Grenzen zwischen Verdrängung und Sublimierung durchlässig. Reinhard Gasser zufolge bleiben auch bei Freud die „Abgrenzungen zu den psychischen Nachbarvorgängen der Sublimierung, etwa zur ‚Idealisierung‘ oder zu den ,zielgehemmten‘ Trieben, oder ebenso zur ‚Reaktionsbildung‘ und zur ,Verdrängung‘ auf dem Stand von Hinweisen“.35 Grenzen werden dennoch für Freud dort sichtbar, wo der Umschlag der Sublimierungs- in die Verdrängungsarbeit eine schwere neurotische Störung zur Konsequenz hat: wo sich die Subli-
34 Kaufmann, Nietzsche, S. 259. 35 Gasser, Nietzsche und Freud, S. 321.
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mierung […] von ihrem ursprünglichen (sexuellen) Ziel in einer Weise entfernt und entfremdet, daß dem Organismus lebensbedrohlicher Schaden erwächst.36 36 Ebd., S. 361. Eine Unterscheidung zwischen „repressiver“ und „nicht-repressiver“
Sublimierung führten um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts Géza Róheim, The Origin and Function of Culture; ders., „Sublimation“, sowie Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 195 – 218, durch. In den um 1968 verfassten Schriften über ästhetische Fragen erkennt Marcuse in der avancierten Kunst des 20. Jahrhunderts „Tendenzen zu einer Entsublimierung der Kultur“ und erwähnt als Beispiele dafür „Nicht-gegenständliche, abstrakte Malerei und Skulptur, ,Bewusstseinsstrom‘ und formalistische Literatur, Zwölfton-Komposition, Blues und Jazz“ (Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 63). Entsublimierung sei in der black culture am deutlichsten zu erkennen (ebd., S. 58 – 62). Die „schwarze Musik“ sei „zum einen entsublimierte Musik, die die Klangbewegung direkt in Körperbewegung überträgt, zum anderen nicht-kontemplative Musik, die die Kluft zwischen Aufführung und Rezeption überbrückt, indem sie den Körper direkt (fast automatisch) in eine spontane Bewegung versetzt, die ,normale‘ Bewegungsmuster durch subversive Klänge und Rhythmen verzerrt und verdreht“ (Marcuse, „Musik von anderen Planeten“, S. 93). Diese seien Tendenzen, die auf die „Aufhebung von Kunst“ hinauszulaufen scheinen, worunter Marcuse „das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen“ versteht (Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 54). Gegen eine solche Aufhebung äußerte sich Jürgen Habermas in seiner berühmten Rede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises im Jahr 1980: „wenn man die Gefäße einer eigensinnig entfalteten kulturellen Sphäre zerbricht, zerfließen die Gehalte; vom entsublimierten Sinn und der entstrukturierten Form bleibt nichts übrig, geht eine befreiende Wirkung nicht aus“ (Habermas, „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, S. 188). Dass darin nicht nur eine Absage an die so genannte postmoderne Philosophie französischer Herkunft, sondern auch an die erwähnten Positionen Marcuses anzusehen ist, meint zurecht Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, S. 54 f. Marcuses Thesen waren jedoch selbst in den Jahren der Studentenbewegung dialektischer, als Habermas 1980 sehen wollte. Ironischerweise hatte ja Habermas selber 1968 auf die Missverständnisse hingewiesen, die so oft den Umgang mit Marcuses Thesen fehlleiteten (Habermas, „Zum Geleit“, S. 13 f.). Marcuse zufolge besteht das Bestreben der „Kulturrevolution“ in der „Negation der traditionellen Kultur: als methodisch[er] Entsublimierung“ (Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 73). Diese sei aber eben nur ein negatives Moment, wobei doch „diese ganze Ent-Formung“ Form ist: „Anti-Kunst ist Kunst geblieben, wird als Kunst geliefert, gekauft und betrachtet“ (ebd., S. 67), denn die „Kunst widerspricht ihrer Form nach dem Bemühen, die Entrückung der Kunst zu einer ,zweiten Realität‘ zu beseitigen, die Wahrheit der produktiven Phantasie in die erste Realität zu übersetzen“ (ebd., S. 68). In dieser Zeit sah dennoch Marcuse in der Negativität dieser Ent-Formung und Entsublimierung „umstürzende Kräfte im Übergang“ zu einer neuen „Stufe“ der Kultur an, in der „ein Bündnis von befreiender Kunst und befreiender Technologie“ zustande kommen kann (ebd., S. 76). Diese „Stufe“ wird mit auffälligem Bezug auf Nietzsche beschworen: „Sinnlichkeit und Vernunft vereinigend, wird die Vorstellungskraft ,produktiv‘, sobald sie praktisch wird: eine leitende Kraft bei der Rekonstruktion von Wirklichkeit – der Rekonstruktion mit Hilfe einer gaya scienza, einer Wissenschaft und Technik, die nicht länger im Dienst von Destruktion und Ausbeutung stehen und daher frei sind
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Im Nachlass Nietzsches findet sich eine Definition von Kultur, die jener Sigmund Freuds sehr nahe steht: Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes: die Philosophie bändigt den Erkenntnißtrieb, die Kunst den Formentrieb und die Ekstasis, die agápe den éros usw. (NL 7, S. 432).37
Fast sechzig Jahre später schreibt Freud in Bezug auf Das Unbehagen in der Kultur: Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.38
Freilich muss die Nähe zwischen Freud und Nietzsche insofern relativiert werden, als beide den Trieb und die Triebstruktur des Menschen unterschiedlich auffassen.39 Darüber hinaus werden durch den Vergleich ihrer Ansätze auch die jeweils unterschiedlichen Einstellungen für die befreienden Erfordernisse der Phantasie“ (ebd., S. 52 f.). Einige Jahre später hebt Marcuse die repressiven Momente hervor, die in einer „Aufhebung der bürgerlichen Kunst“ wirksam sind. Er bezweifelt nun die Ansicht, dass die Aufhebung der Trennung zwischen geistiger und materieller Kultur den Klassencharakter der bürgerlichen Kultur treffen würde. In den „repräsentativsten und vollkommenen Werke[n] der bürgerlichen Periode“ herrsche im Gegenteil eine „durchgängig antibürgerliche Haltung“ vor (Marcuse, Konterrevolution und Revolte, S. 102 f.). Die „subversive Wahrheit“ der Kunst liege „in der Transformation der Wirklichkeit in Schein“, daher würde die Aufhebung der Trennung von Kunst und Wirklichkeit die Kunst ihrer subversiven Kraft berauben (ebd., S. 116). Zu überwinden sei vielmehr das affirmative Moment der Kunst, welches keineswegs in deren Abstand von der Wirklichkeit bestehe, sondern „in der Leichtigkeit, mit der sie mit der gegebenen Wirklichkeit versöhnt werden konnte […]“ (ebd., S. 115). Eine Kritik an Freuds Auffassung der Kultur als Triebverzicht und an die Ödipalisierung des Eros findet sich in Deleuze/Guattari, L’Anti-Œdipe – Deleuze ist ja Autor einer der anregendsten Nietzsche-Deutungen (Deleuze, Nietzsche und die Philosophie). Eine Kritik an Marcuses Begriffen der Repression und Befreiung, die jener Habermas’ entgegengesetzt ist, entwickelt Michel Foucault nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit Nietzsches späteren Schriften, siehe Foucault, Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen. Habermas führt seine Nietzsche-Kritik in Bezug auf die Postmoderne in Der philosophische Diskurs der Moderne (S. 104 – 129) durch. 37 Anfang 1874 schreibt Nietzsche in Bezug auf Wagner: „Die künstlerische Kraft veredelt den unbändigen Trieb und engt ihn ein, concentriert ihn zu dem Wunsch, dies Werk möglichst vollkommen zu gestalten“ (NL 7, S. 768). 38 Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S. 227. 39 Siehe dazu § 17.
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und Ziele sichtbar: Freud betont die Notwendigkeit der Triebsublimierung im Hinblick auf die Ermöglichung der „höheren Tätigkeiten“ des Menschen; Nietzsches Anliegen ist hingegen, aufzuzeigen, wie dieselben von den Trieben, wenn auch durch Bändigung, zehren. Diese Umkehrung der Perspektive ist im Aphorismus 75 aus Jenseits von Gut und Böse deutlich zu erkennen: „Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf“.40 Nietzsches Ziel besteht darin, nicht nur das Sinnliche vor dem Geistigen in Schutz zu nehmen, sondern den Nachweis zu bringen, dass letzteres als eine Transformation des ersteren zu betrachten ist. Dies versucht Nietzsche, indem er die traditionelle Sichtweise einer leidenschaftslosen Erkenntnis als Einbildung entlarvt und die Erkenntnis selbst als sublimierten Trieb auffasst: Wir glauben, es sei der Gegensatz einer Leidenschaft: aber es thut wohl, und deshalb beginnen wir den Kampf gegen die Leidenschaften zu Gunsten der Vernunft und Gerechtigkeit. Wir Arglosen! […] Wir entdecken plötzlich, daß es alle Merkmale der Leidenschaft selber trägt. Wir leiden bei dieser Erkenntniß, wir trachten nach dem ungetrübten morgenstillen Lichte des Weisen. Aber wir errathen: auch dieses Licht ist leidenschaftliche Bewegung, aber sublimirt, für Grobe unerkennbar. […] (NL 9, S. 320 f.).41
Nietzsches Ausdruck „Formentrieb“ (NL 7, S. 432) weist auf Schiller hin, zu dem Nietzsche ein genauso ambivalentes Verhältnis pflegt, wie später Freud wiederum zu ihm selbst. Schiller und Nietzsche ist die Überzeugung gemeinsam, dass die jeweils von beiden zu unterschiedlichen Zeiten festgestellte Kulturkrise durch eine ästhetisch geprägte Erneuerung und Neu-Fundierung zu beheben wäre. Im 12. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen spricht Schiller von zwei entgegengesetzten „Kräften“, durch die wir angetrieben werden: Dem sinnlichen und dem Formtrieb.42 Der nahe liegende Versuch, im ersten den dionysischen und im zweiten den apollinischen Trieb zu vermuten, 40 Ähnlich auch im NL 12 (Sommer 1887), S. 325 f.: „Das Verlangen nach Kunst und
Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzückungen des Geschlechtstriebes, welche er dem Cerebrum mittheilt […].“ 41 Siehe auch FW , § 333: Was heisst erkennen; Za, S. 156 – 159: Von der unbefleckten Erkenntnis. Eine Gegenüberstellung zwischen diesen Gedanken und Freuds Ausführungen zu Forschungsinteresse und Sexualität in dessen Essay Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci befindet sich in Gasser, Nietzsche und Freud, S. 332 – 346. 42 Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, S. 36 f.
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scheitert dennoch wegen wichtiger Differenzen in der Bestimmung beider: Schillers sinnlicher Trieb ist im Unterschied zu Nietzsches dionysischem Prinzip mit der „höchste[n] Begrenzung“ verbunden, prägt daher den menschlichen Bereich der Endlichkeit und fesselt den Menschen „mit unzerreißbaren Banden“ an die Erscheinung.43 Der Formtrieb andererseits geht von der „vernünftigen Natur des Menschen“ aus und führt ihn zur „höchste[n] Erweiterung des Seins“. Durch ihn sind wir „nicht mehr Individuen, sondern Gattung“.44 Schillers Dichotomie beruht also auf einer ganz anderen Zusammensetzung der Eigenschaften als jene Nietzsches, wobei der folgenreichste Unterschied zweifellos darin besteht, dass Schiller auf die Trennung von Sinnlichem und Geistigem baut, während Nietzsche diese unterminiert. Am Ende bleibt die Gemeinsamkeit auf die Geste der Entgegensetzung beschränkt.45 Ein problematischer Aspekt von Nietzsches Sublimierungstheorie besteht in der metaphysischen Prägung des Sublimierungsbegriffs. Denn sobald Nietzsche im Sublimierungsprozess die Triebe als ein gleichbleibendes „Wesen“ von den veränderlichen „Erscheinungsformen“ als ihren Verbildlichungen unterscheidet, reproduziert er die Kategorien der metaphysischen Tradition.46 Das postmetaphysische Denken erweist sich als eine sehr prekäre und stets gefährdete Unternehmung. Das eigentlich kritische Potential von Nietzsches Ästhetik in Bezug auf den Schopenhauer’schen Idealismus kommt erst dann zum 43 Ebd., S. 37. 44 Ebd., S. 38 f. 45 In Dieter Borchmeyers auf Einflussbestimmung gerichteter Untersuchung der
Schiller-Rezeption beim frühen Nietzsche bleiben diese Unterschiede unberücksichtigt (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 168 – 175; ders., „Wandlungen Nietzsches im Spiegel seines Schiller-Bildes“). Bertram Schmidt zufolge knüpfe Nietzsche mit seiner Dichotomie des Apollinischen und Dionysischen an Schillers Forderung in Über die ästhetische Erziehung an, die „Poesie in ihrer vollkommenen Ausbildung“ solle zugleich „musikalisch“ und „plastisch“ sein (Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 88. Schiller danach zit.). Eine Aufwertung jener Momente in Schillers Denken, welche die traditionelle, ihn als bildungsbürgerlichen Helden preisende Rezeption vernachlässigt oder gar ausgeblendet hat, versuchten u. a. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 184 – 194, sowie neuerlich Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 147 – 219, in Bezug auf Nietzsche S. 308 f.; 332 f. 46 Walter Kaufmann, der Nietzsches späte Philosophie als eine Variante der Hegel’schen betrachtet, betont eben diese metaphysische Prägung: „Aber Nietzsche behauptet, völlig im Einklang mit der Tradition, daß das, was bleibt, das Wesen, und das, was sich ändert, das Zufällige sei“ (Kaufmann, Nietzsche, S. 257). Während Kaufmann dies affirmativ betrachtet, erkennt Vattimo das Problem, welches bei Nietzsche darin besteht, die Metaphysikkritik auf eine metaphysische Kategorie zu stützen (Vattimo, Il soggetto e la maschera, S. 99 f., Anm. 1).
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Tragen, wenn der labile Unterschied zwischen idealistischer Negation und apollinischer Sublimierung des Triebes dadurch verstärkt wird, dass letztere, im Gegensatz zur ewigen Idee, als rückgängig machbar und vorläufig aufgefasst wird. Dafür sorgt das durch das Dionysische vertretene Moment der Auflösung der apollinisch fixierten Bilder: Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See’s ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische ,Wille‘ das Hellenenthum zu bannen suchte (GT , S. 70).
Erst durch die dionysische Entsublimierung des apollinischen Bildes wird der metaphysischen Hypostasierung desselben zur ewigen Idee widersprochen. Schopenhauer fasst die platonische Idee als „adäquate Objektität des Dinges an sich“ auf, „welches selbst aber der Wille ist“.47 Das, was Nietzsches Sublimierung des Triebes von Schopenhauers Objektivation des Willens wesentlich unterscheidet, ist also das jeweilige Ergebnis beider Transformationsprozesse, nämlich die ewige Idee im Fall Schopenhauers und der apollinische Schein, welcher jedoch jederzeit dionysisch wieder verflüssigt werden kann – und soll –, im Fall Nietzsches. Demzufolge erkennt Nietzsche einerseits im „Projicieren des Scheins“ den „künstlerischen Urprozeß“, andererseits hebt er hervor, dass diese Bildproduktion nur insofern möglich ist, als sie stets von Neuem erfolgen kann. In der Lyrik erfüllt die Musik die Aufgabe, das Bildhafte immer wieder in die ursprüngliche Beweglichkeit des Triebes aufzulösen, woraus sich neue Bilder erzeugen lassen. Es wundert nicht, dass sich ausgerechnet im Bereich der neueren multimedialen Kunst Nietzsches Ansatz als produktiv erweist. Die polnische Musikästhetikerin Zofia Lissa geht in ihrem 1965 erschienenen Buch über die Ästhetik der Filmmusik von der Annahme aus, dass der Inhalt der Musik mehrdeutig, derjenige der Bilder hingegen eindeutig sei. Im Hinblick auf die Semantik sieht sie durchaus im Geiste Nietzsches die Interaktion zwischen den beiden folgendermaßen: „In der Verbindung beider [Musik und Bild] konkretisiert das Bild die musikalischen Strukturen, die Musik dagegen verallgemeinert den Sinn der Bilder“.48 Das von Nietzsche hervorgehobene Moment der Wiederauflösung des bildlich Fixierten 47 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 32, S. 252. 48 Lissa, Ästhetik der Filmmusik, S. 70.
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kommt in Nicholas Cooks Theorie des musikalischen Sinnes deutlich zum Tragen, wenn auch ohne eine ausdrückliche Bezugsnahme. In seinem Buch Analysing Multimedia (1998) stellt Cook ein Modell für die Analyse von multimedialen Kombinationen vor, das auf George Lakoffs und Mark Johnsons Begriff der Metapher und dessen Weiterentwicklung durch Mark Turner und Gilles Fauconnier im Sinne einer „begrifflichen Verschmelzung“ beruht.49 Unter der Voraussetzung, dass gemeinsame Eigenschaften zwischen den beteiligten Medien bestehen, zeigt dieses Modell, dass aus der intermedialen Interaktion neuer Sinn entsteht. Durch die Analyse eines Werbespots und die nach demselben Modell erfolgte Betrachtung einiger berühmter Deutungen der Reprise im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie kommt Cook zu dem Schluss, dass die Verschmelzung von Musik und Bild jeweils zur Emergenz neuartiger semantischer Eigenschaften führt,50 wobei sich die hermeneutischen Deutungen instrumentaler Musik, wie auch bereits von Nietzsche in Bezug auf Wagner angesprochen, ebenfalls als Produktion von Bildern begreifen lassen. Die Konsequenzen, die Cook aus diesen Analysen zieht, stimmen mit Nietzsches Theorie intermedialer Bezüge überein. Dies gilt insbesondere für das, was Cook als „potentielle Bedeutung“ von Musik bezeichnet und Susan Melrose, vielleicht noch näher an Nietzsche, „ein noch nicht semantisiertes energetisches Potential“ nennt, „das aber für verschiedene Semiotisierungen verfügbar ist“.51 Damit ist die Eigenschaft von Musik gemeint, die Zuhörer und Zuhörerinnen mit „instabile[n] Aggregate[n] potentieller Bedeutung“ zu konfrontieren,52 die sich jeweils nach Auswahl und Kombinationen der Elemente unterschiedlich konkretisieren lassen. Eine solche Konfiguration von losen und potentiellen Bedeutungselementen erfolgt in Film, Videoclips und Multimedia durch die Interaktion mit Bildern, in der musikalischen Lyrik durch diejenige mit Worten und in der musikalischen Hermeneutik durch kritische und interpretatorische Diskurse. Allesamt bilden sie, was Nietzsche die apollinische Verbildlichung des dionysisch Unbildlichen nennt.53 49 Cook, Analyzing Musical Intermedia, Kap. 2 und 3. 50 Cook, „Musikalische Bedeutung und Theorie“, S. 102 – 108. 51 Melrose, A Semiotics of the Dramatic Text, S. 207, zit. nach Cook, „Musikalische
Bedeutung und Theorie“, S. 113.
52 Cook, „Musikalische Bedeutung und Theorie“, S. 114. 53 Vgl. Nietzsche, GT , S. 50: „Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven’sche
Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt“.
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Ausschlaggebend sowohl für Nietzsche als auch für Cook ist, dass keine dieser Konkretisierungen als die Bedeutung von Musik betrachtet werden kann, weil sie jeweils nur eine der möglichen Aktualisierungen eines unbestimmten, aber nicht beliebigen Potentials darstellen.54 So betrachtet, stellt Intermedialität nicht bloß eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Medien dar, sondern eine die medialen Grenzen überschreitende Dynamik, in der Eigenschaften des einen in das andere Medium übertragen werden. Die intermediale Übertragung in der Tragödie und ihr rhetorisches Pendant, die Metapher, beschäftigen Nietzsche in den frühen 1870er Jahren immer wieder. In dieser Zeit entsteht auch die These, dass diese Übertragungen nicht länger als besondere Vorkommnisse, sondern als das wesentliche Moment der Sinnproduktion zu betrachten sind. Dadurch wird verständlich, warum die Musik wohl über eine wie auch immer aufzufassende persönliche Neigung hinaus eine zentrale Rolle in Nietzsches Denken spielt: Die Musik liefert ein Modell für das stetige Ineinanderfließen von Hervorbringung und sukzessiver Auflösung des Bildhaften, welches Nietzsche als Grundlage seiner Ästhetik und darüber hinaus seiner Kulturtheorie betrachtet. Denn ein wesentliches Element in Nietzsches fragmentarischer und zum Teil widersprüchlicher Ästhetik dieser Jahre besteht in dem engen Verhältnis, welches Sublimierungsökonomie und intermediale Übertragung verbindet: Die in der Tragödie stattfindende Transformation des Schreckens in Kunst erfolgt ästhetisch als Überschreitung der medialen Grenzen, nämlich als Verbildlichung eines Bildlosen. Die Forderung nach der Pflege beider Momente, also der apollinischen Fixierung und der dionysischen Verflüssigung in der zeitgenössischen Kultur, so, wie er sie in der antiken Lyrik und in der attischen Tragödie verwirklicht sah, stellt somit Nietzsches Antwort auf das Problem des „Unbehagens in der Kultur“ dar. Über achtzig Jahre vor Herbert Marcuses Eros and Civilization laboriert Nietzsche mit seinen Tragödienschriften an der Vision einer Kultur,55 welche nicht länger aus der Triebunterdrückung ihre Tugend und ihren Stolz bezieht, sondern neben dem erforderlichen Moment der Sublimierung und Konsolidierung jenes ebenso unentbehrliche der Entsublimierung und Befreiung als notwendiges Korrelat anerkennt. 54 Nietzsche schreibt in seinem Notizheft im Winter 1869 – 70: „Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist“ (NL 7, S. 47). 55 Marcuse weist auf die diesbezügliche Leistung Nietzsches hin, bezieht sich aber
lediglich auf die späteren Werke, siehe Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 119 – 124.
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In der Literatur, zumal der philologisch orientierten, wird Nietzsches frühe, bereits in den beiden Basler Vorträgen von 1870 wirksame Ablehnung der platonischen Diskreditierung des Sinnlichen viel zu wenig beachtet. Dies hat zur Folge, dass die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen dem frühen Nietzsche und Schopenhauer nicht adäquat zur Geltung kommt.1 Bedenkt man, welche Rolle die platonische Idee in der Ästhetik Schopenhauers spielt, so wird einsichtig, dass Nietzsches Umkehrung des Platonismus in Bezug auf seine philosophische Treue zu Schopenhauer gravierende Folgen haben muss. In jeder Phase von Nietzsches Denken ist eine eigentümliche Verschränkung von Nähe und Distanz zu Schopenhauer festzustellen, der diejenige Wagner gegenüber durchaus entspricht. Nietzsches emphatische Bekennung zu Schopenhauer – wie jene zu Wagner – in den frühen Basler Jahren ist ebenso wenig wörtlich zu nehmen wie seine spätere Ablehnung. Nietzsches früheste Äußerung über die Umdrehung des Platonismus geht auf die Zeit der Entstehung seines ersten Buches zurück: 1 Die Unterschlagung dieser frühen Kritik hat die ältere Nietzsche-Forschung immer
wieder zur Annahme eines Bruches zwischen dem treuen Wagnerenthusiasten der früheren Jahre und dem späteren Erkenntniskritiker geführt und dessen Ursache in irgendeinem äußerlichen Einfluss, sei es durch persönlichen Kontakt oder durch Lektüre, zu erkennen geglaubt. Beispielhaft für diese Einstellung ist Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 495 – 514. Eine solche Auffassung – mit Eduard Hanslick als Einfluss quelle – vertreten, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung, Éric Dufour, „L’Esthétique musicale formaliste de ,Humain trop humain‘“ und Christoph Landerer, „Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik“. In Bezug auf Nietzsches Tragödientheorie sind wichtige Ausnahmen Schlechta/Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, von Reibnitz, „Vom ,Sprachkunstwerk‘ zur ,Leseliteratur‘“ und Müller, „,Aesthetische Lust‘ und ,dionysische Weisheit‘“. Hinsichtlich der gesamten Philosophie Nietzsches ist Vattimos bereits 1974 zum Ausdruck gebrachte Einsicht hervorzuheben: „Le ambiguità e le apparenti incoerenze delle opere nietzscheane giovanili, dalla Nascita della tragedia alle Considerazioni inattuali, specialmente alla seconda su ,L’utilità e il danno degli studi storici per la vita‘, derivano tutte dal mancato riconoscimento della carica antischopenhaueriana, antiplatonica in fondo, della sua elaborazione del problema della classicità“ (Vattimo, Il soggetto e la maschera, S. 14). Eine systematische Untersuchung der frühen Notizen aus der Leipziger Studienzeit, welche die Schopenhauer-Kritik bei Nietzsche bezeugt und die mit der Schopenhauer-Begeisterung koexistiert, befindet sich in Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, S. 1 – 22.
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Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel (NL 7, S. 199).
Diese Notiz beinhaltet in nuce das Programm der späteren philosophischen Subversion.2 Die Annahme, es handle sich dabei um eine inmitten der Schopenhauer-Begeisterung isolierte und zunächst folgenlose Intuition, erweist sich insofern als irreführend, als sich Anhaltspunkte dafür schon in der Geburt der Tragödie durchaus nachweisen lassen. Eine erste Spur ist, wie bereits angesprochen, in Nietzsches Bestimmung des apollinischen Scheins enthalten, die von der Schopenhauer’schen Auffassung des schönen Kunstbilds als Darstellung der Idee abweicht. Schopenhauer betrachtet die platonische Idee als die unmittelbare Objektivation des Willens, welche dem Satz vom Grunde nicht unterworfen ist. Obwohl sie „notwendig Objekt“ und daher vom Ding an sich verschieden ist,3 wird ihr ein Sonderstatus zuerkannt, der auf eine Art Mittelposition zwischen der Welt als Wille und jener als Vorstellung hinweist. War Platon zufolge die Kunst als Abbild eines Abbildes von der idealen Wahrheit weit entfernt und dementsprechend von ihm gering geschätzt, so erfährt sie nun bei Schopenhauer dadurch eine spektakuläre Aufwertung, dass sie nicht länger als Abbildung einzelner Dinge, sondern als Darstellung der Ideen betrachtet wird. Demzufolge sei der adäquate Weg zur Erkenntnis der Idee keineswegs jener der Philosophie, sondern ausgerechnet jener der Kunst, welche somit wiederum in einer Art Umkehrung des Platonismus, die jedoch dessen Wertungskriterien unangetastet lässt, zur höchsten Stellung im Schopenhauer’schen System avanciert. Der Sonderstatus der Idee in der Welt als Vorstellung, nämlich der eines besonderen Objekts, das dem Satz vom Grunde nicht unterworfen ist, führt dazu, dass auch das Subjekt, welches sich der Erkenntnis der Idee widmet, eine wesentliche Veränderung erfährt: Da wir nun also als Individuen keine andere Erkenntnis haben, als die dem Satz vom Grunde unterworfen ist, diese Form aber die Erkenntnis 2 Die Folgen dieser Einstellung zu Platon sind u. a. auch durch einen Vergleich mit
Erwin Rohdes Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (1894) festzustellen. Rohde projiziert die platonische Auffassung der „Psyche“ auf die archaische Antike zurück und hält somit auch für jene Kultur eine begriffliche Trennung zwischen Seele und Leib für selbstverständlich, wobei Nietzsche hingegen seine Auffassung des Dionysischen ausgerechnet auf der Überwindung jener Trennung begründete. 3 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 32, S. 252.
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der Ideen ausschließt; so ist gewiß, daß, wenn es möglich ist, daß wir uns von der Erkenntnis einzelner Dinge zu der der Ideen erheben, solches nur geschehen kann dadurch, daß im Subjekt eine Veränderung vorgeht, welche jenem großen Wechsel der ganzen Art des Objekts entsprechend und analog ist und vermöge welcher das Subjekt, sofern es eine Idee erkennt, nicht mehr Individuum ist.4
Nietzsches Auffassung unterscheidet sich insofern von dieser Lehre, als er Apollo „als das herrliche Götterbild des principii individuationis“ bezeichnen möchte, „aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ,Scheines‘, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche“ (GT , S. 28). Das schöne apollinische Bild stellt also keineswegs eine Überwindung des Individuums wie das schöne Kunstbild bei Schopenhauer, sondern dessen Verherrlichung dar. Demzufolge ist der apollinische Schein bei Nietzsche nicht deshalb schön, weil in ihm die Idee als ein höheres Objekt zur Darstellung kommt, sondern weil er die Befriedigung eines Triebes darstellt, nämlich des Triebes zur Kunst „als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins“ (GT , S. 36). Das apollinische Bild ist Nietzsche zufolge keineswegs Erscheinung der Idee, sondern – nicht anders als bei Platon das Werk des Künstlers – „Schein des Scheins“. Nietzsches Umdrehung des Platonismus ist deshalb radikaler als jene Schopenhauers, weil sie das Fundament der Wertung betrifft: Die apollinische Traumvision ist ausgerechnet als „Schein des Scheins“ wertvoll, und zwar als „eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin“ (GT , S. 39). In der Bestimmung des Schönen als Befriedigung einer Urbegierde ist eine erotische Auffassung der Kunst beinhaltet, die zwar mit jener der Antike korrespondiert, jedoch mit Schopenhauers kontemplativer Schau der Idee nicht vereinbar ist. Setzt bei Schopenhauer die ästhetische Kontemplation die Abwendung vom Willen voraus, so stellt sie hingegen bei Nietzsche die Sättigung eines Begehrens dar. Darauf gründet die oben analysierte Aufwertung des Scheins bei Nietzsche,5 welche durchaus im Sinne der anfangs zitierten Notiz aus dem Nachlass zu verstehen ist. Besteht das „wahre Sein“ aus Schmerz und Leid, so kann das Leben nur aufgrund einer Illusion wünschenswert werden: „[J]e weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel“ (NL 7, S. 199). Dass die apollinische Illusion Sublimierung des Schmerzes bleibt und nicht zu dessen Verdrängung wird, dafür soll die dionysische Entsublimierung sorgen. 4 Ebd., § 33, S. 254. 5 Siehe oben § 4.
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In der angesprochenen Notiz aus dem Nachlass spricht Nietzsche von seiner Philosophie, was freilich für einen frisch ernannten Professor der klassischen Philologie nicht selbstverständlich ist. Während der Entstehung der Geburt der Tragödie wächst in der Tat Nietzsches Unbehagen der eigenen Disziplin gegenüber. Als er im April 1871 eine frühe Fassung des späteren Buches dem Verleger Wilhelm Engelmann in Leipzig zur Veröffentlichung anbietet, teilt er ihm zugleich auch mit, dass er in seiner Schrift „einstweilen von jeder philologischen Behandlung der Frage völlig [absieht] und nur das aesthetische Problem im Auge [behält]“ (SB 3, S. 194). Diese Fassung trägt im Manuskript den Titel Ursprung und Ziel der Tragödie und wurde erst im Jahr 1997 vollständig veröffentlicht. Vermutlich Ende Januar 1871 hatte sich Nietzsche um eine frei gewordene Professur für Philosophie in Basel beworben.6 In einem Brief an Erwin Rohde vom 29. März 1871 ist diesbezüglich zu lesen: Denke Dir, wie sehr man mich in der Hand hat, wenn man sich auf meine nie verschwiegene Schopenhauerei berufen kann! Zudem muß ich doch auch mich philosophisch etwas ausweisen und legitimieren: eine kleine Schrift „Ursprung und Ziel der Tragödie“ ist dazu fertig gemacht worden, fertig bis auf einige Pinselstriche. […] Von der Philologie lebe ich in einer übermüthigen Entfremdung, die sich schlimmer gar nicht denken läßt. Lob und Tadel, ja alle höchsten Glorien auf dieser Seite machen mich schaudern. So lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein und glaube bereits an mich (SB 3, S. 189 f.).7
Dennoch: Anzunehmen, dass Nietzsche sich mit der für ihn neuen Disziplin und deren Tradition vollkommen identifiziert, wäre ein gravierender Irrtum. Im Gegenteil zeigen sich bald seine Beziehungen zur Philosophie als ambivalent und eigenwillig. Die im Rahmen der Bestimmung des apollinischen Scheins entstandene Erkenntniskritik findet in einer im Dezember 1872 unter dem Titel Ueber das Pathos
6 Siehe Brief an Wilhelm Vischer-Bilflinger, SB 3, S. 174 – 178. 7 Zur Schrift Ursprung und Ziel der Tragödie und zu deren Verhältnis zur Geburt der
Tragödie siehe von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, S. 43 – 53; zu Nietzsches gescheiterten Plänen, zum Professor für Philosophie berufen zu werden und Erwin Rohde als eigenen Nachfolger nach Basel zu bringen, siehe Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 398 – 409. Auch nach dem Scheitern dieser Pläne setzt Nietzsche seine kritischen Reflexionen über die Philologie fort. Die Idee einer unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel Wir Philologen stammt aus dem Oktober 1874, Aufzeichnungen dafür befinden sich in NL 8, S. 9 – 127.
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der Wahrheit verfassten Schrift eine prägnante Formulierung.8 Diese kleine Schrift fällt auf, da darin mehrere Gedanken enthalten sind, die in Nietzsches späteren Werken eine wesentliche Rolle spielen. Am Beginn seiner Ausführungen weist er auf die emphatischen Momente historischer Taten sowie auf den eigentümlichen Gegensatz der Vergänglichkeit des Augenblicks und dessen Verewigung durch den Ruhm hin. Ausgerechnet darauf sieht er die „Kultur“ begründet: Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangnen Zeit auch groß ist und daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfüllte, das ist der Grundgedanke der Kultur (CV 1, S. 756).
Jedoch muss sich das „Große“ durch einen „furchtbaren Kampf“ gegen „alles Andere, was noch lebt“, durchsetzen: „Das Gewöhnte, das Kleine, das Gemeine“ verhindern den Weg, den „das Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat“ (ebd.). Nietzsche wird später diesen Ausschnitt in seine zweite Unzeitgemässe Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben mit geringen Änderungen übernehmen, wobei diese Betrachtungsweise als die „monumentalische Art der Historie“ bezeichnet wird (UB 2, S. 258 f.).9 Als die „verwegensten Ritter“ dieses Kampfes um den Ruhm sind Nietzsche zufolge die Philosophen anzusehen, die einsam zur Unsterblichkeit fortschreiten: Ihre Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andere, und doch kann Niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen […]; denn die Mißachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit (CV 1, S. 757).
Obwohl der Ton zuweilen Zweifel über die Eigentlichkeit der Aussagen aufkommen lässt, fehlen bisher im Text jegliche Anhaltspunkte, um eine kritische Einstellung Nietzsches dem Wahrheitsstreben der 8 Es handelt sich dabei um die erste von Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Bü-
chern, die Nietzsche um die Jahreswende Cosima Wagner zukommen lässt. Die weiteren „Vorreden“ sind: 2. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten; 3. Der griechische Staat; 4. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur; 5. Homer’s Wettkampf. 9 Zu den Ausführungen über das Monumentale dürfte Nietzsche nicht zuletzt durch Wagners diesbezügliche Gedanken in Eine Mitteilung an meine Freunde (1851), S. 206 – 211, angeregt worden sein. Siehe dazu Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 83 f.; 102 – 104.
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Philosophen gegenüber zu vermuten. Diese Ungewissheit wird nur noch größer, wenn Nietzsche Heraklit als Paradigma des Philosophen einführt. Er, wie auch „ein Pythagoras, ein Empedocles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung“, die auf der „unbegrenzte[n] Überzeugtheit“ gründet, „der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein“ (CV 1, S. 758). Dieser Stolz habe Heraklit dazu gebracht, die Menschen mitsamt ihrem Wissen zu verachten und nur in sich selbst zu suchen und zu forschen. Am Höhepunkt der Schilderung des stolzen und einsamen, Wahrheit liebenden Philosophen bricht unerwartet und dennoch vor allem für diejenigen, die mit dem späten Nietzsche vertraut sind, nicht wirklich überraschend eine durch Rufzeichen und Zeilenumbrüche auch schriftbildlich hervorgehobene, radikale Infragestellung des bis dahin Dargestellten ein: Die Wahrheit! Schwärmerischer Wahn eines Gottes! Was geht den Menschen die Wahrheit an! Und was war die Heraklitische „Wahrheit“! Und wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus den Mienen der Menschheit, mit anderen Träumen! – Sie war die Erste nicht! (ebd.)
Die Geste der Umdrehung zählt zweifellos zu den beliebtesten Nietzsches. An dieser Stelle nimmt die Wahrheit die Gestalt ihrer Feinde an und wird ausgerechnet als „schwärmerischer Wahn“ und „verflogener Traum“ in Verruf gebracht. Darauf folgt die Rede eines Dämons, der bereits die Sprache des Zarathustra spricht: Vielleicht würde ein gefühlloser Dämon von alledem, was wir mit stolzer Metapher „Weltgeschichte“ und „Wahrheit“ und „Ruhm“ nennen, nichts zu sagen wissen, als diese Worte: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben, sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten“ (CV 1, S. 759 f.).10 10 Zur Erfindung der Erkenntnis und zum Verhältnis zwischen Erkenntnis und
Wahrheit bei Nietzsche siehe auch Foucault, Leçons sur la volonté de savoir, insb. S. 195 – 213.
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Ein ähnliches Schicksal würde auch auf den Menschen zukommen, wenn er ebenfalls „nur ein erkennendes Thier wäre“. Ihm „geziemt aber allein der Glaube an die […] zutrauensvoll sich nahende Illusion“, ja er lebt eigentlich „durch ein fortwährendes Getäuschtwerden“. Es handelt sich um eine ständige Täuschung, die bereits beim eigenen Bewusstsein beginnt: „In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg“. Trotz aller Versuche des Philosophen, „durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheitszimmer hinaus und hinab zu sehen“, ruht der Mensch „in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend“. Demgegenüber sind zwei Haltungen möglich: „,Laßt ihn hängen‘, ruft die Kunst. ,Weckt ihn auf ‘ ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit“ (CV 1, S. 760). Die in den Tragödienschriften verstreuten erkenntniskritischen Elemente werden in diesem kurzen Text zusammengefügt und zu einer ersten expliziten Formulierung gebracht. Demnach vermag die philosophische Erkenntnis keineswegs, bis zum letztgültigen Grund durchzudringen. Was sie für einen solchen hält, erweist sich als „stolz[e] Metapher“. Das Versagen der philosophischen Erkenntnis ist nicht nur durch deren Methode bedingt, sondern vielmehr durch die im Fragment über Musik und Wort erläuterte Unmöglichkeit der Wesens ergründung selbst.11 Das menschliche Bewusstsein gleiche ja einem Käfig, aus dem auch der Philosoph sich nicht zu befreien vermag. Nietzsche setzt zwar der Philosophie die Kunst entgegen, jedoch nicht im Schopenhauer’schen und Wagner’schen Sinn als den eigentlichen Weg zur Wahrheit, sondern im Gegenteil als eine vom Wahrheitswahn befreite, lebensnotwendige Illusion.12 Die philosophische Suche nach dem Grund deckt vielmehr den Abgrund des Seins auf und würde daher die Menschheit zur „Verzweiflung und zur Vernichtung treiben“, wenn diese wie die „klugen Thiere“ auf dem vom Dämon geschilderten „Gestirn“ keine Kunst hätte, die sie durch den schönen Schein zum Weiterleben verführt. Das Verlangen nach Wahrheit stelle also einen destruktiven, nihilistischen Trieb dar, der durch den von der Kunst beförderten Willen zum Leben überboten werden soll.13 11 Siehe oben § 6. 12 Zu den gerade erhaltenen und mit Wagner gemeinsam gelesenen fünf Vorreden
notiert Cosima in ihrem Tagebuch: „Das Manuskript von Pr. N.[ietzsche] erheitert uns auch nicht, eine ungeschickte Schroffheit spricht sich zuweilen darin aus, bei immer großem Tiefsinn des Empfundenen. Wir wünschten, er beschäftigte sich vorzüglich mit griechischen Themas“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher I, S. 623). 13 Im Nachlass dieser Zeit ist zu lesen: „Die Bändigung des Erkenntnißtriebes – ob zu Gunsten einer Religion? Oder einer künstlerischen Kultur, soll sich nun zeigen;
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Eine solche Einstellung zu Philosophie und Wahrheit stellt gewiss nicht die beste Voraussetzung dar, um am Beginn der 1870er Jahre eine akademische Karriere in dieser Disziplin zu starten. Es ist also nicht verwunderlich, dass Nietzsche die Spitzen seiner Erkenntniskritik vorsichtig der Veröffentlichung entzieht. Die im Frühjahr 1873 entstandene Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zeigt allerdings, dass Nietzsche historische Vorbilder für sein eigenes, die platonische und aristotelische Tradition ablehnendes Denken doch nachweisen konnte, nämlich die vorsokratischen Philosophen.14 Die Folgen seiner Erkenntniskritik sind dennoch in seinem Beschluss wirksam, in den jeweiligen philosophischen Systemen „nur den Punkt“ herausheben zu wollen, „der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutierbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat“ (PHG , S. 801).15 Dass jedes „philosophische System“ vom nächsten als „irrthümlich“ entlarvt wird, ist nur die Konsequenz der Vergeblichkeit jeglicher Wahrheitssuche. Was Nietzsche trotzdem am Philosophieren retten und zum Gegenstand seiner Schilderung machen möchte, das ist die persönliche Note, das vitale Element einer Einstellung, die dem Leben ansonsten eher feindlich als fördernd gegenübersteht. Eine solche Strategie wird er übrigens auch wählen, wenn er ein Jahr später in seiner dritten Unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer nicht als Philosophen, sondern als Erzieher darstellen wird.16 ich stehe auf der zweiten Seite“ (NL 7, S. 427). Bereits im Heft P I 15 aus dem Nachlass, in dem u. a. die Vorarbeiten zu den beiden Basler Vorträgen von Anfang 1870 niedergeschrieben sind, ist zu lesen: „Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung“ (NL 7, S. 62). Schlechta weist darauf hin, siehe Schlechta/Anders, Friedrich Nietzsche, S. 52. Zur Erkenntniskritik des jungen Nietzsche siehe auch Kienzle, „,… das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit‘“, S. 91 – 95. 14 Nietzsche kündigt eigentlich eine Betrachtung der vorplatonischen Philosophen an (PHG , S. 809), die Darstellung des Sokrates bleibt dennoch aus. Obwohl ein Druckmanuskript verfertigt und Cosimas Zusage zur Widmung der Abhandlung eingeholt wurde, blieb die Schrift unvollendet und unveröffentlicht. 15 Gilles Deleuze definiert diesen „Punkt“ folgendermaßen: „Man darf sich nicht mit der Biographie oder der Bibliographie begnügen, man muß zu jenem geheimen Punkt vordringen, an dem ein und dasselbe Anekdote des Lebens und Aphorismus des Denkens ist“ (Deleuze, Logik des Sinnes, S. 163). 16 In einem Brief aus Sorrent an Cosima Wagner vom 19. Dezember 1876 schreibt Nietzsche: „[…] werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch.[openhauer] schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei“ (SB 5, S. 210). Anfang August 1877 schreibt Nietzsche an Paul Deussen, der ihm sein Buch Die Elemente der Metaphysik zukommen hatte lassen: „Schon als ich meine kleine Schrift über Sch[openhauer] schrieb, hielt ich
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Für die vorsokratische Philosophie insgesamt gilt das, was er in Bezug auf Thales erläutert: Was bringt also das philosophische Denken so schnell an sein Ziel? Unterscheidet es sich von dem rechnenden und abmessenden Denken etwa nur durch das raschere Durchfliegen großer Räume? Nein, denn es hebt seinen Fuß eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie. […]. Ein genialisches Vorgefühl zeigte sich ihm, es erräth von ferne, daß an diesem Punkte beweisbare Sicherheiten sind. Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten (PHG , S. 814).
Der Diskreditierung des Sinnlichen wird dadurch entgegengewirkt, dass Nietzsche an die Etymologie des griechischen Wortes für „weise“ erinnert. Dieses gehört nämlich „zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks“ (PHG , S. 816). In ähnlicher Art weist Nietzsche in Bezug auf die „eisige“ Ontologie des Parmenides darauf hin, dass selbst die höchsten und abstraktesten Begriffe der Philosophie Metaphern des Sinnlichen sind: Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur ,athmen‘: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt (PHG , S. 847).
Somit überträgt Nietzsche seine Sublimierungstheorie auf die Erkenntnis und entlarvt den Anspruch der Metaphysik, durch die Logik und gegen die Sinne zur Wahrheit zu gelangen, als ein Vergessen, ein Verdrängen ihrer sinnlichen und empirischen Ursprünge. War im Fall der tragischen Kunst die apollinische Sublimierung durch die dionysische Entsublimierung begleitet, so wird hingegen im Fall der Metaphysik die Sublimierung der Begriffe als metaphorische Übertragung sinnlicher von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll“ (SB 5, S. 265).
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Vorgänge durch Verdrängung derselben zu einer die Sinne transzendierenden Wahrheit hypostasiert. Diese steht insofern dem Leben feindlich gegenüber, als sie behauptet, gegen dessen Prinzipien, wie eben die Sinnlichkeit, fortschreiten zu müssen. Bemerkenswert ist ferner die Ähnlichkeit, die Nietzsche zufolge zwischen dem (vorsokratischen) Philosophen und dem Tragiker besteht: Der erstgenannte suche „den Gesamtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen“. Dafür benötigt er freilich jene Besonnenheit, „die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projicieren weiß“ (PHG , S. 817).17 Im Laufe der Abhandlung avanciert Heraklit eindeutig zu Nietzsches Lieblingsphilosophen, und dessen „aesthetische Grundperception vom Spiel der Welt“ (PHG , S. 833) wird zu Nietzsches eigenem Konzept. An dem Heraklit gewidmeten Abschnitt kann man Nietzsches Versuch nachvollziehen, in der Entgegensetzung zwischen einer durch Intuition erfassten und einer durch Logik gewonnenen und daher abzulehnenden Wahrheit den Weg eines möglichen Philosophierens zu finden.18 Denn er übernimmt den Heraklit-Teil aus Ueber das Pathos der Wahrheit und macht daraus den 8. Paragraphen der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Anstelle der Tirade gegen die Wahrheit (CV 1, S. 759) erscheint aber nun eine merkwürdige Metaphorik: 17 In diesem Vergleich zwischen dem Dichter und dem Philosophen spielt sicherlich Jean Pauls Vorschule der Ästhetik, welche Nietzsche weiter unten zitiert (PHG ,
S. 833, das Zitat befindet sich auf S. 388 von Jean Pauls Werk), eine Rolle. Im 12. Paragraphen derselben definiert er die Besonnenheit als eine „Erscheinung des Genius“, die ein „Gleichgewicht und Wechselstreit zwischen Tun und Leiden, zwischen Subjekt und Objekt“ voraussetzt (S. 56 f.). Sie sorge nämlich beim Dichter dafür, dass „die innere Welt selber entzweit und entzweiteilt in ein Ich und in dessen Reich [wird], in einen Schöpfer und dessen Welt“. In einer Anmerkung fügt Jean Paul hinzu, dass sich eine „Unbesonnenheit im Handeln“ gut mit der „dichtende[n] und denkende[n] Besonnenheit“ verträgt. Dies werde deutlich durch das Träumen und jene Art des Wahnsinns beim „Reflektieren und Dichten“, in denen die Unbesonnenheit im Handeln besonders evident erscheint (S. 57, Anm. 1). Es sei ausgerechnet diese Art von Besonnenheit, die übrigens durchaus mit Enthusiasmus vereinbar sei, welche die Verwandtschaft zwischen Dichter und Philosoph bekräftige (S. 58). Jean Paul sieht allerdings diese Affinität durch Platon paradigmatisch verkörpert. 18 Dass dieser Versuch dem Genie-Gedanken aus der Zeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verpflichtet ist, gesteht Nietzsche dadurch ein, dass er auf Schopenhauers Unterscheidung und unterschiedliche Wertschätzung von Gelehrtenrepublik und Genialen-Republik ausdrücklich hinweist (PHG , S. 808). Zu Nietzsches diesbezüglicher Einstellung siehe Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens II , S. 129 – 168.
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Das, was er schaute, die Lehre vom Gegensatz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen (PHG , S. 835).
Die Enthüllung der Wahrheit wird als das Aufziehen des Vorhanges theatralisiert, und das Wesen der Welt erscheint somit als das „größt[e] Schauspiel“ auf der Bühne der Philosophie. Am Beginn des folgenden Paragraphen, in dem Nietzsche Parmenides als Gegenbild des Heraklit einführt, wird die Heraklit’sche Wahrheit als eine intuitiv gewonnene bestimmt: Während in jedem Worte Heraklit’s der Stolz und die Majestät der Wahrheit, aber der in Intuitionen erfaßten, nicht der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit, sich ausspricht, während er, in sybillenhafter Verzückung schaut, aber nicht späht, erkennt, aber nicht rechnet: ist ihm in seinem Zeitgenossen Parmenides ein Gegenbild an die Seite gestellt, ebenfalls mit dem Typus eines Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt und kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend (PHG , S. 835 f.).
Heraklit besitze die „höchste Kraft der intuitiven Vorstellung“ und zeige sich gegen die Vernunft als die „Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird“ „kühl, unempfindlich, ja feindlich“. Seine Lehre der Gegensätze sei so ungescheut formuliert, dass „Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben“ (PHG , S. 823). Nietzsche bejaht eine vermeintlich von Intuition, Phantasie und „tragischer“ Besonnenheit getragene vorsokratische Philosophie – ja insbesondere jene des Heraklit – und setzt diese der durch Logik und Vernunft geprägten post-platonischen Philosophie entgegen. Im Nachlass dieser Zeit befindet sich eine Notiz, in der Nietzsche die Verschränkung von Philosoph und Tragiker darstellt. Die Tragik des Philosophierens besteht demzufolge darin, dass der Metaphysik die Basis entzogen ist. Nietzsches Aufgabe der nächsten Jahre ist in der folgenden Notiz deutlich vorgezeichnet: Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück. […] Man muß selbst die Illusion wollen – darin liegt das Tragische (NL 7, S. 427 f.).
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Die eigentliche Spitze von Nietzsches früher Erkenntniskritik findet sich dennoch in der im Mai und Juni 1873 wegen des ersten heftigen Ausbruchs seiner Augenkrankheit an Carl von Gersdorff in die Feder diktierten, mittlerweile berühmt gewordenen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Die bereits in Ueber das Pathos der Wahrheit angedeutete und in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen erläuterte Auffassung der Begriffe als konsolidierte Metapher wird nun ins Zentrum der Darstellung gerückt und genealogisch auf die Betrachtung der frühen Entwicklung menschlich kultureller Strukturen und kollektiven Verhaltens bezogen.19 Die Nähe zur ersten der Fünf Vorreden wird schon dadurch einsichtig, dass die dort befindliche Erzählung des Dämons zur Eröffnung dieser Schrift wieder verwendet wird (WL , S. 876).20 Dazu kommt noch eine kritische Bestimmung des Begriffs als „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (WL , S. 880), welche nicht verfehlen wird, auf Adornos Negative Dialektik einzuwirken: 19 In der im Sommersemester 1874 gehaltenen Vorlesung über die Darstellung der an-
tiken Rhetorik kehren die Hauptgedanken der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne zusammengefasst wieder. Am Ende des dritten Abschnitts, Verhältniß des Rhetorischen zur Sprache, weist Nietzsche auf Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst (1871) als Quelle seiner Überlegungen hin (Nietzsche, Darstellung der antiken Rhetorik, KGW II , 4, S. 428). Zu dieser Beziehung siehe Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche“; Meijers/Stingelin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber“. Manfred Frank weist auf die Rezeption der Ideen Herders, vor allem auf die in dessen spätem Text Iduna, oder der Apfel der Verjüngung beinhalteten, vonseiten Nietzsches hin (Frank, Der kommende Gott, 143 – 146). 20 Die enge Verbindung zwischen den zwei Schriften und der Abhandlung über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ist im Heft P I 20b aus dem Nachlass nachvollziehbar (NL 7, S. 417 – 520). Siehe dazu auch Schlechta/Anders, Friedrich Nietzsche, S. 20 – 49. Zum durch die Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern verstärkten naturwissenschaftlichen Interesse Nietzsches siehe ebd., S. 60 – 73. Die folgende Notiz eignet sich besonders gut, um diesen engen Konnex zu veranschaulichen: „Die ganze Welt ist feucht, also ist Feuchtsein die ganze Welt. Metonymia! Ein falscher Schluß. Ein Prädikat ist verwechselt mit einer Summe von Prädikaten (Definition). Das logische Denken wenig geübt bei den Ioniern, entwickelt sich ganz langsam. Die falschen Schlüsse werden wir aber richtiger als Metonymien d. h. rhetorisch poetisch fassen. Alle rhetorischen Figuren (d. h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an! Wir sehen, wie zuerst weiter philosophiert wird, so wie die Sprache entstanden ist, d. h. unlogisch. Nun kommt das Pathos der Wahrheit und Wahrhaftigkeit hinzu.“ (NL 7, S. 486).
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So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser der Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre (WL , S. 880).21
Nietzsche, der den Pessimismus Giacomo Leopardis gut kannte,22 entlarvt die humanistische Sicht des Menschen als Zentrum des Universums als eine hochmütige Einbildung des Intellekts. Es sei ja eigentlich unbegreiflich, wie unter den Menschen, bei denen die „Verstellungskunst auf ihren Gipfel“ komme, „ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte“. Die eigentliche Funktion des Intellekts sei keineswegs das Erkennen, sondern die „Erhaltung des Individuums“, und dessen „Hauptkräfte“ entfalte er dabei in der „Verstellung“. Deren Beschreibung weist in vielerlei Hinsicht auf die Kunst hin, denn bei den Menschen sei „die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“ die Regel und das Gesetz (WL , S. 876). Was die wahre Erkenntnis vom trügerischen Schein unterscheidet, das sei keineswegs ein differenter Bezug zur Welt und zu deren Wesen, sondern eine auf der Basis sprachlicher und gesellschaftlicher Faktoren erfolgte Hypostasierung einer bestimmten Klasse von Täuschungen zur Wahrheit (WL , S. 877). Nietzsche knüpft an die im Fragment über Musik und Wort bereits erläuterte Unmöglichkeit des Erkennens des „Dings an sich“ an, um aufzuzeigen, dass 21 Müller-Lauter verweist auf eine weitere Verfehlung des Begriffes in Nietzsches Kri-
tik, nämlich die Fixierung von dem, was sich als „halt-loses Geschehen“ vollzieht (Müller-Lauter, Nietzsche, S. 20). 22 Zu Nietzsches Leopardi-Rezeption siehe Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 453; 544; 600. Cesare Galimberti gibt die Stellen aus Nietzsches Schriften, die sich auf Leopardi beziehen, zweisprachig deutsch und italienisch wieder, samt Kommentar und der italienischen Übersetzung von Walter F. Ottos Aufsatz aus den 1940er Jahren Leopardi und Nietzsche (Friedrich Nietzsche. Intorno a Leopardi). Nietzsche teilte seine Hochschätzung für Leopardi mit Hans von Bülow, der, nachdem er selbst manche Dichtungen übersetzte (SB 3, S. 306), Nietzsche anregte, Leopardis Dialoghi und Pensieri zu übersetzen (SB 5, S. 3 f.). Siehe dazu Haas, Hans von Bülow, S. 67; 72; 90. Schopenhauer lobt Leopardi in Die Welt als Wille und Vorstellung II , § 46, S. 754.
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das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit metaphorischer Art, das heißt eine Art intermedialer Übertragung ist:23 Das „Ding an sich“ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher (WL , S. 879).
Die Folge davon ist im berühmten Verdikt ausgesprochen: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volk fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen (WL , S. 881).
Das Tun des Künstlers und jenes des Wahrheitssuchenden unterscheiden sich also dadurch, dass ersterer bildliche Illusionen erzeugt, deren scheinhafter Natur sowie lebensfördernder Funktion er sich durchaus bewusst ist, während letzterer ähnlich erzeugte Illusionen zur Wahrheit erklärt und dabei unterschlägt oder verdrängt, dass sie eben solche sind. Mit der ihm eigenen Geste der Umdrehung stellt Nietzsche den Wahrheitssuchenden als den eigentlichen Betrüger dar, der falsche Münzen für wahres Gold verkaufen will, während der Künstler sich niemals einbildet, dass seine Bilder etwas anderes als Schein sein könnten. Ein zum Tragiker gewordener Philosoph würde die metaphorische Prägung der Begriffe erkennen und wäre fähig, auch im Denken apollinische Verbildlichung und dionysische Entsublimierung stets ineinander fließen zu lassen. Auf der fiktiven Bühne der tragischen Philosophie agieren die Begriffe-Metaphern wie dramatis personae bzw. Masken, sie verweisen nämlich nicht länger punktuell auf einzelne Referenten, sondern bringen ein ganzes „Drama“ zur Darstellung. In Nietzsches tragischer Philosophie als imaginärem Theater des Denkens blitzt die wiederum 23 Im erwähnten Fragment wurde es als symbolisch bezeichnet, siehe Nietzsche, NL 7,
S. 360 f. Siehe dazu oben § 6. Im Nachlass sind auch Gedanken notiert, die die Kausalität als Analogieschluss entlarvt, siehe NL 7, S. 483 f.
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metaphorisch geprägte eigene Auffassung des „Gesamtkunstwerks“ durch. Intermediale Übertragung (Metapher), Maskensemiotik und Performativität stellen bereits in den frühen Basler Jahren die tragenden Dimensionen von Nietzsches Denken dar. Erst mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wird Nietzsche allerdings eine entsprechende Schreibweise entwickeln. Damit werden wir uns in den nächsten Kapiteln befassen. Es gibt dennoch eine Art von Künstlern und Philosophen, die im künstlerischen Tun eine höhere Form der Suche nach Wahrheit zu erkennen glaubt. Nietzsches größtes Problem dieser Zeit ist eben, dass ein solcher Künstlertyp und eine solche Kunstphilosophie ausgerechnet von seinen verehrten Meistern Wagner und Schopenhauer vertreten werden. Die Schwierigkeit seiner Lage wird in der vierten Unzeitgemässen Betrachtung, welche im Juni 1876 anlässlich der kommenden Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit der Uraufführung des Rings erscheint und den Titel Richard Wagner in Bayreuth trägt, in all ihrer Brisanz erkennbar. Nietzsche geht mit dieser Belastung um, indem er drei Ebenen der Darstellung in seiner Schrift unterscheidet. Einerseits betont er die historische Dimension des Ereignisses und greift dabei auf die von ihm bereits in Ueber das Pathos der Wahrheit sowie ausführlicher in der 1874 erschienenen zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben bearbeiteten Kategorie der monumentalen Größe zurück. Hier hatte Nietzsche am wenigsten Probleme: Dass die Gründung der Bayreuther Festspiele ein historisches Ereignis sei, dessen Bedeutung und Wirkung die Aktualität überdauern und die Grenzen des Musikbetriebs bei weitem überschreiten sollte, war keine gewagte Einschätzung – sie hat sich übrigens im Guten sowie im Schlechten durchaus bewahrheitet. Freilich besteht auch hier insofern eine gewisse Zweideutigkeit, als sowohl Wagner in Eine Mitteilung an meine Freunde (1851) als auch Nietzsche selbst in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) diese Kategorie einer schonungslosen Kritik unterzogen hatten. Zweitens schildert Nietzsche Wagners Person und dessen Werdegang derart, dass man von einem Meisterwerk der Ambivalenz sprechen darf. Dies ist nicht zuletzt darin zu erkennen, dass, obwohl die spätere Kritik im Ansatz bereits erkennbar ist, die Schrift Freude und Zustimmung im Haus Wahnfried ernten konnte.24 Bereits im Früh24 Cosima bedankt sich bei Nietzsche mit wenigen, aber deutlichen Worten am
11. Juli 1876: „Ich verdanke Ihnen jetzt, theurer Freund, die einzige Erquickung und Erhebung, nächst den gewaltigen Kunsteindrücken. Möge diess als Dank
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jahr 1874 hatte Nietzsche in seinen Notizheften eine Reihe kritischer Anmerkungen über Wagner und seine Kunst niedergeschrieben, in denen die spätere Ambivalenz als eindeutige Rüge erscheint ( NL 7, S. 756 – 775; 787 – 792).25 Dass Nietzsche selbst vor der Veröffentlichung an seiner Schrift zweifelte, zeigen sowohl die zahlreichen Briefentwürfe Ihnen genügen“ (Borchmeyer/Salaquarda, Wagner und Nietzsche I, S. 285). Zwei Tage später erhält Nietzsche auch die Reaktion Wagners, welche ein wenig seiner eigenen Ambivalenz widerspiegelt: „Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? – Kommen Sie nun bald, und gewöhnen Sie sich durch die Proben an die Eindrücke! Ihr RW “ (ebd.). Houston Stewart Chamberlain erkennt 1896 Nietzsches Schrift „unvergängliche[n] klassische[n] Wert“ zu (Chamberlain, Richard Wagner, S. 14). Karl Schlechta betrachtet diese Schrift als einen „stellenweise geradezu unheimlich ambivalenten Text“ (Schlechta/ Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, S. 13). Thomas Baumeister ortet ein „Schwanken zwischen Wagnerpanegyrikus und verhüllter Reserve“ (Baumeister, „Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik“, S. 294). Dahlhaus spricht im Allgemeinen von einer Ambivalenz von Nietzsches Wagner-Kritik (Dahlhaus, „Nietzsche 1876“), während Stollberg davon keine Spur sieht (Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 154). Montinari („Die Entstehungsgeschichte von Nietzsches vierter ,Unzeitgemäßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth‘“) betont ebenfalls den affirmativen Charakter der Schrift, während Alessandro Arbo den ambivalenten Charakter und die kritischen Akzente hervorhebt (Arbo, „Musica“, S. 124 – 126). Nietzsche hatte in einem Brief an Carl von Gersdorff vom 26. September 1875 die damalige Fassung der Schrift, die etwa die Abschnitte eins bis sechs umfasste, als unpublizierbar bezeichnet (SB 5, S. 114 f.). Ein späterer Kommentar ist zu finden in Ecce homo, S. 320 f. Siehe dazu auch Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 699 – 713. Zu dieser Schrift sowie zu Nietzsches späterer Wagner-Kritik siehe auch Hudek, Die Tyrannei der Musik, S. 39 – 43 bzw. 17 – 95. Die nachgelassenen Fragmente, die im Umkreis der Schrift entstanden sind, befinden sich in NL 8, S. 189 – 278. 25 Siehe zu diesen Notizen auch unten § 9. In einem Brief an Erwin Rohde von Mitte Februar 1874 schreibt Nietzsche: „Über Bayreuth gibt es etwas Neues und wenn nur Wahres! Eine ganz ausdrückliche Notiz des Mannheimer Journ. […], dass die Aufführungen jetzt endgültig gesichert sind. So wäre denn das Wunder geschehen! Hoffen wir! Es war ein trostloser Zustand, seit Neujahr, vor dem ich mich endlich nur auf die wunderlichste Weise retten konnte: ich begann mit der grössten Kälte der Betrachtung zu untersuchen, weshalb das Unternehmen misslungen sei: dabei habe ich viel gelernt und glaube jetzt Wagner viel besser verstehen als früher. Ist das ,Wunder‘ wahr, so wirft es das Resultat meiner Betrachtungen nicht um“ (SB 4, S. 202 f.). In einer von Carl Albrecht Bernoulli veröffentlichten Aufzeichnung Franz Overbecks ist Folgendes zu lesen: „Wie wählerisch er [Nietzsche] bei aller Fülle seiner Mittheilungen war, davon habe ich vielfältige Erfahrungen gemacht, keine, von der ich einen lebhafteren Eindruck behalten hätte, als die mit seinen zu mir im Jahre 1874/75 getanen Äußerungen über Wagner und seinen Lohengrin gemachte. Sie antizipierten schon damals den ‚Fall Wagners‘ und tauchten im Moment für mich, zu eigener größter Überraschung, blitzartig auf, um ebenso und zwar für Jahre zu verschwinden“ (Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche I, S. 137).
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an Cosima und an Richard Wagner, mit denen er das Erscheinen des Buches vorzubereiten gedachte, als auch sein Kommentar zur positiven Reaktion derselben nach der Lektüre.26 Auf der theoretischen Ebene schließlich stellt Nietzsche die tragische Kunst derart dar, dass dabei nicht die Wagner’sche, sondern seine eigene Auffassung zum Tragen kommt.27 Nietzsches Bestimmung des „dithyrambischen Dramatikers“, welcher in seinen Augen „zugleich den Schauspieler, Dichter [und] Musiker umfasst“ (UB 4, S. 467), erfolgt im 7. Paragraphen der Schrift. Dabei besteht Nietzsches narrative Strategie darin, dass er den Begriff gleich am Beispiel Wagners erläutert, wobei er listig die allgemeine und die persönliche Ebene der Schilderung ständig wechselt. Wagner habe zwar mit anderen deutschen Komponisten die Auffassung geteilt, dass die Tonkunst, „des verführerischen Antriebes einer natürlich-melodischen Stimmbegabung entbehrend“, jenen „gleichen tiefgehenden Erns[t]“ besitzen sollte, den bereits die Reformatoren dem Christentum einprägten. In Wagner musste man aber „eine schauspielerische Urbegabung“ annehmen, […] welche in der Heranziehung aller Künste zu einer grossen schauspielerischen Offenbarung ihre Auskunft und ihre Rettung fand“ (UB 4, S. 467 f.). Die Kunstreligion wird somit als Schauspiel entlarvt und der bald tätige Parsifal-Dichter/Komponist als mächtiger Klingsor gelobt. Die entsprechende Stelle gleicht einem kopernikanischen Punkt im Denken Nietzsches, um den sich seine Einstellung Wagner und der gesamten Musik gegenüber dreht. Daher verdient sie, ausführlich zitiert zu werden: […] der eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann, als in allen Künsten zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen scheinbar getrennten Sphären, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des künstlerischen Vermögens, welche gar nicht erraten und erschlossen, sondern nur durch die That gezeigt werden kann. Vor wem aber diese That plötzlich gethan wird, den wird sie wie der unheimlichste, anziehendste Zauber überwältigen: er steht mit einem Male vor einer Macht, welche den Widerstand der Vernunft aufhebt, ja alles andere, in dem man bis dahin lebte, unvernünftig und unbegreiflich erscheinen lässt: ausser uns gesetzt, schwimmen wir in einem rätselhaften feurigen Elemente, verstehen uns selber nicht mehr, erkennen das Bekannteste nicht 26 Nietzsche schreibt an Carl von Gersdorff am 21. Juli 1876: „Das Buch hat sich legitimirt, ich denke mit großer Ruhe daran“ (SB 5, S. 178). 27 Eine Ausnahme stellt der 5. Paragraph dar, in dem Nietzsche auf Wagners Un-
terscheidung der Licht- und Schauwelt anknüpft, siehe dazu Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 154 f.
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wieder; wir haben kein Maass mehr in der Hand, alles Gesetzliche, alles Starre beginnt sich zu bewegen, jedes Ding leuchtet in neuen Farben, redet in neuen Schriftzeichen zu uns (UB 4, S. 468).
Mag Platon eine solche Macht aus seinem Staat verbannt haben wollen, wir lebten wohl in einem anderen Gemeinwesen „und verlangen darnach, dass der Zauberer zu uns komme, ob wir uns schon vor ihm fürchten“ (UB 4, S. 469). Dass man „in einem rätselhaften feurigen Elemente“ „schwimmen“ kann, ist nur durch den Zauber des Lobredners möglich, der sich darin jenem des „All-Dramatikers“ durchaus als ebenbürtig erweist.28
28 Zur Metaphorik des Schwimmens in Bezug auf Musik bei Herder, der romanti-
schen Musikästhetik und Wagner siehe Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 161. Bereits in Menschliches, Allzumenschliches II (1880) wendet Nietzsche diese Metapher ins Spöttische, siehe dazu Hudek, Die Tyrannei der Musik, S. 30 – 32.
8. Die Inszenierung des Widerspruchs
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it Menschliches, Allzumenschliches (1878) inszeniert Nietzsche eine radikale Wende in seinem Denken und Schreibstil. Gleich im ersten Aphorismus wird die Abwendung von der Metaphysik und deren theoretischen, ethischen und ästhetischen Implikationen angekündigt. Wie ein guter Regisseur ist Nietzsche darauf bedacht, den Überraschungseffekt seiner Schrift nicht zu gefährden. Die Schilderungen von Wagners Reaktion auf das Buch beweisen, dass ihm dies zweifellos gelang.1 Eine Kritik an der Metaphysik hatte Nietzsche bereits in der nicht veröffentlichten „Lehre“ der letzten Jahre sowie implizit mit der Theorie des Scheins in der Geburt der Tragödie begonnen. Die signifikante Uneigentlichkeit seines neuen Buchs besteht eben darin, anstatt diese Kontinuität hervorzuheben, eine „Kehre“ zu inszenieren, die durch massive Vorbehalte gegen die Kunst und eine gleichzeitige, ebenso bemerkenswerte Aufwertung der Naturwissenschaft in ihrer überraschenden Wirkung verstärkt wird.2 Zweifellos entspricht diese Hinwendung zur phýsis Nietzsches alter Vorliebe für die vorsokratischen Philosophen, die auch die Basis seiner Ablehnung der platonischen Diskreditierung der sinnlichen Sphäre bildet. Nietzsche nimmt jedoch in Menschliches, Allzumenschliches geradezu demonstrativ auf neuzeitliche Denker Bezug: Das Buch ist Voltaire gewidmet, wird durch ein langes Zitat aus Descartes’ Discours de la methode eröffnet und beinhaltet wiederholte Bekenntnisse zu Montaigne und den fran-
1 Zu Wagners Reaktionen siehe Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 823 – 832; Ross, Der
ängstliche Adler, S. 526 – 536; Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 274 ff. Im Nachlass von Frühling – Sommer 1877 ist ein Gedicht notiert, in dem Nietzsche dem „Meister“ und der „Meisterin“ im leichten Ton seine Loslösung ankündigt und beide für seinen neuen Weg um Segnung bzw. kluge Gunst bittet, siehe NL 8, S. 394 f. Kurz darauf schreibt Nietzsche: „Ich bin gewiss nicht undankbar, aber ich sehe keine Pflicht, mich mit dem Strick der Dankbarkeit zu erdrosseln“ (NL 8, S. 398). 2 Dieselbe Dramaturgie einer plötzlichen Offenbarung wird Nietzsche mit der „Entdeckung“ der Wiederkunftslehre, die er Anfang August 1881 in Sils-Maria ansiedelt, inszenieren. Siehe dazu u. a. Ottmann, „Kompositionsprobleme von Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘“, S. 50 f.
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zösischen Moralisten der Zeit Ludwigs XIV .3 Damit ist ein weiteres Moment der Uneigentlichkeit in Menschliches, Allzumenschliches angesprochen: Bei der inszenierten Abwendung von der Metaphysik trägt Nietzsche die Maske der französischen Aufklärung. Der Rekurs auf die Metaphorik des Theaters in der Nietzsche-Literatur der letzten Jahrzehnte ist auffällig, was aber schwer als dem Zeitgeist entsprechende Erscheinung in der Rezeption eines wieder modisch gewordenen Autors abgetan werden kann, denn auf diese Metaphorik griff immer wieder Nietzsche selbst zurück. Sie ist also in seinem Denken verankert und, wie es scheint, davon auch nicht zu trennen. Auf der Bühne findet nämlich das Spiel der Verweise und Verwechslungen zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen sichtbaren Masken und verborgenen Gesichtern, zwischen Erscheinung und Wesen statt. An diesem Spiel beteiligt sich Nietzsche mit restloser Hingabe, wobei der Eindruck entsteht, dass jeder, der sich mit Nietzsche und seinem Denken auseinandersetzen will, sich auf dieses Spiel einzulassen hat. Nietzsches Entscheidung, die Abwendung von der Metaphysik so darzustellen, als ob sie sich in seinem Denken plötzlich ereignet habe, kann freilich als eine der philosophischen Darstellung unwürdige Effekthascherei verurteilt werden. Sie trägt dennoch einem der folgenreichsten Gedanken Nietzsches Rechnung, nämlich der Einsicht, dass die Metaphysik nicht durch allmähliche und logisch angeordnete Gedankenschritte verlassen werden kann, als ob man bloß von einem Raum in den nächsten wechseln würde.4 Durch die inszenierte Plötzlichkeit verleiht Nietzsche dem Ende der Metaphysik einen Ereignischarakter, so dass dieses nicht länger als die Konsequenz einer Gedankenfolge, sondern als ein Geschehen wahrgenommen wird. Die Loslösung von der Metaphysik, und dies ist gleichbedeutend mit dem expliziten Inhalt von Nietzsches Denken von Menschliches, Allzumenschliches bis zum Zusammenbruch in Turin, kann offensichtlich nicht durch den Einsatz von Mitteln erreicht werden, die aus der metaphysischen Tradition stammen. Denn in diesem Fall würde man in3 Siehe zu Nietzsches Beziehung zu Voltaire Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie,
S. 24 – 30; zum Zitat siehe Rethy, „The Descartes Motto to the first Edition of ,Menschliches, Allzumenschliches‘“. Über Nietzsches naturwissenschaftliche Lektüre der Basler Zeit siehe Schlechta/Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens. Zu Nietzsches späterer Descartes-Kritik siehe Heidegger, Nietzsche II , S. 154 – 171. 4 Vgl. Heidegger, „Überwindung der Metaphysik“, S. 68: „Die Metaphysik läßt sich nicht wie eine Ansicht abtun. Man kann sie keineswegs als eine nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen“.
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nerhalb derselben bleiben. Da jedoch die abendländische Philosophie seit Platon nicht nur durch die Metaphysik geprägt, sondern mit dieser geradezu identisch ist, stehen dem Denken keine Instrumente zur Verfügung, um diese Abwendung zu vollziehen. Nietzsche ist spätestens durch die Arbeit an Menschliches, Allzumenschliches bewusst geworden, dass das Ende der Metaphysik mehr als einen Paradigmenwechsel oder eine Richtungsänderung in der abendländischen Philosophie bedeutet, und zwar ein epochales Ereignis, das die bisherigen Formen der menschlichen Existenz radikal in Frage stellt. Eine philosophische Darstellung, die sich der theatralischen Mittel der Inszenierung und der Maskierung bedient, scheint also durch die Absicht bedingt zu sein, im Kampf gegen die Metaphysik den metaphysischen Boden des logisch-systematischen Denkens zu verlassen. In seiner begrifflichen Bestimmung der Inszenierung definiert Martin Seel dieselbe als ein „artifizielles Verhalten und Geschehen, das sich als ein solches von bloß kontingenten, bloß konventionellen oder bloß funktionalen Vollzügen unterscheidet“.5 Auf diese Weise vermag sie Seel zufolge, Gegenwart bemerkbar und auffällig zu machen. Das „Zuschaustellen von Gegenwart“ aber, fährt Seel fort, „darf nicht mit einer symbolischen Vergegenwärtigung, also einer Darstellung oder auch Darbietung von Gegenwart gleichgesetzt werden“.6 Die Inszenierung ist dementsprechend keine Darstellung von etwas anderem, sondern ein „Erscheinen seiner selbst“, sie stellt nämlich nicht etwas dar, sondern sie stellt „etwas in seinem Erscheinen heraus“,7 wobei im deutlich heraustretenden Moment des Performativen die anti-metaphysische Prägung der Inszenierung zum Tragen kommt. Dies wird deutlicher, wenn man mit Hans Ulrich Gumbrecht das, was durch Inszenierung herausgestellt wird, „Präsenz“ nennt.8 Gumbrecht unterscheidet im Sinne der Idealtypologien Max Weber’scher Tradition Sinnkulturen von Präsenzkulturen. Werden erstere durch die Dimension der Sinnproduktion und -interpretation bestimmt, so ist hingegen für letztere die gegenständliche Präsenz und ihre Wirkung auf den menschlichen Körper durch die Sinne konstitutiv. Sinnkulturen sind insofern metaphysisch veranlagt, als sie auf einer Weltsicht basieren, die „stets in einen Bereich ,jenseits‘ des ,Physischen‘ (oder ,darunter‘) vorstoßen will“. Indem man einem präsenten Ding Sinn zuschreibt, vermindert 5 6 7 8
Seel, „Inszenierungen als Erscheinenlassen“, S. 52. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Gumbrecht, „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“, S. 63.
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man „die Wirkung, die dieses Ding auf den eigenen Körper und die eigenen Sinnesorgane haben mag“. Wobei Gumbrecht zufolge die Betrachtungsweise metaphysisch zu nennen ist, die „dem Sinn der Phänomene einen höheren Wert beimißt als ihrer materiellen Präsenz“.9 Die Semiotik der Inszenierung, so wie sie von Seel und Gumbrecht analysiert wird, setzt sich also von der Metaphysik in zwei wesentlichen Aspekten ab. Erstens wird die auf Trennung zwischen materiellem Signifikanten und geistigem Signifikat basierende Zeichenauffassung, in der die signifikante Materie vollkommen im geistigen Sinn aufgeht, durch performative Zeichen ersetzt, welche nicht länger auf einen ihre Materialität transzendierenden und daher metaphysischen Sinn verweisen, sondern Sinn durch den Vollzug ihres Erscheinens herausstellen. Diese performative Sinnproduktion unterminiert zweitens das Subjekt/Objekt-Paradigma, worauf die Metaphysik basiert. Denn in der metaphysischen Dimension des Sinnes konstituiert sich das Subjekt cartesianisch als res cogitans, als ein Bewusstsein, das der Welt der Objekte, der res extensa interpretierend – Descartes würde sagen: analysierend – und von ihr getrennt gegenübersteht. Die durch Inszenierung freigesetzten performativen Zeichen sind verkörperte Zeichen, wobei der ihnen inhärente Sinn verkörperter Sinn ist. Diese Subversion der Trennung zwischen Körper und Geist und der darauf basierenden Konstitution des Subjektes als metaphysische cogitatio findet in der Denkfigur der Maske ihren adäquaten Ausdruck. Sie impliziert nämlich die Trübung sowohl des transparenten Verweisens als auch der Identität des Subjektes durch Entstellung oder Verbergung. Helmuth Plessner entwickelt aus dieser Denkfigur eine Anthropologie. Er bezeichnet insofern die conditio humana als eine exzentrische Position, als der Abstand zu sich selbst für den Menschen konstitutiv sei.10 Daher erscheint Plessner der Mensch von „Natur“ her als ein Schauspieler: „Nichts ist der Mensch ,als‘ Mensch von sich aus […]. Er ist nur, wozu er sich macht und versteht“.11 Robert Ezra Park sieht den Sachverhalt nicht anders:
9 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 11. Aus der Ablehnung der idealistischen
Abwertung des Sinnlichen hervorgegangen, führt die Auffassung einer vom Semiotischen befreiten Materialität zu einer erneuten Idealisierung, nämlich derjenigen einer reinen Präsenz. Dabei wird bei umgekehrter Wertung die metaphysische Trennung von Sinnen und Sinn von neuem behauptet. 10 Siehe dazu Früchtl/Zimmermann, „Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens“, S. 20. 11 Plessner, Diesseits der Utopie, S. 35., zit. nach Olschanski, Maske und Person, S. 86.
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Es ist wohl kein Zufall, dass das Wort Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, dass jedermann überall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt.12
Bereits bei Nietzsche ist allerdings die Einsicht vertreten, wonach nur in der Maske der Mensch ganz echt sei. Beinahe zur selben Zeit wie Nietzsche kam auch Oscar Wilde zu diesem Schluss: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen“.13 Diese wenigen Hinweise reichen schon aus, um deutlich zu machen, dass die Metaphorik der Inszenierung bei Nietzsche mit der Sache, die durch sie zum Ausdruck kommen soll, eng verflochten ist. Eine weitere, auffällige Änderung, die Nietzsche mit Menschliches, Allzumenschliches vollzieht, betrifft seinen Schreibstil, denn er verzichtet endgültig auf eine umfassende Darstellung zugunsten der aphoristischen Ausdrucksweise. Eine systematische, kohärent zusammenhängende Darstellung war jedoch Nietzsche auch zur Zeit der Geburt der Tragödie fremd.14 An dieser Stelle soll auf die schwerer werdende Augenkrankheit hingewiesen werden, welche zweifellos ein pointiertes Schreiben eher als breit angelegte Abhandlungen zulässt,15 zumal zu Nietzsches Kritik der Metaphysik wesentlich gehört, die geistige Arbeit auf die Befindlichkeit des Körpers zurückzuführen. Im Sommer 1885 notiert Nietzsche in seinem Heft Folgendes: In Aphorismenbüchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten; und Manches darunter, das für Oedipus und seine Sphinx fragwürdig genug sein mag. Abhandlungen schreibe ich nicht: die sind für Esel und Zeitschriften-Leser (NL 11, S. 579).16 12 Park, Race and Culture, S. 249, zit. nach Olschanski, Maske und Person, S. 86. 13 Wilde, Der Kritiker als Künstler, Szene 2 / Gilbert. Siehe dazu Lethen, Verhaltens-
lehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, S. 88.
14 Von Nietzsche dazu aufgefordert, schreibt ihm Rohde in einem Brief vom 24. März
1874 über den Stil der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung folgendermaßen: „Du deducirst allzu wenig, sondern überlässest dem Leser mehr als billig und gut ist, die Brücken zwischen deinen Gedanken und Sätzen zu finden […]. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob einzelne Stücke und Abschnitte zuerst für sich fertiggearbeitet worden wären, und dann, ohne in dem Fluß des Metalls völlig aufgelöst worden zu sein, dem Ganzen eingefügt worden wären“ (KGB Abt. II Band 4, S. 419 ff.). 15 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 83. Siehe dazu auch unten § 12. 16 Zu Nietzsche als Aphoristiker siehe u. a. Nolte/Mieder, „Zu meiner Hölle will ich den Weg mit guten Sprüchen pflastern“, S. 38 – 52.
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Die Neigung zu Widerspruch und Paradoxon ist bereits bei Blaise Pascal, mit Erasmus und Francis Bacon einem der neuzeitlichen Begründer der aphoristischen Schreibweise, festzustellen: J’écrirai ici mes pensées sans ordre, et non pas peut-être dans une confusion sans dessein; c’est le véritable ordre, et qui marquera toujours mon objet par le désordre même.17
Pascals Paradoxie ist freilich nur eine scheinbare, denn sie verweist auf die Unterscheidung zwischen der in der Liebe Christi gegründeten „wahren Ordnung“ und der dieser unterlegenen menschlichen Ordnung. Jedoch ist Pascals Abneigung gegen das System, welches zu seiner Zeit mit der Scholastik assoziiert wurde, vergleichbar mit jener Nietzsches, der Hegels Philosophie vor Augen hatte, was in beiden Fällen zur Kunst des Aphorismus als dem Versuch führt, die abgründige Spalte zwischen Endlichem und Unendlichem durch Gedankenblitze zu beleuchten, anstatt sie durch systematische Anordnung des Denkens überbrücken zu wollen.18 Daher wird Nietzsche in der Götzen-Dämmerung schreiben: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD , Sprüche und Pfeile, § 26).19 Der Aphorismus nimmt 17 Pascal, „Pensée“, Fr. 532 (Brunschvicg: Fr. 373). Zur antiken Tradition der
Sententia und deren mittelalterlicher Wiederbelebung siehe Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 67 – 70. 18 Siehe dazu u. a. Picht, Nietzsche, S. 33 – 35; Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 27 f.; S. 240 f. Diese Abneigung teilte auch Friedrich Schlegel, dessen Athenäums-Fragmente Nietzsche vermutlich unbekannt blieben. Schlegels Bestimmung der Arabeske als „künstlich geordnete Verwirrung“ und „reizende Symmetrie von Widersprüchen“ kommt Pascals oben zitierter Stelle sehr nah (Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 318). Gerade in Bezug auf das Denken der Frühromantik warnt allerdings Manfred Frank davor, Aphorismus und Fragment gleichzusetzen. Denn letzteres verweist im Unterschied zum ersteren immerhin auf ein zwar abwesendes, dennoch sozusagen regulatives Ganzes, von dem das Fragment eben lediglich ein Bruchstück bildet (Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 224). Als pointierte, isolierte Ausdrucksweise setzt sich somit der Aphorismus dem System radikal entgegen. Über das Fragment im kompositorischen Schaffen Nietzsches siehe Riethmüller, „Friedrich Nietzsches ,Fragment an sich‘“. 19 Nietzsches Radikalität dem System gegenüber ist deutlich durch den Vergleich mit Novalis und Fr. Schlegel festzustellen: „Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht seyn“ (Novalis, „Fichte Studien“, S. 200, Nr. 648); „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also entschließen müssen, beides zu verbinden“ (Fr. Schlegel, „,Athenäums‘- Fragmente“, S. 82, Nr. 53).
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bei Nietzsche, der sich mit Pascal immer wieder auseinandersetzte,20 einen agonalen Charakter ein, der nicht selten in offene Gegensätzlichkeit mündet. Nietzsches aphoristisches Denken wird von einer sonderbaren Dialektik getragen, in der die Hegel’sche Negation durch den Widerspruch ersetzt wird. Da weder die Möglichkeit der Aufhebung der Gegensätze noch jene der Lösung der Widersprüche vorgesehen ist, erzeugt eine solche Dialektik stets neue Spannungskonstellationen, in denen der Leser verfangen und somit zum Mitdenken genötigt wird.21 Bevor es zum Antrieb seiner aphoristischen Schreibweise wurde, stand das agonale Prinzip bereits im Zentrum von Nietzsches kulturtheoretischen Überlegungen, die er zur Zeit der Tragödienschriften anhand der altgriechischen Kultur durchführte. In Bezug auf Die Geburt der Tragödie schreibt Helmut Pfotenhauer: Nietzsche denkt häufig in Konstellationen, in denen gegensätzliche Elemente gleichzeitig da sind und in ihrem Zusammenhang und ihren Widersprüchen gesehen werden wollen.22
Nietzsche selbst gab dieser widersprüchlichen Konstellation einen anschaulichen Charakter: Der Gegensatz von Apollo und Dionysos, der seiner Tragödienauffassung zu Grunde liegt, stellt Nietzsches zweifellos wirkungsmächtigste Ausprägung dieses Prinzips dar, der allerdings immer neue Formulierungen folgten.23 Der Gedanke des Tragischen gründet auf der Vorstellung eines unlösbaren Widerspruchs, dessen kulturhervorbringende Leistung darin besteht, dass sich die dichoto20 Siehe zu Nietzsches Pascal-Rezeption Andler, Nietzsche sa vie et sa pensée I, S. 118 – 130;
Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes: Montaigne, Pascal und Sterne.
21 Müller-Lauter hat den Gegensätzlichkeiten in Nietzsches Denken bereits 1971
eine Monographie gewidmet, deren Fokus allerdings auf den späten Schriften liegt. Müller-Lauter erinnert daran, dass Nietzsche „den Gegensatz als Konstitutivum der Welt zur Geltung zu bringen versucht“. In eben diesem Versuch besteht ihm zufolge Nietzsches Philosophie der Gegensätze. (Müller-Lauter, Nietzsche, S. 7). Als Grundmotiv im Denken Nietzsches sieht Müller-Lauter folgendes: „gegen jede Art von metaphysischem Dualismus die Einzigkeit dieser Welt zu behaupten“ (ebd., S. 15). Nietzsches Unternehmung bestehe also darin, „den Gegensatzcharakter des Daseins als Faktizität, ja als Letztgegebenheit […] zu akzeptieren, ohne damit einem metaphysischen Dualismus oder einem Systemdenken im Sinne Hegels anheimzufallen“ (ebd., S. 16). 22 Pfotenhauer, Die Physiologie der Kunst, S. 45. 23 Wie so oft in Nietzsches Denken zeigt sich auch hierin eine Verdoppelung, denn bevor der Widerspruch durch die beiden Gottheiten ausgetragen wird, besteht er schon im Herzen des Dionysischen, und zwar als Widerspruch der „aus Schmerzen geborene[n] Wonne“ (GT , S. 41).
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mischen Teile weder in einer höheren und stabilen Synthese aufheben lassen, noch gegenseitig vernichten, sondern stets zu weiteren Konfigurationen und Gestaltungen des Gegensatzes führen. In der letzten der zu Weihnachten 1872 verfassten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, welche den bezeichnenden Titel Homers Wettkampf trägt, befasst sich Nietzsche mit der Analyse dieses Prinzips. Nietzsches Gedanken über eine nicht repressive Sublimierung spielen in der Bestimmung des griechischen Wettkampfes wiederum eine wichtige Rolle. Denn dieser stelle die kulturfördernde Transformation triebhafter Energien dar, welche hingegen in ihrem rohen, zur vorhomerischen Zeit herrschenden Zustand als destruktive Kräfte wirksam gewesen seien. Nietzsche hebt gleich am Beginn dieser Schrift hervor, dass „Kultur“ und „Humanität“ keineswegs durch die Unterdrückung solcher Energien entstehen, sondern, wie die glänzende Kulturgeschichte der Griechen zeige, durch deren Verwandlung in ein „Wettspiel der Kräfte“ (CV 5, S. 783; 789). Hierin sei der tragende Faktor für eine produktive Entwicklung des Einzelnen sowie der gesamten Gesellschaft zu erkennen. Die erste Unzeitgemäße Betrachtung: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller (1873) erscheint somit als eine direkte Anwendung des Wettstreitsprinzips, was Nietzsche nachträglich in Ecce homo bestätigen wird: „Im Grunde hatte ich eine Maxime Stendhals prakticiert: er räth an, seinen Eintritt in die Gesellschaft mit einem Duell zu machen“ (EH , S. 319). Wie wichtig das agonale Prinzip für Nietzsches Denken über alle unterschiedlichen Phasen und Wendungen hinweg ist, zeigt auch der Umstand, dass in Homers Wettkampf mehrere Grundsätze seiner späteren Auseinandersetzung mit Wagner zu erkennen sind. Denn sehr bald, wenn nicht gleich von Beginn an, ist sein Verhalten Wagner gegenüber durch Ehrgeiz und Wettkampfgefühle geprägt. Was er in der Vorrede über manche „Angriffe“ in der Antike schreibt, könnte man ebenso auf seine eigenen der späteren Zeit anwenden: So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältniß des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben (CV 5, S. 788).
Nietzsches bereits in den Gründungsjahren des Bayreuther Unternehmens mehrmals geäußertes Unbehagen mit dem entstehenden Wagner-Kult findet ebenfalls in dieser kleinen Schrift eine „kulturtheoretische“ Fundierung:
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Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie (CV 5, S. 789).24
Die Provokation, im August 1874 im Haus Wahnfried Brahms’ Triumphlied op. 55 spielen zu wollen, war also bereits als „kulturschützende“ und zugleich erzieherische Maßnahme gedacht, wie auch entsprechende Nachlass-Notizen nachweisen.25 Die Wirkung blieb freilich aus: Wagner brachte seine Verachtung Brahms’ Komposition gegenüber zum Ausdruck und setzte ihr seinen eigenen Kaisermarsch entgegen.26 Mit der aphoristischen Schreibweise findet nun Nietzsche zu einer Darstellungsform, in der das agonale Prinzip effektiv zum Tragen kommen kann. Denn der Aphorismus fügt sich zu keinem organisch oder systematisch konzipierten Ganzen, er geht in keinem Zusammenhang auf, sondern sticht hervor und unterhält mit den benachbarten Gedanken ein spannungsvolles Verhältnis. Indem Nietzsches Aphorismen zum Weiterdenken anspornen, sind sie am wenigsten geeignet, bloß rezipiert zu werden. In der Vorrede Zur Genealogie der Moral (1887) warnt er den Leser: Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf (GM , S. 255).
Nietzsche stellt sich jedoch die Auslegung keineswegs als Kunst vor, zu einer vom Autor intendierten Wahrheit zu gelangen. Sie ähnelt vielmehr einem unabschließbaren Prozess, den er mit der Metapher des Wiederkäuens umschreibt.27 Der aphoristische Schreibstil stellt einen wesentlichen Bestandteil der Maske dar, mit der Nietzsche sich in Menschliches, Allzumensch24 Siehe auch VS , § 191. 25 NL 7, S. 765: „Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige
und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten lässt: oder die Juden“. Zu den Gefahren, die ein Genie mit sich bringt, äußert sich Nietzsche auch in VS , § 132. In VS , § 133 richtet er seine Kritik an die „Fanatiker einer künstlerischen Partei“. Zu den Geschehnissen im Haus Wahnfried siehe Hollinrake, „Wagner and Nietzsche: The Triumphlied Episode (August 1874)“. 26 Cosima Wagner, Tagebücher I, S. 844. 27 Siehe dazu auch Deleuze, „Nomad Thought“, S. 144 f.
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liches zeigt. Der Leser kann nicht sicher sein, ob Nietzsche dabei mit der Stimme der französischen Moralisten spricht oder ob umgekehrt diese nun mit der Stimme Nietzsches wieder zu sprechen beginnen. Nietzsches Angriff auf die wertende Unterscheidung zwischen oberflächlicher Erscheinung und tiefem Wesen besteht offensichtlich darin, sie durcheinander zu bringen. Im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches unterscheidet Nietzsche die metaphysische von der historischen Philosophie, welche von der Naturwissenschaft „gar nicht mehr getrennt“ zu denken sei (MA , § 1, S. 23).28 Während erstere eben einen metaphysischen Ursprung „für die höher gewertheten Dinge“ postuliere, zeige letztere, dass diese nur „Sublimierungen“ sind, bei „denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist“ (MA , S. 23 f.).29 Nietzsche bringt bei seiner Verwendung des Sublimierungsbegriffs sowohl die alte (al)chemische Etymologie als auch die neuere idealistische Bedeutung einer Erhebung ins Geistige zur Geltung. Sein Programm besteht gerade darin, letztere durch erstere zu dekonstruieren. Ausgerechnet am Beispiel der Musik wird im Nachlass dieses Verfahren erprobt: Jene sublimirten Verherrlichungen der Musik überhaupt, wie sie z. B. bei Bettina [Brentano] zu finden sind, sind Beschreibungen von Wirkungen gewisser Musik auf ganz bestimmte Individuen, welche alle jene sublimirten Zustände in sich haben und durch sie nun auch der Musik sich nähern (NL 8, S. 422 f.).
Im 107. Aphorismus wendet er den Begriff der Sublimierung auf den Bereich der Moral an: „Gute Handlungen sind sublimirte böse“ (MA , § 107). Nietzsche hält also daran fest, der Sublimierung eine Entsublimierung entgegenzusetzen. Darin besteht die in Menschliches, Allzumenschliches beschworene „chemische“ Analyse. Der 16. Aphorismus nimmt sowohl im Hinblick auf die Anordnung als auch in Bezug auf den Inhalt eine zentrale Stellung innerhalb des ersten, der Metaphysikkritik gewidmeten Hauptstücks ein. Der Titel Erscheinung und Ding an sich weist zwar auf die traditionelle Fragestellung der Metaphysik hin, die Ausführung ist jedoch alles 28 Diesen Aspekt hat Georg Picht in seiner Nietzsche-Deutung hervorgehoben, die
von der Grundthese ausgeht, dass „durch Nietzsches Abkehr von der Metaphysik die Geschichte zum alleinigen Inhalt der Philosophie geworden ist“ (Picht, Nietzsche, S. 42). Siehe dazu unten § 9. 29 Siehe auch MA , § 214.
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andere als kanonisch. Nachdem Nietzsche an die logische Unmöglichkeit erinnert hat, von der Erscheinungswelt auf das Ding an sich zu schließen, führt er das antiplatonische Argument des Werdens in die Betrachtung ein: Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, – aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellekt hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrtümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen (MA , § 16, S. 36 f.).
Die Welt hat durch menschliche „Irrthümer“ und „Phantasien“ „Farbe bekommen“, und Nietzsche bekennt sich zu diesem Farbenreichtum. Dieses Bekenntnis bedeutet eine zweifache Ablehnung: Einerseits wird wie bereits in der unveröffentlichten Lehre der Anspruch der Metaphysik zurückgewiesen, einige solcher „Irrthümer“ zur absoluten Wahrheit zu hypostasieren. Andererseits aber – und dies lässt den Verdacht sich verflüchtigen, Nietzsches Metaphysikkritik dieser Zeit sei positivistisch angelegt – wird der „Wert des Menschenthums“, und dies heißt die Kultur, ausgerechnet in den historisch angehäuften „Irrthümern“ angesehen und anerkannt.30 Dem aufklärerischen Bestreben, mit solchen „Phantasien“ gründlich aufzuräumen, wird daher widersprochen. Unter den kurz nach dem ersten Band verfassten Aphorismen des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der den zusätzlichen Titel Vermischte Meinungen und Sprüche trägt,31 befindet sich eine Nachträgliche Rechtfertigung des Daseins, in der Nietzsche diese Einsicht auf den Punkt bringt: Manche Gedanken sind als Irrthümer und Phantasmen in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden, weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches Substrat untergeschoben haben (VS , § 190, S. 463).
30 Siehe dazu auch VS , § 190. 31 Die drei Teile von Menschliches, Allzumenschliches wurden ursprünglich als selb-
ständige Bücher veröffentlicht: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878); Vermischte Meinungen und Sprüche (1879); Der Wanderer und sein Schatten (1880). Sie wurden 1886 anlässlich der zweiten Ausgabe mit einem Vorwort versehen und unter dem Titel Menschliches, Allzumenschliches vereinigt. Die zweite und dritte Schrift bildeten davon den zweiten Band.
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Nietzsches neues Bekenntnis zur Aufklärung ist ebenso wenig wörtlich zu nehmen wie die früheren zu Wagner und Schopenhauer.32 Die Aufgabe der „strengen Wissenschaft“ kann demzufolge nicht darin bestehen, die Menschen von der „Welt der Vorstellung“ zu lösen, sondern vielmehr darin, deren Entstehung „ganz allmählich und schrittweise aufzuhellen“. Vattimo hat das paradoxe Ergebnis, das Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches auf der Suche nach der Wahrheit erzielt, folgendermaßen zusammengefasst: Menschliches, Allzumenschliches geht von dem Vorsatz aus, eine Kritik der obersten Werte der Kultur durchzuführen, und zwar – diesseits jeglicher Sublimation – auf dem Weg einer „chemischen“ Reduktion (vgl. Aphorismus 1) dieser Werte auf die sie konstituierenden Elemente. Dieses Programm einer chemischen Analyse führt jedoch, wenn man es bis ins letzte durchführt, zu der Entdeckung, daß die Wahrheit, in deren Namen die chemische Analyse sich legitimierte, selbst ein Wert ist, der sich auflöst.33
Nietzsches Distanzierung von der Kunst muss ebenfalls vorsichtig behandelt werden. Denn im oben erwähnten Aphorismus 16 wird die artistische Leistung des menschlichen Intellekts durch die Farbenmetapher hervorgehoben: Die Welt hat Farben bekommen und die Menschen sind die „Coloristen“, ihr Pinsel hat ja die „Erscheinung erscheinen lassen“ (MA , § 16, S. 37 f.). Beim Versuch, sich vom metaphysischen Glauben zu distanzieren, ohne jedoch zur philosophischen Zerstörung der Farbenwelt zu gelangen, greift Nietzsche nun auf eine für diese Phase seines Denkens zentrale Gestalt zurück – jene des freien Geistes, dem ja das Buch gewidmet ist: Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen (MA , § 34, S. 55).34 32 Siehe zu dieser Frage Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 64 – 70 sowie die
ausführliche Diskussion in Reschke (Hg.), Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? 33 Vattimo, „Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie“, S. 235. 34 Siehe auch MA , § 225. Im Brief vom 22. September 1876 an Louise Ott, eine in Bayreuth während der Festspiele errungene neue Bekanntschaft, für die Nietzsche starke Gefühle empfand, ist eine frühe Anspielung an den Freigeist und zugleich das philosophische Programm der nächsten Jahre, so wie dieses in Menschliches, All-
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Dieses Schweben hat freilich wenig gemeinsam mit der soliden Zuversicht des Aufklärers, mit den Irrtümern und Phantasien der menschlichen Existenz endlich aufzuräumen. Vielmehr gelte es, Horazens „feierlichen Leichtsinn“ heraufzubeschwören (MA , § 109, S. 108) und sich an der heiteren Lebenskunst Montaignes zu orientieren, der ja jedem Freigeist zum Vorbild dient.35 Vom Pathos der Wahrheit befreit, könne sich eine „frohsinnige Seele“ in diesem Schweben entfalten. Weiter unten in der Folge seiner Aphorismen steigert Nietzsche dieses Schweben zum Tanzen. Der Freigeist als Vertreter einer „höheren“ Kultur soll die „Biegsamkeit“ besitzen, je nach Moment von der Strenge im Erkennen zur vollkommen anders gearteten Fähigkeit wechseln zu können, „der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden“ (MA , § 278, S. 228 f.). Sowohl das Schweben als auch das Tanzen des Freigeistes sind freilich mit dem Glauben an den Fortschritt auf dem Weg der Wahrheit kaum vereinbar. Die Verflüchtigung des Dings an sich hinterlässt nämlich ein Vakuum (MA , § 16), in dem auch das wissenschaftliche Aufstreben zu verschwinden droht. Nietzsche ist sich dessen bewusst, dass die Befreiung des Geistes von den Fesseln der Metaphysik eine Entgrenzung verspricht, bei der allerdings mit den Grenzen auch die Orientierung und vor allem der Sinn der zielgerichteten, zumal der vorwärts schreitenden Bewegung verloren geht. Eine solche ambivalente Freiheit ist dem Zeitalter der Vergleichung eigen. In dem dieser Frage gewidmeten Aphorismus wird die postmoderne Befindlichkeit vielleicht zum ersten Mal greifbar, und zwar als Übertragung der historistischen Haltung in alle Sparten der Kultur: Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein zumenschliches verwirklicht wurde, enthalten: „Aber auch für Sie, wenn ich denke an was für einen Freigeist Sie da gerathen sind! An einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich grösseren Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht dass ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kann!“ (SB 5, S. 185 f.). 35 Siehe dazu Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensée I, S. 109 – 117. Molner, „The Influence of Montaigne on Nietzsche: A „raison d’être“ in the Sun“; Vivarelli, „Montaigne und der ,freie Geist‘“. Die Ironie des Schicksals wollte, dass Nietzsche zu Weihnachten 1870 ausgerechnet von Cosima und Richard Wagner „eine stattliche Ausgabe des ganzen Montaigne“ als Geschenk bekam, wie er selbst an Franziska und Elisabeth Nietzsche in einem Brief vom 30. Dezember 1870 schreibt (SB 3, S. 172).
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solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; […] Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden (MA , § 23, S. 44).36
In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873 – 74) hatte Nietzsche noch mit Entsetzen auf diese Perspektive reagiert (UBZ , S. 279). Im fünften Hauptstück begibt sich Nietzsche auf die Suche nach Anzeichen höherer und niederer Kultur. Der Freigeist gehört erwartungsgemäß der ersteren an, wobei durch eine Reihe von Bestimmungen deutlich wird, dass die „höhere Cultur“ eine diffizile Angelegenheit darstellt, deren wichtigste Voraussetzung die Loslösung von jeglicher Art von Autorität – ja vor allem von der moralischen – ist: Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet (MA , § 225, S. 189).
Indem der Freigeist sich „von dem Herkömmlichen gelöst hat“ (ebd.), wird man bei ihm die „Charakterstärke“ bemängeln, denn diese Eigenschaft wird durch die „Gebundenheit der Ansichten“ gewonnen, die durch „Gewöhnung zum Instinct geworden“ sind: Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns (MA , § 228, S. 192).37
Im Vergleich mit einem solchen Individuum, das „das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht“, ist der Freigeist „immer schwach“, denn „er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand“ (MA , § 230, S. 193). Die Existenz verspricht dem Freigeist kein billiges Glück: „Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege gehen“ (MA , § 277, S. 228). Beide auffälligen Umwertungen, die Nietzsche mit dem ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches in Bezug auf Kunst und Wissenschaft vornimmt, erweisen sich als zwiespältig und doppelbödig. Dass ein blindes Vertrauen in der positiven Wahrheit der Wissenschaft nicht 36 Siehe auch NL 8, S. 433 f. 37 Sieh dazu auch NL 8, § 17[90]; § 17[93].
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in Frage kommt, bestätigt der Spruch Voltaires, den Nietzsche am Beginn des zweiten, wenige Monate nach dem ersten erschienenen Teils des Werkes, Vermischte Meinungen und Sprüche, zitiert: „croyez-moi, mon ami, l’erreur aussi a son mérite“ (VS , § 4, S. 382). Das Verdienst, das man dem Irrtum zugestehen muss, veranschaulicht Nietzsche an der Größe Goethes, der eben ohne „die Umschweife des Irrthums“ nicht „Goethe geworden“ wäre (VS , § 227, S. 483). Nietzsches sonderbare Aufklärung zielt keineswegs darauf ab, das menschliche Denken und Verhalten von den „Irrtümern“ zu bereinigen, sondern darauf, diese als solche zu erkennen. Wenn aber das „Ding an sich“ nicht länger als das wahre Wesen betrachtet wird, sondern – im vollen Bewusstsein von dessen illusionärem Charakter – als „Farbe“ und „Duft“ einer durch die Sedimentierung dieser und ähnlicher „Illusionen“ herangewachsenen Kultur ästhetisch genossen werden soll, dann wird der Mensch vom Akteur des Weltgeschehens zum Zuschauer seines eigenen Schauspiels. Nietzsches Freigeist „tanzt“ zwischen entgegengesetzten Haltungen und „wandert“ durch die Institutionen der Kultur, die ihm wie die Bilder einer Ausstellung erscheinen. Seine Befindlichkeit ist dementsprechend ambivalent: Er befreit sich von den Fesseln der Metaphysik, verliert aber dennoch mit dem Glauben an die Hinterwelten auch den Sinn des Handelns. Das nach dem Sturz der Metaphysik jeden Anker entbehrende Schweben im luftleeren Raum lässt die Abgründigkeit der Existenz durchscheinen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Nietzsche wiederholt auf das Tragische seiner Philosophie hinweist: Der in der Geburt der Tragödie mehrmals beschworene Spruch des Silenen kann zwar durch laute Forderungen nach Frohsinnigkeit vorübergehend übertönt werden, darüberhinaus ist ihm jedoch nicht zu widersprechen. Nietzsches neuer Optimismus ist durch das Wollen bedingt und daher genauso doppelbödig und ambivalent, wie es auch die „griechische Heiterkeit“ war, nämlich eine Maske (GT , S. 65). Nietzsche kann bei einer eindeutigen Absage an die Kunst, so wie er am Ende des vierten Hauptstücks von Menschliches, Allzumenschliches bekundet, nicht verbleiben, und zwar schon deshalb nicht, weil der Freigeist die moralische Weltbetrachtung durch die ästhetische ersetzt hat. Vielmehr führt die schmerzliche Einsicht in die historischen und gegenwärtigen Bindungen zwischen Religion und Kunst zu dem Versuch, die künstlerische Fähigkeit des Menschen von der herkömmlichen Vereinnahmung durch die Metaphysik zu befreien. Bereits im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches wird dem kurz vorher angekündigten Untergang der Kunst widersprochen, denn plötzlich ist die Rede von „zwei heterogene[n] Mächte[n]“, die beibehalten werden
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sollen. Der Widerstreit zwischen Kunst und Wissenschaft soll zu keiner Lösung geführt, sondern die daraus entstehende Spannung produktiv eingesetzt werden: Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben (MA , § 276, S. 227).
Dass hier Nietzsches eigene Befindlichkeit zu Wort kommt, ist leicht zu erkennen. Dies zeigt freilich, dass die Spannung, welche aus dem unlösbaren Widerspruch hervorgeht, nicht nur Nietzsches Philosophie, sondern auch seine eigene Person durchzieht. Sie soll aber zugleich die gesamte Kultur prägen – der entsprechende Titel des Aphorismus lautet ja Mikrokosmos und Makrokosmos der Cultur. Nietzsche denkt hier an die Kultur als eine „Architektur“ der widerstrebenden Mächte, in der selbst die unverträglichen weder unterdrückt noch gefesselt werden dürfen (MA , § 276, S. 228). Diese Auffassung führt zu einer durch die Spannung des Widerstreits zusammengehaltenen Kultur, nämlich einem den harmonistischen, idyllischen oder holistischen Entwürfen entgegensetzten Konzept. Im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches beginnt Nietzsche zwischen einer Kunst, welche die metaphysischen und religiösen Annahmen verherrlicht, und einer anderen, die aus der ästhetischen Grundhaltung des Freigeistes hervorgeht, zu unterscheiden. Kohärent mit seiner provokanten Bezugnahme auf den Geist des 18. Jahrhunderts ist der Rückgriff auf die Kritik als dasjenige Mittel, durch das der „Genuss an der Kunst“, welcher „nur durch ein höchst verschärftes Schmecken und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines Bedürfnisses unterscheidet“, wieder gesteigert werden kann. Nietzsches Rüge trifft die „metaphysisch-mystisch[e] Philosophie“, der es offensichtlich gelingt, „alle ästhetische[n] Phänomene undurchsichtbar zu machen“ (VS , § 28, S. 392). Dass er bei der Bekämpfung einer solchen Philosophie nicht bleiben, sondern sich auch gegen jene Kunst, die sich dazu bekennt, richten wird, ist unschwer zu erraten. Somit beginnt Nietzsches Kampf gegen die Romantik.
9. Die Semiotik der Maske
Nietzsches Hinwendung zum Schreibstil und Denken der französischen Moralisten stellt ebensowenig eine Rückkehr zur Vergangenheit dar wie Strawinskys Behandlung barocker Musik im Ballett Pulcinella. Georg Picht nennt zwei wesentliche Aspekte, die Nietzsches Position in Bezug auf diese Denker präzisieren. Der erste betrifft die philosophischen Voraussetzungen des psychologischen Blicks auf den Menschen: Er [Nietzsche] unterscheidet sich von ihnen [den französischen Moralisten] durch die Entdeckung, daß die ihnen gemeinsame Grundauffassung, es gäbe so etwas wie eine allgemeine Natur des Menschen und eine immer gültige Psychologie – eine Voraussetzung des gesamten Rationalismus bis in seine aufgeklärtesten Erscheinungen hinein – ihren Ursprung in der Metaphysik hat.1
Nietzsches „historische Philosophie“ unterscheidet sich somit vom Rationalismus dadurch, dass „sie die Frage nach dem Wesen des Menschen in die Frage nach der Geschichte des Menschen“ verwandelt.2 Das lange Zitat aus Descartes Discours de la methode, welches als Vorrede der ersten Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches fungiert, genauso wie die demonstrative Widmung an Voltaire oder das Lob an Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyère, Fontenelle, Vauvenargues und Chamfort (WS , § 214) können daher nicht einfach als Anschluss an eine bestimmte philosophische Richtung gedeutet werden. Zu diesem Ergebnis führt auch Pichts zweite Bemerkung: Hätte Nietzsche sich unreflektiert den französischen Moralisten angeschlossen, so wäre er ein gebundener Geist. Er wäre gebunden durch die Richtung einer bestimmten Tradition und durch die Schranken, 1 Picht, Nietzsche, S. 50. Zur Unterstützung dieses Befundes sei folgende Stelle aus
Menschliches, Allzumenschliches angeführt, in der Nietzsche am Beispiel des Künstlers die Existenz einer allgemeinen Natur des Menschen bestreitet: „ […] während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist“ (MA , § 222). 2 Ebd., S. 51. Mehrere Stellen belegen Pichts Sichtweise, siehe u. a. MA , § 1 und 2 sowie NL 11, S. 442.
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die auch den Begriff des freien Geistes begrenzen. Er würde dann diese Tradition noch nicht als geschichtliches Phänomen begreifen, er wäre noch in ihrer Perspektive gefesselt.3
Nietzsches Rückgriff auf das Denken der Aufklärung lässt sich also sowohl wegen inhaltlicher Divergenzen als auch aufgrund der Logik des freien Geistes durch die herkömmlichen Kategorien der Einflussbestimmung nicht beschreiben.4 Im Bewusstsein davon betrachtet Picht Nietzsches demonstratives Bekenntnis zu Geist und Stil der vorromantischen Zeit als Maske und weist somit auf eine doppelgesichtige Einstellung hin, an der jeder Versuch, Ableitungen nachzuweisen, scheitern muss. Eine Intuition Ernst Bertrams aufgreifend, von Picht jedoch unabhängig, setzte Gianni Vattimo in den 1970er Jahren die Maske zum Interpretanten von Nietzsches Denken ein.5 3 Picht, Nietzsche, S. 51. 4 Siehe dazu auch Bludau, Frankreich im Werk Nietzsches. 5 Siehe Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 167 – 190; Vattimo, Il soggetto
e la maschera. Nietzsche e il problema della liberazione. Pichts im Sommersemester 1967 gehaltenen Nietzsche-Vorlesungen wurden erst im Jahr 1988 veröffentlicht. Eugen Fink verweist auf die Maske gleich im ersten Kapitel seines Nietzsche-Buches aus dem Jahr 1960. Nachdem Fink bei Nietzsche eine Leidenschaft der „Verbergung“ diagnostiziert hat, fragt er sich, was der Grund dieser Lust an der Maske sei. Die Antwort sei nicht im Psychologischen zu suchen, sondern im von Nietzsche selber festgestellten und von ihm in seiner Schreibweise meisterhaft verkörperten labyrinthischen Charakter des Menschen (Fink, Nietzsches Philosophie, S. 10). Gilles Deleuze äußert sich darüber folgendermaßen: „Proper names also play a role here, but they are not intended to be representations of things (or persons) or words. Presocratics, Romans, Jews, Christ, Antichrist, Julius Caesar, Borgia, Zarathu stra – collective or individual, these proper names that come and go in Nietzsche’s texts are neither signifiers nor signified. Rather, they are designations of intensity inscribed upon a body that could be the earth or a book […]. Intensity can be experienced, then, only in connection with its mobile inscription in a body and under the shifting exterior of a proper name, and therefore the proper name is always a mask, a mask that masks its agent (Delueze, „Nomad Thought“, S. 146 f.). Vivetta Vivarelli spricht ebenfalls die Maske im Titel ihres Buches an, bleibt aber dennoch in der Philologie der Einflussbestimmung verfangen, siehe Vivarelli, Nietzsche und die Maske des freien Geistes: Montaigne, Pascal und Sterne. Stanley Rosen bringt ebenfalls die Maske der Aufklärung in den Titel seines Buches über Nietzsches Zarathustra. Er bezieht diesen Ausdruck auf Descartes Selbstdefinition als philosophus larvatus und erklärt diese Maske als „that of a new foundation for traditional doctrine“ (Rosen, The Mask of Enlightenment. Nietzsche’s ‚Zarathustra‘, S. 1). Walter Kaufmann widmet einige Abschnitte im zweiten Band seines 1980 erschienen Werks Discovering the Mind Nietzsches „Philosophie der Masken“. Die hier verwendete deutsche Übersetzung erschien in den Nietzsche-Studien mit dem Titel „Nietzsches Philosophie der Masken“.
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Nietzsche zufolge besteht die Geschichte der Kultur aus einer Anhäufung von Irrtümern (MA , § 3; 16; 33). Diese seien in zweierlei Hinsicht historisch notwendig gewesen: Erstens, weil sie Geschichte machten, und zweitens, weil sie im gegebenen historischen Kontext Positives leisteten. In Menschliches, Allzumenschliches wird dies anhand der Moral erläutert: Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben (MA , § 40, S. 64).
In der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) hatte Nietzsche das entsprechende Moment im Bereich der Logik erörtert: Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische (WL , S. 881 f.).
Moral und Metaphysik bezeichnen somit eine Verhaltenslehre und eine Haltung gegenüber der Welt, durch die der Mensch sich über die Tiere erhebt. Da Nietzsche sie als notwendige Irrtümer betrachtet, kann er sie weder verurteilen noch perpetuieren. In dieser Erkenntnis ist die spätere „Lehre“ des Übermenschen bis in die Wortwahl hinein bereits impliziert: Konnte sich der Mensch durch die „notwendige Lüge“ von Moral, Metaphysik und Religion über den tierischen Zustand erheben – diese Menschenart wird im Titel des zitierten Aphorismus „Das Ueber-Thier bezeichnet“ –, so wird die Überwindung einer solchen Existenzform zu einem neuen Menschen führen, den er später – in Analogie zum Menschen als Übertier – Übermenschen nennen wird. An der genauen Bestimmung einer solchen Erhebung wird Nietzsche noch intensiv arbeiten und erst mit der „Lehre“ der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu einer Lösung finden. In Menschliches, Allzumenschliches ist aber bereits evident, dass Nietzsche bei der Analyse der Genealogie der Moral – zunächst „Geschichte der moralischen Empfindungen“
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genannt (MA , zweites Hauptstück) – historisch vorgehen und deshalb keine der einzelnen Momente aus dem Verlauf der Geschichte abstrahieren und verabsolutieren möchte. Demzufolge wird Nietzsche die vergangenen Epochen der Kultur weder verurteilen noch bejahen können, weil er eben die historische Dimension, die ihnen eigen ist, nicht verlassen will. Die auffälligen Unterschiede in Nietzsches Wertung der Aufklärung und der Romantik können daher nicht bloß als Absicht gedeutet werden, sich einer Denkweise anzuschließen, um die andere zu bekämpfen. Vielmehr ist hierin der Versuch zu sehen, durch Berufung auf das „Andere“ (zunächst die französische Aufklärung, später auch die „Musik des Südens“) zur Infragestellung des „Eigenen“ (der deutschen Romantik) zu gelangen. Nietzsches gewonnene Einsicht über das Ende der Metaphysik erfordert, dass die letzten Gestalten aus deren Geschichte und zugleich die stolzen Symbole der deutschen kulturellen Identität, die (deutsche) Romantik und der (deutsche) Idealismus, unter Beschuss genommen werden.6 Dies erreicht er mit Hilfe der französischen Moralisten und Aufklärer als Instanzen der Andersheit, deren Denken jedoch keineswegs das Ziel seiner Bewegung, sondern vielmehr das Sprungbrett darstellt, durch das er die Energie bezieht, um seinen akrobatischen Sprung in eine unerhörte Region des Denkens zu vollziehen. Im 51. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches, der den Titel Wie der Schein zum Sein wird trägt, erläutert Nietzsche anhand von Maske und Schauspielen, wie der Wille zum Schein vom Sein nicht unterschieden werden kann. Nietzsches genealogische Erörterung lässt sich in eine semiotische über- und weiterführen: Die Maske trübt das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, worauf – mit den Worten Michel Foucaults – die Episteme der Repräsentation beruht: Anstatt des transparenten Verweisens tritt die performative Verkörperung der signifikanten Maske durch den „Schauspieler“ ein. Der direkte Bezug zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen sinnlicher Erscheinung und Wesen wird durch diese dritte Instanz irritiert, wobei das Wesen der Maske ausgerechnet darin besteht, dass sie das Wesenhafte verbirgt. War die Befreiung des geistigen Wesens von der sinnlichen Erscheinung die rationalistische Utopie des Descartes, so stellt die Wirklichkeit der Maske den Schein ohne Wesen dar, worauf Nietzsche rekurriert, um ein postmetaphysisches Denken zu ermöglichen. 6 Dadurch wird auch klar, dass die Sonderstellung, die Nietzsche der griechischen
Antike zuweist, darauf beruht, dass sie bis Platon eine vormetaphysische Kultur darstellt.
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Im Unterschied zum gewöhnlichen Zeichen, welches die Verbindung zum Bezeichnenden automatisch herstellt, wird die Maske durch den „Schauspieler“ verkörpert. Sie ähnelt daher einer ausdruckslosen Form, die mit keinem Bewusstseins-Inhalt gefüllt werden kann. Denn die verkörperte Maske erhält keineswegs die Subjektivität des Schauspielers, sondern dieser verliert seine umgekehrt durch die Maskierung. Die Verkörperung der Maske stellt demzufolge keine Interpretation, sondern vielmehr ein Bewegen und Beleben dar.7 Die anti-metaphysische Leistung der Maske besteht darin, dass durch die Unterminierung der Relation zwischen materiellem Signifikanten und geistigem Sinn ersterer nicht vollständig im letzteren aufgeht, sondern als Präsenz erhalten bleibt. Das Sinnliche hört damit auf, bloß Sinn auszudrücken, vielmehr verkörpert es ihn und bricht damit die absolute, der Metaphysik eigentümliche Herrschaft des Übersinnlichen auf.8 Verkörperter Sinn transzendiert die sinnliche Materialität nicht länger, weil sie von dieser nicht mehr zu trennen ist. Die Maske verweist nicht bloß auf die Figur, die sie darstellt. Sie ist insofern auch nicht bloß ein Signifikant, als sie durch den Schauspieler verkörpert wird. Als lebendiger Signifikant stellt sie das Paradigma des verkörperten Zeichens und somit die Subversion der hermeneutisch-metaphysischen Dichotomie zwischen totem Buchstaben und lebendigem Geist samt deren Wertung dar. Darüber hinaus ist verkörperter Sinn weder der Sphäre des Subjekts, noch jener des Objekts eindeutig zuzuschreiben.9 Demzufolge unterminieren Maske und Performanz mit dem hermeneutisch-metaphysischen Denken auch das diesem angehörige Subjekt/Objekt-Paradigma. Nietzsche wird in seinen späteren Schriften die Maske für sich beanspruchen. In Ecce homo erscheinen ihm Wagner und Schopenhauer, so wie er sie in den Unzeitgemässen Betrachtungen behandelt, als Masken seiner selbst: Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik für Plato. – Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke, 7 Die Transformation von Sinn in Bewegung ist die Leistung der Arabeske, während
die Trübung des Verhältnisses zwischen Schein und Sinn auf das Groteske verweist. Siehe zu beiden Aspekten und deren Bezug zur Maske Celestini, Die Unordnung der Dinge. 8 Eine kritische Analyse der Instrumentalisierung von Sinnlichkeit als Ausdruck von Sinn in der metaphysischen und hermeneutischen Tradition befindet sich in Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. 9 Krämer, „Sinnlichkeit, Denken, Medien“, S. 34.
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deren Zeugniss diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, dass sie im Grunde bloss von mir reden (EH , S. 320).
Es hat freilich eine gewisse Pikanterie, dass gerade Platon, der erste Metaphysiker, Nietzsche das Paradigma einer Semiotik der Maske liefert. Diese ermöglicht, der Eindeutigkeit der direkten Rede zugunsten eines Vexierspiels auszuweichen, in dem die Beweglichkeit des Denkens durch Ironie, Parodie und Mehrdeutigkeit zum Tragen kommt. Auf diese Weise wird auch Sokrates, in den früheren Schriften für den Verfall der Tragödie verantwortlich gemacht, als Ironiker und Maskenträger rehabilitiert.10 In Vermischte Meinungen und Sprüche wird Laurence Sterne für die Strategie des Maskenspiels gepriesen: Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit […]. […] seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöses, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. […] Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublicum vor einem andern Theaterpublicum (VS , § 113).
Die Unterminierung der Trennung zwischen Produktion und Rezeption, die theaterbezogene Metaphorik und vor allem die Einsicht, dass sich Tiefe und Maske keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr einander bedingen, sind konstitutive Gedanken in Nietzsches Semiotik der Maske. „Alles, was tief ist, liebt die Maske“, schreibt er in Jenseits von Gut und Böse (§ 40). Der transparente Verweis wird mit der für Nietzsche typischen Geste der Umkehrung als das Falsche bezeichnet: Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichen, das er giebt (JGB , § 40, S. 58).
10 Im Sommer 1875 schreibt Nietzsche in seinem Notizheft: „Socrates, um es nur zu
bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe“ (NL 8, S. 97). Nietzsche stellt die „abstossenden“ und „faszinierenden“ Seiten des Sokrates im Kapitel der Götzen-Dämmerung „Das Problem des Sokrates“ dar. Während Walter Kaufmann bei diesem ambivalenten Verhältnis dazu neigt, Nietzsches Nähe zu Sokrates hervorzuheben (Kaufmann, Nietzsche, S. 455 ff.), legt Hermann Joseph Schmidt Wert darauf, Nietzsches ablehnende Haltung zu betonen (Schmidt, Nietzsche und Sokrates).
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Die Maske stellt aber keine Alternative zu den „flachen Auslegungen“ dar, sie ist vielmehr eine davon. Die Dichotomie zwischen Tiefe und Oberfläche wie die Metaphysik selbst, deren Prägung sie trägt, kann zwar nicht überwunden, wohl aber überlistet werden. Der 77. Aphorismus aus Die Fröhliche Wissenschaft legt nahe, dass Nietzsche die Maske als eine nicht repressive Form der Sublimierung betrachtet, der er auch insofern mit Sympathie begegnet, als sie – im Unterschied zu manchen „romantischen“ und „idealistischen“ Sublimierungen – durch die dem Maskenspiel eigene ironische Distanz die Spur des Sublimierten bewahrt und mithin auch das Bewusstsein davon, dass es sich dabei eben um eine Sublimierung handelt. Nietzsche plädiert weiterhin für eine Art von Sublimierung, die in sich ihre eigene Entsublimierung verbirgt. In diesem Aphorismus, der den Titel Das Thier mit gutem Gewissen trägt, verbindet Nietzsche die „Gemeinheit“, die man so oft im „Süden Europa’s“ erfahre – seine Beispiele dafür sind die Opern Rossinis und Bellinis sowie der spanische Abenteuer-Roman –, mit jener, der man bei „einer Wanderung durch Pompeji“ oder selbst beim Lesen „jedes antiken Buches“ begegnet. Nietzsche meint damit das volkstümlich Skurrile, ja womöglich das sexuell Obszöne, das in den genannten Werken – die Erwähnung von Bellini in diesem Zusammenhang leuchtet zugegebenermaßen nicht unmittelbar ein11 – unvermittelt neben dem Ausdruck des Edlen, Lieblichen und Leidenschaftlichen stehen kann. Dabei stellt er sich die Frage, warum er davon nicht „beleidigt“ werde. Seine Antwort lautet: „Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!“ (FW , § 77). Hierin knüpft Nietzsche auf seinen mehrmals erläuterten Gedanken an, nach dem die Griechen fähig gewesen seien, triebhafte Energien nicht zu unterdrücken, sondern produktiv einzusetzen oder auf „gesunde“ Weise zu entladen (CV 5, S. 783; VS , § 220). Darin bestehe die griechische „Humanität“, nämlich eine, die das Tierische nicht zu verleugnen braucht. Mit dieser sei die „südländische Humanität“ verwandt. Wobei Nietzsche keineswegs an einen unmittelbaren Ausdruck des Triebhaften denkt, wie man mit Schopenhauer und Wagner meinen könnte, sondern an „eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde“ (FW , § 77), nämlich die volkstümliche Maske: 11 Im Herbst 1881 wohnte Nietzsche in Genua den Aufführungen von Rossinis
S emiramide sowie Bellinis I Capuleti e i Montecchi und La sonnambula bei. Siehe dazu Venturelli, „L’utopia di una musica sovraeuropea“.
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Volksthümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes (FW , § 77).
Die volkstümliche Maske, beispielsweise jene der commedia dell’arte, dient zur Ent-Psychologisierung und Ent-Subjektivierung derjenigen, die sie tragen. Die Figuren des Stegreif-Theaters besitzen keine psychologische „Tiefe“, sie weisen auch kein bestimmtes Alter auf und erscheinen vielmehr als Zusammensetzungen von karikaturesk überspitzten Charakterzügen. Hier wie im antiken Theater dient die Maske zur Tilgung jeglichen psychologischen Realismus. Schauspieler und Schauspielerinnen verstecken nicht nur ihre Identität hinter der Maske, sondern dadurch, dass ihr Gesicht zur erstarrten Grimasse verzerrt wird, werden sie „entmenschlicht“. Geistiger Ausdruck wird dabei durch skurrile Akzentuierung von Körperlichkeit ersetzt.12 Nietzsche greift auf diese Tradition zurück, verbindet sie zu Recht mit der antiken Theater-Kultur und ortet ihre Spuren noch in der italienischen (buffo-) Oper. Seine Überlegungen sind dabei freilich nicht ohne Zweck. Erhob Wagner mit seinem musikalischen Drama – zunächst mit Nietzsches Unterstützung – den Anspruch, die antike Tragödie „modernisiert“ zu haben, so sieht nun Nietzsche in der „volksthümlichen Maske“ die Möglichkeit einer alternativen Modernisierung der antiken Theater-Kultur,13 welche in der Tat bald aktuell werden wird – wenn auch nicht maßgeblich durch das kompositorische Schaffen seines Hoffnungsträgers Pietro Gasti alias Heinrich Köselitz.14 Die Denkfigur der Maske spielt bei Nietzsche eine kaum zu überschätzende Rolle, und zwar nicht erst seit Menschliches, Allzumenschliches. Sie kommt in der Geburt der Tragödie bei der Bestimmung der Beziehungen zwischen Dionysos und den tragischen Helden (GT , § 9; 10) sowie jener zwischen Euripides und Sokrates (GT , § 12) zum Tragen. Obwohl Überreste der üblichen Metaphorik der Lüge noch 12 Das Tierische an den Masken des Stegreif-Theaters wird in den Radierungen des
französischen Maler Jacques Callot veranschaulicht. Siehe dazu Celestini, Die Unordnung der Dinge, insbesondere S. 27 – 40; 238 f. 13 Eine sarkastische Darstellung der Durchdringung von Tragischem und Komischen liefert Nietzsche mit dem 14. Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten, „Der Mensch, der Komödiant der Welt“. 14 Zu Köselitz siehe Janz, Nietzsche I, II , III ; Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben.
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anzutreffen sind (GT , § 10, S. 75; UB 2, 280 ff.), zeigen diese Stellen, dass Nietzsche zur Zeit seines ersten Buches an einer Semiotik der Maske arbeitet, welche bereits wesentliche Züge der späteren Positionen aufweist. In der Geburt der Tragödie pflegen sowohl Apollo als auch Dionysos eine Beziehung zur Maske: Als Gottheit der Verwandlung und der De-Individuation führt Dionysos sie als eines seiner Attribute;15 zugleich weist die Maske aber auch eine apollinische Seite auf, denn sie bildet die sichtbare Gestalt, durch die der Held – „das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild“ (GT , § 9, S. 65) – auf der Bühne erscheint. Das „Apollinische der Maske“ beschreibt Nietzsche als Umkehrung eines optischen Phänomens: Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in’s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes (GT , § 9, S. 65).
Damit wird freilich das herkömmliche Verhältnis zwischen „Oberfläche“ und „Tiefe“ samt Wertung erheblich geändert. Nietzsches bereits analysierte Aufwertung des Scheins betrifft nämlich auch die Oberfläche als dessen Wirkungsbereich.16 Diese hört somit auf, eine trügerische Hülle im Sinne Platons darzustellen. Als Maske wird aber die sinnliche Oberfläche auch nicht bloß Ausdruck der Tiefe beziehungsweise Erscheinung der Wahrheit, wie Hegel sie dachte. Die Maskierung weist vielmehr auf ein komplexes, ja geradezu paradoxes Verhältnis zwischen Oberfläche und Tiefe hin, das Nietzsche mit der für seine frühe Phase durchaus bezeichnenden Relation Apollo/Oberfläche/erscheinende Maske versus Dionysos/Tiefe/Verwandlungs-Maske exemplifiziert: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus“ (GT , S. 140). Die Maske als apollinisches und zugleich dionysisches Attribut lässt das Verhältnis zwischen den beiden Gottheiten als jenes zwischen Erscheinung und Verwandlung, zwischen Gestalt und Metamorphose zutage treten. Einige Jahre später wird Nietzsche eine dem Inhalt adäquate Schreibweise entwickeln, die den Pathos seines Erstlingswerks hinter sich lässt. Dann wird es ihm auch möglich, wie in der folgenden Stelle aus der 15 Zu Dionysos und der Maske siehe auch unten § 14. 16 Siehe oben § 4.
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Vorrede zu Die fröhliche Wissenschaft, die Paradoxie des Sachverhaltes in die Ausdrucksweise aufzunehmen: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! (FW , S. 352).17
Das hier dargestellte Verweisspiel zwischen Oberfläche und Tiefe lässt die strukturelle Homologie zwischen Maskensemiotik einerseits und apollinischer Sublimierung des Schreckens und dessen dionysischer Entsublimierung andererseits deutlich werden. Darauf ruht ja Nietzsches gesamtes Denken. Neben Ansätzen einer Semiotik der Maske sind dennoch beim frühen Nietzsche auch Versuche zu finden, die durch die Maske symbolisierte dionysische Verwandlung, die er bejaht, von einer trügerischen Schauspielerei zu unterscheiden, die er dem modernen Theater und vor allem der Oper zuschreibt und mit dem Ausdruck der Empörung ablehnt (GMD , S. 521). War eine solche Einstellung 1870 im Zusammenhang mit seiner Begeisterung für Wagner und dessen musikdramatisches Konzept durchaus verständlich, so erscheint ihm Wagner selbst lediglich vier Jahre später als bedenkliche Verkörperung einer modernen „Schauspieler-Natur“: Die eine Eigenschaft Wagner’s: Unbändigkeit, Maasslosigkeit, er geht bis auf die letzten Sprossen seiner Kraft, seiner Empfindung. […] Die andere Eigenschaft ist eine grosse schauspielerische Begabung, die versetzt ist, die sich in anderen Wegen Bahn bricht als auf dem ersten nächsten (NL 7, S. 758 f.).18
Nietzsche ging so weit, dass er diesen Bedenken in der feierlichen Schrift zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele Ausdruck verlieh, freilich durch die Kunst der Ambivalenz verschleiert: […] so dürfte man wohl in ihm eine schauspielerische Urbegabung annehmen, welche es sich versagen musste, sich auf dem nächsten trivi17 Kaufmann weist darauf hin, dass Nietzsche diese Stelle, mit kleinen Änderungen,
als Abschluss von Nietzsche contra Wagner verwenden wird, was ihre Bedeutung für Nietzsche noch deutlich hervorhebt (Kaufmann, „Nietzsches Philosophie der Masken“, S. 120). 18 Siehe auch ebd., S. 759, 761, 762, 766, 773, 775.
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alsten Wege zu befriedigen und welche in der Heranziehung aller Künste zu einer grossen schauspielerischen Offenbarung ihre Auskunft und ihre Rettung fand (UB 4, S. 467 f.).
Der latente Vorwurf der Schauspielerei betrifft nicht nur Wagners Kunst, sondern auch den Menschen selbst: Das Leben Wagner’s, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehen, hat, um an einen Gedanken Schopenhauer’s zu erinnern, sehr viel von der Comödie an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken (ebd., S. 441).
„Grotesk“ erscheint hier freilich auch die merkwürdige Tatsache, dass Wagner sich in diesen Schilderungen mit Freude wiedererkannte.19 Im Laufe der Zeit löst sich die Ambivalenz in provokante Verhöhnung auf, die dann in den letzten Jahren in der – wiederum grotesken – Übertreibungskunst gipfelt: Sie wissen nicht, wer Wagner ist: ein ganz grosser Schauspieler! Gibt es überhaupt eine tiefere, eine schwerere Wirkung im Theater? (Wa, S. 29). War Wagner überhaupt ein Musiker? Jedenfalls war er etwas Anderes mehr: nämlich ein unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime, das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben, unser Sceniker par excellence (Wa, S. 30). Das, was bisher als „Leben Wagner’s“ in Umlauf gebracht ist, ist fable convenue, wenn nicht Schlimmeres. Ich bekenne mein Misstrauen gegen jeden Punkt, der bloss durch Wagner selbst bezeugt ist. Er hatte nicht Stolz genug zu irgend einer Wahrheit über sich, Niemand war weniger stolz; er blieb, ganz wie Victor Hugo, auch im Biographischen sich treu, – er blieb Schauspieler (Wa, S. 41, Anm.).20
Nietzsche erlebte durch Wagner – wie Bertram zum Ausdruck bringt – die „Verfratzung des geliebten Bildes einer dionysischen Natur in eine komödiantische, einer orphischen Urmusik für dionysisch Verwandelte zur großen romantischen Zauberoper für satte Bürger des neuen Deutschen Reiches“.21 Ist aber nicht die Fratze ein fester Bestandteil der volkstümlichen Maske? 19 Siehe dazu auch oben § 7. Wagner schickte eine Kopie der Schrift an König Lud-
wig.
20 Eine Collage zahlreicher ähnlicher Stellen gibt Bertram, Nietzsche. Versuch einer
Mythologie, S. 176 f. Siehe dazu auch Hudek, „Die Tyrannei der Musik“, S. 21 – 29.
21 Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 174.
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Im Kapitel „Der Zauberer“, welches sich im vierten, 1885 zunächst nur als Privatdruck erschienenen Teil des Zarathustra befindet, begegnet Zarathustra einem alten Mann, der wie „ein Tobsüchtiger“ gestikuliert. Zarathustra glaubt anfangs, der „Notschrei“ käme vom „höheren Menschen“, und nähert sich, um ihm zu helfen. Der „Unglückliche“ scheint indessen nicht zu merken, dass jemand „um ihn sei“, und gibt weiterhin dem Pathos freien Lauf. Nach „vielem Zittern, Zucken und Sich-zusammen-Krümmen, begann er also zu jammern“ (Za, S. 313). Nachdem der Jammernde etliche, tief empfundene Strophen vorgetragen hat, ändert sich das Verhalten Zarathustras vollkommen: – Hier aber konnte sich Zarathustra nicht länger halten, nahm seinen Stock und schlug mit allen Kräften auf den Jammernden los. „Halt ein! schrie er ihm zu, mit ingrimmigem Lachen, halt ein, du Schauspieler! Du Falschmünzer! Du Lügner aus dem Grunde! Ich erkenne dich wohl! […]“ (Za, S. 317).
Als der alte Mann ihn anfleht, aufzuhören und dabei ihn und seine „Wahrheiten“ lobt, reagiert Zarathustra erbost: Schmeichle nicht, antwortete Zarathustra, immer noch erregt und finsterblickend, du Schauspieler aus dem Grunde! Du bist falsch: was redest du – von Wahrheit! (ebd.).
Theo Mayer sieht darin die Auseinandersetzung zwischen „substantieller Echtheit“ und „vorgetäuschter Tiefe“: Während der Zauberer die Lüge, den Schein, das Schauspielertum verkörpert, tritt Zarathustra als der Erkennende, der Anwalt der Wahrheit und des Selbstseins auf.22
Freilich gerät Nietzsche selbst in Versuchung, das Authentische vom schaugespielten Falschen durch die üblichen Kategorien der Metaphysik trennen zu wollen, wie der Aphorismus 324 von Morgenröte zeigt. Dennoch ist diese an sich nahe liegende Deutung mit Nietzsches Denken nicht vereinbar. Denn Zarathustra stellt keineswegs den „Anwalt der Wahrheit“ dar, sondern Nietzsches berühmteste Maske. Folgerichtig präsentiert Nietzsche das Ergebnis seiner Anstrengung nicht als essayistische Abhandlung, es sei auch im aphoristischen Stil, sondern als allegorische Dichtung, nämlich durch eine Ausdrucksweise, in der sich Aussage und Ausgesagtes nicht decken: Allegorische Sätze sind gleichsam maskierte 22 Meyer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, S. 522 f.
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Sätze. Zarathustra verkörpert die Maske des Übermenschen auf der imaginären Bühne der gedruckten Seite. Damit wird philosophischer Gehalt nicht wie in einer üblichen philosophischen Abhandlung dargestellt, sondern herausgestellt, und zwar im Sinne der bereits analysierten Ästhetik der Inszenierung.23 Nietzsches Schreibweise verhält sich dabei mimetisch: Gedanken werden keineswegs zum Ausdruck gebracht, sondern inszeniert. Bemerkenswert dabei ist ein für den mittleren und späten Nietzsche charakteristisches Phänomen, nämlich das der im Medium der Schrift fingierten Intermedialität einer theatralischen Inszenierung. Ist also Zarathustra im Unterschied zum Zauberer eine „wahre“ Maske? Eine Semiotik der Maskierung lässt die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Maske oder – mit den Worten Gianni Vattimos ausgedrückt – zwischen „maschera buona“ und „maschera cattiva“,24 nicht zu. Nietzsches Annahme, Metaphysik und Moral seien Irrtümer, wenn auch notwendige, bestätigt nur diesen Schluss. Denn nicht nur sind wahre oder gute Masken an sich fragwürdige Vorstellungen, sondern – aus der Perspektive von Menschliches, Allzumenschliches betrachtet – genauso falsch und böse wie die vermeintlichen Gegenobjekte. Wenn eine Unterscheidung zwischen einer zu bejahenden Maskierung und einer abzulehnenden Schauspielerei durchgeführt werden soll – und Nietzsches parallel laufender Ausbau einer Semiotik der Maske einerseits und der immer schriller werdenden Kritik an der Schauspielnatur Wagners andererseits weisen zweifellos darauf hin –, so darf sie offensichtlich nicht auf denjenigen Kategorien gründen, nämlich den metaphysischen und moralischen, die Nietzsche eben durch die Denkfigur der Maske auszuspielen versucht. Es ist nicht schwer, in der Charakterisierung des Zauberers eine Parodie Richard Wagners zu erkennen.25 Dennoch lenkt Albrecht Dammeyer das Augenmerk darauf, dass der Zauberer keineswegs die dichterische Sprache Wagners, sondern vielmehr jene Nietzsches spricht, denn die freien Verse des Zauberers entsprechen beinahe wörtlich jener der Klage der Ariadne des siebenten Dionysos-Dithyrambus. Daraus zieht Dammeyer folgenden Schluss: „Offensichtlich besteht die Funktion des Zauberers also nicht einfach in einer Polemik gegen 23 Siehe oben § 8. 24 Vattimo, Il soggetto e la maschera, S. 47; 74 f.; 131; 162 u. a. Siehe auch die ähn-
liche – ebenso problematische – Unterscheidung, die Bernard Pautrat zwischen „métaphore mensongère“ und „la bonne métaphore“ vorschlägt (Pautrat, Versions du soleil, S. 308 – 311). Reinhard Olschanski übernimmt Vattimos Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Maske (Olschanski, Maske und Person, S. 92). 25 Vgl. Wa, S. 43: „Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore!“
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Wagner, sondern zugleich in einer performativen Mitteilung an den Leser“.26 Denn, wie Dammeyer bemerkt, ist es ausgerechnet der Zauberer, der die Geradlinigkeit Zarathustras hervorhebt: Oh Zarathustra, ich suche einen Ächten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefäss der Weisheit, einen Heiligen der Erkenntnis, einen grossen Menschen! Weißt du es denn nicht, oh Zarathustra? Ich suche Zarathustra (Za, S. 319).
Im zweiten Lied des Zauberers möchte dieser die Wahrheit besingen, er muss jedoch seine Absichten gründlich revidieren: Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen Himmeln Und falschen Erden, Herumschweifend, herumschwebend, – Nur Narr! Nur Dichter! (Za, S. 372)27
Die Parodie Wagners entpuppt sich somit als die Selbstparodie Nietzsches. Der Leser ist mit einem performativen Widerspruch konfrontiert, der formal dem Paradoxon von Epimenides entspricht: „Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner“. Bereits in Die fröhliche Wissenschaft hatte Nietzsche auf dieses Paradoxon hingewiesen: „Denn wie Homer sagt: ,Viel ja lügen die Sänger‘“ (FW , S. 442). Wenn alles Schauspiel ist, dann wird die Differenzierung des Falschen vom Authentischen nicht zu erzielen sein. In einer Nachlass-Notiz aus dem Ende des Jahres 1882 ist zu lesen: Der Gegensatz des Schauspielers ist nicht der ehrliche Mensch sondern der heimliche selbstverlogene Mensch (gerade unter ihnen sind die meisten Schauspieler)! (NL 10, S. 125).
Richard Klein hebt hervor, dass durch die „Auflösung der metaphysischen Fundamentalopposition“ zwischen Wesen und Schein eine Unterscheidung möglich wird, die auf dem metaphysischen Boden nicht denkbar war, nämlich diejenige zwischen „dem Schein, der die einzige Realität des Lebens ist, das [Nietzsche] bejaht, und dem Schein der Erscheinung, der auf den ,Wunder-Ursprung‘ des Wesens verweist, das das Leben notwendig verneint“.28 Zur Unterstützung dieser An26 Dammeyer, Pathos – Parodie – Provokation, S. 180. 27 Ebd., S. 182. 28 Klein, Solidarität mit Metaphysik?, S. 63.
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nahme kann Klein auf zwei Notizen aus den früheren Jahren verweisen, in denen Nietzsche auf diese Unterscheidung anspielt. Hier spricht Nietzsche von der „Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheins“ (NL 7, S. 633): „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr“ (NL 7, S. 362).29 Demzufolge wird die zu verwerfende Maske nicht die falsche oder die böse, sondern vielmehr diejenige sein, die betrügerisch von sich behauptet, das Wahre und das Gute zu verkörpern – also keine Maske zu sein. Wer sich wie Wagner des Maskenspiels bedient, um es zu negieren und an seiner statt den Glauben an das Echte und Wahre von der (Bayreuther Festspielhaus-)Bühne aus zu verkündigen, der erscheint Nietzsche betrügerisch und daher gefährlicher als all diejenigen, die „irrtümlich“ und dennoch fest daran glauben, es gebe eine wahre und gute, unmaskierte Welt, die von der falschen und bösen Welt der Maske verschleiert oder gar bedroht werde.30 Doch Nietzsches Selbstparodie im Zarathustra zeigt, dass auch eine solche Unterscheidung prekär ist. Im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft, welches erst 1887 in der zweiten Auflage erschien und daher der letzten Periode von Nietzsches Schaffen angehört, gibt Nietzsche zu, dass die Figur des Schauspielers ein beunruhigendes Problem darstellt: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten „Charakter“ bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: Alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich? (FW , § 361).
Nietzsche hatte bereits in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne die Verstellung als das wirksamste Mittel des Individuums zur eigenen Erhaltung bezeichnet. Der Mensch sei im 29 Beide Stellen zit. nach Klein, Solidarität mit Metaphysik?, S. 310, Anm. 253. Siehe
dazu auch weiter unten § 16.
30 In der Begrifflichkeit von Adornos Ästhetischer Theorie erscheint der Sachverhalt
so, dass in der Kunst der bewusste Schein den falschen Schein der philosophischen Abstraktion, welche sich im Besitz der Wahrheit glaubt, Lüge straft. Diese kritische Funktion des ästhetischen Scheins wird dennoch pervertiert, wenn die Kunst selbst im Zeichen Schopenhauer’sch-Wagner’scher Kunst-Metaphysik als Inhaberin der Wahrheit noch dazu mit der Inbrunst des Sakralen sich geriert. Zur Funktion des ästhetischen Scheins bei Adorno siehe u. a. Bubner, „Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik“, S. 15 f.
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Vergleich zu anderen Arten weniger robust und daher gezwungen, sich durch die List der Verstellung am Leben zu erhalten: Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte (WL , S. 876).31
Der „Trieb zur Wahrheit“ sei eine gesellschaftliche Instanz, ein „Friedenschluss“, der zur Stabilisierung sozialer Verhältnisse und mithin zur Herstellung von Hierarchien dient: Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an „Wahrheit“ sein soll d. h. es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge (WL , S. 877).
Stellt die Neigung zum „Verstecken-Spielen“ eine für das tierische Leben grundlegende Eigenschaft dar, so ist der „Überschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nützens zu befriedigen wissen“ (FW , § 361), eine spezifisch menschliche Disposition, die zur steten Hervorbringung von Symbolen und Formen führt. Es ist nicht schwer, hinter dieser Disposition die dionysische Verwandlungsmaske zu spüren, das freie Spiel der Metamorphose, das abseits von jeglicher zweckrationalen Bestimmung läuft. Dabei handele es sich um einen „Instinkt“, dessen Herrschaft den „Künstler“ und den „Schauspieler“ erzeugt, und als dessen Vorstufe „den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown“ und den „Gil Blas“ (ebd.). In dieser Genealogie sind nebeneinander die von Nietzsche bewunderte volkstümliche Maske (FW , § 77) und der von Zarathustra geschlagene Lügner (Za, S. 317) zu finden. Das Problem des Schauspielers bleibt ja ungelöst – jenes Wagners sowieso. Die Lösung wird, wie im Folgenden zu zeigen ist, dem Leser überlassen.
31 In einer Nachlass-Notiz aus dem Winter 1869/70 hat Nietzsche einen Spruch
Schillers aufgeschrieben, nach dem der „Mensch erst Mensch [sei], wenn er spielt“ (NL 7, S. 74).
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Nietzsches bereits zur Zeit der Geburt der Tragödie erkennbare Neigung, auf die Kunst der Kunstwerke zugunsten der Lebenskunst zu verzichten, ist ausgesprochen antiklassizistisch.1 Darauf besteht er auch in Menschliches, Allzumenschliches. Am Beginn des 99. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche weist er darauf hin, dass nur jene „dichterische Kraft“ zum Schaffen der Kunst eingesetzt werden darf, die „bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird“ (VS , § 99, S. 419). Das „avantgardistische“ Bestreben, die Kunst im Leben aufzuheben, wird in einem weiteren Aphorismus, der den Titel Ohne Kunst und Wein leben trägt, deutlich ausgesprochen: Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es wenn man beide nicht nöthig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt (VS , § 109, S. 423).
Vorbilder für die Anwendung der künstlerischen Fähigkeiten des Menschen zur Lebensgestaltung findet Nietzsche in den großen Dichtern aller Zeiten – Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe –, bei denen die Kunst ein „Überschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung“ gewesen sei (VS , § 173, S. 453). Daraus leitet er seine Opposition Gegen die Kunst der Kunstwerke – so lautet der Titel des 174. Aphorismus – ab. Erst als Überschuss darf die künstlerische Kraft zur Erschaffung von Werken eingesetzt werden, denn ihre „übergrosse Aufgabe“ ist jene der harmonischen Lebensgestaltung (VS , § 174, S. 454). Im darauf folgenden Aphorismus geht Nietzsche so weit, zu erwägen, dass es den Menschen ohne Kunst besser ginge – freilich mit Ausnahme der Künstler (VS , § 175, S. 454 f.).2 Am Schluss fügt er 1 Eine ähnliche Einstellung ist bei Goethe festzustellen, siehe u. a. Mommsen, Goethe’s
Art of Living; Safranski, Goethe.
2 Es ist bemerkenswert, dass ein durchaus vergleichbares „Zweifeln an der Kunst“
auch Wilhelm Heinrich Wackenroder heimsuchte. In Ein Brief Joseph Berglingers ist diesbezüglich zu lesen: „Die Kunst ist eine verführerische, verbotene Frucht; wer einmal ihren innersten, süßesten Saft geschmeckt hat, der ist unwiederbringlich verloren für die tätige lebendige Welt. […] Die Kunst ist ein täuschender, trüglicher Aberglaube; wir meinen in ihr die letzte, innerste Menschheit selbst vor uns zu
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Performativität
jedoch eine Anmerkung hinzu, die das gerade Gesagte in einem anderen Licht erscheinen lässt: Der Plumpen und Böswilligen halber soll es doch einmal gesagt werden, dass es hier, wie so oft in diesem Buche, dem Autor eben auf den Einwand ankommt, und dass Manches in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht (VS , § 176, S. 455).
Bereits im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches hatte Nietzsche das Unvollständige als das Wirksame, so der Titel des 178. Aphorismus, hervorgehoben. Im Winter 1876/1877 verfasst er folgende Notiz über den aphoristischen Stil: Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung. – Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraklit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen (NL 8, S. 361).
Vivetta Vivarelli hat überzeugend dargestellt, wie Nietzsche zu dieser Maxime des Stils auch durch die Lektüre der französischen Moralisten sowie von Laurence Sterne gelangen konnte3 – freilich reicht eine solche Maxime über Montaigne bis Pseudo-Longin zurück. Sowohl im 176. Aphorismus aus Vermischte Meinungen und Sprüche als auch etwas subtiler in der soeben besprochenen Nachlassnotiz ist allerdings mehr als ein Hinweis auf die Wirksamkeit knapper und unvollständiger Formulierungen enthalten. Denn dem Leser wird nicht nur die Aufgabe überlassen, eine implizite Gedankenkette zu rekonstruieren, sondern haben, und doch schiebt sie uns immer nur ein schönes Werk des Menschen unter, worin alle die eigensüchtigen, sich selber genügenden Gedanken und Empfindungen abgesetzt sind, die in der tätigen Welt unfruchtbar und unwirksam bleiben.“ (Wackenroder, Dichtungen – Schriften – Briefe, S. 332). Selbst die Gleichsetzung des Künstlers mit dem Schauspieler ist in diesem Brief anzutreffen: „Das ists, daß der Künstler ein Schauspieler wird, der jedes Leben als Rolle betrachtet, der seine Bühne für echte Muster- und Normalwelt, für den dichten Kern der Welt, und das gemeine wirkliche Leben nur für eine elende, zusammengeflickte Nachahmung, für die schlechte umschließende Schale ansieht“ (ebd., S. 334). Zur veränderten Einstellung Nietzsches der Kunst gegenüber seit Menschliches, Allzumenschliches siehe Kienzle, „,… das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit‘“, S. 129 – 134. 3 Vivarelli, Nietzsche und die Maske des freien Geistes.
Performativität
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auch die Instanz des Widerspruchs zu vertreten.4 Erst aufgrund dieser Leistung des Lesers kann nämlich „Bedenkliches unbedenklich“ ausgesprochen werden. Dadurch entfernen sich Nietzsches Aphorismen nicht nur von der systematischen Darstellung, sondern auch von der bloßen Mitteilung von Inhalten, sei sie auch literarisch gestaltet. Nietzsche teilt mit den griechischen Anfängen der Philosophie die Abneigung gegen die schriftliche Fixierung der Gedanken und vermag durch den Rekurs auf den Widerstreit der Bedeutungsebenen dieser entgegenzuwirken. Darin findet er in Heraklit ein Vorbild, dessen Maxime „Alles hat jederzeit das Entgegensetzte an sich“ er bereits in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen als Brechung des aristotelischen Satzes vom Widerspruch hervorhebt (PHG , S. 823). Noch im Herbst 1887 stand die Kritik an diesem Grundsatz der abendländischen Logik im Zentrum seiner Gedanken, denn am Beginn eines langen Fragmentes aus dieser Zeit ist zu lesen: „Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ,Nothwendigkeit‘ aus, sondern nur ein Nicht-Vermögen“ (NL 12, S. 389). Nietzsches Schreiben stellt den Versuch dar, dieses „Nicht-Vermögen“ zu „überlisten“, wobei die Involvierung des Lesers als Instanz des Widerspruchs zu einem der schlauesten „Tricks“ zählt. Insofern kommt bei der Auseinandersetzung mit Nietzsche die bloße Bejahung oder Ablehnung niemals als adäquate Rezeption in Frage. Durch den Eindruck geimpft, den die Wagnerianer auf ihn hinterließen, wehrt er sich vor den eigenen Anhängern, und zwar wiederum mit der Waffe des Widerspruchs: Unsere Anhänger vergeben uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen: denn diess heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen (VS , § 309, S. 505).5 4 Eine ebenso reduktive Auffassung des aphoristischen Stils gibt Nietzsche selbst im
8. Abschnitt der Vorrede zur Genealogie der Moral, in dem er die eher selbstverständliche Notwendigkeit der Auslegung emphatisch hervorhebt und auf die dritte Abhandlung desselben Werkes als Vorbild einer solchen hinweist. Damit gibt er zu verstehen, dass diese als Kommentar des als Motto vorangestellten Aphorismus aus Also sprach Zarathustra zu betrachten sei. Giorgio Colli zufolge zeige sich bei der Genealogie der Moral „eine Entwicklung zum systematischen Versuch hin mit bisweilen etwas dogmatisierenden, fast pedantischen Akzenten […]“ (Colli, „Nachwort“ zu Jenseits von Gut und Böse – Zur Genealogie der Moral, S. 420). 5 In einem Brief an Carl Fuchs von 29. Juli 1888 schreibt Nietzsche: „Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, dabei Partei für mich zu nehmen: Im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir (SB 8, S. 375). Siehe dazu auch Dammeyer, Pathos – Parodie – Provokation, S. 136 – 142.
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Aus demselben Grund darf man ihn nie wörtlich nehmen, wie bereits Thomas Mann warnte,6 denn jeder Aphorismus wird nur im Widerstreit mit dem jeweiligen Einwand zu dem, was er sein soll, nämlich ein Akt des Denkens, welcher sich der Hypostasierung durch die Schrift entzieht, indem er sich bei jedem Akt des Lesens von Neuem mobilisiert.7 Im Sommer 1882 verfasst Nietzsche in Tautenburg zehn Thesen Zur Lehre vom Stil und bietet sie der ebenfalls dort anwesenden Lou Salomé zur Lektüre an.8 Dabei findet sich die Behauptung, dass das Schreiben „nur eine Nachahmung“ der mündlichen Rede sein darf (NL 10, S. 38).9 Diese Meinung vertrat Nietzsche bereits zur Zeit seiner ersten Unzeitgemässen Betrachtung (1873), denn schon damals führte er die Schwierigkeit, in Deutschland „ein guter Schriftsteller zu werden“, auf das angebliche Fehlen einer „künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede“ zurück (UB 1, S. 220). Zum Schluss der Tautenburger Thesen wiederholt Nietzsche nun die bereits in Vermischte Meinungen und Sprüche geäußerte Empfehlung, die Einwände dem Leser zu überlassen: Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz unserer Weisheit selber auszusprechen (NL 10, S. 39).10 6 Mann, „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, S. 46. Zu Mann
und Nietzsche siehe Heftrich, Zauberbergmusik, S. 281 ff.
7 In den Notizheften befindet sich ein Text, den Nietzsche zunächst als Vorrede von MA niederschrieb, schließlich aber nicht verwendete. Dieser schließt folgenderma-
ßen ab: „Wenn nun, nach solchen Vorbemerkungen und Angesichts dieses Buches, noch eine wesentliche Frage übrig bleibt, so bin ich es nicht, der sie beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht; des Lesers aber – die Nachrede“ (NL 8, § 23[196]). 8 Siehe zum biographischen Zusammenhang Andrea-Salomé, Lebensrückblick, S. 83 f.; Janz, Friedrich Nietzsche II , S. 135 – 138; Ross, Der ängstliche Adler, S. 625 – 627. Zum Inhalt der Aufzeichnungen siehe Gauger, „Nietzsches Auffassung vom Stil“. 9 Siehe auch WS , § 110. Dementsprechend verlangt Nietzsche von seinen Lesern, gut hören zu können. Siehe dazu Renzi, „Das Ohr-Motiv als Metapher des Stils und der ,Zugänglichkeit‘“. 10 Babette E. Babich hat den Begriff der concinnity eingeführt, um Nietzsches „musical stylistics“ zu bezeichnen. Damit möchte sie „the sounding smooth (ordered, fitted, protentionally, or constitutionally architectonic) harmony of disparate or dissonant or answering or answering themes singing together in chorus or in a round“ ansprechen. Neben dem stilistischen „play and interplay of written texts and […] beyond the text“ meint Babette mit concinnity auch „the appropriate(d), creative response of the reader, that is to say, what the reader can work up or out of the text“ (Babich, Nietzsche’s Philosophy of Science, S. 19).
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Im Anschluss und in Fortführung an der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeleiteten „rhetorischen Wende“ in der Nietzsche-Interpretation11 geht es nun darum, die Dimension des Performativen in Nietzsches Schreiben und Denken herauszuarbeiten. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Linda Simonis gesetzt, indem sie die „persuasive und sinnlich-ästhetische Wirkungskraft“ von Nietzsches „Rede“ untersuchte und ihn selbst als „Redner“ mit Bezug auf Shoshana Felmans Abhandlung über die performative Ausdrucksform des Verführers mit der „ambivalenten, zwielichtigen Don Juan-Figur“ vergleicht.12 Der Verführung durch den Stil gehören aber auch die Mittel der Irritation und Provokation an: Nietzsche will schließlich nicht zur Passivität, sondern zu einem andersartigen Denken verführen.13 Wie in Nietzsches späteren Wagner-Schriften deutlich erscheinen wird, erweist sich die Irritation als ein mächtiges Mittel zur emotionalen und intellektuellen Mobilisierung der Leser. Beinahe sämtliche Thesen aus den Tautenburger Aufzeichnungen zeigen, dass Nietzsches Konzept des Stils einem Versuch gleichkommt, die schriftliche Sprache entgegen ihrer medialen Bestimmung zu verkörpern. Dies bezeugt die Betonung des Lebhaften im Stil (These 1), des situativen Vollzugs (These 2), der Übernahme der Ausdruckstärke von der mündlichen Rede (These 3, 4), der gestischen Artikulation (These 5), des atemähnlichen Duktus der Perioden (These 6), der Verschränkung von Denken und Empfinden (These 7) sowie des Rekurses auf Sinnlichkeit bei der Vermittlung abstrakter Gedanken (These 8). 11 Diese Wende ist geradezu beschworen in Lacoue-Labarthe, „Le Détour. Nietzsche
et la rhétorique“. Hans Blumenberg bringt den Sachverhalt mit dem lapidaren Satz auf den Punkt: „Rhetorik ist das Wesen der Philosophie Nietzsches“ (Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 272). Siehe auch u. a. Goth, Nietzsche und die Rhetorik; Kofman, Nietzsche et la métaphore; de Man, „Nietzsche’s Theory of Rhetoric“; ders., Allegories of Reading; Kremer-Marietti, Nietzsche et la rhétorique; Villwock, „Die Reflexion der Rhetorik in der Philosophie Friedrich Nietzsches“; Ellrich, „Rhetorik und Metaphysik“. Weitere Hinweise zur umfangreichen Literatur in Simonis, „Der Stil als Verführer“. 12 Simonis, „Der Stil als Verführer“; Felman, Le Scandale du corps parlant. 13 Vgl. VS , § 123. Simonis weist auf die Adressierung der Thesen zum Stil an Lou Salomé hin, um die Annahme zu bekräftigen, Nietzsches Schreiben sei ein Verführen (Simonis, „Der Stil als Verführer“, S. 60). Jedoch zeigt die berühmte Photographie, in der Nietzsche und Paul Rée in einem von Lou geführten Wagen wie Pferde eingespannt sind, wie wenig eindeutig hier die Rollen des Verführers und des Verführten sowie Passivität und Aktivität verteilt sind. Eine Reproduktion der Photographie befindet sich in Benders/Oettermann (Hg.), Friedrich Nietzsche, S. 514. Zur Konstellation Wahrheit, Frau, Verführung und Stil bei Nietzsche siehe Derrida, Éperons.
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Die „verkörperte Sprache“, wie insgesamt die Mündlichkeit, offenbart „die Neigung zur Performanz“,14 wobei wiederum in der Spannung, die aus der Ausrichtung des Schreibstils gegen das eigene Medium der Schriftlichkeit hervorgeht, Nietzsches agonales Prinzip erkennbar ist. Heinz Schlaffer hat darauf hingewiesen, dass sich in den späten Schriften Nietzsches „eine Vielzahl von Zeichen zwischen die Wörter“ drängt. Es geht nicht nur um eine „anspruchsvollere“ Interpunktion samt Frage- und Rufzeichen, sondern auch um eine ungewöhnliche Anzahl von Auslassungspunkten, noch dazu an unübliche Stellen gesetzt.15 Die Folgen dieser Schreibweise sind deutlich erkennbar: Komma und Punkte sorgen für die logische Ordnung des Satzes, nehmen aber nur geringen Einfluß auf sein Tempo. Doch die aufwendigeren Satzzeichen (:?!–…) sowie die typographischen Hervorhebungen bewirken Verzögerungen und Pausen im Ablauf der Lektüre. Sie erzeugen im Leser die Vorstellung, daß er den Ton heben oder senken müsse, daß seine Stimme lauter oder leiser werde. Obgleich er einen derart präparierten Text nicht wirklich spricht, sind dennoch seine Sprech- und Atmungsorgane, Teile seines Körpers also, halluzinatorisch während der Lektüre tätig.16
Um seine Deutung zu untermauern, kann Schlaffer direkt auf Nietzsche verweisen, der bereits im Herbst 1879 für sich notiert hatte: „Kommata, Frage- und Ausrufzeichen, und der Leser sollte seinen Körper dazu geben und zeigen, daß das Bewegende auch bewegt“ (NL 8, S. 619). Diese durch die Emphase der Sinnlichkeit angestrebte, gegen ihre eigene Medialität errungene Verkörperung der schriftlichen Sprache eröffnet zugleich die Möglichkeit der Subversion des verkörperten Sinns. Die von Paul Zumthor am Phänomen der Mündlichkeit festgestellte Spalte zwischen Rede und Stimme17 ist nämlich in Nietzsches Warnung angesprochen, in seinem Buch „Manches“ zu lesen, „was nicht gerade darin geschrieben steht“ ( VS , § 176). Nietzsches verkörperte Schrift spricht auch aus, was sie verschweigt, und zwar durch die Stimme des Lesers. Die oben zitierten Stellen aus Vermischte Meinungen und Sprüche sowie aus den Tautenburger Aufzeichnungen bezeugen Nietzsches Absicht, durch eine besonders durchdachte inventio, dispositio und 14 Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift“, S. 39. 15 Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 29. 16 Ebd., S. 31. 17 Zumthor, „Körper und Performanz“. Siehe dazu Krämer, „Sinnlichkeit, Denken,
Medien“, S. 31 f.
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elocutio den Leser in den Denkprozess hineinzuziehen. Das in der schriftlichen Fixierung verunmöglichte Moment der actio wird vom Leser übernommen und mithin die Prozessualität des Denkens auf intersubjektiver Basis wieder hergestellt. Der aus den Sprechakttheorien John L. Austins und John R. Searles entwickelte Begriff des Performativen ermöglicht, das von der Rhetorik erfasste Phänomen der Wirkung über die sprachliche Grenze hinaus in den Blick zu bekommen und dabei die Veränderungen, die der handlungsförmige Vollzug der Rede im Rezipientenstatus herbeiführt, zu berücksichtigen.18 Ein zentraler Aspekt des Performativen in Nietzsches Schreiben liegt also darin, dass der Sinn des Textes, in viel stärkerem Ausmaß als es sonst in der philosophischen Mitteilung üblich war, durch den intellektuellen und emotionalen Vollzug vonseiten des Lesers konstituiert wird. Im Unterschied zum Habermas’schen Modell des auf Verständigung zielenden kommunikativen Handelns entsteht durch Nietzsches performatives Schreiben eine Art Intersubjektivität, die auf dem Widerstreit beruht. Deren Voraussetzung ist keineswegs die Utopie oder Fiktion einer gewaltlosen und von jeglichem rhetorischen Kunstgriff bereinigten sprachlichen Kommunikation,19 sondern die durch Performanz herbeigeführte Unterminierung der Grenzen zwischen Produktion und Rezeption. Die durch den Widerstreit hervorgebrachte Intersubjektivität ist freilich prekär, denn sie kann auf keine Weise stabilisiert oder auf Dauer bewahrt werden. Als performative Intersubjektivität weist sie vielmehr einen Ereignischarakter auf und kommt daher stets in veränderter Form zustande. Sie unterscheidet sich aber auch von der durch Rituale gestifteten Interpersonalität, die im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Thematisierung des Performativen einer eingehenden Analyse unterzogen worden ist.20 Diese Dimension des Kultus und Rituals 18 Siehe Carlson, Performance; Fischer-Lichte (Hg.), Kulturen des Performativen;
Fischer-Lichte/Wulf (Hg.), Theorien des Performativen; Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften; Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. 19 Siehe Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“; ders., Theorie des kommunikativen Handels; ders., „Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion und Lebenswelt“. Eine im Anschluss an Jacques Derrida geführte Kritik an Habermas’ idealer Kommunikation ist zu finden in Wellmer, „Wahrheit, Kontingenz, Moderne“. 20 Siehe dazu Wulf/Zirfas, „Die performative Bildung von Gemeinschaften“. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen siehe Wulf (Hg.), Rituelle Welten. Zum Zusammenhang zwischen Performanz und Ritual siehe oben § 3.
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spielt zweifellos in der Geburt der Tragödie und in Also Sprach Zara thustra, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, eine Rolle – wovon noch die Rede sein wird. Indessen ist sie in den Schriften, die zwischen diesen beiden Werken entstanden sind, kaum vorhanden. Denn damit sind ausgerechnet jene Bücher gemeint, in denen Nietzsche nicht nur Voltaire verherrlicht und sich auf den Geist der Aufklärung bezieht, sondern auch noch die romantische Beschwörung des Magischen und Gegenaufklärerischen, zumal in Wagners Werk, einer schonungslosen Kritik unterzieht. Aber genauso wie Nietzsches Plädoyer für die Aufklärung sonderbar und zwiespältig bereits in der Argumentation erscheint, so ist auch die Spannung offensichtlich, die zwischen dem erklärten Ziel einer aufgeklärten Wissenschaft, der Begeisterung für Montaignes Ideal des kontemplativen Lebens sowie dem für die Sentenzen der französischen Moralisten typischen konstativen Stil einerseits und dem Moment des Performativen andererseits entsteht. Der eigentliche Punkt scheint nun darin zu bestehen, dass Nietzsche an die Möglichkeit einer Trennung zwischen „Worten“ und „Sachen“ auch in seiner „aufgeklärten“ Phase nicht glaubt.21 Es ist ihm zweifellos bewusst, dass die Metaphysik mit den herkömmlichen Mitteln der abendländischen Philosophie kaum zu bekämpfen ist, weil diese eben von der Metaphysik durch und durch geprägt ist. Bevor er mit der Lehre der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen eine nicht mehr metaphysische Denk- und Lebensweise entwerfen wird, pocht Nietzsche darauf, die Metaphysik und deren Denkart auszuspielen. Dafür greift er auf das Mittel der Maske zurück, welche nicht nur ein suggestives, im Fin de siècle modisches Motiv ist, sondern auch ein wirksames Instrument dafür darstellt, die für die Metaphysik grundlegende Trennung zwischen Sein und Schein in Frage zu stellen. Wie bereits gezeigt wurde, zielt Nietzsches Aufklärung keineswegs darauf, Worte und Sachen sowie Sprechen und Denken sauber zu trennen und auseinander zu halten, sondern vielmehr darauf, aufzuhellen, wie sich diese Dimensionen in der kulturellen Hervorbringung wechselseitig bedingen. Darin ist zweifellos die durch die „rhetorische Wende“ thematisierte Durchdringung von Rhetorik und Philosophie bei Nietzsche 21 Vgl. die in § 3 bereits zitierte Feststellung in Krämer/Stahlhut, „Das ,Performative‘
als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, S. 41: „Wort und Sache, Sprechen und Handeln sind zu unterscheiden, und das bildet den Angelpunkt eines nicht-magischen, eines aufgeklärten Weltverhältnisses. Mit den ursprünglichen Performativa scheint Austin nun auf eine Art quasi magischer Sprechereignisse gestoßen zu sein, insofern ihr Status darin besteht, das, was sie sprachlich darstellen, zugleich auch wirklich zu sein“.
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begründet, die nun durch die kulturwissenschaftliche Perspektive des Performativen auf Nietzsches Kulturtheorie erweitert werden kann. Demnach erscheint Nietzsches implizites Konzept des Performativen zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches als der Versuch, Intersubjektivität und Erkenntnis auf eine Weise aufzufassen, die sich sowohl von der seit Platon durch die Metaphysik geprägten Philosophie des Abendlandes als auch von der (romantischen) Versuchung einer Regression zurück zum magisch-mythischen Zeitalter fern hält. Die Dimension des Performativen ist für Nietzsche keine Erfindung der mittleren Werke. Im Gegenteil ist sämtlichen Elementen einer Ästhetik des Performativen, so wie sie Erika Fischer-Lichte im ersten Kapitel ihres gleichnamigen Buches darstellt, in Nietzsches kulturwissenschaftlicher Analyse der Tragödie zu begegnen: der Neubestimmung der Relationen zwischen Kunst und Alltagsleben, Akteuren und Zuschauern, Material- und Zeichenhaftigkeit, Wirkung und Bedeutung; ferner des Ereignis- anstatt des Werkcharakters und schließlich der Verbindung zum Bereich des Kultischen und Rituals.22 Die gedanklichen Spuren eines impliziten Konzeptes des Performativen sind über die Tragödienauffassung hinaus in der gesamten Kulturtheorie Nietzsches nachzuweisen. Die am Beginn von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen geäußerte Absicht, bei der Darstellung der vorsokratischen Philosophen „nur den Punkt aus jedem System herauszuheben, der ein Stück Persönlichkeit ist“ (PHG , S. 801), erscheint als der Versuch, selbst die Philosophie aus der Perspektive der Umsetzung von Lehren und Gedanken in das Leben betrachten zu wollen. Was hier aber eindeutig auf die Sphäre des Performativen hinweist, ist vor allem die vom theatralischen Bereich abgeleitete Metaphorik, die Nietzsche zur Darstellung von Heraklits philosophischer Geste einsetzt: Dieser habe vom „größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen“, wobei das „Schauspiel“ nichts anderes als die „Lehre vom Gegensatz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit“ sei, nämlich Heraklits – und Nietzsches – Philosophie des Widerstreits (PHG , S. 385). Auf der Bühne des Denkens erfolgt somit die Sprengung der idealen Einheit des Dings an sich, und ein tragisches Schauspiel der Dissonanz, in dem die Metaphysik zerrissen wird, findet statt. Nietzsches performative Auffassung des Philosophierens, die er anhand des Heraklit darlegt, kulminiert in der Gleichsetzung von Philosoph und
22 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 9 – 22. Zu diesen Elementen in Nietz-
sches Tragödientheorie siehe oben § 3.
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Tragiker und mithin in der Aufwertung der Momente der Aufführung und Inszenierung (PHG , S. 817).23 Die philosophische Einsicht in die wirklichkeitskonstituierende Leistung des Performativen, insbesondere der Sprache, wird in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne eindrucksvoll dargelegt. Hier wird nicht nur die Trennung zwischen Worten und Sachen in Frage gestellt, sondern die „Wahrheit“ über die Sachen als Ergebnis sprachlich-rhetorischer Performanz dargestellt: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volk fest, canonisch und verbindlich dünken (WL , S. 881).
Dabei wird einsichtig, dass Nietzsches Kritik an der „Zwei-Welten-Ontologie“,24 nämlich der Unterscheidung zwischen einer Welt der Erscheinung und einer Welt des Übersinnlichen samt Unterordnung ersterer der letzteren, aus der alternativen Auffassung der performativen Hervorbringung geführt wird. Diese besteht in der Annahme, dass die Sinnhaftigkeit der phänomenalen Wirklichkeit keineswegs der Wahrnehmung vorgegeben oder von dieser getrennt ist, sondern durch den Vollzug letzterer konstituiert wird: Performativ erzeugter Sinn erweist sich stets als verkörperter Sinn. Damit ist ferner eine Auffassung von Sprache verbunden, nach der diese keinen bereits bestehenden Sinn zum Ausdruck bringt, sondern selbst das Moment der Sinnerzeugung übernimmt. Das Verhältnis zwischen Sinn und Sinnlichkeit wird auf diese Weise entscheidend geändert: Brachte das Sinnliche der Zwei-Welten-Ontologie zufolge den Sinn zur Erscheinung, so erscheint nun das Sinnliche vielmehr als Vollzug des Sinns.25 Nietzsches Kampf gegen die Abwertung des Sinnlichen findet in diesem Konzept von Kultur als performativer Hervorbringung und vom Sinn als Verkörperung seine eigentliche Motivation. 23 Zum Modellcharakter theatraler Aufführungen für das kulturwissenschaftliche
Konzept des Performativen siehe Krämer/Stahlhut, Das „Performative“ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie, S. 45 – 47 und die dort angeführte Literatur; Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, insbesondere S. 42 – 57; 315 – 362. 24 Krämer, „Sprach – Stimme – Schrift“, S. 33 f. Nietzsche artikuliert diese Kritik an mehreren Stellen, z. B. in Ueber Wahrheit und Lüge in aussermoralischen Sinne, S. 880. 25 Krämer, „Sinnlichkeit, Denken, Medien“, S. 33 f.
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Mit Menschliches, Allzumenschliches beginnt nun Nietzsche, das eigene Schreiben nach den Prinzipien dieses Konzeptes zu gestalten. In einer bemerkenswerten Durchdringung aller Dimensionen der Sinnbildung bestimmen diese zugleich die Rhetorik seines Stils, die Ausrichtung seines Denkens sowie die Grundlagen seiner Kulturtheorie. Nietzsches in Vermischte Meinungen und Sprüche zum Ausdruck gebrachte Auflehnung gegen die „Kunst der Kunstwerke“ lässt sich nun als konsequente Anwendung einer Ästhetik des Performativen deuten, deren Grundsatz darin besteht, die klassizistische Trennung zwischen Werk und Leben sowie zwischen Künstler und Rezipienten zu unterminieren. Diese Subversion bestehender Ordnungen und kategorialer Trennungen, die offensichtlich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, mit dem Performativen zusammenhängt, entspricht der Veranlagung des Freigeistes, so wie Nietzsche diese in Menschliches, Allzumenschliches darlegt. Der Freigeist agiert im Sinne des Performativen, indem er die „herrschenden Zeitansichten“ missachtet (MA , § 225, S. 189) und dadurch dem Denken und Handeln neue „Möglichkeiten und Richtungen“ erschließt (MA , § 228, S. 192). Im Konzept performativer Hervorbringung von Wirklichkeit liegt zweifellos das Poten tial, jener ästhetisierten Passivität entgegenzuwirken, die Nietzsche mit der Metapher des Schwebens anspricht (MA , § 24). Die spätere Lehre des Willens zur Macht lässt sich als Entwurf einer Philosophie des Performativen deuten. Im Unterschied zur Zeit seiner Tragödienschriften ist Nietzsche jedoch der kollektiven Dimension der kulturellen Produktion verlustig gegangen: Der Freigeist ist nämlich wie Nietzsche selbst ein einsamer Wanderer.26 Die postmetaphysischen Landschaften, die er durchmisst, sind dazu noch voll von Paradoxien. Denn die Wirkung performativer Prozesse, etablierte Dichotomien und kategoriale Ordnungen zu unterminieren, affiziert selbst jene begriffliche Grenzlinie, die das Performative vom Nicht-Performativen/Textuellen trennt.27 Wie bereits Hegel erkannt hatte, geraten nach dem Sturz der Metaphysik die Polaritäten des Denkens in Bewegung. Im Unterschied zu Hegel 26 Der letzte Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten endet mit den Worten: „Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen“ (WS , § 350). Zur Vereinsamung des
Menschen beim mittleren und späten Nietzsche siehe Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 159 – 177. 27 Das Kollabieren der dichotomischen Entgegensetzung von Performativen und Nicht-Performativen wurde bereits von Austin festgestellt, Sybille Krämer zufolge ja geradezu „inszeniert“. Siehe Krämer/Stahlhut, „Das ,Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, S. 37 f.
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sieht Nietzsche dennoch in dieser Bewegung keinen dialektischen Fortschritt, sondern vielmehr den leichtfüßigen Schritt des Tanzes (MA , § 278). Der Freigeist soll tanzen – aber zu welcher Musik?
11. Die Musik des Nordens
Soll der Freigeist tanzen, dann ist Wagners Musik dafür denkbar ungeeignet. Denn die „unendliche Melodie“ führt dazu, dass man „allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt“. Dies stellt Nietzsche im 134. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche fest – dort übrigens, wo zum ersten Mal in Menschliches, Allzumenschliches der Name Wagners fällt. War man in der „bisherigen älteren Musik“ auf das Tanzen eingestellt, so soll man in der neueren „schwimmen“ (VS , § 134). Damit greift Nietzsche auf eine Bewegungsart zurück, die er bereits in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung mit Wagners Musik in Verbindung gebracht hatte (UB 4, S. 468).1 Nach einer anfänglichen Unbeständigkeit in der Auswahl der Metaphern (MA , § 34), steht spätestens mit diesem Aphorismus die Gabelung fest, an der sich Nietzsche zufolge freie und gebundene Geister scheiden: das Tanzen einerseits, das Schwimmen und Schweben andererseits. An diesen Metaphern wird er bis zum Letzten festhalten.2 Die veränderte Einstellung zu Wagners Musik wird in Menschliches, Allzumenschliches zwar noch implizit, jedoch unmissverständlich als Folge einer radikalen Kritik an der Metaphysik dargestellt. Diese nimmt zunächst die Gestalt einer Abrechnung mit der Romantik an, und zwar auch im musikalischen Bereich. Nietzsches neue Positionierung erfolgt nicht auf der Basis der musikästhetischen und -kritischen Kategorien der Zeit, sondern vielmehr werden diese durch die Folie der Metaphysik-Kritik betrachtet. Daher ist jeder Versuch, Nietzsches Musikauffassung in den musikästhetischen Diskurs seiner Zeit einzuordnen, verfehlt. Wenn auch Nietzsche punktuell Meinungen und Positionen, die aus jenem Diskurs stammen, kommentiert oder gar übernimmt, bleibt er insgesamt doch außerhalb desselben. Die eigentliche Bedeutung von Nietzsches Musikdenken kommt erst 1 Siehe dazu oben § 7. 2 Zur Metapher des Tanzens bei Nietzsche siehe u. a. Deppermann, „Semiotik der
,großen Loslösung‘“; Tietz, „Musik und Tanz als symbolische Formen“; Müller Farguell, Tanz-Figuren, S. 267 – 347. Zur architektonischen Metaphorik dieser Kritik siehe Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 109 f.
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dann zum Tragen, wenn man darauf verzichtet, es durch Kategorien erfassen zu wollen, die aus Hanslicks Musikästhetik oder aus dem Streit über Programm- und absolute Musik hergeleitet sind. Zwar nähert er sich in seiner mittleren Phase den positivistischen und formalistischen Positionen an, streift sie jedoch lediglich, um eine Perspektive zu eröffnen, in der diese Positionen und ihre Gegensätze jegliche Orientierungsfunktion eingebüßt haben. Diese Perspektive ist diejenige eines postmetaphysischen Denkens. Darin ist Nietzsches Musikästhetik einzubetten. Trotz der Inszenierung des Bruches, die allerdings in Ecce homo zurückgenommen wird, besteht eine gewisse Kontinuität auch in Bezug auf die Wagner-Kritik, die bis zurück in die mittleren Basler Jahre reicht. In den nachgelassenen Fragmenten, welche im Sommer 1875 im Umkreis der vierten Unzeitgemässen Betrachtung: Wagner in Bayreuth entstanden sind, befinden sich einige Bemerkungen, die hinsichtlich Nietzsches späterer Einstellung zur Romantik auffallen. Er stellt dabei fest, dass es „Elemente in Wagner“ gibt, „die reaktionär erscheinen: das Mittelalterlich-christliche, die Fürstenstellung, das Buddhaistische; das Wunderhafte“ (NL 8, S. 190).3 Hier spricht die Abneigung gegen das Mittelalter aus dem klassischen Philologen. Dennoch versucht Nietzsche zu jener Zeit, das Gewicht dieser „Elemente“ bei Wagner zu relativieren: „Diese Dinge sind bei dem Künstler künstlerisch, nicht dogmatisch zu nehmen. Auch das National-Deutsche gehört hierzu“ (ebd.). Diesen Relativierungsversuch wird Nietzsche bald aufgeben.4 Im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches lehnt er mit Abscheu die „romantische Rückkehr und Fahnenflucht“ sowie „eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form“ ab (MA , § 109, S. 108). Im zweiten Band wird schließlich dieser Frage ein langer Aphorismus gewidmet, in dem die explizite Wagner-Kritik, in eine kulturtheoretische These eingebettet, ausgeführt wird. Wie bereits im Titel des Aphorismus, Die Musik als Spätling jeder Cultur, angedeutet wird, besagt diese These, dass unter allen Künsten, die auf dem Boden einer bestimmten Kultur aufwachsen, die Musik die letzte sei, die zur Blüte kommt.5 Sie läute daher wie 3 Die früheste explizite, überraschend scharfe Wagner-Kritik in den Notizen stammt von Anfang 1874, siehe NL 7, S. 756 ff. Hier ist aber noch zuweilen eine feindliche
Einstellung der Aufklärung gegenüber festzustellen, siehe ebd. S. 780; 782; 784 f.
4 Sowohl die Feststellung als auch der Rechtfertigungsversuch fanden in der veröf-
fentlichten Schrift keine Erwähnung.
5 Zur Kontextualisierung dieses Gedankens im deutschen Idealismus siehe Reschke,
„,Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum‘“, S. 209.
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die „Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät“ (VS , § 171, S. 450). Erst in der Musik der Niederländer habe die „Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang“ gefunden und erst in Händels Musik sei „das Beste von Luther’s und seiner Verwandten Seele“ erklungen. Mit Mozart habe die Zeit Ludwigs des XIV . ihre Musik gefunden und mit Beet hoven und Rossini habe das 18. Jahrhundert sich aussingen können. Nicht nur zeigen alle diese Beispiele, dass die „wahrhafte bedeutende Musik“ „Schwanengesang“ sei oder, wie Renate Reschke hervorhebt, dass sie die Rolle der Vermittlung zwischen den Epochen übernimmt,6 sondern auch, dass sie keine überzeitliche und allgemeine „Sprache“ darstellt. Im Gegenteil zu den verbreiteten Ansichten sei sie „zeitlich und örtlich gebunden“ und daher vergänglich. Die eigentliche Pointe wird jedoch erst dann erreicht, wenn Nietzsche diese kulturtheoretische These auf „unsere neueste deutsche Musik“ anwendet. Diese wird „in kurzer Zeitspanne“ ebenso wenig verstanden werden, als die vorausgegangene, denn sie „entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist“: […] ihr Boden ist jene Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind (VS , § 171, S. 450 f.).
Die in den Nachlass-Fragmenten aus dem Sommer 1875 bereits aufgetauchte Feststellung reaktionärer „Elemente“ in Wagners Kunst wird drei Jahre später in dem Zusammenhang einer kulturgeschichtlichen Darstellung erneut einer Betrachtung unterzogen. Nun erscheinen diese Elemente zwar in einem kritischen Licht, ihnen wird jedoch historische Notwendigkeit und Größe zuerkannt.7 Der „Wagnerischen Kunst“ wird aber die Zukunft abgesprochen und damit freilich das Wesentliche am künstlerischen Anspruch, den Wagner mit Nachdruck erhoben hatte.8 Dass dabei das romantische Gefühl als katholisch be6 Ebd., S. 210. 7 Kurz darauf stellt Nietzsche fest, dass Kunst und Dichtungen in den „Restaurations-Zeiten“ einen „natürlichen Boden“ finden (VS , § 178, S. 456 f.). Dazu
Reschke, „,Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum‘“, S. 213: „Wagners Musik war für Nietzsche modern und anachronistisch in einem“. 8 Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“.
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zeichnet wird, verschärft für den Lutheraner Wagner die Kritik zu einer Provokation, die ihn in umso heftigeren Zorn versetzen musste, als sie von seinem ehemaligen Verbündeten Nietzsche stammte. Nietzsches Kritik ist unverblümt als Feststellung formuliert und richtet sich sowohl gegen die kulturelle als auch die politische Seite des Phänomens Wagner: […] dieser Geist [von Wagners Musik] führt den allerletzten Kriegsund Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft (VS , § 171, S. 451).
Die Verbindung zwischen dem romantischen „Wunderhaften“ und dem „heimisch-nationalen Wesen und Urwesen“ bringe Wagner zu Stande, indem er sich die „altheimischen Sagen“ aneignet. Deren Gestalten seien von ihm dadurch neu beseelt, dass er ihnen „den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung“ verlieh (ebd.). Nun gab es vor Nietzsche bereits eine mit seiner vergleichbare Romantik-Kritik, die ebenso wie jene Nietzsches im Spannungsverhältnis zwischen der Empfänglichkeit für die Faszination ihres Gegenstandes einerseits und der scharfen Ablehnung ihres reaktionären Charakters andererseits stand, nämlich diejenige Heinrich Heines. In dessen 1836 erschienenem Essay über Die romantische Schule sind die Grundzüge von Nietzsches späterer Kritik deutlich zu erkennen. Daher lohnt es sich, näher darauf einzugehen.9 Am Beginn der Schrift erwähnt Heine diejenigen Merkmale, denen ihm zufolge konstitutive Bedeutung für die romantische Dichtung zukommt, nämlich die „Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters“ sowie die Rückbesinnung auf das Christentum.10 Damit meint aber Heine lediglich den „römischen Katholizismus“, dem er die „Verdammnis des Fleisches“ und jeglicher Sinnenfreude vorwirft. Es ist 9 Soweit ich sehe, wurde bisher dieser Aspekt in der Literatur über das Verhältnis
Heine – Nietzsche übersehen. Vgl. Spencer, „Heine and Nietzsche“; Grimm, „Antiquity as Echo and Disguise“; Duncan, „Heine and Nietzsche“; Friedl, „Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche“; Del Caro, „Heine’s ,Deutschland. Ein Wintermärchen‘ Reflected in Nietzsche“; Höhn, „,Farceur‘ und ,Fanatiker des Ausdrucks‘“, mit einer ausführlicheren Literaturangabe; Midgley, „Heine bei Nietzsche“. Zu Wagner und Heine siehe u. a. Prox, „Wagner und Heine“; Borchmeyer, „Die feindlichen Brüder: Wagner und Heine“. 10 Heine, „Die romantische Schule“, S. 361.
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zwar fraglich, ob die reformierte Kirche der Sinnlichkeit mehr Toleranz als die katholische entgegenbrachte, jedoch besteht kein Zweifel, dass die romantische Hinwendung zum christlichen Mittelalter durch die katholische Symbolik geprägt war, wie auch die von Heine selbst erwähnte reihenweise Bekehrung namhafter Vertreter der „Schule“ deutlich erscheinen lässt.11 Doch bleibt Heines auffälliger Versuch, die Reformation bei dieser Kritik zu verschonen, nur eine kurze Episode in seiner essayistischen Tätigkeit als Kulturhistoriker, denn in der 1834 verfassten und im Januar 1835 durch die Zensur verstümmelt erschienenen Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland richtet sich der Vorwurf in erster Linie und in aller Schärfe an Luther selbst, der sozusagen die Kompromissbereitschaft der katholischen Kirche der Sinnlichkeit gegenüber und damit „die menschliche Natur“ verkannt habe.12 Gerade an diese Kritik knüpft der lutherische Pastorensohn Nietzsche an, der ebenso in der Romantik einen „gewisse[n] Katholizismus des Gefühls“ sieht, beim „romantischen Wagner“ die trübe Ambivalenz dieser „katholischen“ Verdammnis des Fleisches erkennt und dementsprechend vom „christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung“ spricht. Heine zufolge zeigen die Kunstwerke des Mittelalters die „Bewältigung der Materie durch den Geist“, ja diese sei „oft sogar ihre ganze Aufgabe“, wie es in der Baukunst besonders evident erscheine: „Wir fühlen hier die Erhebung des Geistes und die Zertretung des Fleisches“.13 Nietzsches wiederholte Kritik an der repressiven Sublimierung ist in diesen Ausführungen Heines bereits angelegt.14 Sogar der Begriff selbst wird bei ihm verbalisiert, und zwar dort, wo Heine das geistliche Rittertum des Mittelalters anspricht. Diese Stelle liest sich beinahe wie der Entwurf von Wagners Werkverzeichnis und verdient daher, ausführlich zitiert zu werden: 11 Ebd., S. 380 f. 12 Heine, „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, S. 531 – 534. 13 Heine, „Die romantische Schule“, S. 364; 369. 14 Man vergleiche insbesondere VS , § 95, in dem Nietzsche behauptet, dass „die Men-
schen der sublimirten Geschlechtlichkeit“ im „Christenthum ihren Fund gemacht“ haben. Dem setzt Nietzsche „das Heidnische“ der Griechen entgegen, welches eben aus dem „Christenthum“ nicht begriffen werden kann (VS , § 220, S. 473). Die Griechen „leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Culte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben zu können. Dies ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altherthums“ (ebd.).
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Nun aber, aus der christlich spiritualisierten Kraft, entfaltet sich die eigentümlichste Erscheinung des Mittelalters, das Rittertum, das sich endlich noch sublimiert als ein geistliches Rittertum. Jenes, das weltliche Rittertum, sehen wir am anmutigsten verherrlicht in dem Sagenkreis des Königs Artus, worin die süßeste Galanterie, die ausgebildetste Courtoisie und die abenteuerlichste Kampflust herrscht. Aus den süß närrischen Arabesken und phantastischen Blumengebilden dieser Gedichte grüßen uns der köstliche Iwein, der vortreffliche Lanzelot vom See und der tapfere, galante, honette, aber etwas langweilige Wigalois. Neben diesem Sagenkreis sehen wir den damit verwandten und verwebten Sagenkreis vom »heiligen Gral«, worin das geistliche Rittertum verherrlicht wird, und da treten uns entgegen drei der grandiosesten Gedichte des Mittelalters, der »Titurel«, der »Parzival« und der »Lohengrin«; hier stehen wir der romantischen Poesie gleichsam persönlich gegenüber, wir schauen ihr tief hinein in die großen leidenden Augen, und sie umstrickt uns unversehens mit ihrem scholastischen Netzwerk und zieht uns hinab in die wahnwitzige Tiefe der mittelalterlichen Mystik. Endlich sehen wir aber auch Gedichte in jener Zeit, die dem christlichen Spiritualismus nicht unbedingt huldigen, ja worin dieser sogar frondiert wird, wo der Dichter sich den Ketten der abstrakten christlichen Tugenden entwindet und wohlgefällig sich hinabtaucht in die Genußwelt der verherrlichten Sinnlichkeit; und es ist eben nicht der schlechteste Dichter, der uns das Hauptwerk dieser Richtung, »Tristan und Isolde«, hinterlassen hat. Ja, ich muß gestehen, Gottfried von Straßburg, der Verfasser dieses schönsten Gedichts des Mittelalters, ist vielleicht auch dessen größter Dichter, und er überragt noch alle Herrlichkeit des Wolfram von Eschilbach, den wir im »Parzival« und in den Fragmenten des »Titurel« so sehr bewundern.15
Bei Heine könnte Nietzsche auch die Anregung dazu gefunden haben, die nationalistische Gesinnung, welche die romantische Hinwendung zum christlichen Mittelalter treu begleitet, nicht nur entschieden abzulehnen, sondern auch noch mit ironischem Spott der Lächerlichkeit preiszugeben: […] der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Als endlich der deutsche Patriotismus und die deutsche Nationalität vollständig siegte, triumphierte auch definitiv die volkstümlich germa15 Ebd., S. 365 f.
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nisch christlich romantische Schule, die »neu-deutsch-religiös-patriotische Kunst«.16
Bei der Abwendung von der in der Geburt der Tragödie noch reichlich vertretenen deutsch-nationalen Gesinnung und der entsprechenden Hinwendung zum Europa-Gedanken fand Nietzsche im Exilanten Heine ein glänzendes Vorbild, dessen Anerkennung auch noch zu Nietzsches Bekehrung zum „Anti-Antisemitismus“ beigetragen haben dürfte.17 Bereits im Nachlass aus dem Frühling und Sommer 1875 hatte Nietzsche Kunst und Religion als „Betäubungen“ bezeichnet (NL 8, S. 85). Im selben Heft ist zu lesen: „Die Kunst als rückständig und gegen die Aufklärung, im Ganzen wirkend“ (ebd., S. 87).18 Im 29. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches bezeichnet Nietzsche zwar Kunst und Religion als „Irrthum“, jedoch formuliert er dieses Urteil derart, dass man nicht unbedingt eine Aufforderung zur Beseitigung derselben herauslesen kann: Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen (MA , § 29).
Nietzsche greift somit auf eine Blumenmetaphorik zurück und fügt dem bereits bewunderten Farbenreichtum (MA , § 16) die dazugehörigen Düfte hinzu. Was aber an diesem Aphorismus auffällt, ist, dass die Zuordnungen umdisponiert und umgewertet werden: Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend (MA , § 29).
16 Ebd., S. 379; 380. 17 Nietzsche wird später Heine wiederholt in Zusammenhang mit einer europäischen Dimension der Kultur bringen, siehe JGB , § 254; § 256; GD , S. 106 f.; S. 125; NL 11, S. 472, 583; NL 13, S. 532 f. Frühe kritische Äußerungen über das national „Deutsche“ befinden sich in MA , § 203; 221; 408; VS , § 170; 302; 319; 323; 324; WS , § 91; 95; 125; 214; 216. Vorher noch in den Notizen aus dem Anfang 1874,
wobei auch zu lesen ist: „Gegen die Überschätzung des Staates, des Nationalen. J[akob] B[urckardt]“ (NL 7, S. 780). Bei Heine findet man auch eine Formulierung der Wiederkunftslehre, siehe dazu Groddeck: „,Übermensch‘ und ,ewige Wiederkunft‘“, S. 202 f. 18 Siehe auch NL 8, S. 322. bzw. S. 382.
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Religion und Kunst, der Wagner’schen Schopenhauer-Vulgata zufolge die einzig zum Wesen der Welt führenden Wege, werden nun als „Irrthümer“ der Welt als Vorstellung zugeordnet, dabei aber für das Leben höher eingeschätzt als das reine Erkennen des Wesens. Wiederum hält sich Nietzsche von Metaphysik und Positivismus äquidistant. Aber auch der häufig gegen ihn erhobene Vorwurf des Irrationalismus verfehlt, sein Denken zu charakterisieren. Das „Unlogische“ ist ihm zufolge zwar notwendig (MA , § 31), jedoch ist es keineswegs als ein dem Rationalismus alternativer Weg zur Wahrheit, sondern als Kultur hervorbringender Irrtum zu betrachten.19 Unter diesen merkwürdigen Umständen stellt sich erneut die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe einer nicht länger metaphysisch gerichteten, „strengen“ Philosophie. Nietzsches Antwort im letzten Aphorismus dieser ersten Gruppe macht sowohl die Verschiebungen als auch die Kontinuitäten in seinem Denken sinnfällig. In der ersten Fassung der Reinschrift wiederholt er die Ansichten, die bereits in Ueber das Pathos der Wahrheit und in Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne gewonnen wurden: „Meine Philosophie wird zur Tragödie. Die Wahrheit wird dem Leben, dem Besseren feindlich“.20 In der Druckfassung fügt er am Ende beider Sätze ein Fragezeichen hinzu (MA , § 34, S. 53). Im dritten, der Religion gewidmeten Hauptstück greift Nietzsche dies abermals auf: Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nötig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute (MA , § 109, S. 108).
An diesem Aphorismus ist deutlich zu vernehmen, wie weit Nietzsche selbst dort vom Positivismus entfernt bleibt, wo er die Religion einer scharfen Kritik unterzieht. Vergleichbar ambivalent ist seine Einstellung der romantischen, durch religiöse Vorstellungen durchtränkten Musik gegenüber: 19 Siehe dazu auch die aus dem Sommer 1876 stammende Notiz 17[2] im NL 8,
S. 296. Gegen den Irrationalismus-Vorwurf an Nietzsche siehe u. a. Picht, Nietzsche, S. 160 – 169. 20 Zit. nach Colli/Montinari, Kommentar zu Band 1 – 13, S. 34. Siehe auch NL 8, § 21[53], S. 374 (Ende 1876–Sommer 1877): „Wir müssen das Reich der Unwahrheit in uns halten: dies ist die Tragödie“.
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Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik (MA , § 131).21
Wenn man an einer solchen Musik noch Freude hat, kann man sie schwer ästhetisch verurteilen, gründet ja das ästhetische Urteil auf dem Wohlgefallen. Selbst Beethovens Musik „macht dem Denker das Herz schwer“, indem sie – zum Beispiel „bei einer Stelle der neunten Symphonie“ – ein „Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite“ hervorbringt (MA , § 153). Was hier durchblitzt, ist eine für den A-Moralisten Nietzsche merkwürdige Ethik des Freigeistes: Wird er [der Freigeist] sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt (MA , § 153).
Dass es sich dabei keineswegs um ein rein ästhetisches Urteil handelt, zeigt die Metaphorik deutlich, derer sich Nietzsche bedient. Man versuche ja nicht, von einer verlorenen Geliebten deshalb fern zu bleiben, weil sie nicht oder nicht mehr schön sei, sondern weil man es als schädlich oder als Zeichen von Charakterschwäche betrachtet, sich nach ihr zu sehnen. Eine Musik, die metaphysische und religiöse Gefühle erweckt, erscheint dem Freigeist als eine Art Versuchung, der er widerstehen soll, will er nicht in den Zustand der Sucht zurückfallen, der den gebundenen Geist kennzeichnet. Wie Kant und Schiller sieht nun Nietzsche in der Musik eine Gefahr für die Freiheit des Geistes,22 jedoch nicht wegen ihrer sinnlichen Reize, sondern im Gegenteil aufgrund ihrer Fähigkeit, metaphysische Vorstellungen anzuregen. Damit liefert er abermals eine spektakuläre Umdrehung bestehender Ansichten. Nietzsches neu eingetretene Abkühlung der Kunst gegenüber trifft zweifellos die Musik am schwersten, war doch ausgerechnet sie diejenige Kunst, durch die das Wesen der Welt zu uns hätte sprechen sollen. Im vierten, den Künstlern und Dichtern gewidmeten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches wird darüber Klarheit geschaffen: „An 21 Siehe auch MA , § 219. 22 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53, S. 266 f.; Schiller, „Über die ästhetische Erziehung
des Menschen“, 22. Brief, S. 67 f.
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sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ,Willen‘, vom ,Dinge an sich‘“ (MA , § 215).23 Nietzsches Dekonstruktion der metaphysischen Werte entlarvt die vermeintliche Unmittelbarkeit, welche die romantische Musikästhetik in der Musik zu erkennen glaubt, als Ergebnis eines langwierigen Prozesses der Zuschreibung und Auferlegung symbolischer Gehalte. Demzufolge stelle die Bedeutsamkeit der Klänge keineswegs eine primäre Eigenschaft der Musik dar, sondern sei ein Werk des menschlichen Intellekts, welches vorzüglich durch die „uralte Verbindung mit der Poesie“ zustande gekommen sei (ebd.). Nietzsche bleibt aber bei der Entlarvung der vermeintlichen Unmittelbarkeit musikalischen Bedeutens nicht stehen und erweitert seine genealogische Untersuchung auf das intermediale Verhältnis zwischen Gebärde, Sprache und Ton. Die ursprüngliche Verbindung eines Ausdrucksinhalts mit einer diesen begleitenden Gebärde ermögliche in einer späteren Zeit, wenn diese Verbindung bereits assimiliert worden ist, sich durch die Gebärde allein zu verständigen. Zur Gebärde kann noch ein Ton hinzukommen, der aufgrund desselben Vorgangs mit der Zeit fähig werde, durch sich selbst Bedeutung zu transportieren: Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Behülfe sofort symbolisch verstanden wird (MA , § 216).
Der Gegensatz zwischen „dramatischer“ und „absoluter“ Musik, an dem sich die musikkritischen und -ästhetischen Geister in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiden, wird aufgelöst. Denn die „absolute“ Musik zeichnet sich in Nietzsches Genealogie nicht länger dadurch aus, dass sie als reines Formenspiel rezipiert wird, sondern erscheint vielmehr als eine Musik, deren symbolische Bedeutung auch ohne „Behülfe“ von Gestik oder Wort vernommen wird. Es wird somit deutlich, wie wenig Nietzsche als ein Befürworter des Formalismus betrachtet
23 Siehe auch NL 8, § 23[52].
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werden kann.24 Vielmehr wird im Aphorismus der Gedanke ausgedrückt, dass (musikalische) Form „sedimentierter Inhalt“ sei – eine Auffassung nämlich, die in dieser Formulierung in Adornos Ästhetischer Theorie vertreten wird.25 Eine Relativierung der vermeintlichen, metaphysisch bedingten Unmittelbarkeit von Musik hatte Nietzsche bereits im Fragment über Musik und Wort (1871) erzielt, als er im krassen Widerspruch zu Schopenhauer den Willen als eine Erscheinung betrachtete, deren Äußerungen in Lust- und Unlustempfindungen bestünden.26 Trotz dieser Rückführung des Schopenhauer’schen Willens in die Welt der Vorstellung konnte Nietzsche die Sonderstellung der Musik noch emphatisch behaupten,27 und zwar mit dem Argument, der Wille sei unter den Erscheinungen die „allgemeinste“. Da der nicht länger metaphysisch aufgefasste Wille „den Gehalt“ der Musik darstelle, sei diese zwar mit einer Erscheinung verbunden, jedoch immerhin mit der „allgemeinsten“ von allen (NL 7, S. 361). In Menschliches, Allzumenschliches nimmt nun Nietzsche bezüglich der Musik und ihres vermeintlichen Vorrangs unter den Künsten eine ernüchterte Haltung ein, wobei polemische Akzente gegen die romantische Musikbegeisterung deutlich zu vernehmen sind. Wiederum ist festzustellen, dass die Bedeutung von Nietzsches Musikästhetik verfehlt wird, wenn diese in die etablierten Kategorien des musikkritischen Diskurses seiner Zeit hineingezwungen wird. Nietzsche dekonstruiert die Opposition zwischen „absoluter“ und „dramatischer“ Musik, wirft aber dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen sinnlicher Präsenz der Klänge und deren hermeneutischer Indienstnahme als Bedeutungsträger auf. Die drei musikbezogenen Aphorismen 215, 216 und 217 sowie der thematisch rekurrierende 218 liefern ein klares Beispiel für das, was als Nietzsches Denken des Widerspruchs bezeichnet worden ist, denn sie stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Im ersten Aphorismus dieser Gruppe werden diejenigen, welche Musik „rein formalistisch“ empfinden, als rückständig bezeichnet, wohingegen „die Fortgeschrittenen“ 24 Siehe hingegen Dufour, „L’Ésthetique musicale formaliste de ,Humain trop hu-
main‘“ und ders., L’esthétique musicale de Nietzsche. Die Inkonsistenz dieser These wird deutlich gezeigt in Landerer, „Neuerscheinungen zum Thema Nietzsche und die Musik“, S. 443 – 446. 25 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 217. 26 Siehe oben § 6. 27 Im Fragment über Musik und Wort erklärt Nietzsche Schillers Gedicht an die Freude dem „dithyrambischen Welterlösungsjubel“ der Beethoven’schen Musik gegenüber als „incongruent“ (NL 7, S. 366).
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dieselbe Musik „symbolisch verstehen“ würden (MA , § 215).28 Im zweiten Aphorismus übernimmt Nietzsche die Beobachtungsperspektive letzterer und befindet, wie bereits erwähnt, dass die „absolute Musik“ eigentlich eine Musik sei, „in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird“ (MA , § 216). Aufgrund der zunehmenden Ausrichtung auf die symbolische Dimension führe aber eine solche Entwicklung zur „Entsinnlichung der höheren Kunst“ – so lautet der Titel des dritten Aphorismus: Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwicklung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr „Lärm“, weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet“ und nicht mehr nach dem „es ist“ fragen etwas abgestumpft worden (MA , § 217. Hervorhebung von Nietzsche).
Die symbolische Rezeptionsweise von Musik sei also fortschrittlich, sie bestimme die Entwicklung der „neuen“, „intellectualer“ gewordenen Musik, die deswegen als eine „höhere“ Kunst zu bezeichnen sei. Und dennoch schlägt der musikalische Fortschritt durch eine Art „Dialektik der Aufklärung“ 29 in die Barbarei um: 28 Landerer sieht hingegen in diesem Aphorismus den Nachweis, dass Nietzsche „nun
eine formalistische Ästhetik entwickelt“, schränkt aber seine Behauptung wieder ein, indem er anmerkt, dass Nietzsches „Lehre vom symbolhaften Ausdruck für das Formalistenlager untypisch“ ist (ders., „Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik“, S. 56). Am Ende seines Artikels resümiert Landerer die Ergebnisse seiner Einflussbestimmung folgendermaßen: „In seiner Musikästhetik scheint mir Nietzsche ein Denker ,auf dem Weg zu Formalismus‘ zu sein, ein theoretischer Reisender, der sich zwar von einem Lager [Wagners Gefühlsästhetik] entfernt, ohne je ganz im anderen anzukommen“ (ebd., S. 58). Wobei Landerer selbst feststellen muss, dass auch der frühe Nietzsche, wie das aus 1871 stammende Fragment über Musik und Wort bezeugt (siehe oben § 6), der Gefühlsästhetik sehr kritisch gegenüberstand. Im Unterschied zu Dufour, der gegen jegliche Evidenz bei seiner These, der mittlere und späte Nietzsche sei aufgrund von Hanslicks Einfluss zu einem Formalisten geworden, bleibt, erkennt Landerer, dass das von ihm übernommene Modell eines durch Wagner beeinflussten frühen Nietzsche und eines durch Han slick beeinflussten mittleren und späten Nietzsche keine angemessene Hermeneutik darstellt. Es fehlt nur noch der entscheidende Schritt, nämlich einzusehen, dass Einflussbestimmung und Lagerdenken ungeeignete Mittel sind, Nietzsches Denken adäquat zu erfassen, am wenigsten aber dessen innovative Aspekte. 29 Ich verdanke diese an Adorno und Horkheimer anspielende Formulierung Andreas Dorschel, mündliche Mitteilung.
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Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in’s Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer an Stelle des Seienden – und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen (MA , § 217).
Die Aufwertung der sinnlichen Sphäre, die hier deutlich zum Tragen kommt, ist eines der ältesten Anliegen Nietzsches. Sie bildete bereits in der frühen Baseler Zeit das Fundament seiner Platon-Kritik.30 Hinter der veränderten Einstellung zu Wagner und der romantischen Musikmetaphysik waltet also die Kontinuität eines Denkens, welches geradezu auf paradoxe Weise für die Sinne gegen den Sinn eintritt. Wie in Nietzsches Schreibstil bezüglich der Mündlichkeit wird hierin die Instanz der Andersheit als widerstreitende, Spannung erzeugende Kraft für die Äußerung beziehungsweise Gedankenbildung konstitutiv. Nietzsches Gunst gilt in diesem Aphorismus keineswegs dem Formalismus, sondern einer Ästhetik der Präsenz, welche die sinnliche Wahrnehmung vor der Präpotenz des Geistes in Schutz nimmt. Sowohl die Aktualität einer solchen Ästhetik als auch die Kohärenz mit der Metaphysikkritik werden einsichtig, wenn man folgende Stelle aus Hans Ulrich Gumbrechts Buch Diesseits der Hermeneutik in Hinblick auf Nietzsche liest: Wenn man einem präsenten Ding einen Sinn zuschreibt – d. h. wenn man sich eine Vorstellung davon macht, was dieses Ding im Verhältnis zu einem selbst sein mag –, vermindert man offenbar die Wirkung, die dieses Ding auf den eigenen Körper und die eigenen Sinnesorgane haben mag. Entsprechend wird hier auch das Wort „Metaphysik“ gebraucht. […] Das Wort „Metaphysik“ bezieht sich auf eine Alltagseinstellung wie auch auf eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, die dem Sinn der Phänomene einen höheren Wert beimißt als ihrer materiellen Präsenz.31
Nietzsches Anspielung auf die Barbarei, in die der Fortschritt führe, ist keine rhetorische oder polemische Geste, sondern weist in seiner Argumentation eine gewisse Konsistenz auf. Denn aufgrund der durch den Intellektualisierungsprozess eintretenden Vergröberung der Sinne sei das ursprünglich diesen feindselig gegenüberstehende Hässliche von der Musik erobert worden, und sein Machtbereich, nämlich der „Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnisvollen“, habe 30 Nietzsche, Einführung in das Studium der platonischen Dialoge, KGW II , 4,
S. 152 f.
31 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 11.
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eine erstaunliche Erweiterung erfahren (MA , § 217). Barbarisch erscheint somit Nietzsche die „Formlosigkeit“, die mit den erwähnten Ausdrucksbereichen verbunden ist und historische Größe mit Shakespeare und dem Goethe des Faust erreicht habe (MA , § 221). Als impliziter Gegenbereich zeichnet sich eine Art von Klassizismus ab, der sich allerdings in einem wie auch immer abgestimmten Bezug auf das antike Griechenland nicht erschöpft. Denn im nachfolgenden Aphorismus ist von einer mysteriösen Aura des „Unheimlich-Erhabenen“ die Rede, die ursprünglich das griechische ebenso wie das christliche Gebäude umgeben habe und in der „unausschöpflichen Bedeutsamkeit“ der „Symbolik der Linien und Figuren“ begründet gewesen sei. Es handelt sich dabei um eine durch „Götternähe und Magie“ geweihte Symbolik, die von der hinzukommenden Schönheit der Formen nicht beeinträchtigt gewesen sei, die aber von den modernen Menschen nicht mehr verstanden werde. Letztere bleiben somit auf eine äußerliche Schönheit fixiert, die jedoch nur einen Rest von einem ehemaligen Ganzen ausmache und daher wie „das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes“ wirke (MA , § 218). Diese vier Aphorismen lassen sich in kein einheitliches Bild zusammenführen.32 Selbst die Befürwortung einer materialistischen Ästhetik der Präsenz wird durch den chauvinistischen Schluss des letzten Aphorismus relativiert.33 Nietzsches performatives Denken erinnert uns daran, dass die eigentlich produktive Beziehung zwischen Sinnen und Sinn weder in der hermeneutischen Herrschaft des Geistes noch in der Revanche des Essentialismus, die bei Gumbrecht oft mitklingt, sondern in der Spannung des Widerstreits besteht.
32 Zu Nietzsches Neigung, Konstellationen von alternativen Entwürfen zustande zu
bringen, siehe Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 43 – 47. Pfotenhauers Beispiele sind besonders interessant, weil sie sich auf die Zeit der Geburt der Tragödie beziehen und ja auch die Beziehung zu Wagner betreffen. 33 Im Bezug auf § 218 „Der Stein ist mehr Stein als früher“ spricht Fritz Neumeyer von einer materialistischen Ästhetik. Durch den Titel wird Neumeyer zufolge klar, dass Nietzsche aus dem Verlust der Fähigkeit, die symbolische Bedeutung alter Bauten zu verstehen, „eine positive Bilanz“ zieht, denn „durch seinen metaphysischen Bedeutungsverlust“ vermag der Stein „zu sich zu kommen, nämlich ,mehr‘ Stein zu sein als früher (Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 151).
12. Der europäische Wanderer und sein asiatischer Schatten
Als im Frühling 1879 Kopfschmerzen und Augenbeschwerden häufiger und stärker werden, beschließt Nietzsche, seine Professur endgültig niederzulegen. Am 2. Mai richtet er ein Entlassungsgesuch an die Behörde, am 14. Juni erhält er die Entlassungsurkunde vom Regierungsrat des Kantons Basel. Lapidar äußert er sich darüber in einem Brief an Paul Widemann, Komponist und Schriftsteller sowie Freund von Heinrich Köselitz alias Peter Gast: „Ich habe meine Professur niedergelegt und gehe in die Höhen“ (SB 5, S. 412). Tatsächlich plant Nietzsche einen einsamen Sommer in den Schweizer Bergen. Über Zürich erreicht er zunächst Wiesen bei Davos und verbringt dort drei Wochen. Am 21. Juni ist Nietzsche in St. Moritz im oberen Engadin, wo er bis Mitte September bleibt. Hier entstehen die Aphorismen von Der Wanderer und sein Schatten, welche zunächst als selbstständige Publikation erscheinen und 1886 zusammen mit Vermischte Meinungen und Sprüche als zweiter Teil von Menschliches, Allzumenschliches neu verlegt werden. Nietzsche spürt in seinem auf etwas über 1800 Metern Seehöhe gelegenen Aufenthaltsort eine sofortige wie paradoxe Erleichterung: Schmerzen und Anfälle dauern zwar an, jedoch fühlt er sich nun in der Lage, diese besser zu ertragen. Nicht einmal das ungewöhnlich schlechte Wetter vermag sein Behagen vor Ort zu verderben. Seine Erklärung dafür teilt er in mehreren Briefen an Mutter, Schwester und engste Freunden mit (SB 5, S. 420; 421; 423; 424; 425; 428): Er spürt im oberen Engadin eine Verwandtschaft mit der dortigen Natur, ein beglückendes Gefühl, das er im Aphorismus Doppelgängerei der Natur (WS , § 338) zum Ausdruck bringt. Unter welchen existenziellen Bedingungen seine Gedanken entstehen und wie sie auf Papier fixiert werden, erzählt Nietzsche einige Monate später seinem Arzt Otto Eiser: Meine Existenz ist fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte – diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle
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Der europäische Wanderer
Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl einer Halblähmung, zur Abwechslung wüthende Anfälle (der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen […]. Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven. Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien (SB 6, S. 3 f.).
In einem Brief an Köselitz äußert Nietzsche seinen Stolz darüber, dass in der unter solchen Umständen verfassten Schrift keine „Spuren des Leidens und des Druckes zu finden sind“ (SB 5, S. 442). Dieser bemerkenswerte Gegensatz zwischen körperlicher Qual und beglücktem seelischem Zustand erinnert an die mystische Entzweiung christlicher Märtyrer, worauf auch Nietzsche im oben zitierten Brief mit seiner Wortwahl anspielt. Die Gedanken von Der Wanderer und sein Schatten sind im Kampf gegen Schmerz und Krankheit entstanden und ihre aphoristische Formulierung stellt auch eine Konsequenz der Einschränkungen dar, die Nietzsche als körperlich Leidender und Sehbehinderter zu erdulden hatte. Was aber Nietzsches eigentümliche Befindlichkeit von jener heroischen Erhebung des Geistes über die menschliche Natur unterscheidet, aus der Friedrich Schiller zufolge die Würde besteht,1 ist, dass im Widerstreit zwischen Leiden und Denken der Geist keineswegs über den Körper triumphiert, sondern im Gegenteil sich verkörpert, um Schmerz und Krankheit zu besiegen. Auf die Verschränkung zwischen Körperlichem und Geistigem weist bereits Nietzsches Metaphorik hin: Er geht „in die Höhen“ des oberen Engadins (SB 5, S. 412), wo seine „erkenntnißdurstige Freudigkeit“ ihn ebenfalls „auf Höhen bringt“ (SB 6, S. 3). Von dort nimmt er die Vogelperspektive ein, aus der sich eine besonders gefährliche Gegend allein anblicken lässt (WS , § 138). In Aphorismen wie In Ketten tanzen, Der Halb-Blinde, Nicht zu lange krank sein, Zum Denker werden, Das beste Heilmittel, Wetterpropheten (WS , §§ 140, 143, 314, 324, 325, 330) sind körperliche Zustände und philosophische Gedanken nicht mehr zu trennen. Pierre Klossowski, der in seinem Nietzsche-Buch ein ganzes Kapitel Nietzsches Krankheitszuständen widmet, äußert sich folgendermaßen: 1 Schiller, „Über Anmut und Würde“.
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Der Denkvorgang wird identisch mit Leiden und Leiden identisch mit Denken. Von da aus kommt Nietzsche zur Koinzidenz von Denken und Leiden und zur Vorstellung eines von Leid befreiten Denkens.2
Nietzsches briefliche Mitteilungen geben weitere Einsichten in das, was man seine Physiologie des Schreibens nennen könnte. Auf diese Weise erfahren wir, dass die Beweglichkeit des Denkens, von Nietzsche im Einklang mit den griechischen Anfängen der Philosophie stets hoch gehalten, in der körperlichen Bewegung beim Schreiben eine günstige Rahmenbedingung findet. Denn er schreibt „nichts am Schreibtisch“ (SB 6, S. 4), alles „ist, wenige Zeilen ausgenommen, unterwegs erdacht“ (SB 5, S. 450). Die Metapherbildung gibt von der gegenseitigen Zugehörigkeit von geistiger und körperlicher Tätigkeit Kunde: Nietzsches Lebensweise wird somit zur Allegorie seines Denkens und umgekehrt. Im Aphorismus Zweimal sagen wird eine Art des Denkens evoziert, in der die Gedanken in Bewegung kommen, wobei diese eindeutig als „Gehen“ beschrieben wird: Es ist gut, eine Sache sofort doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuss zu geben. Auf Einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen (WS , § 13).
Bezeichnenderweise dachte Nietzsche zunächst daran, seiner Sammlung den Titel St. Moritzer Gedanken-Gänge zu geben (NL 8, S. 610). Der endgültige Titel variiert nur das Thema. Die Allegorie des Wanderers schwebte ihm schon seit einiger Zeit vor: Im Juli 1876, wenige Tage vor der Fahrt nach Bayreuth zu den ersten Bühnenfestspielen, erhält er von Erwin Rohde die Nachricht von dessen bevorstehender Hochzeit. Nietzsche gratuliert dem Freund und erwägt dabei die Möglichkeit einer solchen Entscheidung auch für sich, um davon jedoch sofort wieder Abstand zu nehmen. Sein Verlangen und seine Not seien „anders“. Um diese Befindlichkeit näher zu erklären, legt er dem Brief ein Gedicht bei: Es geht ein Wanderer durch die Nacht (SB 5, S. 177).3 Hier umkreist Nietzsche einen ersten, zweifellos aus der Romantik stammenden Bereich der allegorischen Bedeutung, nämlich den eines unaufhörlichen, das Glück scheuenden und seines Weges ungewissen Weitergehens. In seinem Notizheft folgen der Niederschrift des Ge2 Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, S. 49. 3 Siehe zu diesem Gedicht in Bezug auf das Waldvögelein im dritten Akt des Siegfried
Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 151.
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dichtes (NL 8, S. 302 f.) die ersten Aufzeichnungen über den freien Geist (ebd., ab S. 304), unter denen sowohl der endgültige Titel seines im Entstehen begriffenen Buches Menschliches, Allzumenschliches (S. 308) als auch der vorläufige Die Pflugschar (S. 313) erscheinen. Nach den Erlebnissen in Bayreuth gewinnt die Allegorie des Wanderers für Nietzsche zusätzliche Bedeutungen und persönliche Bezüge. Die Trennung von Wagner, von dessen Musik und philosophischen sowie kulturpolitischen Ansichten erscheint ihm wie das Verlassen eines vertrauten Ortes – mit allen Gefahren und Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Die Denkfigur des Wanderers rückt nun definitiv ins Zentrum von Nietzsches Denken, wie der gleichnamige Aphorismus, der Menschliches, Allzumenschliches abschließt, eindrucksvoll zeigt: Der Wanderer. – Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht (MA , § 638).
Nietzsche versucht offensichtlich, das Bild des Wanderers von den Assoziationen mit der Romantik zu befreien. War für den romantischen Wanderer das „letzte Ziel“ zwar unerreichbar, jedoch in seiner regulativen Funktion unbezweifelt und produktiv, so wird dieses nun als Chimäre entlarvt. Die Verflüchtigung des „letzten Ziels“ bringt zweifellos Unsicherheit und damit auch schreckliche Stunden mit sich, […] aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfel und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: – sie suchen die Philosophie des Vormittages (MA , § 638).
Unter den freien Geistern, die „in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind“, befindet sich Nietzsche selbst – wiederum in enger Durchdringung zwischen allegorischer Signifikation und empirischer Lebensweise. Nietzsches schriftlich mitgeteilter Sinn erweist sich stets als verkörperter Sinn. Darin liegt sein konkreter Beitrag zur Unterminierung der Trennung zwischen Materie und Geist.
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Zur „Entromantisierung“ des Wanderers gehört auch die Beschwörung einer Philosophie des Vormittages anstelle der nächtlichen Stimmung, die das Gedicht an Erwin Rohde prägte. Im Aphorismus In der Nacht aus Der Wanderer und sein Schatten warnt er ausdrücklich vor ihr: „die Nacht überredet zum Tode“ (WS , § 8). Eine einseitige Parteinahme zugunsten des aufklärenden Lichtes liegt ihm dennoch fremd. Nietzsche ist kein Manichäer, und die Faszination der Nacht wird, wie Das Nachtwandler-Lied im vierten Buch von Also sprach Zarathustra zeigt, auf ihn weiterhin wirken.4 Der hohe Wert, welchen Nietzsche dem Widerspruch beimisst, ist dadurch abermals bestätigt, dass dieser Lobgesang an die Nacht gerade am Ende eines Werkes vorkommt, das mit dem Ausrufen des „großen Mittags“ schließt. In dem die Aphorismensammlung Der Wanderer und sein Schatten einleitenden Zwiegespräch erklärt der Wanderer seinem eigenen Schatten, welch große Bedeutung dieser für ihn hat: […] ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht blos zu sehen. Du wirst wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nöthig, wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach (WS , S. 538).
Nietzsches Aufklärung bedarf des Schattens genauso, wie ihr das Licht unentbehrlich ist. In dieses Lichterspiel ist auch die Musik verwickelt: Freunde der Musik. Zuletzt sind wir und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, – sie wollen nur, so gut sie es können, unsere Nächte erhellen. Aber nichtwahr? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit? Ueber den Mann im Monde! Ueber das Weib in der Musik! (WS , § 169.
Der Wanderer bewegt sich über kulturelle Grenzen hinweg, zieht in die Fremde und durchläuft somit einen Prozess der Entfremdung. Daher lässt sich seine kulturelle Identität nicht länger aufgrund seiner Herkunft bestimmen. Auch ein „letztes Ziel“, worauf er sich richten kann, muss er entbehren. Im Aphorismus Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen aus Menschliches, Allzumenschliches ortet Nietz4 Siehe zur Polarität Mittag/Mitternacht Schlechta, Nietzsches großer Mittag.
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sche in den wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit eine allgemeine Tendenz, die zu einer „Schwächung und zuletzt eine[r] Vernichtung“ der Nationen führen wird. Diese Betrachtung ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie in eine Phase der Nationalismen fällt und somit Nietzsches Neigung zum Unzeitgemäßen bestätigt, sondern auch und vor allem darum, weil sie den reaktionären Charakter des Nationalismus aufdeckt. Dessen gefährliches Potential erkennt er geradezu hellsichtig: Diesem Ziele [der Entstehung des europäischen Menschen] wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen […]: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten (MA , § 475).
Nietzsche entlarvt den psychologischen Mechanismus, der zur nationalistischen Haltung führt, nämlich ein Gefühl der Schwäche und Verunsicherung, welches den reaktionären Charakter des Nationalismus bestimmt und sich gerne als Stärke verkleidet. In diesen Zusammenhang stellt Nietzsche auch „das ganze Problem der Juden“. Er denunziert den erfolgreichen Versuch, diese „als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“ (ebd.), und zeigt mithin, dass er im Phänomen des Antisemitismus sowohl die kulturell-gesellschaftliche als auch die psychologische Dimension erblickt. Sobald die Versuche der „Conservirung von Nationen“ zugunsten der „Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse“ aufgegeben werden, werde auch das Problem der Juden gelöst.5 Eine kohärente Definition des Europa-Begriffes würde man bei Nietzsche vergeblich suchen.6 Bereits der aphoristische Stil seines 5 Zu Nietzsches Haltung den Juden gegenüber siehe u. a.: Jacob Golomb (ed.). Nietz-
sche and Jewish Culture; Kofman, Die Verachtung der Juden; Becker, „Das Judentum in der philosophischen Politik Nietzsches“. 6 In Bezug auf Nietzsches Wahrheitsbegriff kommt Babette Babich zu derselben Feststellung: „The linguistic dissonance is ineluctable. It is not possible to ,translate‘ Nietzsche’s talk of truth into analytic style talk about truth“ (Babich, Nietzsche’s Philosophy of Science, S. 16). Zur Geschichte des Europagedankens siehe u. a. Chabod, Storia dell’idea d’Europa; Curcio, Europa, storia di un’idea; Duroselle, L’Idée de l’Europe dans l’histoire; Febvre, L’Europe. Genèse d’une civilisation; Hay, Europe: the Emergence of an Idea; Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Identität.
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Denkens und Schreibens verbietet die systematische Fundierung und die Stabilität, die einen Begriff erst zu einem solchen machen. Darin kommt Nietzsches Aversion gegen die im begrifflichen Denken versteckte Metaphysik zum Tragen. In der Nietzsche-Literatur sind Widersprüche, Mängel und Unannehmlichkeiten neben den zukunftsweisenden Gedanken zum Thema Europa ausführlich dargestellt und kommentiert worden.7 Eine andere Möglichkeit der Betrachtung besteht darin, gemäß dem agonalen Charakter von Nietzsches Denken die Konstellationen, in denen bei ihm der Europa-Gedanke erscheint, zu untersuchen, und die Spannung, die daraus erwächst, zu hinterfragen. Durch die Fokussierung auf lokale Konstellationen wird unter anderem derjenigen situativen Empfindlichkeit des Performativen Rechnung getragen, die hingegen in der zeiträumlichen Indifferenz des Begriffes untergeht. Folgt man diesem Weg, kommt man bald zum Schluss, dass bei Nietzsche vor allem in Bezug auf Kultur und insbesondere auf Musik Europa im gegensätzlichen Verhältnis zu Nation steht.8 Im Aphorismus 215 aus Der Wanderer und sein Schatten wird diese Gegensätzlichkeit durch die Gegenüberstellung zwischen modischer Bekleidung und nationalen Trachten angesprochen: Ueberall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirtschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die Nationaltrachten. Dagegen herrscht die Mode, wo die Anzeichnen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? (WS , § 215).
Denkt man an die Tirade gegen die „Herrschaft der Mode“, mit der Wagner seine 1870 verfasste Beethoven-Festschrift abschließt, so erkennt man den Bezug, durch den Nietzsches scheinbar harmlose Überlegungen ihre Brisanz gewinnen. Die Mode stellt für Wagner das Erscheinungsbild einer korrumpierten, von den „Launen des Pariser 7 Witzler, Europa im Denken Nietzsches; Goedert/Nussbamer-Benz (Hg.), Nietzsche
und die Kultur – Ein Beitrag zu Europa?; D’Iorio/Merlio (Hg.), Nietzsche et l’Europe; Gerhardt/Reschke (Hg.), Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa; Morgan, „Nietzsche and National Identity“. 8 Anders erscheint die Lage, wenn Nietzsche über die „europäische Moral“ spricht, denn hier steht Europa für das Eigene, das man verlassen soll. Siehe dazu Witzler, Europa im Denken Nietzsches. Diane Morgan warnt zu Recht vor einseitigen Lektüren, wonach die nationale Identität bei Nietzsche vollkommen abgelehnt werde (Morgan, „Nietzsche and National Identity“).
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Geschmackes“ bestimmten Modernität dar, in der Äußerlichkeit und betrügerischer Schein, durch das dirnenhafte „Journalwesen“ propagiert, uneingeschränkt herrschen. Beethoven, in dem sich Wagner zufolge „der deutsche Genius“ verkörpert, gebühre dafür Anerkennung, dass er die Musik „aus den Banden der Mode“ befreit habe.9 Nietzsche kehrt nun diese Wertung radikal um und zählt die Mode zu den „Tugenden des jetzigen Europa“.10 Nicht das „Wechselnde“ stelle übrigens deren „charakteristische[s] Zeichen“ dar, sondern „die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit“ ( WS , § 215). Am Schluss des Aphorismus unterscheidet Nietzsche zwischen einem geographischen und einem kulturellen Verständnis Europas. Was letzteres betrifft, werden einerseits die geographischen Grenzen überschritten, indem auch „das Tochterland“ Amerika als dazugehörig anerkannt wird. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff „Europa“; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben (WS , § 215).
Europa als „Cultur-Begriff“ wird somit von einem eindeutig begrenzten Raum gelöst und durch den Verweis auf historisch gewachsene, aufeinander nicht reduzible Komponenten aufgefasst. Eine solche plurale Identität widerspricht dem Ursprungs-Paradigma, welches die Vorstellung von Nation tief greifend prägt. In diesem Sinne spricht Nietzsche von einer „Mischrasse“, welche „in Folge fortwährender Kreuzungen […] entstehen muss“ (MA , § 475). Kreuzung und Mischung wirken hier eindeutig als Gegenkonzepte zu dem Streben nach Reinheit von Kultur und Wahrung von Identität, nach Befestigung des Selbst und Ausschließung des Fremden. Ein weiteres Fundament nationaler Identität, das durch die Berufung auf Europa verabschiedet wird, ist die gemeinsame Sprache und alles, was im 19. Jahrhundert damit verbunden war. Eher als eine weiter aufgefasste Identität scheint 9 Wagner, „Beethoven“, S. 88; 96 – 109. 10 Wenn einerseits von einem romantischen, weltoffenen Nationalismus in Bezug
auf Herder oder Carl Maria von Weber gesprochen werden kann, verkörpert Wagner eine Radikalisierung im ethnischen Sinne desselben. Insofern stellt er das eigentliche Ziel von Nietzsches Nationalismus-Kritik dar. Über die angesprochenen Differenzen siehe Ther, „Wie national war die Oper? Die Opernkultur des 19. Jahrhunderts zwischen nationaler Ideologie und europäischer Praxis“ und die hier angeführte Literatur.
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somit der Europa-Gedanke auf eine alternative Auffassung von Identität zu zielen. Aus der oben zitierten Auflistung der Traditionen, aus denen Nietzsche zufolge europäische Kultur besteht, ergibt sich jedoch auch eine Ausgrenzung, nämlich die der vom Islam geprägten „Völker und Völkertheile“ Europas. Dem Aphorismus 114 aus Menschliches, Allzumenschliches ist zu entnehmen, dass sich die einzelnen Komponenten der so aufgefassten europäischen Identität keineswegs zu einem harmonischen Ganzen fügen, sondern konfliktuell und widersprüchlich zueinander stehen. Beispielsweise gehöre die Erniedrigung des Menschen gegenüber Gott zwar der jüdischen und christlichen Religion an, sie sei jedoch der griechischen Auffassung des Göttlichen vollkommen fremd. Nietzsches Blick richtet sich in der Folge des Aphorismus speziell auf das Christentum, welches den Menschen vollständig „zerdrückte und zerbrach“ und „wie in tiefen Schlamm“ versenkte. Die dadurch bedingte „Verworfenheit“ sei so stark empfunden, dass der Mensch, von der göttlichen Erleuchtung überrascht, „einen Schrei des Entzückens“ ausstößt und in einen ekstatischen Zustand der Selbstvergessenheit gerät (MA , § 114). Es ist nun bezeichnend für die Ambivalenz des Identitätsdiskurses im Allgemeinen sowie für Nietzsches besonderes Spiel mit diesem, dass bei der darauf folgenden Betrachtung ausgerechnet das Christentum, welches im oben zitierten Aphorismus als einer der Träger der europäischen Kultur erscheint, nun zum Anderen des Selbst mutiert, nämlich zum asiatischen, barbarischen Element: Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht: das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch (MA , § 114).
Wenn auch mitten im Christentum ein asiatisches, barbarisches Element wirksam ist, so kann dieses doch schwerlich aus der europäischen Kultur ausgeschlossen werden. Die Trennung zwischen den Kulturbegriffen „Europa“ und „Asia“ ist somit unterminiert. Die Lage erscheint noch problematischer, wenn man in die Betrachtung das mit einbindet, was eigentlich schon bei der ersten Lektüre auffällt: In der angeführten Bestimmung des „ungriechischen“ Elementes im Christentum blitzt unverkennbar Nietzsches Dionysisches durch, nämlich jener ebenfalls aus Asien stammende und barbarisch wirkende Kultus, welcher nach Nietzsches diesbezüglicher Narrative in die griechische Welt hereinstürmte,
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um die dortige apollinische Mäßigung zu sprengen.11 Folgendermaßen hatte er in Die Geburt der Tragödie (1872) dieses Phänomen beschrieben: Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt [der apollinischen Griechen] der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntnis, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde (GT , § 4, S. 40 f.).12
Ausgerechnet durch den Kampf zwischen den „zwei feindseligen Principien“, dem griechischen Grundsatz des apollinischen Maßes und der barbarisch-dionysischen, rauschhaften Entfesselung, entstand Nietzsche zufolge nichts weniger als „das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie“ (GT , § 4, S. 42). Nietzsches jeweilige Bestimmungen des Griechischen, Asiatischen und Europäischen ähneln somit einem Wechselspiel, dessen Dynamik erkennbar wird: Das Selbst und das Andere lassen sich weder geographisch verorten noch kulturell bestimmen. Die Festschreibung von Andersartigkeit gelingt dem „guten Europäer“ Nietzsche so wenig wie dem Nationalisten die Definition des Eigenen. Wie Nietzsches Europa-Gedanke nur durch das gegensätzliche Verhältnis zur Nation diskursive Konsistenz gewinnt, so lässt sich das Selbst nur in Abgrenzung zum Anderen definieren, das somit am Zustandekommen des Eigenen teilhat. Daraus ergibt sich aber, dass die Grenze, welche das Selbst vom Anderen trennen soll, keineswegs „zwischen Innen und Außen“ verläuft, sondern „ein[en] unumgänglich[en] Ort mitten im Zentrum“ markiert.13 Nietzsche hat dieses merkwürdige Paradoxon im Aphorismus Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen aus Vermischte Meinungen und Sprüche erörtert: „Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichnen der Tüchtigen unseres Volkes gewe11 Jacques Le Rider weist darauf hin, dass Nietzsche Anregungen für die Betonung des
Orientalischen und mithin des Archaischen zuungunsten des Klassischen bei der Betrachtung der griechischen Antike bei Hölderlin, Bachofen und seinem Freund Rohde finden konnte (ders., Das Ende der Illusion, S. 213 f.). Ebenso wichtig ist aber die Linie, welche über Nietzsches Lehrer Ritschl zu Friedrich Creuzer führt. Siehe dazu § 3. 12 Im 1870 gehaltenen Vortrag über Das griechische Musikdrama hatte Nietzsche die griechischen Dionysien ausdrücklich mit mittelalterlichen Manifestationen kollektiver Schwärmerei verglichen: „jene ungeheuren dionysischen Schwarmzüge im alten Griechenland haben ihre Analogie in den S. Johann- und S. Veitstänzern des Mittelalters, die in größter, immer wachsender Masse tanzend singend und springend von Stadt zu Stadt zogen“ (GMD , S. 521). 13 Bronfen, „Vorwort“, S. XI .
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sen“ (VS , § 323). Dadurch wird auch einsichtig, dass es Nietzsche nicht darum geht, das Eigene abzulehnen oder durch ein besseres Anderes zu ersetzen, sondern vielmehr beide Pole in Bewegung zu halten.14 Wegen der besonderen Rolle, welche das Andere innerhalb des Selbst übernimmt, lässt sich letzteres nicht bloß auf eine Summe von Zuschreibungen reduzieren, seien diese auch plural und zueinander im Widerspruch stehend. Homi Bhabha weist darauf hin, dass die Stelle des Anderen im Selbst jener des Unbewussten im psychischen Apparat entspricht.15 Im Fall von Nietzsches Europa-Gedanken wirkt die Analogie umso stärker, als das Dionysische inhaltlich mit dem Unbewussten eng verbunden ist. Denn das fremde, unheimlich wirkende Dionysische entpuppt sich dem heiteren Apolliniker – sei dieser der homerische Grieche oder der „mittlere“ Nietzsche – als das einst vertraute, mittlerweile verdrängte Heimische: „Titanenhaft“ und „barbarisch“ dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein, mit aller Schönheit und Mässigung, ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde (GT , § 4, S. 40).16
Die erschreckende Wirkung des Anderen liegt also keineswegs in dessen Fremdheit, sondern in der Bewusstwerdung des verdrängten Eigenen, die durch die Begegnung mit der Andersheit bewirkt wird. Europa im Gegensatz zur Nation erscheint somit als Bezeichnung jenes von Bhabha beschriebenen dritten Raums, in dem das Selbst und das Andere in Verhandlung und kulturelle Differenzen zum Tragen kommen.17 Der Bewohner dieses Raums ist der Wanderer, nämlich ein hybrides Subjekt, welches sich nicht verorten lässt und in der ständigen Überschreitung des Eigenen die Freiheit seines Geistes pflegt.18 14 In Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche von der Fähigkeit der „guten Europäer“, im „Norden den Süden, im Süden den Norden“ zu lieben (JGB , S. 200). 15 Bhabha, The Location of Culture, S. 206. 16 Siehe dazu oben § 5. 17 Bhabha, The Location of Culture, S. 53 – 56. 18 Einige Jahre später wird Nietzsche so weit gehen, die „gute[n] Europäer“ als hei-
matlos zu bezeichnen, und zwar in vielfachem Sinne, da mit der „Nation“ auch die vertrauten Ideale und die zeitgemäßen Formen des Denkens verlassen werden (FW , § 377: Das Fünfte Buch von Die fröhliche Wissenschaft, aus dem dieser Aphorismus stammt, wurde erst bei der zweiten Ausgabe im Jahr 1887 hinzugefügt).
13. Die Musik des Südens
Zweifellos spielen die französischen Moralisten bei der Entstehung von Nietzsches Europa-Gedanken eine wichtige Rolle, die übrigens früh erkannt und hervorgehoben wurde.1 Jedoch würde man die eigentliche Tragweite dieses Gedankens verkennen, wenn man wiederum innerhalb der philologischen Einflussbestimmung bliebe. Wenn Nietzsche über Frankreich, Deutschland oder Europa spricht, operiert er keineswegs mit auf bestimmte Inhalte verweisenden Begriffen, wie es im politisch-historischen Diskurs zu erwarten wäre, sondern er wendet seine in den Grundzügen bereits erörterte Semiotik der Maske auf den Bereich der kulturellen Identitäten an.2 Eine solche Semiotik lässt weder eine definitorische Bestimmung der als Masken agierenden „Begriffe“ noch ihre Bagatellisierung zu. Die adäquate Einstellung ist vielmehr, die „Masken“ nicht einzeln, sondern auf der Bühne des Denkens zu betrachten, in der sie auftreten und agieren. Das „Theaterstück“, das Nietzsche seinem Leser vorführt, unterscheidet sich eben dadurch vom philosophischen, politischen oder historischen Diskurs, dass es mit Figuren und Masken des Denkens anstatt mit Begriffen arbeitet. Wer das vergisst oder missachtet, der verfehlt das Moment des Performativen und bewirkt die Hypostasierung und somit die Entstellung von Nietzsches Denken. Die Bedeutung der Semiotik der Maske und dabei Nietzsches Neigung zu den Denkern der französischen Aufklärung lässt sich vielleicht aus einer musikbezogenen Perspektive leichter erkennen. Denn man könnte sagen, dass er in der Geschichte des europäischen Denkens am Ende der 1870er Jahre das vorwegnimmt, was in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts Igor Strawinsky mit seinen neoklassizistischen Werken einleiten wird, nämlich eine Hinwendung zur Vergangenheit, welche jedoch nicht der Vergangenheit selbst, sondern der Umspielung 1 Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche. Ihre Vorbereitung bei den franzö-
sischen Moralisten. Weitere Anregungen kamen von Jakob Burckhardt und Karl Hillebrand, siehe dazu Meyer, Nietzsche und Europa – Kritik und Utopie. 2 Siehe oben § 9. Eine Analyse und Kritik der These des Einflusses Frankreichs auf Nietzsche bietet Bludau, Frankreich im Werk Nietzsches. Am Ende ihres Buches (S. 125 – 127) stellt Bludau die Gegenthese auf, Frankreich sei bei Nietzsche als „Semiotik“ zu verstehen.
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der Gegenwart gilt.3 In Nietzsches Nachlass befindet sich eine Notiz, in der dieses Konzept tatsächlich auf die Musik angewendet wird. Sie trägt den Titel Unter Künstlern der Zukunft: Ich sehe hier einen Musiker, der die Sprache Rossini’s und Mozart’s wie seine Muttersprache redet, jene zärtliche, tolle, bald zu weiche, bald zu lärmende Volkssprache der Musik mit ihrer schelmischen Indulgenz gegen Alles, auch gegen das „Gemeine“, – welcher sich aber dabei ein Lächeln entschlüpfen läßt, das Lächeln des Verwöhnten, Raffinierten, Spätgeborenen, der sich zugleich aus Herzensgrunde beständig noch über die gute alte Zeit und ihre sehr gute, sehr alte, altmodische Musik lustig macht: aber ein Lächeln voll Liebe, voll Rührung selbst … Wie? ist das nicht die beste Stellung, die wir heute zum Vergangnen überhaupt haben können [?] (NL 12, S. 239 f.).
Dass eine solche Bewegung als prospektiv zu bezeichnen ist, wird nicht zuletzt dadurch einsichtig, dass das dabei verfolgte Ziel keineswegs die Rekonstruktion des Vergangenen, sondern vielmehr dessen Verfremdung darstellt.4 Dadurch geraten die räumlichen Kategorien des Hinten und Vorne sowie die lineare Bewegung, anhand derer die „Geistesgeschichte“ im Sinne des Fortschrittsdenkens im 19. Jahrhundert erfasst und beschrieben wurde, durcheinander. Aus Gründen, die in einem späteren Kapitel zu besprechen sind, erschien offensichtlich der „direkte“ Weg einer Überwindung des Gegenwärtigen als nicht länger begehbar. Eine Reihe von Aphorismen, die in Der Wanderer und sein Schatten deutschen Dichtern (WS , §§ 99, 103, 107, 118, 125, 132) und Musikern (WS , §§ 149, 150, 151, 152, 155, 157, 161) gewidmet sind, zeigen, dass Nietzsche im oberen Engadin weiterhin über kulturelle Identitäten nachdachte.5 Anlässlich seiner 1873 erschienenen Kampfschrift gegen David Strauss hatte sich Nietzsche bereits sehr kritisch über das bildungsbürgerliche Verständnis des Klassischen geäußert. Damals richtete sich seine Kritik gegen die Musealisierung der Klassiker als Bewunderungsobjekte und stabilisierende Autoritäten, durch die deren eigentlich vorbildliche Rolle als „Suchende“ verloren gehe. Dabei unterschied sich Nietzsche zwar von den verachteten „Bildungsphilis3 Siehe u. a. Schneider, „Die Parodieverfahren Igor Strawinskys“. 4 Siehe dazu u. a. Stephan, „Zur Deutung von Strawinskys Neoklassizismus“. 5 Die auf Komponisten bezogenen Aphorismen in Der Wanderer und sein Schatten
haben in der Literatur kaum Beachtung gefunden. Eine der wenigen Ausnahmen ist Schellong, „,Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, die nicht discutieren können oder dürfen‘“.
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tern“ in Hinsicht auf den adäquaten Umgang mit den Klassikern und auf ihre Funktion für Erziehung und Bildung, blieb jedoch in einer nationalen Perspektive verfangen. Denn was „die grossen heroischen Gestalten“ suchen und was hingegen die „Bildungsphilister“ bereits zu besitzen glauben, das war ihm zufolge „die ächte ursprüngliche deutsche Kultur“ (UBI , S. 167 f.). Der Rekurs auf die Kategorien der Echtheit und des Ursprünglichen zeigt, dass Nietzsche hier Kultur durchaus im Sinne des nationalen Paradigmas auffasst. Dies ändert sich in Der Wanderer und sein Schatten. Im 125. Aphorismus löst Nietzsche den Begriff des Klassischen von der nationalen Instrumentalisierung und erhebt die europäische Dimension zur Grundvoraussetzung für eine anders verstandene Klassizität, in der sich Überzeitlichkeit und Universalität entsprechen. Dabei dient ihm Goethe als Vorbild. Dies erscheint durchaus als berechtigt, denn in Eckermanns Gespräche[n] mit Goethe, Nietzsche zufolge das „best[e] deutsch[e] Buch, das es giebt“ (WS , § 109),6 wird der Dichter folgendermaßen zitiert: Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.7
Nietzsche steht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch Eckermanns Gespräche[n] nahe, nämlich im sentenziösen Charakter vieler Urteile und Äußerungen, die dort zu lesen sind. In der Reihe der den Komponisten gewidmeten Aphorismen wird dieser Stil exzentrisch, launisch, zuweilen auch lakonisch. Man kann in diesen Aphorismen die Anwendung des neoklassizistischen Paradigmas im oben erörterten Sinne auf die Musikbetrachtung sehen, wobei jedoch nicht die vergangene Musik, sondern das etablierte Bild von deren Autoren verfremdet wird. Bei Strawinsky genauso wie bei Nietzsche erfordert diese besondere Ästhetik, dass die Vorlage, welche verfremdet wird, nicht nur bekannt sein, sondern auch beim Hören oder Lesen mitgedacht 6 Im Sommer 1879 schreibt Nietzsche in seinem Notizheft: „Eckermann das beste
Prosawerk unserer Litteratur, der höchste Punkt der deutschen Humanität erreicht“ (NL 8, S. 603). 7 Eckerman, Gespräche mit Goethe I, S. 211. Siehe zu Nietzsche und Goethe u. a. von Seggern, Nietzsche und die „Weimarer Klassik“.
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werden soll. Die Folge ist die Vermehrung der Wahrnehmungsebenen, was zumindest im Fall Nietzsches eine Aktualisierung des agonalen Prinzips im Widerstreit zwischen historischem und verfremdetem Bild bedeutet. Darin ist im Allgemeinen das grundlegende Prinzip der Semiotik der Maske zu erkennen: Der Widerstreit waltet zwischen der auf der imaginären Bühne der gedruckten Seite agierenden Maske und der durch diese verkörperten, historischen Figur. Durch diesen spannungsvollen Bezug wird Sinn bei der Lektüre und dem Nachdenken darüber hervorgebracht. Als Masken verweisen aber die angesprochenen Komponisten weder auf den musikhistorischen, noch auf den musikästhetischen Diskurs: Das „Theaterstück“, bei dem sie auftreten, könnte den Titel Musik nach dem Ende der Metaphysik tragen. Die meisten Rollen stammen aus dem Kanon „deutscher“ Komponisten, der auch für den jungen Nietzsche konstitutiv war: Bach, Händel, Haydn, Beethoven, Mozart, Schubert, Mendelssohn, Schumann.8 Dazu gesellt sich Chopin, dem offensichtlich die Rolle des Anderen zugeteilt wird. Nietzsche nimmt Abstand von einer Betrachtung, welche in den großen Werken und Künstlern der Vergangenheit die beispielhafte Äußerung der eigenen kulturellen Identität preist, und entwirft eine Semiotik, in der die Verfremdung der Klassiker das Gegengift zu deren musealer Versteinerung und nationaler Instrumentalisierung darstellt. Diese kurzen Texte wirken wie die Parodie jener Schilderungen von Walhalla’s Genossen, die der König von Bayern Ludwig I., Gründer des gleichnamigen Pantheons am Donauufer bei Regensburg, 1842 veröffentlicht hatte.9 Wollte Ludwig den „rühmlich ausgezeichneten Teutschen“ zur Stiftung patriotischer Gesinnung ein Denkmal setzen,10 so kehrt Nietzsche dies um und misst die deutschen Musikhelden mit dem Maßstab des Europäischen. In Bezug auf Johann Sebastian Bach spricht Nietzsche von einer „europäischen (modernen) Musik“, deren Hauptmerkmal darin bestünde, dass sie „die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunct“ über8 In einer 1858 (!) verfassten autobiographischen Schrift ist diesbezüglich zu lesen:
„Ich empfing dadurch auch einen unauslöschbaren Haß gegen alle moderne Musik und alles, was nicht klassisch war. Mozart und Haidn [sic], Schubert und Mendel sohn [sic] Beethoven und Bach das sind die Säulen auf die sich nur deutsche Musik und ich gründete“ (Frühe Schriften I, S. 18). Wenige Zeilen davor wird Händel in Bezug auf „den erhabenen Chor aus den [sic] Messias: das Halleluja!“ gewürdigt und somit idealiter als zur Gruppe der Klassiker gehörenden mitgedacht. 9 Ich verdanke diesen Hinweis Albrecht Riethmüller. 10 Siehe Riethmüller, Die Walhalla und ihre Musik.
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wunden habe. Denkt man an den patriotischen Stolz, welchen Johann Nikolaus Forkel in der Vorrede seiner 1802 erschienenen Biographie des Komponisten zum Ausdruck brachte und den Nietzsche zur Zeit der Geburt der Tragödie noch teilte,11 so fällt es auf, dass Nietzsche ihm eine auf der Überwindung des Nationalen gründende – und damit wiederum unzeitgemäße – Modernität nicht gänzlich abspricht: In seiner Musik sei eine solche zwar nicht erreicht, jedoch wohl „im Werden“. Bach befinde sich somit an der „Schwelle“ der modernen europäischen Musik, wenn auch dem Mittelalter zugewandt (WS , § 149). Mit dem nächsten Aphorismus liefert Nietzsche eine seltsam anmutende Kritik an Händels vermeintlich wenig inspirierter Durchführungskunst (WS , § 150), die auch im Zusammenhang mit anderen Äußerungen Nietzsches aus derselben und aus der späteren Zeit befremdend wirkt. Eine Konstante in Nietzsches Händel-Betrachtung stellt sein ganzes Leben hindurch hingegen die Betonung von dessen „männlicher Erhabenheit“ dar, die er zwar wiederholt mit dem Deutschen in Verbindung bringt (VS , § 298; NL 11, S. 455; NL 12, S. 444 f.), im Aphorismus 171 aus Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) jedoch genüsslich auf den „grosse[n] jüdisch-heroische[n] Zug“ zurückführt (VS , § 171).12 Der sehr kurze Haydn-Aphorismus vermag dem Klischee des „Guten Menschen“ nicht zu entkommen,13 schließt dennoch mit einer rätselhaften Feststellung, in der vielleicht die Betonung des innovativen Charakters des Komponisten zu sehen ist: Haydn mache „lauter Musik, die ,keine Vergangenheit‘ hat“ (WS , § 151). Viel zu denken gibt der folgende Aphorismus über Beethoven und Mozart. Die Bezeichnung von Beethovens Werk als „Musik über Musik“ steht im krassen Widerspruch zum Bild des Genius, welcher ex nihilo schöpft: 11 Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, S. V f.; Nietzsche, GT , § 19, S. 127: „[…] die deutsche Musik, wie wir vornehmlich in ihrem
mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ 12 Dieser Eindruck der Stärke und Erhabenheit sowie dessen „jüdischer“ Prägung konnte Nietzsche selbst erleben, denn er sang 1865 als Mitglied des Bonner Städtischen Gesangsvereins in einem riesigen Chor von über 600 Sängern und Sängerinnen anlässlich des dreitägigen Niederrheinischen Musikfestes in Köln. Im ersten großen Konzert wurde Händels Oratorium Israel in Aegypten aufgeführt. Siehe dazu SB 2, S. 57; 61 – 64 sowie Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 156. In Naumburg hatte Nietzsche bereits als Schüler Judas Makabaeus gehört (Frühe Schriften I, S. 19). 13 Vgl. beispielsweise Jakob Burckhardt, dem zufolge: „Haydn den [Eindruck] des Glückes und der Herzensgüte macht“ (Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 221).
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[…] es ist Musik über Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiäner, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Carnevals, – da entdeckt er seine „Melodien“: er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte Erinnerungen aus der „besseren Welt“: ähnlich wie Plato es sich von den Idee dachte (WS , § 152).
Eine Poetik des objet trouvé wurde vor Nietzsche selten mit Beethoven in Verbindung gebracht,14 wenn auch der Hinweis auf „verklärte Erinnerungen“ an dessen Spätwerk denken lässt. Freilich wurde das Bild des bienenähnlichen Konstrukteurs mit Bausteinen aus Lied und Tanz bereits von Wagner in Oper und Drama entworfen.15 Der Pathos allerdings, mit dem nicht nur Wagner über Beethoven sprach, ist hier ins Gegenteil verkehrt: Der musikalische Heros wird zum Melancholiker. Nietzsches spezifische Verfremdung Beethovens besteht darin, ihn in die akustische Landschaft des Biedermeiers zu versetzen, und zwar derart, dass sein Portrait einer Genremalerei von Waldmüller ähnelt. Im Mozart gewidmeten Teil des Aphorismus taucht zum ersten Mal der Hinweis auf das Südländische auf, welches von nun an zum positiv konnotierten Gegenpol der deutschen romantischen Musik avanciert: Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegtesten südländischen Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht dort war (WS , § 152).
Unter den Wagner-kritischen Anmerkungen, die Nietzsche bereits im Frühjahr 1874 notierte,16 befindet sich eine Gegenüberstellung zwischen zwei vermeintlichen Arten der deutschen Musik. In Bezug 14 Siehe dazu Janz, „Music about Music“. 15 Wagner, Oper und Drama, S. 81: „Beethovens eigentümlichstes Schaffen begann
mit diesen zerlegten Stücken, aus denen er vor unseren Augen immer reichere und stolzere Gebäude errichtet“. In einem Brief vom 24. März 1883 an Heinrich Köselitz äußert sich Nietzsche über eine ähnliche Attitude, die er aber bei italienischen Opernkomponisten feststellt, durchaus positiv: „Ich dachte beinahe, es sei Musik, die man nicht macht sondern die man nimmt: Volks-Musik. Man hat jetzt nachgewiesen, daß die beliebtesten Arien Bellini’s (auch Paisiello’s) ihr Motiv aus Liedern haben, die man um Catania herum singt. (Homer nahm die Motive zusammen, über die ein paar Jahrhunderte alle Rhapsoden gesungen hatten)“ (SB 6, S. 350). In den letzten Jahren wird Nietzsche Beethoven mehrmals als den ersten Romantiker betrachten, siehe NL 12, S. 285 (1886/87) sowie NL 13, S. 248 (1888). 16 Siehe dazu oben § 7.
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auf „Excesse“ und „Ausbrüche“ in Tristan (Schluss des 2. Aufzugs) und in Die Meistersinger (Prügelszene am Ende des 2. Aufzugs) stellt Nietzsche fest: Wagner fühlt, dass er in Hinsicht der Form die ganze Rohheit des Deutschen hat und will lieber unter Hans Sachsens Panier kämpfen als unter dem der Franzosen oder der Griechen (NL 7, S. 767).
Ebenfalls „deutsch“ ist jedoch die Musik Mozarts und Beethovens, die ja Nietzsche als „unsre“ betrachtet. Diese hat aber die italiänische Form in sich aufgenommen, wie das Volkslied, und entspricht deshalb mit ihrem feingegliederten Reichtum der Linien nicht mehr der bäuerlich-bürgerlichen Rüpelei (ebd.).17
Zum ersten Mal stellt hier Nietzsche eine Art des Deutschen, welche sich dem Außen verschließt und in sich geschlossen bleibt, einer anderen entgegen, die sich dem Anderen öffnet. Während Wagner und die Romantiker diese Geschlossenheit vertreten und Beethoven einigermaßen zwischen den Fronten steht (siehe z. B. NL 12, S. 285),18 verkörpert Mozart – oft diesbezüglich mit Goethe in Verbindung gebracht – diese Offenheit exemplarisch. Ende 1880 schreibt Nietzsche in seinem Notizheft: […] und die ganz unbedenklich guten Deutschen, welche produktiv sind, sind Vermittler gewesen und haben europäisch gearbeitet (wie Mozart und die Historiker) (NL 9, S. 319).
Mag sich die Vermittlung in unterschiedliche Richtungen wenden, so wird Mozart bei Nietzsche stets mit dem Südländischen assoziiert. Für den klassischen Philologen aus Naumburg bedeutet der im Zeichen des Griechentums stehende Süden zugleich klimatische und kulturelle Andersheit – beide mit Sehnsucht beladen. Im Stil der französischen Denker des 18. Jahrhunderts bezieht Nietzsche in einer Notiz aus dem Frühjahr 1884 Klima und Kultur aufeinander: Die Deutschen sind vielleicht nur in ein falsches Klima gerathen! Es ist Etwas in ihnen, das hellenisch sein könnte – das erwacht bei der Berührung mit dem Süden – Winckelmann Goethe Mozart (NL 11, S. 56). 17 Siehe dazu auch Gruber, „Friedrich Nietzsches Aussagen über Mozart“, S. 264 f. 18 Beethoven erscheint Nietzsche in FW 103 Goethe gegenüber wie „die Halbbarberei
neben der Cultur“.
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Im Unterschied zu diesen Stellen aus dem Nachlass ist der Beethoven-Mozart-Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten zur Veröffentlichung bestimmt. Es mag damit zusammenhängen, dass Nietzsche hier einen etwas bizarren Akzent setzt. Anders als Beethoven, der zu seinen „Melodien“ beim Hören fremder Musik gelange, finde Mozart seine „Inspiration“ beim „Schauen“ des „bewegtesten südländischen Lebens“. Indem Mozarts Bezug auf den Süden im Bereich des Optischen verortet wird, verliert dieser an musikalischer Konkretheit: Es geht hier nicht mehr um Form und Stil wie in den oben angeführten Stellen, sondern um das Einfließen einer beobachteten Lebensart in die Musik. Die letzten Worte des Aphorismus bedeuten einen zusätzlichen Schritt ins Fiktionale: Mozart habe „immer von Italien“ geträumt, „wenn er nicht dort war“ (WS , § 152). Eher als ein realer Ort erscheint somit der Süden als eine Figur der Imagination, der sehnsuchtsvolle Traum nach einer vermissten Welt. Hier besteht die Verfremdung offensichtlich darin, dass hinter der Maske von Mozart Nietzsches eigenes Gesicht erkennbar wird.19 Nietzsches Umgang mit Schubert, Mendelssohn und Schumann fällt womöglich noch launenhafter aus. Schubert sei „ein geringerer Artist als die andern grossen Musiker“, wenn auch er „doch von Allen den grössten Erbreichthum an Musik“ hatte. Zwar verschwendet er „ihn mit voller Hand“, findet aber immerhin im Beethoven-Portrait als Spielmann einen Platz: In seinen Werken haben wir einen Schatz von unverbrauchten Erfindungen; Andere werden ihre Grösse im Verbrauchen haben. – Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heissen (WS , § 155).20
Ambivalent wirkt der Aphorismus über Felix Mendelssohn. Vor der für Nietzsche schicksalhaften Begegnung mit Wagner bewunderte Nietz19 Curt Paul Janz beobachtet, dass Nietzsche unter allen Klassikern Mozart am we-
nigsten kannte. Immerhin las aber Nietzsche Otto Jahns Mozart-Biographie, siehe Janz, „Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit“, S. 323; 328. 20 In einer aus derselben Zeit stammenden Notiz wird dieses Verhältnis durch Schillers Begrifflichkeit erfasst: „Schubert verhält sich zu Beethoven wie die naive Dichtung zur sentimentalischen. Schubertartige Musik ist der Gegenstand der Beethovenschen Musikempfindung“ (NL 8, S. 611). Die negative Eigenschaft des Verschwenderischen findet sich auch im Schubert-Klischee aus der Biographik des 19. Jahrhunderts, siehe dazu Dürr, „Urteile und Vorurteile in der Schubert-Biographik des 19. Jahrhunderts“.
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sche die Werke Mendelssohns, die er hörte oder bei deren Aufführung er als Chorist mitwirkte.21 In Briefen aus Nietzsches Jugendzeit sind zwar einige verachtungsvolle Äußerungen gegen Juden zu lesen,22 jedoch scheint seine Wertschätzung des Komponisten davon nicht berührt gewesen zu sein. Erst in den Jahren der intensiven Freundschaft mit Wagner nimmt Nietzsche eine eindeutig negative Einstellung Mendelssohn gegenüber an,23 die wieder verschwindet, sobald er sich von Wagner distanziert. Im Aphorismus 157 aus Der Wanderer und sein Schatten wird Mendelssohn zwar guter Geschmack attestiert, jedoch zugleich festgestellt, dass dieser auf die Vergangenheit und nicht in die Zukunft verweise. Sollte Nietzsche dies als tugendhafte Dankbarkeit den Meistern der Vergangenheit gegenüber betrachtet haben, so vermag dieser Aphorismus allerdings noch keineswegs, die Schatten des Vorurteils gegen Mendelssohn zu erhellen. Nietzsches Verhältnis zur Musik Robert Schumanns kennt wie jenes zu Wagner extreme Schwankungen. Schumann war zweifellos nach Wagner der Komponist, mit dem Nietzsche die innigste und mithin die schwierigste Beziehung pflegte. Nach der jungendlichen Bewunderung war er mit dem Problem konfrontiert, dass Wagner keine Sympathie für Schumann duldete.24 Nietzsche, der 1864 in Bonn einen Kranz am Grab Schumanns niederlegte (SB 2, S. 34) und sich wenige Monate später dem Spielen von dessen Musik zu Byrons Manfred intensiv und mit Freude widmete (SB 2, S. 34),25 entschließt sich im April 1872, eine eigene Musik dazu zu komponieren, die Manfred-Meditation für vierhändiges Klavier. Es ist aufgrund mehrerer Hinweise anzunehmen, dass er seine „neue“ Komposition26 bei seinem ersten Besuch in Bay21 Janz, „Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit“. 22 Siehe dazu Kofman, Die Verachtung der Juden, S. 65 – 73. 23 Janz, Friedrich Nietzsche I, S. 453 – 455. 24 Wilhelm Kienzl schildert in seiner Autobiographie, wie maßlos Wagners Wut
ausbrach, als dieser von Kienzls Hochachtung Schumann gegenüber erfuhr, siehe Kienzl, Meine Lebenserinnerung, S. 90 – 93. Bekanntlich wurde Schumanns Einsatz für Brahms von Wagner und den Wagnerianern übel genommen. Siehe zu den erbitterten Kämpfen zwischen Schumann-Verehrern und -Verächtern im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts u. a. Edler, Robert Schumann und seine Zeit, S. 310 – 313. 25 Am 7. April 1866 schreibt Nietzsche an Carl von Gersdorff, dass „Schopenhauer, Schumannsche Musik, endlich einsame Spaziergänge“ seine einzigen Erholungen sind (SB 2, S. 121). 26 Es handelt sich um eine „Umarbeitung der ersten Seite meiner ,Sylvesternacht‘, und freilich auf 7 Seiten angewachsen“ (SB 3, S. 309). In seiner Nietzsche brieflich mitgeteilten vernichtenden Kritik stellt Hans von Bülow den Einfluss von Tristan fest, was aber Nietzsche zurückweisen kann, denn seine Komposition entstand,
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reuth anlässlich des 59. Geburtstags Wagners in dessen Anwesenheit spielte.27 In Ecce homo (1888) wird sich Nietzsche folgendermaßen darüber äußern: Mit Byrons Manfred muss ich tief verwandt sein: ich fand alle diese Abgründe in mir, – mit dreizehn Jahren war ich für dies Werk reif. Ich habe kein Wort, bloss einen Blick für die, welche in Gegenwart des Manfred das Wort Faust auszusprechen wagen. Die Deutschen sind unfähig jedes Begriffs von Grösse: Beweis Schumann. Ich habe eigens, aus Ingrimm gegen diesen süsslichen Sachsen, eine Gegenouvertüre zum Manfred componirt, von der Hans von Bülow sagte, dergleichen habe er nie auf Notenpapier gesehn: das sei Nothzucht an der Euterpe (EH , S. 286).
Anders als im Fall Mendelssohn bedeutet die Abwendung von Wagner für Nietzsche keineswegs eine Rückkehr zur jugendlichen Hochachtung der Schumann’schen Musik. Als der Klavierpädagoge Adolf Ruthardt im Sommer 1885 mit Nietzsche in Sils Maria über Schumann ins Gespräch kam, dachte er zunächst, Nietzsches Aversion sei auf dessen Anhängerschaft zu Wagner zurückzuführen. Nietzsches Reaktion ist leicht vorstellbar. Ruthard spielte an einem Abend in Anwesenheit Nietzsches und einer adeligen Dame russischer Herkunft, die in ihrer Jugend bei Chopin Unterricht erhalten hatte, Klavierwerke Bachs, Chopins und Schumanns. Am Tag danach habe sich Nietzsche Ruthard zufolge ihm gegenüber über die Begeisterung dieser Dame für Schumanns Kreisleriana skeptisch geäußert. Der Bemerkung Ruthards, die musikalische Empfindung der Russin sei „durch und durch deutsch“, habe Nietzsche entgegengesetzt: Deutsch, das ist es eben im Sinne einer nach innen gekehrten Gefühlsduselei und des Versenkens in eine persönliche, klein bürgerliche, klebrige Gefühlsschwelgerei, welche die Menschheit recht gleichgültig läßt. Schumann war gewiß eine ehrliche Natur und ein großes Talent, jedoch kein Segen für die Tonkunst im allgemeinen, geschweige für die deutsche Musik im besonderen. Das versteckende Insichhinein ist sogar gefährlich, nicht minder gefährlich als das schauspielerische Aussich heraus Richard Wagners.28
bevor er Wagners Werk unter von Bülows musikalischer Leitung in München zum ersten Mal hören konnte. Siehe Janz, „Nietzsches Manfred-Meditation“, S. 53. 27 Janz, „Nietzsches Manfred-Meditation“, S. 50. 28 Ruthardt, „Friedrich Nietzsche und Robert Schumann“, zit. nach Janz, Nietzsche II , S. 394.
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Ein Jahr später erscheint Jenseits von Gut und Böse (1886), in dem Nietzsches längste und heftigste Tirade gegen Schumann enthalten ist. Sie findet sich im Aphorismus 245, genauer gesagt: Sie bildet dessen großes Finale. Es ist bezeichnend, dass sich dieser Aphorismus im achten, mit Völker und Vaterländer betitelten Hauptstück befindet, denn es geht wiederum um „deutsche Musik“. Nietzsche nimmt dabei eine Betrachtungsperspektive ein, die er bereits in Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) mit dem Aphorismus 171 Die Musik als Spätling jeder Cultur erprobt hatte. Diese besteht darin, die Komponisten auf diejenigen Epochen der Kultur zu beziehen, welche in deren Musik zum „Ausklingen“ kommen.29 Die Voraussetzung einer solchen Betrachtungsweise hatte Nietzsche dort genannt: Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaas, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt (VS , § 171).
Demnach stelle also Musik keineswegs „tönend bewegte Formen“, sondern die Verklanglichung einer zeitlich und örtlich bestimmten Kultur dar, die wir Nietzsche zufolge gleichsam mit vernehmen, wenn wir Musik hören. Diese Bindung zwischen Musik und Kultur ist in seinen Augen und Ohren so eng, dass er die Musik aufgrund der auf diese bezogenen Kultur beurteilt. Im entsprechenden Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse wird Nietzsche melancholisch, wenn er an Mozarts Rokoko denkt: […] wie glücklich wir, dass zu uns sein (Mozarts) Rokoko noch redet, dass seine „gute Gesellschaft“, sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaub an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appellieren darf! (JGB , § 245).
Gewiss wird es einmal mit dem „Verstehen und Schmecken“ der Mozart’schen Musik vorbei sein, dennoch zweifelt Nietzsche nicht daran, dass es bei Beethoven noch früher der Fall sein wird. Denn dieser sei nur der Ausklang eines „Stil-Übergangs und Stil-Bruchs“ und nicht wie Mozart „der Ausklang eines grossen Jahrhunderte langen europä29 Siehe oben § 11.
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ischen Geschmacks“ gewesen. Wiederum sind wir mit einer Art der Musikbetrachtung konfrontiert, die sich in keinen der bestehenden Musikdiskurse einordnen lässt. Es geht hier nicht um die kompositorische Größe der jeweiligen Gestalten, sondern um die Aktualität und ästhetische Genießbarkeit von deren Stil für das zeitgenössische Publikum. Eine ähnliche Unterscheidung traf auch Jakob Burckhardt in seinen Vorlesungen und Vorträgen über die historische Größe, die Nietzsche 1870 in Basel mit Begeisterung erlebte: Mozart und Beethoven können einer künftigen Menschheit so unverständlich werden, als uns jetzt die griechische, von den Zeitgenossen so hoch gepriesene Musik sein würde. Sie werden dann auf Kredit groß bleiben, auf die entzückten Aussagen unserer Zeit hin, etwa wie die Maler des Altertums, deren Werke verlorengegangen.30
Freilich nimmt bei Nietzsche die Feststellung der Vergänglichkeit von Musik eine besondere Brisanz an. Beethovens Musik sei der Ausdruck eines „Zwischen-Begebnis[ses]“ zwischen dem Alten, das „beständig zerbricht“, und dem Neuen, das „beständig kommt“: […] auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, – das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte (JGB , § 245).
Mag die Sprache Rousseaus, Schillers, Shelleys, Byrons – also jene Sprache, welche „in Beethoven zu singen wusste“ – in Nietzsches Ohren nur noch fremd klingen, so sei diese aber immerhin eine europäische Sprache gewesen: Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa’s von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war (ebd.).
Webers Freischütz und Oberon, Marschners Hans Heiling und Vampyr, ja selbst Wagners Tannhäuser sei nur noch „verklungene, wenn auch noch nicht vergessene Musik“. Nietzsche scheut sich bei seiner Verur-
30 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 226 f.
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teilung der romantischen Oper nicht, auf das alte Platon’sche Argument zurückzugreifen: Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam (ebd.).31
Die europäische Dimension sei der deutschen Romantik abhanden gekommen – dies wird zum wichtigsten Kriterium für Nietzsches Beurteilung. Stelle Mendelssohn, der „alkyonisch[e] Meister“, einen „schöne[n] Zwischenfall der deutschen Musik“ dar, so verdiene hingegen Schumann eine besondere Behandlung: Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist – es ist der Letzte, der eine Schule gegründet hat –: gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann’sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die „sächsische Schweiz“ seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! – seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständnis bis zum Unrechte –, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereignis in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, die Stimme für die Seele Europa’s zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken (ebd.).32
Nietzsches Verurteilung der Musik Schumanns verbindet sich mit derjenigen der deutschen „Vaterländerei“. Dabei bezieht er das Eigene in einem zweifachen Sinne in seine Überlegungen ein, nämlich als Deutscher und als früherer Schumann-Bewunderer. Hier hilft Schumann nicht einmal die Feindschaft, die ihm Wagner und die Wagnerianer entgegen bringen. Im Gegenteil scheint es, dass Nietzsche in seiner 31 Vgl. u. a. Platon, Nomoi III , 700c–d. 32 Nietzsches impliziter Hinweis auf Schumanns vermeintliche Alkoholsucht wird
thematisiert in Rupschus, Nietzsches Problem mit den Deutschen, S. 86 – 88.
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in der Zeit nach Menschliches, Allzumenschliches immer expliziter und schriller werdenden Wagner-Kritik Wert darauf legt, sich von der etablierten Partei der Anti-Wagnerianer deutlich zu unterscheiden. In der zweiten Nachschrift zu Der Fall Wagner (1888), nämlich dort, wo Brahms brutal – und bezeichnenderweise mit Wagner’schen Argumenten – abgefertigt wird,33 äußert sich Nietzsche darüber sehr deutlich: „Andre Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht“ (Wa, S. 46). Am Beginn derselben Schrift macht Nietzsche auch klar, dass seine Auseinandersetzung mit Wagner eine mit sich selbst ist: „Wenn ich Moralist wäre, wer weiss, wie ich’s nennen würde! Vielleicht Selbstüberwindung“ (Wa, S. 11). In einem Brief vom 19. April 1887 an Köselitz nennt Nietzsche diesen Prozess eine Entfremdung und fügt in Klammer hinzu, dass dies vor Wagner auch die Schumann’sche Musik getroffen habe (SB 8, S. 60). An den „Fällen“ Wagner und Schumann wird klar, dass Nietzsches Verfahren der Verfremdung zugleich eine Art der Selbstentfremdung darstellt. Im Winter 1888 entsteht in Turin Nietzsches sogenanntes Gondellied, welches in der verworfenen Publikation Nietzsche contra Wagner und in Ecce homo mit einem einleitenden Prosatext übernommen wird.34 In diesem Text werden zunächst die Merkmale aufgelistet, die eine von Nietzsche gutgeheißene Musik aufweisen soll: – Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich von der Musik will. Dass sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Dass sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süsses Weib von Niedertracht und Anmuth ist … (EH , S. 290).
Darauf folgt eine Behauptung, welche zunächst wegen der provokatorischen Schärfe auffällt: „Ich werde nie zulassen, dass ein Deutscher wissen könne, was Musik ist“ (ebd.). Es erinnert wiederum an das Paradoxon des Epimenides, dass der deutsche Nietzsche, der soeben durch 33 Siehe dazu Thatcher, „Nietzsches Totengericht über Brahms“. Zu Brahms’ Nietz-
sche-Rezeption siehe Reiber, „,Auch das Gegenteil kann wahr sein‘. Johannes Brahms, Josef Viktor Widmann und Friedrich Nietzsche“. 34 Siehe zum Gedicht u. a. Groddeck, „,Ein andres Wort für Musik‘“. Es fallen einige Anknüpfungspunkte zwischen diesem Gedicht und jener Stelle in Wagners Beethovenschrift auf, in dem Wagner vom Gesang eines Gondoliers, den er während einer schlaflosen Nacht erlebte, erzählt. Kurz darauf bezeichnet Wagner die Klänge eines Musikers als „Wundertropfen“, in Nietzsches Gedicht wird Gesang als „goldener Tropfen“ bezeichnet (Wagner, „Beethoven“, S. 52; 53). Zahlreiche Beziehungen zwischen Nietzsches Gondellied und weiteren dichterischen sowie musikalischen Kompositionen bespricht Lorenz, Musik und Nihilismus, S. 114 – 123.
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eine Reihe von Bestimmungen seine Kenntnis von Musik dargelegt hat, den Deutschen die Fähigkeit abspricht, vom Wesen der Musik sprechen zu können. Nietzsche spielt immer wieder mit den Paradoxa der Logik, die wenige Jahre später durch Bertrand Russel zum Gegenstand der philosophischen Betrachtung werden sollten.35 Hier geht es allerdings in erster Linie um ein Maskenspiel kultureller Identitäten, wie der nächste Einwurf zeigt: „Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben“ (ebd., S. 291). Somit erreicht Nietzsches Verfahren der Selbstentfremdung einen ironischen Höhepunkt. Dazu gehört freilich ein polemischer Seitenhieb gegen die Nationalisten und Antisemiten in Bayreuth und anderswo: „Was man deutsche Musiker nennt, die grössten voran, sind Ausländer, Slaven, Croaten, Italiäner, Niederländer – oder Juden“ (ebd., S. 290).36 Bevor das Gondellied ansetzen kann, muss noch der Süden beschworen werden, und zwar Nietzsches Süden: „Ich würde Rossini nicht zu missen wissen, noch weniger meinen Süden in der Musik, die Musik meines Venediger maëstro Pietro Gasti“ (ebd., 291). Das Maskenspiel, in Venedig ja eine vertraute Erscheinung, entfaltet sich nun vollkommen, denn Pietro Gasti alias Heinrich Köselitz ist genauso wenig ein Venezianer wie Nietzsche ein Pole, und, zumindest in den Augen Nietzsches, die deutschen Musiker Deutsche. Dem Süden Nietzsches fehlt das Prädikat der Eigentlichkeit, und zwar nicht zufällig, denn nur so kann es den essentialistischen Vorstellungen des Eigenen entgegenwirken, ohne diese zu reproduzieren. Nietzsches Süden, den er im Gondellied besingt, stellt weder einen musikhistorischen Ort noch die Utopie des 35 Siehe dazu u. a. Kneate, „Russell’s Paradox and Some Others“. 36 Nietzsche hätte sich vielleicht darüber gefreut, zu erfahren, dass die von ihm be-
hauptete polnische Herkunft von Wagner ernst genommen werden sollte. Im Jahr 1897 wendet sich Cosima an Houston Stewart Chamberlain mit der Bitte, er solle über Nietzsche schreiben: „Für künftige Zeiten ist mir etwas eingefallen, was ich ungemein gerne von ihnen behandelt sähe: ,Nietzsche‘! Ein Gegenbild zu Stein. Ich glaube, es wäre da etwas zu erkennen, was in die tiefsten Probleme der Metaphysik reicht. Auch die Rasse spricht hier. Er war slawischen Ursprunges. Ich glaube, daß nur Sie das könnten“ (Brief vom 6. Januar 1897, zit. nach Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 280). Im Jahr 1935 rühmt der spätere Autor einer vielgelesenen Wagner-Biographie Curt von Westernhagen diese „tiefe“ Einsicht Cosimas: „Daß schon Cosima Wagner diesen tiefsten Grund seiner [Nietzsches] Entfremdung erkannt hat, ersehen wir aus ihrem Brief an Chamberlain (vom 6. 1. 1897): ,Auch die Rasse spricht hier. Er war slawischen Ursprungs‘. Nein, es war wohl wirklich eine Unmöglichkeit des Verständnisses, Unmöglichkeit, da Nietzsche und Wagner das Blut trennte, das tiefer ist, denn das tiefste Wasser“ (Westernhagen, Richard Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft, zit. nach Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 287 f.).
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Eigenen, wie Bertram es auffasst,37 dar, sondern eine zentrifugale Bewegung zum Anderen hin. Zu dieser Hinwendung gehört wesentlich die Deplatzierung kultureller Identitäten, deren Verkörperung Chopin darstellt. Als ein in Paris lebender Pole verweist dieser zwar auf das Andere des Deutschen, jedoch derart, dass diese Andersheit ihrerseits weder geographisch noch kulturell oder musikhistorisch festzulegen ist. Wiederum zeigt sich die wesentliche Eigenschaft dieser Andersheit nicht so sehr darin, dass diese andere Merkmale als das Deutsche aufweist, sondern vor allem darin, dass sie sich nicht essentialistisch definieren lässt und mithin eine alternative Auffassung für das Eigene bietet, nämlich jene einer sich selbst überschreitenden und somit mit sich selbst stets in Widerspruch geratenden Identität. Daher wundert es nicht, dass in Nietzsches Chopin-Bild Züge erscheinen, die nicht nur die geographisch-kulturelle sondern auch die stilistische Bestimmung desselben in Frage stellen. Im Aphorismus 159 von Der Wanderer und sein Schatten wird der Romantiker Chopin zunächst mit Leopardi verglichen, dann mit Raffael: „Chopin hatte die selbe fürstliche Vornehmheit der Convention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichen einfachsten Farben zeigt – aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten“ (WS § 159).38 Im darauffolgenden Aphorismus lobt Nietzsche Chopins Barcarole, ein Stück, in dem ihm zufolge Chopin den seeligen Moment des Lebens an der Küste zum Ausdruck zu bringen vermag (WS § 160). In einer Nachlass-Notiz aus dem Frühjahr 1880 hebt er ausgerechnet am Beispiel der Barcarole sowie durch einen Vergleich mit Haydn die Fähigkeit Chopins hervor, aus der sehnsuchtsvollen Hinwendung zum Anderen Musik zu machen: Südliche Musik. Haydn empfand bei der ital [ienischen] Oper wohl das, was Chopin bei einer ital[ienischen] Barcarole! Beide machen Musik der Sehnsucht mit Verwendung der wirklichen ital[ienischen] Musik (NL 9, S. 38 f.).
In einem Gedicht aus dem Herbst 1884 wird die Hinwendung zum Anderen zum Thema gemacht:
37 Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 265 – 270. 38 In einer Notiz aus dem Frühling/Sommer 1878 schreibt Nietzsche folgendermaßen
„den höchsten Formensinn, auf der einfachsten Grundform das Complicirteste folgerichtig entwickeln – finde ich bei Chopin“ (NL 8, S. 510).
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Nun wird mir Alles noch zu Theil Der Adler meiner Hoffnung fand Ein reines, neues Griechenland Der Ohren und der Sinne Heil – Aus dumpfen deutschen Ton-Gedräng Mozart Rossini und Chopin Ich seh nach griechischen Geländen Das Schiff dich, deutscher Orpheus, wenden. Oh zögre nicht nach südlichen Geländen, Glücksel’gen Inseln, griechischen Nymphen-Spiel Des Schiffs Begierde hinzuwenden Kein Schiff fand je ein schöner Ziel – […] (NL 11, S. 302 f.).
Die musikalische Andersheit befindet sich in einem imaginären Süden, dem auch Chopins „Pariser“ Osten angehört. Im Zuge dieser systematischen Deplatzierung kultureller Identitäten präzisiert sich auch die Bedeutung des Griechischen für Nietzsche: Es bezeichnet keineswegs Wurzel und Ursprung des Eigenen wie das Klassische für den Bildungsphilister, sondern das fiktive Ziel einer Bewegung, welche den „deutschen Orpheus“ zum Anderen führt. Diese Erfahrung der De-Identifikation und Entfremdung verbindet über Nietzsches „Kehre“ hinweg die dionysische Musik mit der phänomenal anders gearteten Musik des Südens.
14. Zarathustras Musik*
Die Vorgeschichte Zarathustras entspricht der typischen Struktur eines Übergangsmythos, und zwar derart, wie dieser durch Arnold van Gennep dargestellt wurde:1 Der Held trennt sich von seiner Heimat im Alter von dreißig Jahren und geht in die Berge. Hier erfährt er seine Initiation, indem er sich zehn Jahre lang in Einsamkeit seinem Geiste widmet. Am Ende dieser Periode macht ihm die Verwandlung seines Herzens klar, dass die Zeit der Rückkehr gekommen ist. Zarathustra ist nämlich seiner erlangten Weisheit überdrüssig geworden und möchte sie an die Menschen in der Form einer Lehre verschenken und austeilen (Za, S. 11). Dabei handelt es sich um die Lehre vom Übermenschen, welche in der Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen kulminiert. Die in den allerersten Zeilen der Vorrede erwähnten Stadien der Trennung, Verwandlung und Rückkehr weisen also auf die „mythische“ Erzählung des Übergangs vom Menschen zum Übermenschen hin. Der Unterschied zu den traditionellen rites de passage wie Pubertät, Erwachsenwerden oder Eheschließung besteht darin, dass der Vollzug des Überganges zum Übermenschen die Entfremdung Zarathustras von der Gemeinschaft und somit das Scheitern seiner Rückkehr zu den Menschen bedeutet: Wie bereits der Freigeist ist auch der Übermensch ein Einzelgänger. Im Zarathustra werden ausgerechnet die Dimension des Kollektiven und die Sozialisierung individueller Erfahrungen, von denen jeglicher traditionelle Mythos zehrt, zum eigentlichen Problem. Der von Nietzsche geradezu ostentativ eingesetzte sprachliche Gestus einer mythischen Erzählung und die an den Ritus gemahnende Wiederholung einer sprachlichen Formel (Also sprach Zarathustra) lassen diese Inkongruenz umso deutlicher hervortreten: Der archaisierende Sprachduktus
* In dieses Kapitel sind Gedanken und Formulierungen eingeflossen, die ich bereits
in Celestini, „Nietzsches Ästhetik der Intermedialität“, publiziert habe.
1 Van Gennep, Übergangsriten, insb. S. 13 – 24. Der Anfang des Zarathustra ist am
Ende des vierten Buches von Die fröhliche Wissenschaft bereits vorweggenommen (FW , § 342). Zur Entstehung des Zarathustra und zu den biographischen Zusammenhängen siehe Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, S. 85 – 124.
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verweist zwar auf Mythos und Ritual; das Scheitern Zarathustras an der Vermittlung seiner in den Bergen errungenen Weisheit macht jedoch deutlich, dass keine der beiden traditionellen Formen eine angemessene Alternative zum philosophischen Diskurs und dem dort herrschenden „Geist der Schwere“ darstellen kann. Der Leser von Nietzsches eigentümlicher Erzählung wird mit dem Dilemma einer nicht mitteilbaren Erfahrung konfrontiert. In Also sprach Zarathustra sind der Inhalt der Lehre und das Problem von dessen Vermittlung unauflösbar miteinander verstrickt. Dies wird in Hinsicht auf die ewige Wiederkehr des Gleichen offensichtlich, da der zweifellos wichtigste Gedanke in Zarathustras Lehre nirgendwo „in der Gestalt einer philosophischen These gegenwärtig“ ist. Das Zentrum dieser Lehre besteht somit aus einem „textuelle[n] Loch“.2 Das kommunikative Scheitern Zarathustras hängt offensichtlich damit zusammen, dass der Inhalt seiner Lehre eine Erfahrung von Unmittelbarkeit darstellt. Im Nachwort zu seiner kritischen Ausgabe des Zarathustra erinnert Giorgio Colli daran, dass Nietzsche das Problem der Unmittelbarkeit bereits in der Geburt der Tragödie thematisiert hatte, und zwar in Bezug auf den Chor der griechischen Tragödie.3 Es handelt sich dabei um eine der zentralen Stellen in Nietzsches erstem Buch: In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. […] Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet (GT , S. 61 f.).
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der vorsprachlichen Erfahrung der Unmittelbarkeit und deren Mitteilung wird von Nietzsche immer wieder neu aufgeworfen, zuletzt eben im Zarathustra. Die abendländische Metaphysik, von Platon bis Schopenhauer, hat diese Frage durch den Rekurs auf die Dichotomie von Wesen und Erscheinung formuliert und im Verhältnis zwischen den beiden eine Antwort gesucht. Nietzsche knüpft zwar zur Zeit seiner Tragödienschriften an diese Tradition an, unterminiert jedoch die herkömmliche Hierarchie
2 Pautrat, „Nietzsche, medusiert“, S. 169; 172. Siehe dazu auch Groddeck, „Über-
mensch‘ und ,ewige Wiederkunft‘“.
3 Colli, „Nachwort“ zu Also Sprach Zarathustra, S. 413; 412.
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zwischen den dichotomischen Teilen zugunsten der stets gering geschätzten Erscheinung. In seiner Beethoven-Festschrift hatte Wagner ein dreistufiges, auf Schopenhauer basierendes Modell für die Mitteilung von Unmittelbarkeit dargestellt. Ihm zufolge wird das Wesen der Welt als dessen Idee von der Musik abgebildet, welche ihrerseits im Drama eine adäquate Darstellung erhält.4 Bei aller Nähe zu Wagner in der Zeit um 1870 unterscheidet Nietzsche sich hier von ihm in einem wesentlichen Punkt: Er meidet in den Tragödienschriften den Rekurs auf die platonische Idee und spricht vielmehr vom Traum als der eigentlichen Sphäre, aus der der apollinische Künstler schöpft.5 Ausgerechnet im Bezug auf den Traum liefert Sigmund Freud ein weiteres Modell, welches Carsten Zelle zufolge eine „strukturelle Übereinstimmung“ mit Nietzsches Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen aufweist. Genauso wie Dionysos, der nur „in apollonischer Maskierung“ erscheint, ist der unbewusste Traumvorgang „aufgrund der Dynamik von Traumarbeit und Traumentstellung“ stets hinter der Fassade des manifesten, im Wachzustand erinnerten Trauminhalts verborgen.6 Entscheidend für die Deutung des Verhältnisses zwischen Apollinischem und Dionysischem bei Nietzsche ist nun die Art und Weise, in der das, was Zelle als Transfigurations- bzw. Transformationsprozess des dionysischen Kunsttriebs in die apollinische Darstellung bezeichnet, verläuft. Zelle hat jene Stellen in der Geburt der Tragödie hervorgehoben, welche das Paradoxon des „Dionysos absconditus“ ansprechen: Unmittelbarkeit ist durch ihre Artikulation stets schon verschwunden. Das Dionysische kann nicht anders erscheinen als in apollinisch maskierter Gestalt, so daß alle Figuren der attischen Bühne wie Prometheus oder Oidipus „nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysos sind“ (GT , § 10, S. 71). Dionysos ist verschwunden. Genauer: Er hat sich in Apollo verwandelt.7
Sarah Kofman geht noch weiter und betrachtet das Verhältnis zwischen beiden Gottheiten als eine Verdoppelung: 4 5 6 7
Wagner, „Beethoven“, S. 87. Siehe dazu oben § 4. Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 326 f. Ebd., S. 325. Nietzsches Überzeugung, dass die Helden der Tragödie Masken des Dionysos seien, ist Gustav Adolf Seeck zufolge „nur eine Spekulation, von der man heute ganz abgekommen ist“. Siehe Seeck, Die griechische Tragödie, S. 179.
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Apollon est, au double sens du terme, un masque de Dionysos: il en est la figure et la manifestation, mais aussi le voile; il le révèle et le dissimule – au point de finir par faire „oublier“ celui dont il est le double.8
Dass Apollo Dionysos verdoppelt, heißt, dass Dionysos sich verdoppeln kann, dass er mit sich selbst nicht identisch ist und somit, dass er keineswegs jene reine Präsenz, jenes Ur-Eine und jener Ursprung ist, welche die in der Geburt der Tragödie neben anderen vorhandene metaphysische Deutung meint.9 Die ebenfalls in Nietzsches erstem Buch stattfindende Verstrickung des Dionysos in eine Semiotik der Maske nimmt eine besondere Bedeutung an, wenn man bedenkt, dass der Gott in der antiken Ikonographie als bloße bärtige Menschenmaske mit eingezeichneten Augen oder als eine solche dargestellt wird, die an einer Stele aufgehängt ist.10 Das von Zelle hervorgehobene Maskiert-Sein des Dionysos ist also in Wirklichkeit ein Sein als Maske, nämlich ein Sein, in dem das Eine bereits die Verdoppelung und die Präsenz bereits die Repräsentation ist. Walter F. Otto hat in seinem 1933 erschienenen Buch Dionysos dem „Symbol der Maske“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Dabei erinnert er daran, dass uns zwar die Maske auch in anderen griechischen Kulten begegnet, Dionysos jedoch den eigentlichen „Maskengott“ darstelle.11 Otto weist ferner darauf hin, dass die Maske keine Rückseite und mithin auch „kein volles Dasein“ hat: „Sie ist Symbol und Erscheinung dessen, was da ist und zugleich nicht da ist; unmittelbarste Gegenwart und absolute Abwesenheit in Einem“.12 Richard Weihe zufolge inszenieren die Dionysos-Darstellungen „ein paradoxes Spiel von Abwesenheit in der Anwesenheit oder von Anwesenheit des Abwesenden“. Daher zeige die Maske „in mehrfacher Hinsicht nur Abwesendes: Blick, Sprache, Identität“.13 Dass Dionysos sich nicht bloß maskiert, sondern selbst als Maske erscheint und „in der Maske gegenwärtig“ ist,14 verleiht Nietzsches darauf basierender Semiotik eine besondere Beschaffenheit. 8 Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 59. Eine Verdoppelung des Dio-
nysischen bei Nietzsche ortet auch Karl Heinz Bohrer, der einen „ekstatischen“ von einem „reflexiven“ Modus desselben unterscheidet (Bohrer, „Die Stile des Dionysos“, S. 218). 9 Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 72. 10 Weihe, Die Paradoxie der Maske, S. 106 – 108; Carpenter, Dionysian Imagery in Fifth-Century. 11 Otto, Dionysos, S. 81. 12 Ebd., S. 84. 13 Weihe, Die Paradoxie der Maske, S. 107. 14 Otto, Dionysos, S. 81.
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Sowohl der Dionysos-Kult als auch das Dionysos-Theater sind Erfahrungen der De-Identifikation, und beide stellen Manifestationen des Performativen dar. Weihe neigt dazu, die Tragödie als eine Art „Sublimierung“ des dionysischen Kultes aufzufassen: Wie der Dionysos-Kult ist auch das Dionysos-Theater eine durch Zeichen ermöglichte Gotteserfahrung. Doch im Theater kommt der Zuschauer nicht mehr unmittelbar mit dem Zeichen in Kontakt, wie etwa beim rituellen Zerreißen des symbolischen Opfertiers in der Omophagie. Die Theaterzuschauer sitzen dem Dionysischen passiv gegenüber und sind durch die Architektur vom Bühnengeschehen getrennt. Das Theater als Ganzes wird sozusagen zum Stellvertreter der Opfergabe […].15
In den Tragödienschriften ist Nietzsche stets zu zeigen bemüht, dass der „Zuschauer“ der attischen Tragödie im Gegensatz zu den modernen Theaterbesuchern keineswegs passiv dem Geschehen auf der Bühne gegenüberstand. Er verringert somit die Kluft, die Weihe zufolge den Dionysos-Kult vom Dionysos-Theater trennt – zumindest im Bezug auf die Performativität der beiden Handlungen.16 Jedoch scheint der wesentliche Punkt vielmehr darin zu bestehen, dass Dionysos als „Maskengott“ das semiotische Prinzip in sich aufnimmt und vertritt. Die von Nietzsche in den Tragödienschriften mehrmals gepriesene dionysische Unmittelbarkeit erweist sich zugleich als eine irreduzible Zeichenhaftigkeit, die im Kult die Form der Anbetung der Maske annimmt und im Theater durch die Maskierung der Schauspieler zum Tragen kommt. Dionysos zeigt sich als Vergöttlichung des Zeichenprinzips, indem er sich verbirgt. Der Gegensatz zwischen Unmittelbarkeit und semiotischem Verweis kommt somit zu den zahlreichen weiteren hinzu, die Dionysos bereits in sich vereinigt: Präsenz und Absenz, Einheit und Zerstückelung, Leben und Tod, Tier und Mensch, Weiblichkeit und Männlichkeit, Geschlechtigkeit und Körperlosigkeit.17 Abermals stellt sich heraus, dass Nietzsches Maskensemiotik der mittleren und späten Schriften ihre Wurzeln in den Tragödienschriften der Basler Zeit hat. Im Zarathustra nimmt diese Semiotik die literarische Form der Allegorie an. Wenn man die hervorragende Bedeutung 15 Ebd., S. 130. 16 Siehe oben § 1. 17 Karl Kerényi spricht dementsprechend von einem widersprüchlichen Zustand und
einer widersprüchlichen Identität des Gottes, dessen symbolische Darstellung zu einer Häfte Maske und zur anderen Phallus ist (Kerényi, Dionysos, S. 176).
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bedenkt, die im Denken Nietzsches der Rhetorik zukommt, erscheint dies keineswegs als verwunderlich. Bereits Blaise Pascal hatte das von der Maske betriebene Spiel von An- und Abwesenheit in den rhetorischen Figuren festgestellt: „Figure porte absence et présence“.18 Die allegorische Sprache des Zarathustra kann somit als eine Übertragung der „dionysischen“ Maskensemiotik auf den schriftlichen Text betrachtet werden. Nietzsches Aufwertung der Rhetorik geht ebenfalls auf die Basler Zeit, genauer auf die Jahre nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie, zurück. Mehrere Kommentatoren haben bemerkt, dass die Lektüre der Bücher von Richard Volkmann (Die Rhetorik der Griechen und der Römer in systematischer Übersicht dargestellt, 1872) und insbesondere von Gustav Gerber (Die Sprache als Kunst, 1871) ausschlaggebend für Nietzsches erwachtes Interesse an der Rhetorik gewesen zu sein scheint.19 In den Notizen, die er für das im Sommersemester 1874 gehaltene Seminar über die Darstellung der antiken Rhetorik vorbereitet hatte, tritt eine neue Einschätzung der Rhetorik und der grundlegenden Funktion, welche diese in der Sprache und darüber hinaus ausübt, deutlich zu Tage. Nietzsche stellt dabei fest, dass die Rhetorik keine besondere Erscheinung im Bereich der Sprache, sondern vielmehr deren Prinzip darstellt: Es ist aber nicht schwer zu beweisen, […] daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische „Natürlichkeit“ der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten […] (KGW II , 4, S. 425).
Nietzsche begnügt sich nicht mit allgemeinen Behauptungen, sondern zeigt durch konkrete Beispiele, wie alle Wörter „in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen“ sind. Das Ersetzen der ganzen Anschauung durch eine Teil-Wahrnehmung (Synekdoche), die Übertragung von Raum auf Zeit, von Zeit auf Kausalität und die Bezeichnung des Geschlechtes im grammatischen genus (Metapher), sowie die Vertauschung von Ursache und Wirkung (Metonymie) sind Vorgänge, welche die eigentliche Bedeutung der Worte bereits affizieren (KGW II , 4, S. 426 f.). Die Sprache kann insgesamt als Übertragung aufgefasst werden und damit als eine von vornherein rhetorische Leistung: 18 Pascal, Pensées, Nr. 265. 19 Siehe Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche“.
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Der sprachbildende Mensch faßt nicht Dinge oder Vorgänge auf, sondern Reize: er giebt nicht Empfindungen wieder, sondern sogar nur Abbildungen von Empfindungen. Die Empfindung durch einen Nervenreiz hervorgerufen, nimmt das Ding nicht selbst auf: diese Empfindung wird nach außen hin durch ein Bild dargestellt: es fragt sich aber überhaupt, wie ein Seelenakt durch ein Tonbild darstellbar ist? (KGW II , 4, S. 426).
Die Frage nach der Vermittlung von Unmittelbarkeit tritt somit erneut in voller Evidenz in Erscheinung, und zwar zunächst in der kantischen Formulierung der Unfassbarkeit des Dings an sich: „Nicht die Dinge treten ins Bewußtsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen das Pitanón“ (KGW II , 4, S. 426). Nietzsches Analyse führt zu Folgen, die Philippe Lacoue-Labarthe folgendermaßen erläutert: Zwischen dem „Ding an sich“ und der Sprache (dem Wort) gibt es folglich, trägt man der Trennung zwischen Ding und Empfindung Rechnung, drei Unterbrechungen, drei „Übergänge“ von einer „Sphäre“ zu einer (ihr absolut heterogenen) anderen. Was jede Möglichkeit einer wie immer gearteten Angleichung zerstört. Die Sprache gründet auf einer ursprünglichen und irreduziblen Kluft, die sie zu bezwingen sucht, indem sie das Nicht-Identische identifiziert, indem sie eine Analogie einführt.20
Anstelle des Dings erscheint ein „Merkmal“. Daher, fährt Lacoue- Labarthe fort, gibt die Sprache Zeichen, aber im Sinn von „auszeichnen“, indem sie durch Ersetzung markiert. Die Sprache bedeutet uneigentlich; sie denotiert nicht, sie konnotiert. Die ursprüngliche Übertragung ist somit die Figur, das heißt, zunächst die Trope, die Wortfigur. Übertragung gilt Nietzsche übrigens als Übersetzung des griechischen metaphora […]. Folglich ist die Sprache ursprünglich figural und tropisch, will sagen ursprünglich metaphorisch. Das Wesen der Sprache liegt in der Wendung; und die Metapher ist die künstlerische, mimetische Kraft selbst, die – ohne sie zu tilgen – die Repräsentations-Kluft überspringt.21
Die Metapher erscheint somit als die dem Herzen der Sprache innewohnende „Maske“, eine intermediale Übertragung, welche die Kluft zwischen Unmittelbarkeit und Zeichenhaftigkeit überspringt, und die 20 Lacoue-Labarthe, „Der Umweg“, S. 138 f. 21 Ebd., S. 129.
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Allegorie, von Quintilian als continua metaphora bezeichnet,22 stellt deren literarische „Fortbildung“ dar. Diese Einsicht in die rhetorische Natur der Sprache bringt weitreichende Folgen mit sich. Aus der Entdeckung des künstlerischen Charakters der Sprache geht nämlich die Infragestellung des von Nietzsche in der Geburt der Tragödie behaupteten Vorrangs der Musik sowie, bis zu einem gewissen Grad, der Dichotomie des Apollinischen und Dionysischen hervor. Beide Aspekte werden von Lacoue- Labarthe diskutiert, und zwar von der Perspektive der in der Geburt der Tragödie postulierten Ursprünglichkeit der Musik aus.23 Im fünften Kapitel hatte Nietzsche nämlich im Bezug auf den Schaffensprozess des Lyrikers und in Anlehnung an Schiller die These aufgestellt, dass der Akt des Dichtens aus einer musikalischen Stimmung hervorgeht, um sich sukzessive in einem apollinischen „gleichnissartigen Traumbilde“ sichtbar zu machen (GT , § 5, S. 44). Was hier behauptet wird, ist also die bereits im Titel des Buches verkündete These, dass die apollinische Darstellung, sei es als Dichtung in der Lyrik oder als Drama in der Tragödie, der Musik als dem dionysischen, ursprünglichen Moment notwendigerweise folgt. Es bestehen keine Zweifel darüber, dass bei Nietzsche diese zeitliche Folge die Konsequenz einer hierarchischen Beziehung darstellt, in der die Musik der Sprache als wesenhaft vorausgeht, während letztere wesensferner und abgeleitet folgt. Aus der oben zitierten Stelle aus der Vorlesung über die antike Rhetorik geht allerdings eine umgekehrte Reihe von Übertragungen hervor, die von der Reizempfindung über das Bild zum Tonbild führt. Diese auffällige Umkehrung der Genese veranlasst Lacoue-Labarthe festzustellen, daß der Ursprung nicht ursprünglich ist, daß die Repräsentation der Präsenz vorausgeht, etc. Und selbstverständlich ließe sich so etwas formulieren. Denn in der Kunst, wie sie sich jetzt definiert, ist Dionysos praktisch verschwunden. Er ist, genauer, Apollo geworden. […]. Apollo ist der Name des Dionysos („ursprüngliche“ Metapher). Dionysos kann also nicht mehr erscheinen: Apollo geht ihm voraus, und, ihm voraus – ihm, den er darstellt –, verbirgt er endgültig sein Gesicht, nimmt alle Hoffnung, daß sein wahres (das Gesicht der Wahrheit) sich eines Tages als solches enthüllen werde. Ohne Erscheinung und ohne Epiphanie, ist Dionysos von nun an ohne Identität. Er ist kein Gott
22 Quintilian, Institutio oratoria IX , II , 46. 23 Lacoue-Labarthe, „Der Umweg“, S. 150 f.
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der Präsenz mehr, er riskiert nicht mehr, ein Gott der Präsenz – ein gegenwärtiger Gott zu sein. Der Gott stirbt nicht in der Tragödie, er stirbt in der Rhetorik.24
Wiederum begegnen wir dem Dionysos absconditus. Dieser war uns allerdings bereits aus der Geburt der Tragödie bekannt. Demzufolge kann diese rätselhafte Erscheinung kaum als eine Konsequenz der späteren „Entdeckung“ der Rhetorik betrachtet werden. Darüber hinaus sind die vermeintlichen „Verluste“, die Lacoue-Labarthe bei Dionysos auflistet, bereits in der konstitutiven Widersprüchlichkeit des Gottes eingeschrieben. Indem Dionysos Präsenz und Absenz, Identität und De-Identifikation, Unmittelbarkeit und Maskenhaftigkeit in sich vereint, trägt er die eigene Dekonstruktion in sich, ja man ist zu behaupten versucht, dass Dionysos zum postmodernen Gott schlechthin avanciert. Das „wahre Gesicht“ des Dionysos ist, wie seine antiken Darstellungen zeigen, die Maske.25 Insofern kann man schwerlich vom Tod des Gottes sprechen, wenn er mit der Maske Apollos erscheint, denn die Maske stellt Dionysos’ Erscheinungsform dar. Ausgerechnet in der Maske ist jene Dynamik wirksam, welche die beinahe unendliche Reihe der von Dionysos verkörperten Dichotomien in jene charakteristische zirkuläre Bewegung bringt, in der das Ergebnis der Dekonstruktion erkennbar wird. Diese Dynamik bewirkt den Kollaps der Entgegensetzungen und mithin die von Nietzsche im Geiste Heraklits verkündete Verabschiedung des aristotelischen Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch. Denn die Maske ist zugleich Präsenz und Absenz, Identifikation und Dissimulation, Erscheinen und Verbergen, Oberfläche und Tiefe, Trennung und Verbindung. Weder löst die Maske diese Gegensätze auf, noch bringt sie sie zu einer höheren Synthese. Vielmehr vergegenwärtigt sie diese auf paradoxe Weise. Nietzsches Artistenmetaphysik in der Geburt der Tragödie enthält, wie Dionysos selbst, ihren eigenen Widerspruch. Dieser manifestiert sich nicht zufällig am deutlichsten dort, wo es um das Maskenspiel zwischen Dionysos und Apollo geht: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus“ (GT , § 21, S. 140).26 Diese Feststellung leitet den Kollaps sowohl der dichotomischen Entgegensetzung des Dionysischen und Apollinischen als auch 24 Ebd., S. 151. 25 Das griechische Wort prósopon bedeutet sowohl Gesicht als auch Maske. Siehe dazu
Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, S. 99 – 104.
26 Sarah Kofman spricht treffend von einer „rivalité mimétique“ zwischen den beiden
Göttern (Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 64).
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von deren hierarchischer Wertung ein. Der dionysische Nietzsche der Geburt der Tragödie ist, wie Carsten Zelle ihn nennt, ein „Apolloniker“ – aber doch auch wieder nicht, denn als solcher ist er wiederum bei Dionysos. Wenn aber Dionysos in der Rhetorik lebt, dann ist es mit dem Vorrang der Musik vorbei.27 Die im Tragödienbuch behauptete Ursprünglichkeit der Musik entspricht Nietzsches Absicht, den vom Triumph der sokratisch-platonischen Dialektik getragenen Logozentrismus durch einen Schopenhauer’schen „Melozentrismus“ zu ersetzen. Es ist allerdings unschwer zu erkennen, dass dieser nur eine Variante des Logozentrismus und somit der platonischen Metaphysik darstellt. Pautrat erklärt es folgendermaßen: La musique, en tant que langue propre et adéquate, première et universelle, en tant que moment adamique de la langue, ce ne serait après tout qu’une des nombreuses variantes de l’histoire du logocentrisme: la voie de Dionysos pourrait à cet égard rivaliser avec la „parole de Dieu“ ou la „voix de la conscience“, puisque, comme elles, elle présenterait la vérité dans son immédiateté, sans altération décisive, unissant dans son souffle mélodieux: sonorité, présence, propriété, être.28
Der Abschied vom Melozentrismus, durch die rhetorische Wende veranlasst und in der latenten sowie manifesten Wagner-Kritik gleichsam schmerzlich gekostet, fiel Nietzsche sicherlich nicht leicht. Zweifellos profitiert die Musik davon, denn sie wird vom metaphysischen Ballast befreit, um ihre eigene, von Nietzsche in der Post-Wagner’schen Zeit wiederentdeckte Leichtigkeit zurückzugewinnen.29 Zugleich wird die Sprache „musikalisiert“, und zwar derart, dass Musik zur „regulativen“ Metapher des künstlerischen, durch die fließende Beweglichkeit des Sinnes charakterisierten Sprechens wird. In Ecce homo ist zu lesen: „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen“ 27 Damit ist auch die vermeintliche Vaterschaft bzw. Mutterschaft des Dionysos au-
ßer Kraft gesetzt. Sarah Kofman formuliert dies folgendermaßen: „Apollon contre Dionysos, en ce sens, ce n’est plus le fils voulant prendre le place du père, renverser une hiérarchie naturelle, c’est bien un combat entre deux doubles […].“ (Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 68). Die These der Ursprünglichkeit wird im Aphorismus 171 aus Menschliches, Allzumenschliches II (1879), der den Titel „Die Musik als Spätling jeder Cultur“ trägt, ins Gegenteil verkehrt. 28 Pautrat, Versions du soleil, S. 73. 29 Nietzsche hatte allerdings mit der Loslösung der Musik von der Metaphysik bereits vor der „rhetorischen Wende“ begonnen, nämlich im 1871 niedergeschriebenen Fragment über Musik und Wort. Siehe dazu oben § 6.
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(EH , S. 335).30 Aldo Venturelli weist diesbezüglich auf „die Schaffung von Gleichklängen, die Umkehrung und Mischung von Tönen, Wörtern und Begriffen“ als Eigenschaften von Nietzsches Schreibweise hin.31 In einem Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar 1884 hebt Nietzsche einen weiteren Aspekt der Musikalisierung im Zarathustra hervor, nämlich die Komposition: „Mein Stil ist ein Tanz, ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale“ (SB 6, S. 479). Henning Ottmann hat in der Tat symbolisch aufgeladene rekursive Zahlenfolgen in einzelnen Teilen des Werkes festgestellt, welche die Zahlen 10 (Vorrede, IV . Teil), 12 (Nachtwandler-Lied), 7 (Der Genesende; Die sieben Siegel) betreffen.32 Es bestehen kaum Zweifel, dass von solchen Zahlenspielen noch viele zu finden wären, wenn man danach systematisch suchen würde.33 Eine weitere Dimension der Musikalisierung im Zarathustra bringt wiederum Nietzsche selbst zum Ausdruck, wenn er in Ecce homo den „Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt“ hervorhebt und die „Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus“ als die wesentliche Eigenschaft seiner Inspiration bezeichnet (EH , S. 339). Georges Liébert hat auf die umgekehrte Perspektive hingewiesen, die eine Musikalisierung des Schreibens eröffnet, nämlich die Ver30 Ähnliche Hinweise sind in Nietzsches Briefen an Ernst Schmeitzner (6. 2. 1884),
Franz Overbeck (6. 2. 1884), Carl von Gersdorff (12. 2. 1885), Paul Heinrich Widemann (31. 7. 1885) zu finden. Siehe dazu Lorenz, Musik und Nihilismus, S. 163 f. Die berühmteste dieser Äußerungen befindet sich in einem Brief vom 2. April 1883 an Köselitz. Hier schreibt Nietzsche: „Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser Zarathustra? Ich glaube beinahe, unter die ,Symphonien‘“ (SB 6, S. 353). Darauf basierend hat Curt Paul Janz die These aufgestellt, Nietzsche habe das Buch nach der klassischen Anlage einer viersätzigen Symphonie disponiert (Janz, Friedrich Nietzsche II , S. 211 – 221). Abgesehen davon, dass Nietzsche nur die ersten drei Teile des Werkes zur Veröffentlichung bestimmte, wäre ein solcher Bezug zweifellos zu wenig, um von Musikalisierung sprechen zu können. Noch dazu relativiert Janz selber seine These, indem er auch die symphonische Dichtung mit „leitmotivische[r] Verklämmerung“ (ebd., S. 216) und schließlich auch noch die dreiteilige Bar-Form mit dem Zarathustra in Verbindung bringt (ebd., S. 218). Siehe die diesbezügliche Kritik in Ottmann, „Kompositionsprobleme von Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘“, S. 53 f. Beide Thesen wurden von Wen-Tsien Hong übernommen, siehe dieselbe, Friedrich Nietzsche und die Musik, S. 150 – 157. 31 Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, S. 117. 32 Ottmann, „Kompositionsprobleme von Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘“, S. 58 – 61. Siehe dazu auch Hong, Friedrich Nietzsche und die Musik, S. 171 – 173. 33 Siehe zu diesen Zahlenspielen in den mit dem Zarathustra inhaltlich und dichterisch verwandten Dionysos-Dithyramben Groddeck, Friedrich Nietzsche – „Dionysos-Dithyramben“ II und die diesbezügliche Diskussion im übernächsten Kapitel.
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wandlung des Lesens zum Hören.34 Dabei kann Liébert auf Nietzsche selbst verweisen, der bereits gegen Ende 1880 Folgendes notierte: Wie die Italiener sich eine Musik aneignen, dadurch daß sie dieselbe in ihre Leidenschaft hineinziehen […], so lese ich die Denker und ihre Melodien singe ich nach: ich weiß, hinter allen den kalten Worten bewegt sich eine begehrende Seele, ich höre sie singen, denn meine eigene Seele singt, wenn sie bewegt ist (NL 9, S. 320).
Im Aphorismus 246 aus Jenseits von Gut und Böse (1886) werden als Kritik am Stil und an der Einstellung der Deutschen zum Lesen wichtige Eigenschaften angesprochen, die das Tanzen, Schreiben und Lesen miteinander verbinden und von einem verfeinerten „dritten Ohr“ vernommen werden können. In „jedem guten Satz“ stecke Kunst. Diese möchte erraten werden, „sofern der Satz verstanden sein will“: Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphtongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können […] (JGB § 246).
Nietzsches Selbsteinschätzung des Zarathustra als „musikalisches“ Werk macht deutlich, dass das von ihm zur Zeit seines ersten Buches behauptete Primat der Musik das eigentliche Potential seiner Ästhetik verdeckt, nämlich die im Maskenspiel zwischen Dionysos und Apollo zum Ausdruck kommende Intermedialität: Ursprünglich ist es weder die Musik noch das Ding an sich, sondern die intermediale Übertragung (Metapher) zwischen Reiz, Bild und Ton. Nietzsche zufolge stellt also der Zarathustra ein besonders gelungenes Beispiel für die Musikalisierung der Sprache dar, deren Beweglichkeit allerdings durch die schriftliche Fixierung ernsthaft bedroht wird. Daher gibt Zarathustra in seiner siebenten Rede Vom Lesen und Schreiben wertvolle Anweisungen, um die Sprache vor dem Tod durch die Schrift und das Lesen zu bewahren. Die erste davon lautet: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist“ (Za, S. 48). Das Blut soll ausgerechnet im Augenblick des Sterbens bekunden, dass die 34 Liébert, Nietzsche et la musique, S. 6 – 9.
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Schrift dem Sprechen, dem Körper und dem Leben angehört. Wenn der metaphysische Geist den Tod der Buchstaben verlangt, dann soll das Schreiben mit Blut zugleich diesen Tod verhindern und einen neuen Geist hervorbringen, der sich nicht gegen den Körper wendet, sondern sich durch ihn behauptet. Zugleich stellt das Blut aber ein tragisches Symbol dar – das Bild der zerrissenen Glieder des Dionysos blitzt durch. Blut fließt aus der Wunde und markiert, als Zeichen des Leidens und der Gefährdung, den Körper. Pautrat spricht daher von einer „écriture de la cruauté“ und meint dabei auch jene Gefahr, die das Schreiben für die Sprache bedeutet.35 Zarathustras zweite Anweisung weist auf die aphoristische Schreibweise hin: Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden. Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen gesprochen wird, Große und Hochwüchsige. Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so passt es gut zueinander (Za, S. 48).
Die aphoristische Fragmentierung des Schreibens verweist wiederum auf die Zerrissenheit des Dionysos, dessen Spur des Leidens in der blutigen Schrift lesbar wird. Eine zusätzliche Gefahr, der die écriture de la cruauté ausgesetzt ist, ist jene der Höhe in den Gebirgen:36 Die Szenerie des Zarathustra stellt nämlich eine sublime Landschaft von Hochgebirgen und weiten Wüsten dar: Das Werk ist ja auch als eine Parodie der Bibel zu lesen. Durch diese Topographie und den Sprachgestus ist das Erhabene im Zarathustra eingeschrieben. Es handelt sich allerdings um ein Sublimes des großen Stils, welches zum Erhabenen des Schreckens und Ungeheuerlichen dieselbe Relation wie Apollo zu Dionysos unterhält, nämlich diejenige einer allegorischen Verdop-
35 Pautrat, Versions du soleil, S. 302 f. 36 Zu den Gefahren gehört zweifellos auch das, was Pautrat „la métaphore menson
gère“ nennt, nämlich „la métaphore qui tente de fixer le périssable en impérissable, qui éternise la fiction de l’être sous la figure multiforme de dieu“ (Pautrat, Versions du soleil, S. 308 f.). Damit ist die Instrumentalisierung von Kunst, Dichtung und insbesondere Musik als Träger von metaphysischen und religiösen Gedanken gemeint, die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches denunziert. Über das Problem der Unterscheidung zwischen „guter“ und böser“ Verwendung der Metapher bzw. Maske siehe oben § 9.
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pelung.37 Zu den Nietzsche eigentümlichen Ambivalenzen gehört somit auch der irritierende Sachverhalt, dass dieses Werk, in dem die auf Wagner gemünzte Kritik am Erhabenen in einem eigenen Kapitel formuliert wird, zugleich in einer Sprache geschrieben ist, welche die „Maske“ des Erhabenen trägt.38 In der dritten Anweisung werden der Bezug auf den Körper und der Gang durch die aphoristischen Gipfel des Ausdrucks durch die Metapher des Tanzens miteinander verbunden. Dabei wird Zarathustras Dionysos vorgestellt, zu dem er sich gleich bekennt: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“ (Za, S. 49). Das dionysische Schreiben lebt vom apollinischen Anteil der Musik, dem Rhythmus. Auch der Leser soll sich in einen Tänzer verwandeln, um von Gipfel-Spruch zu Gipfel-Spruch mit seinen langen Beinen zu springen. Schriftsteller und Leser begegnen sich bei diesem Tanz, in dem die Leichtigkeit die Voraussetzung darstellt, um in die Höhe zu kommen und, in der dünnen Luft und von der Gefahr des Stürzens unbeeindruckt, die Vogelperspektive über die Welt zu übernehmen. Der Tanz stellt eine beim späten Nietzsche allgegenwärtige Metapher für die Einbeziehung des Körpers und der Gesamtheit der Sinne in die Praxis der Signifikation dar.39 Vor dem Hintergrund der im altgriechischen Begriff der musiké beinhalteten Verbindung von Dichtung, Musik und Orchestik erscheint der metaphorische Bezug auf den Tanz als mimetische Intermedialität, welche sowohl inhaltlich als auch strukturell zum Gegenentwurf zur Wagner’schen Vereinigung der Künste avanciert.40 Im Herbst 1883 fragt sich Nietzsche: „Trägt nicht 37 Norbert Bolz rekonstruiert die ganze Kette der transformativen Verdoppelungen
bzw. Maskierungen folgenderweise: „Das Schöne verhüllt das Erhabene; das Erhabene bändigt das Schreckliche – und das Schreckliche ist die Gorgo-Maske der Urszene“ (Bolz, „Die Verwindung des Erhabenen – Nietzsche“, S. 169). 38 Siehe dazu auch Geisenhanslüke, Le Sublime chez Nietzsche, S. 132. 39 Zum Tanz beim mittleren und späten Nietzsche siehe Mooney, „Nietzsche and the Dance“; Müller Farguell, Tanz-Figuren, S. 267 – 348; Reschke, „Zarathustra und die alten Männer oder Dionysos trifft den Papst“; Tietz, „Musik und Tanz als symbolische Formen“; Novak, „,… selbst an Abgründen noch zu tanzen‘“. Rüdiger Görner beobachtet, dass sich in den Augen Nietzsches im Tanz „Vitalismus und Kunst, Bacchantisches und Raffinement, Ekstatisches und Artifizielles“ vereinigen (Görner, „,Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum‘“, S. 14). 40 In seiner Typologie der intermedialen Möglichkeiten bezeichnet Werner Wolf diese „implizite Form werkinterner Referenz auf ein anderes Medium“ als Imitation. Diese besteht Wolf zufolge darin, „dass das Medium des untersuchten Werks Merkmale eines Fremdmediums mit seinen eigenen, meist formalen Mitteln imitiert und somit durch Ähnlichkeiten auf das Fremdmedium ikonisch verweist“ (Wolf, „Intermedialität“, S. 175).
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der Tänzer sein Ohr in den Zehen?“ (NL 10, S. 496). Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft ist zu lesen: „Unsre ersten Wertfragen, in bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: ,kann er gehen? Mehr noch, kann er tanzen?‘“ (FW , S. 614). Nietzsche zufolge ist es nicht nur erforderlich, zu schreiben, wie man tanzt, sondern auch so zu denken: „Denken gelernt sein will, wie Tanzen gelernt sein will, als eine Art Tanzen“ liest man in der Götzen-Dämmerung (GD , S. 109). Im selben Aphorismus fasst Nietzsche seine Gedanken zur Verbindung von Tanz, Denken und Schreiben folgendermaßen zusammen: „Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Feder können muss?“ (ebd.). Nietzsches Überzeugung, dass die Sprache an sich eine künstlerische Leistung darstellt, verweist auf den Grundsatz des Performativen, denn eine solche Sprache beschreibt nicht bloß die Welt, sondern bringt diese gleichsam hervor. Performativität unterläuft die Trennung zwischen Sache und Wort und überspringt somit die Kluft der Repräsentation. Sybille Krämer nennt die ontologische Unterscheidung zwischen der Sprache als einer strukturellen Ordnung einerseits, die als Schema, Muster oder Regelwerk aufzufassen ist, und den konkreten Aktualisierungen und Anwendungen dieser Regel andererseits „Zwei-Welten-Modell“. Dieses Modell sieht Krämer durch ein weiteres herausgefordert, das sie als „Performanz-Modell“ bezeichnet. In ihm existiert Sprache nicht als „Form“, sondern „nur in Form von Praktiken des Sprachgebrauchs“.41 Auf analoge Weise wird die metaphysische Zwei-Welt-Ontologie von Wesen und Erscheinung durch Nietzsches Performativität des Denkens unterlaufen. Hier ist die Erscheinung nicht länger Repräsentation (Vorstellung) des Wesens, sondern dessen Aufführung, eine mise-en-scène, die sich vermöge der allegorisch maskierten Sprache von der tragischen Bühne auf die gedruckte Seite übertragen lässt.
41 Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 263 ff.
15. Die Verwindung der romantischen Musik
Nietzsches (musik)ästhetisches Denken dreht sich seit Menschliches, Allzumenschliches um die Frage nach der Stellung der Kunst in einer „postromantischen“ Zeit – eine Frage, die im 222. Aphorismus desselben Buches ausdrücklich gestellt wird. Wie vor ihm Hegel1 stellt Nietzsche fest, dass die große Kunst der Vergangenheit, und das heißt diejenige, die „eine metaphysische Bedeutung“ erlangt, „nie wieder aufblühen“ kann (MA , § 222). Die in der Literatur oft gestellte Frage nach den musikalischen Vorstellungen, welche Nietzsche als Alternative zur „romantischen“ Musik und vor allem zur Musik Wagners vorschwebten, ist nicht leicht zu beantworten. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der einzig denkbare Weg, musikalische „Entwicklungen“ zu prägen, jener der Komposition ist. Ein Weg, den Nietzsche niemals ernsthaft dachte, selbst einschlagen zu können. Seine Kompositionsversuche enden um 1874 – womöglich auch deshalb, weil er keine andere Musik hätte komponieren können als diejenige, von der er sich abwenden wollte, nämlich die „deutsch-romantische“.2 Zeitgenössische Werke, die er in den späteren Jahren jenen Wagners entgegensetzte, waren bekanntlich Bizets Carmen und einige Kompositionen Heinrich Köselitz’ wie die komische Oper Il matrimonio segreto alias Der Löwe von Venedig, für deren Aufführung er sich persönlich einsetzte. Hinsichtlich der Bewertung solcher Urteile Nietzsches ist allerdings Vorsicht geboten, denn er selber bezeichnete Bizet, von dem er im Winter 1881 – 1882 so begeistert war,3 in einem Brief vom 27. Dezember 1888 an Carl Fuchs 1 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 25 f.; II , S. 231 – 242. 2 Nietzsches letzte Komposition ist der „Hymnus auf die Freundschaft“ (1874).
Im Jahr 1882 bastelte Nietzsche aus Motiven des Hymnus die Vertonung von Lou Salomés Gedicht „Gebet an das Leben“, die er später von Heinrich Köselitz instrumentieren ließ. Gernot Gruber meint, dass Nietzsches Musik „ganz und gar un-südländisch, sondern viel eher als nordisch-herb zu charakterisieren“ ist (Gruber, „Friedrich Nietzsches Aussagen über Mozart“, S. 268). Zu Nietzsches Kompositionen siehe u. a. Janz, „Die Kompositionen Friedrich Nietzsches“; Bloch, „Nietzsche als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos“; Moradei, La musica di Nietzsche; Zacchini, Al di là della musica; Lo Presti, „I ,Lieder‘ di Friedrich Nietzsche“; Hong, Friedrich Nietzsche und die Musik, S. 13 – 120; Liébert, Nietzsche et la musique. 3 Siehe dazu Janz, Nietzsche II , S. 86 – 89.
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als „ironische Antithese gegen W[agner]“ (SB 8, S. 554). Ferner war ihm auch der Gedanke, Köselitz’ Musik könnte ihm allein wegen seiner besonderen Befindlichkeit gefallen, durchaus präsent.4 Hinter Nietzsches ironischen, vagen oder widersprüchlichen Äußerungen über eine nicht mehr „romantische“ Musik steht weder eine verborgene Vorstellung, die es zu enthüllen gilt, noch eine konzeptuelle Schwäche, die zu sanktionieren ist. Vielmehr scheint das Problem darin zu bestehen, dass die „romantische“ als die schlechthin metaphysische Musik ebenso wenig wie die Metaphysik selbst überwunden werden kann. Wenn die „Kunstreligion“ des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt einer historischen „Entwicklung“ markiert, welche in der abendländischen Kultur die kompositorische Tätigkeit von der bescheidenen Sphäre des handwerklichen Tuns bis zur Sakralisierung in eigens dafür gebaute tempelförmige Konzert- und geweihte Festspielhäuser brachte, dann würde jeglicher Versuch, eine solche Kunst zu übertreffen, noch innerhalb derselben „Entwicklung“ bleiben, die man hinter sich lassen möchte. Dasselbe Problem zeigt sich Nietzsche auch von einer anderen Seite. Denn die „Irrthümer“ der „romantischen“ Musik, genauso wie jene der Metaphysik, können nicht einfach ausgeräumt werden, wie man im Sinne einer musikalischen oder philosophischen Aufklärung denken könnte, weil sie Nietzsche zufolge die menschliche Kultur in ihrer „höchsten“ Manifestation darstellen.5 Der 171. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche zeigt, dass in Nietzsches Augen und Ohren die Musik Wagners – zumindest zu dieser Zeit – keineswegs ästhetisch zu verurteilen ist. Vielmehr stelle „diese wunderbare und hohe“ Kunst den edelsten Ausdruck einer Epoche dar, nämlich 4 Nietzsche schreibt an Franz Overbeck aus Venedig am 7. Mai 1885 über Köselitz’
Oper: „An der Musik selber und ihrer Mozartischen Idealität kann ich mich nicht satt hören; es mag aber sein, daß ich dergleichen Musik nöthiger habe als Andre, und insofern auch weniger befähigt bin, ihren Werth festzusetzen“ (SB 7, S. 45). Einem Brief an die Schwester, welcher am selben Tag geschrieben wurde, ist zu entnehmen, dass Nietzsche die Gesellschaft Köselitz’ unangenehm war: „[Köselitz] ist ein Tölpel und zum Verkehre ungeschickt; ich habe zu viel zu überwinden, was mir wider den Geschmack geht“ (SB 7, S. 48). Siehe dazu auch Gruber, „Nietzsches Begriff des ,Südländischen‘ in der Musik“, S. 124 f. Nichtsdestotrotz unternahm Nietzsche mit Köselitz musikhistorische Studien zum Zweck der Überwindung des Wagnerismus, welche unter anderem in der gemeinsamen Betrachtung der Werke Rossinis, Bellinis und Chopins bestanden. Siehe dazu Love, „Nietzsche’s Quest for a New Aesthetic of Music“, S. 157 – 158. In diesem Zusammenhang ist auch Nietzsches Auseinandersetzung mit dem berühmten Streit zwischen den Befürwortern Glucks und denjenigen Piccinnis zu sehen (ebd., S. 158 – 164). Ausführlich zu Nietzsche und Köselitz siehe Love, Nietzsche and Peter Gast. 5 Siehe oben §§ 8 und 9.
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jener der Metaphysik, deren „Boden“ aber nicht mehr tragfähig sei (VS , § 171).6 Im März 1888 schließt Nietzsche einen Brief an Georg Brandes mit der folgenden Erklärung ab: „Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“ (SB 8, S. 279 f.). Die Möglichkeit, die „romantische Musik“ durch eine „bessere“ zu ersetzen, scheint Nietzsche zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches nicht gegeben zu sein. Im Gegenteil weisen mehrere Aphorismen darauf hin, dass er zunächst ausgerechnet den Hegel’schen Weg einzuschlagen gedenkt, nämlich den einer Überführung der Kunst in die Wissenschaft (MA , §§ 3; 13; 27; 234; 244). Zu stark scheint ihm die Bindung, welche die Kunst und insbesondere die Musik an die religiösen und metaphysischen „Irrthümer“ fesselt (MA , §§ 108; 131; 145; 146; 150; 155; 153; 159; 219; 244). Nachdem Nietzsche die Aufhebung der Kunst durch die Wissenschaft nochmals begrüßt hat (MA , § 222), schlägt er am Ende des vierten Hauptstücks einen geradezu sentimentalen Ton an und spricht von den „Abendröthen der Kunst“:7 Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen (MA , § 223).
Hier scheint dieselbe Melancholie durch, die Nietzsches späte Erinnerungen an das vergangene Glück seiner Freundschaft mit Wagner prägen wird (EH , S. 289 f.). Dieser weichere Ton ist ihm also nicht fremd, im Gegenteil. Es widerstrebt ihm allerdings, dabei zu verweilen: Im allerletzten Aphorismus des Bandes beschwört er eine „Philosophie des Vormittags“ und führt, wie bereits erwähnt,8 die Allegorie des Wanderers ein. Es wäre jedoch ein Missverständnis, dabei an einen „Reisende[n] nach einem letzten Ziele“ zu denken, denn „dieses giebt es nicht“. Eine nicht mehr metaphysische Kunst kann nicht länger in der Teleologie der Entwicklung und Überwindung verbleiben. Daher darf der Wanderer „sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen“, vielmehr soll er seine „Freude an dem Wechsel 6 Siehe oben § 11. 7 Ein Vergleich mit Adornos berühmtem Schluss der Negativen Dialektik würde
zeigen, dass Nietzsche selbst in einer solchen Stimmung nicht vermag, mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes sich zu solidarisieren. 8 Siehe § 12.
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und der Vergänglichkeit“ haben (MA , § 638), ja selbst an jener von Kunst und Musik. Um aus der paradoxen Situation eines weder zu sanktionierenden noch zu perpetuierenden „Irrtums“ auszubrechen, hat Gianni Vattimo vorgeschlagen, auf den Heidegger’schen Begriff der Verwindung zurückzugreifen. Vattimo weist darauf hin, dass Heidegger dabei an „eine Überholung“ denkt, welche „Züge der Hinnahme und der Vertiefung in sich enthält“.9 Dazu kommen noch die im deutschen Wortschatz festzustellenden Bedeutungen der Genesung und des Verdrehens: Die in dieser Bedeutungsvielfalt verstandene Verwindung definiert die für Heidegger charakteristische Position, seine Auffassung von der Aufgabe des Denkens zum gegenwärtigen Zeitpunkt, also am Ende der Philosophie in ihrer Form als Metaphysik. Auch für ihn hat das Denken, ebenso wie für Nietzsche, keinen anderen „Gegenstand“ (in sehr vielen Anführungsstrichen) als die Irrungen der Metaphysik, die in einer Einstellung er-innert werden, die weder die der kritischen Überschreitung noch die der wiederaufnehmenden und fortführenden Hinnahme ist.10
Sämtliche Bedeutungsbereiche der so aufgefassten Verwindung treffen auf wichtige Momente von Nietzsches Einstellung zur „romantischen“ Musik zu, vor allem ja der Wagner’schen gegenüber. Denn es ist offensichtlich, dass Nietzsche Wagner bis zu seinem Zusammenbruch in Turin nicht überwinden konnte. Vielmehr sollte man mit Heidegger vom Versuch einer „Überholung“ sprechen, der die Züge der „Hinnahme“ und „Vertiefung“, aber auch der (ironischen) Verdrehung wesentlich angehören. Die semantische Sphäre der Krankheit trifft bekanntlich bei Nietzsche auf einen harten biographischen Kern. Es ist bemerkenswert, wie Nietzsches eigenes körperliches Leiden, Wagners Musik und die Metaphysik seit dem Bayreuther Sommer im Jahr 1876 zu einer real-metaphorischen „Krankheit“ zusammenwachsen, deren Verwindung nun sowohl im medizinischen als auch im philosophischen Sinne Nietzsches wichtigste Aufgabe wird. Fällt in den Briefen an die Schwester, die Nietzsche in den Bayreuther Tagen schreibt, die Ambivalenz zwischen physischem Leiden und ästhetischem Missfallen auf (SB 5, S. 178 f.; 182), so spielt Nietzsche immer wieder mit der Zweideutigkeit einer Genesung aus der physischen und metaphysischen Krankheit. Als besonders bezeichnend, weil ausdrücklich auf die Musik bezogen, erscheint eine Notiz aus dem Sommer 1878: 9 Vattimo, „Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie“, S. 239. 10 Ebd., S. 188 f.
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Mir ist zu Muthe, als ob ich von einer Krankheit genesen; ich denke mit unaussprechlicher Süssigkeit an Mozart’s Requiem. Einfache Speisen schmecken mir wieder (NL 8, S. 545).
Ebenfalls bezeichnend ist, dass hier Mozart als die Chiffre der Genesung erscheint. Zur selben Zeit (15. Juli 1878) schreibt Nietzsche an die Wagnerianerin Mathilde Maier: Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher in Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen will – dazu eine ganz entsprechende Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit – ich meine die Kunst Wagner’s – dies Beides war es, was mich endlich krank und kränker machte und mich fast meinem guten Temperamente und meiner Begabung entfremdet hätte (SB 5, S. 337 f.).
In zwei Aphorismen aus Vermischte Meinungen und Sprüche und Morgenröthe erläutert Nietzsche den Nutzen der Krankheit für das Schreiben und Denken. Dieser bestünde zunächst darin, dass die „kränklichen Schriftsteller“ einen „sicherern und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben pflegen“ als die „körperlich Robusten“, denn sie verstehen die „Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung“ samt deren „Lehrmeister[n]: Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle“ besser (VS , § 356). Ferner sieht der „Schwerleidende“ aus „seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge“. Diese Kälte soll aber keinesfalls mit objektivierender Distanz verwechselt werden, sie stellt vielmehr eine Art „schauerliche Hellsichtigkeit“ dar, die sich einer neuen „Beleuchtung“ verdankt. Denn um „dem Schmerz Widerpart“ zu halten, bedarf es einer „ungeheure[n] Spannung des Intellectes“, dem die Dinge „in einem neuen Lichte leuchte[n]“. Der Blick des Leidenden sieht also anderes als jener des Gesunden, dessen „gemüthlich[e] warm[e] Nebelwelt“ jener mit „Verachtung“ betrachtet (M, § 114). Die ganze Morgenröthe sah ja Nietzsche als eine Schrift der Genesung an. Die Bedeutung, welche die Metapher der Genesung in Nietzsches Denken erlangt, wird aber erst in Also sprach Zarathustra in ihrer gesamten Tragweite erkennbar. Im dritten Teil dieses Werks befindet sich ein Kapitel mit dem Titel Der Genesende, in dem Nietzsche Einblicke in die Vorstellung der ewigen Wiederkunft gewährt. Der performative Charakter des Zarathustra manifestiert sich am deutlichsten durch die prophetische Geste, welche hier Nietzsches Schreiben annimmt. Denn die prophetische Aussage beschreibt nicht, sondern erschafft das, was
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sie zur Sprache bringt.11 Durch die stetige Wiederholung der zum Titel des Buches erhobenen Formel Also sprach Zarathustra wird auch die dem Performativen wesentlich angehörende Dimension des Rituals samt ihrer zirkulären Zeitlichkeit beschworen. Rituelle Handlung und prophetische Rede weisen nämlich auf entgegengesetzte Richtungen derselben kreisförmigen Zeit hin. Die Prophezeiung meidet traditionell die Eindeutigkeit der direkten Rede, um sich einer mehr oder minder allegorischen Ausdrucksweise zu bedienen. So kommen auch in den prophetisch-allegorischen Äußerungen des Zarathustra das Gesagte und das Gemeinte aus den Fugen und die Beziehung, welche zwischen diesen entsteht, avanciert zum eigentlichen Inhalt der Rede. Das ist zweifellos Nietzsches konsequentester Weg zur Verwindung der Metaphysik: Hier erreicht er eine Form des Denkens, in der die Mittel der metaphysischen Tradition weder eingesetzt noch überboten, sondern durch die prophetische Allegorie gleichsam ausgespielt werden. Auf diese Weise erscheint die Verwindung der Metaphysik genauso wie der damit verbundene Tod Gottes nicht als eine neue Idee, welche Gegenstand einer philosophischen Mitteilung wird, sondern als ein Ereignis, an dessen Geschehen die prophetisch-allegorische Aussage wesentlich beteiligt ist. Es ist daher kaum als Zufall zu betrachten, dass ausgerechnet dort, wo im Zarathustra von der ewigen Wiederkunft die Rede ist, das Moment des Performativen in die Darstellung einbezogen wird. Es handelt sich um das Kapitel Vom Gesicht und Räthsel, das sich ebenfalls im dritten Teil des Buches befindet. Hier bringt zunächst der Zwerg, welcher in der Allegorie den „Geist der Schwere“ – dies heißt: die herkömmliche philosophisch-metaphysische Denkweise – verkörpert, die Vorstellung der ewigen Wiederkunft als Theorie zur Sprache. Er beantwortet Zarathustras Frage, ob die beiden Wege, die jeweils in die Zukunft und in die Vergangenheit führen und die sich beim „Thorwege“ des „Augenblicks“ treffen, „sich ewig widersprechen“ würden, folgendermaßen: „Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. 11 In einem Aphorismus aus Die fröhliche Wissenschaft hebt Nietzsche gerade diesen
Aspekt der Prophetie hervor und führt ihn auf das delphische Orakel zurück, wobei eine entscheidende Rolle der Rhythmisierung durch den Vers zugeschrieben wird: „Sich prophezeien lassen – das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt […]. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apollo’s, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann“ (FW , S. 441 f.).
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Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“. Man könnte nun denken, dass hier der Kern von Nietzsches Vorstellung in konzentrierter Form ausgesprochen ist. Dennoch erwidert ihm Zarathustra: „Du Geist der Schwere! sprach ich zürnend, mache dir es nicht zu leicht!“ (Za, S. 200). Wie ist diese Reaktion zu verstehen? In der Tat widerspricht Zarathustra dem Zwerg nicht, sondern wirft ihm vielmehr vor, den Sachverhalt zu vereinfachen. Der Zwerg will nämlich die lineare Zeitauffassung zugunsten einer zirkulären überwinden, wobei die alte Konzeption als Lüge, die neue als Wahrheit bezeichnet wird. Damit versucht der Zwerg, ein bestehendes philosophisches System durch ein neues zu ersetzen, bleibt aber dabei in der Begrifflichkeit und in der Denkweise des alten verfangen. Um das alte System tatsächlich zu verlassen – also um mit Vattimo, auf den sich auch die Deutung dieses Kapitels des Zarathustra stützt,12 zu sprechen: zu verwinden –, muss auch die in diesem verwurzelte Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge und mithin das philosophisch-metaphysische Denken verwunden werden. Dies bezweckt Nietzsche im selben Kapitel durch die Einbeziehung der Dimension des Performativen. Während Zarathustra über die ewige Wiederkehr der Dinge nachdenkt und somit sich noch im Bereich der Schwere befindet, führt das Heulen eines Hundes in eine neue Phase der Allegorie über. Zarathustra muss sich von seinen philosophischen Gedanken verabschieden, denn der Hund hat ihn dorthin gelockt, wo sich eine schreckliche Szene abspielt: Zarathustra sieht einen jungen Hirten „sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng“. Nachdem er vergeblich versucht hat, die Schlange aus dem Schlunde des armen Hirten herauszureißen, rät er ihm: „Beiss zu! Beiss zu!“. Der Hirt beißt den Kopf der Schlange ab und springt empor: Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte! (Za, S. 201 f.)
Dieser zweite Teil der Allegorie fügt dem ersten keinen zusätzlichen philosophischen Inhalt hinzu.13 Die Schlange ist ein Symbol für die Kreisförmigkeit und verkörpert hier offensichtlich die „Lehre“ der 12 Vattimo, Il soggetto e la maschera, S. 189 – 211. 13 Die Allegorie verbindet Nietzsches Zarathustra und Wagners Ring. Sie weist im
Übrigen auch – wie Walter Benjamin ausführlich analysiert hat – auf den Barock hin. Andreas Dorschel zufolge (informelles Gespräch) kann darin eine Manifestation des bewahrenden Moments der Verwindung gesehen werden.
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ewigen Wiederkunft, so wie diese gerade durch den Zwerg und Zara thustra selbst dargestellt wurde. Die ekelhafte Wirkung entspricht der Sinnlosigkeit, welche einer Welt, in der alles schon war und wieder sein wird, eigen ist. Der Biss des Hirten erschließt aber die Dimension des Wollens und Tuns, nämlich jene Sphäre, in der beim späten Nietzsche das Performative angesiedelt ist. Erst durch diesen Biss gewinnt die gedankliche Konstruktion der ewigen Wiederkunft, die als solche in der Tradition des metaphysischen Denkens notwendig verhaftet bleiben würde, ihre Performanz und somit jene Eigenschaft, welche die Verwindung der Metaphysik ermöglicht. Denn die ewige Wiederkunft stellt in diesem Sinne keine metaphysische Struktur des Seins dar, welche den Anspruch auf Wahrheit erhebt und eine falsche ersetzt oder überwindet, sondern die Dimension des Performativen, in der der Gedanke schon das Ereignis ist.14 Im Kapitel Der Genesende spricht Zarathustra dies deutlich aus: „Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft“ (Za, S. 276). Dass damit keine Personalisierung gemeint ist, wird im selben Kapitel ersichtlich. Denn am Ende seiner siebentägigen Krankheit spricht der genesende Zarathustra, an seine Tiere gewandt, folgendermaßen: […] – und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir. Und ihr, – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von der eigenen Erlösung (Za, S. 273).
Hier hat sich Zarathustra selbst an die Stelle des Hirten gesetzt und damit kenntlich gemacht, dass es keineswegs um den Urheber einer Erfindung, sondern um die Institution der ewigen Wiederkunft durch den performativen Akt des Wollens und Tuns geht. Die Krankheit, von der Zarathustra langsam genest, ist hier der Gedanke der ewigen Wiederkunft, der Grausen und Ekel verursacht, weil er die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz offenbart. Als solcher gehört dieser Gedanke noch zur Sphäre der Metaphysik, genauer gesagt ihrem letzten Stadium, jenem der nihilistischen Auflösung aller metaphysischen Werte. Erst im performativen Augenblick des „Beißen[s] und Weg spein[s]“, nämlich im durch Ermüdung noch verschlechterten Zu14 Zu dieser Deutung siehe auch FW , § 341. In Zarathustra’s Vorrede ist der Übergang
vom konstativen zum performativen Register der Rede explizit: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde“ (Za, S. 14).
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stand der Krankheit, kann die Genesung beginnen, die Verwindung der Metaphysik in deren allerletzter Form als Nihilismus,15 denn in „unserer Macht steht die Zurechtlegung des Leides zu einem Segen, des Giftes zu einer Nahrung“ (NL 10, S. 529). Die poetische und prophetische Sprache des Zarathustra bringt die Performanz des Schreibens entgegen der Tradition des metaphysisch-philosophischen Denkens zur Geltung. Mit dieser performativen Prägung hängt zusammen, dass Nietzsche der „Lehre“ der ewigen Wiederkunft keine ausführliche Behandlung im Zarathustra oder sonstwo widmet. In den oben zitierten Worten des Genesenden fällt der Hinweis auf die Erlösung und mithin auf eines der Lieblingsmotive des späten Wagner auf. Auch die Musik kommt ins Gespräch: – Sprich nicht weiter, antworteten ihm abermals seine Thiere; lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue Leier! Denn siehe doch, oh Zarathustra! Zu deinen neuen Liedern bedarf es neuer Leiern (Za, S. 275).
Damit wird auch die Frage nach einer „neuen Musik“ wieder aufgeworfen. Näheres dazu ist in den beiden nachfolgenden Werken Nietzsches zu erfahren. In diesen gibt er die allegorische Rede des Zarathustra auf, um in einer verständlicheren Sprache dieselben Themen abermals zu erläutern. Dabei opfert er freilich auf dem Altar einer erhofften größeren Rezeption die konsequente Durchdringung von Ausdrucksund Denkweise, die er in der allegorisch-prophetischen Sprache des Zarathustra erreicht hatte.16 Das achte Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse trägt den Titel Völker und Vaterländer. Hier findet sich der 255. Aphorismus, in dem Nietzsche vor der „deutsche[n] Musik“ zur Vorsicht mahnt: Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländler, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvol15 Siehe auch das Kapitel im vierten Teil Die Erweckung (Za, S. 386 – 389). 16 Diese Opferung ist nicht ohne Konsequenzen. Siehe dazu unten § 16.
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Die V erwindung der romantischen Musik
leren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht…. (JGB , § 255).17
Geistige und sinnliche Genesung sind in diesem Aphorismus aufeinander bezogen. Die gleiche Ambivalenz zwischen der Lebenserfahrung des reisenden Nietzsche und der metaphorischen Rede prägt die musikalisch gedeutete Entgegensetzung von Norden und Süden. Durch die Beschwörung exotischer Welten und Eigenschaften wird dennoch zunehmend klar, dass hier weniger eine bestimmte Musik oder Stilrichtung, als vielmehr die zentrifugale Bewegung zur kulturellen Andersheit hin gemeint ist. Mag Nietzsches Musik des Südens jeweils die Maske Mozarts, Rossinis oder Pietro Gastis annehmen, so darf man nicht vergessen, dass es sich dabei eben um Masken handelt, deren Spiel keine Bestimmung duldet. Zur Verwindung des Eigenen gehört offensichtlich die Hinwendung zum Anderen, welches jedoch nicht zum Fremden stilisiert werden darf. Denn hypostasierte Andersheit stellt keineswegs das Andere des Selbst, sondern dessen projizierten Schatten dar. Im Vorwort zum Fall Wagner gibt Nietzsche offen zu, dass Wagner und Schopenhauer Teile seines Selbst sind, wenn auch krankhafte: „Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten“ (Wa, Vorwort). Es ist eine Krankheit, die es immer wieder zu verwinden gilt, weil sie, wie alle Dinge, ewig wiederkehrt.
17 Siehe zu diesem Aphorismus und zu dessen Implikationen in Bezug auf eine Musik
„jenseits von Gut und Böse“ Riethmüller, „Nietzsches Zweifel am Nutzen der Ethik für die Musik (Jenseits von Gut und Böse, § 255)“.
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Franz-Peter Hudek klagt in seiner 1989 erschienenen Dissertation, dass die Musikwissenschaft Nietzsches Schrift Der Fall Wagner nicht ernst genommen hat, und zwar sowohl wegen des ironischen und aggressiven Sprachstils, mit dem der Autor seine vernichtenden Urteile verkündet, als auch wegen des schlechten Rufes, den Nietzsche selber als Komponist genießt. Nietzsches Begeisterung für die Kompositionen Heinrich Köselitz’ alias Peter Gasts, die ansonsten bis heute kaum Wertschätzung erfahren, trägt zweifellos nicht dazu bei, den Urteilen Nietzsches über Wagner und sein Musiktheater Autorität und Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dennoch erscheint es Hudek notwendig, eine sachliche „Bewertung von Nietzsches Wertung des Wagnerschen Kunstschaffens“ zu unternehmen.1 Zu diesem Zweck fasst er die kritischen Äusserungen Nietzsches zusammen und vergleicht sie mit entsprechenden Analysen aus der späteren musikwissenschaftlichen Wagner-Literatur. Hudek zufolge gipfelt Nietzsches Wagner-Kritik in der Behauptung, Wagner sei Schauspieler und nicht Musiker.2 Dies schlage sich im verfehlten Versuch Wagners, eine große Form zu schaffen, ohne über die erforderlichen musikalischen Fähigkeiten zu verfügen, nieder: „Der Ambition ‚Große‘ (langandauernde) Musik zu schreiben, konnte Wagner nur über das Konstrukt ,Gesamtkunstwerk‘ nachkommen, da das formbildende Element laut Nietzsche die Dichtung einbrachte“.3 Neben dem „Stützkorsett Dichtung“ rekurriere Wagner auf ein weiteres Mittel, „um seine Unfähigkeit als Musiker zu kaschieren“,4 nämlich die elementarisch-suggestive Wirkung des Klanges. Hier verweist Hudek direkt auf die Worte Nietzsches:
1 Hudek: „Die Tyrannei der Musik“, S. 12. 2 Ebd., S. 22. 3 Ebd., 23. Der Gedanke, Musik solle selbst ihre eigene Struktur haben und nicht
erst eine solche durch den Text oder das Drama erhalten, geht bei Nietzsche erstaunlicherweise bis 1862 zurück. Siehe dazu Love, „Nietzsche’s Quest for a New Aesthetic of Music“, S. 158 f. Wie Love zu Recht hervorhebt, ist dieser Gedanke eigentlich mit der in Die Geburt der Tragödie aufgestellten These der Vorrangigkeit der Musik in der Lyrik kongruent (ebd., S. 168). 4 Ebd., S. 24.
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Das Elementarische genügt – Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will nichts als Wirkung (Wa, S. 31).
Das von Wagner auf diese Weise aufgebaute, überzogene Pathos tyrannisiere die Zuhörer, die dadurch ihr Urteilsvermögen einbüßen. Aufgrund dieser elementarischen Wirkung spreche Wagners Musikdrama die musikalisch Ungebildeten an, die sich dementsprechend bei seinen Spektakeln scharenweise träfen: Der Wagnerianer, mit seinem gläubigen Magen, wird sogar satt bei der Kost, die ihm sein Meister vorzaubert. Wir anderen, die wir in Büchern wie in Musik vor allem Substanz verlangen und denen mit bloss „repräsentierten“ Tafeln kaum gedient ist, sind viel schlimmer dran (Wa, S. 31).
Hudeks Betrachtung lenkte am Ende der 1980er Jahre den Blick auf die kompositionstechnischen Aspekte der Wagner-Kritik Nietzsches und trug somit dazu bei, eine Lücke in der musikwissenschaftlichen Auseindersetzung mit Nietzsche zu füllen. Nietzsches besondere und deshalb auffällige Schreibweise wird jedoch dabei vollkommen ausgeblendet. Richard Klein formuliert in seiner 1991 erschienenen, der Wagner-Kritik Adornos gewidmeten Dissertation die „Substanz“ der Kritik Nietzsches auf ähnliche Weise, rückt jedoch das kritische Moment einer nur scheinbaren Dynamik bei der Formbildung in den Vordergrund: […] bei aller Dynamik tritt Wagners Musik letztlich auf der Stelle. Ungeachtet ihres gestisch-theatralischen Furors kennt sie keine wirkliche Selbstentwicklung und schon gar keine finale Zielorientierung. Es ist ihr nicht möglich, von einem musikalischen Augenblick zum anderen sinnvoll, d. h. aus immanenter Konsequenz heraus, zu gelangen. […] Nietzsche spricht von einer „Anarchie der Atome“ (Wa, S. 27) […]. An einer anderen Stelle heißt es: „Nach einem Thema ist immer in Verlegenheit, wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung – Spannung“ (NL 8, S. 492). Schließlich wird das Problem des Umschlags von Dynamik („Aufregung“) in Statik in einer eindrucksvollen Metapher so zusammengefaßt: „Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet“ (NL 8, S. 495).5 5 Klein, Solidarität mit Metaphysik?, S. 277. Eine ausführliche Zusammenfassung
befindet sich in Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Der Fall Wagner“ – „Götzen- Dämmerung“, S. 13 – 17.
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Kleins Untersuchung ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig, weil in dieser der Aspekt der Metaphysik-Kritik eine wesentliche Rolle spielt. Nietzsches Feststellung, dass bei Wagner die traditionellen kompositorischen Mittel zugunsten der Klanggestaltung zurückgenommen werden, über die bereits Hudek mehrere Anklänge in der musikwissenschaftlichen Wagner-Literatur nachweisen konnte,6 wird von Klein keineswegs bestritten: Wagners Musik impliziert nicht lediglich Bruch, Diskontinuität, Abgrenzung und Zerfall[,] sondern auch und zugleich Übergang, Kontinuität, Entgrenzung und Fluß. Das Erfahrungs- und Hörkontinuum, das durch die radikalen Auflösungstendenzen in Motivik, Harmonik und Syntax verlorengegangen ist, wird in gewissem Sinn wiederhergestellt und zwar durch Farbe und Instrumentation, kurz durch den Klang. Die überragende Bedeutung des Klangs bildet im Verhältnis zur Destruktion der linearen Motiventfaltungen, der zentripetalen harmonischen Funktionszusammenhänge und der klein- wie großrhythmischen Periodengliederungen das notwendige konstruktiv-synthetische Gegengewicht.7
Durch den Bezug auf Nietzsches Metaphysik-Kritik, die Klein bereits gegen Adorno zu Recht verteidigt,8 wird nun Nietzsches Widersprüchlichkeit evident. Denn Klein merkt an, dass der „Metaphysikkritiker Nietzsche“ diese „musikalische ‚Umwertung aller Werte‘“, nämlich Wagners „Absage an stilistisch-formale Gesetzlichkeit, idiomatische Objektivität und logische Stringenz zugunsten sinnlich-phänomenaler Attraktivität, rhetorischer Expressivität und theatralischem Wirkungsreichtum“, auf der Basis „der traditionellen Unterscheidung von Farbe und Zeichnung, d. h. letztlich: von Wesen und Erscheinung“ beurteilt.9 Das Ergebnis ist aufsehenerregend: Nicht nur übersehe der Metaphysikkritiker Nietzsche das antimetaphysische Potential der Musik Wagners, sondern er beurteile diese zudem auf der Basis metaphysischer Kategorien. Nietzsche scheint auch seine Auffassung der Kunst als des „guten Willen[s] zum Scheine“ (FW , § 107) sowie seine tiefgreifende Kritik der Begriffe „Wahrheit“ und „Erkenntnis“ vergessen zu haben, wenn er behauptet, „Wagners Musik ist niemals wahr“ (Wa, S. 31), oder den verführerischen Charakter von derselben 6 Hudek, „Die Tyrannei der Musik“, S. 71 – 96. Siehe dazu neuerlich Janz, Klangdra-
maturgie.
7 Klein, Solidarität mit Metaphysik?, S. 278. 8 Ebd., S. 56 – 67. 9 Ebd., S. 278.
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Musik als aufklärungsfeindlichen Obskurantismus folgendermaßen abqualiziert: „Es gab nie einen solchen Todhaß auf die Erkenntnis“ (Wa, S. 43). In einem späteren Aufsatz weist Klein auf ein weiteres Moment des Widerspruchs hin, in dem das Scheitern von Nietzsches philosophischer Kritik augenfällig werde: Zwar hat [Nietzsche] sich zuzeiten als Komponist gefühlt, niemals aber als Philosoph kompositorisch gedacht. Hätte er letzteres getan, wäre ihm vermutlich aufgegangen, daß in Wagners antilinearer Behandlung der Zeit, die dem späten Nietzsche als „unorganisch“ aufstieß, derselbe Aufstand gegen Historismus, der den jungen erst in die Reflexion über dieses Werk getrieben hatte, eine differenzierte musikalische Gestalt annimmt.10
Wie bereits dargestellt, ist auch Nietzsches Schauspieler-Vorwurf an Wagner höchst zwiespältig,11 und zwar nicht zuletzt in Bezug auf sich selbst, den Philosophen der Maske und der Inszenierung. Karl Heinz Bohrer erinnert diesbezüglich an die Bemerkung von Giorgio Colli, nach der Nietzsche Shakespeare „in der souveränen Fähigkeit, den Menschen als Stoff fürs Theater“ zu betrachten, verwandt sei.12 Bohrer selbst findet Nietzsches Schilderung der Schauspielerveranlagung von Wagner so ambivalent, dass sie in seinen Augen nur von jemandem stammen kann, „der selbst das theatralisch Schauspielerische in sich trug“.13 Ähnlich äußerte sich bereits Eugen Fink: „Von ihm [Nietzsche] gilt, was Nietzsche von der Wagnerschen Musik sagt. Es ist viel Schauspielerei, viel Verführung und Zauber in Nietzsches Stil“.14 In Bezug auf den Verlust des Ganzen meint ferner Peter Pütz, dass Nietzsches Schilderung der Kunst Wagners sich auch wörtlich auf seine eigene anwenden lässt.15 Im Kapitel „Der Zauberer“ aus dem vierten Teil des Zarathustra hat schließlich Nietzsche diese Widersprüchlichkeit selber thematisiert, indem er die Parodie Wagners und die Selbstparodie ineinander fliessen lässt.16 Weitere Momente dieser selbstbezogenen Widersprüchlichkeit kommen zum Vorschein, wenn eine Beobachtung von Wolfram Grod10 Klein, „Nietzsche – Philosoph der Musik“, S. 1024. 11 Siehe oben § 9. 12 Zit. nach Bohrer, „Intensität ist kein Gefühl“, S. 93. 13 Ebd. 14 Fink, Nietzsches Philosophie, S. 11. 15 Pütz, Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann, S. 9. 16 Siehe oben § 9. Zur Parodie in Nietzsches Kompositionen siehe Bloch, „Nietzsche
als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos“.
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deck in Bezug auf Nietzsches Gondellied (1888) berücksichtigt wird. Die zweite Strophe des Gedichtes beginnt mit der Metapher „Meine Seele, ein Saitenspiel“, welche Groddeck als die bewusste Verwendung eines romantischen Topos deutet. Offensichtlich geht es hier, wie Groddeck hervorhebt, um eine uneigentliche Verwendung des Begriffes „Seele“, denn diese lässt sich nicht nur grundsätzlich mit der Romantik-Kritik Nietzsches kaum vereinbaren, sondern widerspricht auch punktuell dem, was Nietzsche eine Seite vor diesem Gedicht in Nietzsche contra Wagner in apodiktischer Deutlichkeit behauptet hatte, nämlich „es giebt keine Seele“ (NW , S. 419). In Bezug auf das Gedicht äußert sich Groddeck folgendermaßen: „Die Qualität des lyrischen Textes verdankt sich der in der Schwebe gehaltenen Spannung von innerem Erlebnis, artistischer Konstruktion und Selbstparodie“.17 Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche Spannung auch für den Fall Wagner, der zwar nicht als Gedicht verfasst ist, jedoch eine besondere, „ästhetisch bewusste“ Schreibweise aufweist, konstitutiv ist: Die ästhetisch bewußte Schreibweise Nietzsches, die in den Schriften der letzten Jahre zunehmend von hyperbolischer Diktion geprägt ist, boykottiert eine auf inhaltliche Vermittlung fixierte Lektüre. Vom Sprachgestus kann weder abstrahiert werden, noch läßt er sich einfach wörtlich nehmen.18
Klein hebt den Verdienst Nietzsches hervor, als erster eine philosophische Kritik von Musik überhaupt ausgeführt zu haben. Zugleich wirft er ihm jedoch vor, übersehen zu haben, dass „ein Kunstwerk kraft der Komplexität seiner inneren Beziehungen über das hinausgehen kann, was seine benennbaren Inhalte sonst sein mögen“.19 Doch Nietzsches konstellatives Denken erduldet eine solche Lösung nicht. Seine widersprüchliche Kritik macht vielmehr sichtbar, dass ihr Gegenstand Wagner ebenso widersprüchlich ist wie sie selbst. Betrachtet man die kompositorische, politische und kulturelle Wagner-Rezep tion im 20. Jahrhundert, muss man zum Schluss kommen, dass eine ungebrochene Einstellung zu Wagners Werk unmöglich ist, weil die „Komplexität seiner inneren Beziehungen“ den „benennbaren Inhalten“ zwar widersprechen kann, jedoch diese keineswegs aufzuheben vermag. Nietzsche, der Wagner stets im Zusammenhang mit dem Bay-
17 Groddeck, „,Ein andres Wort für Musik‘“, S. 29. 18 Ebd., S. 22. 19 Klein, „Nietzsche – Philosoph der Musik“, S. 1024.
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reuther Wagnerismus sieht, erkannte das als erster und mithin auch die Unmöglichkeit, mit diesem Widerspruch fertig zu werden.20 Es gibt scheinbare Widersprüche, die sich durch nähere Betrachtung auflösen lassen, ferner welche, die sich aus Denkfehlern ergeben, und schließlich noch andere, die irreduzibel sind und trotz Irritation oder gar deswegen Sinn stiften. Die Vermutung liegt nahe, dass wir bei der Lektüre von Nietzsches Der Fall Wagner mit manchen Widersprüchen der letzteren Art konfrontiert sind. Ein erster Schritt in die Richtung, aus dieser Vermutung eine These zu entwickeln, besteht darin, die Struktur von Nietzsches Gedanken über die romantische Musik nochmals zu überprüfen, um aus der Betrachtung scheinbare Widersprüche auszuscheiden. Zu diesem Zweck ist der Aphorismus 370 aus dem erst 1887 entstandenen fünften Buch von Die Fröhliche Wissenschaft besonders geeignet. Dieser trägt den Titel Was ist Romantik? und liefert Georg Picht zufolge „ein Schema“ von Nietzsches Denken.21 Nietzsche gibt im Laufe des Aphorismus eine komplexe, in vier Teile gegliederte Antwort auf die anfangs gestellte Frage, der folgender Grundsatz vorangeht: „Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel 20 Bezeichnend ist diesbezüglich Tobias Janz, „Monument der Unzeitgemäßen“. Zu
den Anfängen des Bayreuther Kreises und den durch die Bayreuther Blätter propagierten völkisch-reformerischen Inhalten äußert sich Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 263, folgendermaßen: „Diese von Anfang an vorhandene und dann immer stärker sich auswirkende Tendenz führt dazu, dass die ,Bayreuther Blätter‘ tatsächlich als ideologisches Diskussionsforum wirken, in dem alle wichtigen Themen des deutschen (und nicht deutschen) Antimodernismus auftreten: ein Nationalismus, der schon völkische Züge angenommen hat, ein Antisemitismus, der, im Anschluß an Wagner einerseits und im Einklang mit dem neuen, nicht mehr konfessionellen Antisemitismus andererseits, auch ,rassisch‘ begründet wird, eine folgerichtige, breitangelegte Entartungs-Theorie, sowie auch die prinzipielle Kritik des demokratischen Regierungssystems und des Industrialisierungsprozesses, und die ebenfalls bekannte Antithetik zwischen Agrarromantik und Großstadtfeindschaft“. Ferrari Zumbini fügt hinzu, dass es irreführend wäre, „zu glauben, der Bayreuther Kreis hätte sich erst in einer späteren Phase der politischen und ideologischen Polemik zugewandt“ (ebd., S. 264). Siehe dazu auch Schüler, Der Bayreuther Kreis, insb. S. 180 ff. und 231 ff. Zum Verhältnis zwischen Wagner und den Wagnerianern, so wie dieses Nietzsche empfand, schreibt Renate Reschke: „Die Wagnerianer als die schlimmsten Philister. Der Wagner-Kult als ein Paradigma für ihre kulturelle Barbarei. Das Schlimmste an Bayreuth aber war, daß Wagner selbst hier den künstlerischen Ort gefunden hatte, der seiner Musik kongenial war […]. Wagner wurde durch Bayreuth Wagner und Bayreuth wurde durch Wagner zu Bayreuth“ (Reschke, „,Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum‘“, S. 212. In einem späteren Text stellt Richard Klein fest, dass es Nietzsche „um eine Überschreitung des musikalischen Werks auf die Kultur hin, die es und die in ihm sich ausdrückt“, ging (Klein, Musikphilosophie, S. 78 f.). 21 Picht, Nietzsche, S. 182.
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im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus“ (FW , § 370). Eine erste und grundlegende Unterscheidung folgt: „[…] es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen […] – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden“, die nach einer romantischen Kunst suchen (ebd.). Diesen beiden Arten der Leidenden entsprechen die „entgegengesetzten Denk- und Wertungsweisen“ der „Welt- und Lebensbejahung“ und im anderen Fall der „Welt- und Lebensverneiung“.22 Eine zusätzliche Unterscheidung zeigt sich dadurch, dass jede dieser Formen des Leidens ihrerseits zwei Arten des Verlangens zum Ausdruck bringt, nämlich dasjenige nach Sein und das nach Werden. Aus der Zusammensetzung dieser doppelten Unterscheidung ergeben sich vier Kunstauffassungen und Philosophien, die im Aphorismus etwas verschlungen dargestellt, im von Picht rekonstruierten Schema allerdings deutlich disponiert sind: Die im Sinne des späten Nietzsche dionysische Kunst umfasst somit als erste eine zur Zeit der Geburt der Tragödie als apollinisch bezeichnete Kunst, die durch diejenigen hervorgebracht wird, die an der Überfülle des Lebens leiden und nach Sein verlangen. Diese stellt eine Kunst der Dankbarkeit und der Liebe dar, deren große Beispiele Rubens, Hafis, Goethe und Homer sind. Die zweite Kunst-Art und Philosophie stammt von denjenigen, die ebenfalls an der Überfülle des Lebens leiden, jedoch nach Werden verlangen. Es handelt sich dabei um eine tragische, dionysische Kunst im eigentlicheren Sinne, die durch die attische Tragödie und Dantes Divina Commedia exemplifiziert wird. Die aus der Verarmung des Lebens Leidenden bringen hingegen eine im breiteren Sinne romantische Kunst und Philosophie hervor, die ebenfalls aus zwei Untergruppen besteht: eine durch Sehnsucht nach Sein, Ruhe, glattem Meer und Erlösung gekennzeichnete sowie durch Epikur und das Christentum exemplifizierte Kunst und Philosophie und im anderen Fall die durch Schopenhauer und Wagner geprägte, im eigentlicheren Sinne romantische Kunst, deren Merkmale der romantische Pessimismus sowie Rausch, Krampf, Betäubung und Wahnsinn sind.23 Anhand dieses Schemas zeigt Picht, wie der Begriff des Dionysischen beim späten Nietzsche durch die Entgegensetzung des Romantischen sich verändert hat, und zwar derart, dass er sowohl als Oberbegriff für diejenigen Kunstformen, die in der Geburt der Tragödie als dionysisch 22 Ebd., S. 183. 23 Ebd., S. 183 – 185.
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und apollinisch bezeichnet wurden, als auch im engeren Sinne für die tragische Kunst verwendet wird. Das Merkmal des Rausches kommt nun sowohl in der dionysischen (im engeren Sinne) als auch in der romantischen (ebenfalls im engeren Sinne) Kunst vor und weist daher allein für sich genommen keinen differenzierenden Charakter mehr auf. Eine weitere klärende Folge der Deutung des Aphorismus betrifft die in Nietzsches Wagner-Kritik zentralen Aspekte von Täuschung und Wahrheit in der Kunst. Denn festzuhalten ist, dass für beide Kunstformen und Lebensauffassungen, nämlich die romantische und die dionysische (beide in breiterem Sinne), derselbe Grundsatz gilt, wonach alles Leben Täuschung und Schein ist, welches somit des Perspektivischen und des Irrtums bedarf. Jedoch ist in Nietzsches Auffassung der Kunst wiederum eine lebensbejahende Täuschung von einer lebensverneinenden Täuschung zu unterscheiden: Die lebensbejahende Kunst ist, obwohl sie wegen ihres perspektivischen Charakters unter den Oberbegriff der Täuschung gehört, gleichwohl wahr, denn sie steht im Einklang mit dem Leben und damit dem Sein, das sie bejaht. Die lebensverneinende Kunst ist nicht nur, wie die lebensbejahende Kunst, eine Täuschung im Sinne des Perspektivismus; sie ist obendrein unwahr, weil sie zum Leben und damit zum Sein im Widerspruch steht, es negiert, sich über seinen wahren Charakter hinwegtäuscht. Deswegen kann Nietzsche, ohne zu sich selbst in Widerspruch zu geraten, die lebensverneinende Moral als eine Lüge verdammen, obwohl auch seine lebensbejahende Kunst perspektivisch und insofern Täuschung ist.24
Reinhard Gasser kommt in seiner breit angelegten Studie über die Beziehungen zwischen Nietzsche und Freud zu ähnlichen Ergebnissen: Der „Fall Wagner“ wiederum sollte die Gefahren eines modernen ästhetischen Ideals vor Augen führen, in dem der Wille zum Schein nicht mehr wie bei den alten Griechen zum Zeichen instinktiver Einsicht in die Gesetze der Realität, sondern zum Indiz permanenter Flucht vor der Realität werde.25
Wagner personifiziere „den Typus jenes unbewußten Heuchlers und ‚Schauspielers‘, dem jedes künstlerische Narkotikum willkommen sei, sofern es nur dazu diene, einer überreizten Sinnlichkeit zu entflie-
24 Ebd., S. 186 f. 25 Gasser, Nietzsche und Freud, S. 362.
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hen“.26 Somit wird zunehmend deutlich, warum Nietzsche Wagners kompositorische „Umwertung aller Werte“, nämlich die Aufwertung des „Elementarischen“, anders als Klein keineswegs als antimetaphysisch betrachtet, sondern im Gegenteil als ein perfides Mittel, durch den Appell an die Sinnlichkeit aus der sinnlichen Welt zu flüchten.27 Noch expliziter auf Kleins Befund bezogen bedeutet das, dass Wagners Kompositionsweise an sich nicht „falsch“ ist, denn sie basiere wie die tragische, dionysische (im engeren Sinne) Kunst auf dem Rausch. Abzulehnen sei vielmehr die Absicht, die hinter dem Einsatz der kompositorischen Mittel steht – nämlich vor der Wirklichkeit zu flüchten –, sowie die für die romantisch-metaphysische Kunst und Philosophie bezeichnende Disposition des „Leidens an der Verarmung des Lebens“, aus der jene Mittel hervorgebracht werden. Durch den Vergleich zwischen Freud und Nietzsche kommt Gasser zu weiteren Einsichten: In diesem Punkt tangiert Nietzsches Verständnis tatsächlich die psychoanalytische Symptomatologie. Denn was Freud dann als allgemeinen ‚Ausspruch wagen‘ wird, daß ,eine Hysterie ein Zerrbild einer Kunstschöpfung‘ und ‚der Hysteriker […] ein unzweifelhafter Dichter‘ sei, schien dem späten Nietzsche, gestützt auf Argumente des französischen Physiologismus und im besonderen auf jene von Ch. Féré, am Beispiel Wagner evident: der Zusammenhang zwischen Hysterie und Kunst.28
26 Ebd. 27 Diese Kritik ist bereits in der Geburt der Tragödie implizit beinhaltet, und zwar in
§ 21, wo Nietzsche vor den Gefahren der Weltflucht und Weltverneinung warnt, die mit dem dionysischen Orgiasmus verbunden sind: „Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in’s Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf“ (GT , S. 133). Dank „der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie“ mit ihrer Verbrüderung des Dionysischen und Apollinischen sei es den Griechen gelungen, einen alternativen Weg zu finden (ebd., S. 134). Die folgenden Ausführungen über Tristan und Isolde legen nahe, dass eine solche Gefahr auch den Hörern und Hörerinnen der Musik Wagners droht. In der damaligen Begrifflichkeit ausgedrückt, war Nietzsche bereits zur Zeit der Geburt der Tragödie nicht sicher, dass das apollinische Element bei Wagner ausreichend ausgebildet sei, um den entfesselten Musikorgiasmus zu bändigen. Siehe dazu Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, S. 67 – 77. 28 Ebd. Gasser zitiert Freud, „Totem und Tabu“, S. 363: „Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems“.
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In Der Fall Wagner ist diesbezüglich zu lesen: Wagner’s Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose (Wa, S. 22).
Wagners kranke Musik sei aber keine individuelle Verfehlung, sondern im Gegenteil das Zeichen seiner Modernität: Gerade weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität (Wa, S. 23).
Massimo Ferrari Zumbini bringt die Ambivalenz dieser Kritik auf den Punkt, wenn er beobachtet, dass, indem Wagner seine vermeintliche Individualität abgesprochen wird, er zum „Symptom“, eben zum „Fall“ gerät und mithin der Aura der genialen Einzigartigkeit entkleidet wird.29 Die tiefsten Einblicke in das, was Nietzsche zufolge eine nicht romantische Kunst sein könnte, geben seine dichterischen Werke, insbesondere seine letzten überhaupt, die Dionysos-Dithyramben. Wolfram Groddeck, der diesen Gedichten zwei Bände philologischer Betrachtung gewidmet hat, spricht diesbezüglich von „Komposition“ und meint damit das sowohl den Zyklus im Ganzen als auch das einzelne Gedichte betreffende, aus Symbolzahlen und rekursiven Zahlenfolgen bestehende Zahlenspiel.30 Das neunte Gedicht des Zyklus, „Von der Armut des Reichsten“, wurde offensichtlich von Nietzsche selbst als sein Gegenbeispiel zur Kunst Wagners angesehen. Denn am Ende von Nietzsche contra Wagner, welches größtenteils aus einer Zusammensetzung wörtlicher oder leicht geänderter Selbstzitate besteht, kündigt er in einem neu geschriebenen Textteil des Epilogs eine „Probe“ von einer „andr[en] Kunst“ an. Dabei handelt es sich eben um den 29 Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 256. 30 Groddeck, Friedrich Nietzsche – „Dionysos-Dithyramben“ II , S. XIX . Vergleich in
Bezug auf Zarathustra Ottmann, „Kompositionsprobleme von Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘“.
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neunten der Dionysos-Dithyramben. Darin sei Nietzsche zufolge eine „Kunst für Künstler, nur für Künstler!“ zu erkennen, nämlich „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst“ (NW , S. 437 f.). Die Entsprechung zur musikalischen Komposition sieht Groddeck in der poetischen Verfahrensweise, bei „der das Material aus Wörtern, Wortklängen, Bildern, Bedeutungen, prosodischen Elementen, Zitaten usw. besteht und kompositorisch behandelt wird“. Die „Vergleichbarkeit mit der Musik“ liege somit „im Prinzip der Strukturierung, der Ordnung durch die Leere der Zahl“. Wiederum analog der Musik sei, dass der „,Sinn‘ des Textes“ aus dem „Zusammenspiel seiner verschiedenartigen Momente“ entsteht, während die ,Bedeutung‘ in der Musik vor Wagner Nietzsche zufolge ein nicht gegebenes Kunstmittel, im Gedicht „nur eines unter mehreren gleichberechtigen Elementen darstellt“.31 Auf diese Weise gelingt es Groddeck auch, den Unterschied zwischen Nietzsches fiktiver Intermedialität und dem durch Wagner gesteigerten Sprachvermögen der Musik auf den Punkt zu bringen, denn „Nietzsches Sprachkunst“ stelle sich als Musik dar, während Wagners Musik sich wie Sprache verhalte, und zwar in dem Sinne, dass sie die Bedeutung in den Vordergrund bringt (Wa, S. 35).32 Manche Widersprüche erweisen sich als nur scheinbare und lösen sich durch eine aufmerksame Lektüre von Nietzsches Texten auf. Andere sind jedoch grundsätzlich: Nietzsches ambivalentes Verhältnis zu Wagner ist weder bloß das Nebenprodukt einer mangelhaften Deutung seiner Äußerungen noch die Folge vermeintlicher psychologischer Labilität, sondern gehört wesentlich zur Sache selbst.33 Zu solchen irreduzibel widersprüchlichen Momenten in Nietzsches Kritik gehört die irritierende Reibung zwischen den genüsslich formulierten Zweifeln an der Meisterschaft Wagners als Komponist und der festen Überzeugung, dass keine anderen Komponisten, am wenigsten Brahms und am Ende auch nicht Peter Gast oder Bizet, es besser als Wagner machen (Wa, S. 46). Wiederum müssen wir feststellen: Wagner und die romantische Musik sind nicht zu überwinden, bestenfalls kommt eine Verwindung in Frage. In diesem unauflöslichen Widerspruch und in der immer wieder kontrapunktisch zu den spöttischen Bemerkungen geradezu pa31 Ebd., S. 288. 32 Ebd., Anm. Nr. 94. 33 Dazu Figal, „Wagner in Nietzsches philosophischer Perspektive“, S. 53: „Daß Nietz-
sche von Wagner nicht los kommt, ist von sachlicher Notwendigkeit […]“. Eine psychologisierende Deutung befindet sich u. a. in Janz, „Das Gesetz über uns“.
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thetisch geäußerten Bewunderung für Wagners Musik34 ist letztendlich die Einsicht implizit beinhaltet, dass in der ästhetischen Erfahrung Augenblicke wohl gegeben sind, in denen – mit den Worten Kleins – „ein Kunstwerk kraft der Komplexität seiner inneren Beziehungen über das hinausgehen kann, was seine benennbaren Inhalte sonst sein mögen“. Ausgerechnet in einem solchen Augenblick behält sich Nietzsche die Möglichkeit vor, inmitten des Widerstreits zwischen philosophischer Kritik und ästhetischem Genuss seinem jugendlichen „Aufstand gegen den Historismus“ Folge zu leisten. Das von Picht anhand des Aphorismus 370 erstellte Schema hilft zweifellos dabei, scheinbare Widersprüche zu meiden und terminologische Klarheit in der Auseinandersetzung mit dem späten Nietzsche zu schaffen. Wie jedes Schema ist dennoch diese Vierteilung ein statisches Gebilde. Wenn sie auch einerseits Klarheit schafft, blendet sie andererseits die besondere Art von Nietzsches Denken aus und ist daher auch nicht imstande, die nicht aufgelösten Widersprüche sinnstiftend zu befragen: Die Taxonomie der dionysischen und romantischen Kunstformen und Philosophien gehört – so würde der Nietzsche des Zarathustra sagen – dem Geist der Schwere an. Ohne sie zu verwerfen, sollen diese Wertungen und Unterscheidungen in Bewegung gebracht werden. Daher erscheint es notwendig, das zu versuchen, was die meisten Nietzsche-Kommentatoren auslassen, nämlich die eigentümliche Ausdrucksweise, auf die Nietzsche rekurriert, um seine Gedanken mitzuteilen, in die Betrachtung mit einzubeziehen.35 „ridendo dicere severum…“ liest man unter dem Titel Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888. Das Motto variiert ein berühmtes dictum des Horaz,36 und zwar auf subtile Weise. Durch das veränderte Zitat wird die Verbindung zum zitierten Autor und der von ihm gepflegten Gattung der Satire hergestellt und zugleich relativiert. Das 34 Zum in Monte Carlo 1887 zum ersten Mal gehörten Vorspiel des Parsifal schreibt
Nietzsche folgendermaßen in seinem Notizheft: „[…] das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe im Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermüthigen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Lionardo nicht“ (NL 12, S. 199). Siehe dazu auch Kienzle, „,… das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit“‘, S. 134 – 136. 35 Anregende Bemerkungen über Nietzsches Stil u. a. in Der Fall Wagner befinden sich in Schlaffer, Das entfesselte Wort; die Musik stellt allerdings nicht den eigentlichen Gegenstand dieses Buches dar. 36 Horaz, „Satirae“ I, 1, 23 – 25: „Praeterea – ne sic, ut qui iocularia, ridens / percurram, quamquam ridentem dicere verum / quid vetat?“
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Wort severum, welches an der Stelle des Horazen’schen verum steht, ist durch den Sperrdruck hervorgehoben. Soll üblicherweise das Motto dem Leser eine Orientierung zum Verstehen des Textes bieten, so scheint es in diesem Fall eher vor einseitigen Deutungen zu warnen. Die komisch-satirische Schreibweise und die gemeinte Strenge sind nämlich miteinander verstrickt. Zum Ausdruck gebracht in Form einer Paradoxie regt uns das Motto an, das Komische ernst zu nehmen,37 und zwar im zweifachen Sinn. Zunächst soll der Inhalt nicht bagatellisiert werden, nur weil dieser mit lachender Stimme ausgesprochen wird. Aber zugleich darf dieser von der besonderen Ausdrucksweise, von eben dieser lachenden Stimme nicht abstrahiert werden. Denn das Komische ist selbst an der Bedeutungskonstitution beteiligt, und zwar – wie im Folgenden zu zeigen ist – auf wesentliche Weise. Es ist übrigens kaum ein Zufall, dass ausgerechnet jene Schriften unter den letzten Nietzsches, die einen solchen komisch-ironischen Ton anstimmen, am besten gelungen sind. Wenn der späte Nietzsche ernst wird und über Rangordnungen und Hierarchien spricht, ist er unerträglich. Im Zentrum der Überlegungen Nietzsches steht seit den Tragödienschriften die Frage nach der Mitteilung von Unmittelbarkeit. Ins Psychologische übertragen, entspricht diese Frage der ebenfalls von Nietzsche oft bedachten Relation von Trieb und Sublimierung. Wagner rang jahrzehntelang mit derselben Gegenüberstellung, welche er in seinen Dramen vor allem unter dem gesellschaftlichen Gesichtspunkt des Konfliktes zwischen individuellem Begehren und sozialer Ordnung reflektiert.38 Erwartungsgemäß gehen die Lösungsversuche der beiden in entgegengesetzte Richtungen, und zwar nicht erst nach dem Bruch um 1878. Was aber Nietzsche betrifft, entspricht die Beziehung zwischen Unmittelbarkeit und Mitteilung jener von Dionysos und Apollo in der Tragödie. Wie bereits erörtert, wird diese Beziehung durch die Maske exemplifiziert, welche die Ambivalenz von Manifestation und Dissimulation zum Tragen bringt.39 Im Unterschied zu den Kategorien 37 Nietzsche kommentiert – wiederum ironisch – die Wahl des Mottos in EH , S. 357:
„Gesetzt aber, dass man dergestalt die Sache der Musik wie seine eigene Sache, wie seine eigene Leidengeschichte fühlt, so wird man diese Schrift voller Rücksichten und über die Maassen mild finden. In solchen Fällen heiter sein und sich gutmüthig mit verspotten – ridendo dicere severum, wo das verum dicere jede Härte rechtfertigen würde – ist die Humanität selbst“. Im Aphorismus 382 aus Die fröhliche Wissenschaft bezeichnet Nietzsche seine Philosophie als die „leibhafteste unfreiwillige Parodie“ vom bisherigen „Erden-Ernst“, mit der „vielleicht der grosse Ernst erst anhebt“ (FW , § 382). 38 Siehe dazu ausführlich Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 146 – 167. 39 Siehe oben § 14.
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des Wesens und der Erscheinung, die in der durch die Metaphysik geprägten Tradition der abendländischen Philosophie deutlich hierarchisch angeordnet sind, gehören Dionysos und Apollo zur selben – göttlichen – Ebene. Dionysos absconditus und sein Doppel Apollo veranstalten ein Spiel der Verweise, in dem die gesuchte Unmittelbarkeit verborgen bleibt. Die traditionelle Darstellung des Dionysos als Maske legt die Vermutung nahe, dass dieses Spiel vorgängig und vorrangig gegenüber jeglicher Unmittelbarkeit ist. Was Nietzsche in der Geburt der Tragödie noch das Ur-Eine nennt (GT , S. 30), ist in der Tat von vornherein gespalten, daher ist die Erfahrung des Dionysischen eine Erfahrung der De-Identifikation. In sprachwissenschaftlichen Termini ausgedrückt, entspricht diese Annahme der seit dem Poststrukturalismus bekannten These, dass erst die Bewegung der Signifikanten den Sinn erzeugt. Jacques Derrida hat dies in Form einer Kritik an dem, was er „signifié transcendental“ nennt, nämlich eine vermeintliche Bedeutung, die vor und unabhängig von den Signifikanten besteht, dargestellt: A partir du moment, au contraire, où l’on met en question la possibilité d’un tel signifié trascendental et où l’on reconnaît que tout signifié est aussi en position de signifiant, la distinction entre signifié et signifiant – le signe – devient problématique à sa racine.40
Wie im Fall der verstrickten Relation zwischen Dionysos und Apollo erscheint das Signifikat nicht nur durch die Maske des Signifikanten, sondern es ist selbst schon diese Maske. Derrida weist auf die kritischen Implikationen dieser Annahme in Hinsicht auf die Metaphysik ausdrücklich hin und mahnt angesichts der Tragweite eines solchen Unterfangens zur Vorsicht: […] elle [cette opération] doit passer par la déconstruction difficile de toute l’histoire de la métaphysique qui a imposé [sic] et ne cessera jamais d’imposer à toute la science sémiologique cette requête fondamentale d’un ,signifié trascendental‘ et d’un concepte indépendant de la langue; cette requête n’est pas imposée de l’extérieur par quelque chose comme ,la philosophie‘, mais par tout ce qui lie notre langue, notre culture, notre ,système de pensée‘ à l’histoire et au système de la métaphysique.41
40 Derrida, „Semiologie et Grammatologie“, S. 14. Siehe dazu auch ders., De la gram-
matologie, S. 106 – 108.
41 Ebd.
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Dieses Wagnis war Nietzsches Projekt. Die komisch-satirische Ausdrucksweise in Der Fall Wagner unterstützt die beabsichtigte Metaphysik-Kritik, indem sie durch die Mehrdeutigkeit der Signifikation eben jene Bewegung der Signifikanten hervorhebt und dadurch den Versuchen, diese durch Idealisierung der Bedeutung zu transzendieren, entgegenwirkt. In dieser Schrift zeigt sich das Komische als eine mit der aphoristischen Schreibweise seit Menschliches, Allzumenschliches und der allegorischen und (selbst-) parodistischen Rede des Zarathustra hinsichtlich der Ergebnisse vergleichbare, wenn auch in Bezug auf die Mittel unterschiedliche textuelle Strategie, um der schriftlichen Fixierung zum Trotz den Sinn in Bewegung zu bringen. Eine Probe dieser Wirkung hat Nietzsche bereits mit dem vierten, keiner breiten Öffentlichkeit bestimmten Buch des Zarathustra gegeben. Alexander Nehamas betrachtet diesen Teil „with its burlesque characters and carnivalesque atmosphere“ als a commentary on how the first three parts of Zarathustra are not to be read. It dramatizes the mistake of Nietzsche’s ‚positive‘ readers, who want to get a ,theory‘ of life of the work. […] The satyr play, so to speak, suggests that the tragic trilogy that precedes it must not be taken too seriously.42
Umso mehr gilt dies für Der Fall Wagner, in dem die offen verkündete ironisch-satirische Absicht eine wörtliche Deutung des Inhalts nicht zulässt.43 Andererseits, daran erinnert uns das Motto, ist dieser jedoch ernst zu nehmen. Ein ernsthaftes Lachen charakterisiert Julia Kristeva zufolge den Karneval, so wie der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin diesen auffasst.44 Kristevas durch die Auseinandersetzung mit Bachtin gewonnene Einsichten in die Eigenschaften des Karnevals sind in Bezug auf Der Fall Wagner erhellend: Der Karneval ist im Wesentlichen dialogisch; er besteht aus Abständen, Relationen, Analogien, nicht-ausschließenden Gegensätzen […]. Derjenige, der am Karneval teilnimmt, ist gleichzeitig Schauspieler und Zuschauer; er verliert sein Bewusstsein als Person, um durch den Nullpunkt der karnevalesken Aktivität hindurchzugehen und um sich zu entzweien in ein Subjekt des Schauspiels und ein Objekt des Spiels. Im Karneval 42 Nehamas, „For Whom the Sun Shines“, S. 181. 43 Deleuze, „Nomad Thought“, S. 147: „Those who read Nietzsche without laugh-
ing – without laughing often, richly, even hilariously – have, in a sense, not read Nietzsche at all“. 44 Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, S. 363.
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wird das Subjekt vernichtet: hier vollendet sich die Struktur des Autors als eines Anonymats, das kreiert und sich kreieren sieht, zugleich als Ich und als Anderer, als Mensch und als Maske.45
Die karnevaleske Struktur, Bachtin zufolge in die menippeische Satire und später in die „polyphonen“ Romane Rabelais’, Cervantes’, Swifts, Sternes, Sades, Balzacs, Dostojewskijs u. a. absorbiert, bezeichnet Kristeva als „lasterhaft“, gleichzeitig „darstellend und gegendarstellend, also antiideologisch, antichristlich, antirationalistisch“.46 Insbesondere die Menippea scheint der Schrift Nietzsches, der sich durch das Motto ausdrücklich auf die Satire bezieht, besonders nah zu stehen: Die Menippea neigt zum Skandal und zum Exzentrischen in der Sprache. Das „unangemessene“ Wort ist durch zynische Ehrlichkeit, die Profanierung des Heiligen, den Angriff auf die Etikette sehr charakteristisch für die Menippea. Die Menippea besteht aus Oppositionen: eine tugendhafte Hetäre, ein grosszügiger Bandit, ein zugleich freier und versklavter Weiser usw…. Sie benutzt die Übergänge und die abrupten Wechsel, das Hohe und das Niedrige, den Aufstieg und den Fall, Mesalliancen aller Art. Die Sprache scheint von einem „Double“ […] fasziniert zu sein – und von der Logik der Opposition, die die Logik der Identität in den Definitionen der Terme ersetzt.47
Nietzsches Wagner-Bild in Der Fall Wagner erscheint geradezu als eine Verkörperung menippeischer Oppositionen: ein großer Komponist, dem die Meisterschaft fehlt; ein Wahrheitsverkünder und Wesenserkunder, der falsche Münze verteilt; ein Musiker, dem die Musik zu wenig bedeutet; ein Musikphilosoph, der auf das Elementarische pocht. Der Hinweis auf eine alternative Logik, die sich in der karnevalesken Schreibweise zeigt, trifft bei der Betrachtung von Nietzsches Schrift auf einen wesentlichen Punkt. Kristeva bezeichnet diese alternative Logik des Karnevals als eine anti-aristotelische, sie sei eine „Logik der Distanz und der Relation“, die auf „ein Werden hinweist“. Damit stehe die von „Dialogismus“ implizierte Logik im Gegensatz zur „Ebene der Kausalität und der identifizierenden Determination, die als monologisch bezeichnet werden kann“.48 Das Werden und die Bewegung des Sinnes in Der Fall Wagner bewirken, dass man mit dieser Schrift nie fertig wird, und zwar in einem 45 Ebd., S. 362. 46 Ebd., S. 363. 47 Ebd., S. 367. 48 Ebd., S. 355.
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höheren Ausmaß, als diese Feststellung für jeden Text zutrifft. Denn hier geht es nicht darum, im Sinne der Hermeneutik auf die nächste Lektüre zu warten, welche die Bedeutung des Textes mit einem weiteren Horizont verschmelzen wird, sondern der Sinn lässt sich bereits in der jeweiligen Deutung nicht hypostasieren. Indem die komisch-satirische Sprache die Relation zwischen Subjekt und Objekt der Aussage trübt, gehört sie jener Semiotik der Maske an, die Nietzsche im Laufe der Jahre entwickelt hat und von der bereits die Rede war.49 Sie ist aber darüber hinaus mit dem Inhalt einer spezifisch auf Musik bezogenen Wagner-Kritik kongruent. Denn die Musik ist mit ihren „tönend bewegten Formen“ besonders gut dazu geeignet, die Sinnhaftigkeit einer solchen Bewegung offensichtlich zu machen.50 Diese vorbildhafte Funktion der Musik, die Nietzsche anerkennt und umsetzt, indem er seine Sprache musikalisiert, wird von Wagners Absicht, hinter der Musik eine höhere, das Wesen der Welt idealisierende Bedeutung zu behaupten, zerstört. Damit ist der Kern von Nietzsches Wagner-Kritik angesprochen, dem er das zehnte Kapitel seiner Schrift widmet: Thatsächlich hat er [Wagner] sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: dass seine Musik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel mehr!… „Nicht nur Musik“ – so redet kein Musiker (Wa, S. 35). „Die Musik ist immer nur ein Mittel“: das war seine Theorie, das war vor allem die einzige ihm überhaupt mögliche Praxis. Aber so denkt kein Musiker (Wa, S. 36).
Nietzsche betrachtet diese Einstellung Wagners im Zusammenhang mit dem deutschen Idealismus. In der komprimierten Darstellung dieses Einflusses findet auch Schopenhauer seinen Platz: Erinnern wir uns, dass Wagner in der Zeit, wo Hegel und Schelling die Geister verführten, jung war; dass er errieth, dass er mit Händen griff, 49 Siehe oben § 9. 50 Nietzsche verwendet in seiner Polemik immer wieder Argumente, die er aus Eduard
Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen (1854) übernimmt, wie die Hervorhebung von Rhythmus und Melodie als den wesentlichen Momenten der Musik, die Verwerfung des Pathologischen als Mittel, theatralische Wikungen bei den Zuhörern zu erzielen und schließlich die im zitierten Satz gemeinte Begründung des musikalisch Schönen in den musikalischen Formen selbst. Hanslicks erwünschte Neutralisierung der Affekte in der Musikbetrachtung widerspricht jedoch Nietzsches Musikauffassung zutiefst. Siehe dazu Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 98 f. Zur Hanslick-Rezeption des frühen Nietzsche siehe oben § 6.
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was allein der Deutsche ernst nimmt – „die Idee“, will sagen Etwas, das dunkel, ungewiss, ahnungsvoll ist; dass Klarheit unter Deutschen ein Einwand, Logik eine Widerlegung ist. Schopenhauer hat, mit Härte, die Epoche Hegel’s und Schelling’s der Unredlichkeit geziehn – mit Härte, auch mit Unrecht: er selbst, der alte pessimistische Falschmünzer, hat es in Nichts „redlicher“ getrieben als seine berühmteren Zeitgenossen (Wa, S. 36).51
Nietzsche rekurriert auf die karnevalesken Mittel der komischen Umkehrung des Höheren und Niedrigen und führt diese mit der Geste der satirischen Entlarvung durch.52 Die üblicherweise mit edlen Vorstellungen assoziierte Idee wird hier als bloße Vorliebe für dubiose Gefühle, die Komplexität der Hegel’schen Dialektik als Fehlen von Logik und Klarheit bloßgestellt. Nebenbei wird der große Gegner Hegels Schopenhauer als lächerliche Randfigur abserviert und mithin sein Anhänger Wagner implizit ridikülisiert. In den darauffolgenden Zeilen wird die satirische Herabwürdigung des deutschen Idealismus zum abschließenden Höhepunkt gebracht, indem dieses anspruchsvolle gedankliche System zum bloßen Geschmack und Wagner als dessen Nutznießer heruntergesetzt werden: Hegel ist ein Geschmack… Und nicht nur ein deutscher, sondern ein europäischer Geschmack! – Ein Geschmack, den Wagner begriff! – dem er sich gewachsen fühlte! Den er verewigt hat! – Er machte bloß die Nutzanwendung auf die Musik – er erfand sich einen Stil, der „Unendliches bedeutet,“ – er wurde der Erbe Hegel’s… Die Musik als „Idee“ (Wa, S. 36).
Damit tritt ein weiterer Aspekt des Komischen in Der Fall Wagner zutage, welcher ebenfalls auf jene Konfiguration von Oppositionen 51 Eine Kostprobe dieses karnevalesken Tons bietet Nietzsche in einer auf Wagner
bezogenen Stelle aus Zur Genealogie der Moral: „Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie zu erwachsen schien, steigt mit einem Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des „An-sich“ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik: was Wunder, dass er endlich eines Tags asketische Ideale redete?…“ (GM , S. 346). 52 Freud, „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, S. 186: „Karikatur, Parodie und Travestie, sowie deren praktisches Gegenstück: die Entlarvung, richten sich gegen Personen und Objekte, die Autorität und Respekt beanspruchen, in irgendeinem Sinn erhaben sind.“ Ebd., S. 187: Die Entlarvung kommt nur dort in Betracht, „wo jemand Würde und Autorität durch einen Trug an sich gerissen hat, die ihm in der Wirklichkeit abgenommen werden müssen.“
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verweist, von der oben die Rede war, nämlich jene zwischen Trieb und Sublimierung. Helmut Pfotenhauer weist auf diesen Aspekt hin: [Nietzsche] zielt auf die Tabuverletzung. In der Erheiterung über die Unverfrorenheit sollen die Affektbeträge wieder freigesetzt werden, welche im Prozeß der modernen Zivilisation gebunden werden mußten.53
Nietzsches komische Ausdrucksweise stellt eine provokative Antwort auf die Wagner’sche Kunstreligion dar, die umso wirksamer ist, als ausgerechnet der „Prophet“ dieser neuen Religion zum Gegenstand der Belustigung wird. Genüsslich konstruiert Nietzsche „eine Art Kontraklischee zu dem Wagner-Bild der Bayreuther“, also „zum Wagner der heldischen Geste und des feierlichen Pathos“.54 Pfotenhauer fährt fort: Die Belustigung verschafft seelischen Energien eine Ausdrucksmöglichkeit, die um der Vergesellschaftung willen unter erheblichem Aufwand beherrscht werden mußten. Das Verfahren, das dies bewirkt, ist in dem Sinne physiologisch, als es – wie gegenüber Wagner immer wieder – Spirituelles und Tiefsinniges in herausfordender Weise auf krude Antriebe reduziert. Das Reduktionsverfahren schafft ein um’s andere Mal eine komische Fallhöhe. – Ungerechtigkeit und Verweigerung von Einfühlungsbereitschaft ist bei diesem Verfahren erlaubt, ja erfordert.55
Die von Pfotenhauer beschriebene Reduktion des Spirituellen und Tiefsinnigen auf krude Antriebe stellt eine Entsublimierung dar, welche beim Apostel des musikalisch Sublimen Wagner einen sehr kritischen Punkt trifft. Nietzsches satirische Entlarvung erfolgt durch diese Entsublimierung und veranlasst „eine komische Fallhöhe“, bei der der metaphysische Ernst der Musik Wagners in ein befreiendes Lachen abgeleitet werden soll.56 Indem Nietzsches Wagner-Kritik eine Entsublimierung bewirkt, ähnelt sie dem, was sie als Alternative dem Romantischen entgegenhält, nämlich dem Dionysischen. Letzteres wird somit in Der Fall Wagner keineswegs bloß formuliert oder gedanklich dargestellt, sondern durch die rhetorische und literarische Beschaffenheit des Werkes performativ hervorgebracht. Wie im Fall des aphoristischen Stils und der allegorischen Rede stellt die 53 Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 92. 54 Ferrari Zumbini, „Nietzsche in Bayreuth“, S. 237. 55 Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 92. 56 Einen Vergleich zwischen Nietzsches „Dionysismus“ und der karnevalisierten
„Bühne“ deutet bereits Kristeva an (Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, S. 362).
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komisch-satirische Sprache eine unauflösliche Durchdringung von Ausdrucksweise und Inhalt dar, welche bezeichnend für Nietzsches Metaphysik-Kritik ist und nicht zuletzt zur literarischen Qualität dieser Schrift wesentlich beiträgt.
17. Die „Lüge des grossen Stils“
Die in Der Fall Wagner erzielte Freisetzung psychischer Energie stellt eine ideelle Verbindung zu den früheren Gedanken über die dionysische Entsublimierung her. In der Tat sind in Nietzsches letzten Schriften und Notizen zahlreiche Gedanken über den Rausch enthalten. Den äußeren Anlass zu dieser gedanklichen Rückkehr zur Geburt der Tragödie gab die neue Ausgabe des Buches im Jahr 1886, für die Nietzsche den Versuch einer Selbstkritik verfasste und als neues Vorwort dem Werk voranstellte.1 Die Frage der Sprache und Begrifflichkeit steht im Zentrum dieser Selbstkritik. Hierin bedauert Nietzsche, dass er in seinem Erstlingswerk „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken“ suchte, wobei hingegen der Mut zu einer eigenen „Sprache“ notwendig gewesen wäre (GT , S. 19): Sie hätte singen sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe […] (GT , S. 15).2
Ebenso bedauerlich findet nun Nietzsche, dass er „auf Grund der deutschen letzten Musik, vom deutschen Wesen zu fabeln begann“ (GT , S. 20). Die Frage nach dem Dionysischen und mithin nach einer Musik, „welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen“, erscheint Nietzsche dennoch aktueller denn je (ebd.). Die erneute Auseinandersetzung mit dem Rausch erfolgt im Zusammenhang mit einer kritischen Analyse der Dekadenz als der kulturellen 1 Karl Heinz Bohrer weist darauf hin, dass der Name Dionysos bei Nietzsche erst 15
Jahre nach Die Geburt der Tragödie wieder auftaucht, nämlich in der Selbstkritik und in Jenseits von Gut und Böse, beide 1886 erschienen (Bohrer, „Die Stile des Dionysos“, S. 216). Das gilt aber nur für die veröffentlichten Werke. Siehe dazu auch Groddeck, Friedrich Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“ II , S. XVII ; Schmidt, Kommentar zu Nietzsches ,Die Geburt der Tragödie‘, S. 3 – 13. 2 In dieser Alternative sieht Groddeck die für das gesamte Werk Nietzsches wichtige Unterscheidung zwischen „dichterisch“ verfassten Werken und deren Kommentaren, siehe Groddeck, Friedrich Nietzsche – „Dionysos-Dithyramben“ II , S. XV .
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Erscheinungsform der Moderne.3 In den nachgelassenen Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1888 sind die diesbezüglichen Gedanken unter der Rubrik „Gegenbewegung: die Kunst“ notiert und ausdrücklich auf die Geburt der Tragödie bezogen, wobei Nietzsche sich merkwürdigerweise als seinen eigenen Rezensenten ausgibt und vom Autor des Buches in der dritten Person spricht. In dieser Lektüre der eigenen Schrift werden die alten Themen zu den neuen Herausforderungen aktualisiert. In Bezug auf den zweiten Abschnitt des Buches schreibt nun Nietzsche: Die Kunst gilt hier als einzige überlegene Gegenkraft gegen den Willen zur Verneinung des Lebens: als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische per excellence… (NL 13, S. 225).
Kurz darauf wird die Kunst „ebenso psychologisch als physiologisch, als das große Stimulans aufgefaßt“ (ebd., S. 228).4 In der gegen Ende des Jahres verfassten Schrift Ecce homo verzichtet Nietzsche auf die Distanziertheit des Pseudo-Rezensenten und spricht über sich in einer ironisch-exaltierten Sprache, die bei aller Überdrehung – eigentlich sogar deswegen – wieder literarische Qualität erlangt. Hier wird das 3 Bekanntlich übernimmt Nietzsche seine Definition der literarischen Dekadenz
von Paul Bourgets Essay über Charles Baudelaire: „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr“ (Wa, S. 27). Siehe dazu und im Allgemeinen zur Dekadenz-Analyse Nietzsches Schellong, „,… und im Kleinsten luxurirt‘“; Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 97 – 122; Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Der Fall Wagner“ – „Götzen-Dämmerung“, S. 32 f. Bereits Mitte April 1886 hatte Nietzsche in einem Brief an Carl Fuchs Bourgets Dekadenz-Begriff in die Musik übertragen, und zwar in Bezug auf die durch Wagner erzielte „Auflösung“ der metrischen Quadratur: „Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das Tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll –), schließlich auch der esprit über den ,Sinn‘. Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, – und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Talent dazu! Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll“ (SB 7, S. 177). Siehe dazu auch Schellong, „… und im Kleinsten luxurirt“. Zur Ambivalenz des Begriffes bei Nietzsche siehe Borchmeyer, „Ich habe ihn geliebt und Niemanden sonst“, S. 110 f. 4 Heidegger, der die Denkweise Nietzsches als ein ständiges Umkehren bezeichnet, weist auf Schopenhauers Auffassung der Kunst als Quietiv des Lebens hin, die hier von Nietzsche ins Gegenteil verkehrt wird (Heidegger, Nietzsche I, S. 26).
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Dionysische als eine aus „der Überfülle geborene Formel der höchsten Bejahung“ bezeichnet, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst… (EH , S. 311).
Nach einigen notierten Versuchen, den „Antagonismus“ des Dionysischen und Apollinischen aufrechtzuerhalten (NL 13, S. 224; 226; 235), konzentriert sich Nietzsche zunehmend auf die Bestimmung des Rausches und dessen Wirkung. Dabei droht eben jene Gegensätzlichkeit zu kollabieren: Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben… (NL 13, S. 240).
In der Ende August 1888 fertiggestellten Schrift Götzen-Dämmerung, in die manche dieser Gedanken einfließen, werden sowohl das Dionysische als auch das Apollinische als „Arten des Rausches“ begriffen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Letzteres „vor allem das Auge erregt“ halte, während im dionysischen Zustand „das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert“ sei (GD , S. 117). Damit scheint Nietzsche die in der Geburt der Tragödie dargestellte Dichotomie von Rausch und Traum aufzugeben. Dementsprechend verschwindet in der weiteren Folge der notierten Gedanken sowie im entsprechenden Kapitel in Ecce homo das Apollinische vollkommen.5 Der Rausch gilt Nietzsche als unumgängliche „physiologische Vorbedingung“ für das „ästhetisches Thun und Schauen“, wobei das Wesentliche an ihm „das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle“ darstelle (GD , S. 116). Es handele sich um einen „Lustzustand“, dem neben der Krafterhöhung ein „Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen“, eigen sei (NL 13, S. 296).6 Diese Fülle an Kraft und Wahrnehmungsvermögen bewirke eine Bereicherung der wahrgenommenen Dinge, woraus letzt-
5 Vgl. Bohrer, „Die Stile des Dionysos“, S. 220: „Das ist die Quintessenz des Versuchs
einer Selbstkritik. Dionysos löst sich einerseits aus der dialektischen Umarmung mit Apollo, nimmt aber selbst die apollinische Qualität der Form an, so wie Apollo wiederum die dionysische Qualität des Rausches.“ 6 Dionysos’ Liebe zum Zeichen wird damit bestätigt, denn der Rausch stelle den „Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen“ dar, „er ist die Quelle der Sprachen“ (NL 13, S. 296).
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endlich Kunst bestehe (GD , S. 117).7 Nietzsche ist zwar bereit, diese Bereicherung als ein „Idealisiren“ zu bezeichnen (GD , S. 116), jedoch erfährt hier die Relation von Trieb und Sublimierung eine Deutung, welche sich sowohl von der Wagner’schen Idealisierung als auch von Freuds Auffassung der Sublimierung deutlich unterscheidet. Nietzsche hält an der etymologischen Bedeutung der Sublimierung als einem Verwandlungsprozess fest, in dem etwas erhöht wird. Seiner „Physiologie der Kunst“ entsprechend denkt er aber dabei keineswegs an eine Vergeistigung von Triebregungen, sondern an eine Potenzierung der Wahrnehmung und des symbolischen Vermögens, die ausgerechnet durch Erregung der Triebenergie erfolgen soll: Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegungen; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch der Zerstörung; der Rausch unter gewissen meteorologischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluss der Narcotica; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens (GD , S. 116).
Nietzsche zufolge wächst die „dionysische Kunst“ im „Orgiasmus“ der dionysischen Mysterien. Mit diesen „verbürgte sich der Hellene“ das „ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens“. Hier wird auch „der Schmerz heilig gesprochen“, denn „alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt“ ihn (GD , S. 159). Die „Psychologie des Orgiasmus“ besteht in einem „überströmenden Lebens- und Kraftgefüh[l], innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt“. Daher beruhe Aristoteles’ Theorie der Katharsis, nach der man sich beim Ansehen der Tragödie „von einem gefährlichen Affekt durch deren vehemente Entladung“ reinigt, auf einem Missverständnis (GD , S. 160). Aber auch diejenigen Betrachter der antiken Kultur wie Winckelmann und der sonst stets hoch geschätzte Goethe, die das wesentliche Element des Orgiasmus aus der klassischen Antike verdrängen, verstehen demzufolge die Griechen nicht (GD , S. 159). 7 „Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wieder-
spiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-müssen in’s Vollkommene ist – Kunst.“
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Nietzsches Entwurf einer Trieb-Ökonomie unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen, welche einige Jahre später Sigmund Freud darstellen wird, durch eine divergierende Bestimmung der Lust. Die von Nietzsche behauptete Einheit von Seele und Leib versperrt der Freud’schen Auffassung der Sublimierung als Vergeistigung des Triebs den Weg und eröffnet vielmehr das entgegengesetzte Szenarium einer durch die Trieb-Energie erhöhten geistigen Fähigkeit des Menschen.8 Nietzsches monistische Auffassung kommt durch die Rückführung des geistigen Bereichs auf die leibliche Funktion zustande: „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens“ (Za, S. 40).9 Die Kunst, in der idealistischen Tradition als eine hohe Leistung des Geistes angesehen, geht Nietzsche zufolge aus der physiologischen Triebhaftigkeit des Menschen hervor und kann daher keineswegs als Ergebnis einer Vergeistigung gelten.10 Man darf dabei nicht vergessen, dass die Verinnerlichung des Begehrens durch Entsagung desselben 8 „… der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl… /
die Raum und Zeitempfindungen sind verändert: ungeheuere Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar / die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten / die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten / die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die „intelligente“ Sinnlichkeit… / die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto“ (NL 13, S. 294). Zur Einheit von Leib und Seele siehe insbesondere Za, „Von den Verächtern des Leibes“, S. 39 – 41. 9 Um die Jahrhundertwende florierten im deutschsprachigen Raum die monistischen Auffassungen und kulminierten in der Anthroposophie. Dabei beriefen sich die Vertreter des Monismus – nicht zuletzt Rudolph Steiner – häufig auf Nietzsche. Sie verkannten dabei, dass Nietzsches Monismus in der Rückführung des Geistes auf die Physiologie des Körpers besteht, während sie auf die Vergeistigung der Materie zielten. Siehe zum Monismus der Zeit u. a. Ziche (Hg.), Monismus um 1900; Fick, Sinnenwelt und Weltseele. 10 „Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt: es giebt nur Eine Art Kraft“ (NL 13, S. 600). Nietzsche zieht daraus folgende Konsequenz: „Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch“ (ebd.). Wie so oft in der Metaphysik-Kritik, von der die Auffassung der Sublimierung als Vergeistigung zweifellos einen Gegenstand darstellt, ist die Gefahr des Zurückfallens in die metaphysische Denkweise stets groß (siehe dazu auch § 5 und 6). Hier stellt sich nämlich die Frage, ob Nietzsches Appell an den Künstler, sich nicht zu verschwenden, doch eine Art der abgelehnten Entsagung des Sexuellen darstellt. Gert Mattenklott zufolge spielen bei Nietzsche die Triebe zur Kunst dieselbe Rolle wie bei Freud die Sexualtriebe. Daher sei ästhetische „Produktivität[,] bei Freud ein Modus von Verdrängung und Sublimation“, für Nietzsche „eine elementare Grundfunktion des Lebens, die zu dessen Erhaltung genauso notwendig ist wie gewisse Instinkte der physiologischen Reproduktion“ (Mattenklott, „Die dionysische Seele“, S. 201).
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ausgerechnet das darstellt, was Nietzsche an der Dramaturgie des Tannhäuser und des Parsifal heftig kritisiert.11 Das „Gefühl der Krafterhöhung“, das Nietzsche als Lust betrachtet, entspringt aus einer ganz anderen Dynamik als die Befriedigung des Wunsches, so wie Freud die Lust bestimmt. Denn anders als bei Freud wird diese Nietzsche zufolge keineswegs durch die Erfüllung des Wunsches erreicht, sondern besteht vielmehr im Begehren selbst. Anstelle der Besetzung des Wunsches tritt dessen Bewegung ein, welche sich somit als die eigentliche Quelle der Lust erweist. Daher bewirkt das Ausbleiben der Befriedigung und die Fortbewegung des Wunsches keine deprimierende Absage an die Tendenz des Triebs, sondern eine Steigerung der Lust. Systematisch betrachtet, entfernt sich Nietzsche dadurch von Freud, um in die Nähe jener Theorie des Begehrens zu gelangen, die Gilles Deleuze und Félix Guattari durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Freud’schen Psychoanalyse am Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelt haben.12 Kritik und Kritisiertes vorwegnehmend notiert Nietzsche gegen Ende des Jahres 1887: nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen. […] das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne die Grenzen und Widerstände noch nicht satt genug ist… (NL 13, S. 37 f.).
In der darauf folgenden Notiz ist zu lesen: Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe […] enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agacirend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen schmerzhaften Reizen es stärkt […]: diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens. – Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize… (NL 13, S. 38)
11 In dem in der vorausgegangenen Anmerkung zitierten Fragment wird von Nietz-
sche auch die Sinnlichkeit der Wagner’schen Musik, insbesondere diejenige des Tristan, als eine krankhafte kritisiert, da sie von der katholischen Verstrickung zwischen schlechtem Gewissen der Sündhaftigkeit und gesteigerter Verführungskraft geprägt sei (NL 13, S. 600 f.). Nietzsche äußert sich dazu ausführlich in GM , S. 339 ff. 12 Deleuze/Guattari, L’Anti-Œdipe. Historisch betrachtet muss hervorgehoben werden, dass Nietzsche eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Philosophie Deleuzes spielt. Siehe dazu Lange, Die Ordnung des Begehrens.
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Die Konsequenzen einer solchen Bestimmung des Wunsches für Kultur und Gesellschaft unterscheiden sich erheblich von denen, die Freud in Das Unbehagen in der Kultur schildert. Denn die Verschiebung der Wunscherfüllung, worauf Freud die Entstehung der kulturellen Institutionen, aber auch die existenzielle Unzufriedenheit des zivilisierten Menschen zurückführt, bedeutet in Nietzsches Modell keineswegs eine Linderung der Lust, sondern im Gegenteil eine Verstärkung des Begehrens und somit eine Steigerung der Lust. Indem bei Nietzsche die Lust von der Befriedigung des Wunsches entkoppelt wird, vermag das Begehren jene konstruktive, schaffende Qualität anzunehmen, die das Konzept des Willens zur Macht auszeichnet. Der „Wille ist ein Schaffender“, behauptet Zarathustra entgegen den Schopenhauer’schen und Wagner’schen „Fabelliedern“ der Erlösung des Willens vom Wollen (Za, S. 181). Thomas Lange ist durchaus zuzustimmen, wenn er meint: „Der Wille zur Macht schreibt sich hier als ein produktives Begehren“.13 Nietzsche entwirft somit Züge einer möglichen Kultur, die den Menschen durchaus ,behagen‘ kann, vorausgesetzt, sie sind fähig, das Leben samt dem Schmerz des Werdens zu bejahen. Freilich bleiben solche Entwürfe fragmentarisch, zum Teil widersprüchlich und auch problematisch. Dennoch zeigen eben die erwähnten Werke Deleuzes und Guattaris, dass in Nietzsches „Psychologie des Rausches“ ein großes Potential beinhaltet ist. Einen „Widerspruch zur Kunst“ als Stimulans des Lebens stellt Nietzsche zufolge das Hässliche dar. Dieses wirkt „depressiv“ und ist selbst „der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt…“ (NL 13, S. 296). Im Gegenteil bringt die durch das „Rauschgefühl“ erreichte „Krafterhöhung“ als „nothwendige Folge“ die „Verschönerung“ mit sich (NL 13, S. 293). Eine sehr empfindliche Wendung in Nietzsches Argumentation besteht in der Verbindung zwischen Rausch und großem Stil: Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Kraft erhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl… Spitze der Entwicklung: der große Stil (NL 13, S. 294).
Damit wird klar, dass die Instanzen des Apollinischen, nämlich Schönheit und Mäßigung (GT , S. 40), in den dionysischen Rausch aufge-
13 Lange, Die Ordnung des Begehrens, S. 63.
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nommen worden sind.14 Dies entspricht dem durch andere Wege gewonnenen Befund, dass Dionysos immer schon auch sein Doppel Apollo gewesen ist;15 aber die Aufnahme des Apollinischen ins Dionysische bewirkt auch eine wesentliche Änderung in der Trieb-Ökonomie: In dieser neuen Situation stellt die Sublimierung des Triebs keinen von außen her kommenden und im Grunde gegen diesen gerichteten Vorgang dar, sondern ein in ihm bereits eingeschriebenes Schicksal. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Sublimierung für Nietzsche eine Erhöhung der Triebenergie bedeutet und damit eine Steigerung jener Vermögen, die er mit der Wahrnehmung und der Semiosis in Verbindung bringt. Nietzsche gewinnt eine nähere Bestimmung des großen Stils durch die Betrachtung der Architektur. Den wesentlichen Impuls dazu erhält er von Jacob Burckhardt, der sich in seiner „Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“, Der Cicerone (1855), über den von Giorgio Vasari dem Architekten Filippo Brunelleschi zugeschriebenen Palazzo Pitti in Florenz folgendermaßen äußert: Vor allen Profangebäuden der Erde, auch viel größern, hat dieser Platz den höchsten bis jetzt erreichten Eindruck des Erhabenen voraus. Seine Lage auf einem ansteigenden Erdreich und seine wirklich großen Dimensionen begünstigen diese Wirkung, im wesentlichen aber beruht sie auf dem Verhältnis der mit weniger Abwechslung sich wiederholenden Formen zu diesen Dimensionen. Man frägt sich, wer denn der weltverachtende Gewaltmensch sei, der mit solchen Mitteln versehen allem bloß Hübschen und Gefälligen so aus dem Wege gehen mochte. – Die einzige große Abwechslung, nämlich die Beschränkung des obersten Stockwerkes auf die Mitte, wirkt allein schon kolossal und gibt das Gefühl, als hätten beim Verteilen dieser Massen übermenschliche Wesen die Rechnung geführt.16
Bereits im August 1881 notiert Nietzsche diese Stelle in seinem Heft, wobei sich sein Interesse vor allem auf den „weltverachtend[en] Ge14 Karl Heinz Bohrer dazu: „Die Chiffre Dionysos bezeichnet nicht mehr nur das
Orgiastische, sondern auch das Maßstabhafte, immer aber das Machtvolle, das sich Bemächtigende“ (Bohrer, „Die Flöte des Dionysos“, S. 15). 15 Siehe oben § 14. 16 Burckhardt, Der Cicerone, S. 169. Siehe zu Nietzsches Burckhardt-Lektüre sowie zum nach dem Vorbild der Architektur der Renaissance entwickelten Begriff des „großen Stils“ Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 179 – 187. Eine ähnlich motivierte Bewunderung bringt auch Hyppolyte Taine in seinem 1866 erschienenen Voyage en Italie zum Ausdruck, siehe dazu und zur diesbezüglichen Rezeption durch Nietzsche Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 207 f.
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waltmensch[en]“ richtet, der „allem Hübschen und Gefälligen aus dem Wege“ geht (NL 9, S. 520. Siehe auch NL 11, S. 44). In der Götzen-Dämmerung (1888) bringt Nietzsche eine eigene Formulierung zum Ausdruck:17 Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspirirt; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. – (GD , S. 118 f.).
Dass Nietzsche die von Burckhardt eingesetzte Kategorie des Erhabenen nicht aufnimmt und lieber auf den Begriff des großen Stils zurückgreift, versteht sich auf Grund der Besetzung jener Kategorie durch Wagner in der Beethoven-Festschrift und in deren Nachfolge.18 Denn es ist offensichtlich, dass Nietzsche den Begriff des großen Stils im Hinblick auf seine Polemik gegen Wagner und dessen Musik entwickelt. Er muss jedoch zugeben, dass ein solcher Stil in der Musik noch fehlt: Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf?… Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleicht in jene Cultur, wo das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik, – dem „Weibe“ in unserer Musik?… (NL 13, S. 247).19
Es bestehe ja sogar die Befürchtung, dass die Musik eine „décadenceKunst“ sei, und zwar deshalb, weil sie keine Beziehung zur Renais17 Im bereits erwähnten Brief von April 1886 an Carl Fuchs schreibt Nietzsche: „wo-
von ein Decadenz-Geschmack am entfernsten ist, das ist der große Stil: zu dem zum Beispiel der Palazzo Pitti gehört, aber nicht die neunte Symphonie. Der große Stil als die höchste Steigerung der Kunst der Melodie.“ 18 Siehe dazu oben § 5. 19 Hier ist die polemische Intention gegen Wagner evident, denn Wagner hatte in Oper und Drama behauptet: „Die Musik ist ein Weib. Die Natur des Weibes ist Liebe“ (Wagner, Oper und Drama, S. 316).
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sance aufbauen konnte (NL 13, S. 247). Die Dimension des Problems übertrifft somit Wagner bei weitem. Kurz vor der berühmten Tirade gegen Brahms am Ende von Der Fall Wagner,20 in der übrigens Nietzsche gegen diesen auf die Argumente der Wagnerianer rekurriert, wird dies klargestellt: „Andre Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht. […] Die Krankheit liegt in der Tiefe“ (Wa, S. 46). Diese Aussage betrifft offensichtlich auch den am Beginn derselben Schrift gelobten Komponisten der Carmen, über dessen Einschätzung in der Wagner-Polemik Nietzsches viel diskutiert wurde. Martin Lorenz konnte in seiner Studie überzeugend nachweisen, dass Bizets Carmen für Nietzsche wesentlich mehr als eine bloß oberflächliche Schwärmerei darstellte. Im Gegenteil fand Nietzsche in der Oper mehrere wesentliche Aspekte seiner Metaphysik-Kritik wieder und in manchen Fällen wurde er ja durch Carmen zur Entwicklung weiterer Momente seiner Kritik angeregt. Die Zentralität des Leibes, die Bejahung des Lebens, die Kraft des Eros, die Amoralität des Lebens und der Liebe, der Rausch, der Tanz, das Tragische sind nur einige von diesen Motiven, auf die Nietzsche in Werken, Briefen und Notizen, darunter auch am Klavierauszug der Oper angemerkt, eingegangen ist.21 Dennoch bezeichnet Nietzsche Bizet in einem Brief an Carl Fuchs vom 27. Dezember 1888 als „ironische Antithese“ gegen Wagner (SB 8, S. 554). Somit stellt er klar, dass der „Fall Bizet“ nicht anders zu behandeln ist als der „Fall Wagner“, nämlich als ein für manche genüssliches, für andere irritierendes ironisches Spiel, das sich weder bagatellisieren noch wörtlich nehmen lässt. Abermals muss betont werden, dass der sprachliche Aspekt ein wesentliches Moment in Nietzsches Metaphysik-Kritik darstellt. Die Gefahr eines Rückfalls in die metaphysische Denkweise ist besonders dort evident, wo Nietzsche vom Willen zur Macht als ein Fundament und Prinzip des Seienden spricht.22 Aufgrund dieser Stellen betrachtete Martin Heidegger – immerhin einer der ersten, der Nietzsches philosophische Dimension entdeckte – ihn als einen metaphysischen 20 Siehe dazu Thatcher, „Nietzsches Totengericht über Brahms“. 21 Lorenz, Die Metaphysik-Kritik in Nietzsches Carmen-Rezeption. Sommer, Kommen-
tar zu Nietzsches „Der Fall Wagner“ – „Götzen Dämmerung“, S. 39 – 41.
22 „Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen“ (NL 11, S. 660); „Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins“ (NL 13,
S. 262); „Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wieder erkenne“ (NL 13, S. 303); „in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“ (JGB , S. 107). Siehe dazu Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, insbesondere S. 1 – 41.
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Denker.23 Freilich glaubte Heidegger noch an die von Elisabeth Förster-Nietzsche und Heinrich Köselitz verbreitete These eines unvollendet gebliebenen Hauptwerkes, das in der philosophischen Substanz durchaus rekonstruierbar sei. Dass es sich bei dem von den beiden aus Fragmenten und Notizen zusammengesetzten und mit dem Titel Der Wille zur Macht herausgegebenen, vermeintlichen Hauptwerk um eine Fälschung handelt, ist mittlerweile allgemein bekannt.24 Nietzsche verzichtete auf die Verwirklichung eines solchen Plans und verwendete einen Teil des notierten Materials in anderen, nicht systematisch konzipierten Werken wie Götzen-Dämmerung und Der Antichrist. Ihm dürfte einsichtig geworden sein, dass den Willen zur Macht als „Gesamtcharakter des Daseins“ zu betrachten und darüber eine philosophische Abhandlung zu verfassen ein zur Gänze zur metaphysischen Tradition gehörendes Unterfangen gewesen wäre. Wenn Philosophie in Weltauslegung besteht und diese wiederum einen Ausdruck vom Willen zur Macht darstellt, dann beinhaltet Nietzsches diesbezügliche „Lehre“ einen performativen Charakter, den Müller-Lauter, freilich ohne diesen ausdrücklich zu nennen, in seiner Analyse zutage fördert: Es gilt herauszuarbeiten, daß Nietzsche nicht nur alles Weltauslegen wesenhaft als vom Willen zur Macht konstituiert begreift, sondern daß er auch die Konsequenzen bedenkt, die aus dem Selbstverständnis seiner Philosophie als Auslegung erwachsen. Seine Philosophie des Willens zur Macht kann ja keinen bloß kontemplativen Charakter haben. Sie ist selber Ausdruck des Machtwollens.25
Der performative Charakter dieser Lehre kommt deutlich dort zum Ausdruck, wo Nietzsche sich direkt an die Menschen wendet: „Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (NL 11, S. 611). Die Umsetzung eines solchen Appells kann wohl nicht darin bestehen, bloß Leser einer philosophischen Abhandlung zu werden, denn es gibt Nietzsche zufolge keine „wahren“ philosophischen Inhalte, die vermittelt werden können. Dementsprechend sucht Nietzsche stets nach Ausdrucksweisen, welche die Performativität des Denkens in sich aufnehmen und unterstützen. Bereits gegen Sommer 1886 notiert er: „Exoterisch – esoterisch / 1. – alles ist Wille gegen Willen / 2. Es giebt gar keinen Willen“ (NL 12, S. 187). Demzufolge 23 Heidegger, Nietzsche I, S. 1 – 224. 24 Fuchs, „,Der Wille zur Macht‘: Die Geburt des ,Hauptwerks‘ aus dem Geiste des
Nietzsche-Archivs“.
25 Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, S. 50.
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wäre die nie zustande gekommene Lehre des Willens zur Macht bloß eine populäre Darstellung gewesen. Giorgio Colli kommentiert dieses Fragment folgendermaßen: Viele der konstruktiven oder sogar systematischen Formulierungen, die für die Schriften dieses und der folgenden Jahre bezeichnend sind, werden dann weder auf die Verblüffung noch auf die Kritik des Lesers stoßen. Nietzsche ging es dabei um den Versuch einer exoterischen Ausarbeitung, deren Schwächen ihm selbst bekannt gewesen sein mußten, wenn er ihr einen esoterischen Gesichtspunkt entgegensetzt.26
Die Schwäche einer „exoterischen“ Metaphysik-Kritik liegt offensichtlich darin, dass sie ihr Ziel verfehlt und selbst in die Metaphysik zurückfällt. „Esoterisch“ ist demgegenüber eine Darstellung zu bezeichnen, in der das Denken sich nicht in Begriffen hypostasieren lässt, sondern selbst das Werden verkörpert, das es signifizieren will. Der Fall Wagner gehört zweifellos unter anderen Werken Nietzsches dazu, denn ausgerechnet als ironische Antithese vermag Carmen die Wagner’sche Musik-Metaphysik zu dekonstruieren, ohne sich ihrerseits als deren Gegeninstanz, das heißt schlussendlich als deren Variante, vereinnahmen zu lassen. So gesehen bedeutet die Bezeichnung „ironische Antithese“ keineswegs eine Minderung, sondern im Gegenteil die Wahrung der Rolle von Bizets Carmen für Nietzsches postmetaphysische Musikbetrachtung, und zwar vollkommen im Sinne des am Anfang der Schrift gedruckten Mottos. Nietzsches Verherrlichung des großen Stils lässt sich schwer in Einklang mit seiner philosophischen Praxis des performativen Denkens bringen und die von ihm gelieferte Exemplifizierung der dabei erlangten Kraftsteigerung als architektonische Monumentalität im Dienst politischer Herrschaft vernichtet das ästhetische Potential jener Auffassung vollkommen. Das protzige Profil der Bismarck-Denkmäler drängt sich dabei auf – eine Vorstellung, die zweifellos Nietzsche selbst Ekel bereitet hätte.27 Während Karl Heinz Bohrer eine affirmative Lektüre 26 Colli, „Nachwort (zu Band 12 und 13)“, S. 651. 27 Nietzsche dachte im Winter 1888 daran, Bismarck das erste Exemplar von Ecce homo
zu überreichen, um damit seine „Feindschaft anzukündigen“. Siehe dazu Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 167. Nietzsche war jedoch fähig, Bismarck gegenüber eine ironische Einstellung zu nehmen, siehe NL 11, S. 256: „Bismarck: so fern von der deutschen Philosophie als ein Bauer oder ein Korpsstudent. Mißtrauisch gegen die Gelehrten. Das gefällt mir an ihm […] Und er liebt ersichtlich eine gute Mahlzeit mit starkem Wein mehr als die deutsche Musik: welche meist nur eine feinere weibsartige Hypokrisie und Vermäntelung für die alte deutsche
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der Verbindung zwischen Rausch und großem Stil auf der Basis der Macht versucht,28 weist Claudio Magris auf die Widersprüchlichkeit von Nietzsches Einstellung zum großen Stil hin: Der große Stil setzt also einen Blick von oben voraus, und das heißt sowohl einen Beobachtungsstandspunkt, von wo aus er schweifen kann, als auch ein Subjekt, das fähig ist, jenen Platz einzunehmen und sich zum Ordner und Gesetzgeber zu machen. Andererseits löst Nietzsche gerade die Idee des Subjektes, seine Identität und Einheit, in eine Anarchie von Atomen auf; sein Übermensch ist ein neues anthropologisches Stadium, über die traditionellen Grenzen des humanistischen Ich hinausprojiziert, ist eine Vielheit von psychischen Kernen, befreit vom starren, repressiven Panzer der Identität, die das Fließen des Lebens aufhält.29
Ein weiteres, ebenso wesentliches Moment dieser Widersprüchlichkeit wird durch „Burckhardts klare Unterscheidung in einen klassischen Stil des ruhigen Seins und einen romantisch-aufgeregten Stil des Werdens und Vergehens“ zutage gefördert:30 Der große Stil entspricht offensichtlich derjenigen Veranlagung, die Nietzsche im Aphorismus 370 von Die fröhliche Wissenschaft als „Verlangen nach Sein“ bezeichnete, und entbehrt somit des Tragischen vollkommen.31 Eine einseitige Auslegung von Nietzsches Begriff des großen Stils führt zur Stilllegung der Dynamik seines Denkens, wie auch Fritz Neumeyer anmerkt: Diese Vorbehalte gegen die Musik als eine romantische, späte, barocke Kunstform werfen ein erhellendes Licht auf die Verhältnisse im Kunstdualismus des späten Nietzsche. Architektur und Musik werden hier zu entgegengesetzten Polen in denen die apollinisch-dionysische Opposition im Gegensatz zu früher völlig auseinanderdriftet und ohne eine dialektische, dramatische Entladung unerlöst fortbesteht.32
Manns-Neigung zum Rausche ist“. Nietzsches Ausführungen über den großen Stil inspirierten wenige Jahrzehnte später die neoklassizistische Ästhetik Alfredo Casellas. Siehe dazu Celestini, „,Denkmäler italienischer Tonkunst‘: D’Annunzios Roman ,Il fuoco‘ und die Mythologisierung alter Musik in Italien um 1900“. 28 Bohrer, „Die Flöte des Dionysos“. 29 Magris, „Großer Stil und Totalität“, S. 11. Zur gepanzerten Subjektivität, die Nietzsches Auffassung des großen Stils mit sich bringt, äußert sich Neumeyer folgendermaßen: „Allein der Mensch, der in der Stärke des Eigenen ruht und somit die große, ruhig-schöne Natur verkörpert, ist fähig zum großen Stil“ (Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 182). 30 Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 179. 31 Siehe dazu oben § 16. 32 Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 215.
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Die durch wörtliche Deutungen und allzu ernste Intentionen unterschlagene Ironie rächt sich dabei auf genüssliche Weise, denn der nach dem Vorbild eines Entwurfes Brunelleschis realisierte Palazzo Pitti wurde 1560 vom „Hauptmeister des Florentiner Manierismus“ und Kunsttheoretiker der Gegenreformation Bartolomeo Ammannati (1511 – 1592) „erheblich erweitert“, sodass es sich bei der hoch gelobten Bastion des großen Stils eigentlich um einen „halben Barockbau“ handelt.33 Nietzsche konnte einen Hinweis auf den großen Stil in einem der frühesten und berühmtesten Briefe Schillers an Goethe finden. Diese Erwähnung scheint in unserem Zusammenhang umso interessanter, als dabei zur Bestimmung des Begriffes die Spannung zwischen Süden und Norden zum Tragen kommt: Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, ganz überflüssig gemacht worden. Schon in der ersten Anschauung der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der große Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einen rationalen Weg ein Griechenland zu gebären.34
Für diejenigen, die im Norden geboren wurden, ist also der große Stil nur noch „sentimentalisch“ zu erreichen. Bei seiner Suche nach einem großen Stil in der Musik betritt Nietzsche ein für diese Kunst nicht gerade ergiebiges ästhetisches Feld, das ausgerechnet Schiller in Anlehnung an die Kantische Kritik der Urteilskraft bereits abgesteckt hatte. In dessen 22. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist nämlich zu lesen: „Die Musik in ihrer höchsten Veredelung muß Gestalt werden und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken“.35 Heidegger, der Nietzsches Sprechen vom großen Stil wörtlich nimmt, kommt nicht von ungefähr zum Schluss, dass die Musik davon ausgeschlossen sei.36 Nietzsche vermag vielmehr dort zu überzeugen, 33 Ebd., S. 224. 34 Schiller, Brief vom 23. August 1794 an Goethe, in: Gräf/Leitzmann (Hg.), Der
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 11 f.
35 Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, S. 68. 36 Heidegger, Nietzsche I, S. 129 f.
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wo er, anstatt den großen Stil mit martialischem Ernst zu verordnen, ihn literarisch verwirklicht, nämlich im Zarathustra sowie in den Dionysos-Dithyramben, oder dort, wo er sich dem Thema durch die Lakonik der aphoristischen Sprache annähert, wie in Der Wanderer und sein Schatten. Hier kommt jenes widersprüchliche Spiel von Entfesselung und Bändigung zum Tragen, welches sich bereits in Nietzsches erstem Buch als das wesentliche Prinzip der Tragödie zeigte: Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt (WS , S. 596). Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern (Za, S. 150).37 Aus zögernden Augen, aus sammtenen Schaudern trifft mich ihr Blick, lieblich, bös, ein Mädchenblick… Sie errieth meines Glückes Grund, sie errieth mich – ha! Was sinnt sie aus? – Purpurn lauert ein Drache im Abgrunde ihres Mädchenblicks (DD , 408).38
Am Beginn von Der Fall Wagner erzählt Nietzsche von der anhaltenden guten Wirkung, die Bizets Carmen auf ihn noch nach wiederholtem Zuhören ausübt. Denn diese Musik kommt „leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher“ und erfüllt somit das erste Postulat seiner Ästhetik: „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen“. Darüber hinaus ist sie „reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur ,unendlichen Melodie‘“ (Wa, S. 13). Wobei diese Musik durchaus tragischer Art sei: Hat man je schmerzhaftere tragische Accente auf der Bühne gehört? Und wie werden dieselben erreicht! Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei! Ohne die Lüge des grossen Stils! (Wa, S. 14) 37 Siehe zu dieser Stelle Bolz, „Die Verwindung des Erhabenen – Nietzsche“. Siehe
auch Akiyama, „Nietzsches Idee des ,großen Stils‘“. Nietzsches wiederholte Hinweise auf den stillen Meeresgrund sowie auf glattes Meer (Wa, S. 17 f.) stehen in Gegensatz zu Wagners Vorliebe für das aufgewühlte Meer. Siehe dazu Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Der Fall Wagner“ – „Götzen-Dämmerung“, S. 49. 38 Eine ausführliche Analyse des Dionysos-Dithyrambus „Von der Armut des Reichsten“ gibt Groddeck, Friedrich Nietzsches – „Dionysos-Dithyramben“ II , S. 252 – 290.
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Abermals zeigt sich dabei, dass Bizets Carmen für Nietzsche viel mehr als eine flüchtige Vorliebe oder einen harmlosen Spaß darstellt. Sie liefert ihm das wirksamste Antidot gegen den metaphysischen Ballast Wagners. Und gegen den eigenen ebenso.
Werkausgaben Nietzsches und Siglenverzeichnis
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bde. 1 – 15, Berlin, New York und München 1980 (KSA ). Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin und New York 1967 ff. (ca. 40 Bände in 9 Abteilungen; im folgenden zitiert als KGW mit Angabe von Abteilung (römisch) und Band (arabisch)). Friedrich Nietzsche: Werke: Historisch-kritische Gesamtausgabe, München 1933 ff. (Fotomechanischer Nachdruck: Jugendschriften), München 1994 (HKGW ). Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bde. 1 – 8, Berlin, New York, München 1986 (SB ). Briefe an Nietzsche werden nach der Kritischen Gesamtausgabe des Briefwechsels, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York 1975 ff. (KGB ) zitiert. Friedrich Nietzsche: Der musikalische Nachlaß, hg. von Curt Paul Janz, Basel 1976.
Abkürzungen
AC BA DD CV DW EH FW GD GG GM GMD GT JGB
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Dionysos-Dithyramben Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das Griechische Musikdrama Geburt der Tragödie Jenseits von Gut und Böse M Morgenröte MA Menschliches Allzumenschliches NL Nachlass NW Nietzsche contra Wagner PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ST Socrates und die Tragödie UB Unzeitgemäße Betrachtungen (1: David Strauß; 2: Von Nützen und Nachteil …. etc.) VS Vermischte Meinungen und Sprüche Wa Der Fall Wagner WL Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne WS Der Wanderer und sein Schatten Za Also sprach Zarathustra
Zitierte Literatur
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Personenverzeichnis
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Balzac, Honoré de 272 Barker, Andrew 29 Barnes, Jonathan 34 Baudelaire, Charles 278 Baumeister, Thomas 140 Baur, Ferdinand Christian 48 Becker, Hans Joachim 206 Beethoven, Ludwig van 40, 50, 71, 75 – 77, 81 – 83, 86 – 88, 113 f., 123, 189, 195, 197, 208, 216 – 220, 223 – 225, 285 Begemann, Christian 85 Behler, Ernst 15, 31 – 33, 35, 38 f., 49, 66 Bellini,Vincenzo 165, 218, 248 Benders, Raymond J. 179 Benjamin, Walter 70, 116, 253 Bernoulli, Carl Albrecht 140 Bertram, Ernst 160, 169, 228 Bhabha, Homi 211 Biebuyck, Benjamin 52, 61 Bismarck-Schönhausen, Otto von 288 Bizet, Georges 247, 267, 288, 291, 292 Blair, Hugh 85 Bloch, Ernst 56, 247, 260 Bludau, Beatrix 160, 213, Blumenberg, Hans 179 Bodmer, Johann Jakob 86 Bohrer, Karl Heinz 69 – 71, 80, 89 – 91, 234, 260, 277, 279, 284, 288 f. Boileau-Despréaux, Nicolas 85 Bolz, Norbert 244, 291 Borchmeyer, Dieter 12, 39, 49, 66, 68, 70, 72, 76 f., 81, 121, 129, 140, 190, 278, Borgia 160 Bornmann, Fritz 21 Bourget, Paul 278 Böning, Thomas 111, 125 Bracht, Hans-Joachim 109 Brahms, Johannes 151, 221, 226, 267, 286 Brandes, Georg 249 Breitinger, Johann Jakob 86
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Personenverzeichnis
Bremer, Dieter 39 Brentano, Bettina 152 Brobjer, Thomas 39 Bronfen, Elisabeth 210 Brunelleschi, Filippo 284, 290 Bruse, Klaus-Detlef 41, 66 Bubner, Rüdiger 173 Burckhardt, Jakob 193, 213, 217, 224, 284 f., 289 Burke, Edmund 8 f., 86, 93, 95 f. Burnet, Thomas 81 Bülow, Hans von 137, 221 f. Bürger, Peter 118 Byron, Lord George Gordon 221 f., 224 Caesar (Gaius Iulius Caesar) 160 Cagliostro, Alessandro Graf von (Giuseppe Balsamo) 266 Calderón de la Barca, Pedro 175 Callot, Jacques 166 Carlson, Marvin 181 Casella, Alfredo 289 Celestini, Federico 18, 57, 65, 70, 95, 163, 166, 231, 289 Cervantes Saavedra, Miguel de 272 Chabod, Federico 206 Chamberlain, Houston Stewart 140, 227 Chamfort, Nicolas 159 Chopin, Frédéric 216, 222, 227 – 229, 248 Christus (Jesus) 148 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 82 Colli, Giorgio 77, 177, 194, 232, 260, 288 Cook, Nicholas 67, 123 f. Crescenzi, Luca 58, 60 Creuzer, Friedrich 47 f., 51 f., 58, 59 f., 62 f., 210 Curcio, Carlo 206 Curtius, Ernst Robert 148 Curtius, Ludwig 73 Dahlhaus, Carl 81, 110, 113 f., 140 Dammeyer, Albrecht 171 f., 177 Damon 29, 37 Del Caro, Adrian 190 Deleuze, Gilles 55 f., 116, 119, 132, 151, 160, 271, 282 f. de Man, Paul 91, 179
Dennis, John 81, 86 Deppermann, Maria 187 Derrida, Jacques 179, 181, 270 Descartes, René 143 f., 146, 159 f., 162 Deussen, Paul 132 Dieminger, Susanne 64 Diodoros, 26 Diogenes Laertios 34, 35 Dionysos 25, 47, 51 – 55, 57, 60, 63 f., 87, 149, 166 f., 233 – 235, 238 – 240, 242 – 244, 269 f., 277, 284 D’Iorio, Paolo 207 Don Juan 179 Dorschel, Andreas 198, 253 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 272 Dufour, Eric 67, 125, 197 f. Duncan, Linda [Fallon] 190 Duroselle, Jean Baptiste 206 Dürr, Walther 220 Eberl, Monika 81 Eichhorn, Andreas 76, 84 Eckermann, Johann Peter 215 Edler, Arnfried 221 Eiser, Otto 201 Ellrich, Lutz 91, 179 Emden, Christian J. 21 Empedokles 130 Engelmann, Wilhelm 128 Epikur 263 Epimenides 172, 226 Erasmus 148 Eros 91 – 93 Euripides 15, 25 – 27, 29 – 39, 42 – 45, 166 Fauconnier, Gilles 123 Febvre, Lucien 206 Felman, Shoshana 179 Féré, Charles 265 Ferrari Zumbini, Massimo 143, 227, 262, 266, 275 Feuerbach, Joseph Anselm 11 Fick, Monika 281 Figal, Günter 267 Figl, Johann 99 Fink, Eugen 160, 260 Finscher, Ludwig 82 Fischer-Lichte, Erika 181, 183 f.
Personenverzeichnis
Flashar, Hellmut 20 Fontenelle, Bernard le Bovier de 159 Forkel, Nikolaus 217 Foucault, Michel 119, 130, 162 Frank, Manfred 58, 60 f., 136, 148 Freud, Sigmund 97 – 99, 106, 117 – 120, 233, 264 f., 274, 280 – 283 Früchtl, Josef 146 Fuchs, Carl 21, 177, 278, 285 – 287 Galimberti, Cesare 137 Gasser, Reinhard 99, 108, 117, 120, 264 f. Gasti (Gast), Pietro (Peter) siehe Köselitz Gauger, Hans Michael 178 Geisenhanslüke, Achim 85 f., 100 f., 244 Gennep, Arnold von 231 Georgiades, Thrasybulos 18, 68, 114 Gerber, Gustav 136, 236 Gerhardt, Volker 207 Gerratana, Federico 111 Gersdorff, Carl von 111, 136, 140 f., 221, 241 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 82 Gluck, Christoph Willibald 248 Goedert, Georges 207 Goethe, Johann Wolfgang 70, 105, 108, 114, 157, 175, 200, 215, 219, 263, 280, 290 Golomb, Jacob 206 Goth, Joachim 91, 179 Gottfried von Straßburg 192 Gödde, Günter 99, 111 Görner, Rüdiger 244 Grassi, Ernesto 92, 94 Gräf, Hans Gerhard 114 Grimm, Reinhold 190 Groddeck, Wolfram 193, 226, 232, 241, 260 f., 266 f., 277, 291 Gruber, Gernot 219, 247 f. Gründer, Karlfried 35, 48 Guattari, Félix 116, 119, 282 f. Gumbrecht, Hans Ulrich 145 f., 163, 199 f. Günther, Friederike Felicitas 21 f. Haas, Frithjof 137 Habermas, Jürgen 118 f., 181 Hafis 263
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Hanslick, Eduard 66 – 68, 75 – 78, 88, 103, 112, 114 f., 125, 188, 198, 273 Harmon, Roger 28 Hay, Denys 206 Haydn, Joseph 83, 95 f., 216 f., 228 Hartmann, Eduard von 111 Händel, Georg Friedrich 82, 189, 216 f. Heftrich, Eckhard 178 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 54 – 56, 121, 148 f., 167, 185, 247, 249, 273 f. Heidegger, Martin 54, 144, 250, 278, 286 f., 290, Heine, Heinrich 190 – 193 Hemelsoet, Koenraad 61 Henrichs, Albert 31 f., 35 f., 39 Herakles 42, 74 Heraklit 130, 134 f., 175 – 177, 183, 239 Herder, Johann Gottfried 78, 136, 142, 208 Herodot 25 Hillebrand, Karl 213 Hoffmann, David Marc 103 Hoffmann, E. T. A. 50, 81 Hollinrake, Roger 151 Home, Henry 83 Homer 18, 84, 117, 150, 172, 175, 218, 263 Hong, Wen-Tsien 241, 247 Horaz 155, 269 Horkheimer, Max 198 Horn, Hans-Jürgen 96 Howald, Ernst 52, 58 Höhn, Gerhard 190 Hölderlin, Friedrich 210 Hudek, Franz-Peter 140, 142, 169, 257 – 259 Hugo, Victor 50, 169 Hyagnis 48, 51 Hygin 26 Immerwahr, Raymond 83 Iwein 192 Jahn, Otto 220 Janz, Curt Paul 11, 66, 77, 104, 125, 128, 137, 140, 143, 166, 178, 217, 220 – 222, 241, 247, 267 Janz, Tobias 218, 259, 262
324
Personenverzeichnis
Jäger, Hella 85 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 49, 74, 134 Johnsons, Mark 123 Jung, Karl Gustav 49 Kallias 34 Kalypso 83, 84 Kant, Immanuel 75, 82 f., 86, 90 – 93, 95, 111, 195, 277, 290 Kaufmann, Walter 73, 107 f., 117, 121, 160, 164, 168 Kerényi, Karl 235 Kienzl, Wilhelm 221 Kienzle, Ulrike 74, 132, 176, 268 Kinesias 28 Klein, Richard 172 f., 258 – 262, 265, 268 Klein, Julius L. 48 Klossowski, Pierre 202 Kneate, William C. 227 Kofman, Sarah 36, 55, 179, 206, 221, 233 f., 239, 240 Köselitz, Heinrich (Pietro Gasti, Peter Gast) 166, 201 f., 218, 226 f., 247 f., 256 f., 267, 287 Kremer-Marietti, Angèle 179 Krämer, Sybille 61 f., 163, 180, 182, 184 – 186, 245 Kristeva, Julia 271 Kropfinger, Klaus 68, 76 Kronos 30 Krökel, Fritz 213 La Bruyère, Jean de 159 Lacoue-Labarthe, Philippe 179, 237 – 239 Lakoff, George 123 Landerer, Christoph 66 f., 112, 114, 125, 197 f. Lange, Friedrich Alexander 111 Lange, Thomas 282 f. Langlotz, Ernst 73 Lanzelot 192 La Rochefoucauld, François de 159 Leitzmann, Albert 114 Leopardi, Giacomo 137, 228 Le Rider, Jacques 210 Lessing, Gotthold Ephraim 33 Liébert, Georges 241 f., 247
Leonardo (Lionardo) 268 Lipperheide, Christian 101 Lissa, Zofia 122 Lo Presti, Carlo 247 Lorenz, Martin 226, 241, 286 Love, Friedrich R. 66, 248, 257 Lucretius 74 Ludwig I. König von Bayern 216 Ludwig II . König von Bayern 169 Ludwig XIV . 144, 189 Luther, Martin 189 Lyotard, Jean-François 104 Magris, Claudio 289 Maier, Mathilde 251 Mann, Thomas 49, 66, 178 Marcuse, Herbert 119, 121, 124 Marschner, Heinrich August 224 Martens, Ekkerhard 25 Marsyas 25 f., 48 Mattenklott, Gert 55, 281 Meijers, Anthonie 136, 236 Melanippides 28 Meletos 30 Melrose, Susan 123 Mendelssohn, Felix 216, 220 – 222, 225 Mendelssohn, Moses 85 Merlio, Gilbert 207 Meuli, Karl 51 Meyer, Theo 170, 213 Michaelis, Christian Friedrich 85 Midgley, David 190 Mieder, Wolfgang 147 Minor, Jakob 32 Mnesilochos 34 Moira 98 Molner, David 155 Mommsen, Katharina 175 Monk, Samuel 82 Montaigne, Michel de 143, 155, 159, 176, 182 Montinari, Mazzino 35, 140, 194 Mooney, Edward F. 244 Moradei, Luisa 247 Mozart, Wolfgang Amadeus 189, 214, 216 – 220, 223 – 225, 229, 248, 251, 256 Müller, Enrico 16, 23, 125 Müller, Franz K. F. 12 Müller, Karl Ottfried 48
Personenverzeichnis
Müller Farguell, Roger W. 63, 187, 244 Müller-Lauter, Wolfgang 137, 149, 286 f. Napoleon 224 Nehamas, Alexander 271 Neumeyer, Fritz 11, 52 f., 185, 187, 200, 284, 289 Niehues-Pröbsting, Heinrich 91, 93 Nietzsche, Elisabeth [Förster] 155, 248, 250, 287 Nietzsche, Franziska 155 Nietzsche, Friedrich (Werke) – Also sprach Zarathustra 100, 170, 172 – 174, 177, 182, 205, 231 f., 235 f., 241 – 244, 251 – 255, 260, 266, 268, 271, 281, 283, 291 – Analecta Laertiana 34 – Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes 34 – Darstellung der antiken Rhetorik 136, 236 – Das griechische Musikdrama 11, 12, 14, 16 f., 23 f., 39 f., 50, 105, 168, 210 – De Laertii Diogenis fontibus 34 – Der Antichrist 287 – Der Fall Wagner 169, 171, 226, 256 – 260, 262, 266 – 268, 271 – 275, 277 f., 286, 288, 291 – Der Wanderer und sein Schatten 100, 153, 166, 178, 185, 193, 201 – 203, 205, 207 – 208, 214 f., 217 f., 220 f., 228, 291 – Die dionysische Weltanschauung 47, 49 – 52, 54 – 57, 65, 77, 86, 105, 107 – Die fröhliche Wissenschaft 19, 84, 120, 165 f., 168, 172 – 174, 211, 219, 231, 245, 252, 254, 259, 262 f., 269, 289 – Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 108, 132 – 136, 177, 183 f. – Dionysos-Dithyramben 266 f., 291 – Ecce homo 45, 54 f., 140, 150, 163 f., 188, 222, 226, 240 f., 249, 269, 278 f., 288 – Einführung in das Studium der platonischen Dialoge 43 f. – Einleitung in die Tragödie der Sophocles 23, 31, 40, 44, 62
325
– Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben 17, 21 – Fünf Vorreden zu fünf ungeschrie benen Bücher 129, 131, 136, 150 f., 165 – Geburt der Tragödie 11 f., 16, 20, 24, 37, 41 – 43, 45, 52 – 57, 59, 63 – 71, 73 f., 77 – 80, 86 – 88, 90, 96 – 100, 104, 107, 109 f., 113 f., 116, 122 f., 126 – 28, 143, 147, 149, 157, 166 f., 175, 182, 193, 200, 210 f., 217, 232, 234, 236, 238 f., 257, 263, 265, 270, 277 – 79, 283 – Geschichte der griechischen Literatur 16 – 19, 41, 62 – Götzen-Dämmerung 148, 164, 245, 279 f., 285, 287 – Homer und die klassische Philologie 28 – Jenseits von Gut und Böse 17, 116, 120, 164, 193, 211, 223, 242, 255 f., 277, 286 – Menschliches Allzumenschliches 105, 108, 111, 139, 142, 143 – 145, 147, 151 – 154, 156 – 159, 161 f., 166, 171, 175 f., 178, 183, 185 – 188, 193 – 201, 204 – 209, 226, 240, 243, 247, 249 f., 271 – Morgenröthe 251 – Nachlass 12, 14, 16, 21, 41, 45, 74, 79, 87 f., 98 f., 104, 106, 108 – 115, 117, 119 f., 124, 126 – 128, 132, 135 f., 138, 140, 143, 147, 151 f., 156, 159, 164, 168, 172 – 174, 176 – 178, 180, 188, 193 f., 196 f., 203 f., 214 f., 217 – 220, 228 f., 242, 245, 251, 255, 258, 268, 278 f., 281 – 283, 285 – 288 – Nietzsche contra Wagner 226, 261, 266 f. – Rhythmische Untersuchungen 22 – Sämtliche Briefe 111, 128, 132 – 33, 140, 155, 201 – 03, 217 – 18, 221, 226, 241, 248 – 51, 278, 286 – Socrates und die Tragödie 11, 26 f., 34, 44 – Ueber das Pathos der Wahrheit 128 f., 134, 136, 139, 194 – Ueber Wahrheit und Lüge im außer moralischen Sinne 136 – 138, 161, 173 f., 184, 194
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Personenverzeichnis
– Unzeitgemäße Betrachtungen 18, 45, 80, 104, 129, 132, 139, 141 f., 147, 150, 156, 163, 169, 178, 187 f. – Ursprung und Ziel der Tragödie 128 – Vermischte Meinungen und Spruche 151, 153, 157 f., 164 f., 175 – 180, 185, 187, 189 – 191, 193, 201, 210 f., 217, 223, 248 f., 251 – Zur Genealogie der Moral 151, 177, 274, 282 – Zur Theorie der quantitierenden Rhythmik 22 Nolte, Andreas 147 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 148 Nussbaumer-Benz, Uschi 207 Oettermann, Stephan 179 Olschanski, Reinhard 146 f., 171 Olympus 48 Orest 98 Orpheus 64 Ossian 85 Ott, Louise 154 Ottmann, Henning 143, 241, 266 Otto, Walter F. 137, 234 Overbeck, Franz 140, 241, 248 Ovid 26 Ödipus (Oedipus, Oidipus) 98, 147, 233 Paisiello, Giovanni 218 Pallas 27 Pan 51 Park, Robert Ezra 146 f. Parmenides 133, 135 Pascal, Blaise 148 f., 236 Pautrat, Bernard 171, 232, 240, 243 Perikles 29 Perrakis, Manos 109 Pfotenhauer, Helmut 11, 14, 74, 107, 144, 148 f., 154, 200, 203, 269, 273, 275, 278 Pherekrates 28 Phidias 74 Philodemos 29 Philoxenos 40 f. Phrynis 27 – 29 Picht, Georg 49, 148, 152, 159 f., 194, 262 f., 268 Piccinni, Nicolò 248
Pindar 17 f., 114 Platon (Plato) 15, 19 f., 25 – 27, 29, 37 – 39, 41, 43 – 45, 50 – 52, 70, 79, 90, 92 – 94, 127, 134, 145, 150, 162 – 164, 167, 183, 199, 218, 225, 232 Plessner, Helmuth 146 Plutarch 29 Podach, Erich F. 288 Poel, Vanden Isabelle 52 Politycki, Matthias 66 Pöhlmann, Egert 30 Praet, Danny 52, 61 Pratinas 41 Prometheus 98, 233 Prox, Lothar 190 Pseudo-Longin 82, 85, 89, 92 f., 95 f., 176 Pseudo-Plutarch 28 Putz, Peter 260 Pythagoras 130 Pythokleides 29 Quintilian 82, 238 Rabelais, François 272 Racine, Jean 175 Raffael 69, 107, 228 Rée, Paul 179 Reiber, Joachim 226 Reibnitz, Barbara von 11, 13, 16, 18, 47 f., 53, 125, 128 Renzi, Luca 178 Reschke, Renate 154, 188 f., 207, 244, 262 Rethy, Robert A. 144 Revers, Peter 107 Richter, Lukas 27 – 31, 44 Riethmüller, Albrecht 27, 29, 31, 44, 81 f., 84, 96, 148, 216, 256 Ritschl, Friedrich 48, 210 Rohde, Erwin 12, 49, 126, 140, 147, 203, 205, 210, 241 Róheim, Géza 118 Rochlitz, Friedrich 83 Rosen, Stanley 160 Ross, Werner 143, 166, 178 Rossini, Gioacchino 39, 165, 189, 214, 227, 229, 248, 256 Rousseau, Jean Jacques 224
Personenverzeichnis
Rubens, Peter Paul 263 Rupschus, Andreas 105, 225 Russel, Bertrand 227 Ruthardt, Adolf 222 Sachs, Hans 74, 219 Sade, Donatien-Alphonse-François, Marquis de 272 Safranski, Rüdiger 175 Salaquarda, Jörg 111, 140 Sanders, Daniel 98 Searle, John R. 181 Shaftesbury, Earl of 82 f. Scheibler, Ingeborg 25 Shelley, Percy Bysshe 224 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 47, 97 – 99, 108, 273 f. Schellong, Dieter 214, 278 Schiller, Friedrich, 49, 53, 66, 70, 73, 75, 80, 83, 86, 89 – 91, 107 f., 114, 120 f., 174, 195, 197, 202, 220, 224, 238, 290 Schlaffer, Heinz 180, 268 Schlechta, Karl 125, 132, 136, 140, 144, 205 Schlegel, August Wilhelm 15, 24, 31, 33 – 39, 41 f., 44, 49, 53 Schlegel, Friedrich 15, 31 f., 34 – 37, 39, 41 f., 44, 47, 49, 66, 114, 148 Schmale, Wolfgang 206 Schmeitzner, Ernst 241 Schmidt, Bertram 20, 65 – 68, 70, 73, 79, 109, 114 f., 121, 265 Schmidt, Hermann Josef 164 Schmidt, Jochen 48 f., 134, 277 Schneider, Herbert 214 Schopenhauer, Arthur 42 – 45, 54, 56, 65 f., 68 – 75, 77, 78, 80 – 82, 84, 86 – 88, 93, 105 – 16, 121 f., 125 – 127, 131 – 134, 139, 154, 163, 165, 169, 173, 194, 197, 221, 232 f., 240, 256, 263, 273 f., 277 f., 283 Schubert, Franz 216, 220 Schumann, Robert 216, 220 – 223, 225 f. Schuster, Marc-Oliver 66 f., 112, 114 Schüler, Winfried 262 Seeck, Gustav Adolf 233 Seel, Martin 145, 146 Seel, Otto 26 Seggern, Hans-Gerd von 80, 215
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Seidl, Arthur 103 Semper, Gottfried 11 Shakespeare, William 200, 260 Simoni, Linda 179 Snell, Bruno 36 f., 45, Sokrates (Socrates) 20, 25 – 27, 29, 33 f., 36 f., 42– 45, 92, 132, 163, 164, 166 Solon 37 Sommer, Andreas Urs 258, 278, 291 Sophokles 15 – 17, 32, 36 f., 74, 77, 175 Spencer, Hanna 190 Sponheuer, Bernd 81 Stack, Georg 111 Stahlhut, Marco 62, 182, 184, 186 Steiner, Rudolph 281 Stendahl (Marie-Henri Beyle) 150 Stephan, Rudolf 214 Sterne, Laurence 164, 176, 272 Stingelin, Martin 136 Stoessel, Marleen 116 Stollberg, Arne 75 – 78, 103, 140 f. Strauss, David 214 Strawinsky, Igor Fjodorowitsch 159, 213, 215 Swift, Jonathan 272 Taine, Hyppolyte Adolphe 284 Telestes 41 Thales 133 Thatcher, David S. 226, 286 Theokrit 175 Ther, Philipp 208 Thukydides 30 Tieck, Ludwig 81 Tietz, Udo 187, 244 Timotheos (Timotheus) 28 – 30, 38, 40 f. Turner, Mark 123 Vasari, Giorgio 284 Vattimo, Gianni 121, 125, 154, 160, 171, 250, 253 Vauvenargues, Marquis de 159 Venturelli, Aldo 65, 70, 86, 111, 165, 231, 241 Vierneisel, Klaus 25 Villwock, Jörg 179 Vischer, Friedrich Theodor 86 Vischer-Bilflinger, Wilhelm 128 Vivarelli, Vivetta 149, 155, 160, 176
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Personenverzeichnis
Vogel, Martin 39, 49, 66 Volkmann, Richard 236 Voltaire (François-Marie Arouet) 39, 143 f., 157, 159, 182 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 81, 175, 176 Waldmüller, Ferdinand Georg 218 Wallace, Robert W. 29 Wagner, Cosima (von Bülow) 12, 70, 77 f., 105, 129, 131 f., 139, 141, 151, 155, 227 Wagner, Richard 11 – 14, 38 – 40, 42 – 45, 49, 65 – 68, 70 – 72, 74 – 84, 86 – 89, 95, 100 f., 103 – 107, 109, 113 – 116, 119, 123, 125, 129, 131, 139 – 141, 143, 150 f., 154 f., 163, 165 f., 168 – 169, 171 – 174, 179, 182, 187 – 191, 193, 198 f., 204, 207 f., 217 – 222, 224, 226 f., 233, 240, 244, 247 – 251, 253, 255 – 261, 263 – 269, 272 – 275, 278, 280, 282 f., 285 f., 288, 292 Weber, Carl Maria von 208, 224 Weber, Max 145 Webster, James 96 Weihe, Richard 234 f., 239 Welcker, Friedrich Gottlieb 48 Wellmer, Albrecht 181 Westernhagen, Curt von 227 Westphal, Rudolf 21, 48
Widemann, Paul Heinrich 201, 241 Wigalois 192 Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich von 30, 35, 49 Wilde, Oscar 147 Winckelmann, Johann Joachim 36, 38, 47, 50, 52, 83, 85, 219, 280 Windrich, Johannes 74 Wirth, Uwe 181 Witzler, Ralf 207 Wolf, Werner 244 Wolfram von Eschilbach 192 Wolzogen, Hans von 81 Wulf, Christoph 181 Xenophanes 150 Xenophon 91 f., 94 Zacchini, Simone 247 Zaminer, Frieder 28 f., 41 Zanker, Paul 25 Zarathustra 130, 160, 170 – 172, 231 f., 240 – 244, 252 – 255, 283 Zelle, Carsten 49, 50, 55, 66, 82, 100 f., 103 f., 121, 233 f., 240 Ziche, Paul 281 Zimmermann, Jörg 146 Zirfas, Jörg 181 Zopyrus 43 Zumthor, Paul 180